Rolf Becker · Wolfgang Lauterbach (Hrsg.) Bildung als Privileg
Rolf Becker Wolfgang Lauterbach (Hrsg.)
Bildung als P...
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Rolf Becker · Wolfgang Lauterbach (Hrsg.) Bildung als Privileg
Rolf Becker Wolfgang Lauterbach (Hrsg.)
Bildung als Privileg Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit 2., aktualisierte Auflage
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2004 2., aktualisierte Auflage Januar 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-34259-7
Vorwort zur aktualisierten Neuauflage Dass in Deutschland trotz Bildungsreform und Bildungsexpansion weiterhin soziale Ungleichheiten von Bildungschancen nach sozialer und nationaler Herkunft bestehen, zählt mittlerweile zum Alltagswissen. Dazu haben nicht zuletzt bildungssoziologische Studien und Bildungsforscher beigetragen, die – entgegen der Ignoranz gegenüber mangelnder Chancengerechtigkeit im deutschen Bildungswesen – beharrlich und eindeutig belegen, dass Bildung immer noch ein Privileg ist, das ungleich zwischen sozialen Klassen und Nationalitäten verteilt ist. Die von unserem „Bildungsband“ mit angestoßene Debatte in der politischen Öffentlichkeit wie in der „scientific community“ über Bildungsungleichheiten und Chancengerechtigkeit haben uns als Herausgeber veranlasst, das als rhetorisch gedachte Fragezeichen im Buchtitel wegzulassen, das Buch gründlich zu überarbeiten und zu aktualisieren. Dass der Sammelband in einer aktualisierten Neuauflage erscheinen kann, ist ein eindrückliches Indiz dafür, dass eine große Nachfrage seitens der Bildungsforschung, -politik und -praxis nach sozialwissenschaftlichen Erklärungen für Genese und Reproduktion von Bildungsungleichheiten, aber auch nach empirisch abgesicherten Handlungsempfehlungen besteht. Sicher konnten wir in dieser Hinsicht mit dem Buch eine Lücke schließen, aber die Reaktionen auf die Ausrichtung und Inhalte der einzelnen Beiträge zeigen, dass noch viele Fragen offen und neue Fragen aufgetaucht sind. Umso erfreulicher ist es zu sehen, wie viele Forschungsprojekte sich in der jüngsten Zeit den Ursachen von Bildungsungleichheiten widmen und mit welch eindrucksvoller Professionalität in die Theorie- und Modellbildung investiert wird, um Chancenungerechtigkeiten beim Bildungszugang und Bildungserwerb ursächlich zu erklären. Wenn der Bildungsband ein Anlass dazu war, dann haben wir ein wichtiges Ziel erreicht, und es gilt, den eingeschlagenen Weg mit Leidenschaft und Augenmass zugleich konsequent zu beschreiten. Wiederum sind wir als Herausgeber vielen Beteiligten zum Dank verpflichtet. Der erste Dank gilt wiederum den Autorinnen und Autoren des „Bildungsbandes“, die ihre originellen wie innovativen Beiträge gründlich durchgesehen und aktualisiert haben. Der zweite Dank gebührt Anna Etta Hecken, die mit größter Sorgfalt und Umsicht den gesamten Text durchgesehen hat. Der dritte Dank geht an den Lektor des VS-Verlags Frank Engelhardt, der diese Neuauflage nicht nur ermöglicht, sondern uns mit Enthusiasmus zur Überarbeitung des gesamten Buches bewegt hat und dabei viel Geduld und Nachsicht mit den Herausgebern zeigte. Bern und Münster im Herbst 2006 Rolf Becker und Wolfgang Lauterbach
Vorwort zur ersten Auflage In der Zwischenzeit liegt eine Vielzahl von Publikationen vor, denen zufolge die Bildung und vor allem die höhere Bildung oftmals ein Privileg der höheren Sozialschichten ist. Trotz Bildungsexpansion und gestiegener Bildungsbeteiligung in allen Sozialschichten sind ungleiche Bildungschancen nach sozialer Herkunft, der ethnischen Zugehörigkeit eingeschlossen, in allen Bereichen des deutschen Bildungssystems immer noch ein Faktum. Warum ist es immer noch so, dass privilegierte Sozialschichten immer noch bessere Chancen haben, höhere Bildung zu erwerben? Diese Frage zu beantworten, also die Entstehung und Reproduktion dauerhafter Bildungsungleichheiten zu erklären, ist eine Herausforderung sowohl für die empirische Bildungsforschung als auch für die aktive Gesellschaftspolitik. Was die bildungssoziologische Grundlagenforschung anbelangt, haben wir – die Autorinnen und Autoren sowie die Herausgeber des Sammelbandes – die Herausforderung angenommen. Der vorliegende Sammelband ist primär soziologisch angelegt. In den einzelnen Beiträgen werden sozial selektive Zugänge zur Bildung und soziale Ungleichheit von Bildungschancen im Lebensverlauf und im Bildungssystem untersucht. Im Vordergrund stehen neben den Ursachen vor allem die sozialen Mechanismen, die für die Genese und Dauerhaftigkeit von Bildungsungleichheit verantwortlich sind. Für den Bildungszugang und Bildungserwerb beschränken wir uns nicht auf die allgemeine Schulbildung, sondern wir wollen von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter die sich selektiv und kumulativ auswirkenden Dimensionen bestimmen, die zu Benachteiligungen bei der Bildungsbeteiligung und beim Erwerb schulischer und beruflicher Qualifikationen führen. Für das Zustandekommen des Bandes sind wir als Herausgeber vielen Beteiligten zum Dank verpflichtet. Der erste Dank gilt den Autorinnen und Autoren des „Bildungsbandes“, die herausragende Leistungen vollbracht haben, indem sie originelle wie innovative Beiträge geliefert haben. Der zweite Dank gebührt Martina Kischel, die den Umbruch des Buches mit Sorgfalt und Umsicht besorgt hat sowie Melanie Kramer für die Formatierung der Tabellen. Der dritte Dank geht an den Lektor des VS-Verlags Frank Engelhardt, der unserem Buchprojekt immer wohlwollend gegenüberstand. Schließlich danken wir Karl Ulrich Mayer, der es ermöglichte, dass einer der Herausgeber seine Buchbeiträge im Sommer 2003 am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung bearbeiten konnte. Bern und Münster im Sommer 2004 Rolf Becker und Wolfgang Lauterbach
Inhalt Einleitung Rolf Becker und Wolfgang Lauterbach Bildung als Privileg – Ursachen, Mechanismen, Prozesse und Wirkungen........... 9
Elternhaus und Bildungssystem als Ursachen dauerhafter Bildungsungleichheiten Matthias Grundmann, Uwe H. Bittlingmayer, Daniel Dravenau und Olaf Groh-Samberg Bildung als Privileg und Fluch – zum Zusammenhang zwischen lebensweltlichen und institutionalisierten Bildungsprozessen ............................. 43 Steffen Hillmert Soziale Ungleichheit im Bildungsverlauf: zum Verhältnis von Bildungsinstitutionen und Entscheidungen........................................................... 71
Bildungsungleichheit im Primar- und Sekundarbereich Michaela Kreyenfeld Soziale Ungleichheit und Kinderbetreuung. Eine Analyse der sozialen und ökonomischen Determinanten der Nutzung von Kindertageseinrichtungen ........ 99 Rolf Becker und Wolfgang Lauterbach Vom Nutzen vorschulischer Erziehung und Elementarbildung: Bessere Bildungschancen für Arbeiterkinder? ................................................................. 125 Rolf Becker Soziale Ungleichheit von Bildungschancen und Chancengerechtigkeit............. 157 Heike Solga und Sandra Wagner Die Zurückgelassenen – die soziale Verarmung der Lernumwelt von Hauptschülerinnen und Hauptschülern ............................................................... 187 Heike Diefenbach Bildungschancen und Bildungs(miss)erfolg von ausländischen Schülern oder Schülern aus Migrantenfamilien im System schulischer Bildung ...................... 217
Hartmut Ditton Der Beitrag von Schule und Lehrern zur Reproduktion von Bildungsungleichheit ...........................................................................................243
Berufliches Ausbildungssystem und Arbeitsmarkt Dirk Konietzka Berufliche Ausbildung und der Übergang in den Arbeitsmarkt..........................273 Walter Müller und Reinhard Pollak Weshalb gibt es so wenige Arbeiterkinder in Deutschlands Universitäten?.......303 Klaus Schömann und Janine Leschke Lebenslanges Lernen und soziale Inklusion – der Markt alleine wird’s nicht richten ..................................................................................................................343
Konsequenzen für Politik und Forschung Volker Müller-Benedict Intendierte und nicht intendierte Folgen von Bildungspolitik – eine Simulationsstudie über die sozialstrukturellen Grenzen politischer Einflussnahme......................................................................................................381 Wolfgang Lauterbach und Rolf Becker Die immerwährende Frage der Bildungsungleichheit im neuen Gewand – abschließende Gedanken .....................................................................................417
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Bildung als Privileg – Ursachen, Mechanismen, Prozesse und Wirkungen Rolf Becker und Wolfgang Lauterbach „Unterschiede der Bildung sind heute (...) zweifellos der wichtigste ständebildende Unterschied (...). Unterschiede der Bildung sind – man mag das noch so sehr bedauern – eine der allerstärksten rein innerlich wirkenden sozialen Schranken. Vor allem in Deutschland, wo fast die sämtlichen privilegierten Stellungen innerhalb und außerhalb des Staatsdienstes nicht nur an eine Qualifikation von Fachwissen, sondern außerdem von »allgemeiner Bildung« geknüpft [sind] und das ganze Schul- und Hochschulsystem in deren Dienst gestellt ist“ [Max Weber, 1922 247-248]
1.
Dauerhafte Bildungsungleichheiten als soziale Frage des 21. Jahrhunderts
Bildung ist eine der wichtigsten sozialen Fragen des 21. Jahrhunderts (Mayer 2000). Sie beschränkt sich nicht auf die allgemeine Schulbildung und formelle Berufsausbildung, sondern ebenso auf berufliche Weiterbildung und kontinuierliches selbst gesteuertes Lernen (siehe Beitrag von Schömann und Leschke in diesem Band). Ihre gesellschaftliche Bedeutung lässt sich wie für die meisten anderen modernen europäischen Gesellschaften auch für Deutschland an der Gleichzeitigkeit von Bildungsexpansion und sozialer Ungleichheit von Bildungschancen bemessen (Blossfeld und Shavit 1993; Müller 1998; Becker 2003). So hatte die in Deutschland bereits in den 1950er Jahren einsetzende, sich in den 1960er Jahren beschleunigende und bis in die jüngste Gegenwart andauernde Bildungsexpansion zu einer zunehmenden Bildungsbeteiligung in allen Sozialschichten geführt. Während im Jahre 1965 rund 16 Prozent der 13-jährigen Schulkinder auf das Gymnasium gingen, besuchten Ende der 1980er Jahre bereits 30 Prozent der 13-Jährigen die höchste Bildungsstufe. Noch deutlicher ist die Entwicklung für die Kinder von Beamten. Im Jahre 1965 besuchten 36 Prozent und im Jahre 1989 rund 58 Prozent der Kinder von Beamten das Gymnasium, während bei den Arbeiterkindern allerdings auf einem niedrigeren Niveau der relative Zuwachs von 4 auf 11 Prozent noch deutlicher ausfiel. Im gleichen Zeitraum sank dagegen die Schülerquote für die Hauptschule von 70 auf unter 40 Prozent. Damit schwindet zusehends auch die Bedeutung der Hauptschule als „hauptsächliche“ Schullaufbahn oder als „Volksschule“. Daran hat sich auch bis Ende des 20. Jahrhunderts nichts Grundlegendes geändert. Im Jahre 2000 besuchten rund 30 Prozent der 13jährigen Schulkinder das Gymnasium und 24 Prozent die Realschule. Während sich die Bildungschancen von Jungen und Mädchen zugunsten der bislang benachteiligten Mädchen mehr als angeglichen haben (Diefenbach und
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Becker und Lauterbach
Klein 2002), ergaben sich jedoch im letzten Jahrzehnt bei den Relationen für schichtspezifische Bildungsbeteiligungen allenfalls geringfügige Änderungen (Schimpl-Neimanns 2000; Henz und Maas 1995; Müller und Haun 1994). Die gestiegene Chancengleichheit beim Zugang zum Gymnasium wurde jedoch mit einem hohen Preis bezahlt. So ist nach Leschinsky und Mayer (1990) zwar die soziale Exklusivität des Gymnasiums gesunken, aber gleichzeitig die sozialstrukturelle Homogenität in der Hauptschule gestiegen. Insbesondere Kinder von unund angelernten Arbeitern sowie von Ausländern und Migranten sind von dieser nachteiligen Entwicklung betroffen. Als nicht intendierte Folge der Bildungsexpansion stellen Solga und Wagner (2001) eine gewachsene soziale Distanz zwischen den höheren und niedrigeren Bildungsschichten nach dem Übergang in die Sekundarstufen fest (Klemm 1991; siehe Solga und Wagner in diesem Band).1 Insgesamt erbrachte die Bildungsexpansion einen Zuwachs an Bildungschancen für alle Sozialgruppen, aber keinen umfassenden Abbau der sozialen Ungleichheit von Bildungschancen (Geißler 1999; Müller 1998; Meulemann 1995, 1992; Blossfeld 1993). Warum gibt es aber immer noch – trotz oder wegen der Bildungsexpansion – deutliche Bildungsungleichheiten zwischen den Sozialschichten? Warum gibt es immer mehr Bildungsmöglichkeiten, aber keinen Ausgleich bei den Bildungschancen? Die Brisanz dieser Fragestellungen über den Zusammenhang von sozialer Herkunft, Bildungsbeteiligung und Ungleichheit von Bildungschancen liegt auf der Hand: Bildung ist nicht nur eine formale, auf dem Arbeitsmarkt verwertbare Ressource im Sinne des Humankapitals, sondern eine entscheidende Voraussetzung für viele unterschiedliche Lebenschancen.2 Suchen wir aber in der empirischen Bildungsforschung nach überzeugenden Antworten, so ist festzustellen, dass bis Mitte der 1990er Jahre immer noch detaillierte wie exzellente Beschreibungen über wachsende Bildungsbeteiligungen und dauerhafte Bildungsungleichheiten 1
2
Hinter dieser Entwicklung verbirgt sich eine herkunftsbedingte und institutionell verstärkte Segregation im deutschen Schulsystem, welche die soziale Homogenisierung der dauerhaft Benachteiligten und Erfolglosen der Bildungsexpansion zur Folge hat: Der Hauptschulbesuch ist nunmehr ein askriptives Merkmal, weil die Vorhersage eines Hauptschulbesuchs unter Kenntnis der sozialen Herkunft í und sicherlich auch der mit der sozialen Herkunft verknüpften Schulleistung í immer besser wird, und die soziale Benachteiligung eher zum Indiz für schulisches Versagen als zum Indiz für negativ privilegierte Startchancen wird (Solga und Wagner in diesem Band). Daher ist vermutlich der Befund der PISA2000-Studie über die sozialen Distanzen bei den Lesekompetenzen auf Niveaueffekte zwischen „Kellerkindern in der Hauptschule“ und den „Gewinnern der Bildungsexpansion“ zurückzuführen. In einer günstigen Lernumgebung wie dem Gymnasium konnten gerade die sozial privilegierten Schulkinder ihre Leseleistungen unabhängig von der sozialen Herkunft kontinuierlich verbessern. Bildungspatente sind essenzielle Ressourcen auf dem Arbeits- und Heiratsmarkt (Wirth 2000; Blossfeld 1989; Mayer und Müller 1986). Sie haben einen großen Einfluss auf Lebenschancen, die sich an Verteilung materieller Ressourcen und Chancen kultureller Partizipation, an Art und Weise der Lebensführung oder an der Sozialstruktur des Lebensverlaufs bemessen lassen (Rössel und Beckert-Ziegelschmid 2002; Becker und Schömann 1996; Mayer 1994, 1990).
Einleitung
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vorgelegt wurden (Schimpl-Neimanns 2000; Maas und Henz 1995; Müller und Haun 1994; Blossfeld und Shavit 1993; Köhler 1992). Während einerseits Deskriptionen über Ausmaß und Veränderungen von Bildungsungleichheiten dominieren, mangelt es an theoretischen wie empirisch fundierten Erklärungen für das Zustandekommen und die Dauerhaftigkeit von Bildungsungleichheiten nach sozialer Herkunft (Becker 1998, 1999, 2000, 2003; Esser 1999; Kristen 1999; Breen und Goldthorpe 1997; Goldthorpe 1996; Erikson und Jonsson 1996). Zwar ist die Schlussfolgerung von Krais (1996: 146) zutreffend, „dass wir nun einiges über die Entwicklung der Bildungsungleichheit in unserem Lande [wissen]. Worüber wir aber immer noch sehr wenig wissen, das sind die Mechanismen, über die sich die beobachteten Bildungsungleichheiten wieder herstellen“ (siehe auch Müller 1998). Aber inzwischen gibt es eine Vielzahl ernsthafter sowie mehr oder weniger plausibler Erklärungsversuche, die Ursache-Wirkungszusammenhänge von sozialer Herkunft und Bildungsungleichheiten in den Mittelpunkt stellen (für einen kritischen Überblick: Kristen 1999). Von besonderem Interesse sind dabei soziale Mechanismen, die die Ursache mit der Wirkung verbinden, also wie die Ursache die zu erklärende Wirkung hervorbringt (Hedström und Swedberg 1998: 6-7; Manski 1993). Erst über die theoretische Identifikation und empirische Analyse solcher Mechanismen gelingt eine vollständige soziologische Erklärung kollektiver Phänomene und damit auch Erkenntnisfortschritt. Ein prominentes Beispiel, das sich in jüngster Zeit dieser Herausforderung stellt, sind die zur systematischen Kategorie der Rational-Choice-Theorien gehörigen Modelle des individuellen Bildungsverhaltens, die soziale Mechanismen für Entstehung und Reproduktion von Bildungsungleichheiten identifizieren und analysieren (Becker 2000; Esser 1999; Breen und Goldthorpe 1997). Demnach sind die zwischen Sozialschichten variierenden elterlichen Bildungsentscheidungen, die auf Abwägungen von Vorund Nachteilen langfristiger Bildungsinvestitionen als einem sozialen Mechanismus basieren, ausschlaggebend für Genese und Dauerhaftigkeit von Bildungsungleichheiten (Boudon 1974). Ein augenfälliges Manko in der empirischen Bildungsforschung liegt in der noch recht seltenen empirischen Anwendung dieser theoretischen Modelle, bei der es zumeist versäumt wird, soziale Mechanismen der individuellen Kosten-Nutzen-Abwägung von Bildungsinvestitionen direkt zu identifizieren (Manski 1993). Jedoch gibt es in der Zwischenzeit bereits eine zunehmende Zahl von Publikationen, die diese Lücke zu schließen beginnen (Jonsson 1999; Becker 2003; Need und De Yong 2001; Breen und Yaish 2003). Ebenso sind langfristig angelegte Projekte initiiert worden, die sich den empirischen Analysen von Entstehung elterlicher Bildungsaspirationen sowie Formation von Bildungsentscheidungen im Familien- und Haushaltskontext widmen (etwa die BiKs-Studie an der Universität Bamberg (Hans-Peter Blossfeld und andere) oder das an der Universität Mannheim angesiedelte Teilprojekt A-7: “Educational aspirations, reference groups and educational decisions” im Rahmen des von der DFG finanzierten SFB 504 über
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Becker und Lauterbach
Rationalitätskonzepte, Entscheidungsverhalten und ökonomische Modellierung (Hartmut Esser und Volker Stocké) oder die an der LMU München angesiedelte und von der DFG finanzierte Längsschnittuntersuchung KOALA-S (Kompetenzaufbau und Laufbahnen im Schulsystem) (Hartmut Ditton und Mitarbeiter) oder die bei der PH Bern beantragte Panel-Studie über die Bildungschancen von Migranten im Kanton Bern – eine Panelstudie über Ursachen und Mechanismen von Bildungsungleichheiten im Spannungsfeld von Elternhaus, Schule und Gesellschaft (Rolf Becker und Mitarbeiter). 2.
Theorien und Modelle zur Erklärung dauerhafter Bildungsungleichheiten
Der Zusammenhang von Bildung und langfristigen Lebenschancen, (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit und Lebenslagen im Lebensverlauf gehört bereits zum Alltagswissen. In den Sozialwissenschaften jedoch gibt es divergierende Ansichten und Erklärungsversuche für diesen komplexen Zusammenhang (Kristen 1999). Gemeinsam ist den meisten jüngeren Sichtweisen, dass soziale Ungleichheiten von Bildungschancen von der Elterngeneration auf die Generation der Kinder weitergegeben werden, und dass diese Transmission über das Bildungswesen erfolgt. Hierfür werden in Anlehnung an die bildungssoziologischen Arbeiten von Boudon (1974) hauptsächlich zwei Ursachenkomplexe angeführt: primäre und sekundäre Effekte der sozialen Herkunft (Abbildung 1). Zum einen erlangen Kinder aus höheren Sozialschichten infolge der Erziehung, Ausstattung und gezielten Förderung im Elternhaus eher Fähigkeiten, die in der Schule vorteilhaft sind. Aufgrund dieser günstigen Voraussetzungen im Elternhaus weisen Kinder aus höheren Sozialschichten eher bessere Schulleistungen auf, während Arbeiterkinder aufgrund ihrer sozialen Herkunft eher kognitive Nachteile haben (primäre Effekte der sozialen Herkunft). Zum anderen sind elterliche Bildungsentscheidungen im Familien- und Haushaltskontext ausschlaggebend für den weiteren Bildungsweg ihrer Kinder. Diese Entscheidungsprozesse variieren in Abhängigkeit von den ökonomischen Ressourcen der Privathaushalte deutlich zwischen den Sozialschichten (sekundäre Effekte der sozialen Herkunft). Insbesondere am Ende der Grundschule erfolgt für den Übergang auf die weiterführenden Schullaufbahnen die bedeutsamste, mit weit reichenden Konsequenzen versehene Bildungsentscheidung. Allerdings ist dieser Wechsel von der Grundschule auf die Sekundarstufe I stärker als die anderen Bildungsentscheidungen vom Willen der Eltern beeinflusst, während bei späteren Wechseln der Schulart oder bei einem vorzeitigen Abgang von der Schule die Schulleistungen und die Motivation des Kindes wichtig sind (Henz und Maas 1995: 610; Müller und Haun 1994: 35; Köhler 1992: 126; Baur 1972: 13-14). Daher können die im jungen Erwachsenenalter auftretenden Bildungsungleichheiten als aggregierte Nebenfolge dieser frühen Bildungsentscheidungen im Familienkontext aufgefasst werden.
Einleitung
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Vergleicht man die Gewichte der Herkunftseffekte, so dürfte vermutlich der sekundäre Herkunftseffekt bedeutsamer sein als der primäre Herkunftseffekt (Becker 2000). Somit beruhen zentrale soziale Mechanismen der Bildungsungleichheit auf schichtspezifischen Bildungsentscheidungen, in die auch (sozial differente) Schulleistungen und Bildungserfolge einfließen (Erikson und Jonsson 1996: 50). Abbildung 1: Primäre und sekundäre Effekte der sozialen Herkunft auf Bildungschancen und Bildungserfolge
Primäre Herkunftseffekte: Schulische Performanz
Ressourcen der sozialen Herkunft: Bildungserfolg und Bildungsungleichheiten
1) Ökonomisches Kapital 2) Bildungsdistanzen aufgrund der Positionierung in der sozialen Schichtung
Sekundäre Herkunftseffekte: Elterliche Bildungsentscheidung
Aber es sollte nicht übersehen werden, dass die elterliche Bildungsentscheidung auch von institutionellen Vorgaben und der Struktur des Bildungswesens „erzwungen“ wird (Becker 2001). Dass sich die Eltern in Deutschland vergleichsweise früh, wenn ihre Kinder zehn oder elf Jahre alt sind, über den weiteren Bil-
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Becker und Lauterbach
dungsweg ihres Kindes entscheiden müssen, macht möglicherweise das Ausmaß und die Dauerhaftigkeit von Bildungsungleichheiten aus (Erikson und Jonsson 1996). Trotz forcierter Forschung in den letzten Jahren ist die Emergenz der primären und sekundären Herkunftseffekte noch nicht gänzlich geklärt (siehe die Beiträge von Grundmann et al. sowie von Hillmert in diesem Band). Einerseits liegt dies an der Verfügbarkeit von geeigneten Daten, andererseits sind die Mechanismen noch nicht ausreichend erforscht, die für den Zusammenhang zwischen Klassenlage des Elternhauses, der schulischen Performanz und der elterlichen Bildungsentscheidung verantwortlich sind. Eher dienen die primären und sekundären Herkunftseffekte als „Brückenannahmen“, ohne dass ihre Existenz und Funktionsweise empirisch exakt erfasst wurde und daher als empirisch bewährte Argumente gelten können. Beispielsweise ist noch unklar, wie der Prozess der intergenerationalen Transmission von Bildungschancen über die Vermittlung von Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten, Orientierungen und Einstellungen der Eltern an ihre Kinder (etwa die Leistungsbereitschaft) vonstatten geht. So wird beispielsweise in einer Arbeit von Müller (1975: 132) oder von Müller und Mayer (1976) auf einen „Familienresidualeffekt“ verwiesen, von dem die Autoren selbst sagen, dass er eine „black box“ darstelle, bei der man nicht weiß, welche Mechanismen wirken.3 Die allgemeine Praxis, sich dem Phänomen sozialer Ungleichheit von Bildungschancen über kumulierende Einzelhypothesen und eklektische Zusatzannahmen anzunähern, ist nicht nur für den Fortschritt des Forschungsstandes wenig befriedigend, sondern auch für die Bildungspolitik und -praxis unzureichend. Dieses Vorgehen ist deswegen unzureichend, da die sozialen Mechanismen und Prozesse, die Bildungsungleichheiten hervorbringen und auf Dauer stellen, im Dunkeln bleiben (siehe den Beitrag von Müller-Benedict in diesem Band). Benötigt wird ein kohärentes Aussagesystem, das die systematische Ableitung empirisch überprüfbarer Hypothesen über das Zustandekommen und die Reproduktion von Bildungsungleichheiten erlaubt. Können dann die sozialen Mechanismen empirisch beobachtet werden, dann ist es auch eher möglich, sinnvolle bildungspolitische Maßnahmen zu empfehlen, als wenn weiterhin mit plausiblen Erklärungen operiert wird, die aber kein abgesichertes Wissen darstellen. So mutet es etwas befremdlich an, wenn – wie in der Debatte über die Ergebnisse von PISA 2000 geschehen – in der bundesdeutschen Bildungspolitik viele Empfehlungen 3
Überhaupt sind die Statuszuweisungsmodelle ein Paradebeispiel dafür, dass man vieles trotz der hypothetischen Formulierungen als gesichert annimmt, aber die Mechanismen tatsächlich nicht direkt misst, also weder ihre Existenz kennt noch ihre Wirksamkeit nachgewiesen hat. Sicherlich sind Korrelationen von sozialstrukturellen Variablen mit Bildungschancen und Bildungserfolg wichtige deskriptive Erkenntnisse. Würde man es dabei belassen, entstünden in der Folge Probleme, die mit der „Variablen-Soziologie“ in Verbindung gebracht werden: Man weiß so gut wie nichts über die Verbindung zwischen der Ursache und ihrer Wirkung (Esser 1996; Hedström und Swedberg 1998).
Einleitung
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ausgesprochen werden, aber wenige theoretische Grundlagen und noch weniger empirische Befunde dafür vorgelegt werden. Indirekte und direkte Überprüfung von Rational-Choice-Theorien der Bildungsentscheidung In Anlehnung an die theoretischen Modellaussagen von Boudon (1974) und Esser (1999), die zur Kategorie der Rational-Choice-Theorien zählen, versuchen wir mittels eigener empirischer Analysen diese theoretische und methodologische Problematik zu illustrieren. Nach Boudon (1974) oder Esser (1999) sind Eltern aus den Mittel- und Oberschichten bestrebt, den bereits erreichten Sozialstatus in der Generationenfolge zu erhalten oder gar zu verbessern. Investitionen in die Bildung ihrer Kinder sind in modernen Gesellschaften mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung ein sinnvolles Mittel dafür. Der daraus resultierende Bildungserfolg stellt wie der darauf folgende berufliche Werdegang jeweils ein so genanntes Zwischengut dar, um dieses Ziel zu erreichen. Grundsätzlich werden Investitionen in Bildung so lange getätigt, wie der zu erwartende Bildungsnutzen die erwarteten Kosten übersteigt, und auch mit einiger Sicherheit abzusehen ist, dass angesichts der schulischen Leistungen der Kinder die Investitionen auch zum Ziel führen, sich also lohnen. Die Beträge für Bildungsrenditen (z.B. Einkommen) und Statuserhalt (z.B. berufliche Stellung oder Tätigkeit) sowie die jeweiligen Erwartungen, diese Beträge realisieren zu können, bezeichnet Esser (1999) als elterliche Bildungsmotivation und das relative Verhältnis zwischen schulischer Leistung des Kindes und erwarteter Bildungskosten als Investitionsrisiko. Während Arbeiterfamilien nicht auf die höhere Bildung angewiesen sind, um den Status zu erhalten oder einen sozialen Aufstieg zu realisieren, sind insbesondere Angehörige der Mittelschichten zu Bildungsinvestitionen gezwungen, um Statuserfolge zu erzielen und soziale Abstiege zu vermeiden. Familien in den Oberschichten hingegen verfügen über weitere Mittel und Wege, um drohende Statusverluste in der Generationenabfolge vorzubeugen. Vereinfacht gesagt basieren Bildungsungleichheiten in den Sozialschichten durch die Abwägung von Vorzügen (Nutzen) und Nachteilen (Kosten) von höherer Bildung. Verwenden wir eine indirekte Methode, diese theoretischen Annahmen empirisch mit Umfragedaten zu überprüfen (Brüderl 2004), so bestätigen sie sich im Großen und Ganzen für die elterliche Bildungsentscheidung am Ende der Grundschulzeit (zu Details siehe Becker 2000). 4 Wenn die Bildungsmotivationen größer 4
Die von uns vorgelegten empirischen Analysen basieren auf Paneldaten des Konstanzer Forschungsprojektes „Bildungsverläufe in Arbeiterfamilien“ (vgl. Fauser 1983, 1984). Berücksichtigt werden die beiden Befragungen, die im Herbst 1982 und Herbst 1983 erfolgten. Im Herbst 1982 wurden Eltern mit Kindern in der vierten Grundschulklasse (Baden-Württemberg und NordrheinWestfalen), in der Abschlussklasse der Orientierungsstufe (Niedersachsen) und in der sechsten Klasse der Grundschule (West-Berlin) zunächst über ihre Schulwünsche für das Kind befragt. Dieselben Eltern wurden dann im Herbst 1983 nach der inzwischen getroffenen Bildungsentscheidung
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Becker und Lauterbach
oder gleich den Investitionsrisiken sind, dann entscheiden sich die Eltern aus den Mittel- und Oberschichten eher für das Gymnasium als für die Realschule, wobei die Hauptschule offensichtlich keine Alternative darstellt (Tabelle 1). Tabelle 1: Determinanten der elterlichen Bildungsentscheidung* Unter- und Arbeiterschichten HS
BI B
6 18 13
RS
GYM
58 36 52 30 55 32 Phi = 0.16 N = 532
Mittelschichten HS
1 5 3
RS
GYM
28 71 34 61 32 65 Phi = 0.12 N = 973
Oberschichten HS
0 1 1
RS
GYM
15 85 16 83 15 84 n.s. N = 477
* Zeilenprozente, wobei HS = Hauptschule, RS = Realschule und GYM = Gymnasium Quelle ZA-Studie 1611: Bildungsverläufe in Arbeiterfamilien – eigene Berechnungen
Dieser Zusammenhang ist für die Mittelschichten wie erwartet signifikant, während für die Oberschichten Kosten für Bildungsinvestitionen keine Rolle spielen und sie alternative Strategien besitzen, den Bildungserfolg zu sichern, falls der Zögling schwache Schulleistungen aufweist. Familien aus den Unter- und Arbeiterschichten hingegen entscheiden sich in signifikanter Weise vornehmlich für die Realschule, wenn die Bildungsmotivationen größer sind als die Investitionsrisiken. Dies ist für die unteren Sozialschichten aufgrund der Bildungsdistanzen – der Abstände zwischen dem Bildungsniveau des Elternhauses und dem System der höheren Bildung – und den damit verbundenen Kosten für Bildungsinvestitionen zu erwarten. Die Hauptschule kommt offensichtlich nur dann in Betracht, und das ist plausibel bei der Angleichung der Ausbildungsdauern in den Haupt- und Realschulen, wenn die Investitionsrisiken die Bildungsmotivationen deutlich übersteigen. Verwenden wir mithilfe multivariater Schätzung eine direkte Methode der Abbildung des elterlichen Entscheidungsprozesses, so wird noch deutlicher, dass sich die Kosten-Nutzen-Abwägungen für oder wider von Investitionen in die höhere Bildung zwischen den Sozialschichten unterscheiden (Tabelle 2). Bei den Unterund Arbeiterschichten tangieren Bildungsmotivationen die elterlichen Bildungsentscheidungen kaum, während Investitionsrisiken die Auswahl des weiteren Bildungsweges bestimmen: Je höher die anfallenden Bildungskosten oder je schlechter die schulischen Leistungen eingeschätzt werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich die unteren Sozialschichten für die Hauptschule entscheiden.
und dem erfolgten Übergang auf die weiterführenden Schulen der Sekundarstufe I befragt. Zur Definition der verwendeten Variablen verweisen wir auf die Ausführungen im Beitrag von Becker in diesem Band.
Einleitung
17
Tabelle 2: Determinanten der elterlichen Bildungsentscheidung nach Esser†
Bildungsmotivation Investitionsrisiko Pseudo-R² N
Unter- und Arbeiterschichten RS GYM 1/1.13 1.52 [1/1.06] [1.24] 1/1.68*** 1/1.88*** [1/2.05] [1/2.39] 0.04 41.8 532
Mittelschichten RS 3.03* [1.88]
GYM 4.90*** [2.48]
1/2.14*** [1/2.51]
1/4.38*** [1/3.88]
Ober- und Mittelschichten RS GYM 2.69* 5.99*** [1.88] [3.14] 1/2.12*** [1/1.79]
0.07 973
1/3.00*** [1/3.62]
0.08 1450
* p d 0.05; ** p d 0.01; *** p d 0.001 † Multinomiale Regression: Hauptschule als Referenzkategorie; odds ratios; in eckigen Klammern: standardisierte Logitkoeffizienten; Darstellung negativer Koeffizienten als ihr Kehrwert Quelle ZA-Studie 1611: Bildungsverläufe in Arbeiterfamilien – eigene Berechnungen
Bei den Ober- und Mittelschichten hingegen hängen die Bildungsentscheidungen in einem höheren Ausmaß als bei unteren Sozialschichten von elterlichen Bildungsmotivationen ab: Je ausgeprägter die Bildungsmotivationen sind, desto eher entscheiden sie sich für das Gymnasium. Die Realschule kommt lediglich als Ausweichstrategie in Betracht. Jedoch bestimmen auch die Investitionsrisiken die Entscheidung für die weiterführenden Bildungslaufbahnen, wobei weiterführende Analysen ergeben haben, dass vor allem die Erfolgschancen (gemessen an den Schulleistungen des Kindes) ausschlaggebend sind. Wenn die Schulleistungen nicht für die gewünschte Schullaufbahn ausreichen, dann wird die Realschule als weiterer Bildungsweg erwogen. Tabelle 3: Realisierung der Bildungsübergänge in Abhängigkeit von der elterlichen Bildungsentscheidung* Unter- und Arbeiterschichten HS
BI B
20 34 29
RS
GYM
47 33 42 24 44 27 Phi = 0.17 N = 532
Mittelschichten HS
7 11 10
RS
GYM
29 64 35 54 33 57 Phi = 0.11 N = 973
Oberschichten HS
4 6 6
RS
GYM
16 80 15 79 16 79 n.s. N = 477
* Zeilenprozente, wobei HS = Hauptschule, RS = Realschule und GYM = Gymnasium Quelle ZA-Studie 1611: Bildungsverläufe in Arbeiterfamilien – eigene Berechnungen
Die Relationen zwischen primären und sekundären Effekten der sozialen Herkunft fokussierend, untersuchen wir nunmehr für die Realisierung der Bildungsübergän-
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Becker und Lauterbach
ge von der Grundschule auf die weiterführenden Schullaufbahnen in der Sekundarstufe I den Einfluss der Schichtzugehörigkeit (Tabelle 3). Die indirekte Methode liefert die gleichen Ergebnisse wie für die elterliche Bildungsentscheidung, sodass wir nicht näher auf diese einzugehen brauchen. Für alle Sozialschichten gibt es Abweichungen zwischen avisierter Schullaufbahn und realisiertem Bildungsübergang. Diese kommt sowohl durch überzogene Bildungsaspirationen der Eltern als auch durch die Selektionsfunktion der abgebenden Grundschule zustande, sodass wir bei der direkten Methode auch die Einflüsse durch die Bildungsempfehlungen berücksichtigen. Ferner geht es bei der Überprüfung der theoretischen Annahmen auch darum zu testen, ob – vermittelt durch die Mechanismen und Prozesse von Bildungsentscheidungen im Elternhaus – die sekundären Effekte gewichtigere Ursachenfaktoren darstellen als primäre Effekte (Tabelle 4). Betrachten wir die Wahrscheinlichkeit für den Übergang auf das Gymnasium, so sind zwei Ergebnisse zentral. Zum einen sinkt mit der sozialen Positionierung der Einfluss der elterlichen Bildungsentscheidung und der Empfehlung für die weiterführenden Schullaufbahnen auf den tatsächlichen Übergang. Innerhalb der Mittel- und Oberschichten unterscheiden sich die Eltern immer weniger in ihren Bildungsentscheidungen, als dies bei den unteren Sozialschichten der Fall ist. Die höheren Sozialschichten erhalten auch eher die Bildungsempfehlungen für das Gymnasium. Tabelle 4: Determinanten des Bildungsübergangs nach Esser† Unter- und Arbeiterschichten RealGymnaschule sium Bildungsentscheidung
Mittelschichten
Oberschichten
Realschule
Gymnasium
Realschule
Gymnasium
4.10*** [2.03]
95.6*** [2.14]
1.88* [1.35]
57.9*** [7.60]
1.34
43.8*** [4.05]
1
1
1
1
1
1
Realschule
13.5*** [3.58]
6.05*** [2.42]
11.6*** [3.09]
2.10* [1.41]
7.85*** [2.23]
1 23
Gymnasium
21.3*** [3.96]
16.4*** [9.92]
8.41*** [2.90]
52.5*** [7.24]
2.71 [1.65]
9.39*** [3.00]
Empfehlung für: Hauptschule
Pseudo-R² N
0.41 532
0.46 973
0.40 477
* p d 0.05; ** p d 0.01; *** p d 0.001 † Multinomiale Regression: Hauptschule als Referenzkategorie; odds ratios; in eckigen Klammern: standardisierte Logitkoeffizienten Quelle ZA-Studie 1611: Bildungsverläufe in Arbeiterfamilien – eigene Berechnungen
Einleitung
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Zum anderen dominieren bei den Mittel- und Oberschichten mit der elterlichen Bildungsentscheidung die sekundären Herkunftseffekte über primäre Herkunftseffekte, die mit der schulischen Leistung und ihrer Bewertung durch die Bildungsempfehlungen verbunden sind. Anders ausgedrückt: Bei den Mittel- und Oberschichten überwiegen – wie theoretisch erwartet – eher die sekundären Herkunftseffekte, während bei den unteren Sozialschichten primäre Herkunftseffekte die herausragende Rolle für den avisierten und realisierten Bildungsweg der Kinder spielen. Abbildung 2: Entwicklung der elterlichen Bildungswünsche in der Bundesrepublik Deutschland bzw. Westdeutschland von 1979 bis 2003 100
90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 1979
1981
1983
1985
1987
1989
Abitur Hauptschule Beamte: mittlere Reife Arbeiter: Abitur
1991
1993
1995
1997
2000
mittlere Reife Beamte: Abitur Arbeiter: mittlere Reife
Quelle Kanders (1996, 2000); Rolff et al. (1998, 2000)
Vorliegende Studien belegen, dass die relativen Schichtunterschiede, insbesondere die Unterschiede zwischen den Beamten als Angehörige der Dienstklassen und den Arbeiterschichten, in den Bildungsvorstellungen trotz oder gerade wegen der Bildungsexpansion weiterhin konstant geblieben sind (vgl. Becker 2003; Goldthorpe 1996). Betrachten wir dies genauer für die langfristige Entwicklung
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Becker und Lauterbach
der Bildungsvorstellungen von westdeutschen Eltern mit Kindern in der allgemein bildenden Schule (Abbildung 2). Im Jahre 1979 äußerten mit einem Anteil von 43 Prozent weniger als die Hälfte der Eltern den Wunsch, dass ihr Kind mit dem Abitur abschließt, und im Jahre 1989 waren es mehr als die Hälfte der Eltern (56 Prozent). Mehr als zehn Jahre später visieren im Jahre 2000 mit einem Anteil von 45 Prozent wiederum weniger als die Hälfte der westdeutschen Eltern für ihr Kind das Abitur an. Im Jahre 2003 – 13 Jahre nach der deutschen Vereinigung, die unter anderem mit sozialstrukturellen Veränderungen in der sozialen Schichtung einherging – wünschten sich einer Pressemitteilung des IFS (vgl. Rolff 1998) zufolge immerhin die Hälfte der Eltern das Abitur, aber nur 9 Prozent die Hauptschule. Zwanzig Jahre zuvor erwogen immerhin noch 22 Prozent der westdeutschen Eltern und im Jahre 1999 noch 13 Prozent den Hauptschulabschluss für ihr Kind. Während im Jahre 1979 gerade mehr als ein Drittel der Eltern die mittlere Reife avisierten, wünschen sich im Jahre 2003 wie zuvor im Jahre 1999 nunmehr 41 Prozent der Eltern die mittlere Reife für ihr Kind. Es gibt bei den elterlichen Bildungsvorstellungen keine signifikanten Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Generell sehen überproportional viele (westdeutsche) Beamtenhaushalte (60-80 Prozent) das Abitur für ihr Kind vor, während Arbeiterhaushalte eher die mittlere Reife präferieren (40-64 Prozent). Hingegen entspricht das Aspirationsniveau der Arbeiterschichten für das Abitur dem der Beamten für die mittlere Reife. „Die enorme Bildungsexpansion in den vergangenen Jahrzehnten (…) ist im öffentlichen Bewusstsein weithin als Erfolg durchgesetzter Chancengleichheit verstanden worden“ (Friedeburg 1997: 45). Zu Recht weist Friedeburg (1997: 45) darauf hin, dass diese Deutung der Bildungsexpansion die unterschiedliche Entwicklung relativer Bildungschancen in den einzelnen Bevölkerungsgruppen verkenne (Schimpl-Neimanns 2000; Müller 1998; Müller und Haun 1994). Bei frühen Bildungsübergängen haben sich zwar im Zuge der Bildungsexpansion die traditionellen Bildungsungleichheiten nach sozialer Herkunft moderat reduziert, aber der Bildungszugang ist weiterhin von beträchtlicher Chancenungleichheit geprägt. Weiterführende Analysen belegen, dass vor allem die unteren Mittelschichten von der Bildungsexpansion profitierten wie auch die neuen Mittelschichten, die im Zuge der Bildungsexpansion und Tertiarisierung von Bildung und Berufsstruktur zunehmend an Bedeutung gewonnen haben (Müller 1998). Diese Entwicklung ist nicht weiter verwunderlich, wenn man sich vor Augen hält, dass Bildung ein öffentliches Kollektivgut ist. Für die Inanspruchnahme von höherer Bildung kann keines der schulpflichtigen Kinder ausgeschlossen werden, sofern die Schulleistungen nicht dagegen sprechen. Zwar ging die soziale Öffnung mit einem zahlenmäßigen Anstieg von Arbeiterkindern in den weiterführenden Schullaufbahnen einher, aber gleichzeitig auch mit dem Anstieg der Schulkinder aus den Mittel- und Oberschichten, die zuvor aufgrund ihrer schulischen Leistungen eher auf die Hauptschule, allenfalls auf die Realschule, als auf das Gymnasi-
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um gegangen wären. So haben sich die relativen Anteile der Übergänge zwischen den Sozialschichten nur geringfügig verändert. Eher konnten die bereits privilegierten Sozialschichten ihre relativen Übergänge in die höheren Schullaufbahnen zusätzlich erhöhen (zu Details siehe Becker 2006). Des Weiteren ist davon auszugehen, dass im Zuge der Bildungsexpansion nicht nur die Bildung an sich wichtiger und die Kopplung von Bildung und Lebenschancen immer enger geworden ist, und daher das Interesse an mittlerer und höherer Bildung gestiegen und deswegen die soziale, an die Klassenlage geknüpfte Selektivität des Bildungsverhaltens zurückgegangen ist. Jedoch dürften vor allem diejenigen Generationen, die von der Bildungsexpansion hinsichtlich Bildungserwerb und Verwertung von Bildung auf dem Arbeitsmarkt und in anderen Lebensbereichen (z.B. Partnerschafts- und Heiratsmarkt) profitiert haben, ein besonderes Interesse daran (gehabt) haben, ihren Kindern die gleichen, an die Bildung gebundenen Lebenschancen zu gewähren. So gibt es empirische Hinweise dafür, dass seit Anfang der 1980er Jahre eine erneute soziale Schließung der Gymnasien – statt nach sozioökonomischen Ressourcen nunmehr nach Bildung – im Gange ist. Diese Entwicklung könnte einer der vielfältigen Gründe dafür sein, weshalb die Bildungsexpansion zwar zu mehr Bildungschancen, aber nicht wie erwartet zu mehr Chancengerechtigkeit beim Bildungserwerb geführt hat. Im Zuge der Bildungsexpansion forcierte sich in der Tat in der Kohortenabfolge die intergenerationale Reproduktion von Bildungsungleichheiten verstärkt über Bildung statt über den sozioökonomischen Status. Die Bildungsexpansion trug offensichtlich dazu bei, dass Bildung (wieder) zum zentralen ‚ständebildenden’ Element der Erwerbs- und Lebenschancen wurde (vgl. Weber 1922: 247-248). Diese Entwicklung entspricht in einiger Hinsicht der Argumentation von Bourdieu (1982: 222), dass in Folge der Bildungsexpansion ein sozialer Verdrängungswettbewerb in Gang gesetzt werde, in dem die oberen Sozialschichten zur Wahrung des relativen Seltenheitsgrades ihrer Abschlüsse und damit einhergehend zur Aufrechterhaltung ihrer Position innerhalb der Struktur der Klassen nun doch noch verstärkt im Bildungsbereich investieren. Aufgrund vorliegender Befunde für Deutschland ist davon auszugehen, dass dieser Verdrängungsprozess sich von der Schule in die Hochschule verlagert hat (Meulemann 1992). Als Folge davon ist ein deutlicher Rückgang der Ungleichheit nach Schichtzugehörigkeit im Bereich der Realschule eingetreten (Müller und Haun 1994; Schimpl-Neimanns 2000), während gleichzeitig die soziale Homogenität in der Hauptschule drastisch gestiegen ist (Solga und Wagner 2001) und die soziale Ungleichheit beim Hochschulzugang deutlich zugenommen hat (siehe Müller und Pollak in diesem Band). Daher ist anzunehmen, dass (1) steigender Wohlstand in allen Sozialschichten und daher sinkende Beteiligungs- und Opportunitätskosten von Bildungsinvestitionen, (2) Veränderungen im instrumentellen Wert von Bildung und steigende Motivationen für höhere Bildung in allen Sozialschichten und (3) sinkende Bildungserträge und abnehmende Bereitschaft, in Bildung zu investieren, zwar zu
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Becker und Lauterbach
Anstiegen in der Bildungsbeteiligung geführt haben, aber nur bedingt zum Abbau von Bildungsungleichheiten beigetragen haben (vgl. Müller und Haun 1994; Blossfeld 1993). Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass sich infolge der Bildungsexpansion ein erhöhter Wettbewerb im Bildungssystem ergeben hat, der zur verschärften und dauerhaften sozialen Ungleichheit von Bildungschancen beiträgt.5 Des Weiteren ist zu vermuten, dass – wenn sich die Bildungsvorstellungen in den Sozialschichten angleichen würden, da etwa infolge der Eigendynamik der Bildungsexpansion die kulturellen Distanzen zur höheren Bildung auch in den unteren Sozialschichten abnehmen und sie daher bereit sind, sich an der höheren Bildung zu beteiligen (Becker 2003) – die primären Herkunftseffekte weiterhin entscheidende Restriktionen für die Realisierung dieser elterlichen Bildungsvorstellungen darstellen. Dann würden Schichtunterschiede bei den leistungsbezogenen Startchancen, schichtspezifische Differenzen in den schulischen Leistungen und auch die an die soziale Herkunft gekoppelte Vergabe von Bildungsempfehlungen die Bildungschancen in der Schule bestimmen (siehe auch den Beitrag von Ditton in diesem Band). So liegen Befunde vor, dass Kinder aus unteren Sozialschichten eher Bildungsempfehlungen für die Haupt- oder Realschule erhalten, auch wenn sie aufgrund ihrer schulischen Leistung für das Gymnasium befähigt sind (Becker 2000, 2003; Lehmann et al. 1996; Ditton 1989; Jürgens 1989; Wiese 1982). Diese Sortierung und Selektion durch das Bildungssystem wären weitere mögliche Erklärungen für persistente Bildungsungleichheiten, die aber einer eingehenden empirischen Überprüfung unterzogen werden müssten (vgl. dagegen Wiese 1982). Multikausalität von Bildungsungleichheiten Beim gegenwärtigen Forschungsstand in der empirischen Bildungsforschung können wir davon ausgehen, dass statt einer Monokausalität eine Vielzahl von Ursachen, eine komplexe Wechselwirkung verschiedener Einflüsse vorliegt, die für die Entstehung und Dauerhaftigkeit von Bildungsungleichheit verantwortlich zu machen ist. Wenn elterliche Entscheidungen über den weiteren Bildungsweg ihrer Kinder einen zentralen Ursachenkomplex für soziale Bildungsungleichheiten darstellen, stellt sich die Frage, woran diese sich – abgesehen von den ökonomischen Ressourcen für Bildungsinvestitionen – orientieren? Wie groß ist dagegen der Stellenwert von Schule (Curriculum, Unterricht, Lehrer)? Welche Rolle spielen die zwischen Sozialschichten variierenden Bildungsempfehlungen für Bildungschancen und Bildungserfolge? Hat die Eigendynamik der Bildungsexpansion überhaupt – und falls es zutrifft, auf welche Weise – bestehende Bildungsungleichheiten reproduziert? In welcher Weise generiert die institutionelle Struk5
Allerdings ist die Annahme von Erikson (1996), dass demografische Entwicklungen in der Abfolge von Kohorten mit unterschiedlichen Größenordnungen über ein Wechselspiel von Inter- und Intrakohortenkonkurrenz, Ausmaß und Dauerhaftigkeit von Bildungsungleichheiten beeinflussen, nicht so ohne weiteres empirisch zu überprüfen. Empirische Evidenzen hierfür haben Mayer und Blossfeld (1990) vorgelegt (siehe auch Becker 1993).
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tur des Bildungssystems – gemessen an den Bildungsangeboten, den möglichen Bildungswegen zur Erreichung von Bildungszertifikaten und den Zeitpunkten für die Bildungsentscheidungen und Bildungsübergänge – dauerhafte Bildungsungleichheiten? Wie ist es mit den partikularen Interessen des Wohlfahrtsstaates und der Akteure in der Marktwirtschaft, die hinter der institutionellen Struktur des Bildungssystems stehen? Nach Lutz (1983) hat die Institution höherer Bildung eine Doppelfunktion, die über die Elitenreproduktion die Struktur von Bildungsungleichheiten und damit die bestehende Klassenstruktur moderner Gesellschaften auf Dauer stellt (Abbildung 3): Erstens wird die soziale Schichtung durch eine einheitliche, ihrer zukünftigen gesellschaftlichen Stellung adäquate Erziehung der Gesellschaftsmitglieder reproduziert (Privilegienzuweisung). Zweitens dient sie nach Einführung und Kontrolle der Schulpflicht der Deckung des Arbeitskräftebedarfs leitender Stellung im Staatsapparat und von Dienstleistungen mit hoher gesellschaftlicher Bedeutung (Orientierung auf Spitzenpositionen in der Bürokratie des Staates) (siehe Coleman 1968). Abbildung 3: Reproduktion sozialer Ungleichheit durch Bildung
Soziale Schichtung: 1) Oberschicht 2) Mittelschicht 3) Unterschicht
Stratifikation des Bildungswesens 1) Gymnasium 2) Mittelschule 3) Volksschule
Betriebliche Hierarchie und Qualifikationsanforderungen: 1) Öffentlicher Dienst 2) Militär 3) Privatwirtschaft
Der Zugang zu höherer Bildung ist der historischen Sichtweise von Lutz (1983) zufolge gekennzeichnet durch ein Gleichgewicht zwischen Öffnung und Restriktion. Eine Öffnung ergibt sich, um Qualifikationen aus dem Bürgertum zwecks Bedarfsdeckung im Staatsapparat zu rekrutieren, und um die Restriktion beim Zugang zu höherer Bildung durch einen Glauben an mögliche soziale Aufstiege zu legitimieren. Die Balance von Öffnung und Schließung beim Zugang zur höheren Bildung dient auch der sukzessiven Durchsetzung hierarchischer Strukturprinzipien im Bildungssystem und Arbeitsmarkt sowie in der Durchsetzung meritokratischer Beurteilungsmaßstäbe im öffentlichen Dienst und später auch in privatwirtschaftlichen Großbetrieben (siehe auch den Beitrag von Konietzka in diesem
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Becker und Lauterbach
Band). Die Symbiose zwischen höherer Bildung und Staatsbeschäftigung auf der einen Seite und die Indifferenz zwischen höherer Bildung und Privatwirtschaft auf der anderen Seite dürften mit dazu beigetragen haben, bestehende Bildungsungleichheiten zu institutionalisieren und zu legitimieren. Restriktionen beim Zugang zur höheren Bildung sind letztlich auch notwendig, um Bildungsinflationen zu verhindern. Diese makrosoziologische Illustration ist eine wichtige Voraussetzung für die Erklärung von Bildungsungleichheiten, aber noch unvollständig, wenn das individuelle Bildungsverhalten und seine sozialen Mechanismen ausgeblendet bleiben. Betrachten wir den Sachverhalt genauer anhand eines heuristischen Modells für die Genese und Dauerhaftigkeit von sozialer Ungleichheit der Bildungschancen (Abbildung 4). Es dient als Makro-Mikro-Makro-Schema der soziologischen Tiefenerklärung dazu, die zuvor aufgeworfenen Fragen schrittweise einzugrenzen (Hedström und Swedberg 1998; Coleman 1986; McClelland 1967). Einige der Zusammenhänge haben wir zuvor bereits abgehandelt; daher beschränken wir uns im Folgenden auf die noch offenen Fragen. Abbildung 4: Heuristisches Modell für Genese und Dauerhaftigkeit von sozialer Ungleichheit der Bildungschancen
Persistenz der schichtspezifischen Bildungsungleichheit
Wohlfahrtsstaat und Schulpflicht, Marktwirtschaft und soziale Schichtung
Bildungswesen und Bildungsangebot
Schullaufbahnen
Qualifizierung und Selektion
Schulleistung
Schichtzugehörigkeit und Sozialisation
Bildungsabsicht
Bildungsübergang
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Offen ist einerseits die Frage nach den situationalen Mechanismen, die die Verbindungen zwischen der Makroebene (z.B. gesellschaftliche Kontexte wie etwa der Wohlfahrtsstaat und die gesetzliche Schulpflicht oder soziale Verhältnisse wie etwa die Marktwirtschaft und die soziale Positionierung in der gesellschaftlichen Schichtung) bzw. Mesoebene der Gesellschaft und der Mikroebene handelnder Individuen herstellen. Andererseits ist auch die Transformationsproblematik, also die Verbindung zwischen Mikro- und Makroebene und damit die Frage nach den transformierenden Mechanismen, mit denen sich eine Vielzahl individueller Entscheidungen und Handlungen (etwa Bildungsentscheidung) in das kollektive Phänomen wie etwa die Persistenz der Bildungsungleichheiten zwischen den Sozialschichten umwandeln, weitgehend ungeklärt. Und schließlich sind auch noch nicht alle Fragen der handlungsformierenden Mechanismen auf der Individualebene, sprich: der Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit des Elternhauses, der Genese von Bildungsaspirationen und des Bildungsverhaltens, vollständig geklärt. Ursachenfaktoren auf der Makroebene der Gesellschaft Betrachten wir zunächst nochmals die Makroebene der Gesellschaft und fragen nach der Verantwortung des modernen Wohlfahrtsstaates als korporativer Akteur für dauerhafte Bildungsungleichheiten. Auf der einen Seite scheint, dass durch die Verstaatlichung des Bildungssystems sowie der Einführung von Schulpflicht und Mindestdauer der Bildungsbeteiligung erstmal gröbste Bildungsungleichheiten beseitigt wurden (Mayer und Müller 1986). Dadurch konnten auch diejenigen Sozialschichten an der Bildung partizipieren, denen zuerst jeglicher Zugang zur institutionalisierten Ausbildung und zum Erwerb von Bildungszertifikaten verwehrt blieb. Auch ging der strukturelle und quantitative Ausbau des Bildungswesens, insbesondere der allgemein bildenden und berufsbildenden Schulen, mit der sozialen Öffnung von allgemeiner Bildung einher. Unklar bleibt allerdings im internationalen Vergleich, inwieweit die vergleichsweise geringen und weiterhin sinkenden Bildungsausgaben zur Verschärfung bestehender Bildungsungleichheiten zwischen den Sozialschichten, und hier beim Übergang zur tertiären Bildung, beigetragen haben (Schmidt 2002). Sicherlich haben Bildungsreformen – wie etwa die Angleichung der Ausbildungsdauern von Haupt- und Realschule, die Einführung von Stipendien im Rahmen des BAföGs, Ausbau der Bildungswege in der Berufsausbildung und im Hochschulbereich – zum relativen Abbau sozial selektiver Bildungsübergänge und damit zur relativen Verringerung von Bildungsungleichheiten beigetragen (Müller und Haun 1994).6 Allerdings gibt Goldthorpe (1996: 492) zu bedenken, dass trotz 6
Im Zuge der institutionellen Reformen trug die Angleichung der Bildungsdauern des Haupt- oder Realschulbesuches zum unbeabsichtigten Effekt bei, dass die Bedeutung der „hauptsächlichen“ Schullaufbahn zugunsten der Realschule oder des Gymnasiums zusehends schwand. Weil die Kostenunterschiede zwischen der Haupt- und Realschule sanken, entschieden sich zunehmend auch die Sozialschichten, die sich ansonsten für die Hauptschule entschieden haben, verstärkt für den
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Becker und Lauterbach
lang anhaltender Bildungsexpansion und vielfältiger Bildungsreformen die allgemeine Balance zwischen Nutzen und Kosten von Bildungsinvestitionen sich stetig in Richtung von Höherqualifizierung geändert hat, während sich die relativen klassenspezifischen Balancen in den Bildungsentscheidungen kaum geändert haben (Becker 2003). Bleiben zudem die Relationen zwischen primären und sekundären Herkunftseffekten relativ konstant, so werden Bildungsungleichheiten dauerhaft reproduziert (Goldthorpe 1996: 497). Des Weiteren orientierte sich die bundesdeutsche Bildungspolitik seit den 1960er und 1970er Jahren direkt am Zusammenhang von Klassenlage und Bildungschancen. Hierbei setzte sie an der Schwächung des Einflusses sozialer Herkunft an und versuchte über selektive Anreize die Bildungsaspiration in benachteiligten Schichten zu mobilisieren und zu fördern. Bildungspolitische Maßnahmen in der Bundesrepublik Deutschland waren insofern erfolgreich, als dass bislang benachteiligte Personen, wie Arbeiterkinder oder Kinder aus unteren Schichten, in zunehmendem Maße an höherer Bildung partizipieren konnten (Köhler 1992). Gemessen an den Intentionen für die Bildungsexpansion im Zuge des Ausbaus und der sozialen Öffnung des Bildungswesens war die damalige Bildungspolitik jedoch weniger erfolgreich als beabsichtigt. In der DDR hingegen fokussierte die Bildungspolitik das eindeutige Ziel, das „Bildungsmonopol der ehemals herrschenden Klassen“ oder das „Bildungsprivileg des Bürgertums“ zu brechen (Anweiler 1990). Entsprechende bildungspolitische Maßnahmen, wie gezielte systematische Förderung von Arbeiter- und Bauernkindern, Einrichtung von Arbeiter- und Bauernfakultäten bis zu deren Schließung im Jahre 1962 und schließlich die mit der Etablierung der polytechnischen Oberschule im Jahre 1965 erreichte Vereinheitlichung der Grundausbildung sowie das gesetzlich regulierte Recht und die Pflicht zur Berufsausbildung und die soziale Öffnung des DDR-Bildungswesens resultierten zunächst in umfangreichen sozialen Aufstiegen der bislang benachteiligten Sozialschichten (Geißler 1983, 1990). Jedoch ergab sich in der Folgezeit nach der bildungsmäßigen „Nivellierung nach oben“ (Meier 1981: 118) eine erneute soziale Schließung des Bildungswesens und Reetablierung intergenerationaler Ungleichheit von Bildungschancen (Meier 1981: 122). Diejenigen, die von der Bildungsexpansion in der DDR profitierten und in höhere Schichten, wie die soziale Klasse der Intelligenz und Kader, aufstiegen, konnten ihre privilegierte Stellung dazu nutzen, ihren Kindern relative Vorteile beim Bildungserwerb – insbesondere beim Zugang zur erweiterten Oberstufe (EOS) oder zum Studium – zu gewähren. Realschulbesuch. Zusätzlich hat auch die Veränderung von qualifikatorischen Anforderungen bei der Lehrstellenvergabe zur Entwicklung beigetragen, dass vor allem Arbeiterkinder verstärkt auf die Realschule wechselten. So haben Arbeiterfamilien offensichtlich erkannt, dass der Zugang zu den von ihnen traditionell besetzten Berufsbereichen ein erweitertes Allgemeinbildungsniveau voraussetzt. Mit der mittleren Reife ist dies ein Niveau, das ohne hohe Kosten und Risiken erreichbar ist (Müller und Haun 1994).
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In dieser Hinsicht war die DDR-Bildungspolitik erfolglos, weil das „bürgerliche Bildungsprivileg“ durch ein Bildungsprivileg der neuen Elite ersetzt wurde. Für nachfolgende Geburtskohorten ergaben sich ungünstigere Bildungschancen aufgrund der zunehmenden sozialen Schließung wie etwa politische Selektion beim Übergang zum höheren Bildungswesen (Solga 1997; Köhler 1995; Geißler 1990, 1983). So gesehen können unerwartete Folgen absichtsvoller Bildungspolitik zur Konservierung bestehender Bildungsungleichheiten beitragen. Ursachenkomplexe auf der Mesoebene der Gesellschaft Auf der Mesoebene der Gesellschaft ist das Bildungssystem und seine Institutionen angesiedelt, und den Ausführungen von Erikson und Jonsson (1996) zufolge können Strukturen und institutionelle Regelungen des Bildungssystems, insbesondere die Zahl und Höhe der zu überwindenden Barrieren bei den einzelnen Verzweigungen im Schul- und Ausbildungssystem, aber auch die Möglichkeiten für nach der Grundausbildung weiterführende Bildungswege als Ursachen von (dauerhaften) Bildungsungleichheiten angesehen werden. Mehrfach wurde darauf hingewiesen, dass in Deutschland die erste zentrale Weichenstellung im Bildungsverlauf frühzeitig nach vier Grundschuljahren erfolgt und damit vergleichsweise früher als in vielen anderen europäischen Staaten.7 Die 7
Im elterlichen Entscheidungsprozess über den weiteren Bildungsweg ihrer Kinder werden zeitbezogene Erwägungen und Kalkulationen einbezogen (Becker 1998: 53; Blossfeld und Müller 1997: 389). Weil sich die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Schulperformanz und die elterlichen Ressourcen in der Zeit verändern, wird der subjektive Nutzenerwägungsprozess als ein zeitabhängiger, sich an den veränderlichen Randbedingungen orientierender Iterationsprozess verstanden. Insbesondere bei Bildungsentscheidungen ist, wie bei vielen anderen Wahlentscheidungen, der Zeitfaktor von Bedeutung (Elster 1986: 10). Die subjektive Unsicherheit, der wahrgenommene Zeitdruck und fehlende Informationen über Renditen längerer Schulausbildungen, aber auch die mangelnde Fähigkeit, den Konsum von zu erwartenden Belohnungen aufzuschieben, kann dazu führen, dass eine Person (aus den unteren Sozialschichten) die Opportunitätskosten der höheren Bildung höher einschätzt als die Chancen von Amortisierung und überproportionaler Vergütung der höheren Bildung (Hillmert und Jacob 2003). So wird dann eine kurze Schullaufbahn wie die Hauptschule gewählt, um rasch das Ziel „frühe Erwerbseinkommen“ zu realisieren. Eine Präferenz für die „kurzsichtige“, eher gegenwartsbezogene Ergebniserzielung kann jedoch dazu führen, dass Entscheidungen getroffen werden, deren selektiver Charakter die Realisierung von Zielen in der Zukunft kaum mehr zulässt. Dies zeigen Beispiele, wonach Entscheidungen in der sensiblen Bildungsphase des Übergangs von der Grundschule auf die weiterführenden Schulen der Sekundarstufe I kaum zu revidieren sind (Henz 1997). Solche Phänomene treten vermutlich gehäuft auf, wenn die Zukunft ungewiss ist und sich die situativen Rahmenbedingungen (z.B. wirtschaftliche Entwicklung oder Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt in Ostdeutschland) rasch verändern (Becker 1999). Für unsere Fragestellung sind aber noch folgende Sachverhalte bedeutsam. Zum einen schwindet nach einer ersten Bildungsentscheidung beim Übergang von der Grundschule auf die Sekundarstufe I die Zeit für einen zu revidierenden oder nachzuholenden Schulformwechsel. Zum Zweiten ergibt sich insbesondere bei Familien mit geringen ökonomischen Ressourcen der ökonomisch bedingte, subjektiv wahrgenommene Zeitdruck, die Ausbildungszeit so kurz wie möglich zu halten. Zum Dritten
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Becker und Lauterbach
dadurch „erzwungenen“ Bildungsentscheidungen des Elternhauses haben langfristig bindende, schwerlich revidierbare wie sozial selektive Konsequenzen, die sich auf jede darauf aufbauende Weichenstellung im Bildungssystem und damit auf Struktur und Chancen im Bildungs-, Berufs- und Lebensverlauf auswirken.8 Zudem sind diese frühen Entscheidungen durch Unsicherheiten geprägt, da zu frühen Zeitpunkten noch geringere Evidenzen für Leistungsfähigkeit der Schüler und das bekundete Interesse der Schulkinder am eigenen Bildungsweg vorliegen (Becker und Schubert 2006).9 Daher wird sowohl den elterlichen Bildungsentscheidungen (Ambitionen und Interessen) als auch den Entscheidungen des Lehrers und seiner Vorurteile ein entsprechend großzügiger Handlungsspielraum eingeräumt (Erikson und Jonsson 1996).10 Zwar basiert die Bildungsempfehlung des Lehrers haupt-
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sind oftmals die Konsequenzen von Entscheidungen und Handlungen über die Zeit verteilt (Elster 1986: 10). Vor allem, wenn aus objektiven Gründen der Nutzen einer Entscheidung erst spät in der Zukunft einsetzt oder aus subjektiver Sicht die Zeitspanne, bis der Nutzen realisiert wird, zu lang erscheint, kann der Zeitfaktor erheblich auf den Entscheidungsprozess einwirken. Und schließlich können viertens bei einer Person eindeutige Zeitpräferenzen vorliegen, die die Bewertung von Kosten und Nutzen beeinflussen (Elster 1986: 11). „Je früher Schülerinnen und Schüler auf verschiedene Bildungsgänge verteilt werden, desto kürzer wird das Zeitfenster, das für schulische Interventionen zum Ausgleich herkunftsbedingter Leistungsunterschiede zur Verfügung steht, und desto stärker schlagen die sozialschichtabhängigen Lebenspläne, die Eltern für ihre Kinder entwerfen, auf die Übergangsentscheidung durch. Auch spätere Übergangsentscheidungen fallen nicht unabhängig von der sozialen Herkunft, aber deren Einfluss ist deutlich niedriger. Mit frühen Differenzierungsentscheidungen nehmen, wenn man nichts zusätzlich unternimmt, die sozialen Disparitäten der Bildungsbeteiligung zu. […] Je stärker sich die Schulformen als Entwicklungsumwelten unterscheiden und je weniger die Förderung im unteren Leistungsbereich gelingt, desto größer werden gleichzeitig die herkunftsbedingten Disparitäten des Kompetenzerwerbs“ (Baumert und Artelt 2003: 190). Mit Daten der PISA-2000-Studie haben Baumert und Schümer (2001) den engen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Lesekompetenzen aufgezeigt. Es ist auffallend, dass gerade in denjenigen Ländern die soziale Ungleichheit von Lesekompetenzen besonders groß ist, in denen früh nach unterschiedlichen Schullaufbahnen differenziert wird – eine sozialstrukturelle Segregation nach sozialer Herkunft erfolgt – und das Bildungssystem durch einen hohen Grad an Standardisierung und Stratifizierung des Bildungssystems bei einer ausgeprägten beruflichen Spezifität gekennzeichnet ist (z.B. Deutschland, Schweiz und Niederlande). Die günstigen Ergebnisse werden in den Ländern mit einer hohen Standardisierung, aber niedrigen Stratifizierung und beruflichen Spezifität erbracht. Offensichtlich vermag das sozial selektive Schulsystem Deutschlands nicht in ausreichender Weise die Schulkinder nach ihren Begabungen und Leistungen zu sortieren. Primär liegt die Bildungsentscheidung bei den Eltern, wobei das Bildungswesen die Lebensplanung der Eltern strukturiert: „[…] das Bildungswesen ist das Operationsfeld der Lebensplanung der Eltern“ (Meulemann 1985: 13). Deren Präferenzen haben Vorrang; dies ist auch in den institutionellen Regelungen für den Bildungsübergang festgelegt, auch wenn Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern existieren (Becker 1999). Somit haben die Eltern die vorrangige Verantwortung für die Lebensplanung des Kindes, während der Lehrer aber autonom ist in der Beurteilung der Leistung des Schülers. In der Genese und nach dem kausalen Gewicht rangiert der Elternwille vor dem Leistungsurteil der Schule, aber der Elternwille muss sich am Leistungsurteil der Lehrer orientieren (Meulemann 1985: 42).
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sächlich auf den Zensuren des Schulkindes, aber es ist auch nicht zu übersehen, dass die Zensuren größtenteils Produkt der Lehrereinschätzung des Schülerverhaltens im Leistungs- und Sozialbereich sowie der sozialen Schichtzugehörigkeit ist: Bildungsentscheidungen sind sozial selektiv, aber dies trifft eher für die Elternentscheidungen als für die Lehrerentscheidung zu (Ditton 1989: 228; siehe Ditton in diesem Band). Unklar sind die empirischen Befunde, was den Einfluss der Curricula, der Lehrer und ihres Unterrichts sowie die Ausstattung der Schulen auf Entstehung und Reproduktion von Bildungsungleichheiten anbelangt (siehe Ditton in diesem Band). Offensichtlich sind Grundschulen kaum in der Lage, sozial ungleiche Startchancen bei der Einschulung vollends auszugleichen. Nivellierungen werden zum einen spätestens wieder durch den sozial differenzierenden Bildungsübergang am Ende der Grundschulzeit zunichte gemacht (siehe im Detail: Becker und Schubert 2006). Zum anderen tragen die mit der Schule konkurrierenden Lernmöglichkeiten und die Sozialisation im Elternhaus selbst dazu bei (Entwisle et al. 1997; siehe Grundmann et al. in diesem Band). So scheinen lange Schulferien die Bemühungen der Schulen, nachteilige Herkunftseffekte auszugleichen, zu konterkarieren (Entwisle und Alexander 1995). Coleman und seine Mitarbeiter (1966) konnten mehrfach belegen, dass die materielle Ausstattung der Schulen nur eine hinreichende Bedingung darstellt, die geeignet wäre, Bildungsungleichheiten auszugleichen. Immer wieder schlagen soziale Herkunft und sozialstrukturelle Zusammensetzung der Schülerschaft im Vergleich zum Niveau der schulischen Ausstattung durch. Sozial heterogene Schülerschaften sind für die Entwicklung und Schulleistungen sozial benachteiligter Schulkinder vorteilhaft, ohne dass darunter zwangsläufig die Leistungsfähigkeit der sozial Privilegierten leidet. Für Deutschland wird immer wieder auf den sozial abträglichen Einfluss sozialstruktureller Homogenität in den Hauptschulen und den selektionsbedingten Lernumwelten hingewiesen (Solga und Wagner 2001 und in diesem Band; Klemm 1991). Ursachenkomplexe auf der Mikroebene der Gesellschaft Da bereits auf den Beitrag von elterlichen Bildungsaspirationen und -entscheidungen für Entstehung und Reproduktion von Bildungsungleichheiten eingegangen worden ist, konzentrieren wir uns verstärkt auf die Sozialisation im Elternhaus. Sie zählt zu einer der wichtigsten Ursachen von Bildungsungleichheiten (Grundmann et al. 1994; Grundmann 2006). Sicherlich spielen Erziehung wie etwa Weitergabe von allgemeinen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnissen und Vermittlung von Sprachgewandtheit, Allgemeinwissen und Sozialkompetenzen, die auf den höheren Schullaufbahnen nachgefragt werden, bis hin zu den Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit, Höflichkeit, Leistungsbereitschaft und Fähigkeit, Belohnungen aufzuschieben, eine gewichtige Rolle, die zum Bildungserfolg und Differenzen in den Bildungschancen beitragen. Aufgrund der besseren Ausstattung
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Becker und Lauterbach
mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital haben Kinder aus den höheren Sozialschichten Startvorteile, die offensichtlich durch die Schule kaum wettgemacht werden können (Becker und Lauterbach in diesem Band; Becker 1999, 1998; Aschaffenburg und Maas 1997; Teachman et al. 1996; De Graaf und Huinink 1992). Insbesondere Kinder von Migranten haben diese Nachteile zu tragen (Diefenbach und Nauck 1997). Daher schlagen bei denen auch die primären Herkunftseffekte bei den einzelnen Bildungsübergängen in besonderer Weise durch (Kristen 2002; Diefenbach in diesem Band). Allerdings scheint es so, dass wir – was die Sozialisation im Elternhaus und ihre Wirkungen für den Bildungserfolg anbelangt – nichts Genaueres über den „zirkulären Verlauf des Sozialisationsprozesses“ (d h. Kommunikations- und Interaktionsstrukturen; Entwicklung von Aspirationen; Strategien und Familientradition etc.) wissen (vgl. Hurrelmann 2000: 170). Allerdings haben die neueren RationalChoice-Modelle der Bildungsentscheidungen und ihre empirische Anwendungen deutlich gemacht, dass Bildungsentscheidungen nicht durch psychologische Dispositionen wie „Bildungsfreudigkeit“, „Bildungswilligkeit“, „Planungshorizont“ erklärt werden können, sondern dass diese Planungen der Schullaufbahnen wohlüberlegt sind und sich an den objektiven Möglichkeiten des Elternhauses orientieren (Meulemann 1985: 55). 3.
Beiträge des Buches
Versuchen wir ein Zwischenfazit, so bleibt festzuhalten, dass wir über viele detaillierte Beschreibungen von Bildungsungleichheiten verfügen, aber wenige theoretische Erklärungen, die sich zudem empirisch bewährt haben, und noch weniger systematische Anwendungen von Theorien und Modellen der sozialen Ungleichheit von Bildungschancen. Nach den aufgeregten politischen Diskussionen über Bildungsungleichheiten ist es jedoch an der Zeit, die Ursachen für ungleiche Bildungschancen und dauerhafte Bildungsungleichheiten systematisch, detailliert und präzise aus sozialwissenschaftlicher Perspektive zu untersuchen. Sicherlich ist im Zuge der Bildungsexpansion das Bild des „katholischen Arbeitermädchens vom Lande“ nicht geeignet, die dauerhafte Bildungsungleichheit nach sozialer Herkunft zu beschreiben und zu erklären. Aber unserer Ansicht nach besteht in der Bildungssoziologie weiterhin ein Defizit an soziologischen Tiefenerklärungen über Ursachen und sozialer Mechanismen, die zur sozialen Ungleichheit von Bildungschancen führen oder zumindest zu ihrer Entstehung und Reproduktion beitragen. Allerdings ist auch ein Defizit an empirischen Untersuchungen zu beklagen. Das ambitiöse Ziel, die aufgezeigten Lücken zu schließen, werden wir bei weitem nicht erreichen, und das nicht weil Theorien und Befunde vorläufig sind, sondern weil vor allem die Datenlage (immer noch) ungünstig ist. So werden komplexe soziale Mechanismen und Prozesse, die letztlich zu dauerhaften Bildungsungleichheiten führen, beispielsweise nicht direkt gemessen und deshalb verbleiben Ursachenkomplexe im Dunkeln. Es kann davon ausgegangen werden, dass es
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weiterhin noch einen erheblichen Forschungsbedarf gibt, der vor allem für die Bildungspolitik und Schulforschung von erheblichem Interesse sein dürfte. Denn wir wollen schließlich wissen, wie und warum diese erklärungsbedürftigen Phänomene wie dauerhafte Bildungsungleichheiten zustande kommen, um die damit verbundenen Folgeerscheinungen in effizienter Weise abstellen zu können. Der vorliegende Sammelband ist primär soziologisch angelegt. In den einzelnen Beiträgen werden sozial selektive Zugänge zur Bildung und soziale Ungleichheit von Bildungschancen im Lebensverlauf analysiert werden. Im Vordergrund stehen neben den Ursachen vor allem die Mechanismen, die für die Genese und Dauerhaftigkeit von Bildungsungleichheit verantwortlich sind. Für den Bildungszugang und Bildungserwerb beschränken wir uns nicht auf die allgemeine Schulbildung, sondern wir wollen von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter die sich selektiv und kumulativ auswirkenden Dimensionen bestimmen, die zu Benachteiligungen bei der Bildungsbeteiligung und beim Erwerb schulischer und beruflicher Qualifikationen führen. Die Auswahl der einzelnen Themen erfolgte in der zuvor dargestellten Logik von Ursachen im Zeitverlauf des individuellen Lebens und den Ursachenkomplexen auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen. In ihrem Beitrag über Bildung als Privileg und Fluch – zum Zusammenhang zwischen lebensweltlichen und institutionalisierten Bildungsprozessen gehen Matthias Grundmann, Uwe H. Bittlingmayer, Daniel Dravenau und Olaf GrohSamberg auf Lern- und Bildungsprozesse in der Familie ein und werfen dabei die Frage auf, welche Konflikte zwischen den im Sozialisationsprozess vermittelten Bildungsinhalten und den von Schulen als Mittelschichtinstitution angebotenen Bildungsinhalten bestehen, die zur Manifestierung von Bildungsungleichheiten beitragen können. Die mangelnde Kongruenz der Bildungsinhalte für die unteren Sozialschichten, d h. der zwischen den Sozialschichten differierende Grad einer Entsprechung von erfahrungsweltlichen Relevanzstrukturen mit den Anforderungen des (höheren) Bildungssystems, dürfte eine gewichtige Ursache für Entstehung von Bildungsungleichheiten, ihre Reproduktion über Generationen und Verfestigung in der historischen Zeit darstellen, da dort die lebensweltlichen Erfahrungen der Kinder aus den Unter- und Arbeiterschichten defizitär sind und von diesen auch in dieser Art und Weise erfahren wird. Diese Sichtweise steht übrigens auch in der Tradition älterer Arbeiten von Kob (1963) und Hitpass (1965). Für Bildungsaufsteiger wird die höhere Bildung insofern zum „Fluch“, als dass sie sich von der Herkunftsfamilie entfremden und ihre milieuspezifisch erworbenen Handlungsrationalitäten verlieren; d h. die fehlende Entsprechung lebensweltlicher und institutionalisierter Bildung bzw. die Hierarchisierung von Handlungs- und Formalwissen in den Bildungssystemen fördert Entstehung und Verfestigung von Bildungsungleichheiten zuungunsten sozial benachteiligter Sozialschichten. Aber auch für Privilegierte bergen Bildungsinvestitionen nach Ansicht der Autoren Gefahren, wenn aufgrund ungünstiger wirtschaftlicher Entwicklungen die Verwertbarkeit von Bildungspatenten und der Statuserhalt nicht mehr gesichert er-
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scheinen. Aus den Ausführungen der Autoren können wir entnehmen, dass wir im Grunde genommen immer noch zu wenig über die Mechanismen und Prozesse in den Elternhäusern und Sozialschichten wissen, die zu jeweils spezifischen Wissensbeständen, Bildungsstrategien, Bewertungen von Bildung und Unterschieden im Bildungsverhalten führen. Seinen programmatischen Beitrag über „Soziale Ungleichheit im Bildungsverlauf – zum Verhältnis von Bildungsinstitutionen und Entscheidungen“ eröffnet Steffen Hillmert mit der Frage, welche Rolle man der Struktur von Bildungssystemen als Erklärungsfaktor für soziale Bildungsungleichheiten zuschreiben könne. Hierbei geht es – wie bereits oben angedeutet – darum, ob ein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen institutionellen Strukturen des Bildungssystems und Formen wie Ausmaße sozialer Ungleichheit von Bildungschancen besteht, der sich über das Verhältnis zwischen institutionellen Vorgaben und individuellen Entscheidungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Lebensverlauf ergeben könnte. Für die Aufdeckung von Ursache-Wirkungszusammenhängen ist die individuelle Vorgeschichte für Bildungsungleichheiten im Längsschnitt des Lebensverlaufs zu analysieren. Da Ursache und Wirkung zeitlich auseinander liegen, bedarf es für die Beurteilung von Ursachen der Bildungsungleichheiten einer Längsschnittanalyse anhand von Lebens- und Bildungsverläufen. Erstens muss die individuelle Entwicklung von Kompetenzen, gesteuert durch familiale und außerfamiliale Umwelten berücksichtigt werden. Zweitens sind Akkumulationen von Bildungspatenten als Eintrittsbilletts für andere Institutionen des Bildungssystems zu erfassen und drittens sind Mechanismen und Prozesse individueller und elterlicher Bildungsentscheidungen (einschließlich der Entwicklung von Präferenzen und Leistungen) abzubilden. In ihrem Beitrag über soziale Ungleichheit und Kinderbetreuung untersucht Michaela Kreyenfeld mithilfe aktueller Mikrozensusdaten die soziale Ungleichheit bei der Nutzung des Angebots an Kindertageseinrichtungen. Sie geht der Frage nach, welche Einflüsse von sozialen und ökonomischen Determinanten des Elternhauses ausgehen, dass Eltern ihre Kinder in den Kindergarten schicken. Während seit 1996 ein Recht auf einen Halbtagsbetreuungsplatz im Kindergarten besteht, sind andere Betreuungsformen nur sehr eingeschränkt verfügbar. Trotz seiner universalen Ausrichtung zeigen die von Kreyenfeld vorgelegten empirischen Analysen deutliche sozialstrukturelle Ungleichheiten im Zugang und in der Nutzung des Kindergartens. Angesichts der oftmals geäußerten bildungspolitischen Forderung nach einer gezielten Förderung sozial benachteiligter Kinder vor ihrer Einschulung verfolgen Rolf Becker und Wolfgang Lauterbach in ihrem Beitrag über den Nutzen vorschulischer Betreuung und Elementarbildung das Ziel, die Relevanz solch einer Forderung für Arbeiterkinder empirisch zu überprüfen. Es stellt sich die Frage, ob sich der Besuch von vorschulischer Kinderbetreuung über eine mögliche Herstellung von gleichen Startchancen günstig auf die Bildungschancen von – gemessen an
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ihrer sozialen Herkunft – relativ sozial benachteiligten Schulkindern auswirkt. Bei Kontrolle sozialer Selektivität beim Zugang zur vorschulischen Kinderbetreuung gibt es Hinweise dafür, dass vorschulische Kinderbetreuung die Bildungschancen von Arbeiterkindern verbessert. Allerdings relativeren sich diese Bildungseffekte, wenn weitere sozialstrukturelle Merkmale des Elternhauses berücksichtigt werden. In seinem Beitrag „Soziale Ungleichheit von Bildungschancen und Chancengerechtigkeit“ geht Rolf Becker in Anknüpfung an das Gutachten von Walter Müller und Karl Ulrich Mayer für den Deutschen Bildungsrat der Frage nach, ob im Zuge der Bildungsexpansion das bildungsreformerische Ziel, nämlich Chancengleichheit durch Bildung, erreicht wurde. Es gilt zu klären, warum der Zugang zum Gymnasium immer noch deutlich von der sozialen Herkunft abhängt. Dabei wird die These verfolgt, dass Chancengleichheit im Sinne der statistischen Unabhängigkeit der Bildungschancen von sozialer Herkunft so lange Utopie bleiben wird, solange die Startchancen, d.h. die Voraussetzungen für den Bildungserfolg bei der Einschulung, an die soziale Herkunft der Schulkinder geknüpft ist. Die empirischen Befunde zeigen, dass gewichtige Gründe für Bildungsungleichheiten in der Erziehung und Sozialisation im Elternhaus, also im Vorfeld der Einschulung und Ausbildung, liegen. Ein bislang vernachlässigtes Thema, weil im Zuge der Bildungsexpansion vornehmlich der Übergang auf die höheren Ebenen des Bildungssystems im Vordergrund des Interesses stand, greifen Heike Solga und Sandra Wagner in ihrem Beitrag über die Zurückgelassenen in der Bildungsexpansion auf und diskutieren Gründe und Folgen der sozialen Verarmung der Lernumwelt von Hauptschülerinnen und Hauptschülern. Die durch die Verzweigungen im bundesdeutschen Schulsystem hervorgebrachten Segregationen nach sozialer Herkunft führen zum einen zur sozialen Homogenisierung sozial benachteiligter Schulkinder in der Hauptschule und zum anderen wird diese Benachteiligung durch ungünstige Lernkontexte verschärft, während Schulkinder in den anderen sozial heterogenen Schullaufbahnen zusätzlich von günstigen Lernumwelten profitieren. Offensichtlich werden durch Stratifizierung des Schulsystems und Segregationstendenzen die negativ privilegierten Schulkinder langfristig schlechter gestellt. Die Folge sozialer Verarmung ist unter anderem das hohe Risiko der Hauptschüler, die Schule ohne jeglichen Abschluss zu verlassen, und dies ist offensichtlich in den Bundesländern der Fall, in denen die Hauptschulquoten vergleichsweise niedrig sind. Langfristige Benachteiligung im Lebensverlauf und Stigmatisierung sind Kosten der Bildungsexpansion, den diese Sozialgruppen zu tragen haben. Bildungschancen und Bildungserfolge ausländischer Schulkinder und Kindern von Migranten in der Schule sind ebenfalls in der empirischen Bildungsforschung vernachlässigte Fragestellungen, denen sich Heike Diefenbach zuwendet. Im Vordergrund des Beitrags steht die Frage, ob diese Schülergruppen entweder Sorgenkinder des deutschen Bildungssystems seien oder sie eine bislang ungenutzte Bildungsreserve darstellen. Empirisch gut belegt ist die relative Benachteiligung von
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Migrantenkindern in vorschulischen und allgemein bildenden Bildungsbereichen. Eher defizitär ist die systematische Erklärung für dieses Faktum und ihre empirische Absicherung. So bleiben wegen dieser Forschungsdefizite der Stellenwert familiärer und kultureller Hintergründe, individueller Merkmale und institutioneller Selektionen noch im Dunkeln. Geklärt zu sein scheint zum einen, dass der Einfluss sozioökonomischer Ressourcen von Ausländer- und Migrantenfamilien auf den Bildungserfolg ihrer Kinder bislang überschätzt wurde. Zum anderen sind weiterführende Untersuchungen zum Zusammenhang von Migrationshintergrund, Bildungsbeteiligung und Bildungserfolg mehr als dringlich. Hartmut Ditton widmet sich dem Beitrag von Schule und Lehrern zur Reproduktion von Bildungsungleichheit. Es geht um die Klärung komplexer Verursachung von dauerhaften Bildungsungleichheiten im Zusammenspiel von individuellen, familialen und schulischen Kontextbedingungen. Auf schulstruktureller Ebene sind früher Zeitpunkt der Selektion für den weiteren Bildungsweg, Ausleseverhalten von Lehrkräften, Vergabe von sozial selektiven Bildungsempfehlungen, schulische Selektionen durch Klassenwiederholungen und schulische Rückstufungen sowie fehlende Angebote individueller Förderung sozial benachteiligter Schüler zu nennen. In seinem Beitrag über Berufsausbildung und Übergang in den Arbeitsmarkt diskutiert Dirk Konietzka den Zusammenhang zwischen beruflicher Bildung und sozialer Ungleichheit. Er stellt sich die Frage, in welcher Weise das deutsche Ausbildungssystem sowohl beim Zugang zur beruflichen Ausbildung als auch beim Übergang in den Arbeitsmarkt soziale Ungleichheit hervorbringt und reproduziert. Gerade weil Betriebe den Zugang zur beruflichen Ausbildung regeln, und das vor dem Hintergrund zunehmender Bedeutung interner berufsspezifischer Arbeitsmärkte, stellten sie selektive „gate keeper“ von Ausbildungschancen dar und begünstigen die Stratifizierung des Zugangs zur Berufsausbildung. Im Zuge der Bildungsexpansion scheint die Kopplung zwischen erfolgreicher Schulausbildung, Zugang zur Berufsausbildung und zur Erwerbstätigkeit wegen systematischer Schließungsprozesse immer enger geworden zu sein, dass gerade den Verlierern der Bildungsexpansion, die Hauptschüler aus unteren Sozialschichten, zunehmend Schwierigkeiten bereitet, auf direktem Wege in das Erwerbssystem zu gelangen, und die zunehmend Gefahr laufen, durch Abiturienten im dualen Ausbildungssystem verdrängt zu werden. Weshalb gibt es so wenige Arbeiterkinder in Deutschlands Universitäten? Dieser Frage gehen Walter Müller und Reinhard Pollak nach, um Prozesse der sozialen Ungleichheit nach sozialer Herkunft beim Zugang zur Tertiärbildung aufzudecken. Diese sind alleine schon deswegen spannend, weil sich Deutschland im internationalen Vergleich durch eine niedrige Hochschul- und Akademikerquote bei einer ausgeprägten sozialen Ungleichheit von Bildungschancen auszeichnet. Vermutlich haben das Zusammenwirken individueller, zwischen den Sozialschichten differierende Bildungsentscheidungen und institutioneller Vorgaben des Bil-
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dungssystems, wie etwa frühe Aufteilung von Schulkindern in verschiedene Bildungslaufbahnen, die Entwicklung der Attraktivität berufsbezogener Bildung und schließlich die verzweigte und daher entscheidungsintensive Struktur des komplexen allgemein bildenden und berufsbildenden Ausbildungssystems zu diesem Ergebnis beigetragen. Auch die zunehmende Zahl von Ausbildungsalternativen nach dem Abitur und die Diversifizierung sozial selektiver Ausbildungsanreize für Studienberechtigte dürften mit ausschlaggebend für den engen Konnex zwischen sozialer Herkunft und Studienchancen sein. In ihrem Beitrag über lebenslanges Lernen und soziale Inklusion untersuchen Klaus Schömann und Janine Leschke die Frage, wie soziale Ungleichheit bei der Beteiligung an beruflicher Weiterbildung zustande kommt und welche Folgen diese Form der Bildungsgleichheit für Individuen und Gesellschaft hat. Dabei vertreten sie die provokante These, dass allzu großes Vertrauen in die Marktmechanismen beim Zugang zur beruflichen Weiterbildung tendenziell zur Fortschreibung bzw. Verstärkung sozialer Ungleichheiten geführt habe. Zunehmende Tendenzen, rasche Bildungserträge über berufliche Weiterbildung realisieren zu wollen, haben in Phasen gesamtwirtschaftlicher Stagnationen und Rezessionen verstärkt zur sozialen Selektivität von Weiterbildungschancen geführt. Neben der Selbstselektion ist die Fremdselektion ein weiterer Mechanismus, über den Arbeitgeber den Zugang ihrer Beschäftigten zu Weiterbildungsmaßnahmen steuern. Selektive Vorteile beim Zugang zur institutionalisierten und daher allgemein anerkannten beruflichen Weiterbildung führen über sozial ungleiche Bildungschancen zu verschärften Ungleichheiten auf den Arbeitsmärkten und in den Berufsverläufen. Hierbei vergrößern sich – verstärkt durch die institutionellen Barrieren im Weiterbildungssektor – die Disparitäten in Bezug auf Bildung, Einkommen, Sozialstatus und Lebenschancen zwischen den besser gebildeten und den un- und angelernten Erwerbspersonen. In einer Simulationsstudie über die sozialstrukturellen Grenzen politischer Einflussnahme untersucht Volker Müller-Benedict die intendierten und nicht intendierten Folgen von Bildungspolitik. Simulationen sind besonders geeignet, komplexe bildungssoziologische Modelle, d.h. formalisierte Theorien sozialer Strukturen, Mechanismen und Prozesse oder vereinfachte Darstellungen sozialer Realität, in eleganter wie effizienter Weise empirisch zu überprüfen. Sie sind daher auch sinnvoll, um bildungspolitische Implikationen und ihre Wirkungen zu evaluieren, zumal bei der Implementation politischer Programme nur die ersten Schritte in einer längeren, oftmals komplexen Wirkungskette vorab eingeschätzt werden können. Müller-Benedict versucht mit einem Simulationsmodell zu eruieren, wie limitierende Strukturen des Bildungssystems wirken, wenn bildungspolitische Maßnahmen zur Steigerung der Leistungen des Bildungssystems durchgeführt werden. Es geht hierbei um Spielräume und Möglichkeiten einer rationalen Politik innerhalb struktureller Gegebenheiten etwa um Veränderungen von Strukturen des Bildungssystems oder um Reformen des Schulgeschehens bzw. des
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Unterrichts. Des Weiteren kann aufgespürt werden, welche Rolle individuelle Faktoren (persönliche Begabungen, Fähigkeiten, etc.), schulische Faktoren (Schulform, Unterrichtsform, Ausstattung etc.) oder familiale Faktoren (Erziehung, Bildungsmotivation etc.) für die Entwicklung von Schülerleistungen spielen. Ebenso können Folgen von früher Förderung, von Varianten der Förderungen von Begabten oder von Kindern aus Unterschichten, von Zeitpunkten der Selektion im Bildungssystem auf die schulische Performanz, Schülerleistungen, Abschlussquoten und Chancenverteilungen simuliert werden. Insgesamt kommt Müller-Benedict zum Schluss, dass sowohl Simulationen als auch konkrete Bildungspolitik ein unsicheres Unternehmen sind, bei denen nicht abzusehen ist, ob die avisierten Ziele tatsächlich erreicht werden können, da sich die Randbedingungen in der Zeit ändern können, was zu unvorhergesehenen Resultaten und nicht beabsichtigten Folgen führen kann. Das von Müller-Benedict vorgestellte Simulationsmodell ist zum einen geeignet, komplexe Wechselwirkungen im Bildungssystem augenfällig zu machen, und zum anderen verdeutlicht es, dass auch im Bildungsbereich die Politik kleiner Schritte ein sinnvolleres Unterfangen ist, als die kurzsichtige Jagd nach dem großen Wurf.
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Einleitung
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Bildung als Privileg und Fluch – zum Zusammenhang zwischen lebensweltlichen und institutionalisierten Bildungsprozessen Matthias Grundmann, Uwe H. Bittlingmayer, Daniel Dravenau und Olaf GrohSamberg
1.
Einleitung
Im Vergleich zu Bildungsinstitutionen kommt dem Beziehungsgeflecht Familie eine besondere Bedeutung beim Bildungserwerbsprozess zu. Insbesondere die Herkunftsfamilie ist der Lebensbereich, in dem erfahrungsnahe Bildungsinhalte vermittelt und angeeignet werden. Das bedeutet, dass sich Bildungsinhalte, aber auch Lern- und Bildungsprozesse in der Familie deutlich von jenen unterscheiden, die in institutionalisierten Bildungseinrichtungen vorherrschen. Aus diesem Grunde ist für eine Analyse von Bildungsprozessen in der Familie der enge Analysefokus der Bildungsforschung auf das Bildungssystem zu erweitern. Er ist durch die Analyse jener lebensweltlichen Bildungsinhalte zu ergänzen, die im Kontext der Familie, dem Herkunftsmilieu bzw. den privaten Lebenszusammenhängen existieren. Eine solche erweiterte Analyse von Bildungsprozessen ist auch für die Frage bedeutsam, wie Bildungsungleichheiten entstehen und über Generationen reproduziert bzw. historisch verfestigt werden. Das soll im vorliegenden Beitrag theoretisch begründet und anhand vorliegender Studien untermauert werden. Nach einer sozialisationstheoretisch angeleiteten Unterscheidung institutionalisierter und lebensweltlicher Bildung werden Thesen über die generelle Bedeutung von Bildung im Sinne einer Genese der Handlungsbefähigung und deren Überlagerung durch sozialstrukturell verfestigte und gesellschaftspolitisch legitimierte Bewertungen von Bildung dargelegt. Die Aufwertung institutioneller Bildung gegenüber lebensweltlichen Bildungsprozessen wird als eine zentrale Ursache für die Entstehung und Verfestigung von Bildungsungleichheiten identifiziert, ein gesellschaftlicher Normierungs- und Selektionsprozess, der sich bis in die (normative) Problematik wissenschaftlicher Bildungsbegriffe und Kompetenzkonzepte nachzeichnen lässt. Die Argumentation soll verdeutlichen, dass eine umfassende Analyse von Bildungsprozessen in institutionalisierten und lebensweltlichen Bildungskontexten bisherige Defizite der Bildungsforschung überwinden kann, wenn der enge Analysefokus auf das Bildungssystem aufgehoben und stattdessen Bildungsmilieus in das Zentrum der Forschung gerückt werden. Damit wird es möglich, jenes differente Bildungswissen und jene differenziellen Bildungserwerbsstrategien zu identifizieren, die sich jenseits des Bildungssystems in sozialen Lebenswelten konstituieren.
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2.
Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau und Groh-Samberg
Sozialisationstheoretische Grundlagen: Differenzen zwischen institutionalisierter und lebensweltlicher Bildung
Im Rahmen einer ungleichheitssoziologischen Bestimmung von Bildungsprozessen spielt die Familie als Sozialisationsinstanz eine besondere Rolle. Im Gegensatz zu institutionalisierten Bildungsprozessen im Bildungssystem selbst, die im Vordergrund bildungssoziologischer Überlegungen stehen, sind Bildungsprozesse in der Familie vor allem an lebensweltliche Erfahrungsinhalte gebunden. So lassen sich Bildungsprozesse im Kontext von Schule und Berufsbildungsinstitutionen hinsichtlich ihrer strukturierenden Wirkung auf die Bildungschancen und die Verwertungsfunktion der erworbenen standardisierten Bildungsqualifikationen systematisch analysieren (Becker in diesem Band). Diesen Vorteil nutzt die Bildungssoziologie, um den Wandel und die Stabilität von Bildungserwerbsprozessen und Bildungsungleichheiten zu erkunden. Zugleich geht damit aber auch eine Engführung des Bildungsbegriffs und des Forschungsfeldes einher: Bildung wird vornehmlich in ihrer strukturfunktionalen Bedeutung als gesellschaftlich verwertbares Gut erfasst (Allmendinger und Aisenbrey 2002) und als solches in fast allen Forschungsfeldern der Bildungsforschung diskutiert und analysiert (siehe dazu Tippelt 2002). Demgegenüber fristen Analysen über Bildung als Prozess der systematischen Strukturierung von Erfahrungs- und Handlungswissen, das nicht in Bildungsinstitutionen erworben wird oder verwertbar gemacht werden kann, sondern in lebensweltlichen Erfahrungskontexten wie der Familie vermittelt und genutzt wird, ein Schattendasein (Grundmann et al. 2003). Zwar herrscht Einstimmigkeit bei allen Bildungsforscherinnen und Bildungsforschern, dass die Familie als der Lebensbereich zu gelten hat, aus dem heraus sich Bildungserwerbsprozesse maßgeblich entwickeln und speisen (Büchner 2003: 15; Becker in diesem Band). Gleichwohl besteht immer wieder die Tendenz, auch die in der Familie erworbenen Wissensbestände und Handlungsbefähigungen letztlich nur unter dem engen Blickwinkel zu thematisieren, inwiefern sich diese in schulisch verwertbares Wissen umsetzen lassen. Diese Engführung ist verständlich, wenn man die Schwierigkeiten einer systematischen Erfassung erfahrungsweltlicher Bildungsinhalte in Rechnung stellt. Familien lassen sich eben nicht hinreichend über ihre institutionelle Form erfassen, da diese lediglich durch die rechtliche Verankerung von Familie – mithin politisch – begründet ist (Lüscher 2001). Familie zeichnet sich jedoch auch durch vielfältige Formen der – vornehmlich generativ begründeten – Beziehungsgestaltung aus (Lüscher 1993, 2002). Die Vielfalt privater, vornehmlich familialer Lebensformen lässt sich empirisch daher auch nicht hinreichend über Strukturmerkmale der Familie erfassen. Zwar lassen sich aus der strukturellen Zusammensetzung und der Ressourcenausstattung von Familie erklärungskräftige Indikatoren z.B. für Bildungserwerbschancen (Diefenbach 2000) herleiten, nicht aber Aussagen über die Qualität familialer Lebensführung (Grundmann 1999a). So hat die Familienstruktur (z.B. gemessen an der vollständigen Kernfamilie, Trennungs-
Bildung als Privileg und Fluch
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oder Scheidungsmerkmalen, der Geschlechterkomposition und der Geschwisterreihe) zwar einen Einfluss auf die Bildungserwerbschancen Heranwachsender (Grundmann 1992). Diese sind bei Trennungs- und Scheidungsfamilien geringer, nehmen mit der Anzahl der Kinder ab und variieren je nach Geschwisterreihe und Geschlechterkomposition. Auch für die soziale und kulturelle Ressourcenausstattung der Herkunftsfamilie lassen sich deutliche Einflüsse auf die Bildungserwerbschancen nachweisen: Je höher der Bildungsstand der Eltern, je ausgeprägter deren kulturelle Orientierung und je intensiver deren Sozialkontakte (gemessen an sozialen Netzwerken), desto besser sind die Bildungschancen der Kinder (Grundmann 1998). Damit ist der Variablenkranz der familienbezogenen Bildungsforschung jedoch schon umrissen, keineswegs aber die bildungsrelevanten Beziehungs- und Lebensführungsaspekte von Familie erfasst. Eben diese sind aber für die Analyse von Bildungsprozessen in der Familie und für die Analyse differenter Bildungsinhalte in Herkunftsfamilie erforderlich. Ein zentrales Problem der empirischen Bildungsforschung – einschließlich der klassischen schicht- bzw. sozialstrukturellen Sozialisationsforschung – besteht darin, dass sie Bildung vornehmlich über deren institutionelle Ausprägungen definiert und misst sowie in Bezug auf systemische Bildungsprozesse bewertet. Erfahrungsweltliche Bildungsinhalte werden damit nicht für sich genommen thematisiert, sondern allein in Hinblick auf ihren Erklärungsbeitrag für schulischen Erfolg (Grundmann 1994). Dabei ist diese Definition bildungs- und sozialisationstheoretisch gesehen höchst problematisch: Hier wird mit Bildung nämlich in erster Linie ein Prozess der Strukturierung von Erfahrungs- und Handlungswissen bezeichnet, mit dem spezifische Handlungsbefähigungen und Praktiken der Lebensführung einhergehen. Bildung verweist somit auf den Erwerb basaler Handlungskompetenzen, die weit über den Bereich institutionell vermittelbarer Bildung hinausgehen (von Hentig 1996). Die Überlagerung bzw. Vereinnahmung von Bildung durch die Eigenentwicklung von Bildungsinstitutionen und Bildungssystemen hat sich erst historisch ausgebildet, was in der historischen Bildungsforschung mittlerweile umfassend dokumentiert wurde (Titze 2003). Diesen Prozessen ist auch die Schwierigkeit der empirischen Bildungsforschung geschuldet, lebensweltlich vermittelte von institutionell arrangierten Bildungsprozessen bzw. -inhalten zu trennen. Das aber ist notwendig, wenn Bildungsprozesse in der Familie und deren Wechselwirkung mit institutionellen Bildungsprozessen in Schule, Berufsbildungsinstitutionen und Weiterbildungseinrichtungen untersucht werden sollen. Mit der durch die Institutionalisierung und Professionalisierung des Bildungssystems genährten Illusion, Lernen fände allein in der Schule statt (Illich 1995), werden eben jene Lebens- und Erfahrungswelten ausgeblendet, in denen sich Heranwachsende – aber auch Erwachsene – das Wissen und die Fähigkeiten aneignen, die sie für die alltägliche Lebensführung benötigen. Für solche Lern- und Bildungsprozesse steht die Familie. Denn in ihr werden die in Generationenbeziehungen gelebten Reziprozitäten hervorgebracht, über die soziale Bindung, Solida-
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Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau und Groh-Samberg
rität und Verlässlichkeit hergestellt werden (Grundmann 2004a). Daraus gehen auch jene Aneignungsformen von Handlungswissen hervor, die als soziale Basiskompetenzen bezeichnet werden. Bildungsprozesse in der Familie werden also vor allem über die Qualitäten familialer Beziehungsformen wie z.B. Reziprozitätserfahrungen, Art der Kommunikationsformen, soziale Anerkennung bzw. Unterstützung beeinflusst. Über diese werden gemeinsame, lebensweltrelevante Handlungsstrategien ausgehandelt, ausgetauscht und angeeignet (Gerris und Grundmann 2002). Solche Aneignungsformen lebensrelevanten Erfahrungs- und Handlungswissens werden zugleich maßgeblich durch sozialmilieuspezifische Erfahrungsräume und Opportunitätsstrukturen beeinflusst. Daher lassen sich erfahrungsweltliche Bildungsprozesse nicht ohne Rückgriff auf das Herkunftsmilieu und die Lebenszusammenhänge in Nachbarschaft und Freundeskreisen beschreiben. 3.
Zur ungleichheitstheoretischen Bestimmung von Bildung: Bildung als Privileg und Bildung als Fluch
Während erfahrungsweltliche Bildungsinhalte über eine familienspezifische – d h. auch hochgradig variable – soziokulturelle Alltagspraxis des Zusammenlebens vermittelt und von den Heranwachsenden angeeignet werden, vollziehen sich institutionelle Bildungsprozesse im Rahmen vorstrukturierter, weitgehend standardisierter und somit auch selektionswirksamer Kontextbedingungen. Daraus resultiert der weitgehend anerkannte Tatbestand, dass zwischen familialen und schulischen Bildungsprozessen unüberbrückbare Differenzen bestehen können (Grundmann et al. 2003). Eine grundlegende Differenz besteht in der Erfahrungsnähe bzw. dem Abstraktionsgrad der vermittelten Bildungsinhalte in Familie und Bildungsinstitutionen. Schulische Bildungsinhalte haben den Makel der Lebensferne, bleiben gegenüber den erfahrungsnahen Bildungsinhalten in der Familie notwendigerweise abstrakt, woran sich seit jeher bildungsreformerische Ansätze reiben. Die alltagspraktische Relevanz von Lehrmitteln, der Nutzen des vermittelten schulischen Bildungswissens für die alltägliche Lebensführung der Kinder, aber auch die didaktische – zumeist akademisierte – Aufbereitung der schulischen Bildungsinhalte hat mit dem, was Kinder interessiert und was sie im Alltagsleben beschäftigt, oft nur wenig zu tun. Mit der Aufwertung systemischer Bildungsqualifikationen und der schleichenden Abwertung alltagspraktischer Bildungsinhalte kommen zugleich sozialstrukturelle Ungleichheitsaspekte ins Spiel (Grundmann 1999b). Die ebenfalls vielfach belegte Herkunftsselektivität des Bildungssystems, der so genannte Mittelschichtbias, stellt vor allem für die so genannten „bildungsfernen“ Milieus eine nur schwer überwindbare Bildungsbarriere dar, deren Folgen Bernstein (2000) bereits in den 1960er Jahren anschaulich beschrieben hat. Ihnen fehlt eine wichtige Voraussetzung für die Teilhabe an institutionalisierten, auf spezifische Abstraktionsfähigkeiten zielenden Bildungslaufbahnen. Das aber nicht deshalb, weil sie dazu nicht in der Lage sind, sondern weil in ihrem Herkunftsmilieu nicht abstraktes
Bildung als Privileg und Fluch
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Denken und Handeln, sondern – wie Kohn (1995) belegt – eine praktische Handlungsrationalität vorherrscht und ihre Eltern den unmittelbaren „Nutzen“ abstrakter Bildungsinhalte nicht vermitteln können. So gesehen verstärkt bzw. produziert die institutionelle Engführung von Bildung soziale Bildungsungleichheiten, die nicht durch lebensweltliche Erfahrungen und persönliche Differenzen legitimiert, sondern in erster Linie durch akademisierte bürgerliche Bildungsansprüche und -bewertungen hervorgebracht werden. Aus diesen Gründen wird das in der Familie angeeignete Erfahrungs- und Handlungswissen mit dem Eintritt in das Bildungssystem gerade für Kinder aus bildungsfernen Lebenswelten nicht selten zu einem Handicap. Die Tatsache, dass Heranwachsende aus diesen Milieus selbst bei hohen kognitiven Leistungen den Bildungserwartungen des „Systems“ nicht entsprechen können (Grundmann 2000; Ditton in diesem Band), hat nicht selten zur Folge, dass bildungssystemische Bildungsansprüche und -erwartungen ein Risikofaktor für die Persönlichkeitsentwicklung darstellen: Misserfolgserlebnisse, das ständige Scheitern an normativen Bildungserwartungen, ungerechte Leistungszuschreibungen u.v m. produzieren nachweislich Leistungsängste, Frustrationen und negative Leistungsmotivationen. Auch darüber werden Ungleichheiten verfestigt, und Leistungsversagen im institutionellen Bildungskontext auch noch dem Einzelnen zur Last gelegt. Das allein ist ein Skandal. In der Öffentlichkeit wird ein überhöhtes Bild von Bildung gezeichnet, dass all ihre Schattenseiten ausblendet und bestenfalls für diejenigen zutrifft, die in schulbildungsnahen Erfahrungskontexten aufwachsen. Nur dort kann überhaupt von Bildung als Privileg die Rede sein, weil diesen Privilegierten selbst bei mäßiger kognitiver Kompetenz alle Bildungswege offen stehen (Grundmann 1998). Damit wird Bildung nicht nur für die Einen zum Privileg, sondern zum Fluch für die Bildungsaufsteiger, die sich bei weniger günstigen Verwertungschancen der erworbenen Titel von ihren Herkunftsmilieus entfremden und damit den Bezug zu ihrer Herkunftsfamilie und ihren herkunftsmilieuspezifischen Handlungsrationalitäten verlieren. Aber auch den scheinbar Privilegierten wird der Zwang zum Statuserhalt nicht selten zu einem Fallstrick, da der Zugang zu höheren Bildungstiteln konjunkturellen Schwankungen unterliegt und die Verwertbarkeit erworbener Bildungsqualifikation für die nachwachsenden Generationen nicht immer gewährleistet ist (Bourdieu 1996; Titze 2003). Zugleich können gerade gelungene Bildungsprozesse, etwa im Sinne einer persönlichen Einsicht in systemische Ungerechtigkeiten und die Verlogenheit der propagierten Bildungsgüter, zu sozialem Ausstieg anregen (Grundmann 2004b). 4.
Lebensweltliche Bildungsrealitäten und institutionelle Bildungsansprüche: drei exemplarische Analysen
Für die Analyse und Erklärung von Bildungsungleichheiten ist es unerlässlich, zwischen erfahrungsweltlichen und institutionalisierten Bildungsprozessen zu
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Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau und Groh-Samberg
unterscheiden. Aus erfahrungsweltlicher Perspektive eröffnet Bildung in jedem Fall eine Erweiterung der Handlungsspielräume. Die Fähigkeit, Erfahrungen zu systematisieren, Handlungen situationsangemessen einzuschätzen und Handlungsoptionen zu erkennen bzw. gegeneinander abzuwägen, sind Basiskompetenzen, die phylo-, sozio- und ontogenetisch gesehen uns Menschen erst zu handlungsfähigen Subjekten machen. Dabei spielen differente Erfahrungsinhalte nachweislich nur eine geringe Rolle: Strukturgenetisch gesehen ist die Entwicklung von Kognitionen als universeller gattungsspezifischer Prozess der Erkenntnisverarbeitung beschreibbar (Edelstein 1993). Dieser wird jedoch überlagert durch die in differenten Lebenswelten vorherrschenden Erfahrungsinhalte, die kulturell und gesellschaftlich sehr wohl unterschiedlich bewertet, d h. wertgeschätzt werden können. Für den Prozess der Erkenntnisgenese spielt das jedoch nur eine untergeordnete Rolle (Schröder 1999). Problematisch wird die differente Wertschätzung von Erfahrungsinhalten erst, wenn aus den sozialen Abgrenzungen und Zuschreibungen zwischen sozialen Statusgruppierungen gruppenspezifische Bildungsansprüche hervorgehen. Das ist der handlungslogische Modus, durch den sich stabile Herrschaftsbeziehungen konstituieren (Coleman 1997). Erst die Hierarchisierung von Handlungswissen, wie sie in und durch Bildungsinstitutionen und Eigendynamiken von Bildungssystemen produziert werden, führt zu Bildungsungleichheiten, die bis in die Erfahrungswelt der Familie hineinwirken. Diese These soll im Folgenden anhand von drei zentralen bildungssoziologischen Fragestellungen exemplarisch ausgeführt und plausibilisiert werden. Wir widmen uns zunächst der Frage, wie sich lebensweltliche Bildungsprozesse und -inhalte in den außerinstitutionellen Kontexten der Familie und der Gleichaltrigengruppe theoretisch bestimmen und empirisch messen lassen. Anhand der Konzepte zu Freundschaftsverständnissen, Selbstkonzepten und Selbstwirksamkeitserfahrungen, die diesen Anspruch zu erfüllen versuchen, soll jedoch die doppelte Rückwirkung bildungssystemischer Strukturen und Inhalte auf die familialen und lebensweltlichen Bildungsprozesse herausgearbeitet werden: Denn zum einen zeigt sich eine deutliche Abhängigkeit der genannten Handlungsbefähigungen von Freundschaftsverständnis, Selbstkonzept und Kontrollüberzeugung von der formalen Schulbildung der Eltern, zum anderen jedoch zeigt sich bei kritischer Analyse, dass bereits in diese theoretischen Messkonstrukte selbst ein akademischer Bias eingelassen ist, der auch lebensweltliche Bildungsprozesse vorab den normativen Maßstäben institutionalisierter Bildungsnormen unterwirft. Damit geraten gerade die lebensweltlichen Bildungsprozesse und Handlungsbefähigungen bei „schulbildungsfernen“ Unterschichtmilieus gar nicht erst in den Blick. Sie sind jedoch entscheidend für die Bildungsstrategien dieser Milieus. Der konflikthafte Gegensatz, der hier zwischen lebensweltlich relevanter und institutionell geforderter Bildung besteht, führt in der Perspektive der Kinder und Jugendlichen zu einer alternativen Entscheidungssituation für oder gegen die Schule, welche die gesamte soziale Identität involviert. Insofern lassen sich die „Bildungs-
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entscheidungen“ von Kindern aus unterprivilegierten Milieus auch nur unzureichend als rationale Abwägung von Kosten und Nutzen einer Bildungsinvestition begreifen.1 Zur Wahl stehen vielmehr die divergenten sozialen Rationalitäten von Schule, Ausbildung und sozialen Aufstiegshoffnungen auf der einen Seite, von Renitenz, Milieuzusammenhalt und prekärer Arbeit auf der anderen Seite. Die Handlungsbefähigungen und Kompetenzen, die in der einen Welt zählen, sind in der jeweils anderen nichts wert. Das Unterfangen, lebensweltliche von institutionalisierten Bildungsprozessen zu unterscheiden, wird allerdings – und das ist ein dritter darzulegender ungleichheitsgenerierender Aspekt von Bildung – durch die Veränderung kulturell dominanter Wissensideologien erschwert. Gegenwärtig führt der gesellschaftspolitische Diskurs über die Wissensgesellschaft zu einer Vermengung institutioneller und erfahrungsweltlicher Bildungsqualifikationen, werden auf dem Arbeitsmarkt „soft skills“ und soziale Basiskompetenzen eingefordert, die nicht in Bildungsinstitutionen sondern über erfahrungsweltliche Bildungsprozesse angeeignet werden. Damit geht eine weitere Normierung gesellschaftlich verwertbarer Basiskompetenzen einher, denen wiederum nur jene genügen können, die in bildungsnahen Milieus aufwachsen. Auch diese Prozesse führen letztlich zu einer Hierarchisierung von verwertbaren und nicht verwertbaren Handlungskompetenzen, mithin zu einer differenten Wertschätzung von Persönlichkeitseigenschaften. Wertmaßstab ist dabei wiederum lediglich die gesellschaftlich anerkannte und ökonomische Verwertung von Fähigkeiten im Sinne von Statuserwerb und Nutzenmaximierung. Die Kompetenzen, die für das Überleben in deprivierten oder subkulturellen Lebenswelten nötig sind, erfahren damit eine weitere Abwertung und zunehmende Geringschätzung. Diese Lebenslagen erfordern jedoch Lebensführungskompetenzen, die zwar in den gesellschaftspolitischen Diskursen, ja selbst in der empirischen Bildungsforschung kaum Beachtung finden, dennoch ganz eigene und nicht gering zu schätzende Qualitäten besitzen, an denen es den „formal Gebildeten“ nicht selten mangelt. Bildung und Handlungsbefähigung (Lebensführungskompetenz) Lebensweltliche Bildungsprozesse, die jenseits der Logiken institutionellschulischen Lernens situiert sind und in Familie, Freundschaftsbeziehungen und Peergroups verlaufen, münden in eine allgemeine Handlungsbefähigung zur Lebensführung. Die Kompetenzen, stabile und befriedigende Partnerschafts- und Freundschaftsbeziehungen einzugehen, biografische und berufliche Risikopassagen zu meistern, in denen weit reichende Entscheidungen getroffen und möglicherweise tief greifende Krisen und Frustrationen verarbeitet werden müssen, sind elementare Bestandteile dieser Handlungsbefähigung. Sie markieren zentrale Ei1
Zur Darstellung und Kritik entscheidungstheoretischer Erklärungsversuche von Bildungsungleichheiten vgl. die Beiträge von Hillmert und von Ditton in diesem Band.
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genschaften der im klassischen Bildungsbegriff konzipierten gebildeten Persönlichkeit, die sich in mündiger Autonomie ihrer Biografie und den Anforderungen ihrer Umwelt zu stellen weiß. In den Sozialwissenschaften bieten sich eine Reihe von theoretischen Konzepten und empirischen Instrumenten an, um zumindest Bestandteile einer so verstandenen Handlungsbefähigung zu operationalisieren und zu erheben. Sie sollen im Folgenden daraufhin befragt werden, inwiefern sie tatsächlich Möglichkeiten bieten, lebensweltlich situierte Kompetenzen sichtbar zu machen, die jenseits der hierarchisierenden Logik des institutionalisierten Bildungssystems liegen. Ein wesentlicher Bestandteil der Handlungsbefähigung ist die Kompetenz, stabile und intensive Freundschaften zu führen. Diese hängt nicht zuletzt von der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, Empathie und moralischen Sensibilität ab. Nun scheint jedoch diese sozialmoralische Kompetenz, die anhand der Argumentation der Probanden in Auseinandersetzung mit einem hypothetischen Freundschaftsdilemma untersucht werden kann (Keller 1996: 112ff.), bei Kindern aus bildungsnahen höheren Schichten größer zu sein (Grundmann 1998: 152ff.). Ebenso weist auch das Freundschaftskonzept nach Selman (1984) schichtspezifische Differenzen auf. Untersucht man das Verständnis, das Kinder unterschiedlicher Herkunft von ihren Freundschaften haben, so zeigt sich mit höherer Schicht umso stärker die Tendenz, Freundschaften als eine sehr persönliche, von zwei autonomen Individuen eingegangene vertrauensvoll-verlässliche Partnerschaft aufzufassen, gegenüber einem in unteren Schichten vorherrschenden Freundschaftskonzept, das eher Aspekte der Kooperation und des Austauschs betont (Keller und Wood 1989). Ähnlich hängt auch das Selbstkonzept vom Bildungsniveau des Herkunftsmilieus ab. Eine stärkere Betonung affektiver und kommunikativer Prozesse in familialen Sozialisationspraktiken führt bei Kindern aus bildungsnahen Milieus dazu, sich selbst stärker in psychologischen Kategorien zu beschreiben, die kognitive und emotionale Qualitäten in den Vordergrund stellen. Kinder aus bildungsfernen Milieus tendieren dahingegen eher dazu, soziale oder auf Aktivitäten zielende Aspekte in die Selbstbeschreibung einfließen zu lassen, d h. beispielsweise bevorzugte Hobbies bzw. die Tatsache, „ein guter Freund zu sein“ zu betonen (Hart und Edelstein 1992). Diese Kompetenzen – auf einem angemessen reflektierten Niveau moralische Freundschaftskonflikte diskutieren zu können, eine reife und gehaltvolle Idee einer bedeutsamen Freundschaft auszubilden sowie einen differenzierten psychologischen Zugang zu eigener Emotionalität und Persönlichkeit zu erlangen – erscheinen als elementare Bedingungen gelingender Lebensführung mündigautonomer Individuen, die sich ihrer eigenen Biografie und Individualität sowie ihrer sozialen Umwelt, Freund- und Partnerschaften in kritisch reflektierender Distanz widmen und authentischer Nähe zuwenden können. Sie sind das Produkt familialer Sozialisationsbedingungen. Individuelle Differenzen lassen sich schon
Bildung als Privileg und Fluch
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im Vorschulalter nachweisen. Es scheint, dass diejenigen Erziehungspraktiken und Sozialisationsbedingungen, die kommunikative, affektive und emotionale Prozesse stärker unterstützen, in bildungsnahen Herkunftsfamilien für die ausgeprägtere Entfaltung dieser Kompetenzen verantwortlich sind. Es scheint also bereits in familiale und lebensweltliche Bildungsprozesse eine letztlich institutionell begründete Ungleichheitsdimension eingezogen zu sein. Die bildungsnahen Milieus, deren Bildungsnähe ja eine zu den institutionalisierten und standardisierten Logiken der Schule ist, bieten sozialisatorische Umwelten, in denen auch vorinstitutionelle, lebensweltliche Kompetenzen anscheinend stärker ausgeprägt und leichter erworben werden. Dabei wirkt institutionalisierte Bildung auf die vorwiegend familialen, lebensweltlichen Bildungsprozesse zurück, indem sie ihre Wirkung in Bezug auf Vorstellungen von Kindheit und Kind-Sein, auf Ansprüche an Elternschaft sowie Erziehungsvorstellungen und -praktiken entfaltet. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass unterstützende Erziehungspraktiken maßgeblich durch schulische Bildungsprozesse, durch Erfahrungen in und mit einer institutionalisierten, verschulten Kindheit befördert werden. Die lebensweltliche Bildung als allgemeine Handlungsbefähigung erfährt also ihre sozialstrukturelle Prägung durch die Nähe oder Ferne der Herkunftsfamilie zum Bildungssystem; sie stellt also mitnichten ein frei verfügbares Potenzial zur Herausbildung der umfassend gebildeten Persönlichkeit dar. Zum anderen müssen sich die Konzepte zur Messung sozialmoralischer Kompetenz die Frage gefallen lassen, inwiefern hinter ihrem Rücken sich nicht die alte bildungsbürgerliche Hybris versteckt, welche die Kompetenzen und Fähigkeiten der von der repetitiven körperlichen Arbeit befreiten Intelligenz zur allein selig machenden Menschenbildung verabsolutiert. Die vermeintlich vorinstitutionelle Bildung erscheint somit im doppelten Sinne der hierarchischen Normierung durch die institutionelle unterworfen. Zum einen sind die Sozialisationsbedingungen der Herkunftsfamilien, die sie hervorbringen, Produkt auch des Bildungssystems. Zum anderen weisen die wissenschaftlichen Instrumente, die sie sichtbar machen sollen, möglicherweise einen Bildungsbias auf. Sie erklären das Räsonnement der Gebildeten zur jeweils höchsten Stufe der Reflexion über Freundschaftskonflikte und das eigene Selbst und werten dabei die Handlungslogiken bildungsferner Milieus systematisch ab. So werden in der Regel – und meist unhinterfragt – Selbstbeschreibungen, die psychologische und emotionale vor sozialen Aspekten betonen, einer „höheren“ Stufe zugeordnet, und damit die individualistische Innerlichkeit der pragmatischen Sozialität vorgezogen. In der Reflexion des hypothetischen Freundschaftskonfliktes werden Argumente, die sich den bürgerlichen Motiven treu ergebener und verständnisinniger Partnerschaft widmen, denjenigen gegenüber aufgewertet, die hedonistische oder pragmatisch-nutzenorientierte Aspekte betonen (zur analogen Problematik in der Autoritarismusforschung vgl. Dravenau 2002). Diese Hierarchisierungen milieuspezifisch differenter Handlungslogiken werten diejenigen bildungsferner Milieus nicht nur ab, sondern lassen sie erst gar
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nicht sichtbar werden. Deren pragmatische Flexibilität im Umgang mit Unsicherheiten und Brüchen im Lebensverlauf und der Pflege von Sozialkapital, die eine durchaus „hohe“ Handlungsbefähigung in Bezug auf die milieuspezifischen Umwelten und Anforderungen darstellt (vgl. unten) fällt schlicht unter den Tisch. Die vor den schulisch normierenden Einflüssen liegenden Bildungsprozesse und Handlungsbefähigungen lassen sich nicht allein dadurch erkennen, dass man sich anstelle des Schulerfolgs den vermeintlich unschuldigen Themenkomplexen von Freundschaft und Selbstkonzept zuwendet. Leicht werden auch hier die elitärhierarchischen Perspektiven, die an die Vorstellung von der einen Bildung gekoppelt sind, in den Untersuchungsgegenstand hineingetragen. Neben Konzepten, die eher kognitive Aspekte der Handlungsbefähigung beschreiben, das Verständnis von Freundschaften und Freundschaftskonflikten oder das Selbstkonzept, finden sich auch solche, die sich stärker auf die Handlungsund Verhaltensebene beziehen. Studien zu Wirksamkeitserfahrungen oder Kontrollüberzeugung (Flammer 1990; Perrig und Grob 2000) oder zur Ängstlichkeit und Depression (Schellhas 1993; Hofmann 1991) zielen stärker auf die Messung konkreter Interaktionserfahrungen in relevanten Handlungsräumen, als auf die argumentative Reflexion hypothetischer oder tatsächlicher Sachverhalte. Auch diese Aspekte der je spezifischen Erfahrung der sozialen Umwelt markieren einen zentralen Bestandteil einer allgemeinen Handlungsbefähigung und sind Produkt lebensweltlicher Bildungsprozesse. Milieuspezifische Differenzen lassen sich für die Kontrollüberzeugung schon kurz nach Schuleintritt feststellen.2 Kinder aus bildungsnahen Milieus weisen eine im Vergleich stärkere internale Kontrollüberzeugung aus, d h., sie erfahren sich im Umgang mit unterschiedlichen Interaktionspartnern und Situationen als wirkmächtiger, mehr Kontrolle über die Folgen des eigenen Handelns ausübend, als Kinder aus bildungsfernen Milieus. Diese Differenz nimmt in den Jahren nach der Einschulung noch an Stärke zu. Kinder aus bildungsfernen Milieus weisen darüber hinaus eine höhere Tendenz zu ängstlichem und zurückgezogenem Verhalten in der Schulklasse auf und neigen generell zu höherer Depressivität und Ängstlichkeit (Schellhas 1993; Hofmann 1991). Auch diese Ergebnisse deuten also auf eine sozialstrukturelle Brechung der Handlungsbefähigung hin. Schließlich können die Erfahrung der Kontrolle über eigene Handlungsfolgen, die „Erfahrung der eigenen Wirksamkeit“ sowie die Abwesenheit von Ängstlichkeit und Depressivität als zentrale Bedingungen mündig-autonomer Lebensführung betrachtet werden. Und auch diese Aspekte der Handlungsbefähigung scheinen zunächst in vorinstitutionellen, lebensweltlichen Bildungsprozessen zu wurzeln, in den Bedingungen familialer Sozialisation, sind doch die milieuspezifischen Differenzen schon bei Schuleintritt zu beobachten. 2
Die folgenden Ergebnisse resultieren, wenn nicht anders belegt, aus ersten Berechnungen, die im Rahmen des DFG-Projektes „Milieuspezifische Handlungsbefähigung“ am Institut für Soziologie der Universität Münster angestellt wurden (vgl. auch Mies 1997; Edelstein et al. 2000).
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Auch hier lehrt ein genauerer zweiter Blick, dass wir es mit milieuspezifisch differenten Orientierungen zu tun haben, die nicht vorschnell in ein normatives Raster einer besseren oder schlechteren Handlungsbefähigung gepresst werden können. Die eher externalen Kontrollüberzeugungen der bildungsferneren Milieus gründen, betrachtet man unterschiedliche Item-Gruppen separat nach Lebensbereichen (vgl. dazu Mies 1997), vor allem in den Kontrollbereichen, in denen die Erfahrungen mit Autoritäten und eigenen Handlungen eine Rolle spielen. Auch hier muss man fragen, ob nicht die milieuspezifisch realistische Einschätzung der eigenen Handlungsmöglichkeiten unterer Milieus, in denen die Unterordnung in exekutiven Arbeitszusammenhängen eine alltägliche Erfahrung darstellt, die sich in den Erziehungsstilen als eine stärkere Orientierung an (Unter-)Ordnung und Disziplin mitteilt, vorschnell als eine defizitäre Handlungsbefähigung, denn als eine milieugerechte aufgefasst wird. Ebenso mögen die ausgeprägt internalen Kontrollüberzeugungen der schulbildungsnahen Milieus weniger eine substanzielle Selbstständigkeit und autonome Handlungsbefähigung reflektieren, als das Produkt einer verbal oberflächlichen Anpassung an eine Mittelschichtkultur, der die Betonung selbstständiger Individualität ein höchster Wert ist. Ferner muss die vermeintliche Ängstlichkeit nicht auf eine allgemeine Beeinträchtigung der Handlungsbefähigung verweisen, sondern mag in vielen Fällen lediglich die Einschüchterung der Kinder durch die Mittelschichtinstitution Schule reflektieren. Zusammenfassend müssen wir also feststellen, dass die Erhebung vorinstitutionell-lebensweltlicher Bildungsprozesse, die jenseits der normierenden Prägekraft des hierarchisch strukturierten Bildungssystems liegen, besonderer Vorsicht bedarf, um nicht die milieuspezifisch differenten Handlungsbefähigungen und Bildungsprozesse auch dort noch der schulischen Leistungslogik zu unterwerfen, wo gerade die von ihr verdeckten Kompetenzen und Fähigkeiten sichtbar gemacht werden sollen. Bildungsstrategien „bildungsferner“ Milieus Am Beispiel von Unterschichtmilieus lassen sich die Probleme, die aufgrund der Verschränktheit bzw. Vermengung von lebensweltlichen und institutionalisierten Bildungsprozessen entstehen, in zugespitzter Form betrachten. Die bildungspolitische und pädagogische Zielsetzung einer „kompensatorischen Erziehung“ entspricht der bildungssoziologisch nach wie vor dominanten Auffassung, dass bereits die familialen Bildungsprozesse von „bildungsfernen“ Milieus als defizitär gelten müssen. Der Erwerb höherer Bildungstitel erscheint aus dieser Perspektive aus zwei Gründen für geboten: Erstens erscheint er angesichts der parallelen Prozesse der Bildungsexpansion und einer Zunahme von Armut und sozialer Ausgrenzung als einzige biografische Option, dem Schicksal einer neuen Prekarität und Armut zu entkommen. Dabei heißt es heute nicht einmal mehr: „Wenn du nichts Anständiges lernst, musst du in die Fabrik!“ Vielmehr droht den Kindern sozial benachtei-
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ligter Milieus beim Versagen in der Schule, überhaupt keinen Fuß mehr in die reguläre Erwerbsarbeit zu bekommen (Solga 2002; Konietzka in diesem Band). Die Aussicht auf lebenslange körperliche Arbeit, die die Kinder der älteren Arbeitermilieus nach dem Absolvieren der Pflichtschulzeit erwartete, ist einer noch deprimierenderen Aussicht auf bestenfalls diskontinuierliche und prekäre Erwerbsarbeit gewichen. Die statistischen Wahrscheinlichkeiten, mit denen gering qualifizierte Jugendliche aus ohnehin benachteiligten Milieus mit vielfältigen Deprivationen im späteren Leben zu rechnen haben (z.B. Lauterbach et al. 2002), erscheinen insofern als überwältigende Argumente für den Erwerb formaler Bildung. Zweitens wird dabei jedoch der Erwerb von Bildungstiteln nicht nur als formale Eintrittskarte in höhere Beschäftigungssegmente betrachtet. Vielmehr wird angesichts der defizitären lebensweltlichen Bildung, die Kinder aus benachteiligten Milieus angeblich von Haus aus mitbringen, einer höheren schulischen Bildung ein durchaus emphatischer Sinn beigemessen. Die Aneignung von Wissensbeständen und die Erlernung allgemeiner sozialer Kompetenzen, die man sich von einer Steigerung der Bildungspartizipation gerade für untere soziale Milieus erhofft, wird im aktuellen bildungspolitischen Diskurs durch die Diagnose eines Übergangs zur Wissensgesellschaft als dringliche Notwendigkeit begründet (vgl. unten). Bildung als Privileg – das übersetzt sich für diejenigen sozialen Gruppen, die über keine oder unzureichende formale Bildung verfügen, in das Diktum von „Bildung als Chance“. Nun belegen jedoch Studien immer wieder die erhebliche intergenerationale Persistenz von Bildungsungleichheiten und speziell von Bildungsbenachteiligungen (zuletzt Schimpl-Neimanns 2002). Und nach dem „PISASchock“ schenkt die Öffentlichkeit vermehrt Lehrerinnen und Lehrern sowie Experten Gehör, die sich über die desolaten Zustände an Schulen, die nachlassende Disziplin im Klassenzimmer und die enormen Konzentrations- und Lernprobleme vieler unterschiedlicher Gruppen von Schulkindern beklagen. Wie ist also zu erklären, dass gerade benachteiligte und „bildungsferne“ Milieus trotz der zunehmenden Bedeutung von Bildungstiteln so schlecht in der Schule abschneiden? Wenn wir von einem erfahrungsweltlichen Bildungsbegriff ausgehen, können wir zunächst unvoreingenommener fragen, ob sich der Erwerb von formaler Bildung für „bildungsferne“ Milieus, die über ihre eigenen lebensweltlichen Bildungsstrategien verfügen, tatsächlich lohnt. Die Privilegien und Gratifikationen, die sie sich nach einer statistischen Wahrscheinlichkeit vom Erwerb höherer Bildungstitel erhoffen können, müssen aus einer lebensweltlichen Perspektive in die „biografischen“ Wahrscheinlichkeiten des Erfolgs oder Scheiterns der Bildungsbemühungen übersetzt und mit den Zumutungen, Entbehrungen und Entfremdungen aufgerechnet werden, die mit ihnen einhergehen (vgl. auch Hillmert in diesem Band). Erst dann kommt ins Blickfeld, inwiefern das Privileg höherer formaler
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Bildung, gerade für „bildungsferne“ Milieus, immer auch eine Bürde und ein Fluch sein können. Für „bildungsferne“ Milieus, die über ihre eigenen lebensweltlichen Bildungsstrategien verfügen, ergeben sich strukturelle Konflikte in den „Passungsverhältnissen“ von Schule und familialer Lebenswelt. Aus der Perspektive der Akteure erscheinen diese Konflikte und Nicht-Passungen als spezifische Barrieren bzw. Risiken, dem schulischen Angebot des sozialen Aufstiegs qua schulische Leistungserbringung nachzukommen. Diese Risiken bestehen nicht nur im Risiko des Scheiterns oder im Risiko der Entfremdung im Falle gelungener Bildungsaufstiege. Ein grundlegendes Risiko äußert sich vielmehr darin, dass mit der Entscheidung, einen Bildungsaufstieg zu wagen und sich also auf die Schule und ihre Logik voll einzulassen, auch die Ressourcen und Optionen ausfallen, die Kinder aus benachteiligten Milieus den übermächtigen schulischen Zuschreibungen und Enttäuschungen entgegensetzen können. Für Kinder aus „bildungsfernen“ Milieus stellt sich damit beim Eintritt in die Schule die mehr oder minder ausgeprägte Alternative, sich entweder auf den Versuch des Bildungsaufstieges einzulassen und dabei das eigene Selbst schutzlos den schulischen Zuschreibungen von Erfolg und Versagen preiszugeben, oder sich den schulischen Anforderungen zu verweigern und ihnen den in den Peergruppen und im eigenen Herkunftsmilieu ausgebildeten Bildungsstrategien und Anerkennungsmodi entgegen zu halten, die das eigene Selbst zu stützen und anzuerkennen vermögen (vgl. dazu Willis 1982). Lebensweltliche Bildungsprozesse unterer Sozialmilieus, die sowohl in Familie und Peers wie auch in der Schule selbst stattfinden, orientieren sich nämlich, so kann angenommen werden, an eigensinnigen Bildungszielen, die auf die milieuspezifischen Existenzbedingungen und Erfahrungsräume abgestimmt sind. Zu den allgemeinsten Grundzügen zählt dabei die hohe Bedeutung des sozialen Kapitals, das eine kompensatorische Funktion für den Mangel an ökonomischem und institutionalisiertem kulturellem Kapital besitzt. Auf der einen Seite scheinen die sozialen Netzwerke so einen eher instrumentellen Charakter zu besitzen; andererseits jedoch verlangen sie gerade in ihrer ökonomischen Funktion eine besondere und Verlässlichkeit garantierende wertmäßige Verankerung. Das alltägliche Leben und Überleben unter den Bedingungen ökonomischer Prekarität und Unsicherheit verlangt weiterhin eine besondere Flexibilität und Virtuosität. Bereits das Haushaltsbudget muss in extrem kurzen Zeitintervallen und unter Kombination vielfältiger und wechselnder Erwerbsquellen und (Zu-)Verdienstgelegenheiten geplant werden (Tobias und Boettner 1992: 12ff.). Von zentraler Bedeutung ist schließlich die Ausbildung einer spezifischen Mentalität, Unsicherheiten und Brüche im Lebensverlauf verarbeiten zu können. So beschreiben Vester et al. (2001) für das „traditionslose“ Arbeitermilieu eine fatalistische Grundeinstellung, die es erlaubt, Verluste und Schicksalsschläge hinnehmen und verarbeiten zu können, ohne etwa in jene innere Lähmung zu verfallen, die kleinbürgerliche Milieus bei Deklassierungen befällt und handlungsunfähig im Umgang mit ihrer Situation macht. Dabei
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erlaubt es eine spezifische „labour-consumer balance“, Phasen der Überanstrengung und Selbstdisziplinierung immer wieder auch durch Momente des intensiven Genusses, des Blaumachens und Feierns zu unterbrechen und zu konterkarieren (Keller 1999: 125ff.). Diese hier nur schlaglichtartig beschriebenen kulturellen Muster von Unterschichtmilieus erfordern eigensinnige lebensweltliche Bildungsprozesse, die in den Herkunftsmilieus, und speziell im familialen Kontext vermittelt werden müssen. Es dürfte jedoch bereits deutlich geworden sein, dass diese Bildungsstrategien und -prozesse ihren Inhalten und ihrer Logik nach vielfach mit den Anforderungen institutionalisierter Bildungsprozesse kollidieren. So handelt es sich um überwiegend praktische Bildungsprozesse und -inhalte, die sich über das lebensweltliche Miterleben und Nachvollziehen abspielen und nicht primär durch die belehrende Weitergabe von Wissen. Diese Logik des Lernens steht im Gegensatz zur schulischen Lernsituation des konzentrierten Stillarbeitens (Grundmann 1999b). Vor allem aber widerstreiten sich die Bildungsziele. Als eine der grundlegendsten Dimensionen des Widerstreites lebensweltlicher und institutionalisierter Bildungsprozesse bei Unterschichtmilieus ist die „Einstellung zur Zukunft“ herauszuheben. Als Verteilungsstelle von Lebenschancen repräsentiert die Schule ein gutes Stück Zukunft in der Gegenwart. Sich zur Schule zu verhalten, heißt daher immer auch, sich zu seiner eigenen Zukunft zu verhalten. Während Unterschichtmilieus lebensweltlich gerade darauf angewiesen sind, nur geringe Erwartungen an ihre Zukunft, an die Planbarkeit ihres Lebens und an längerfristige Ziele und biografische „Projekte“ zu stellen, beruht die Logik institutionalisierter Bildung gerade auf längerfristigen und investiven Einstellungen zur Zukunft. Mit dem Maß schulischer Bildungsanstrengungen und sogar mit der einfachen Dauer des Aufenthalts in schulischen Institutionen erwachsen ganz unwillkürlich solche Erwartungen und Zukunftshoffnungen, und dies umso mehr, als die Schule in ihren Handlungslogiken das genaue Gegenbild zur Welt der körperlichen bzw. prekären Arbeit darstellt (Bourdieu et al. 1997: 24ff.). Im Verhältnis zur Schule machen Schülerinnen und Schüler einen Entwicklungssprung bei der Ausbildung und reflexiven Aneignung des „sense of one’s place“, also des tiefer liegenden subjektiven Gefühls der eigenen sozialen Bestimmung. Was einen schulnahen Habitus bei Ober- und Mittelschichten vor allem kennzeichnet, ist die subjektive Gewissheit und Selbstverständlichkeit, die gymnasiale Schullaufbahn einzuschlagen, eine der guten Schulen im Umkreis zu besuchen und zu den besseren Schülerinnen und Schülern zu gehören. Bei Kindern aus weniger privilegierten und in ihren habituellen Dispositionen auf die Schule kaum vorbereiteten Milieus fehlt diese Gewissheit. Auch sie müssen sich im Verhältnis zur Schule zu ihrer Zukunft verhalten, aber im Modus der Anspannung und der Ungewissheit, wenn nicht gar im Modus der Angst oder der Gewissheit des Scheiterns (siehe oben).
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Strategien des Bildungsaufstieges, wie sie sich insbesondere bei mittleren, aber auch bei unteren sozialen Milieus finden, sind dabei durch riskante Investitionen in die Schulkarriere und die soziale Zukunft gekennzeichnet. Trotz der suboptimalen Voraussetzungen, die sie für ihre schulischen Erfolgsziele mitbringen, setzen sie hohe Erwartungen an sich und an die schulische Bildung. Die gesteigerte und mitunter übersteigerte Wertschätzung und Achtung, die sie der Welt der institutionalisierten Bildung entgegenbringen, macht sie zugleich anfällig und verletzbar durch schulische Misserfolge und negative Leistungszuschreibungen. Dies wiederum zwingt sie zu gesteigerter Anstrengung. Nittel (1992) beschreibt diese Zusammenhänge aufstiegsorientierter Bildungskarrieren als „Anpassungsverlaufskurve“, die den Versuch, das Privileg höherer Bildungstitel zu erwerben, zu einem leidvollen Prozess werden lassen kann. Für Kinder aus stärker deprivierten Milieus verschärfen sich die Voraussetzungen, Anstrengungen und Risiken, einen Bildungsaufstieg zu wagen, noch einmal. Die weitaus geringeren objektiven Chancen eines gelingenden Bildungsaufstieges, die sich sozialstatistisch rekonstruieren lassen, werden Bourdieu und Passeron (1971) zufolge mit bemerkenswertem Realitätssinn in subjektive Chanceneinschätzungen übersetzt. Diesen ohnehin geringeren subjektiven Chanceneinschätzungen steht eine Steigerung der Risiken im Falle des Misslingens und selbst des Gelingens der Schulkarriere gegenüber. Sich auf schulische Bildungsprozesse einzulassen, bedeutet für sie zugleich, ihre bisherigen lebensweltlichen Bildungsprozesse aufzugeben und damit in gewisser Weise rückwirkend zu negieren und zu entwerten, was sie in ihrer Familie erlernt haben. Eben daraus resultieren die Erfahrungen der Entfremdung gegenüber dem Herkunftsmilieu und einer Art sozialen „Heimatlosigkeit“, die bei Bildungsaufstiegen häufig auftreten (Haas 1999; Rohleder 1997). Die lebens- und erfahrungsweltlichen Bildungsprozesse sind nun bei unterschiedlichen sozialen Milieus nicht nur qualitativ anders. Vermittelt über die institutionelle Standardisierung und Normierung von Bildung wirken, wie bereits dargelegt (vgl. oben), die hierarchisierenden und normativen Zuschreibungen höhervs. minderwertiger Bildung in die milieuspezifischen und insbesondere in die familialen Lebenswelten zurück. Die Schule verkörpert für benachteiligte und schulferne Milieus eben jene „legitime Kultur“, von deren hoher Warte aus die Kultur unterer sozialer Milieus als inferior und primitiv erscheint. Sie ist damit eine der grundlegenden Quellen der Produktion und Ausübung von „symbolischer Gewalt“. Unter symbolischer Gewalt sind nach Bourdieu die Effekte kultureller Dominanz zu verstehen, die dazu führen, dass die Beherrschten die Sichtweisen, die die Herrschenden auf sie haben, als legitime anerkennen und selbst übernehmen. Auf diese Weise können auch Eltern aus benachteiligten Milieus die Zuschreibungen einer „defizitären familialen Sozialisation“ übernehmen und auf die Einschätzung ihrer eigenen Kinder als „lernschwach“, hyperaktiv oder verhaltensauffällig übertragen. Sie lassen sich in der Hoffnung auf eine „kompensatori-
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sche Erziehung“ durch die Schule in ihren familialen Bildungsstrategien von den dominanten – und wie immer wohlmeinenden – pädagogischen Deutungsmustern irritieren und „kolonialisieren“. Andererseits verfügen Unterschichtmilieus jedoch auch über ein spezifisches Arsenal an kulturellen Techniken, sich diese symbolische Gewalt ein Stück weit vom Leib zu halten und den Stigmatisierungen und Diskriminierungen zu widersetzen. Die Möglichkeit, sich ein positives Selbstbild und eigene Handlungsmächtigkeit gegen die symbolische Gewalt der Fremdstigmatisierung zu erhalten, ist ein wesentliches organisierendes Zentrum lebensweltlicher Bildungsstrategien benachteiligter Milieus. Das kulturelle „Klassenbewusstsein“ der älteren Arbeitermilieus, das einerseits als „Konformitätsprinzip“ Aspirationen auf „Höheres“ ahndete und negativ sanktionierte, bot andererseits in seinem Spott über die Weltfremdheit und Borniertheit der „Gebildeten“ einen solchen Schutzraum vor den demoralisierenden Wirkungen symbolischer Gewalt. Dieselbe Funktion übernehmen – und möglicherweise in dem Maße, wie im familialen Kontext die Wirkungen symbolischer Gewalt zunehmen – die Sub- und Gegenkulturen jugendlicher Peers, die in direkter Opposition zur schulischen Bildungsnorm stehen. Das Postulat der „Kompetenzbiografie“ Die bislang nachgezeichneten Formen der Hierarchisierung durch Normierung und Standardisierung institutionalisierter Bildung haben sich – so die zentrale Überlegung dieses Abschnitts – auf die gesamte Biografie ausgedehnt. In den letzten Jahren hat eine Zeitdiagnose Karriere gemacht, die in dieser Hinsicht unmittelbare Relevanz hat für Fragen nach Bildungsprivilegierungen. Mit der Entwicklung von Industrie- zu „Wissensgesellschaften“ ist eine Vielzahl von unterschiedlichen Hoffnungen auf die Verringerung sozialer Bildungsungleichheiten verknüpft. Die in den vorherigen Abschnitten entfalteten Perspektiven auf die erfahrungsweltlichen Dimensionen von Bildungsprozessen und die in Hinblick auf „bildungsferne“ Milieus hieraus entstehenden sozialen Ungleichheiten haben sich, so eine verbreitete Annahme, in den letzten Jahren mit der Entwicklung von Industrie- zu „Wissensgesellschaften“ gewandelt. Die symbolischen und sozialen Ausgrenzungen, die „bildungsferne“ Milieus in den Regelschulen erfahren, werden relativiert oder zumindest modifiziert durch gesamtgesellschaftliche Wandlungsprozesse hin zu einer „Wissensgesellschaft“, die vor allem die bildungsbürgerliche Deutungshoheit über den Bildungsbegriff unterwandert. Welche Form aber haben diese bildungsspezifischen Wandlungsprozesse? Zunächst ist die mit der Zeitdiagnose „Wissensgesellschaft“ konstatierte Verwässerung des bildungsbürgerlichen Verständnisses von Bildung zu analysieren und auf ihre möglichen Konsequenzen in Hinblick auf Kontinuität, Auflösung oder Wandel von Bildungsungleichheiten zu überprüfen. Im Anschluss daran werden wir kurz die für unser Anliegen relevanten Veränderungen innerhalb der Arbeitswelt und ihre Konsequenzen für „bildungsferne“ Milieus thematisieren.
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Eine zentrale These im Kontext der Entwicklung hin zu „Wissensgesellschaften“ geht davon aus, dass sich das Deutungsmonopol der bildungsbürgerlichen Alltagspraktiken als legitime kulturelle Praktiken auf dem Rückzug befindet, womit die bereits oben beschriebenen Alltagserfahrungen symbolischer Gewalt gegenüber „bildungsfernen“ Milieus abgeschwächt werden würden (vgl. Kraemer 1998; Stehr 2001: 92ff.; kritisch dazu Bittlingmayer 2004). So passen aktuelle Forderungen nach lebenslangem oder selbst gesteuertem Lernen kaum zu den üblichen bildungsbürgerlichen Praktiken. Es wird davon ausgegangen, dass in „Wissensgesellschaften“ die ökonomische Bewirtschaftung der Ressource Wissen in Form von Wissensmanagement und die konstante und systematische Entwicklung von Innovationen die zentrale Bedingung zur Sicherung der Konkurrenzfähigkeit ist (vgl. z.B. Willke 2001; Götz 2002). Dieser Prozess erfordert die Verabschiedung der historisch überkommenen bildungsbürgerlichen „starken Kopplung“ von Wissen an Wahrheit und ersetzt diese durch die Kopplung an Anwendbarkeit und Machbarkeit (vgl. Drucker 1993; Willke 2002), also durchaus Kriterien, die mit der Erfahrungswelt „bildungsferner“ Milieus konform gehen können. Die unter permanentem Verwertungsdruck befindliche Form der Wissensbewirtschaftung führt nun einerseits zu einer Beschleunigung der (ökonomisch eingebetteten) Wissensproduktion und als Kehrseite andererseits zu einer verringerten Halbwertzeit des gültigen und ökonomisch profitablen Wissens.3 Dadurch sollen alle sozialen Akteure im ökonomischen Feld gezwungen sein, ihre Wissensbestände andauernd auf ihre ökonomische Verwertbarkeit zu prüfen und gegebenenfalls neue Wissensformen anzueignen sowie alte, unbrauchbar gewordene zu vergessen. Wissen soll in „Wissensgesellschaften“ selbst einen reflexiven Charakter annehmen und von einem Wissen haben in ein doing knowledge transformiert worden sein. Dabei wird das doing (and necessarily improving) knowledge als ein permanenter und deshalb lebenslanger Lernprozess verstanden, der nunmehr den Maßstab aller Bildungsanstrengungen liefern soll. Schulen und Universitäten als Wissensvermittlungsinstanzen werden bei der Gestaltung des Wandels eine Schlüsselfunktion attestiert. Allerdings zeichnen sie nur noch für einen Teil der lebenslangen Bildungsbiografie verantwortlich; andere Wissensbildungsinstitutionen treten neben die Schule und Universität und ergänzen diese. Durch die Transformationen zur „Wissensgesellschaft“ scheint Bildung als Gegenpol zur ökonomischen Verwertung weitgehend aufgegeben worden zu sein. Dadurch, dass Bildung institutionell entgrenzt und auf die stetige Erneuerung und Kontrolle der Wissensinhalte verpflichtet wird, scheint sich die verkannte Herr3
In einer beeindruckenden industriesoziologischen Studie kritisiert Lothar Hack u E. zu Recht den zu allgemeinen Topos der Verringerung der Halbwertzeit von Wissen: „’Wir wissen heute, dass die Halbwertzeit von Wissen immer kürzer wird’. Jeder weiß das. Aber woher weiß man das? Vielleicht ist dieses Wissen ja auch schon zur Hälfte verfault. Oder es handelt sich um unterschiedliche Wissensformen: solche, die immer schneller verfallen, und solche, die das Wissen von diesem Vorgang festhalten?“ (Hack 1998: 719).
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schaft, die klassischer Bildung eigen war, aufzulösen. Der rasante Bedeutungszuwachs und symbolische Aufstieg von Konzepten wie „lebenslanges“, „lebensbegleitendes“ oder „selbst gesteuertes Lernen“ steht genau in diesem Zusammenhang. Bildung ist nicht mehr Distinktion garantierender Selbstzweck, sondern funktionale Notwendigkeit in dynamischen Gegenwartsgesellschaften. Nach Peter Drucker (1993: 305), einem einflussreichen US-amerikanischen Managementtheoretiker, reicht Bildung als Selbstzweck deshalb nicht mehr aus, weil soziale Akteure neben dem selbstverständlichen Umgang mit intellektuellen Wissensbeständen gleichzeitig Manager und Vermarkter ihres eigenen Selbst werden müssen. Diese Konzepte stehen gewissermaßen konträr zur Vorstellung einer „seinsgebundenen“ und bildungsbürgerlichen Biografie (vgl. zur genaueren Beschreibung Scheler 1925: 37; Bourdieu 1982: 49) und erinnern eher an die von Bourdieu (vgl. 1982: 513ff.) beschriebenen prätentiösen Bildungszugänge des Kleinbürgertums und die paradigmatische Figur des Autodidakten. Das bedeutet in Hinblick auf die Fragestellung, die im Titel unseres Beitrages anklingt, dass (emphatisch verstandene) Bildung als herkunftsabhängiges Privileg genau durch die Bewegung von „interesseloser“ zeitintensiver Bildung zu flexiblem, erneuerbarem und arbeitsmarktfähigem Wissen bzw. von der einzig wahren Bildung zur begrenzten und permanent aktualisierungsbedürftigen Weiterbildung auf dem Rückzug sein sollte. Durch den postulierten Rückzug von bildungsbürgerlichen Praktiken als eindimensionaler öffentlicher Orientierungsfolie wurden die Bildungsungleichheiten aber nicht aufgelöst, sondern spezifisch transformiert (vgl. Kraemer und Bittlingmayer 2001). Denn nach der Bildungsexpansion werden formale Bildungstitel für den Arbeitsmarkt wichtiger und nicht bedeutungsloser (Konietzka in diesem Band). Das heißt auch, dass Bildung für die biografische Gestaltung von individuellen Lebenschancen wichtiger wird und Bildungsungleichheiten kumulieren, auch wenn sich die konkrete Gestalt der symbolischen Gewaltverhältnisse in „Wissensgesellschaften“ transformiert hat (vgl. Bittlingmayer 2002). Der angenommenen symbolischen Entzauberung bildungsbürgerlicher Alltagspraktiken korrespondiert ein biografischer Zwang zur Weiterbildung zur Sicherung und Wahrung der Erwerbschancen in Zeiten aktueller Massenarbeitslosigkeit. Oder in den Worten der Erwachsenenbildungsforscher John Erpenbeck und Volker Heyse: „Die Wissensgesellschaft ist eine Kompetenzgesellschaft. Wissensentwicklung und Kompetenzentwicklung werden weitgehend deckungsgleich“ (Erpenbeck und Heyse 1999: 30; Hervorhebung im Original). Dadurch geraten Biografien unter den Druck permanenter Karriereplanung auch für diejenigen sozialen Milieus, die bislang auf entsprechende Praktiken verzichten konnten. Der Effekt ist ein Standardisierungsprozess, der den Zwang zur (Weiter-) Bildung auch in den biografischen Phasen jenseits der Schul- und Ausbildungsbiografien fortschreibt. Als Konsequenz werden die Erfahrungsräume „bildungsferner“ unterprivilegierter Milieus ebenfalls mit standardisierten und ökonomisch verwertbaren Wis-
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sensangeboten konfrontiert. Dabei ist entscheidend, dass die Zeitdiagnose „Wissensgesellschaft“ an die Vorstellung einer durchgesetzten individualisierten Gesellschaft gekoppelt ist, die Bildungs- und Weiterbildungsentscheidungen direkt den Individuen zurechnet und Herkunftseffekte trotz aller gegenteiligen empirischen Evidenzen leugnet (so etwa Erpenbeck und Heyse 1999; Stehr 2001; kritisch hierzu Bolder 2002). Gerade in Hinblick auf die Wahrnehmung von Weiterbildungsangeboten führt die Standardisierung von Kompetenzbiografien als angemessener biografischer Entwurf im Rahmen der postulierten gesellschaftlichen Entwicklungen zu Effekten symbolischer Gewalt. Unterprivilegierte „bildungsferne“ Milieus produzieren einen schulbildungsfernen Habitus, der ihnen keine Dispositionen zur bildungsmäßigen Karriereplanung oder Weiterbildungsmanagementstrategien nahe legt. Durch die – vor allem auch im politischen Diskurs über „Wissensgesellschaften“ präsente (vgl. u.a. Rüttgers 1999; BMBF 2001) – Vorstellung, dass die soziale Herkunft spätestens bei Weiterbildungsentscheidungen keine Rolle mehr spielt, wird das Interpretationsschema erzeugt, dass Bildungsferne im Erwachsenenalter eine Folge von individuellen Fehlentscheidungen ist. Und das, obwohl seit Jahren konstant nachgewiesen wird, dass Erwachsenenbildner „bildungsferne“ Milieus nicht erreichen können, was nicht überraschend ist, wenn man die bisherigen individuellen Bildungserfahrungen dieser Milieuangehörigen mit einbezieht. Gerade die scheinbar unschuldigen Konzepte des „lebenslangen“, „selbst gesteuerten“ oder „selbst programmierten“ Lernens im Erwachsenenalter produzieren auf diese Weise den Eindruck, dass es keine Welt jenseits des standardisierten Lernens und Weiterlernens mehr gibt und geben kann. Dadurch werden einerseits alle diejenigen milieuspezifischen Wissensformen und schulbildungsfernen Rationalitäten invisibilisiert, die die milieuspezifischen Alltagspraktiken „bildungsferner“ Milieus strukturieren (siehe oben). An der milieuspezifischen Erfahrungswelt „bildungsferner“ Milieus gehen sie andererseits vollkommen vorbei (vgl. hierzu die differenzierte Studie von Bremer 1999). Die Effekte symbolischer Gewalt, die sich hier einstellen, sind vor allem die der Selbstzuschreibung des Bildungsversagens von „bildungsfernen“ Milieus. Sie äußern sich auch im Erwachsenenalter noch, und zwar dadurch, dass die fehlende Bereitschaft zur als nunmehr notwendig erachteten Weiterbildung oder der Besuch ökonomisch wenig verwertbarer Kurse als persönliche (Fehl-)Entscheidung – auch von den Beteiligten selbst – und nicht als systematische habituelle Schranken interpretiert werden (vgl. Bittlingmayer 2002). Durch die mit der Zeitdiagnose „Wissensgesellschaft“ verbundenen Entwicklungen werden bildungsvermittelte symbolische Gewaltverhältnisse nicht weniger wirksam reproduziert als durch die Distinktion erheischenden Praktiken bildungsbürgerlicher Milieus, denen in „bildungsfernen“ Milieus noch mit expressiver Abwehr begegnet werden konnte (siehe oben). Eine zweite These, die mit der Zeitdiagnose „Wissensgesellschaft“ einhergeht, bezieht sich auf die unmittelbaren Veränderungen in der Arbeitswelt, die zu einer Verringerung der Benachteiligung „bildungsferner“ Milieus führen könnten. So
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sollen etwa auf der Grundlage neuer Managementkonzepte gerade die erfahrungsweltlichen Kompetenzen und Wissensformen in die Betriebe integriert und nachhaltig gestärkt werden. In dieser Hinsicht soll nicht nur wissenschaftliches und theoretisches Wissen in alle Lebensbereiche Einzug halten (Stehr 1994: 25ff.), sondern auch erfahrungsweltliches Wissen stärker in der Arbeits- und Berufswelt berücksichtigt werden. Insofern könnte argumentiert werden, dass diejenigen gesellschaftlichen Wandlungstendenzen, die mit dem Übergang in die „Wissensgesellschaft“ bezeichnet werden, denjenigen Milieus zugute kommen, die in ihrer erfahrungsweltlichen Alltagspraxis – wie bereits zuvor gezeigt – auf Formen der Reziprozität und Solidarität abheben. Wenn man allerdings einen genaueren Blick auf die konkrete Umsetzung der erfahrungs- und lebensweltlichen Wissensbestände in der Arbeitswelt wirft, dann ist stark zu bezweifeln, dass „bildungsferne“ Milieus von der Berücksichtigung lebens- und erfahrungsweltlicher Wissensformen profitieren könnten (vgl. ausführlicher hierzu Bittlingmayer 2002). Zunächst ist festzuhalten, dass sich die Einführung von so genannten Leanmanagement-Konzepten (Postfordismus) mit ihren Formen verstärkter Teamarbeit und Kooperation nur auf einige Arbeitsbereiche erstreckt hat. Zweitens sind selbst in denjenigen Bereichen (z.B. in der Autoindustrie), in denen entsprechende Veränderungen in Hinblick auf intensivierte Formen der kollegialen Zusammenarbeit vorgenommen wurden, der ökonomische Verwertungszwang und die Konkurrenzsituation der Arbeitswelt nicht aufgehoben (vgl. Schumann 2003). Im Gegenteil ist eher davon auszugehen, dass im Rahmen von Leanmanagement-Konzepten auch die erfahrungsweltlichen Alltagspraktiken „bildungsferner“ sozialer Milieus einer Profitlogik unterworfen wurden, die bislang als milieuspezifische Ressourcen gegen die Anforderungen der Berufswelt genutzt werden konnten. Das individuelle, milieuspezifisch durchaus rationale Festhalten an fordistischen Formen der Arbeitsbewältigung führt dann schnell zu beruflichen Nachteilen, wie industriesoziologische Studien zeigen (vgl. Pialoux 1997; Wittel 1998). Drittens schließlich implementieren moderne Managementkonzepte eine Form der Kollegialität, die auf der Fähigkeit beruht, Arbeitszusammenhänge und daran anknüpfende Konfliktsituationen verbal zu bearbeiten. Die erfahrungs- und lebensweltlichen Praktiken „bildungsferner“ Milieus, die als solidarisch oder als Akkumulationsstrategien zur Vergrößerung des familialen sozialen Kapitals beschrieben werden können, zeichnen sich aber gerade durch ein eher „heimliches Einverständnis“ aus, das sich den anvisierten betrieblichen Kommunikationspraktiken entwindet. Durch die akademische Überformung dieser erfahrungsweltlichen Ressourcen werden diejenigen Wissensbestände und Alltagspraktiken betriebswirtschaftlich entfremdet, die bislang als lebensweltliche Reproduktionsstrategien fungierten. Die Grenze zwischen lebensweltlichen Praktiken und Arbeitsformen, deren Auflösung bislang eher charakteristisch war für Mittel- und Oberschichten, wird dadurch auch für „bildungsferne“ Milieus durchlässig und brüchig. Das ist
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vor allem deshalb problematisch, weil jene eben nicht die für Mittel- und Oberschichtmilieus selbstverständlichen Ressourcen und Gratifikationen zur Verfügung haben, die die Entscheidungssouveränität bei der individuellen Aufrechterhaltung dieser Grenzen zumindest teilweise bei den sozialen Akteuren belassen. Insofern werden die Lebenswelten von „bildungsfernen“ Milieus durch milieufremde Alltagspraktiken torpediert bei gleichzeitiger Verunmöglichung der Umsetzung der empfohlenen Praktiken. Zwei Effekte der postulierten Entwicklung hin zu „Wissensgesellschaften“, die für Bildungsungleichheit von Bedeutung, aber wissens- und bildungssoziologisch unerforscht sind, sollen abschließend noch genannt werden. Die politisch induzierte massive und zwanghafte Weiterbildungsoffensive, die Arbeitslose mittlerweile über sich ergehen lassen müssen, führt in aller Regel nicht dazu, dass die entsprechenden Personen größere Chancen auf den immer enger werdenden Arbeitsmärkten hätten, sondern dazu, dass diese Wissensformen in die Familien zurückgetragen werden. Hier ergeben sich von der Bildungssoziologie noch gänzlich vernachlässigte generationale Rückkopplungseffekte. Wenn Arbeitslose nach mehreren Weiterbildungsmaßnahmen noch immer keine Aussicht auf einen Job haben und das in ihrem familialen oder verwandtschaftlichen Bezugsrahmen thematisieren, wird die Sinnhaftigkeit solcher Lern- und Weiterbildungsformen auch für das soziale Umfeld in Frage gestellt. Wenn demgegenüber beruflich gesicherte Personen „präventiv“ oder auch in Abstimmung mit den Betrieben Weiterbildungskurse absolvieren, dann wird Qualifikation im Anschluss an die Arbeitszeiten zum alltagsweltlich selbstverständlichen Sozialisationshintergrund. Damit perpetuiert sich die Familie bzw. das nahe soziale Umfeld als entscheidende Größe zur Ausprägung von Dispositionen, die auf die Weiterbildungsimperative der Gegenwartsgesellschaften eingestellt sind. Ein letzter wichtiger Aspekt betrifft den Zusammenhang zwischen diskursiver und realer Dimension von Bildungsprozessen. Es ist nicht davon auszugehen, und zwar trotz der informations- und kommunikationstechnologischen Revolution, dass sich an den milieuspezifischen Bildungsprozessen und erfahrungsweltlich vermittelten Lern- und Wissensformen Entscheidendes gewandelt hat. Die Hannoveraner Arbeitsgruppe um Michael Vester hat die Strukturkonstanz von Milieus klar herausgearbeitet (vgl. Vester et al. 2001). Gewandelt hat sich aber die Thematisierung von Bildungsprozessen. So ist etwa bis heute kaum geklärt, ob tatsächlich die – nunmehr wieder rückläufige – statistische Weiterbildungsbeteiligung nicht zu großen Teilen ein Benennungseffekt ist. Das, was aktuell bereits als innerbetriebliche Weiterbildungsmaßnahme bezeichnet und damit statistisch erfasst wird, galt beispielsweise in den sechziger Jahren als nicht-bildungsrelevantes „Einarbeiten an der neuen Maschine“ (vgl. BMBF 2000: 10ff.). Auch ist nicht klar, inwieweit die individuelle Wahrnehmung von Weiterbildungsangeboten tatsächlich für die konkrete Arbeitssituation qualifiziert. Es ist durchaus möglich, dass Weiterbildungsbereitschaft ein Einstellungskriterium darstellt, aber weniger
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aufgrund des hier akkumulierten Wissens, als vielmehr als individuelle Dokumentation der Bereitschaft, über die bezahlte Arbeitszeit hinaus sich der Arbeitswelt zur Verfügung zu stellen. Hier tauchen Motive einer Kolonialisierung familialer und milieuspezifischer Lebenswelten auf, die weiter gehen, als die kritische Zeitdiagnose Jürgen Habermas’ (1981, Bd. 2: 489ff.) es zu Beginn der achtziger Jahre zu skizzieren vermochte. Aus wissenschaftssoziologischer Perspektive problematisch sind die unkritische Übernahme des Weiterbildungsimperativs und die in der Regel fehlende Differenzierung zwischen Diskurs und realen Veränderungen der Bildungsprozesse. Wenn auch noch die stabilen milieuspezifischen Herkunftseffekte des Bildungszugangs verschwiegen und Weiterbildungsbereitschaft und -erfolg an individuelle (Fehl-)Entscheidungen gekoppelt werden, etwa indem in allgemeiner Form auf Konzepte des „selbst gesteuerten“ Lernens verwiesen wird, dann verwandelt die wissenschaftliche Beschreibung des gesellschaftlichen Wandels erfahrungs- und lebensweltliche Kolonialisierungsprozesse in eine unkritische Feier von Schlagwörtern wie dem der „Wissensgesellschaft“. Eine milieuspezifische Perspektive, für die hier Partei ergriffen wird, auf Bildungsprozesse im Erwachsenenalter würde die in den individualisierten Theoriekonzepten inhärenten symbolischen Gewalteffekte vermeiden und stärker phänomenologisch die je eigensinnigen Bildungsweisen zu erfassen suchen. 5.
Schlussfolgerungen
Die dargelegten Ausführungen über Differenzierungen zwischen institutionell und lebensweltlich verankerten Bildungsprozessen verdeutlichen zum einen die vielfältigen Facetten von Bildungserwerbsprozessen. Zugleich legen sie eine differenziertere Analyse institutionalisierter und lebensweltlicher Bildungsprozesse nahe. Die vorgelegten Argumente verdeutlichen, dass die gängige Differenzierung nach sozialstrukturell begründeten Bildungsgruppen, wie sie z.B. durch die Unterscheidung von bildungsnahen und -fernen Bevölkerungsgruppen vorgenommen werden, die sich aus dem Erfolg im Bildungssystem herleiten, lediglich die sozialstrukturelle Oberfläche von Bildungsprozessen nachzeichnen kann. Offensichtlich werden mit dem bildungssystemischen Analysefokus jene Bildungsinhalte und Bildungsqualifikationen verdeckt, die jenseits des Bildungssystems in Familie, Herkunftsmilieu und privaten Lebenszusammenhängen hervorgebracht, vermittelt und angeeignet werden. Damit erreicht die Bildungsforschung nicht jene analytische Tiefenstruktur, die für die Analyse lebensweltlicher Bildungsprozesse erforderlich ist. Damit geraten auch jene ungleichheitsgenerierenden Selektionsmechanismen nicht hinreichend in den Blick, die durch kulturelle, politische und wissenschaftliche Engführungen bei der Definition, Bewertung und Analyse von Bildung hervorgebracht werden. Daraus resultieren u.a. die Schwierigkeiten der empirischen Bildungsforschung, die intergenerationalen Transmissionsprozesse angemessen zu beschreiben, über
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die sich differentes, milieuspezifisches Bildungswissen, spezifische Bildungsstrategien und differente Bewertungen standardisierter Bildungsinhalte in lebensweltlichen Kontexten ausbilden. Über die in diesen Kontexten existierenden vielfältigen Bildungsinhalte und Bildungsanlässe schweigen sich die empirische Bildungsforschung und auch die schichtspezifische Sozialisationsforschung (Bauer 2002) weitgehend aus. Unsere Überlegungen eröffnen eine auf lebensweltliche Bildungsprozesse erweiterte Forschungsperspektive: Sie gewährt zum einen Einblicke in eben jene herkunfts- und milieuspezifischen Wissensbestände, Bildungsstrategien und Bildungsbewertungen, die zu differenten Haltungen gegenüber Bildungsinstitutionen sowie Ressourcen und Einsichten führen. Zum anderen erlaubt sie, Bildungsmilieus nach der Art und Weise zu unterscheiden, wie sich Eltern und Kinder auf bildungssystemische Anforderungen und Bildungsansprüche beziehen und ihnen gegenüber verhalten. Unsere Ausführungen belegen, dass die Passungen zwischen erfahrungsweltlichen und institutionalisierten Bildungsinhalten eine entscheidende Rolle bei der Verfestigung von Bildungsungleichheiten spielen. Denn sie bestimmen die Wahrscheinlichkeiten bzw. Zwangsläufigkeiten, nach denen sich Individuen für oder gegen Handlungsoptionen entscheiden, wie z.B. die Bewertungen von und Entscheidungen für verschiedene Schullaufbahnen, für Berufsausbildung (einschließlich der konkreten Berufswahl) oder Hochschulstudium (einschließlich der Studienfachwahl), für die Teilnahme an Weiterbildung etc. Dazu zählen jedoch auch Optionen wie die Entscheidung, sich den gesellschaftlichen Anforderungen zu entziehen und sich auf ein Leben in prekären oder sozialen Randgruppen einzurichten, dafür aber die eigene soziale Identität zu bewahren, oder etwa den eigenen sozialen und politischen Überzeugungen gerecht zu werden und sich in private Solidargemeinschaften einzubinden, die zwar wenig Status, aber Verständnis und Anerkennung versprechen. Durch die erläuterte Erweiterung der Forschungsperspektive kommen demnach auch solche lebensweltrelevanten Bewertungsmaßstäbe in den Blick, die sich nicht auf systemischen Bildungserfolg, sondern auf das Leben in spezifischen sozialstrukturellen Segmenten bzw. Lagen, in subkulturellen Kontexten also, beziehen. Die Bewertung von Bildung in Familie und Herkunftsmilieu bezieht sich dabei keineswegs nur auf das, was das Bildungssystem an Qualifikationen und Wissensbeständen bereithält. Vielmehr wird die Relevanz von Bildungsinhalten und die Bedeutung des Gelernten auch daran gemessen, ob und inwieweit es auf das Leben in den Herkunfts- oder Zielmilieus vorbereitet, ob es für den Erwerb spezifischer Beziehungskompetenzen, Rollenkompetenzen oder spezifischer Aufgaben und Funktionen im Verwandtschaftssystem vorbereitet. Das, so ist festzuhalten, gilt für alle Herkunftsmilieus auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Es sollte weder einer naturwüchsigen Überlegenheit bildungsbürgerlicher, noch einer Romantisierung der Arbeiterkultur das Wort geredet werden. Bildungsprozesse in der Familie und dem Herkunftsmilieu entfalten ihre ganz eigene Dynamik, die
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sich nicht einfach auf bildungssystemische Anforderung projizieren lassen, wie das z.B. im Rahmen der kompensatorischen Erziehung versucht wurde. Die dargelegte Perspektivenerweiterung der Bildungsforschung würde demnach auch die Schwierigkeiten der schichtspezifischen Sozialisationsforschung aufheben, das Verhältnis von Familie und Schule hinreichend zu erfassen. Sie ermöglicht nämlich, die Eigendynamiken von lebensweltlichen und institutionalisierten Bildungsprozessen zu begreifen und die Differenzen bzw. die Entsprechungen zwischen diesen Bildungsprozessen zu identifizieren. Eine derart erweiterte Analyse von Bildungsprozessen könnte dann genauer erkunden, welche Bildungsinhalte in privaten Lebenszusammenhängen und in Bildungsinstitutionen vermittelt und angeeignet werden. Erst danach wäre eine kritische Bestandsaufnahme dessen, was in Bildungsinstitutionen gelehrt, was als bedeutsamer Bildungsinhalt definiert wird, aufschlussreich. Schließlich stände aber auch die Angemessenheit des Bildungssystems für das, was es eigentlich leisten soll, auf dem Prüfstand. Es ließe sich nachzeichnen, ob und inwieweit bzw. für welche Bevölkerungsgruppen es lebensweltrelevantes Bildungswissen vermittelt, ob und inwieweit es tatsächlich auf das Leben vorbereitet. Unsere Prognose: Es würde dabei schlecht abschneiden. Solche Analysen tragen letztlich aber auch dazu bei, die Entstehung und die Verfestigung von Bildungsungleichheiten zu erkunden. Dazu ist es aber notwendig, dass die Bildungsforschung von ihrem Forschungsstand abstrahiert und – quasi von außen – diesen betrachtet. Erkenntnis, so wissen wir aus vielen erkenntnistheoretischen Ausführungen, setzt Abstraktionsfähigkeit voraus. Die Analyse lebensweltlicher Bildungsprozesse zum Zwecke der Erkundung ungleichheitsgenerierender Mechanismen im Bildungssystem trägt dieser Einsicht Rechnung.
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Soziale Ungleichheit im Bildungsverlauf: zum Verhältnis von Bildungsinstitutionen und Entscheidungen Steffen Hillmert
1.
Einleitung
Welche Rolle kann man der Struktur von Bildungssystemen als Erklärungsfaktor für soziale Bildungsungleichheiten zuschreiben? In der öffentlichen wie der wissenschaftlichen Diskussion wird hier häufig ein enger und direkter Zusammenhang unterstellt, nicht zuletzt auch in Debatten um Ergebnisse der PISA-Studie. Ein solcher Zusammenhang interessiert wohl gerade deshalb, weil Bildungsinstitutionen zu den Einflussfaktoren gehören, die prinzipiell politischer Steuerung zugänglich und somit gestaltbar sind. Der vorliegende Beitrag fragt, inwieweit die Annahme einer unmittelbaren Relevanz institutioneller Strukturen des Bildungssystems für Ausmaß und Formen sozialer Ungleichheiten plausibel ist und sich empirisch stützen lässt. Das zentrale Argument ist, dass institutionelle Eigenschaften ein wesentliches Element bei der Erklärung von Bildungsungleichheiten darstellen – allerdings nur dann, wenn sie nicht oberflächlich interpretiert werden. Insbesondere ist das Verhältnis zwischen Institutionen und Entscheidungen genauer zu diskutieren. Für gegenwärtige, westliche Gesellschaften ist relativ gut dokumentiert, dass es eine starke soziale Differenzierung der Bildungsbeteiligung gibt (für das deutsche Bildungssystem vgl. Cortina et al. 2003). International vergleichende Analysen zeigen, dass in den meisten modernen Industrieländern viele Unterschiede in der Bildungsverteilung nach sozialer Herkunft auch nach Phasen der Bildungsexpansion noch deutlich ausgeprägt sind (Shavit und Blossfeld 1993; Erikson und Jonsson 1996a). Demgegenüber hat die Forschung wohl in deutlich geringerem Umfang zu gesicherten Erkenntnissen über die Ursachen von Bildungsungleichheiten geführt. Einen besonderen Stellenwert haben institutionelle Erklärungen. Sie gehen von einer zentralen Strukturierungswirkung vor allem staatlicher Institutionen für individuelle Lebensverläufe aus (Mayer 1990; Mayer und Müller 1989). Insbesondere ist es plausibel, historische Trends, internationale bzw. regionale Unterschiede im Bildungsverhalten sowie Lebensverlaufseffekte gerade auch auf institutionelle Bedingungen und Veränderungen zurückzuführen. Als Ausgangspunkt der theoretischen Betrachtungen seien daher zunächst empirische Ergebnisse zur Bildungsungleichheit in (West-)Deutschland anhand dieser Dimensionen kurz zusammengefasst.
72
2.
Hillmert
Dimensionen empirischer Befunde zur sozialen Differenzierung beim Bildungserwerb
Historische Entwicklungen Im historischen Vergleich lässt sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine mehr oder weniger starke Abnahme des Einflusses der sozialen Herkunft auf das Bildungsverhalten erkennen (vgl. Müller und Haun 1994; Henz und Maas 1995; Müller 1998; Schimpl-Neimanns 2000; Mayer et al. 2003; vgl. auch die Überblicke bei Krais 1996 und Büchner 2003 sowie den Beitrag von Becker in diesem Band). Diese generelle Tendenz scheint sich zunächst in einem langfristigen Kohortenvergleich der sozialen Selektivität ausgewählter Bildungs- und Ausbildungsniveaus zu bestätigen (Abbildung 1).1 Allerdings verfügen in allen Kohorten jene Personen, deren Eltern die (Fach-)Hochschulreife besitzen, weit häufiger als andere über höhere Schul- und Ausbildungsabschlüsse. Als Indikatoren, die auch bei Veränderungen in den jeweiligen Randverteilungen vergleichbar sind, dienen hier die relativen Chancenverhältnisse. Diese lassen sich wie folgt bestimmen: Von den Kindern, deren Eltern die (Fach-)Hochschulreife besitzen, macht ein bestimmter Teil Abitur, der andere Teil nicht. Somit lässt sich für diese Personengruppe das statistische Chancenverhältnis Abitur versus Nicht-Abitur berechnen. Analoges gilt für Kinder, deren Eltern kein Abitur besitzen (wobei dieses Chancenverhältnis in der Regel deutlich kleiner ist, also relativ wenige dieser Kinder das Abitur machen). Der Quotient aus den beiden Chancenverhältnissen ergibt das relative Chancenverhältnis. In Kohorte 191921 beispielsweise beträgt es etwa 16 zu 1. Für Angehörige dieser Kohorte mit höher gebildeten Eltern war es im Vergleich zu jenen mit geringer gebildeten Eltern also rund 16-mal wahrscheinlicher, das Abitur zu erreichen. Die relativen Chancenverhältnisse für die anderen Kohorten und Bildungsabschlüsse berechnen sich analog. Über die Geburtskohorten hinweg zeigt sich zunächst, zumindest ab den Jahrgängen um 1930, ein rückläufiger Trend bei den Chancenungleichheiten im Übergang zum Abitur. Allerdings erfolgte der Rückgang größtenteils in den älteren Geburtskohorten bis 1950. Sieht man einmal von der in jungem Alter befragten jüngsten Kohorte ab, dann sind die Ungleichheitsverhältnisse seit dem Jahrgang
1
Im Rahmen dieses Beitrags können die empirischen Analysen nur illustrativen Charakter haben. Die hier präsentierten Ergebnisse basieren auf den retrospektiv erhobenen Individualdaten der Westdeutschen Lebensverlaufsstudie (vgl. Brückner 1993; Mayer und Brückner 1989; Brückner und Mayer 1995; Hillmert et al. 2003). Es werden lediglich Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit betrachtet. Die entsprechenden Fallzahlen: n=1412 (Geburtskohorten 1919-21), n=708 (Kohorten 1929-31), n=730 (Kohorten 1939-41), n=733 (Kohorten 1949-51), n=1007 (Kohorten 1954-56), n=1001 (Kohorten 1959-61), n=1416 (Kohorte 1964), n=1335 (Kohorte 1971).
Soziale Ungleichheit im Bildungsverlauf
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1950 relativ konstant geblieben bzw. haben bei den höheren Bildungsabschlüssen sogar wieder leicht zugenommen. Abbildung 1: Langfristige Trends der sozialen Differenzierung bei Schul- und Studienabschlüssen: relative Chancenverhältnisse (nach Bildungsherkunft) im Kohortenvergleich
20 18 16 14 12 10 8 6 4 2 0 1919-21 Abitur
1929-31 FH/Uni
1939-41 Uni
1949-51
1954-56
1959-61
1964
1971 Kohorte
Lesehilfe Verglichen werden jeweils Kinder von Eltern mit (Fach-)Hochschulreife und Kinder anderer Eltern in Bezug auf den Erwerb folgender Bildungsabschlüsse: Abitur (inkl. später nachgeholt) versus kein oder niedrigerer Schulabschluss; FH/Uni (Fachhochschulabschluss oder Äquivalent bzw. Universitätsabschluss) versus keine oder niedrigere Ausbildung; Uni (inkl. Promotion und noch im Studium) versus keine oder niedrigere Ausbildung. Quelle Westdeutsche Lebensverlaufsstudie, Kohorten 1964 und 1971 – eigene Berechnungen
Lassen sich diese Entwicklungen (auch) mit institutionellen Bedingungen erklären? Während ein großer Teil der Forschung primär deskriptiv orientiert ist, wird dies in der Diskussion um die Wirkungen der Bildungsexpansion wohl implizit vorausgesetzt. Dabei finden sich vor allem Aussagen, die strukturelle Flexibilität tendenziell mit einer reduzierten Bildungsungleichheit gleichsetzen. So formuliert etwa Schimpl-Neimanns (2000: 8), allerdings zunächst nur als Hypothese: „In verschiedenen Bundesländern wurde den Eltern ein größeres, teilweise sogar das entscheidende Recht der Schulartwahl eingeräumt [...]. Diese erleichterten Übergangsmöglichkeiten auf weiterführende Schulen [...] können insbesondere ab den [19]70er Jahren zu einem Rückgang der sozialen Selektivität im Schulbesuch beigetragen haben“. Auf diese Argumentation ist weiter unten noch einmal zurückzukommen. Zunächst ein Blick auf weitere Ergebnisdimensionen.
74
Hillmert
Regionale Variabilität Wohl noch plausibler ist der institutionelle Einfluss beim regionalen Vergleich von Bildungssystemen, sei es international, sei es im nationalen Binnenvergleich. Nicht zuletzt die föderale Struktur großer Teile des Bildungswesens lässt größere regionale Unterschiede im Ausmaß der sozialen Bildungsungleichheit erwarten. Allerdings wurden diese Unterschiede zwischen den Bundesländern während der letzten Jahrzehnte in Forschung und Öffentlichkeit eher wenig thematisiert. Auch deshalb haben die jüngsten Ergebnisse zu Bildungsbeteiligung und Kompetenzverteilung bei Schülern in den einzelnen Bundesländern im Rahmen der PISAStudie (Baumert et al. 2002) für Aufsehen gesorgt. Abbildung 2: Regionale Variation der sozial differenzierten Bildungsbeteiligung: relative Chancenverhältnisse (nach Bildungsherkunft) beim Übergang nach der Grundschule im Ländervergleich 20 18 16 14 12 10 8 6 4 2 0 Baden-Württemberg Real- vs. Hauptschule
Bayern Gymnasium vs. Realschule
Niedersachsen
NRW
Gymnasium vs. Hauptschule
Lesehilfe Verglichen werden jeweils Kinder von Eltern mit (Fach-)Hochschulreife und Kinder anderer Eltern in Bezug auf folgende Bildungsgänge (jeweils von links nach rechts): Übergang nach der Grundschule in Realschule vs. in Hauptschule; Übergang nach der Grundschule ins Gymnasium vs. in Realschule; Übergang nach der Grundschule ins Gymnasium vs. in Hauptschule; vereinfachte regionale Zuordnung nach dem Wohnort im Alter von 10 Jahren. Quelle Westdeutsche Lebensverlaufsstudie, Kohorten 1964 und 1971 – eigene Berechnungen
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Abbildung 2 zeigt auf der Basis aktueller Kohortendaten Unterschiede zwischen ausgewählten Bundesländern im Hinblick auf die soziale Selektivität der Übergänge in allgemein bildende Schulen nach der Grundschule.2 Verglichen wird hier wieder das Bildungsverhalten der Kinder von Eltern mit oder ohne (Fach-) Hochschulreife, ausgedrückt in relativen Chancenverhältnissen. Stellt man etwa Gymnasial- und Hauptschulbesuch gegenüber, dann ist die so gemessene soziale Distanz in Bayern mit einem relativen Chancenverhältnis von etwa 14 zu 1 viel ausgeprägter als in den drei anderen hier betrachteten Bundesländern. Die regionalen Unterschiede lassen sich aber nicht unbedingt als globale Niveauunterschiede interpretieren. Die Rangfolge der Länder hinsichtlich der beobachteten Bildungsungleichheit kann sich durchaus ändern, je nachdem, welche Schulzweige jeweils verglichen werden.3 Beim Vergleich der Übergänge in Haupt- und Realschulen etwa ist die soziale Distanz in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen größer als in den beiden südlichen Ländern. Einmal abgesehen von dieser Differenzierung: Sind die Länderunterschiede Ausdruck unterschiedlicher institutioneller Strukturen in den Bildungssystemen der Bundesländer? Dies ist allein deshalb schwer zu beurteilen, weil die formale Struktur der Bildungssysteme (vorhandene Schulzweige, festgelegte Zeitpunkte für Übergänge etc.) eng mit Eigenschaften wie einer eher konservativ bzw. eher liberalen Ausrichtung der Bildungspolitik, wie sie etwa in den Lehrinhalten zum Ausdruck kommt (von Below 2002; siehe auch den Beitrag von Müller-Benedict in diesem Band), oder auch der quantitativen Versorgung mit entsprechenden Bildungseinrichtungen zusammenhängt. Noch wichtiger ist aber vermutlich die Tatsache, dass das beobachtete Bildungsverhalten keine einfache Funktion des Bildungsangebots, sondern Ausdruck von Entscheidungen ist, die wiederum von einer Vielzahl anderer Faktoren beeinflusst sein können (vgl. dazu den folgenden Abschnitt). Interaktion mit Lebensverlaufseffekten Eine Komplikation kommt noch hinzu. Wie aus Abbildung 3 deutlich wird, bauen sich soziale Distanzen zwischen bestimmten Schulzweigen im Lebenslauf auf oder ab, und auch in Bezug auf diese ‚Lebensverlaufsabhängigkeit’ der Bildungsungleichheit zeigen sich Unterschiede in den Bundesländern. Hierzu wird die vorangegangene Darstellung (Abbildung 2), die die sozialen Differenzen beim 2
3
Diese Analysen sind nur für die großen Flächenländer möglich. Die entsprechenden Fallzahlen sind n=450 (Baden-Württemberg), n=464 (Bayern), n=380 (Niedersachsen) und n=682 (Nordrhein-Westfalen). Ähnliches gilt im Prinzip auch in Bezug auf die historischen Trends, die nicht generell als Aboder Zunahme sozialer Differenzierungen zu beschreiben sind. Auch hier dürfte es stark von der jeweiligen Vergleichsgruppe abhängen, ob ein Bildungszweig in sozialer Hinsicht tendenziell offener oder geschlossener geworden ist, und in diesem Sinne können soziale Trennlinien zwischen Zweigen des Bildungssystems tendenziell aufgelöst werden oder neu entstehen.
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Hillmert
Übergang auf weiterführende Schulen darstellt, um die soziale Verteilung der letztlich erworbenen Schulabschlüsse ergänzt. Abbildung 3: Regionale Variation und Lebensverlaufseffekte bei der sozial differenzierten Bildungsbeteiligung: relative Chancenverhältnisse (nach Bildungsherkunft) im Ländervergleich
20 18 16 14 12 10 8 6 4 2 0 Baden-Württemberg
Bayern
Niedersachsen
NRW
Real- vs. Hauptschule
MR vs. HSA
Gym. vs. Realschule
Abitur vs. MR
Gym. vs. Hauptschule
Abi vs. HSA
Lesehilfe: Verglichen werden jeweils Kinder von Eltern mit (Fach-)Hochschulreife und Kinder anderer Eltern in Bezug auf folgende Bildungsgänge (jeweils von links nach rechts): Übergang nach der Grundschule in Realschule vs. in Hauptschule; höchster Schulabschluss zum Befragungszeitpunkt: mittlere Reife vs. Hauptschulabschluss; Übergang nach der Grundschule ins Gymnasium vs. in Realschule; höchster Schulabschluss zum Befragungszeitpunkt: Abitur vs. Mittlere Reife; Übergang nach der Grundschule ins Gymnasium vs. in Hauptschule; höchster Schulabschluss zum Befragungszeitpunkt: Abitur vs. Hauptschulabschluss. Vereinfachte regionale Zuordnung nach dem Wohnort im Alter 10. Quelle: Westdeutsche Lebensverlaufsstudie, Kohorten 1964 und 1971 – eigene Berechnungen
Diese weicht mehr oder weniger stark von jener beim Übergang in die betreffenden Schulzweige ab. In Bayern beispielsweise liegen die hier unterschiedenen Herkunftsgruppen beim Übergang in Haupt- und Realschule noch dicht zusammen. Nimmt man spätere Schulartwechsel, Abbrüche und nachgeholte Schulabschlüsse hinzu, unterscheiden sich die relativen Chancenverhältnisse jedoch deutlich. Für den Vergleich zwischen Realschulbesuch (mittlere Reife) und Gymnasialbesuch (Abitur) gilt tendenziell das Gegenteil: Bei den letztlich erworbenen Schulabschlüssen ist die soziale Selektivität geringer als beim Wechsel nach der Grundschule. Dies geht vornehmlich darauf zurück, dass gerade die Kinder mit höherem Bildungshintergrund, die zunächst eine Hauptschule besuchen, tendenziell nicht auf diesem Schulniveau verbleiben, sondern später noch die mittlere
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Reife erwerben. Insgesamt baut sich dadurch die soziale Distanz zwischen Hauptschule (Hauptschulabschluss) und Gymnasium (Abitur) im Lebensverlauf deutlich auf. In Nordrhein-Westfalen sind diese zeitbezogenen Unterschiede weit geringer, der soziale Abstand zwischen Hauptschul- und Gymnasialbesuch bzw. -abschluss etwa nimmt im Lebensverlauf nur wenig zu. Der Blick auf Abbildung 3 macht somit deutlich, dass der Zeitpunkt des Vergleichs (Lebensalter oder auch Bildungsstufe) großen Einfluss auf das Ausmaß der festgestellten sozialen Differenzen und somit auf die ‚Explananda’ des Ländervergleichs hat. Darüber hinaus bleibt erneut zu fragen, inwieweit diese Ergebnisse Strukturunterschieden in den jeweiligen Bildungssystemen zuzurechnen sind. Soweit eine kurze Übersicht über empirische Befunde. Sie stellt nur einen Ausschnitt dar und konzentriert sich auf das allgemein bildende Schulsystem, soll aber in ihrer Gliederung für ein Zwischenfazit ausreichen. Soziale Differenzierungen im deutschen Bildungssystem sind in der Literatur zum Teil recht ausführlich beschrieben worden, lange bevor sie durch die Diskussion um die PISA-Studie (wieder) ins öffentliche Bewusstsein gerückt sind. Sie umfassen insbesondere Niveauunterschiede und Trends in den Auswirkungen der sozialen Herkunft (und daneben auch anderer Ungleichheitsdimensionen), regionale Unterschiede und Differenzierungen innerhalb des Bildungssystems sowie Lebensverlaufseffekte. Der Einfluss der Bildungsinstitutionen ist an verschiedenen Stellen plausibel, ohne dass aus den meisten Analysen direkte Zusammenhänge deutlich werden. In zumindest dreifacher Hinsicht lohnt daher eine vertiefende Betrachtung der vorwiegend deskriptiven Ergebnisse. Erstens: Inwieweit sind bei den Unterschieden in den Bildungsergebnissen interindividuelle Leistungsunterschiede zu berücksichtigen? Dieser Aspekt ist nicht nur ein zentrales Element der Schulleistungsstudien, sondern berührt auch normative Grundfragen der Gesellschaft. Zweitens: Wie ist gerade vor diesem Hintergrund die Struktur der Bildungsungleichheiten im Lebensverlauf zu beschreiben? Drittens und vor allem: Wie sind die empirischen Befunde zu erklären? Inwiefern lassen sich insbesondere Bildungsinstitutionen für die Trends und Unterschiede verantwortlich machen? Zu diesen Punkten im folgenden Abschnitt einige Erläuterungen. 3.
Grundprobleme der Analyse von sozialen Bildungsungleichheiten
Normative Gesichtspunkte Soziale Unterschiede werden nicht per se als ungerechte Ungleichheiten aufgefasst. Hierbei handelt es sich um gesellschaftlich als illegitim geltende Unterschiede bei der Verteilung gesellschaftlich relevanter Güter. Referenz ist also stets ein normatives Modell legitimer Unterschiede. Das in westlichen Gesellschaften weitgehend geteilte Modell ist das der Leistungsgerechtigkeit, das vereinfacht besagt: Unterschiedliche Belohnungen und Erfolge sind, zumindest bis zu einem gewissen
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Ausmaß, erlaubt und gewünscht, wenn sie Folge individueller Leistungsunterschiede (Begabung, Anstrengungen) sind. In diesem Sinne kann man nur dann von illegitimen sozialen Bildungsungleichheiten sprechen, wenn sich beim Bildungserfolg eine soziale Differenzierung unter Berücksichtigung der primären (legitimen) Übergangskriterien zeigt. Solche Kriterien sind jeweils zu spezifizieren. In Bezug auf die Entscheidung für einen Sekundarschulzweig bedeutet dies etwa, dass Leistungsmerkmale (kognitive Fähigkeiten, Motivation, Wissen) entweder unmittelbar einen Übergang in Hauptschule, Realschule oder Gymnasium nahe legen (absolute Interpretation der Übergangskriterien) oder zumindest eine Rangfolge der Bewerber für die Verteilung auf die ebenfalls geordneten Schulzweige ermöglichen (relative Interpretation). In den vorliegenden soziologischen Studien zur Bildungsungleichheit werden genau genommen nur soziale Differenzierungen im Bildungsverhalten erfasst. Diese Studien sind aber eben nicht in der Lage, die Frage zu beantworten, inwieweit die sozial unterschiedlichen Übergangsmuster mit dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit verträglich sind.4 Aufgrund der jeweils (nicht) verfügbaren Daten können die Untersuchungen nicht zwischen dem individuellen Kompetenzniveau, der faktischen Bildungsentscheidung und Bildungschancen differenzieren (vgl. Beitrag von Becker in diesem Band). Gleichwohl legen es soziologische Überlegungen und nicht zuletzt auch Ergebnisse der PISA-Studie nahe, dass die soziale Verteilung bei Übergangsentscheidungen bzw. beim Erwerb unterschiedlicher Schulabschlüsse nicht allein individuelle Kompetenzunterschiede widerspiegelt. Zwar beeinflusst die soziale Herkunft das Kompetenzniveau der Schüler (zumindest in höheren Altersstufen), aber auch bei vergleichbaren Kompetenzen fallen die Entscheidungen für Übergänge auf weiterführende Schulen je nach sozialer Herkunft sehr unterschiedlich aus (Baumert et al. 2002). Eine empirische Berücksichtigung der primären Zuweisungskriterien ist also Voraussetzung, um zumindest die sozialen Ungleichheiten innerhalb des Bildungssystems korrekt zu messen. Je nach (Leistungs-)Selektivität der Teilpopulationen wird sonst das reale Ausmaß von sozialen Ungleichheiten über- oder unterschätzt. Ein anderer normativer Aspekt betrifft den Wert bzw. die Konsequenzen von Bildung. Die Relevanz von Bildungsungleichheiten hängt immer auch ab von der gesellschaftlichen Bedeutung der Bildungsbeteilung bzw. der Bildungsabschlüsse. Zum einen lässt sich Bildung als Ziel an sich betrachten. Wichtig ist aber vor allem, dass Unterschiede in Bildungsbeteiligung und -abschlüssen unmittelbar mit unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsmarktchancen verbunden sind. Die diesbezüglichen ‚Distanzen’ zwischen konkreten Bildungsabschlüssen können sich durchaus verändern (vgl. etwa Müller et al. 1998), und somit werden soziale Unterschiede zwischen bestimmten Bildungsgängen mehr oder weniger relevant. 4
Betrachtet man die individuelle Entwicklung im Lebensverlauf insgesamt, dann lassen sich natürlich auch Unterschiede in Kompetenzen und Bildungsaspirationen als Ausdruck sozialer Ungleichheit auffassen.
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Bildungsungleichheit im Lebensverlauf Bildungsverläufe sind durch Episoden und Übergänge gekennzeichnet, die im individuellen Lebensverlauf endogen zusammenhängen (Mayer 1990). Insofern sollten diese auch jeweils zum tatsächlichen Entscheidungs- bzw. Übergangszeitpunkt beobachtet werden. Dass sich die soziale Ungleichheit im Bildungssystem während des Lebenslaufs einer Kohorte aufgrund sich kumulierender Selektionsprozesse verändert, ist auch eine Grundannahme des sequenziellen Modells von Mare (1980; kritisch dazu Cameron und Heckman 1998), das in konzeptioneller Hinsicht einen gewissen Standard für die quantitative Analyse von Bildungsungleichheiten gesetzt hat. Dieses Modell ist jedoch nur begrenzt auf das deutsche Bildungssystem anwendbar. Zum einen folgt das deutsche Bildungssystem nicht unbedingt dem Modell einer Sequenz von ‚school continuation decisions’. Vielmehr stellt gerade das dreigliedrige Sekundarschulsystem eine Parallelstruktur von Bildungswegen dar (Schimpl-Neimanns 2000; Breen und Jonsson 2000). Zum anderen wird die lineare Sequenz der Entscheidungen für immer höhere Bildungsniveaus auch durch das nennenswerte Ausmaß späterer Schulformwechsel und nachgeholter Schulabschlüsse durchbrochen, die ihrerseits sozial selektiv sind (Henz 1997a, b; Hillmert und Jacob 2003b). ‚Übergänge’ zu bestimmten Qualifikationsniveaus erfolgen also nicht notwendigerweise zu einem standardisierten Zeitpunkt, sondern können mit dem Lebensalter stark variieren. Gerade auch dies verweist auf die Bedeutung der Lebensverlaufsdimension bei der Analyse von Bildungsungleichheiten. Dies gilt aber nicht nur in diesem eher technischen Sinn, sondern auch in kausaler Hinsicht: Denn der zu einem bestimmten Zeitpunkt bei einer Person beobachtete Bildungsstatus lässt sich nicht unbedingt aus aktuellen Bedingungen erklären. Entscheidend ist oft die individuelle Vorgeschichte, und dies ist auch bei der Analyse von Bildungsungleichheiten zu berücksichtigen (Blossfeld 1989). Wie lässt sich die Entwicklung von sozialen Bildungsungleichheiten im Lebensverlauf verstehen? Eine bedeutsame konzeptionelle Unterscheidung ist hier jene zwischen primären und sekundären Effekten (Boudon 1974). Diese zielt insbesondere auf soziale Ungleichheiten, die außerhalb des Bildungssystems und bereits vor dem Eintritt ins (vor-)schulische Bildungssystem – also vor allem innerhalb der Herkunftsfamilie – entstehen. Dem gegenüber stehen Ungleichheiten, die während der Verweildauer im Bildungssystem auftreten. Aber auch auf jeder einzelnen Stufe des Bildungsverlaufs ist eine entsprechende Unterscheidung sinnvoll: Die primäre soziale Differenzierung besteht in den jeweiligen ‚Ausgangsbedingungen’ (Kompetenzen, formale Bildungsabschlüsse), also den jeweils bis zu dieser Stufe auftretenden Unterschieden, während die sekundäre Differenzierung die Unterschiede beim Übergang zur nächsten Stufe beschreibt. Damit lassen sich endogene Zusammenhänge im Lebensverlauf auf der individuellen Ebene insbesondere auf drei analytische Faktoren zurückführen. Zunächst einmal die individuelle (Kompetenz-)Entwicklung, die eine wichtige Ausgangsbe-
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dingung für folgende Übergänge darstellt. Dabei können sich soziale Differenzen zum einen durch dauerhafte Unterschiede in den familialen und sozialen Umwelten (unterschiedlich verfügbare Ressourcen u.ä.) ergeben. Zum anderen ergeben sich soziale Differenzen aus Unterschieden in den schulischen Umwelten (in die die Gruppen durch frühere Übergänge verteilt wurden); insbesondere handelt es sich hierbei um unterschiedlich gute Förderung in den einzelnen Bildungszweigen. Diese kann auch spezifisch für einzelne Gruppen von Personen gelten5 – im Negativen bis hin zur Diskriminierung. Verbunden mit der individuellen Entwicklung ist zweitens die individuelle Kumulation von formalen Bildungstiteln (Abschlüssen). Gerade im deutschen Bildungssystem gelten an verschiedenen Stellen formalisierte Zugangsbedingungen, und vorhandene oder fehlende Qualifikationen können Zugänge ermöglichen oder verschließen. Es gibt hier eine enge Beziehung zur Kompetenzentwicklung, denn die erworbenen Kompetenzen bestimmen maßgeblich, ob eine bestimmte Qualifikationsstufe formal überhaupt erreicht werden kann. Schließlich ergeben sich Zusammenhänge auch durch das individuelle bzw. das elterliche Entscheidungsverhalten beim entsprechenden Übergang. Dieses Verhalten ist seinerseits an die Entwicklung von Präferenzen, aber auch wieder an die individuelle Leistungsentwicklung des Kindes oder des Jugendlichen gebunden. Erneut zeigt sich somit die Bedeutung einer längsschnittbezogenen Leistungsmessung. Nur so kann entschieden werden, auf welchen Stufen ‚letztlich’ soziale Selektionen stattfinden bzw. inwiefern die weitere Kompetenzentwicklung, der Erwerb von Zertifikaten und die Genese von Bildungsentscheidungen tendenziell Folgen vorangegangener Ausleseprozesse sind. Die folgende Darstellung wird sich auf den Aspekt der Entscheidungen konzentrieren, da hier ein enger Zusammenhang mit der Grundstruktur der Bildungsinstitutionen (im Sinne wählbarer Optionen) besteht. Theoretische Probleme institutioneller Erklärungen Soziologische Befunde zur sozialen Bildungsungleichheit sind auf eine ganze Reihe von Faktoren zurückgeführt worden (vgl. auch Shavit und Blossfeld 1993), wobei sich diese allerdings häufig auf verschiedene Teile des Bildungssystems bzw. unterschiedliche soziale Phänomene und Akteure beziehen. Abgesehen von eher statistischen ‚Erklärungen’ – wie Kompositionseffekte, Selektivitäten, Sättigungseffekte der Bildungsbeteiligung (Raftery und Hout 1993) usw. – sind hier, wie bereits erwähnt, in erster Linie institutionelle Erklärungen zu nennen. Diese 5
Gerade an dieser Stelle zeigt sich auch die Unschärfe in der Definition des Begriffs ‚Bildungsinstitutionen’: Ihr Einfluss ist natürlich unterschiedlich, je nachdem ob darunter im engeren Sinne formale Grundstrukturen (vorhandene Bildungszweige) oder etwa konkrete Bildungseinrichtungen (einzelne Schulen o. ä.) verstanden werden (für eine theoretische Diskussion des Institutionenbegriffs und ein Plädoyer für eine auf ‚Handlungsmöglichkeiten’ abstellende Definition: siehe Rohwer 2002).
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gehen (in jüngerer Zeit etwa im Anschluss an Mayer und Müller 1989) von einer zentralen Strukturierungswirkung staatlicher Institutionen für individuelle Lebensverläufe aus. Insbesondere werden historische Trends und internationale Unterschiede im Bildungsverhalten auf institutionelle Veränderungen zurückgeführt. Dabei finden sich in der Diskussion vor allem Aussagen, die strukturelle Flexibilität tendenziell mit einer reduzierten Bildungsungleichheit gleichsetzen. Unklar bleibt bei einfachen Vergleichen (zwischen historischen Zeitperioden oder auch Bundesländern) zunächst, zu welchen Teilen die beobachteten Unterschiede der Grundstruktur der Bildungsinstitutionen unmittelbar zuzurechnen sind und inwieweit andere Unterschiede (sozioökonomische Entwicklung etc.) zum Tragen kommen. Institutionelle Einflüsse können also nur durch Zusatzannahmen gesichert werden. Dies gilt letztlich auch für international vergleichende Untersuchungen, die praktisch immer mit geringen Fallzahlen an Bildungssystemen arbeiten müssen. Gesellschaften unterscheiden sich nicht nur in der Struktur ihrer Bildungssysteme, sondern in einer Vielzahl anderer Merkmale, und die Relevanz einzelner Faktoren kann auf Basis weniger Länder zumindest nicht statistisch belegt werden. Während dieses Argument aber weiterhin auf den Einfluss (zusätzlicher) struktureller Determinanten verweist, ist ein anderes Problem wohl theoretisch noch entscheidender. Dieses besteht darin, die ‚Nachfrageseite’ (also die Individuen) außer Acht zu lassen bzw. einen deterministischen Zusammenhang zwischen Strukturen der Bildungsinstitutionen und individuellem Verhalten oder einen Zwangscharakter von Institutionen anzunehmen. Ließe man den individuellen Akteuren freie Hand bei ihren Entscheidungen, so häufig die implizite Annahme bei der Forderung nach ‚institutionellen Erleichterungen’, dann würden sie sich in ihrem Verhalten erheblich mehr ähneln als unter den Bedingungen institutioneller Vorgaben. Soziologisch gesehen ist diese unterstellte Gleichheit natürlich sehr fraglich, da sie von interindividuellen Unterscheiden in Ressourcen und Präferenzen abstrahiert.6 Einen Gegenpol zu den institutionellen Erklärungsansätzen bilden daher Erklärungen auf Basis individuellen Handelns. Solche entscheidungstheoretischen Modelle wurden vor allem zur Erklärung von Niveauunterschieden im Bildungsverhalten verschiedener sozialer Gruppen verwendet. In den letzten Jahren hat es gerade bei der Formalisierung der Modelle Fortschritte gegeben (vgl. Boudon 1974; Gambetta 1987; Erikson und Jonsson 1996b; Esser 1999: 266-275; Becker 2000, 2003). Breen und Goldthorpe (1997) haben hierzu ein Modell vorgestellt, das unterschiedliche Entscheidungen vor dem Hintergrund unterschiedlicher struktureller Ausgangsbedingungen verständlich macht. Bei der Erklärung herkunftsspezifischer Bildungsentscheidungen beziehen sie sich insbesondere auf soziale 6
Nur am Rande sei erwähnt, dass diese Akteure (etwa über politische Wahlentscheidungen) auch die Struktur von Bildungssystemen beeinflussen können, es also wechselseitige kausale Beziehungen zwischen institutionellen Strukturen und individuellem Verhalten gibt.
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Unterschiede in zwei entscheidungsrelevanten Dimensionen. Zum einen handelt es sich hier um Unterschiede im wahrgenommenen Nutzen (Erfolgserwartung für die verschiedenen Schullaufbahnen des Kindes) und den wahrgenommenen ‚Kosten’ (Risiko des sozialen Abstiegs, der in jedem Fall verhindert werden soll) bei der Wahl weiterführender Schulzweige. Zum anderen geht es um Unterschiede im mittleren Leistungsniveau der Kinder durch vorangegangene Förderung in der Familie bzw. Auslese durch das Bildungssystem (wenn Leistungsunterschiede empirisch zugänglich gemacht werden, sind allerdings nur noch geringe Annahmen über die Verteilung von Leistungsparametern nötig). Eltern aus der Arbeiterschicht wählen nach diesem Modell relativ seltener weiterführende Schulzweige für ihre Kinder, da diese zum einen für den Statuserhalt in der Familie nicht unbedingt notwendig sind und sie zum anderen die Erfolgsaussichten geringer einschätzen. Immer wieder hat es allerdings Kritik an den vermeintlich voluntaristischen Grundannahmen entscheidungstheoretischer Erklärungen gegeben (etwa bei Lieberson 1998), die die Frage nach den Gelegenheiten der Entscheidungen – und man könnte hinzufügen: den institutionellen Voraussetzungen – außer Acht lassen. Der Gegensatz von institutionen- und entscheidungsorientierten Erklärungsansätzen ist hier zwar etwas pointiert dargestellt worden. Dennoch gilt, dass Verbindungen zwischen beiden Perspektiven, die sowohl dem Vorwurf deterministischer Grundannahmen als auch jenem voluntaristischer Vorstellungen eindeutig entgehen, eher selten sind. Daher soll im Folgenden versucht werden, institutionen- und entscheidungsorientierte Erklärungen näher zusammenzubringen. Neben Unterschieden nach sozialer Herkunft, auf die sich die vorliegende Darstellung konzentriert, gibt es eine ganze Reihe anderer Ungleichheitsdimensionen. Theorien zum Zusammenhang zwischen der Struktur von Bildungsinstitutionen und sozialen Ungleichheiten im Bildungsverhalten sollten nach Möglichkeit in der Lage sein, verschiedene Ungleichheitsdimensionen innerhalb eines einheitlichen Rahmens zu erklären. 4.
Elemente einer entscheidungsorientierten Analyse
Institutionelle Effekte Welche Rolle spielt nun die Struktur der Bildungsinstitutionen beim Zustandekommen der Ungleichheitsverhältnisse im Lebensverlauf, der seinerseits wiederum von individuellen Entscheidungen abhängt? Dass ein einfacher Schluss von institutionellen Strukturen auf individuelles Verhalten nicht zwingend ist, liegt zunächst an grundlegenden Bewertungsunterschieden gegenüber Bildungsinstitutionen (vgl. auch Turner 1960). Zum einen wird argumentiert, dass Bildungsinstitutionen und insbesondere ihre Gliederung deshalb Ungleichheiten produzieren, weil sie Ausdruck der herrschenden Elite sind (Bourdieu und Passeron 1971).
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Auch wurden wiederholt Belege für sozial diskriminierendes Lehrerverhalten gefunden. Geht man von einem derartigen Charakter des Bildungssystems aus, dann würde ein reduzierter Einfluss der Schule auf Bildungsübergänge automatisch den Abbau von sozialen Ungleichheiten bedeuten. Andererseits wird nicht nur aus einer funktionalistischen Sicht darauf hingewiesen, dass gerade Bildungseinrichtungen (insbesondere die Schule) gesellschaftliche Orte der Kompensation herkunftsbezogener Ungleichheiten sind, da hier universelle (leistungsbezogene) Standards angelegt werden, während die Wahrnehmung von Schülern und Eltern stärker durch lebensweltliche soziale Abhängigkeiten geprägt ist.7 Solchen Bewertungsunterschieden vorgelagert ist dabei die Frage, inwieweit die unterschiedlichen Akteure jeweils überhaupt wirksam werden können. Wie gesehen, hängen Bildungsverläufe von Entscheidungen ab. Dies sind aber nicht nur Entscheidungen der Individuen (oder ihrer Familien). Häufig handelt es sich auch um die Entscheidungen anderer individueller und kollektiver Akteure (Organisationen). Die jeweilige (Aus-)Bildungsform bestimmt, wie stark Selbst- und Fremdauswahl jeweils zu gewichten sind. So hängt der Ausbildungsvertrag einer Lehrausbildung unmittelbar vom Entscheidungsverhalten des jeweiligen Ausbildungsbetriebes ab, während andere Bildungseinrichtungen die individuelle Entscheidung für eine Ausbildung nur wenig beschränken. Ob nun eigene lebenslaufrelevante Entscheidungen oder Entscheidungen anderer – in jedem Fall erfolgen sie nicht voraussetzungslos, sondern innerhalb mehr oder weniger großer Spielräume. Insofern hängen Lebensverläufe mittelbar stark von den Bedingungen ab, unter denen die Entscheidungen stattfinden. Somit lassen sich zwei Arten von Randbedingungen unterscheiden. Zum einen handelt es sich um institutionelle Rahmenbedingungen, also mehr oder weniger formale Regelungen, die sowohl individuelle Entscheidungsmöglichkeiten als auch ihre Grenzen definieren. Bildungsinstitutionen beeinflussen insbesondere: x
7
Im Sinne unmittelbarer Vorgaben: allgemein durch Strukturvorgaben (zur Auswahl stehende Bildungsgänge, Quoten verfügbarer Plätze) und spezieller durch ggf. die Festlegung formaler Zugangskriterien (insbesondere Zertifikate, sowie zum Teil auch Noten und andere Leistungsindikatoren) bzw. -beschränkungen (Altersgrenzen etc.) oder gezielter Anreize.
Empirisch ist es zumindest eine offene Frage, ob beispielsweise Schulempfehlungen die soziale Selektivität von Bildungsentscheidungen noch verstärken (Ditton 1992; Lehmann et al. 1997) oder eher ein Korrektiv dagegen darstellen (Baumert et al. 2003). Darüber hinaus zeigt sich, dass soziale Unterschiede in der Leistungsentwicklung nicht nur während des Schuljahres (also innerhalb der Bildungsinstitutionen) auftreten. So finden US-amerikanische Studien, dass die größten sozialen Unterschiede beim Wissen während der Ferien, und zwar durch (vorhandene oder nicht vorhandene) Zusatzförderung, entstehen (Heyns 1978).
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Im Sinne mittelbarer Einflüsse (nämlich als Interaktionen mit anderen Bedingungsfaktoren): insbesondere durch die Festlegung der entscheidenden Akteure. Davon hängt es wiederum ab, inwieweit sich Präferenz- und Ressourcenunterschiede zwischen den Akteuren letztlich in unterschiedlichem Bildungsverhalten ausdrücken (können).
Insbesondere Entscheidungen anderer (von denen individuelle Lebensverläufe abhängen) werden noch durch eine weitere Art von Bedingungen beeinflusst: Markt- bzw. Konkurrenzbedingungen bestimmen darüber, welche Alternativen etwa Arbeitgeber und Ausbildungsbetriebe bei Rekrutierungsentscheidungen haben, und damit letztlich, welche Chancen ein konkretes Individuum bei dieser ‚Fremdauswahl’ hat. Auszubildende und Arbeitnehmer können dies wiederum bei ihrer eigenen Lebensplanung berücksichtigen. Insofern unterliegen ihre Entscheidungen auch dieser Art von Rahmenbedingungen. Bildungsinstitutionen und Entscheidungen im Lebensverlauf hängen also eng zusammen. Ziel zukünftiger Forschungen sollte es sein, diesen Bezug auch empirisch besser zu untermauern. Dies kann insbesondere geschehen durch eine stärker auf Entscheidungsbedingungen abstellende Beschreibung von Institutionen, eine stärkere Berücksichtigung von Leistungskriterien und eine differenzierte Beschreibung von Entscheidungsprozessen vor dem Hintergrund der gegebenen Entscheidungssituationen. Im Folgenden soll dies näher erläutert werden. Bildungssystem und Übergänge im Bildungsverlauf In einer stärker entscheidungsbezogenen Klassifikation einzelner Teile des Bildungssystems treten zwei Merkmale in den Vordergrund. Zum einen sind dies die institutionell vorgegebenen Entscheidungsspielräume, also die Vorgaben der jeweiligen Entscheidungsalternativen und Zugangskriterien, zum anderen handelt es sich (insbesondere bei starker Abhängigkeit von Entscheidungen anderer) um die Verknüpfung der Bildungsübergänge mit den aktuellen Konkurrenzbedingungen. Dies bestimmt etwa, inwieweit hier konjunkturelle Schwankungen zu erwarten sind. Hinzu kommt die Dimension der Standardisierung. Diese ist zunächst für die Forschung interessant, denn sie bestimmt, inwieweit generalisierende Aussagen über die Situation in diesem Teil des Bildungssystems überhaupt möglich sind. Zum anderen kann diese Dimension aber auch für die Akteure selbst entscheidungsrelevant sein. Wichtig wird sie vor allem dann, wenn es um Zugangsbedingungen für nachfolgende Stufen im Bildungssystem oder auf dem Arbeitsmarkt geht. Wohlgemerkt handelt es sich bei dem hier vorgestellten theoretischen Rahmen generell (noch) nicht um eine Theorie, aus der unmittelbare Verhaltenshypothesen abgeleitet werden. Dies wäre nur bei Annahme eines direkten, deterministischen Zusammenhangs zwischen institutionellen Strukturen und individuellem Verhalten möglich, und diese Annahme erscheint unrealistisch. Der Rahmen dient zu-
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nächst lediglich dazu, zu bestimmen, wo (also insbesondere: bei welchen Akteuren und ihren Eigenschaften) Ursachen für Unterschiede im Bildungsverhalten zu suchen sind. Etwas vereinfacht ausgedrückt: Kennt man die Regeln und Teilnehmer eines Spiels, dann kennt man noch nicht den Sieger. Man weiß aber zumindest, wer dafür in Frage kommt – und vielleicht auch schon, welche Eigenschaften ausschlaggebend sein werden. Allerdings besteht auch gar nicht die Notwendigkeit, sich bei der Hypothesenbildung auf die Vorhersage einfacher Niveauunterschiede zu beschränken. Es ist hierbei eine erheblich größere Vielfalt denkbar. Beispielsweise könnte man bei einem geringen Grad institutioneller Strukturierung und einer stärkeren Marktabhängigkeit der Bildungsbeteiligung eine erhöhte Volatilität der Ungleichheitsverhältnisse (Schwankungen im Zeitverlauf) vermuten. Tabelle 1: Merkmale der wichtigsten Stufen des deutschen Bildungssystems
Formale individuelle Entscheidungsspielräume
Vorschulerziehung Elternwille, Übergang in die Grundschule geregelt
Schule
Schulpflicht, z.T. Wohnortprinzip; Elternwille, aber ggf. formale Aufnahmeverfahren
Berufsausbildung Freiheit der Berufswahl, keine formalen Zugangsvoraussetzung, aber Abhängigkeit vom Ausbildungsbetrieb
Studium
Groß, aber formale Zugangsvoraussetzung
Weiterbildung I.d.R. groß (bei Selbstfinanzierung)
Konkurrenzabhängigkeit
Teilweise Probleme der Versorgung
Direkte Konkurrenz i.d.R. gering
Für betriebliche Ausbildungen oft relativ hoch
Große Unterschiede nach Studiengängen
Zumeist gering
Standardisierung
Gering
Länderspezifische Regelungen
I.d.R. hoch (vgl. BBiG, Ausbildungsordnungen etc.)
Teilweise sehr gering, in den Professionen höher
Zumeist gering
Entlang der hier eingeführten Dimensionen – Entscheidungsspielräume, Konkurrenzbedingungen und Standardisierung – sind deutliche Unterschiede zwischen
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den einzelnen Elementen des deutschen Bildungssystems zu beobachten.8 Diese werden im Folgenden exemplarisch dargestellt (vgl. auch Tabelle 1):
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x
Vorschulerziehung: Einrichtungen der vorschulischen Erziehung werden häufig nicht als Teil des Bildungssystems, sondern eher unter dem Aspekt der Betreuung wahrgenommen. Nicht zuletzt aus diesem Grund gibt es wenige gemeinsame Standards. Das Ende der Vorschulerziehung wird durch die Einschulung markiert. Diese ist an individuelle Merkmale (Schulreife) gebunden. Bei der Schuleingangsentscheidung wird im Zusammenwirken zwischen Eltern, Kindergarten und Schule und ggf. unter Einsatz diagnostischer Verfahren geklärt, zu welchem Zeitpunkt der Schuleintritt erfolgen soll (vgl. Faust-Siehl 1995; Roßbach 2001).
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Allgemein bildendes Schulsystem: Eine wichtige institutionelle Vorgabe ist zunächst, dass vor allem in diesem Teil des deutschen Bildungssystems eine Pflicht zum Besuch der Bildungseinrichtungen gilt. Für den Grundschulbesuch gilt darüber hinaus, zumindest prinzipiell, eine enge lokale Bindung an den Wohnort (Sprengelprinzip). Im deutschen Bildungssystem gibt es eine relativ frühe Aufteilung auf die Zweige der Sekundarschulen. Sie erfolgt zumeist nach der vierten Klasse der Grundschule (also etwa im Alter 10), teilweise auch nach einer zweijährigen Orientierungsphase. Bei der Übertrittsentscheidung wirken Elternrecht und Einfluss der Schule grundsätzlich zusammen. Die Bundesländer unterscheiden sich aber beträchtlich im Hinblick auf die Modalitäten des Übergangs (Avenarius und Jeand'Heur 1992; von Below 2002) wie der Festlegung von Mindestnoten, dem Vorhandensein von Übergangsprüfungen, der Bindungswirkung der Empfehlungen der Grundschullehrer und somit dem Entscheidungsspielraum der Eltern.
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Wie oben gesehen, gibt es im späteren Verlauf eine gewisse Durchlässigkeit der Schulzweige nach der ersten Übergangsentscheidung. Mit Blick auf soziale Ungleichheiten sind diese ‚zweiten Chancen’ aber nicht automatisch als Kompensation zu verstehen (Hillmert und Jacob 2003b); vielmehr ist es wohl gerade die Kombination von früher Differenzierung in hierarchische Schulzweige und der Möglichkeit, auch durch spätere Aktivitäten Bildungserfolge zu erzielen, die zusätzliche, sozial selektiv wirkende individuelle und elterliche Entscheidungsspielräume eröffnet.
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Nicht nur für den Bereich des allgemein bildenden Schulsystems gilt, dass eine Entscheidung für einen Bildungszweig i.d.R. nicht abstrakt
Das deutsche Bildungssystem ist erheblich komplexer, als es hier dargestellt werden kann. Die aufgeführten Beispiele sollten aber ausreichen, um auch andere Bildungsgänge hinsichtlich der genannten Dimensionen genauer charakterisieren zu können.
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erfolgt, sondern eng verbunden ist mit der Entscheidung für eine ganz konkrete Bildungseinrichtung; empirisch wird dies aber bisher nur in kleineren Regionalstudien berücksichtigt (vgl. Mahr-George 1999). x
Berufsausbildung: Auch im Bereich der Berufsausbildung gilt zum Teil noch die (Berufs-)Schulpflicht. Quantitativ weitaus am bedeutendsten ist die Lehrausbildung im dualen System. Für diese Ausbildungen gelten zumeist keine formalen Zugangsvoraussetzungen, und die individuelle Berufswahlfreiheit ist sogar durch das Grundgesetz geschützt. Da die Grundlage der Ausbildung aber der Vertrag mit einem Ausbildungsbetrieb bildet, kommt den Arbeitgebern hier eine entscheidende Rolle bei der Auswahl der Bewerber zu. Da die Anzahl der Ausbildungsplätze i.d.R. begrenzt ist, erfolgt deren Besetzung unter Konkurrenzbedingungen (Hillmert 2004). Die individuellen Ausbildungschancen hängen damit sowohl vom aktuellen Angebot an Ausbildungsplätzen als auch von der Anzahl und den Qualitäten (und hierzu zählen wiederum insbesondere die Schulleistungen) der Mitbewerber ab.
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Daneben gibt es einen nennenswerten Anteil von Ausbildungen an Berufsfachschulen (einschließlich Schulen des Gesundheitswesens u.ä.), die teilweise höhere formale Zugangsvoraussetzungen (Schulausbildung) haben, aber zumeist elastischer gegenüber der aktuellen Nachfrage nach den Ausbildungen sind.
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Studium: Im Bereich der Ausbildung an Universitäten und Fachhochschulen gelten im Vergleich zur Berufsausbildung teilweise umgekehrte Verhältnisse. Einerseits gelten relativ strikte formale Zugangsvoraussetzungen (Hochschulreife oder Fachhochschulreife), andererseits ist der Grad der Auswahl durch die aufnehmenden Bildungseinrichtungen bislang gering. Der individuelle Entscheidungsspielraum ist also relativ groß. Allerdings existieren für eine ganze Reihe von Studiengängen bundesweite oder lokale Zugangsbeschränkungen aufgrund von Leistungskriterien (in relativ einfacher und formalisierter Form wie beim Numerus clausus).
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Weiterbildung: Der Bereich der beruflichen Weiterbildung ist hinsichtlich Angebote, Qualität und Anforderungen sehr heterogen. Die Initiative zu einer beruflichen Weiterbildung kann sowohl von Arbeitgebern als auch Arbeitnehmern ausgehen. In beiden Fällen steht zu erwarten, dass dem individuellen Verhalten eine große Bedeutung zukommt.
Bedient man sich eines solchen (institutionenbezogenen) Rahmens, so scheint der Ausbau von zwei Forschungsperspektiven besonders sinnvoll, für die die gegen-
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wärtig vorhandenen soziologischen Daten häufig noch nicht ausreichen: zum einen die stärkere Einbeziehung von individuellen Leistungsindikatoren und anderen als legitim angesehenen Auswahlkriterien, um das Ausmaß von ‚Ungerechtigkeit’ besser bestimmen und Entwicklungs- und Übergangseffekte unterscheiden zu können, und zum anderen die genaue empirische Rekonstruktion individueller Entscheidungen im Lebensverlauf. Kompetenzmessung und Leistungsgerechtigkeit Wie oben gesehen, haben Leistungsindikatoren eine große Bedeutung für Bildungsübergänge nicht nur, weil viele Auswahlentscheidungen darauf formal oder faktisch aufbauen, sondern auch, weil das Modell der ‚Leistungsgerechtigkeit’ den normativen Hintergrund bildet. In empirischen Studien sollten daher mögliche soziale Ungleichheiten bei Bildungsentscheidungen unter Berücksichtigung der legitimen Zuweisungskriterien analysiert werden. Relevant sind die Leistungsmerkmale nicht nur im Kontext der Bildungsentscheidungen, sondern auch im Hinblick auf mögliche soziale Unterschiede in der Leistungs- und Kompetenzentwicklung, die ihrerseits eine der Grundlagen für Bildungsentscheidungen darstellt. Darüber hinaus können sie dazu beitragen, bei der Messung von ‚Bildungsrenditen’ (also den Konsequenzen von Bildung) besser zwischen dem Anteil individueller, produktivitätsrelevanter Eigenschaften und der Bedeutung von formalen Zertifikaten unterscheiden zu können. Der Verweis auf Leistungskriterien ist nicht mit der Annahme eines genetischen Determinismus zu verwechseln. Im Übrigen legen es jüngere Forschungen nahe, konzeptionellen Fragen nach individueller Leistungsfähigkeit auch aus lerntheoretischer Perspektive größere Aufmerksamkeit und Sorgfalt als bisher zukommen zu lassen. So sind für den Lernfortschritt nicht allein kognitive Grundfertigkeiten relevant, sondern auch Motivation, Vorwissen bzw. vorhandene Vorstellungen von Sachverhalten etc. (Stern 2001). Aus soziologischer Perspektive bleibt jedoch eine Unschärfe. ‚Leistung’ ist immer nur ungefähr bestimmbar und geht in ihrer Komplexität über die Notengebung in einem Fachgebiet deutlich hinaus. Insbesondere gibt es hier zwei Probleme. Zum einen ist die ‚Leistung’, die für Bildungsübergänge jeweils relevant ist, als relativ umfassend und multidimensional zu verstehen. Insofern lassen etwa Unterschiede im Bildungsverhalten auch „bei gleicher kognitiver Grundfähigkeit“ noch nicht auf eine Abweichung vom Modell der Leistungsgerechtigkeit schließen. Denn eigentlich müssten jeweils genau jene Leistungsdimensionen gemessen werden, die in legitimer Weise Bildungsübergänge und Bildungserfolge bestimmen (sollen). Damit zusammen hängt zum anderen die fehlende Explikation bzw. Objektivität des Leistungsbegriffs. Was jeweils als ‚Leistung’ zählt (Begabung,
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Anstrengung usw.) ist definitionsabhängig und variabel.9 Allerdings dürften fachspezifische Leistungsindikatoren (Noten, Testwerte) gerade bei zentralen Kompetenzen wie dem Sprachvermögen in vielen Fällen eine gute Annäherung an die interessierende ‚Leistung’ darstellen. Im Gegensatz zu vielen konventionellen Untersuchungen zum Thema Bildungsungleichheit folgt aus der Bedeutung von Leistungsmerkmalen nahezu zwangsläufig die Verwendung eines Längsschnittdesigns. Leistungsindikatoren und leistungsbezogene Konsequenzen können praktisch nur in einem Längsschnittdesign valide gemessen werden. Querschnittsdaten lassen im Prinzip nur auf den jeweiligen Zeitpunkt bezogene Zusammenhangsanalysen zu. Die PISA 2000-Studie, die die Merkmale der Schüler ebenfalls nur zu einem einzigen Zeitpunkt erhebt, behilft sich dadurch, dass bestimmte kognitive Dispositionen als stabil und daher auch retrospektiv gültig angenommen werden. Bereits vor dem Hintergrund einer schul(art)spezifischen Sozialisation erscheint diese Annahme aber problematisch, und das vorhandene empirische Material kann daher nur unzureichende Hinweise auf die tatsächliche Kompetenzentwicklung geben. Erklärungen sozial selektiver Bildungsentscheidungen Erstaunlicherweise weiß man bis heute relativ wenig darüber, wie Bildungsentscheidungen letztlich getroffen werden. Im Hinblick auf aussagekräftige Erklärungen bzw. in theoretischer Hinsicht kann deutlich über den gegenwärtigen Forschungsstand hinausgegangen werden, wenn man einen breiteren Zugang als in den meisten konventionellen, quantitativ orientierten Ansätzen wählt. Allerdings dürfte ein unstrukturierter empirischer Zugang wenig Erfolg versprechend sein. Vielmehr muss er theoriegeleitet erfolgen. Es bietet sich an, auf entscheidungstheoretische Modelle individuellen Handelns zurückzugreifen, deren Variablen jeweils genauer operationalisiert werden können. Ein erstes Ziel kann sein, vorhandene entscheidungstheoretische Modelle im Hinblick auf die hier interessierenden Bildungsübergänge zu modifizieren, die Modelle formal zu präzisieren und damit ihre Vorhersagen zu spezifizieren. In einem zweiten Schritt können dann alternative Modelle betrachtet werden. Im Sinne einer Primärforschung geht es aber auch darum, zentrale Modellvariablen empirisch zu messen. Genau gesagt handelt es sich hier nicht um eine Prüfung der aus den einfachen Modellen ableitbaren Hypothesen (über den Vorhersageerfolg), sondern um eine direkte Prüfung der Modellannahmen. Die empirische Messung von Modellgrößen erlaubt von Beginn an die Überprüfung verschiedener Erklärungsmodelle, u.a. im Hinblick auf die sozial selektive Verteilung der Modellparameter. Bei der Analyse von Entscheidungen geht es nicht um die Rekonstruktion individueller Fallgeschichten, sondern um die Suche 9
Das gilt im Übrigen auch aus professionspolitischen Gründen. Ganze Berufsstände definieren sich wohl (auch) darüber, dass sie entsprechende Leistungen feststellen (können oder dürfen).
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nach systematischen Unterschieden zwischen sozialen Gruppen und ihrer Erklärung.10 Drei zentrale Entscheidungsheuristiken – die für Selbst- und Fremdentscheidung relevant sein können – seien hier genannt. Die Darstellung konzentriert sich auf Unterschiede nach sozialer Herkunft, die Modelle sind aber grundsätzlich auch zur Analyse anderer Differenzierungen geeignet. (1) Rationale Wahl: Statuserhalt und Bildungsinvestitionen Einen geeigneten Ausgangspunkt bilden – nicht zuletzt aufgrund ihrer formalen Klarheit – Modelle der rationalen Entscheidungsfindung, wie sie oben dargestellt wurden. Allerdings können sie an verschiedenen Stellen modifiziert werden. So ist auch hier zu berücksichtigen, dass der tatsächliche Entscheidungsspielraum eine variable und u.a. institutionell bedingte Größe ist, und die Bildungsentscheidungen der Eltern hängen von den individuell und strukturell jeweils verfügbaren Optionen ab. Es ist also nicht nur eine Frage der individuellen Kompetenzen, ob das Kind zum Beispiel fristgerecht eingeschult wird oder am Ende der Grundschulzeit für eine weiterführende Schule in Frage kommt. Vielmehr sind die jeweils geltenden formalen Regelungen zu berücksichtigen. Empirisch haben sich Zusammenhänge zwischen dem Bildungsverhalten und einer ganzen Reihe von ‚Kapital’-Formen neben den berufsbezogenen Variablen (vgl. auch Hillmert 2002) gezeigt. Hierzu zählen weitere ökonomische Parameter (z.B. die Beschäftigungssicherheit der Eltern), soziales Kapital (persönliche Netzwerke, vgl. Coleman 1988), kulturelle Ressourcen (etwa das Freizeit- und Konsumverhalten der Eltern; vgl. Bourdieu 1983; De Graaf 1988; Aschaffenburg und Maas 1997) oder auch das individuelle Zeitbudget. Schließlich können Kosten und Nutzen formaler Bildung etwa im Sinne der Humankapitaltheorie (Becker 1964) präzisiert werden. Dabei dürfte der jeweilige Zeithorizont der individuellen Bildungsplanung (vgl. Hillmert und Jacob 2003a) eine wichtige Größe darstellen. Entscheidend ist auch, zu spezifizieren, welche Bildungsalternativen im konkreten Fall zur Verfügung stehen. In einem weiteren Schritt lassen sich einige der grundlegenden Annahmen des Modells rationaler Bildungsentscheidungen lockern. Dies bedeutet zunächst keine generelle Abkehr von der Rationalitätsannahme, aber über die genannten Parameter hinaus werden zusätzliche Bedingungen nicht mehr als gleich verteilt zwischen sozialen Gruppen, sondern als gruppenspezifisch angenommen. Zunächst wird generell das Leistungsniveau in der (elterlichen) Entscheidungssituation durch die Leistungsperzeption (Kenntnis der Schulnoten und anderer Leistungsmerkmale; Kommunikation zwischen Eltern und Kindern) bzw. Leistungsinterpretation (Selbst- bzw. Fremdattribution von Erfolgen und Misserfolgen) vermittelt. Es gibt 10
Insofern dient die Messung der eher psychologischen Merkmale nicht unbedingt der zusätzlichen Varianzerklärung, sondern der Validierung eines Erklärungszusammenhangs.
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eine Reihe von Hinweisen darauf, dass es hier soziale Unterschiede gibt (Meulemann 1985): Auch bei gleicher ‚objektiver’ Leistung gehen also Leistungsmerkmale in unterschiedlicher Art und Weise in die subjektive Entscheidung ein. Ein wesentliches Element der Entscheidung ist ferner die Kenntnis der verfügbaren Optionen und ihrer Konsequenzen. Gerade für Eltern aus unteren sozialen Schichten könnte es schwer sein, höhere Ausbildungsgänge bzw. deren Erfolgsaussichten einzuschätzen, weil sie über diese Alternativen aus eigener lebensweltlicher Erfahrung wenig wissen. Schließlich stellt sich allgemein die Frage nach einem sozial selektiven Informationsverhalten. Es ist weitgehend unklar, wie sich für verschiedene soziale Gruppen die Kosten der (zusätzlichen) Informationsbeschaffung bei Bildungsentscheidungen darstellen. Man kann allerdings davon ausgehen, dass sich die Eltern – häufig unbewusst – bestimmte Schwellenwerte setzen, bei deren Erreichen sie die Suche nach weiteren Informationen einstellen (zur Idee des Satisficing vgl. Simon 1954). (2) Soziokulturelle Nähe Inwieweit ist die Annahme der Rationalität im Sinne einer ‚Bildungsinvestition’ generell gerechtfertigt? Oft werden alternative Handlungsweisen in Abgrenzung zu diesem Standard unspezifisch als nichtrational gesehen, ohne dass genauer untersucht wird, wie diese Entscheidungen tatsächlich zustande kommen. Daher ist genauer nach weiteren möglichen Rationalitäten bei Bildungsentscheidungen im Sinne erfahrungsweltlich vermittelter Bedeutungs- und Relevanzstrukturen der Lebenswelt zu fragen. Es geht dabei um schichtspezifische Erfahrungen und Sinnstrukturen, die für die Bildungsentscheidungen in den Familien zentral sein können (Grundmann et al. 2003). Entscheidend für die ungleichheitsrelevanten Rationalitäten ist die ‚Passung’ der erfahrungsweltlichen Relevanzstrukturen mit den schulischen Anforderungen. Dies kann den unterschiedlichen sozialen Klassen mehr oder weniger gut gelingen. Unter Verzicht auf ihre gesellschaftspolitischen Implikationen kann auch die Theorie Bourdieus durchaus im Sinne eines vereinfachenden Entscheidungsmodells reformuliert werden. Eine Grundidee in der Theorie Bourdieus (1982) besteht darin, von der Vorstellung einer universalisierbaren Definition von Leistung wie auch eines allgemeinen Handlungsmusters der Bildungsinvestition abzugehen. Vielmehr sind Bildungsentscheidungen milieuspezifisch zu verstehen. In sozialen Großgruppen gibt es unterschiedliche Vorstellungen darüber, „was man können muss“, „was sich gehört“ usw., die sozialisatorisch erworben und durchaus auch (informell) sanktioniert werden können. In diesem Sinne verweisen vermeintlich irrationale Entscheidungen nicht unbedingt auf ‚Defizite’, sondern sie können im jeweiligen sozialen Kontext funktional sein. Im Bildungssystem hingegen werden üblicherweise nur ganz bestimmte Handlungsstile und Wissensbestände, nämlich jene, mit denen die Mittelschicht vertraut ist, akzeptiert (was bei Bourdieu nicht auf ‚objektive’ Gründe, sondern auf die gesellschaftliche Machtverteilung zurück-
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geführt wird). Allerdings gibt es hier mit Sicherheit Abstufungen, die eine mehr oder weniger große Nähe zwischen Herkunfts- und Schulmilieu anzeigen, und in diesem Sinne werden subjektiv wahrgenommene Kosten und Nutzen der Bildungsentscheidung modifiziert. Gerade im Hinblick auf den ‚heimlichen Lehrplan’ stellt sich auch die Frage nach möglicher unmittelbarer Diskriminierung durch Dritte, und insofern spielt die Ebene der sozialen Interaktion hier eine große Rolle. Bereits Aussagen wie „weil sich das Kind dort nicht so wohl fühlt [...]“ können auf spezifische soziale Umgebungen verweisen. Eine weitere Frage ist, inwieweit etwa Schulempfehlungen durch Lehrer ‚objektiv’ sind und sich in ihnen bereits spezifische Erwartungen widerspiegeln, die eher auf der sozialen Herkunft als der Persönlichkeit des Kindes beruhen (Wiese 1982; Ditton 1992). Dabei weist aber etwa Becker (2000) auch darauf hin, dass die jeweils gleichen Lehrerurteile von der Herkunftsfamilie sozial spezifisch wahrgenommen werden. (3) Gelegenheitsorientiertes und Nachahmungsverhalten Im Fall der kulturellen Gesichtspunkte geht es noch immer um eine, wenn auch nicht ‚ökonomisch rationale’, Entscheidung, die den jeweiligen Umständen möglichst individuell gerecht werden möchte. Abschließend soll noch ein Schritt weitergegangen werden und auch diese Annahme aufgegeben werden. Vor dem Hintergrund der vielfältigen Unsicherheiten bei Bildungsentscheidungen macht es die Unbestimmtheit der konkreten Handlungssituation nämlich möglicherweise strukturell unmöglich, i.e.S. ‚rational’ zu handeln (vgl. Heiner 1983). Die Individuen sind gezwungen, auf Handlungsmechanismen zurückgreifen, die die Unbestimmtheit möglicher Alternativen reduzieren und selektive Aufmerksamkeiten produzieren können. Bei diesen Mechanismen kann es sich um kulturelle Traditionen oder Normen handeln, die als bewährte Verhaltensregeln in komplexen Entscheidungssituationen eingesetzt werden. Im Anschluss an Lindenberg (1983) und Esser (1991) lassen sich solche ‚Habits’ und ‚Frames’ unter anderem als klassen- und schichtspezifische Handlungs- und Interpretationskontexte deuten. Es ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass ein solches Entscheidungsverhalten nicht per se als ‚irrational’ im Sinne von unsinnig oder nicht nachvollziehbar zu verstehen ist (vgl. Gigerenzer et al. 1999), sondern als ein relativ effizientes Mittel der Problemlösung (‚bounded rationality’), gerade im sozialen Kontext („ökologisch“) bzw. für die langfristige Gruppenentwicklung. Allerdings stützt sich die Forschung zu nichtrationalem Verhalten bisher i.d.R. auf vereinfachte Experimente, die eher wenig über die Bedeutung dieser Verhaltensweisen in realen Situationen aussagen. Soziologisch gesehen ist auch weniger die Tatsache relevant, dass es solche Phänomene vereinfachter Entscheidungsheuristiken gibt, sondern die Frage, welche dieser Regeln jeweils von welchen Personen bzw. in welchen Situationen verwendet werden.
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Eine Richtschnur in unsicheren Entscheidungssituationen kann auf der Mikroebene bereits die Erfahrung des Individuums selbst bzw. die Erfahrung der eigenen Familie sein. Dies betrifft etwa eine Orientierung am eigenen Verhalten in der Vergangenheit oder auch an den Bildungsentscheidungen der Geschwister. In diesem Zusammenhang dürften Selbstwirksamkeitserfahrungen der Eltern (d h. die Erfahrungen, eigene Ziele und Interessen selbstständig zu erreichen) und Konflikt- und Ambiguitätserfahrungen eine besondere Rolle spielen. Auf der Mesoebene des persönlichen Umfeldes zählt zu diesem Verhaltenstyp einerseits die direkte Orientierung an den Entscheidungen relevanter Bezugspersonen, andererseits aber auch ein Verhalten, das sich mit Eigeninitiative eher zurückhält und jeweils die aktuellen Gelegenheiten nutzt. Wichtige Indikatoren sind hier die bildungsrelevanten Kompetenzen in den jeweiligen Bezugsgruppen der Eltern und in den Freundschaftsgruppen der Kinder sowie die konkrete Gelegenheitsstruktur (Bildungseinrichtungen) vor Ort. Auch auf der Makroebene gibt es eine Orientierung an relevanten Bezugsgruppen. Diesmal geht es aber nicht um konkrete persönliche Beziehungen, sondern um generalisierte Bezugsgruppen im Sinne von Makromilieus. Um sich nicht der Gefahr der Tautologie auszusetzen, ist nachzuweisen, dass sich die Mitglieder dieser Gruppen tatsächlich als ähnlich wahrnehmen und sie das Verhalten anderer explizit für ihre Entscheidung berücksichtigen. Entscheidungsmodelle wie sie durch die drei hier genannten Typen – rationale Bildungsinvestitionen, soziokulturell nahe gelegte Bildungsentscheidungen und stark abgekürzte Entscheidungsprozesse – repräsentiert werden, können bei entsprechender Spezifikation empirisch überprüft und verglichen werden, wobei eine Auswahl der zu messenden Variablen zu treffen ist. Da Merkmale wie Bildungsherkunft und materielle Situation stark korrelieren, unterscheiden sich einfache Hypothesen über sozialstrukturelle Unterschiede aber nur wenig. Es ist auch nicht unbedingt von einem generell besten Modell auszugehen, sondern auch die Möglichkeit einer klassen- bzw. milieuspezifischen Dominanz bestimmter Handlungsrationalitäten zu berücksichtigen. Zur Unterscheidung der Modelle bieten sich daher nicht unbedingt einfache Mittelwertvergleiche, sondern etwa Vergleiche von systematisch ausgewählten (Extrem-)Gruppen u.ä. an. Außerdem kann stärker auf qualitative Untersuchungsverfahren zurückgegriffen werden. 5.
Fazit
Abschließend sei noch einmal auf drei konzeptionelle Probleme bzw. Implikationen der entscheidungsbezogenen Analyse hingewiesen: (1) Auch mit Blick auf die eingangs geschilderten Trends ist zu berücksichtigen, dass sich die Forschung zu Bildungsungleichheiten insofern immer auf ‚unsicherem Boden’ bewegt, als sie die Relevanz von Bildungsabschlüssen i.d.R. (implizit) als konstant annimmt. Dies ist nicht notwendigerweise der Fall, und die Kategorien der Forschung bedürfen daher selbst einer ständigen Überprüfung. Im Extremfall ließe sich Bildungsungleichheit sogar (nominell) abschaffen, etwa
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durch einen einheitlichen Schulabschluss. Die Mechanismen der Ungleichheitsreproduktion dürften sich dann aber lediglich auf andere Merkmale verlagern. In diesem Sinne sollte Bildungsungleichheit immer im Zusammenhang mit anderen Dimensionen der sozialen Ungleichheit, insbesondere dem (Gesamt-)Prozess der intergenerationalen Statusreproduktion, gesehen werden. (2) Das Konzept der individuellen Leistung und Leistungsfähigkeit ist unscharf. Aus analytischen wie aus normativen Gründen (Modell der Leistungsgerechtigkeit) bleibt es unverzichtbar. Allerdings muss immer wieder gefragt werden, ob es sich im konkreten Fall um eine legitime Auswahl nach Leistungsmerkmalen handelt oder ob der Verweis auf diese zur Rechtfertigung anderer Ungleichheiten dient. (3) Um das Phänomen der Bildungsungleichheit hinreichend erklären zu können, ist sowohl der Blick auf individuelle Entscheidungen als auch auf ihre Bedingungen (Entscheidungssituationen, Relevanz der Entscheidungen) notwendig. Institutionelle Einflüsse können dabei zum großen Teil nicht direkt, sondern als Interaktionen auf das Bildungsverhalten wirken. Dies hat Konsequenzen für bildungspolitische Interventionsmöglichkeiten. So dürften etwa strukturelle Reformen, die eine größere Flexibilität, ‚mehr Eigenverantwortung’ u.ä. umzusetzen versuchen, nicht automatisch zu mehr Gleichheit führen. Vielmehr verschieben sie nur Entscheidungsspielräume bzw. das relative Gewicht unterschiedlicher Akteure. Von den Eigenschaften, Präferenzen, Ressourcen, und letztlich, den Entscheidungen der Akteure hängt es dann ab, welche Konsequenzen sich für soziale Ungleichheiten im Bildungssystem ergeben.
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Soziale Ungleichheit und Kinderbetreuung. Eine Analyse der sozialen und ökonomischen Determinanten der Nutzung von Kindertageseinrichtungen Michaela Kreyenfeld
1.
Einleitung
Ähnlich wie in anderen europäischen Ländern wird die institutionelle Kinderbetreuung in Deutschland in erster Linie über ein öffentliches Angebot bereitgestellt. Private Kindertageseinrichtungen, wie es sie in markt-liberalen Ländern gibt, stellen weiterhin eine Ausnahmeerscheinung dar. Ein Spezifikum der deutschen Situation ist darüber hinaus die besondere Bedeutung freier Träger (wie Kirchen und Wohlfahrtsverbände) für die Organisation und Bereitstellung von Plätzen in Kindertageseinrichtungen. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Hypothese, dass mit der Organisation der institutionellen Kinderbetreuung spezifische Formen sozialer Ausschlussprozesse verbunden sind. In markt-liberalen Ländern entscheidet letztendlich die Kaufkraft über die Nutzung von Kinderbetreuungsleistungen. Da Frauen mit schlechten Erwerbschancen sich externe Kinderbetreuung kaum leisten können, werden sie als erste vom Erwerbsprozess ausgeschlossen und sind damit zwangsläufig vom Einkommen des Partners oder von Transferzahlungen abhängig (Hofferth und Philipps 1991: 5; Esping-Andersen 2000: 67f.; Stier et al. 2001: 1735; Meyers 2002). Kann weder auf das Einkommen des Partners noch auf Transferzahlungen zurückgegriffen werden – gibt es also einen erheblichen Druck, erwerbstätig zu sein so ist die Betreuungsqualität der entscheidende Parameter. D h. die Einkommensposition des Haushalts determiniert die Betreuungsqualität, welchen Kindern zu Gute kommt. Frauen mit niedrigem Erwerbseinkommen werden kaum in der Lage sein, teure und damit qualitativ hochwertige Betreuungsarrangements für ihre Kinder in Anspruch zu nehmen (Johansen et al. 1996; Blau und Hagy 1998; Hagy 1998; Blau 2001; Levy und Michel 2002; Riley und Glass 2002: 4; Klement et al. 2006). Die Folge ist eine soziale Segregation von Kindern in Kindertageseinrichtungen. Kinder aus einkommensstarken Haushalten konzentrieren sich auf Kindertageseinrichtungen mit hoher Betreuungsqualität – Kinder aus einkommensschwachen Haushalten konzentrieren sich entweder auf institutionelle Betreuungsformen mit entsprechend niedriger Qualität, auf informelle Betreuungsarrangements oder aber sie bleiben gänzlich ohne Betreuung. In Ländern, in denen – wie in Deutschland – das Angebot an institutioneller Kinderbetreuung in erster Linie durch staatliche Institutionen bereit gestellt wird,
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sollten derartige Segregationsprozesse geringer ausfallen. Zum einen wird die Betreuungsqualität in Kindertageseinrichtungen durch ein umfassendes Regelwerk staatlich reguliert (Reidenbach 1996). Zum anderen sind die privaten Kosten der Nutzung von Kindertageseinrichtungen relativ gering. So entscheidet in Deutschland weniger die Kaufkraft der Eltern über die Nutzung einer Kindertageseinrichtung, sondern die Frage, ob Eltern das öffentlich bereit gestellte Angebot in Anspruch nehmen möchten und, ob sie einen Platz in einer Kindertageseinrichtung erhalten können. Insbesondere im Krippen- und Hortbereich, in dem das Angebot an Betreuungsplätzen in Westdeutschland stark rationiert ist, werden Betreuungsplätze über Wartelisten nach sozialen Dringlichkeitskriterien vergeben. Dies bedeutet, dass man für den Krippen- und Hortbereich eine sozial differenzierte Nutzung von Kindertageseinrichtungen vermuten kann. Im Gegensatz dazu hat sich der Kindergarten quasi als erste Stufe des Bildungssystems etabliert (ColbergSchrader 1994). Da es für Kinder im Alter von 3 Jahren bis zum Schuleintritt seit dem Jahr 1996 einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz gibt, ließe sich hier vermuten, dass Kinder aller sozialen Schichten diese Einrichtung in Anspruch nehmen. Ziel dieses Beitrags ist es, mit den Daten des Scientific-Use-Files des Mikrozensus 2004, die sozialstrukturellen Unterschiede in der Nutzung von Kindertageseinrichtungen in Deutschland zu analysieren. Im folgenden Teil diskutieren wir die Bedeutung des Kinderbetreuungssystems für die Frauenerwerbstätigkeit und die Geburtenentwicklung im Kontext moderner Wohlfahrtsstaaten (Abschnitt 2). Im dritten Abschnitt stellen wir die Organisation und Finanzierung von Kindertageseinrichtungen in Deutschland dar. Der vierte Abschnitt enthält die empirischen Analysen. In einer abschließenden Betrachtung fassen wir unsere wesentlichen Ergebnisse zusammen (fünfter Abschnitt). 2.
Theoretische Vorüberlegungen
Wohlfahrtsstaat und Kinderbetreuung In Esping-Andersens (2000) Unterscheidung der Wohlfahrtsstaaten nach ihrem Grad der Defamilisierung (defamilialization) kommt dem Kinderbetreuungssystem eine tragende Rolle zu. Sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten (Norwegen, Dänemark, Schweden) gewähren den Bürgern eine Vielzahl sozialer Rechte und Schutz vor marktbedingten Risiken. Der Defamilisierungsgrad in diesen Ländern ist hoch; d h. der Staat unterstützt explizit die Herauslösung der Betreuungsaufgaben aus der Familie. Das Kinderbetreuungssystem ist öffentlich bzw. öffentlich gefördert. Die Kosten der Nutzung der Einrichtungen sind vergleichsweise gering und die Betreuungsqualität ist staatlich reguliert. Auch wenn die Nutzung des Betreuungssystems nicht universal ist, nimmt die Mehrzahl der Eltern Kindertageseinrichtungen in Anspruch (Mahon 2003: 358ff; Bergqvist und Nyberg 2002:
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289; Andersson et al. 2004). Das System gewährleistet eine hohe Betreuungsqualität, unterstützt explizit die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit und entbindet insbesondere Frauen von familialen Betreuungsaufgaben. Sozialdemokratische Regime gewähren damit die Voraussetzungen zu einem hohen Maß an Geschlechtergleichheit auf dem Arbeitsmarkt. Das ‚dual earner model’, die Erwerbstätigkeit beider Partner, ist das vorherrschende Familienmodell (Sundström und Stafford 1992; Ellingsæter und Rønsen 1996; Duvander et al. 2005). In markt-liberalen Staaten (Australien, Großbritannien, USA) ist die sozialpolitische Intervention gering und richtet sich in erster Linie nach dem Bedürftigkeitsprinzip; d.h. sie beschränkt sich auf sozial benachteiligte und einkommensschwache Gruppen. Soziale Dienste, wie die Kinderbetreuung werden durch einen mehr oder weniger regulierten Markt für Betreuungsleistungen angeboten. Staatliche Intervention in diesem Bereich beschränkt sich zum einen auf Transferzahlungen und Steuererleichterungen für Kinderbetreuungskosten, bspw. in Form des ‚child care tax credit’ in den USA oder des ‚working family tax credit’ in Großbritannien (Averett et al. 1997; Randall 2002; Wincott 2006). Ziel dieser Transferzahlungen ist es in erster Linie die Kinderbetreuungskosten zu reduzieren, um damit die Anreize zur Erwerbstätigkeit zu erhöhen. Zum anderen werden vereinzelt Vorschulprojekte für Kinder aus einkommensschwachen Haushalten initiiert, wie beispielsweise das ‚Head Start Project’ (Donovan und Watts 1990; Currie und Duncan 1995). Bei diesen Maßnahmen stehen explizit die Erziehung und Bildung von Kindern aus einkommensschwachen Haushalten im Vordergrund. Abgesehen von derartig punktuellen Maßnahmen für sozial benachteiligte Gruppen, sind Betreuungsleistungen jedoch in erster Linie marktvermittelt, der Zugang zu ihnen ist von der Einkommensposition der Haushalte abhängig. Charakteristisch für konservativ-korporatistische Wohlfahrtsstaaten ist die Versicherungsorientierung. Soziale Leistungen sind in der Regel an die vorherige Erwerbstätigkeit gebunden. Der Defamilisierungsgrad in diesen Ländern ist gering. Betreuungsaufgaben werden als familiale Aufgaben verstanden und durch entsprechende Transferzahlungen unterstützt. Das dominierende Familienmodell ist das ‚männliche Ernährermodell‘. In diesem Kontext wird Deutschland nicht nur zu den konservativen Wohlfahrtsstaaten gezählt, sondern von einer Vielzahl von Autoren als ‚Prototyp‘ des konservativ-korporatistisch und familialistischen Regimes bezeichnet (Esping-Andersen 2000: 65; Mahon 2001: 9; Treas und Widmer 2000: 1431). Im Unterschied zu markt-liberalen Ländern kommt in konservativkorporatistischen Wohlfahrtsstaaten dem Bereich der öffentlichen (bzw. der öffentlich geförderten) Kinderbetreuung durchaus eine bedeutende Rolle zu. Allerdings wird hier die öffentliche Kinderbetreuung weniger als ein Instrument zur Förderung der Vereinbarkeit von ‚Kind und Beruf‘ verstanden, sondern sie übernimmt vielmehr sozialisationsergänzende Funktionen in Form des halbtags geöffneten Kindergartens. Ein Ganztagsbetreuungsangebot oder eine Betreuung für
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Kinder im Krippen- oder Schulalter sind nur in sehr rudimentärer Form verfügbar (Veil 2003; Hagemann 2006). Es erscheint paradox, dass in konservativ-korporatistischen Ländern, wie in Deutschland, in denen der Staat nur ein beschränktes Angebot an Plätzen in Krippen und Horten bereitstellt, der unbefriedigte Bedarf nicht über den Markt, also über private Betreuungsangebote befriedigt wird. Stier, Lewin-Epstein und Braun (2001: 1735) argumentieren in diesem Zusammenhang, dass die staatliche Regulierung praktisch die Marktkräfte außer Kraft setzt. Im konkreten deutschen Fall mag dies heißen, dass auf Grund der hohen Qualitätsstandards für Tageseinrichtungen, es für private Anbieter nicht profitabel ist, private Kinderbetreuungseinrichtungen zu betreiben. Allerdings stellt sich hier die Frage, warum Eltern dann nicht vermehrt auf den bislang wenig regulierten Markt der Tagespflege zurückgreifen. Esping-Andersen (2000: 55f.) argumentiert hier, dass dies in konservativkorporatistischen Ländern kaum möglich ist, da auch der Markt für soziale Dienstleistung hoch reguliert ist und aus diesem Grund private Betreuungsleistungen für die weite Mehrzahl nicht finanzierbar sind. Letztendlich ist das Kinderbetreuungssystem in die anderen Institutionen des Wohlfahrtsstaats eingebettet, die in Deutschland weiterhin das traditionelle ‚male breadwinner model’ fördern. Neben dem Steuer- und Transfersystem, dass die familiale Betreuung von Kindern unterstützt, herrschen in den alten Bundesländern weiterhin traditionelle Vorstellungen zur Müttererwerbstätigkeit und zur institutionellen Betreuung von Kindern vor, die ebenfalls die geringe Nachfrage nach externen Betreuungsleistungen erklären mögen (Braun et al. 1994; Treas und Widmer 2000). Kinderbetreuung, Geburtenentwicklung und Frauenerwerbstätigkeit Das Kinderbetreuungssystem eines Landes gilt allgemein als wesentlicher Faktor für die Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit, für die Geschlechtergleichheit auf dem Arbeitsmarkt sowie indirekt für die Entwicklung der Geburtenentwicklung (Rindfuss und Brewster 1996; Gornick et al. 1997; Meyers et. al. 1999; Brewster und Rindfuss 2000; McDonald 2000; Castles 2003). Für markt-liberale Länder zeigt eine Vielzahl empirischer Studien wie niedrige Kinderbetreuungskosten das Erwerbsverhalten von Frauen positiv beeinflussen (Stolzenberg und Waite 1984; Blau und Robins 1989; Conelly 1992; Anderson und Levine 2000; Hofferth und Collins 2000; Baum 2002). Studien für Westdeutschland haben bisher jedoch weniger klare Zusammenhänge aufdecken können (Merkle 1994; Kreyenfeld und Hank 2000). Zum einen mag dies daran liegen, dass in einem System der öffentlichen bzw. öffentlich geförderten Kinderbetreuung die Kosten der Betreuung weniger relevant sind als der Zugang zu öffentlichen Leistungen. Zum anderen mag ebenfalls eine Rolle spielen, dass das westdeutsche Kinderbetreuungssystem in seiner gesamten Struktur nicht auf die Förderung der Erwerbstätigkeit von Frauen ausgelegt ist. Dies bedeutet, dass selbst in Regionen, in denen die Versorgung mit Betreuungsplätzen relativ hoch ist, das Angebot nicht den Flexibilitätsansprüchen
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entspricht, die notwendig sind, um eine Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Einen Hinweis mag hier die Studie von Büchel und Spieß (2002b) geben, die einen signifikant positiven Zusammenhang zwischen dem Anteil an Ganztagsbetreuungsplätzen und der Müttererwerbstätigkeit zeigt (vgl. auch Spieß und Büchel 2002a). Empirische Unterstützung für einen Zusammenhang zwischen Kinderbetreuung und Geburtenentwicklung findet sich am ehesten im internationalen Vergleich. So sind es zum einen die Länder mit einem umfassenden öffentlichen Betreuungssystem (wie Frankreich und Schweden), die hohe Geburtenziffern aufweisen. Auf der anderen Seite sind es markt-liberale Länder (wie USA und Großbritannien), in denen der Staat kaum öffentliche Betreuungsangebote bereitstellt, in denen die Geburtenraten vergleichsweise hoch sind. In konservativen Wohlfahrtsstaaten (wie in Deutschland), in denen für Kinder im Krippenalter kaum Betreuungsmöglichkeiten vorhanden sind, aber familiale Betreuungsarbeit aktiv unterstützt wird, ist die Geburtenrate eher niedrig. Auf der Mikroebene hat sich bisher kein klares Muster zwischen der Kinderbetreuungssituation und den Geburtenverhalten nachweisen lassen. Zwar zeigen einige Studien Zusammenhänge zwischen hoher regionaler Versorgung mit Betreuungsplätzen und Geburtenentwicklung (Del Boca 2002), andere Studien zeigen dagegen kaum oder nur schwache Zusammenhänge (Kravdal 1996; Hank und Kreyenfeld 2003). Sozialstruktur und Nutzung von Kindertageseinrichtungen Die Kinderbetreuungsinfrastruktur ist jedoch nicht nur ein bedeutender Parameter für die Geburtenentwicklung, die Frauenerwerbstätigkeit und die Geschlechtergleichheit auf dem Arbeitsmarkt. Da es sich hier um eine öffentlich finanzierte Infrastruktur handelt, ist es ebenfalls aus verteilungstheoretischen Gründen von Interesse, welche sozialen Gruppen bevorzugten Zugang zu diesen hoch subventionierten Leistungen erhalten (Kreyenfeld und Spieß 2002; Spieß et al. 2003; Durfee und Meyers 2006). Im Weiteren sind mit der Inanspruchnahme von Kindertageseinrichtungen soziale Ausschlusskriterien verbunden. So zeigen diverse empirische Studien, dass der Besuch einer Kindertageseinrichtung sich positiv auf die Entwicklung von Kindern auswirken kann (Donovan und Watts 1990; Büchel et al. 1997). Kinder, die zu diesen Leistungen keinen Zugang erhalten, können somit in ihrer Entwicklung benachteiligt werden. In markt-liberalen Ländern sind es insbesondere Kinder aus einkommensschwachen Haushalten, für die sich Eltern kaum qualitativ hochwertige Betreuung in Kindertageseinrichtungen leisten können. Dies bedeutet, dass in diesen Systemen bereits im Vorschulalter soziale Ungleichheiten reproduziert werden. Prinzipiell könnte man argumentieren, dass in (West-)Deutschland der Kindergarten spätestens mit der Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz im Jahr 1996 von der weiten Mehrzahl der Kinder im Alter von 3-6 Jahren in Anspruch genommen wird. Die Nutzung des Kindergartens sollte also mehr oder weniger universal sein. Empirische Analysen belegen jedoch eine sozial-
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strukturell bedingte Inanspruchnahme wie etwa eine geringe Inanspruchnahme des Kindergartens durch Zuwanderer-Familien (Binder 1995; Spieß 1998; BMFSFJ 2001). Des Weiteren zeigt sich eine etwas geringere Nutzung des Kindergartens für Kinder aus unteren Einkommensschichten (Bellenberg 2001; Kreyenfeld und Spieß 2002). Hort- und Krippenplätze sind in Westdeutschland höchst rationiert und werden nach sozialen ‚Dringlichkeitskriterien‘ vergeben. Dies entspricht prinzipiell der Situation in markt-liberalen Ländern, in denen der Staat allein in Notlagen soziale Dienste zur Verfügung stellt. Als ‚Notlage‘ galt bislang eine Situation, in der die Eltern, auf Grund ihrer Erwerbstätigkeit, nicht selbst in der Lage waren, für die familiale Betreuung ihrer Kinder zu sorgen. Vor dem Hintergrund der Dominanz des traditionellen Familienmodells, dem ‚male breadwinner model’, galt dies in der Vergangenheit in erster Linie für allein erziehende Mütter (Tietze et al. 1993; Kreyenfeld et al. 2001, 2002). Damit hätten sich im Krippen- und Hortbereich Kinder aus spezifischen sozialen Kontexten, d.h. Kinder von unverheirateten Eltern, konzentrieren sollen. Mittlerweile ist die Erwerbstätigkeit von Müttern keineswegs mehr ein Indikator für eine soziale Notlage. So sind es gerade Frauen mit Hochschulabschluss und entsprechend hohem Erwerbseinkommen, die nach der Geburt ihres Kindes schnell in die Erwerbstätigkeit zurückkehren (Gottschall und Bird 2003; Kreyenfeld und Geisler 2006). Vor diesem Hintergrund lässt sich vermuten, dass es insbesondere hoch qualifizierte Frauen sind, die für ihre Kinder eine Krippenbetreuung in Anspruch nehmen. 3.
Die Kinderbetreuungssituation in Deutschland
Organisation und Finanzierung Wie bereits oben erläutert, stellen in Deutschland ähnlich wie in anderen europäischen Ländern öffentliche bzw. öffentlich geförderte Tageseinrichtungen die wichtigste Form externer Kinderbetreuung dar, während privat-gewerblichen Betreuungseinrichtungen bislang nur eine untergeordnete Rolle zukommen (Spieß 1998; Kreyenfeld et al. 2001). Für die Nutzung von Kindertageseinrichtungen werden in der Regel Elternbeiträge erhoben. Laut Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG § 90, 1) ist vorgesehen, dass Elternbeiträge nach dem Einkommen gestaffelt sein sollten. Leider gibt es kaum repräsentative Angaben zur Höhe der Elternbeiträge (Bock und Timmermann 2000). In Nordrhein-Westfalen, wo die Elternbeiträge über das Landesrecht geregelt sind, betragen beispielsweise die monatlichen Elternbeiträge für die Ganztagsbetreuung im Kindergarten 71 Euro für Haushalte mit einem Jahreseinkommen zwischen 24.542 und 36.813 Euro. Für die Betreuung in der Krippe sind dies 141 Euro und 58 Euro für den Hort (Gesetz über Tageseinrichtungen für Kinder NRW 2004/05). Die Elternbeiträge decken zwar nur einen kleinen Teil der tatsächlichen Kosten eines Kinderbetreuungsplatzes ab
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und sie liegen deutlich unter den Kinderbetreuungskosten, die Eltern in marktliberalen Ländern für die Betreuung ihrer Kinder aufwenden müssen (Anderson und Levine 2000; Viitanen 2005). Jedoch ist nicht auszuschließen, dass einige Eltern aufgrund der zu zahlenden Elternbeiträge eine Tageseinrichtung nicht in Anspruch nehmen. In Deutschland spielen für die Organisation der Kinderbetreuung korporative Organisationen, insbesondere die Kirchen und die etablierten Wohlfahrtsverbände, eine entscheidende Rolle. Etwa die Hälfte der Plätze in Kindertageseinrichtungen wird von freien Trägern (AWO, Caritas, etc.) bereitgestellt, wofür sie von den Kommunen Subventionen erhalten. Entscheidend ist aber auch, dass Kinderbetreuungspolitik in Deutschland weitgehend auf kommunaler Ebene stattfindet. Die institutionelle Kinderbetreuung wird in erster Linie über das kommunale Budget finanziert. Die Bundesländer beteiligen sich in sehr unterschiedlichem Umfang an der Finanzierung von Kindertageseinrichtungen, während sich der Bund nur in Ausnahmefällen daran beteiligt. Eine Ausnahme hierzu war die Finanzierung der Betreuungsinfrastruktur in den neuen Bundesländern, die unmittelbar nach der Wende kurzzeitig durch Bundesmittel unterstützt wurde (Einigungsvertrag Artikel 31,3). Aktuelles Beispiel sind die Bundesmittel, die im Rahmen des ‚Gesetzes zum qualitätsorientierten und bedarfsgerechten Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder’ bereitgestellt wurden (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2006: 4). Des Weiteren werden Entscheidungen zur konkreten Gestaltung und zum Ausbau auf kommunaler Ebene getroffen. Insofern es keine landesoder bundesrechtlichen Vorgaben gibt wie beim Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz sind die Kommunen relativ frei darin, den Umfang und die Art der Förderung zu gestalten. Damit hängt die lokale Betreuungsinfrastruktur erheblich von der Prioritätensetzung und den Finanzmitteln der Kommunen ab. Neben gewissen Unterschieden zwischen Stadt- und Landkreisen, gibt es weiterhin deutliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Die Versorgungsquote und ihre Entwicklung Eine der wesentlichen Kenngrößen, welche Auskunft über die Betreuungssituation in Deutschland gibt, ist die Versorgungsquote, die sich aus der Zahl der verfügbaren Plätze in Kindertageseinrichtungen im Verhältnis zur Anzahl der Kinder der jeweiligen Altersgruppe berechnen lässt. Die Anzahl der Betreuungsplätze ergibt sich aus der Befragung der freien und öffentlichen Träger der Jugendhilfe, die verpflichtet sind, Auskunft über die Anzahl der bereitgestellten Plätze zu geben (aufgegliedert nach Kriterien wie Über-Mittag-Betreuung, Art der Einrichtung etc.). In der Praxis wird durch die Jugendämter bzw. freien Träger ein Fragebogen, der die im KJHG fest gelegten Merkmale umfasst, ausgefüllt (Schilling 1998: 593ff.). Die Statistischen Landesämter übernehmen die Aufbereitungen der Daten und leiten diese an das Statistische Bundesamt in Wiesbaden weiter, das die entsprechenden Fachserien zu Tageseinrichtungen in Deutschland im Vier-Jahres-
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Rhythmus herausgibt (Statistisches Bundesamt 1992; 1996; 2001; 2004). Auf Basis der Bevölkerungsstatistik, welche die Anzahl der Kinder nach Geburtsjahrgängen enthält, lassen sich die entsprechenden Versorgungsquoten berechnen, die standardmäßig vom Deutschen Jugendinstitut in München aufbereitet werden (DJI 1993: 35 ff.; DJI 1998: 50 ff.; DJI 2002: 33 ff., DJI 2005: 44ff.).1 In Tabelle 1 werden die Anzahl der verfügbaren Plätze, die Anzahl der Kinder und die Versorgungsquoten nach Altersgruppen wiedergegeben. Erstaunlich ist die weiterhin niedrige Versorgungsquote im Krippen- und Hortbereich in Westdeutschland. In fast allen europäischen Ländern haben die Veränderungen im Erwerbsverhalten von Frauen und den Einstellungen zur Frauenerwerbstätigkeit zu einem Anstieg der Versorgungsquoten geführt (OECD 2001; Kremer 2002). In Westdeutschland hat sich dagegen die Versorgungsquote im Krippen- und Hortbereich von Anfang der 1970er Jahre bis zum Jahr 2002 kaum verändert. Für den Krippenbereich liegt sie bei etwa 2 Prozent; für den Hortbereich bei etwa 5 Prozent. Im Kindergartenbereich ist die Versorgungsquote dagegen erkennbar angestiegen. Für das Jahr 2002 suggeriert sie eine flächendeckende Versorgung mit Betreuungsplätzen. Jedoch sei angemerkt, dass die Versorgungsquote von über 100 Prozent weniger auf ein Überangebot hindeutet, sondern vielmehr ein Indiz für Zuordnungsprobleme darstellt. Es ist offenbar kaum möglich, die Anzahl der Betreuungsplätze präzise einer Altersklasse zuzurechnen. In Ostdeutschland ist mit etwa 40 Prozent die Versorgungsquote im Krippenund Hortbereich um ein Vielfaches höher als in Westdeutschland. Nichtsdestotrotz ist es zu einem drastischen Rückgang an Krippenplätzen nach der Wende gekommen. Gab es 1990 noch mehr als 350.000 Krippenplätze, so waren es im Jahre 2002 gerade einmal 100.000. Dies entspricht einem Rückgang von über 60 Prozent, wobei die Versorgungsquote jedoch nur um 30 Prozent zurückgegangen ist. Ein bedeutender Grund hierfür dürfte der ostdeutsche Geburtenrückgang sein, dem zeitlich verzögert ein deutlicher Rückgang in der Anzahl zu betreuender Kinder folgte (Sternitzky und Putzing, 1996; Hank et al. 2001; Kreyenfeld et al. 2001). Im Hortbereich suggeriert die amtliche Statistik für die neuen Länder einen drastischen Abbau an Betreuungskapazitäten. Da jedoch Betreuungsplätze in Schulhorten teilweise nicht erfasst werden, sind diese Werte nur bedingt interpretierbar (für eine Korrektur der amtlichen Daten, vgl. DJI 1998).
1
Seit dem Jahr 2000 ist auf Grund der Zusammenlegung einiger Ost- und West-Berliner Bezirke die Ost-West-Unterscheidung nicht mehr trennscharf möglich, weshalb Berlin für das Jahr 2002 nicht berücksichtigt werden konnte. An dieser Stelle möchte ich Herrn Becker von der Abteilung „VI B Bevölkerungsfortschreibung“ des Statistischen Bundesamtes für die Bereitstellung der Anzahl der Kinder nach Ost- und Westdeutschland für das Jahr 2002 danken.
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Tabelle 1: Versorgungsquoten, Plätze in Kindertageseinrichtungen und Anzahl der Kinder 1990, 1994, 1998 und 2002 1990 Versorgungsquote (in Prozent) Krippe Kindergarten Hort Plätze in Einrichtungen (in 1.000) Krippe Kindergarten Hort Insgesamt Anzahl Kinder (in 1.000) Alter 0 –3 Alter 3 – 6 Alter 6 – 10 Insgesamt Versorgungsquote (in Prozent) Krippe Kindergarten Hort Plätze in Einrichtungen (in 1.000) Krippe Kindergarten Hort Insgesamt Anzahl Kinder (in 1.000) Alter 0 –3 Alter 3 – 6 Alter 6 – 10 Insgesamt
1994 1998 Westdeutschland
2002*
2 78 5
2 85 5
3 102 6
3 105 7
38 1.552 128 1.718
47 1.919 146 2.112
59 2.152 179 2.390
51 2.131 180 2.362
2.144 1.981 2.565 6.690
2.143 2.095 2.251 2.110 2.846 3.027 7.240 7.232 Ostdeutschland
1.835 2.025 2.767 6.645
56 113 88
41 117 34
37 132 48
37 121 59
353 888 818 2.059
103 552 285 940
109 335 271 715
109 341 187 637
626 785 930 2.341
250 473 833 1.556
298 253 569 1.120
295 282 316 892
Anmerkung Die Versorgungsquote berechnet sich aus der Anzahl der Plätze pro 100 Kinder der jeweiligen Altersgruppe. Die Anzahl der Kinder und Anzahl der Betreuungsplätze beziehen sich auf den 31. Dezember des jeweiligen Jahres. * 2002 ohne Berlin. Quelle Statistisches Bundesamt (1992; 1996; 2001; 2004)
Das ‚Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe’, das im Jahr 2005 verabschiedet wurde, beinhaltet eine Reformierung der Kinder- und Jugendhilfestatistik. Unter anderem soll nun das Angebot an Betreuungsplätzen nicht mehr in einem Vier-Jahresrythmus erfasst werden, sondern in Form eines jährlichen Berichtswesens. Erste Ergebnisse für die Betreuungssituation der unter 3-
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jährigen Kinder sind nun vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2006: 6) vorgelegt worden, wonach es in den westlichen Bundesländern zu einer Verdoppelung der Versorgungsquoten im Krippenbereich von 2002 auf 2005/06 gekommen ist. Ähnliche Ergebnisse liefert die Kinderbetreuungsstudie des Deutschen Jugendinstituts (Fendrich und Pothmann 2005). 4.
Empirische Analysen
Daten, Stichprobenselektion und Vorgehensweise Im Folgenden verwenden wir die Daten des Scientific-Use-Files des Mikrozensus zur Analyse der Nutzung institutioneller Kinderbetreuung in Ost- und Westdeutschland (zum Mikrozensus, siehe Schimpl-Neimanns 1998). Dabei geht es uns insbesondere um die Frage, inwiefern sozialstrukturelle Charakteristika wie insbesondere der Erwerbs- und Bildungsstatus der Mutter die Nutzung einer Kindertageseinrichtung bedingen. Wesentlicher Vorteil des Mikrozensus ist – im Vergleich zu anderen Datensätzen – die große Fallzahl, welche eine separate Analyse der Krippen- und Hortbetreuung erlaubt. Zum anderen bieten die Daten des Mikrozensus eine hohe Repräsentativität und Validität. Beispielsweise ergeben sich beim Mikrozensus kaum Ausfälle aufgrund von Nonresponse, da die Mehrzahl der Fragen der Auskunftspflicht unterliegt. Ein bedeutender Nachteil des Mikrozensus ergibt sich jedoch daraus, dass keine detaillierten Angaben über die Art der genutzten Betreuung erhoben werden. Es wird nur erfragt, ob und welches Kind im Haushalt die Krippe, den Kindergarten oder den Hort besucht (Die genaue Frage lautet: Besucht das Kind, für das sie antworten, gegenwärtig den Kindergarten, die Kinderkrippe oder den Kinderhort?). Unter anderem werden wichtige Aspekte wie die Höhe der Elternbeiträge oder die Dauer der Betreuung (Ganztags- oder Halbtagsplatz, Über-Mittag-Betreuung) nicht erfasst. Auch können alternative Betreuungsarrangements, wie die Betreuung in sozialen Netzwerken, nicht berücksichtigt werden (Büchel und Spieß 2000b). Die Stichprobe für die folgende Analyse beinhaltet Kinder im Alter von unter 11 Jahren, die in Privathaushalten am Hauptwohnsitz der Lebensgemeinschaft leben. Die empirische Analyse gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil wird die Betreuungssituation in West- und Ostdeutschland mit einfachen deskriptiven Methoden beschrieben. Als Datenbasis dienen die Scientific-Use-Files des Mikrozensus aus den Jahren 1996, 2000 und 2004. Obwohl der Mikrozensus auch für die Jahre vor 1996 Angaben über die Nutzung einer Kindertageseinrichtung enthält, ist die Beschränkung auf die Jahre 1996-2004 sinnvoll, da für diese Jahre das Frageprogramm im Mikrozensus praktisch identisch ist, so dass eine Vergleichbarkeit relativ gut gegeben ist. Im zweiten Teil der Analyse werden logistische Regressionsmodelle geschätzt, um die Determinanten der Nutzung eines Kinder-
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betreuungsplatzes zu bestimmen. Dieser Teil konzentriert sich auf die Situation im Jahr 2004. Beschreibung der Variablen Die abhängige Variable in den Analysen ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind eine Kindertagesbetreuung besucht. Dabei werden Kinder im Krippenalter, Kinder im Kindergartenalter und Schulkinder separat analysiert. Das Krippenalter umfasst Kinder unter 3 Jahren. Kinder im Kindergartenalter sind Kinder, die 3 Jahre oder älter sind, aber noch nicht zur Schule gehen. Hortkinder sind alle Kinder unter 11 Jahren, die eine Grundschule besuchen. Das Alter entspricht dem Alter zum Befragungszeitpunkt, wobei zu beachten ist, dass die Mikrozensus-Befragungen im Frühjahr des jeweiligen Jahres durchgeführt wurden. Die Staatsangehörigkeit des Kindes wird berücksichtigt, indem zwischen Kinder mit deutscher und Kindern mit ausländischer Staatsangehörigkeit unterschieden wird. Es werden Gemeinden mit weniger als 20.000 Einwohnern, Gemeinden mit 20.000 bis 100.000 und Gemeinden mit mehr als 100.000 Einwohnern unterschieden. Die Klassifikation ist im Wesentlichen durch die Vergröberungen, die das Statistische Bundesamt bei der Datenweitergabe vornimmt, vorgegeben (Köhler et al. 2000). Für Gemeinden im Saarland, in Brandenburg und in Mecklenburg-Vorpommern ist es aufgrund dieser Vergröberungen nicht möglich, zwischen Großstädten (mehr als 100.000 Einwohner) und mittelgroßen Städten und Gemeinden (20.000 bis 100.000) zu unterscheiden. Diese Städte bzw. Gemeinden wurden den mittelgroßen Städten zugeordnet. Als eine weitere Kontrollvariable dient die Anzahl der Kinder in der Familie, wobei nur Kinder berücksichtigt werden, die nicht älter als 18 Jahre sind und im Haushalt leben. Des Weiteren wird eine Unterscheidung getroffen zwischen Kindern, deren Bezugsperson in einer nichteheliche Lebensgemeinschaft, in einer ehelichen Lebensgemeinschaft lebt oder allein erziehend ist. Der Erwerbsstatus der Mutter (bzw. der weiblichen Bezugsperson) wird anhand der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit in der Berichtswoche definiert. Die unterschiedlichen Kategorien umfassen Vollzeiterwerbstätige (30 Stunden und mehr), Teilzeiterwerbstätige (15 bis unter 30 Stunden), geringfügig Beschäftigte (1 bis unter 15 Stunden), Erwerbslose, Nichterwerbspersonen und Personen in Elternzeit oder Freistellung. Es wird weiterhin der Einfluss des Bildungsstatus der Mutter auf die Nutzung einer Kindertageseinrichtung untersucht, wobei zwischen Personen mit Fachhochschul- oder Hochschulabschluss, mit Berufsabschluss und Personen ohne einen derartigen Abschluss unterschieden wird. Das Haushaltsnettoeinkommen wird in die Kategorien 0 bis unter 1500, 1500 bis unter 2600, 2600 bis unter 3600, 3600 bis unter 5000 und 5000 und mehr Euro eingeteilt. Insofern die Mutter des Kindes mit ihrem Partner zusammen im Haushalt lebt, wird für ihn ebenfalls der Bildungsstatus berücksichtigt. Die Variable wird als ‚Bildungsstatus des Vaters’ bezeichnet, wobei zu berücksichtigen ist, dass mit den Daten des Mikrozensus es sich nicht eindeutig klären lässt, ob die Personen, mit denen das Kind zusammen im Haushalt lebt, die leiblichen Eltern des jeweiligen Kindes sind.
Deskriptive Analysen Tabelle 2 zeigt die Verteilung des Anteils der Kinder in Kindertageseinrichtungen nach Alter des Kindes und nach Ost- und Westdeutschland. Im Unterschied zur Kinder- und Jugendhilfe-Statistik, in der sich Zuordnungsprobleme ergeben, kann mit den Daten des Mikrozensus die Anzahl der Kinder in Kindertageseinrichtungen eindeutig der ‚Risikopopulation‘, also den Kindern einer Altersklasse, zugeordnet werden. Ähnlich wie in der Kinder- und Jugendhilfe-Statistik zeigen sich erhebliche Ost-West-Differenzen für Kinder im Krippen- und Hortalter. Auffallend ist auch die erhebliche Variation in der Betreuungsquote nach dem Alter des Kindes. Wäh-
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rend beispielsweise in Westdeutschland im Jahr 2004 nur 5 Prozent aller einjährigen Kinder eine Kindertageseinrichtung besuchen, sind 13 Prozent aller zweijährigen Kinder in dieser Betreuungsform zu finden. Der Vergleich der Daten der Jahre 1996, 2000 und 2004 deutet auf Veränderungen in der Nutzung von Tageseinrichtungen für Kinder unter 4 Jahren in Westdeutschland. Waren es im Jahr 1996 gerade mal 35 Prozent der dreijährigen Kinder, die in einer Kindertageseinrichtung betreut werden, sind es im Jahr 2004 58 Prozent. Tabelle 2: Betreuungsquoten nach Alter (in Prozent) 1996
0 bis unter 1 Jahr 1 bis unter 2 Jahre 2 bis unter 3 Jahre 3 bis unter 4 Jahre 4 bis unter 5 Jahre 5 bis unter 6 Jahre 6 bis unter 7 Jahre 7 bis unter 8 Jahre 8 bis unter 9 Jahre 9 bis unter 10 Jahre 10 bis unter 11 Jahre Fallzahlen Anzahl Kinder Anzahl Kinder in Tageseinrichtungen
0 bis unter 1 Jahr 1 bis unter 2 Jahre 2 bis unter 3 Jahre 3 bis unter 4 Jahre 4 bis unter 5 Jahre 5 bis unter 6 Jahre 6 bis unter 7 Jahre 7 bis unter 8 Jahre 8 bis unter 9 Jahre 9 bis unter 10 Jahre 10 bis unter 11 Jahre Fallzahlen Anzahl Kinder Insgesamt
1 4 8 35 73 85 67 13 9 8 7
46.850 13.694 6 37 66 85 88 89 83 57 51 43 27
9.809 5.463
2000 Westdeutschland 1 4 11 53 83 89 67 11 7 7 5
46.134 13.771 Ostdeutschland 5 32 66 84 87 89 83 61 51 39 25
6.996 3.687
2004
2 5 13 58 83 87 60 12 9 8 6
43.184 13.806 7 37 69 80 87 89 79 54 48 39 28
6.385 3.648
Quelle Scientific-Use-File des Mikrozensus 1996, 2000 und 2004 – eigene Berechnungen
In Tabelle 3 werden die Betreuungsquoten für die Krippe, den Kindergarten und den Hort nach soziodemographischen Faktoren dargestellt. Im Folgenden soll in einem ersten Schritt auf die Situation in Westdeutschland fokussiert werden. Im Wesentlichen bestätigen die Ergebnisse andere Studien, wonach ausländische
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Kinder seltener den Kindergarten besuchen als deutsche Kinder. Allerdings sind keine Unterschiede im Hort- oder Krippenbesuch zwischen den beiden Gruppen zu erkennen. Es zeigt sich ein Zusammenhang zwischen Gemeindegröße und Nutzung einer Kindertageseinrichtung. In ländlichen Regionen wird die Krippe oder der Hort seltener in Anspruch genommen als in städtischen Gegenden. Für den Kindergarten lässt sich überraschenderweise jedoch eher ein umgekehrter Zusammenhang feststellen. Zwischen der Lebensform der Bezugsperson und der Nutzung einer Tageseinrichtung besteht ebenfalls ein Zusammenhang. Im Vergleich zu Kindern von verheirateten Eltern sind Kinder von allein Erziehenden doppelt so häufig in der Krippe oder im Hort zu finden. Im Kindergartenbereich gibt es dagegen kaum Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. Kinder von Eltern in nichtehelichen Lebensgemeinschaften zeigen ein ambivalentes Muster auf. Sie besuchen seltener den Kindergarten, aber dafür häufiger den Hort. Zwischen der Geschwisterzahl und dem Betreuungsstatus lässt sich nur für den Hortbereich ein klarer Zusammenhang feststellen. So scheint es, dass Einzelkinder häufiger den Hort besuchen als Kinder, die Geschwister haben. Das Haushaltseinkommen hat einen positiven Einfluss auf die Nutzung einer Kindertageseinrichtung. Im Hortbereich stellt die unterste Einkommensklasse jedoch einen Ausreißer dar, da diese Einkommensgruppe besonders häufig den Hort in Anspruch nimmt. Sehr wahrscheinlich sind in dieser Gruppe Kinder allein erziehender Eltern überrepräsentiert. Der Einkommenseffekt lässt sich entsprechend nicht ohne Probleme interpretieren, da das Haushaltseinkommen im Wesentlichen von der Haushaltsgröße bestimmt wird. Es zeigt sich, wenig überraschend, ein eindeutig positiver Zusammenhang zwischen Erwerbsstatus der Mutter und Nutzung einer Kindertageseinrichtung. Auch ist der Bildungsstatus der Mutter positiv mit der Nutzung von Krippe, Kindergarten und Hort korreliert. Ähnliches gilt für den Bildungsstatus des Vaters. Auch hier zeigt sich eine deutliche bildungsspezifische Differenzierung in der Nutzung einer Kindertageseinrichtung. In Ostdeutschland hat die Staatsangehörigkeit des Kindes generell einen negativen Einfluss auf den Besuch einer Kindertageseinrichtung. Ähnlich wie in Westdeutschland gibt es einen positiven Zusammenhang zwischen Gemeindegröße und Nutzung der Krippe und des Hortes, wobei dieser Zusammenhang jedoch weniger stark ausgeprägt ist. Im Unterschied zu Westdeutschland bestehen zwischen Kindern von allein Erziehenden und Kindern von Eltern, die in ehelichen und nichtehelichen Lebensgemeinschaften leben, nur geringfügige Unterschiede in der Wahrscheinlichkeit eine Kindertageseinrichtung zu besuchen. Die Erwerbstätigkeit der Mutter hat in Ostdeutschland einen durchgreifenden Effekt auf die Nutzung einer Tageseinrichtung. Für den Krippen- und Hortbereich ist dies nicht verwunderlich, da die Vergabe von Betreuungsplätzen an den Erwerbsstatus der Eltern gekoppelt ist. Jedoch zeigt sich dieses Muster auch für den Kindergartenbereich, für den ein Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz existiert. Insgesamt
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Kreyenfeld
lassen sich auch in Ostdeutschland deutliche sozialstrukturelle Unterschiede in der Inanspruchnahme einer Kindertageseinrichtung beobachten, wobei Kinder von höher qualifizierten Eltern eher eine Kindertageseinrichtung besuchen als andere. Tabelle 3: Betreuungsquoten nach soziodemographischen Merkmalen (in Prozent) unter 3 Jahre Staatsangehörigkeit des Kindes Deutsch Andere Gemeindegröße 0-20.000 Einwohner 20.000-100.000 Einwohner 100.000 und mehr Einwohner Keine Angabe Lebensform der Bezugsperson Eheliche Lebensgemeinschaft Nichteheliche Lebensgemeinschaft Allein erziehend Kinderzahl in Familie Ein-Kind-Familie Zwei-Kind-Familie Drei und mehr Kinder Haushaltseinkommen 0-1.500 Euro 1 500-2.600 Euro 2.600-3.600 Euro 3.600-5.000 Euro 5.000 Euro und mehr Keine Angabe Bildungsstatus der Mutter Kein Abschluss Beruflicher Abschluss Hochschulabschluss Keine Angabe Erwerbsstatus der Mutter Vollzeit (ab 30 Stunden) Teilzeit (15-30 Stunden) Geringfügig (1-15 Stunden) Erwerbslos Elternzeit oder andere Freistellung Nichterwerbsperson Keine Angabe Bildungsstatus des Vaters Kein Abschluss Beruflicher Abschluss Hochschulabschluss Keine Angabe Insgesamt
3 Jahre bis Schule Westdeutschland
Grundschulalter
7 7
80 75
8 8
5 6 12 6
81 79 75 86
5 8 17 14
6 7 10
80 75 79
7 13 13
6 7 6
78 81 77
13 7 6
6 6 7 11 10 5
74 78 82 85 83 72
11 8 8 7 6 7
5 6 12 7
73 82 83 71
8 7 10 11
17 15 8 12 4 5 5
82 87 84 82 81 73 74
12 9 6 11 6 7 13
6 5 10 8 7
73 80 84 77 79
8 7 8 11 8
Soziale Ungleichheit und Kinderbetreuung
113
Fortsetzung von Tabelle 3 3 Jahre bis Schule Ostdeutschland
unter 3 Jahre Staatsangehörigkeit des Kindes Deutsch Andere Gemeindegröße 0-20.000 Einwohner 20.000-100.000 Einwohner 100.000 und mehr Einwohner Keine Angabe Lebensform der Bezugsperson Eheliche Lebensgemeinschaft Nichteheliche Lebensgemeinschaft Allein erziehend Kinderzahl in Familie Ein-Kind-Familie Zwei-Kind-Familie Drei und mehr Kinder Haushaltseinkommen 0-1.500 Euro 1.500-2.600 Euro 2.600-3.600 Euro 3.600-5.000 Euro 5.000 Euro und mehr Keine Angabe Bildungsstatus der Mutter Kein Abschluss Beruflicher Abschluss Hochschulabschluss Keine Angabe Erwerbsstatus der Mutter Vollzeit (ab 30 Stunden) Teilzeit (15-30 Stunden) Geringfügig (1-15 Stunden) Erwerbslos Elternzeit oder andere Freistellung Nichterwerbsperson Keine Angabe Bildungsstatus des Vaters Kein Abschluss Beruflicher Abschluss Hochschulabschluss Keine Angabe Insgesamt
Grundschulalter
37 33
87 65
87 65
36 37 39 45
86 87 89 85
86 87 89 85
37 35 40
86 86 88
86 86 88
39 40 26
88 88 78
88 88 78
31 36 49 47 57 39
86 84 92 89 90 74
40 40 48 51 42 36
32 38 43 27
74 89 90 77
74 89 90 77
73 76 58 56 15 14 35
92 92 89 85 88 68 81
92 92 89 85 88 68 81
36 36 41 38 37
79 87 90 84 86
37 41 45 46 86
Quelle Scientific-Use-File des Mikrozensus 2004 – eigene Berechnungen
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Kreyenfeld
Multivariate Analysen Um den simultanen Einfluss der Bildung, des Erwerbsstatus und andere sozioökonomischer Faktoren auf den Besuch einer Kindertageseinrichtung genauer zu analysieren, wurden verschiedene logistische Regressionsmodelle geschätzt. Die abhängige Variable ist die Wahrscheinlichkeit (bzw. der Logarithmus der Odds), dass ein Kind eine Kindertageseinrichtung besucht. Es wurden für Kinder im Alter von 0 bis unter 3 Jahren, von 3 Jahren bis zum Schuleintritt und Kinder im Grundschulalter unterschiedliche Modelle geschätzt. Im Unterschied zu den deskriptiven Analyen wurde das Nettoeinkommen nicht berücksichtigt, da es zu eng mit der Lebensform der Bezugsperson, dem Erwerbsstatus der Mutter und der Kinderzahl korreliert ist. Ebenso wurde der Bildungsstatus des Vaters nicht verwendet, da dieser mit der Lebensform der Bezugsperson im engen Zusammenhang steht. Die Ergebnisse sind in Tabelle 4 und 5 wiedergegeben. Im Wesentlichen bestätigen die multivariaten Analysen die deskriptiven Ergebnisse, wonach der Familienstand, die Bildung und der Erwerbsstatus der Mutter eine zentrale Determinante der Nutzung einer Tageseinrichtung darstellen. Überraschenderweise lässt sich in den multivariaten Analysen für Westdeutschland jedoch kein Zusammenhang mehr zwischen Staatsangehörigkeit und Besuch des Kindergartens feststellen. Da die Erwerbsbeteiligung eng mit dem Bildungsstatus zusammenhängt, würde man erwarten, dass der Effekt der Bildung der Mutter abnimmt oder sogar verschwindet, nachdem für ihren Erwerbsstatus kontrolliert wurde. Für den Krippenbereich in Ostdeutschland zeigt sich nach Kontrolle des Erwerbsstatus kein signifikanter Effekt der Bildung der Mutter mehr. Für alle anderen Modelle bleibt jedoch, selbst nach Kontrolle der Erwerbsbeteiligung, ein positiver Einfluss der Bildung der Mutter auf die Nutzung einer Kindertageseinrichtung bestehen. Der Erwerbsstatus der Mutter hängt eng mit der Inanspruchnahme einer Kindertageseinrichtung zusammen. So sind es insbesondere Kinder Vollzeit erwerbstätiger Mütter, die den Hort und die Krippe nutzen. Ist die Mutter in Elternzeit oder ist sie eine Nichterwerbsperson (also nicht erwerbstätig und nicht Arbeit suchend), dann besucht das Kind deutlich seltener Krippe oder Hort; aber auch der Kindergartenbesuch wird unter diesen Umständen unwahrscheinlicher. Kinder erwerbsloser Mütter besuchen zwar häufiger eine Kindertageseinrichtung als andere nicht erwerbstätige Mütter (also Frauen, die im Erziehungsurlaub sind und/oder nicht arbeit suchend sind). Dennoch fällt gerade in Ostdeutschland der deutlich negative Effekt der Erwerbslosigkeit der Mutter auf den Besuch einer Kindertageseinrichtung auf.
Soziale Ungleichheit und Kinderbetreuung
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Tabelle 4: Besuch einer Kindertageseinrichtung in Westdeutschland (Logistische Regression) Kind 0 bis unter 3 Jahre odds t ratio Staatsangehörigkeit Deutsch Andere Gemeindegröße 0-20.000 Einwohner 20.000-100.000 EW 100.000 u. m. EW Familienstand Verheiratet NEL Allein erziehend Kinderzahl Ein-Kind-Familie Zwei-Kind-Familie Großfamilie Bildungsstatus der Mutter Kein Abschluss Beruflicher Abschluss HochschulAbschluss Erwerbsstatus der Mutter Vollzeit (ab 30 h) Teilzeit (15-30h) Geringfügig (1-15 h) Erwerbslos Elternzeit oder andere Freistellung Nichterwerbsperson Pseudo-R2
Kind 3 bis unter 6 Jahre odds t ratio
Kind 0 bis unter 6 Jahre odds t ratio
1 1.11
0.58
1 0.93
-0.97
1 0.88
-1.22
1 1.31 2.89
2.73*** 9.48***
1 0.90 0.80
-2.26** -3 34***
1 1.52 3.32
6.33*** 15.55***
1 1.48 1.54
2.41** 3.24***
1 0.84 0.92
-1.67* -1.13
1 1.50 1.50
3.44*** 5.51***
1 1.37 1.28
3.32*** 2.04**
1 1.16 0.95
2.58*** -0.78
1 0.65 0.54
-6.45*** -7.42***
1.39
2.69***
1.41
6.11***
0.92
-1.04
2.43
6.30***
1.55
5.15***
1.10
0.92
1 0.82 0.50 0.62
-1.28 -4.25*** -1.99*
1 1.37 1.04 1.11
3.31*** 0.42 0.86
1 0.82 0.63 0.87
-2.35** -4.51*** -1.14
0.28
-8.36***
1.01
0.05
0.60
-3.13***
0.32 0.13
-8.63***
0.64 0.12
-5 57***
0.65 0.06
-4.96***
1
1
1
Anmerkung Es wurde ebenfalls für das Alter des Kindes kontrolliert. Kontrollvariablen für fehlende Angaben wurden ebenfalls eingefügt. *** p<0.01; ** p<0.05; * p<0.10 Quelle Scientific-Use-File des Mikrozensus 2004 – eigene Berechnungen
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Kreyenfeld
Tabelle 5: Besuch einer Kindertageseinrichtung in Ostdeutschland (Logistische Regression) Krippe
odds ratio Staatsangehörigkeit Deutsch Andere Gemeindegröße 0-20.000 Einwohner 20.000-100.000 E. 100.000 u. m. E. Familienstand Verheiratet NEL Allein erziehend Kinderzahl Ein-Kind-Familie Zwei-Kind-Familie Großfamilie Bildungsstatus der Mutter Kein Abschluss Beruflicher Abschluss HochschulAbschluss Erwerbsstatus der Mutter Vollzeit (ab 30 h) Teilzeit (15-30 h) Geringfügig (1-15 h) Erwerbslos Elternzeit oder andere Freistellung Nichterwerbsperson Pseudo-R2
t
Kindergarten odds t ratio
Hort
odds ratio
t
1 1.31
0.40
1 0.36
-2.69***
1 0.89
-0.31
1 1.16 1.41
0.99 1.42
1 1.25 1.52
1.44 1.50
1 1.44 1.53
3.38*** 2.24**
1 1.06 1.43
0.35 1.90
1 1.03 1.49
0.16 2.21
1 0.99 1.57
-0.11 3.71***
1 1.21 0.82
1.34 -0 90
1 1.18 0.75
1.11 -1.55
1 0.89 0.59
-1.12 -3.77***
1.05
0.21
1.85
3.32***
1.00
0.02
1.04
0.16
1.96
2.49**
1.49
1.70*
-0.54 -1.92** -4.65***
1
1
1
1 1.22 0.58 0.27
0.71 -1.47 -6.08***
1 0.92 0.66 0.52
-0.29 -1.15 -3.53***
1 0.92 0.67 0.55
0.10
-11.55***
0.65
-1.51
0.71
-1.42
0.07 0.38
-14.17***
0.21 0.11
-8.49***
0.38 0.08
-5.87***
Anmerkung Es wurde ebenfalls für das Alter des Kindes kontrolliert. Kontrollvariablen für fehlende Angaben wurden ebenfalls eingefügt.
*** p<0.01; ** p<0.05; * p<0.10 Quelle Scientific-Use-File des Mikrozensus 2004 – eigene Berechnungen
5.
Schlussfolgerungen
Ausgangspunkt der Überlegungen, die diesem Artikel zu Grunde liegen, war die Feststellung, dass das Kinderbetreuungssystem ein integraler Bestandteil der
Soziale Ungleichheit und Kinderbetreuung
117
wohlfahrtsstaatlichen Institutionen eines Landes darstellt. Während in marktliberalen Wohlfahrtsstaaten die Kinderbetreuung in erster Linie über den Markt, d.h. über die Kaufkraft der Nachfrager reguliert wird, wird in universalistischen Wohlfahrtsstaaten ein öffentliches Betreuungsangebot bereitgestellt. In konservativ-korporatistischen Ländern kommt im Unterschied zu markt-liberalen Ländern der öffentlichen Kinderbetreuung durchaus eine tragende Rolle zu. Im Unterschied zu universalistisch ausgerichteten Wohlfahrtsstaaten, in denen das Kinderbetreuungssystem auf dem Ziel der Vereinbarkeit von Kind und Beruf beruht und die Erwerbstätigkeit beider Elternteile explizit gefördert wird, wird in konservativkorporatistischen Wohlfahrtsstaaten die institutionelle Kinderbetreuung in Form des Kindergartens als sozialisationsergänzende Institution verstanden. In Deutschland existiert seit dem Jahr 1996 ein generelles Anrecht auf einen Betreuungsplatz im Kindergarten. Während in Ostdeutschland weiterhin eine hohe Nutzung der Krippen- und Hortbetreuung beobachtet werden kann, ist das Angebot im Krippen- und Hortbereich in Westdeutschland weiterhin relativ gering. Dennoch muss hervorgehoben werden, dass sich eine zunehmende Nutzung der Krippenplätze auch in Westdeutschland abzeichnet. Die Universalität des Kindergartens zeigt sich im relativ hohen Anteil von 80 bis 90 Prozent der Kinder, die diese Einrichtung besuchen. Trotz des allgemein hohen Nutzungsgrads und trotz des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz zeigen sich weiterhin sozialstrukturelle Unterschiede in der Inanspruchnahme dieser Einrichtung. Im Einklang mit früheren Studien zeigt sich, dass ausländische Kinder deutlich seltener den Kindergarten besuchen als deutsche Kinder. Auffällig ist ebenfalls, dass Kinder von Eltern mit Hochschulabschluss häufiger diese Einrichtung nutzen. Für Krippe und Hort lassen sich klare soziostrukturelle Unterschiede in der Nutzung ausmachen. In Westdeutschland sind in diesen Einrichtungen häufiger Kinder von allein erziehenden Eltern, aber auch häufig Kinder von Müttern mit Hochschulabschluss zu finden. Der positive Effekt der Bildung der Mutter auf den Besuch einer Kindertageseinrichtung lässt sich auch in Ostdeutschland nachweisen. Dieser Effekt bleibt weitgehend auch nach Kontrolle des Erwerbsstatus der Mutter bestehen. Das Kinderbetreuungssystem ist ein integraler Bestandteil wohlfahrtsstaatlicher Institutionen, das die Geschlechtergleichheit auf Arbeitsmärkten, die Frauenerwerbstätigkeit und schließlich das Geburtenverhalten prägt. Bislang hat sich in Deutschland die institutionelle Kinderbetreuung allein in Form der Halbtagsbetreuung im Kindergarten etabliert, während andere Formen der Betreuung bislang als ‚soziale Notlösungen‘ galten. Nicht allein der Blick auf die ostdeutschen Länder, in denen die Müttererwerbstätigkeit weiterhin eine Selbstverständlichkeit darstellt, sondern Veränderungen in den Erwerbsvorstellungen westdeutscher Frauen, haben eine Neuorientierung des Kinderbetreuungssystems bedingt. Zweifellos ist die mit dem Kinderbetreuungsausbaugesetz angestrebte Reform der Betreuungsinfrastruktur ein wesentlicher Schritt zur Modernisierung des Wohl-
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Kreyenfeld
fahrtsstaats, mit dem die Erwerbstätigkeit von Müttern unterstützt wird. Es bleibt abzuwarten, ob es in erster Linie erwerbstätige, hoch qualifizierte Frauen sein werden, die für ihre Kinder Krippen- und Hortbetreuung in Anspruch nehmen oder ob die Nutzung dieser Einrichtungen für alle gesellschaftlichen Gruppen zur Normalität wird.
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Vom Nutzen vorschulischer Erziehung und Elementarbildung: Bessere Bildungschancen für Arbeiterkinder? Rolf Becker und Wolfgang Lauterbach
1.
Einleitung
Auch die jüngst vorgelegten bildungssoziologischen Studien belegen die weit reichenden Konsequenzen der sozialen Herkunft für spätere Bildungs- und Berufschancen (Becker 2003, 2000, 1994; Schimpl-Neimanns 2000; Müller und Shavit 1998; Henz und Maas 1995; Müller 1994; Müller und Haun 1994; Blossfeld 1993; Mayer und Blossfeld 1990). Darüber hinaus liegen empirische Evidenzen dafür vor, dass der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Lernvoraussetzungen bei der Einschulung und die schulischen Leistungen sowie die darauf basierende Chance, nach der Grundschule für weiterführende Bildung (Realschule oder Gymnasium) empfohlen zu werden, eine wichtige Ursache für die Chancenungleichheit im Bildungssystem ist (Becker 2003; Kristen 2002; Boudon 1974). So tragen diese primären Herkunftseffekte – die Auswirkungen von an die soziale Herkunft gekoppelten Lernvoraussetzungen und schulische Leistungen – bei den Bildungsübergängen nach der Grundschule langfristig zur Festschreibung dauerhafter Bildungsungleichheiten über Selektion und Verteilung auf die einzelnen Bildungslaufbahnen entsprechend der herkunftsabhängigen Schulleistungen bei (Müller und Mayer 1976). Die Ursachen, die im Elternhaus und damit im Vorfeld der Einschulung und Ausbildung liegen, können offensichtlich nicht durch die Grundschule kompensiert werden (Heckhausen 1974). Weil ein Ausgleich von ungleich verteilten Startchancen weitgehend ausbleibt, wirkt sich die soziale Herkunft weiterhin sowohl auf die schulische Performanz als auch auf den Bildungsweg und den daraus resultierenden Bildungserfolg aus. Nicht von ungefähr werden daher von vielen Seiten frühe Förderungen der Kinder in Kindertageseinrichtungen gefordert – so zum Beispiel vom Arbeitsstab „Forum Bildung“ (2001) in der Geschäftsstelle der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung. So soll den Empfehlungen dieses Arbeitsstabes zufolge künftig in Kindertageseinrichtungen die frühkindliche Bildung, insbesondere die Sprachentwicklung, und die Leistungsbereitschaft der Kinder stärker gefördert werden. Besonders Kinder mit Migrationshintergrund sollen die Zielgruppe der vorschulischen Sprachförderung sein. Zusätzlich soll auch das frühe Erlernen von Fremdsprachen gefördert werden. Des Weiteren sollen die Kinder kindgerecht auf das weitere Lernen in der Grundschule vorbereitet wer-
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Becker und Lauterbach
den.1 Neben der professionelleren Aus- und Weiterbildung des Personals in Kindergärten und Vorschuleinrichtungen wird mit früherer Einschulung und flexiblen Übergängen in die Grundschule die engere Verbindung von Vor- und Grundschule erwogen. Damit auch untere Sozialschichten von diesen Förderungsmöglichkeiten Gebrauch machen, soll die zukünftige Gebührenfreiheit vorschulischer Kinderbetreuung geprüft werden.2 Diese vorgeschlagenen Maßnahmen scheinen bei einer gezielten pädagogischen Förderung sozial benachteiligter Kinder – in Deutschland sind dies neben den Kinder von Zugewanderten und Migranten trotz Bildungsexpansion immer noch vor allem Kinder aus den Arbeiterschichten (siehe Solga und Wagner sowie Becker in diesem Band) – durchaus geeignet zu sein, den vergleichsweise ungünstigen sozialisatorischen Einfluss von Elternhäusern in den unteren Sozialschichten auf den Bildungserfolg abzuschwächen, der zu ungleichen Startchancen beim Bildungserwerb und damit kurz- wie langfristig über Chancenungerechtigkeiten zu Bildungsungleichheiten führt (siehe auch Spieß und Tietze 2002: 143; Kreyenfeld et al. 2002: 205; Tietze 2002: 511). Neu sind diese Empfehlungen zum Elementarbereich des Bildungswesens allerdings nicht, sondern wurden bereits vom Deutschen Bildungsrat im Jahre 1969 diskutiert.3 So sieht Heckhausen (1969) – und das taucht auch in den gegenwärtigen Forderungen nach frühzeitigem Wissenserwerb und verstärktem systematischem Lernen nach Lernplänen in Kindergärten auf – in seinem Gutachten für diese im Jahre 1966 konstituierte und im Jahre 1975 wieder aufgelöste Bildungskommission einen Bildungsauftrag für den Kindergarten mit klaren Bildungszielen und ihrer curricularen Umsetzung vor (vgl. Arbeitsstab Forum Bildung 2001: 6). Heckhausen (1969) begründet seine Empfehlung aus entwicklungs- und motivationspsychologischer Sicht damit, dass in den drei Lebensjahren vor der Einschulung entscheidende Grundlagen für den Grad der intellektuellen Leistungsfähigkeit und der Leistungsmotivation von 1
2
3
So heißt es bei den Empfehlungen des Arbeitsstabes des Forum Bildung: „Weichen für Bildungschancen und damit für Lebenschancen werden bereits früh gestellt. Insbesondere die Motivation und die Fähigkeit zu kontinuierlichem und selbst gesteuertem Lernen sind früh zu wecken. Neben dem wichtigen Lernen in der Familie sind die Möglichkeiten der Kindertageseinrichtungen zur Unterstützung früher Bildungsprozesse deutlich besser zu nutzen. Die Bedingungen für individuelle Förderung in der Grundschule müssen erheblich verbessert werden, damit alle Kinder ihre Fähigkeiten, ihre Interessen und ihre personale und soziale Identität entwickeln können“ (Arbeitsstab Forum Bildung 2001: 5). Ähnliche Forderungen stellte Gehrken (1972) bereits auf der Tagung des UNESCO-Instituts für Pädagogik vom 22. bis 26. Juni 1970 in Hamburg. Neben der Zusammenfassung aller bestehenden Einrichtungen der Elementarbildung zu einem einzigen Gesamtbereich forderte er die Erweiterung der Ausbildung von sozialpädagogischen Fachkräften, die Finanzierung des Besuchs dieser Einrichtungen nach dem BAföG-Modell, die strikte Trennung von Kompetenzen zwischen den Trägern vorschulischer Fördereinrichtungen und die Reform der Grundschule (Gehrken 1972: 72). So erklärte im Jahre 1970 der Deutsche Bildungsrat Kindergarten und Vorschule zur ersten Stufe des Bildungssystems. Danach erfolgte ein flächendeckender Ausbau von Kindergartenplätzen (siehe Kreyenfeld in diesem Band).
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Schülern und späteren Erwachsenen gelegt werden (Heckhausen 1969: 207). Eine vorschulische Bildung würde daher eine beschleunigte intellektuelle Entwicklung bedeuten, die auch der Höhe des intellektuellen Niveaus zu späteren Zeitpunkten im Lebenslauf zugute kommt. Sie fördere die Art und Ausprägung kognitiver Stile bei der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen wie auch die Art und Ausprägung der andauernden Leistungsmotivation in positiver Weise. Und schließlich präge sie eine positive Wertschätzung von Anstrengungen in bestimmten Sachbereichen. „Will man in diesen vier Hinsichten die Entwicklung fördern, so muss man es in dieser Altersperiode und in systematisch gezielten Weisen tun, um das Anregungspotenzial der Elternhäuser in wichtigen Punkten zu ergänzen. Das könnte durch keine anderen Maßnahmen so nachhaltig bewirkt werden wie durch das institutionalisierte Anregungsangebot einer Vorschule. Ihr Ziel wäre es, eine frühkindliche Entwicklungsförderung sicherzustellen, die das durchschnittliche Maß des in den Elternhäusern Erreichten übersteigt sowie insbesondere das Defizit an Anregungspotenzial in den unteren Sozialschichten und jenen Sozialgruppen ausgleicht, deren soziokulturelles Milieu die Entfaltung der kindlichen Potenzialitäten schon in den ersten Lebensjahren vermindert. Das betrifft vor allem die großstädtischen Wohngegenden der unteren Sozialschichten sowie auch die ländlichen Streusiedlungen und Kleingemeinden. Die Vorschule soll nicht die Familie ersetzen, sondern nur in einigen Bereichen ergänzen“ (Heckhausen 1969: 207-208).4 Damit der Ausgleich ungünstiger Sozialisationen in den Elternhäusern der unteren Sozialschichten, insbesondere der Arbeiterschichten, gelingt, schlug Heckhausen (1969: 208) auch vor, dass der Eintritt des Kindes in die vorschulischen Einrichtungen im vierten Lebensjahr erfolgen solle und dass das tägliche Zeitpensum zwischen 3 und 5 Stunden betragen solle. Das Curriculum sollte sowohl auf die beschleunigte Wissensaneignung als auch auf das Erlernen von Lernfähigkeit und Lernstrategien ausgerichtet sein. Ein Schwerpunkt wäre dabei auf die Sprach4
Ähnliche Überlegungen stellen Bos et al. (2003: 135-136) in der IGLU-Studie vor dem Hintergrund, dass der Besuch einer vorschulischen Einrichtung die Lesekompetenzen von Grundschülern bestärken, an: „Nach wie vor ungeklärt ist jedoch die Frage, ab wann mit der Leseförderung zweckmäßigerweise begonnen werden sollte und ob unter Leseförderung auch die Vorbereitung auf den Schriftspracherwerb einbezogen wird. Bisherige Erfahrungen verweisen darauf, dass im Kindergarten und der Vorschule eine sanfte und gut integrierte Einbeziehung von lesevorbereitenden Elementen (ohne hier in eine an schulischen Arbeitsweisen orientierte Arbeitsblattstrategie zu verfallen) auch zur Vorbereitung auf das Leselernen in der Grundschule sinnvoll ist. Ein derartiges Konzept sollte die Förderung der mündlichen Sprache (lautreines Sprechen) und der Kommunikationsfähigkeit ebenso umfassen wie das Vorlesen aus einer Reihe von Büchern unterschiedlicher Inhalte, sodass Kinder Lust auf eigenes Lesen bekommen und mit Schriftsprache als einer besonderen Sprachform vertraut werden“. Zudem sollten Sprachspiele, Malen und Zeichnen die Sprachentwicklung, Schreibhaltung und Feinmotorik unterstützen, die gerade für Kinder aus bildungsfernen Sozialschichten eine gute Voraussetzung für den schulischen Schriftspracherwerb wären (dies.: 136).
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förderung, die Förderung des Verstehens von Symbolen und die Anfänge einer Leseförderung zu legen. „Die landläufige Kindergartenpädagogik scheint [...] wenig geeignet, die Möglichkeiten einer optimalen Wechselwirkung von intrinsischer Motivation und Funktionsübung auszuschöpfen. Der Kindergarten ist immer noch zu sehr ‚Bewahranstalt’“ (Heckhausen 1969: 209).5 Notwendig sei daher, so damals Heckhausen (1969), die generelle Bereitschaft, die vorschulische Erziehung mit neuen Zielsetzungen zu versehen und sie als ein Förderprogramm zur Herausbildung günstiger kognitiver Lernstile und zur Vermittlung sozialer Kompetenzen zu definieren. Die Vorschule soll eine Anregungsinstitution für Kinder im Lebensalter von drei bis fünf Jahren werden, in der insbesondere Kindern aus unteren Sozialschichten Entfaltungsmöglichkeiten zuteil werden, unabhängig vom soziokulturellen Kontext. Der Erstunterricht der Vorschule ist darauf auszurichten, Potenziale für die weitere Schulausbildung zu wecken und zu kanalisieren. Daher ist die Vorschule institutionell und strukturell auszuweiten, die Aus- und Weiterbildung von Kindergärtnerinnen zu verbessern und die ungünstige berufliche Selektion in eine unterbezahlte Tätigkeit zu verändern. Insgesamt ist es Ziel solcher Empfehlungen, primäre Herkunftseffekte auszugleichen (vgl. Heckhausen 1969: 224225). Ob diese pessimistische Vermutung von Heckhausen (1969) über die geringe Effektivität von „Kinderbewahranstalten“ immer noch zutreffend ist, wenn sie jemals uneingeschränkt zutreffend war, kann nur durch eine empirische Überprüfung beantwortet werden (vgl. Tietze, Roßbach und Grenner 2005). Einerseits könnte sich der Vorwurf, Kindergärten oder andere vorschulische Betreuungseinrichtungen einschließlich der Vorschule seien als Bewahranstalten lediglich (sozial fürsorgerische) „Schonräume“, die aus dogmatischen Gründen eine Verschulung der Kindheit verhindern sollen, als überzogen herausstellen, wenn die soziale Selektivität des Besuchs von vorschulischen Einrichtungen kontrolliert wird. So stellen beispielsweise Bos et al. (2003: 129) bei den ersten Auswertungen der IGLU-Studie, einem internationalen Vergleich von Schülerleistungen am Ende der vierten Jahrgangsstufe, fest, dass gerade Kinder aus Arbeiterschichten bessere Lesekompetenzen aufweisen, wenn sie mehr als ein Jahr den Kindergarten besucht haben. Andererseits wäre für die beim Bildungszugang und -erwerb in der Regel benachteiligten Kinder aus den Arbeiterschichten oder mit Migrationshintergrund 5
Die Praxis der vorschulischen Erziehung in der Bundesrepublik Deutschland war bis Ende der 1960er Jahre vornehmlich dadurch gekennzeichnet, dass den Kindern ein Schonraum geboten werden müsse, der eine ungestörte Entfaltung und Reifung ihrer Fähigkeiten sicherstelle und der einer Verschulung der Kindheit entgegenwirken solle (vgl. Tietze, Roßbach und Grenner 2005). Jedoch bleibt bei dieser pädagogischen Sichtweise der frühe Lern- und Wissensdrang der Kinder unberücksichtigt. Hingegen verweisen Bos et al. (2003: 127) darauf, dass Kindergärten heutzutage nicht nur als Kinderaufbewahrungsanstalten, sondern auch als pädagogische Einrichtungen anzusehen sind. Durch einen Paradigmawechsel in der vorschulischen Erziehung wurden im Zuge der Bildungsreform verschiedene curriculare Ansätze eingeführt (vgl. Roßbach 2003).
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nicht von vornherein ausgeschlossen, dass diese vorschulische Kinderbetreuung trotz all ihrer Defizite positive Bildungseffekte hat – sei es, dass im Umgang mit Kindern aus höheren Sozialschichten soziale Kompetenzen gelernt werden, die später in der Schule nachgefragt werden, oder sei es, dass über Kontakte mit anderen Kindern die deutsche Sprache eingeübt wird. Um diesen Sachverhalt zu klären, gehen wir vor dem Hintergrund früherer und gegenwärtiger Debatten über die „deutsche Bildungsmisere“ (Adam 2002) in unserem Beitrag der Frage nach, ob die Betreuung, Erziehung und Bildung im Elementarbereich – wir beschränken uns dabei auf den Besuch von Einrichtungen der vorschulischen Kinderbetreuung – den bildungspolitisch erhofften positiven Einfluss auf die Bildungschancen und die dahinter stehende Leistungsentwicklung hat. Hierbei konzentrieren wir uns aus bereits genannten Gründen auf Kinder aus den unteren und mittleren Arbeiterschichten, die zumeist in die Hauptschule wechseln und dort überrepräsentiert sind (Solga und Wagner 2001: 109). Schließlich schließen wir im Sinne kumulativer Bildungsforschung mit Querund Längsschnittdaten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) an die empirische Studie an, die von Büchel et al. bereits im Jahre 1997 vorgelegt wurde. Ziel ist es, zu klären, ob die vorschulische Bildung in bedeutsamer Weise Herkunftseffekte beim Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I ausgleicht. Die Untersuchung ist als eine ‚pre-evaluation study’ zu verstehen, in der eruiert werden soll, ob vorschulische Kinderbetreuung als ein sozial- und bildungspolitisches Förderprogramm zum Abbau herkunftsbedingter Chancenungleichheit beiträgt und ein geeignetes Instrumentarium für die Leistungs- und Kompetenzsteigerung bei einheimischen Kindern und Migrantenkindern ist. 2.
Theoretischer Hintergrund
Die Selektion von Arbeiterkindern in die Hauptschulen liegt allerdings nicht nur an unzureichenden Ressourcen, die für weiterführende Bildung mobilisiert werden könne oder an den relativ niedrigen Bildungsaspirationen in den Arbeiterschichten oder daran, dass sich Arbeiterhaushalte am Ende der Grundschulzeit vornehmlich für die Hauptschule als weiteren Bildungsweg für ihre Kinder entscheiden, sondern auch in der institutionellen, hauptsächlich leistungsbezogenen Segregation des deutschen Schulsystems, die folglich zur sozialen Homogenisierung der Schülerschaft in der Hauptschule geführt hat (Solga und Wagner 2001). Empirische Befunde belegen, dass Arbeiterkinder – und hierbei vor allem Kinder gelernter sowie un- und angelernter Arbeiter – nicht nur vergleichsweise schlechtere Schulnoten erzielen (Becker in diesem Band), sondern auch bei ausreichenden Schulleistungen seltener Bildungsempfehlungen für die weiterführenden Schullaufbahnen in der Sekundarstufe I erhalten (Ditton in diesem Band; Lehmann und Peek 1997). Da die schulischen Leistungen von Arbeiterkindern und die darauf basierenden Bewertungen durch Lehrkräfte mit der sozialen Herkunft der Schulkinder zusammenhängen, besteht ihre Chancenungleichheit im Schulsystem im bildlichen
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Becker und Lauterbach
Sinne darin, dass die Startchancen beim Hundertmeterlauf insofern ungleich nach sozialer Herkunft verteilt sind, als dass die Arbeiterkinder mit zu groß geratenen Schuhen ohne Schnürsenkel an der Startlinie stehen, während die Kinder aus höheren Sozialschichten mit bester Ausstattung einen nicht einholbaren Vorsprung von über 50 Meter haben, bevor überhaupt der Startschuss gefallen ist. Für die Herstellung gerechter Startchancen scheint es daher insbesondere für die Arbeiterkinder, die beim Bildungszugang und Erwerb von Bildungszertifikaten im Vergleich zu den mittleren und höheren Sozialschichten besonders benachteiligt sind, notwendig zu sein, verstärkt in die vorschulische Bildung zu investieren. Nachfrage nach vorschulischen Bildungsformen Neben dem strukturellen Angebot an vorschulischer Erziehung und Bildung ist die Nutzung solcher Angebote wie die Qualität dieser Betreuungseinrichtungen wie Kindergärten, Krippenplätze und Kindertagesstätten ausschlaggebend für Bildungschancen und auf Bildung aufbauende sozioökonomische Lebenschancen (Weißhuhn 2001: 8; Tietze 2002: 507, 510; Tietze, Roßbach und Grenner 2005).6 Aus humankapitaltheoretischer Sicht scheinen zwei Argumentationsstränge sinnvoll, um die Nutzung vorschulischer Bildung und ihre soziale Selektivität zu beschreiben. Zum einen weisen Büchel et al. (1997: 528) aus Sicht der klassischen Humankapitaltheorie darauf hin, dass auch frühe vorschulische Investitionen der Eltern in das Humankapital ihrer Kinder rational sind, um ihre Bildungschancen und späteren Einkommen zu verbessern. Zum anderen bietet die vorschulische Bildung den erwerbstätigen Müttern die Möglichkeit, auf einem kostengünstigen Wege die Renditen ihrer eigenen Humankapitalinvestitionen langfristig zu sichern (Kreyenfeld et al. 2002: 205-206). Voraussetzung dafür ist die erfolgreiche Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die durch entsprechende Angebote an außerfamiliärer institutioneller Kinderbetreuung vereinfacht wird und den erwünschten Nebeneffekt hat, dass Opportunitätskosten wegen Reduzierung oder Aufgabe einer Erwerbstätigkeit vermieden werden können (Spieß und Tietze 2002: 143-144). Zudem erfolgt dadurch auch der Erwerb finanzieller Ressourcen, die wiederum in die Ausbildung der Kinder investiert werden können. Somit können Grundlagen 6
Während in den 1960er Jahren die Versorgungsquote – d.h. die Relation zwischen Kindergartenund Vorschulplätzen und den 3- bis 6-jährigen Kindern – noch 30 Prozent betrug, stieg sie auf fast 83 Prozent im Jahre 1990 an. Nach der deutschen Einheit stieg sie wegen des Geburtenrückgangs und des großen Angebots aus DDR-Zeiten auf 105 Prozent im Jahre 1998 an (Westdeutschland: 102 Prozent und Ostdeutschland: 132 Prozent) (siehe hierzu Statistisches Bundesamt 1994: 48; Statistisches Bundesamt 2002: 57; Roßbach 2003). Unter Qualitätsgesichtspunkten wird hervorgehoben, dass Kindergärten auf die Förderung des Wohlbefindens und der Entwicklung von Kindern ausgerichtet sein sollte und die Familie bei Erziehungs- und Betreuungsaufgaben mit pädagogisch professionellem Personal unterstützen sollten. Denn eine hohe pädagogische Qualität von vorschulischer Erziehung und Betreuung in Kindertageseinrichtungen wirkt sich positiv auf die frühkindliche Entwicklung aus (Tietze 2002).
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dafür geschaffen werden, dass der intergenerationale Transfer des Humankapitals von der Eltern- auf die Kindergeneration erfolgreich verläuft. Aus humankapitaltheoretischer Sicht erklärt sich die soziale Selektivität der Nutzung vorschulischer Kinderbetreuung aus der Relation verfügbarer Ressourcen und erwartetem Nutzen (Becker 1993). Haushalte mit höheren Einkommen investieren nicht nur eher in die allgemeine Ausbildung ihrer Kinder, sondern auch eher in die gebührenpflichtige vorschulische Kinderbetreuung, weil anfallende Investitions- und Opportunitätskosten geringer sind als der erwartete Nutzen (Becker 2000a). Eltern mit höherem Bildungsniveau sind nicht nur eher mit dem Bildungssystem und dem Wert von frühen und stetigen Humankapitalinvestitionen vertraut, sondern auch eher in der Lage, Bildungsrenditen langfristig zu diskontieren. Dies gilt insbesondere für erwerbstätige Mütter, die in der Regel ein höheres Bildungsniveau haben, und für beruflich erfolgreiche Haushalte, die den höheren Sozialschichten angehören und am Bildungserfolg ihrer Kinder besonders interessiert sind.7 Diese Familien werden eher bereit sein, in die vorschulische Bildung ihrer Kinder zu investieren. Je größer ein Haushalt ist, umso eher sind Alternativen für eine Betreuung jüngerer Kinder innerhalb des Haushaltes vorhanden oder desto größer sind auch bei einer höheren Kinderzahl die anfallenden Kosten für eine außerhäusliche Kinderbetreuung. In diesem Fall ist es wahrscheinlich, dass Investitionen in die vorschulische Bildung ausbleiben. Wirkungen vorschulischer Erziehung, Betreuung und Bildungsteilhabe Büchel et al. (1997) weisen darauf hin, dass in Deutschland die Studien über die Wirksamkeit institutioneller Betreuung von Kindern für Bildungschancen rar sind (zum aktuellen Forschungsstand siehe: Spieß et al. 2003: 256-258; Tietze 2002; Roßbach 1996: 286-287). Fasst man angesichts spärlicher Untersuchungen für Deutschland die US-amerikanischen Studien zu Bildungseffekten vorschulischer Erziehung und Bildung zusammen (Entwisle und Alexander 1993: 409), dann belegen sie zumeist für Kinder und Jugendliche aus besonders benachteiligten Sozialschichten direkte kurzfristige Effekte von Kindergartenbesuch bei und nach der Einschulung sowie langfristige Bildungseffekte für deren späteren Schulerfolg (Barnett 1992; Butler et al. 1985). So stellen beispielsweise Entwisle et al. (1987: 358-362) in einer Studie fest, dass vor allem sozial benachteiligte Kinder vom Kindergarten- und Vorschulbesuch profitieren: In der Primarstufe weisen sie verbesserte Lese- und Mathematik-Leistungen auf und bleiben seltener vom Unterricht fern. Diese Schuleffekte sind deswegen für besonders sozial benachteiligte 7
Aus werterwartungstheoretischer Sicht könnte man zusätzlich argumentieren, dass gerade statushöhere Sozialschichten über vorschulische Humankapitalinvestitionen sicher gehen wollen, dass der avisierte Bildungserfolg und damit auch der Bildungsnutzen garantiert ist. Diese Strategie hat dann das Ziel, dass der Nachwuchs ausreichend gute Schulleistungen an den Tag legt und damit zumindest der intergenerationale Statuserhalt über privilegierte Bildungs- und Arbeitsmarktchancen wahrscheinlich ist (vgl. Becker 2003).
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Kinder aus den unteren Sozialschichten signifikant, weil ungünstige Einflüsse ihrer sozialen Herkunft kompensiert werden (Barnett 1995). So scheint eines der Ziele staatlicher Head-Start-Vorschulprogramme – nämlich die Reduktion von Bildungsdefiziten und Bildungsungleichheiten von besonders benachteiligter Kinder aus ärmlichen Sozialverhältnissen – erreicht zu sein, indem die Fähigkeiten armer Kinder aus unteren Sozialschichten verbessert werden, so dass sie die gleichen Lernvoraussetzungen und Startchancen wie sozial privilegierte Gleichaltrige aufweisen (Currie und Thomas 2000: 756; Currie 2001: 213; Garces, Thomas und Currie 2002: 999). Diese Befunde haben auch dann Bestand, wenn die soziale Selektivität der Vergleichs- und Kontrollgruppe berücksichtigt wird (Currie und Thomas 1995: 341-342). Allerdings zeigen neuere Studien, dass diese positiven Bildungseffekte insbesondere bei den schwarzen Kindern mit der Zeit nach der dritten Schulklassenstufe verschwinden, da sie im Vergleich zu den weißen Kindern aus ähnlich nachteiligen Soziallagen eher Schulen von minderer Qualität besuchen (Currie und Thomas 2000: 772; Barnett 1995). Weiße Teilnehmer hingegen haben eine signifikant niedrige Rate des vorzeitigen Schulabgangs (Currie 2001: 225; Garces, Thomas und Currie 2000). Neben kurzfristigen Effekten belegen Langzeituntersuchungen wie etwa das ‚High/Scope Perry Preschool Project’ langfristige Bildungseffekte frühkindlicher Förderung etwa, dass sich der Besuch von Kindergarten und Vorschule in bessere Bildungschancen und höhere Bildungserfolge wie etwa der erfolgreiche Abschluss der ‚High School’ niederschlägt. So hatten Teilnehmer vergleichsweise geringere Abbruchquoten, bessere Erwerbs- und Berufschancen, höhere Einkommen und seltener Brüche im Lebenslauf als Nichtteilnehmer (Entwisle und Alexander 1993; siehe auch Campbell et al. 2002: 44). Im Vergleich zur Halbtagsbetreuung in Kindergarten und Vorschule verringert die Ganztagsbetreuung die Wahrscheinlichkeit für Zurückstufung oder Einstufung in spezielle Lerngruppen für Leistungsschwache sowie Wiederholung einer Klassenstufe in der Grundschule um mehr als die Hälfte; dies ist auch dann der Fall, wenn die Lernvoraussetzungen von Schulkindern und andere Schlüsselfaktoren ihrer schulischen Leistungen kontrolliert werden (Entwisle und Alexander 1999: 29). Zudem wiesen Teilnehmer am ‚Perry Preschool Program’ sowohl eine größere Motivation, sich am Unterricht und Schulgeschehen zu beteiligen als auch höhere Bildungsaspirationen auf. Auch für die Eltern von Programmteilnehmern wurden höhere Zufriedenheit mit der schulischen Performanz ihrer Kinder und höhere Bildungsaspirationen festgestellt. Die Teilnehmer selbst erledigten eher die Schulaufgaben und zeigten eine höhere Ausdauer bei Aufgabenlösungen. Auch im Sozialverhalten wurden Unterschiede festgestellt: So neigten Teilnehmer seltener zu antisozialen und delinquenten Verhaltensweisen. Ähnliche Befunde ergeben sich wie beim ‚Carolina Abecedarian Project’ auch aus dem ‚Chicago Child-Parent Center Program’, das zum Unterschied von ‚Perry Preschool’ eine flächendeckende staatliche Intervention darstellt: Alle teilnehmenden Kinder nehmen ab dem Alter von drei Jahren
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für zwei Jahre an einem intensiven Kindergartenprogramm teil und erhalten im Unterschied zu einer Kontrollgruppe bis zum Alter von 9 Jahren zusätzliche Unterstützungsleistungen (Reynolds 1998). Dieses Programm fördert den Bildungserfolg (z.B. höhere Leseleistungen) und reduziert die Wahrscheinlichkeit für vorzeitige Schulabgänge. Des Weiteren stellt Reynolds (1998) für die Siebtklässler fest, dass sie vergleichsweise seltener zurückgestuft oder straffällig werden. Temple, Reynolds und Miedel (2000) kommen für die Teilnehmer am Ende der ‚high school’ zum Ergebnis, dass die Teilnehmer signifikant länger in Ausbildung verbleiben, die Abbruchrate um 24 Prozent gesenkt wird und die positiven Bildungseffekte vorschulischer Intervention mit der Teilnahmedauer ansteigt (Reynolds et al. 2001). Bei einer Evaluation des ‘Carolina Abecedearian Projects’, einer Langzeitstudie über die Konsequenzen früher Bildungsinterventionen für Kinder aus armen Familien zeigen Campbell et al. (2002) die gleichen positive Bildungseffekte wie Reynolds et al. (2001) auf. Des Weiteren belegen Ramey et al. (2000: 5) mit den gleichen Daten, dass vor allem besonders benachteiligte Teilnehmer Vorteile bei ihrer kognitiven und persönlichen Entwicklung gegenüber der Kontrollgruppe aufwiesen. Schließlich kommen Entwisle und Alexander (1999: 35) vor dem Hintergrund US-amerikanischer Evaluationsstudien zum Schluss, dass ein mangelndes Angebot vorschulischer Betreuung in Kindergärten und Vorschulen zur Verschärfung individueller und herkunftsbedingter Probleme in der Schule und im Bildungsverlauf führen kann. Die soziale Selektivität bei der Nutzung des Kindergarten- und Vorschulangebots verstärken vorhandene soziale Ungleichheiten von Bildungschancen, während der Besuch vorschulischer Einrichtungen zum einen den Übergang in die Grundschule – einer kritischen wie sensiblen Bildungsphase für die kognitive und soziale Entwicklung von Kindern im Alter von drei bis sieben Jahren – erleichtern und zum anderen von der Einschulung an über den weiteren Bildungsverlauf zu kurz- wie langfristig positiven Bildungseffekten führen kann (Entwisle und Alexander 1993). Allerdings ist bei der Evaluation von US-amerikanischen Studien zu berücksichtigen, dass sie entweder mit kleinen wie selektiven Stichproben (‚Perry Preschool Project’ mit 123 Kindern oder ‚Carolina Abecedearian Project’ mit 104 Teilnehmern bis zum Alter von 21 Jahren) armer, wenig intelligenter und farbiger Schulkinder aus unteren Sozialschichten (etwa Kinder un- und angelernter Arbeiter oder von Langzeitarbeitslosen bzw. Erwerbslosen) zumeist im Querschnitt durchgeführt wurden oder teilweise methodisch fragwürdig sind, wenn in einigen Fällen gar Kontrollgruppen fehlten oder die zufällige Aufteilung von Kontrollund Untersuchungsgruppe nicht gewährleistet war (Schweinhart und Weikart 1983). Darüber sind die Befunde von Head-Start-Programmen vor dem Hintergrund zu bewerten, dass es sich hierbei nicht nur um vorschulische Programme, sondern um intensive wie massive sozialpolitische Interventionen für arme Familien handelt.
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Für Deutschland stellen Büchel et al. (1997) mit Daten des SOEPs fest, dass es zum einen Hinweise auf vorteilhafte Effekte der vorschulischen Bildung für den späteren Bildungserfolg am Ende der Grundschulzeit gibt, und dass zum anderen nur für Ausländerkinder in signifikanter Weise die erwarteten Bildungseffekte auftreten. So wechseln Ausländerkinder mit vorschulischer Bildung seltener in die Hauptschule über. Sie haben signifikant bessere Chancen, in die Realschule oder in das Gymnasium zu wechseln als die Ausländerkinder, die keine der vorschulischen Bildungseinrichtungen besucht haben. Bei den westdeutschen Schulkindern hingegen werden Effekte der vorschulischen Bildung durch andere Einflüsse der sozialen Herkunft nivelliert. Für die einheimischen Schulkinder kann dieser Befund – wobei die schulische Performanz der Kinder mit den Daten des SOEPs nicht kontrolliert werden kann – in dreifacher Hinsicht interpretiert werden. (1) So führen Büchel et al. (1997: 537538) an, dass den deutschen Eltern die Bedeutung des Kindergartens weitgehend bekannt sei und daher die überwiegende Mehrheit deutscher Kinder vor der Einschulung einen Kindergarten besuche. So wäre wegen diesem Mengenphänomen zu vermuten, dass der Kindergartenbesuch keinen zusätzlichen Vorteil mehr bietet, und daher ausschließlich die bekannten Herkunftseffekte die späteren Bildungschancen bestimmen (siehe auch Heckhausen 1974: 128). (2) Allerdings könnte dieser Befund auch ein statistisches Artefakt sein, so die Autoren, weil mangels Informationen im Datensatz des SOEPs die Qualität der besuchten vorschulischen Einrichtungen nicht kontrolliert werden konnte.8 So weist beispielsweise Weißhuhn (2001) auf den Stellenwert der Qualität dieser Versorgungseinrichtungen hin, für die auch die amtliche Statistik keine Daten liefert. In seiner Studie stellt Weißhuhn (2001: 11-12) fest, dass die Kategorie der mittleren Qualität bei den vorschulischen Einrichtungen überwiege, kommt aber zum Ergebnis, „dass die Qualität des Kindergartens zwar einen gewissen positiven Effekt auf die Entwicklung des Kindes besitzt, aber aufgrund der überwiegend mittleren Qualität der Kindergärten andere Faktoren, vornehmlich der Familienhintergrund, die Kindesentwicklung dominieren“ (Weißhuhn 2001: 13; siehe auch Tietze 2002: 507). (3) Drittens kann noch hinzugefügt werden, dass mit den SOEP-Daten die Effekte der Erziehung im Elternhaus sowie des Unterrichts und des Schulalltags nicht kontrolliert werden können. Einerseits gibt es empirische Belege dafür, dass institutionelle Bildungseffekte durch Einflüsse des Elternhauses konterkariert werden können (Entwisle, Alexander und Steffel 1997).
8
Bei Qualitätsstandards sind etwa Aspekte wie Gruppengrößen, Erzieher-Kinder-Relationen oder die räumlichen Bedingungen von Bedeutung. Neben dieser Strukturqualität verweist Tietze (2002) neben der pädagogischen Prozessqualität („Erziehung“) auf die Orientierungsqualität (Lernen von sozialen Kompetenzen, Bewältigung von Lebenssituationen, Sprachfähigkeiten) von institutioneller Betreuung hin.
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Theoretisch erwartete Bildungseffekte vorschulischer Betreuung für Arbeiterkinder Vorschulische Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen können deswegen für sozial benachteiligte Kinder positive Bildungseffekte zeitigen, indem vergleichsweise ungünstige sozialisatorische Einflüsse des Elternhauses auf die individuellen Aspirationen, Motivationen, Kompetenzen und schulischen Leistungen – also primäre Herkunftseffekte – abgeschwächt werden (vgl. Boudon 1974). Die Ursachen für nachteilige Bildungschancen von Arbeiterkindern, die im Elternhaus und damit im Vorfeld der Einschulung und Ausbildung liegen, können offensichtlich nicht in ausreichendem Maße durch die Primarschule kompensiert werden (vgl. Ditton in diesem Band; Bos et al. 2003; Alexander und Entwisle 2002). Weil ein Ausgleich ungleich verteilter Startchancen durch die Schule weitgehend ausbleibt, wirkt sich die soziale Herkunft weiterhin sowohl auf die schulische Performanz als auch auf den Bildungsweg und den daraus resultierenden Bildungserfolg aus (Abbildung 1). Zwischen Sozialschichten differierende Bildungsentscheidungen am Ende der Grundschulzeit – also sekundäre Herkunftseffekte – sind eine weitere wichtige Ursache für Bildungsungleichheiten nach sozialer Herkunft (Breen und Goldthorpe 1997; Boudon 1974). So entscheiden sich Eltern aus den Arbeiterschichten auch vor dem Hintergrund der schulischen Leistungen ihrer Kinder mit deren Platzierung in die Haupt- oder Realschule weitaus häufiger für kürzere Schullaufbahnen in der Sekundarstufe I (Becker 2000). Diese elterliche Bildungsentscheidung erfährt in den Bundesländern noch eine institutionelle Ergänzung, in denen der Bildungsempfehlung von Lehrern in den abgebenden Grundschulen ein großes Gewicht beim Bildungsübergang am Ende der Primarschulzeit zukommt. Nicht nur, dass Arbeiterkinder im Vergleich zu Schulkindern aus höheren Sozialschichten weitaus häufiger Empfehlungen für die Hauptschule erhalten, bestimmt dann ihre geringeren Bildungschancen, sondern auch dass ihre Eltern diese schulische Entscheidung eher akzeptieren und seltener dagegen Einspruch erheben (Ditton in diesem Band). Das Zusammenspiel dieser Herkunftseffekte führt in einem stratifizierten Bildungssystem mit frühzeitigen Übergängen zur systematischen Benachteiligung von Arbeiterkindern beim Bildungserwerb: Soziale Ungleichheiten von Bildungschancen sind aggregierte Folgen elterlicher Bildungsentscheidungen und der Schulleistungen, die zwischen den Sozialschichten variieren, sowie der leistungsbezogenen Sortierung und Selektion durch das Bildungssystem, die für diese Sozialgruppen unterschiedliche Konsequenzen für den weiteren Bildungsverlauf haben kann. Soziale Ungleichheiten von Bildungschancen zu Ungunsten von Arbeiterkindern sind daher ein aggregiertes Ergebnis des Zusammenwirkens primärer und sekundärer Herkunftseffekte (Becker 2003). Vorschulische Bildung könnte aus dieser Sicht für diese benachteiligten Schulkinder geeignet sein, sowohl unmittelbar die primären und sekundären Herkunftseffekte zu kompensieren als auch vermittelt über abgeschwächte primäre
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Becker und Lauterbach
Herkunftseffekte zusätzlich die soziale Disparität elterlicher Bildungsentscheidungen zwischen den Sozialschichten abzuschwächen (siehe Abbildung 1). Abbildung 1: Heuristisches Modell zur Erklärung der Bildungseffekte vorschulischer Erziehung und Betreuung
Kurz- und langfristige Effekte auf schulische Leistungen und Kompetenzentwicklung können nicht nur elterliche Bildungsaspirationen und -entscheidungen, sondern auch die gezielte Förderung sozial benachteiligter Kinder durch Lehrer in positiver Weise beeinflussen. Des Weiteren legen empirische Befunde aus USamerikanischen Studien nahe, dass der Besuch vorschulischer Einrichtungen – indirekt über günstige schulische Performanz und Schulleistungen sowie direkt über Attribution von Bildungsmotivation und Leistungswille – die Leistungsbeurteilung durch Lehrer und Lehrerinnen beeinflussen kann. Dadurch bei Eltern wie bei Lehrkräften gesteigertes Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Kinder erhöht wiederum deren schulische Performanz (Entwisle 1995: 135-139).
Vom Nutzen vorschulischer Erziehung und Elementarbildung
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Hieraus wird folgende Hypothese abgeleitet: Es ist anzunehmen, dass vorschulische Erziehung, Betreuung und Bildung in Kinderkrippen, Kindergärten, Kindertagesstätten oder Vorschulen sowohl die primären und sekundären Herkunftseffekte als auch die institutionellen Sortier- und Selektionsleistungen der Schule beeinflussen und somit in besonderer Weise die Bildungschancen sozial benachteiligter Schulkinder aus den Arbeiterschichten fördern. Vorschulische Erziehung und Elementarbildung dürfte für diese Kinder bedeutsamer sein, um Bildungschancen zu verbessern, während Kinder aus höheren Sozialschichten (insbesondere Kinder aus den unteren und oberen Dienstklassen) aufgrund der Erziehung und Sozialisation im Elternhaus vergleichsweise privilegierte Bildungschancen haben, die durch vorschulische Kinderbetreuung in einem deutlich geringeren Maße tangiert wird. Da im Folgenden angesichts herangezogener Sekundärdaten die Modifikation dieser Herkunftseffekte nur indirekt erschlossen werden kann, wird vermutet, dass vorschulische Bildungsmaßnahmen generell zu verbesserten Bildungschancen von Arbeiterkindern führen, ohne dass die UrsacheWirkungszusammenhänge einschließlich der dafür verantwortlichen sozialen Mechanismen direkt beobachtet werden können. 3.
Messung und Interpretation der Wirksamkeit von vorschulischer Bildung – theoretische, methodische und statistische Schwierigkeiten
Die empirische Überprüfung der Konsequenzen von vorschulischer Bildung für spätere Bildungs- und Lebenschancen kann man durchaus als ein sozial- und bildungspolitisches Experiment ansehen, die bei Umfragedaten in einem quasiexperimentellen Design vorgenommen wird (Heckman und Robb 1985; Cook und Campbell 1979). Bei der Beurteilung der Wirksamkeit vorschulischer Kinderbetreuung treten jedoch methodische Schwierigkeiten auf, wenn Umfragedaten verwendet werden, die eine zufällige Aufteilung von Untersuchungs- und Kontrollgruppen nicht zulassen, wie dies für reine Experimente aber notwendig ist (siehe dazu im Detail: Heckman und Smith 1996; Heckman und Hotz 1989). Dagegen können mit Experimentaldaten mehrstufige Bewertungs- und Entscheidungsprozesse beim Zugang zum Elementarbereich des Bildungssystems nicht simuliert werden. Da in wissenschaftlichen Erhebungen wie dem SOEP die Aufteilung von Untersuchungs- und Kontrollgruppe beim Zugang zu vorschulischen Einrichtungen nicht zufällig erfolgt, ist fraglich, ob die Wirkungen vorschulischer Kinderbetreuung ohne weiteres als Kausaleffekte interpretiert werden können. Ferner tritt bei der Evaluation der Konsequenzen von vorschulischer Bildung der Spezialfall des „Problems der kausalen Inferenz“ (Holland 1984) auf, dass man ein Kind niemals in den beiden Zuständen von Partizipation an vorschulischer Bildung und Nichtteilnahme beobachtet. Es kann nicht unmittelbar die Frage beantwortet werden, welche Auswirkung die Teilnahme an vorschulischer Bildung im Vergleich zur Nichtteilnahme an vorschulischer Bildung hat, wenn ein teilnehmendes Kind nicht daran teilgenommen hätte. Man weiß also nicht, welche
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Becker und Lauterbach
Bildungschancen die Vorschulkinder gehabt hätten, wenn sie nicht teilgenommen hätten. Deswegen kann nicht ohne weiteres der Nutzen von vorschulischer Kinderbetreuung durch einen einfachen Vergleich zwischen Teilnehmern und Nichtteilnehmern an vorschulischer Bildung ermittelt werden. Gehen wir von einer Ergebnisvariablen Yt aus, die für ein Kind im Falle einer vorschulischen Kinderbetreuung zu einem bestimmten Zeitpunkt t Yt1 und für ein Kind ohne Beteiligung an vorschulischer Bildung Yt0 ist, so kann deswegen der potenzielle Nutzeneffekt ¨t = Yt1 Yt0 nicht identifiziert werden. Auch für die Ermittlung der Wahrscheinlichkeit für eine vorschulische Kinderbetreuung Pr (D = 1Ňcit) – wobei D = 1 das Ereignis „Teilnahme an vorschulischer Bildung“ ist und cit erklärende Variablen für dieses Ereignis sind – treten wegen fehlender Informationen wie beim oben geschilderten Evaluationsproblem gravierende Schätzprobleme auf. Aufgrund des resultierenden „selection bias“ in der Verteilung der Effekte von vorschulischer Kinderbetreuung gilt daher: E (' | D 1, cit ) z E (Yt1 | D 1, cit ) E (Yt 0 | D
0, cit ) ,
d.h., der erwartete durchschnittliche Effekt der vorschulischen Bildung auf die späteren Bildungschancen ist nicht gleich der Differenz der Ergebnisvariablen für eine Teilnahme und Nichtteilnahme an vorschulischer Bildung, wie dies bei einem klassischen experimentellen Design der Fall wäre. Des Weiteren ist zu bedenken, dass man – verfügt man wie in unserem Fall nicht über perfekte Experimentaldaten – verzerrte Schätzergebnisse erhält, wenn man die Selektionsprozesse und soziale Selektivität beim Zugang zur vorschulischen Bildung nicht explizit kontrolliert. Deswegen verbietet es sich, Nichtteilnehmer ohne Kontrolle der Selektivität in der vorschulischen Kinderbetreuung als Kontrollgruppe heranzuziehen (Heckman 1992). So ist anzunehmen, dass höher gebildete Eltern oder erwerbstätige Mütter oder Haushalte mit höherem Einkommen ihre Kinder eher in die Einrichtungen vorschulischer Kinderbetreuung schicken als beispielsweise Eltern aus unteren Sozialschichten, die geringere ökonomische, soziale und kulturelle Kapitalstöcke aufweisen. Gerade höher gebildete Eltern kennen die Möglichkeiten und Auswirkungen der frühen vorschulischen Bildung besser als die weniger gebildeten Eltern. Erwerbstätige Mütter sind in der Regel höher gebildet und nutzen eher die Optionen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die durch die vorschulische Kinderbetreuung gegeben sind. Diese Eltern haben nicht nur die Ressourcen für die Nutzung von Angeboten der vorschulischen Bildung und Kinderbetreuung, sondern sie verfügen bereits über die Ressourcen, die zu privilegierten Bildungschancen ihrer Kinder führen – und zwar unabhängig davon, ob die Eltern ihre Kinder in die Kindergärten oder auf Vorschulen schicken oder nicht. So bleibt zunächst unklar, ob die besseren Bildungschancen ihrer Kinder kausal auf ihre vorschulische Bildung zurückgeführt werden können oder schlichtweg auf der begünstigenden Sozialisation im Elternhaus beruhen.
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Das damit verbundene Evaluationsproblem kann durch die Kontrolle sozialer Selektivität bei der Nutzung vorschulischer Kinderbetreuung und Bildung vor der Einschulung – also die zwischen Sozialschichten systematisch variierende Nutzung vorschulischer Erziehung, Betreuung und Bildung – zumindest teilweise gelöst werden (vgl. am Beispiel der beruflichen Weiterbildung: Schömann und Becker 2002; Becker und Schömann 1996). Es ist aber auch deutlich geworden, dass die Einbeziehung einer Dummy-Variablen in multivariate Schätzungen, die indiziert, ob ein Kind an vorschulischer Bildung teilgenommen hat, ein unzureichendes Vorgehen ist, weil sich damit erhebliche verzerrte Schätzergebnisse wegen des „selectivity bias“ ergeben (Maddala 1978: 426). Für die Lösung des angeführten Selektivitäts- und Evaluationsproblems in ökonometrischen Verfahren gibt es mittlerweile unterschiedliche Verfahren, die sich in ihrer Leistungsfähigkeit unterscheiden (Lechner 1998; Fitzenberger und Prey 1998). Angesichts dieser Arbeiten kann der Schluss gezogen werden, dass es nicht die Lösung gibt, sondern mehrere unterschiedliche Verfahren ihre Berechtigung haben. Die Lösung für das „selection bias problem“ liegt außerhalb der formalen Statistik. Weil der Prozess der Selektion eher ein theoretisches als ein statistisches Problem ist, kommt es darauf an, in theoretisch angemessener Weise den Selektionsprozess bei der Nutzung vorschulischer Kinderbetreuung zu modellieren. Ohne hinreichendes Wissen über die Art und Weise, wie Kinder in die vorschulischen Maßnahmen hineinselektiert werden, ist es nicht möglich, die Effekte vorschulischer Bildung hinreichend genau zu quantifizieren. Aber oftmals kennen wir diese Selektionsprozesse entweder zu wenig oder können sie mangels Informationen nicht ausreichend statistisch testen. Oder sie werden schlichtweg ignoriert wie im Falle der Studie von Büchel et al. (1997). Wir präferieren aus theoretischen und pragmatischen Gründen das von Heckman (1979) vorgeschlagene Verfahren zur Kontrolle von Stichprobenverzerrungen, das sich bereits in vielen bildungssoziologischen Studien bewährt hat (vgl. Becker 2003). Bei der Ermittlung des Nutzens vorschulischer Kinderbetreuung für den weiteren Bildungsweg wird im ersten Schritt der Selektionsprozess beim Zugang zur vorschulischen Bildung geschätzt. Die Schätzergebnisse für die sozial selektive Verteilung der Nutzung vorschulischer Kinderbetreuung gehen im zweiten Schritt als instrumentelle Variable in die Schätzung der Nutzenfunktionen ein – eben in das Modell für den Übergang von der Grundschule auf die weiterführenden Schullaufbahnen in der Sekundarstufe I (Heckman 1997).9 Damit ist es mög9
Die Schätzergebnisse für die Nutzung des Angebots an vorschulischer Bildung werden als so genannte inverse Mill’s Ratios (IMR) herausgeschrieben und bilden eine Variable, die dann als unabhängige Variable im Schätzmodell für die Effekte vorschulischer Bildung auf den Übergang von der Grundschule auf die weiterführenden Schullaufbahnen fungiert. Aus theoretischer Sicht dient das IMR als metrische Instrumental-Variable dazu, den kausalen Einfluss der mit dem Elternhaus verbundenen Ressourcen, Restriktionen und Aspirationen auf den Besuch vorschulischer Einrichtungen zu messen. Aufgrund der Möglichkeiten des Elternhauses ist von einer sozialen Se-
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Becker und Lauterbach
lich, den vermuteten positiven Effekt vorschulischer Kinderbetreuung auf die Bildungschancen zu beurteilen. 4.
Daten und Variablen
Datenbasis Da Längsschnittdaten benötigt werden, um Bildungseffekte vorschulischer Kinderbetreuung aufdecken zu können, wird für die empirischen Analysen das Sozioökonomische Panel (SOEP) verwendet (SOEP Group 2001). Im Rahmen dieses Panels werden seit 1984 jährlich die ein und dieselben privaten Haushalte und ihre Mitglieder in der Bundesrepublik Deutschland wiederholt befragt. Im Jahre 1990 wurde die bislang auf die Bundesrepublik beschränkte Erhebung auf das Gebiet der ehemaligen DDR ausgeweitet. Aus Gründen von Fallzahlen beschränken sich unsere Analysen auf den Westen Deutschlands. In Privathaushalten werden alle Personen befragt, die älter als 16 Jahre sind. Informationen über Kinder unter 16 Jahren werden über den Haushaltsvorstand festgehalten. Die Datenstruktur des SOEP ermöglicht es, die Angaben zur Sozialstruktur privater Haushalte mit Individualmerkmalen von Eltern und ihren Kindern zu verknüpfen. Somit sind systematische wie differenzierte Analysen des sozial selektiven, von den Ressourcen des Elternhauses abhängigen Zugangs zu vorschulischen Betreuungseinrichtungen und der Effekte vorschulischer Kinderbetreuung auf spätere Bildungschancen möglich. Für den Zugang zur vorschulischen Kinderbetreuung werden für den Zeitraum von 1984 bis 1995 die Kinder im Alter von drei bis sieben Jahren berücksichtigt, bevor sie eingeschult werden. Da die Bildungseffekte vorschulischer Kinderbetreuung gemessen werden, wenn die Kinder 14 Jahre alt sind, beschränkt sich unser Beobachtungsfenster auf die historische Periode von 1992 – in diesem Jahr sind die im Jahre 1984/85 eingeschulten Kinder 14 Jahre alt – bis 2003 – das Jahr, in welchem die um 1995 herum eingeschulten Kinder das Alter von 14 Jahren erreicht haben.10 Im Unterschied zu einer vorhergehenden Untersuchung wird
10
lektivität der Definition der Situation, ihrer Evaluation und der daraus folgenden Entscheidung für oder gegen eine vorschulische Bildung ihrer Kinder auszugehen. In dieser Hinsicht wird durch das schrittweise Vorgehen die Wahrscheinlichkeit für die Entscheidung zugunsten einer bestimmten Schullaufbahn mit der sozialen Selektivität der Entscheidungsdeterminanten „gewichtet“. Das IMR dient zudem auch als eine Korrekturvariable, die notwendig ist, weil man sonst verzerrte Schätzergebnisse für die sozial selektiven Entscheidungen und Übergänge erhalten würde. Deren Werte können als Vorhersagewerte für den Besuch vorschulischer Versorgungseinrichtungen interpretiert werden. Für das Alter von 14 Jahren spricht, dass bis dahin die Übergänge in die Sekundarstufe I erfolgt sind. Jedoch ist auch zu bedenken, dass die Bildungseffekte vorschulischer Kinderbetreuung unterschätzt werden können, weil die Altersheterogenität von Jahrgangsklassen wegen verspäteter Einschulung und häufiger Klassenwiederholung mit den Daten des SOEP nicht kontrolliert werden
Vom Nutzen vorschulischer Erziehung und Elementarbildung
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bei den Betreuungseffekten auf die Bildungschancen nicht nur der Besuch bzw. Nichtbesuch vorschulischer Kinderbetreuung im letzten Jahr, sondern jegliche Nutzung vorschulischer Betreuungseinrichtungen vor der Einschulung berücksichtigt (Becker und Lauterbach 2004; Büchel et al. 1997). Schließlich werden die 14jährigen Schulkinder ausgeschlossen, die andere Schulen (Integrierte Gesamtschulen, Schularten mit mehreren Bildungsgängen, Freie Waldorfschulen, Sonderschulen) als das Gymnasium oder die Haupt- und Realschule besuchen. Im Durchschnitt bleibt dadurch immer rund ein Fünftel eines Geburtsjahrgangs unberücksichtigt. Abhängige und unabhängige Variablen Die zentrale abhängige Variable ist für die 14-jährigen Schulkinder der Besuch des Gymnasiums, der Realschule oder der Hauptschule. Die Referenzkategorie ist der Übergang auf die Hauptschule. Alle anderen Schullaufbahnen wurden von der Analyse ausgeschlossen, weil der avisierte Abschluss eines Bildungszertifikats nicht eindeutig ist (z.B. Gesamt- oder Waldorfschule) oder der Anteil der Bildungsgruppen für aussagekräftige Analysen zu klein ist (z.B. Sonder- oder Spezialschulen). Eine weitere abhängige Variable ist die Nutzung vorschulischer Kinderbetreuung in Kinderkrippen, Kindergärten, Kindertagesstätten und Vorschulen von sechs- bis siebenjährigen Kindern, die dann für die Beurteilung von Bildungseffekten vorschulischer Erziehung, Betreuung und Elementarbildung als erklärende Variable fungiert. Abgesehen davon, dass bei den jeweiligen Befragungszeitpunkten die Dauer der institutionellen Betreuung von Kindern in jeweils unterschiedlicher Weise erhoben wurde, wurde bis zur Panelwelle im Jahre 1999 auch die Betreuung durch eine Tagesmutter einbezogen. Auf diese Schwierigkeit weisen Büchel et al. (1997: 532) hin, da bei solch einer Betreuung, im Unterschied zu den anderen Betreuungsmöglichkeiten, der Bildungsaspekt eher sekundär sei. Weil jedoch der Anteil der durch Tagesmütter betreuten Kinder an allen außerhäuslich betreuten Kindern relativ klein sei, sind die entsprechenden Fehler als vernachlässigbar gering einzustufen: „Da sich die Analyse außerdem auf vorschulische Bildungseinrichtungen im Vorjahr der Einschulung beschränkt, erfassen wir in unserer Analyse somit nahezu ausschließlich die durchschnittlichen Effekte eines Kindergartenbesuchs“ (Büchel et al. 1997: 532). Qualität und Vorschulcharakter des Kindergartenbesuchs können jedoch nicht kontrolliert werden (vgl. Weißhuhn 2001: 8). Da Schulkindergärten oder Vorklassen nicht separat erfasst werden, gehen wir davon aus, dass die erste abhängige Variable auch alle kindergartenund vorschulähnlichen Einrichtungen mit einschließt. Wir sprechen daher im Folgenden von vorschulischer Betreuung, Erziehung und Bildung oder von vorschulikönnen (vgl. Roeder 2003: 190-191). Es liegen im SOEP keine Informationen vor, in welcher Klassenstufe sich die Schulkinder befinden.
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scher Erziehung und Elementarbildung. Eine detailliertere und über die einzelnen Zeitpunkte hinweg einheitliche Operationalisierung der vorschulischen Betreuung, Erziehung und Bildung wäre wünschenswert gewesen, um differenzierte Aussagen über ihre Bildungseffekte treffen zu können. So wird in der vorliegenden Untersuchung recht grob danach unterschieden, ob ein Kind eine vorschulische Einrichtung besucht hat oder nicht. Als erklärende Variablen für den sozial selektiven Besuch vorschulischer Einrichtungen wird neben dem Alter der Kinder auch die die historische Zeit (Periode) kontrolliert. Neben dem Wandel sollen auch die Effekte eines gepoolten Datensatzes der 3- bis 7-jährigen Kinder berücksichtigt werden. Des Weiteren wird das Bildungsniveau der Elternteile kontrolliert. Es wird als Kombination schulischer und beruflicher Abschlüsse operationalisiert und mit der durchschnittlichen Dauer bis zum Erwerb dieser Zertifikate gemessen. Zwar geht dadurch der ordinale Charakter erworbener Bildungszertifikate verloren, aber der Vorteil dieser Operationalisierung liegt in unserem Fall darin, dass bei multivariaten Analysen, bedingt durch die relativ kleinen Fallzahlen, eine geringere Zahl von Parametern geschätzt werden muss. Als Messung der sozialen Herkunft des Kindes werden alternativ (1) das Klassenschema von Erikson und Goldthorpe (1992), um die Kinder aus den Dienstklassen zu identifizieren, (2) die berufliche Stellung des Haushaltsvorstandes, um Kinder von Meistern, Polieren, Facharbeitern sowie un- und angelernten Arbeitern zu identifizieren und (3) schließlich der sozioökonomische Status des Haushaltsvorstandes anhand des sozialen Prestiges nach Wegener (1988) genutzt. Ebenso wird die Erwerbstätigkeit der Mutter als bedeutsam für die Nutzung außerhäuslicher Kinderbetreuung angesehen. Weitere sozialstrukturelle und sozioökonomische Strukturen des Haushaltes werden über die Anzahl der im Haushalt lebenden Personen (Haushaltsgröße) und über das verfügbare Haushaltsnettoeinkommen gemessen. Für den Besuch einer der weiterführenden Schullaufbahnen nach der Grundschule wird zudem das Geschlecht des Kindes (Referenz: Mädchen) und – wie bereits erwähnt – der Besuch einer vorschulischen Einrichtung als erklärende Variable herangezogen. Kontrolle von Selektivitätsprozessen Der mögliche Effekt vorschulischer Betreuung auf die Bildungschancen wird – wie bereits oben geschildert – auf zwei Arten kontrolliert. Zum einen ziehen wir eine 0/1-codierte Dummy-Variable heran, wobei die Kinder, die vor der Einschulung keine solche Einrichtung besuchten, die Referenzkategorie darstellen. Zum anderen wird die vorschulische Betreuung anhand des inversen Mill’s Ratios gemessen, der als bedingte Wahrscheinlichkeit für die Nutzung vorschulischer Betreuungsangebote in Abhängigkeit von erklärenden Variablen interpretiert werden kann (für Details: Becker 2000b sowie Heckman 1979). Als außerordentlich
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ungünstig für unsere Fragestellung erweist es sich, dass mit den Daten des SOEPs der Einfluss schulischer Leistungen sowie der Bildungsempfehlungen auf den Übergang in die Sekundarstufe I und damit eine wichtige Komponente der primären Herkunftseffekte und des Bildungserfolgs nicht kontrolliert werden kann (vgl. Becker 2003). 5.
Empirische Ergebnisse
Bildungseffekte vorschulischer Erziehung und Elementarbildung Eine einfache Analyse belegt, dass Kinder mit vorheriger Nutzung von Kindergarten und Vorschule günstigere Bildungschancen haben (Tabelle 1). Während 42 Prozent von den westdeutschen Schulkindern mit vorschulischer Betreuung nach der Primarschulzeit auf das Gymnasium wechseln, besucht nur ein Viertel der Schulkinder ohne vorschulische Betreuung das Gymnasium. Vorschulische Betreuung führt zu deutlich besseren Chancen, auf das Gymnasium wechseln zu können.11 Schulkinder ohne vorschulische Erziehung und Elementarbildung hingegen haben ein fast drei Mal so großes Risiko, auf die Hauptschule zu wechseln, als diejenigen mit Vorschulbildung. Tabelle 1: Schichtspezifische Bildungsbeteiligung von 14-jährigen Schulkindern nach Partizipation an vorschulischer Betreuung, Erziehung und Bildung (Abstromprozente für Westdeutschland, 1992-2003) Hauptschule Alle Schulkinder Kinderbetreuung Keine Kinderbetreuung Insgesamt Arbeiterkinder Kinderbetreuung Keine Kinderbetreuung Kinder un- und angelernter Arbeiter Kinderbetreuung Keine Kinderbetreuung Kinder aus den Dienstklassen Kinderbetreuung Keine Kinderbetreuung
Realschule
Gymnasium
27,0 50,8 28,6
31,0 23,7 30,5
42,0 25,4 41,0
38,8 71,0
34,6 22,6
26,6 6,5
53,4 70,6
28,4 17,6
18,2 11,8
12,5 0,0
26,5 36,4
61,0 63,6
Quelle SOEP (ungewichtete Ergebnisse) – eigene Berechnung
11
So haben Teilnehmer an vorschulischer Kinderbetreuung eine (42,0:58,0/25,4:74,6) = 2,127-mal bessere Chance für einen Wechsel ins Gymnasium als Nichtteilnehmer. Allerdings ist – gemessen an Cramér’s V als Zusammenhangsmaß – die Stärke des Zusammenhangs von Teilnahme und Bildungsübergang gering. Der Wert von 0,13 indiziert schwache Bildungseffekte vorschulischer Betreuung.
144
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Vorschulische Erziehung und Betreuung trägt zu deutlich verbesserten Bildungschancen unter den Arbeiterkindern bei. So haben westdeutsche Arbeiterkinder eine 4,9-Mal bessere Chance, auf das Gymnasium zu wechseln, wenn sie in der Zeit vor ihrer Einschulung Kindergarten oder Vorschule besucht haben. Hingegen haben Kinder un- und angelernter Arbeiter nicht nur generell die ungünstigsten Chancen, an höherer Schulbildung zu partizipieren, sondern auch die Bildungseffekte vorschulischer Betreuung sind bei ihnen äußerst gering. So haben Kinder unund angelernter Arbeiter eine 1,6-Mal bessere Chance, das Gymnasium zu besuchen, wenn sie an vorschulischer Bildung teilgenommen haben als die Nichtteilnehmer unter ihnen. Umgekehrt haben westdeutsche Arbeiterkinder ohne Kindergarten- oder Vorschulbesuch ein vier Mal größeres Risiko, in die Hauptschule zu wechseln als die Teilnehmer an vorschulischer Betreuung. Vergleicht man die Bildungschancen zwischen den Kindern aus den Dienstklassen und den Arbeiterschichten, dann sind deutliche Anzeichen für eine relative Reduktion der Disparitäten zwischen diesen Sozialschichten zu finden. Unabhängig davon, ob Kinder aus den Dienstklassen eine vorschulische Bildung genossen haben oder nicht, sind ihre Chancen, auf das Gymnasium zu wechseln mehr als 4mal so groß wie für Arbeiterkinder mit vorheriger vorschulischer Betreuung. Hingegen sind diese Bildungschancen bei den Kindern aus den Dienstklassen um das 22-fache größer im Vergleich zu den Arbeiterkindern ohne jegliche vorschulische Betreuung vor ihrer Einschulung. Über frühe Bildungsinvestitionen können Bildungsdisparitäten zwischen Sozialschichten verringert werden. So gesehen, sind vorschulische Einrichtungen durchaus geeignete Maßnahmen, um sowohl Startchancen sozial benachteiligter Schulkinder zu verbessern als auch langfristige Bildungschancen zu garantieren. Sie sind daher ein wirkungsvolles Instrumentarium, um Chancengerechtigkeit herzustellen und bestehende Bildungsungleichheiten zu reduzieren. Jedoch bleiben Arbeiterkinder im Vergleich zu den Kindern aus den Dienstklassen in ihren Bildungschancen im Nachteil, auch wenn sie an der vorschulischen Erziehung und Elementarbildung partizipieren. Das bedeutet zunächst auch, dass solche Maßnahmen an sich nicht ausreichend sind, um die Nachteile von Arbeiterkindern beim Bildungserwerb umfassend zu kompensieren. Bildungseffekte bei Kontrolle sozialer Selektivität bei der vorschulischen Betreuung In einem weiteren Schritt sollen bei Kontrolle zusätzlicher Einflussfaktoren Signifikanz und quantitatives Gewicht der Bildungseffekte vorschulischer Erziehung, Betreuung und Bildung festgestellt werden, um weitere Informationen über die Effektivität solcher Programme zu erzielen. Hierbei sind besondere methodische und statistische Probleme zu berücksichtigten. Bei der vorherigen Interpretation der Bildungseffekte vorschulischer Betreuung haben wir nicht nur so getan, als wären die miteinander verglichenen Sozialschichten, insbesondere die Arbeiterschichten in sich und in der Verfügbarkeit über sozioökonomische Ressourcen,
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die für die Ausbildung mobilisiert werden kann, homogen. Es wurde auch davon ausgegangen, als hätten die miteinander verglichenen Sozialschichten in gleicher Weise die vorschulische Betreuung genutzt und die Unterschiede in den Bildungseffekten würden dann die schichtspezifische Effektivität früher Bildung widerspiegeln. Der Einfluss erklärender Variablen auf die Wahrscheinlichkeit, vorschulische Einrichtungen im Alter zwischen 3 und 7 Jahren besucht zu haben, wird mittels logistischer Regression geschätzt (Long 1997). Die instrumentelle Variable für die sozial selektive Nutzung vorschulischer Einrichtungen basiert auf dem zweiten in Tabelle 2 dokumentierten Modell. Allerdings sollte man bei Verwendung des zweistufigen Verfahrens von Heckman (1979) wegen Multikollinearität darauf achten, dass nicht die gleichen erklärenden Variablen im Selektions- und im Effektmodell verwendet werden.12 Beispielsweise wird im Selektionsmodell die soziale Herkunft nicht über die Klassenlage des Elternhauses, sondern anhand des Sozialprestiges messen. Aus Gründen ausreichender Fallzahlen beschränken wir uns im Folgenden auf westdeutsche Schulkinder. Die empirischen Befunde zeigen zunächst für alle Sozialgruppen, dass in der Abfolge von Kohorten oder im historischen Ablauf die Chancen gestiegen sind, vorschulische Bildungseinrichtungen zu besuchen (Tabelle 2).13 Zumindest für ältere Kinder wird es angesichts der näher rückenden Einschulung immer wahrscheinlicher, dass sie den Kindergarten oder die Vorschule besuchen. Verfügen Haushalte über höhere Einkommen, dann nutzen Kinder vorschulische Einrichtungen eher als dies bei Kindern einkommensschwächerer Eltern der Fall ist. Je größer der Haushalt ist, desto seltener besuchen Kinder vorschulische Einrichtun12
13
Ein weiteres statistisches Problem ist die unbeobachtete Heterogenität mangels Informationen im SOEP-Datensatz. So spielen neben ökonomischen Ressourcen auch andere Ressourcen und Gelegenheiten des Elternhauses eine Rolle für frühe Bildungsinvestitionen í etwa alternative Betreuung von Kindern durch andere Haushaltsmitglieder oder elterliche Bildungsaspirationen, Erfahrungen der Eltern mit dem System höherer Bildung, Vermittlung von Sprachfertigkeiten und sozialen Kompetenzen, Integration der Eltern in das Erwerbssystem und damit in die Sozialstruktur der Gesellschaft, um einige ausgewählte Aspekte zu nennen. Als außerordentlich ungünstig für die Beurteilung der Bildungseffekte erweist es sich, dass mit den Daten des SOEPs der Einfluss schulischer Leistungen sowie der Bildungsempfehlungen auf den Übergang in die Sekundarstufe I und damit eine wichtige Komponente der primären und sekundären Herkunftseffekte und des Bildungserfolgs nicht kontrolliert werden kann (vgl. Becker 2003). Die Schätzergebnisse werden als so genannte ‚odds ratios’ dokumentiert. Sie bemessen die relative Chance, in Abhängigkeit der erklärenden Variable Kindergarten oder Vorschule zu besuchen. Ein odds-ratio-Wert von größer als 1 weist auf einen positiven Einfluss und ein Wert kleiner als 1 auf einen negativen Einfluss hin. Ist der Wert gleich 1, dann gibt es keinen Zusammenhang oder Unterschied nach Merkmalsausprägungen. Der Wert 3,61 besagt, dass die relative Chance für vorschulische Betreuung mit jedem zusätzlichem Lebensalter um das 3,61-fache ansteigt. Der Wert 1,39 für die Erwerbstätigkeit der Mutter heißt, dass Kinder mit einer erwerbstätigen Mutter eine mehr als 1,4 Mal so große Chance für vorschulische Betreuung haben als diejenigen, deren Mutter nicht erwerbstätig ist.
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gen – sei es aus Kostengründen oder sei es aus Gründen personeller Alternativen für eine außerhäusliche Kinderbetreuung. Je höher das Bildungsniveau der Eltern ist, desto eher besuchen – wie theoretisch erwartet und oftmals empirisch belegt – Kinder vorschulische Betreuungs-, Erziehungs- und Bildungseinrichtungen. Tabelle 2: Soziale Selektivität des Besuchs einer vorschulischen Einrichtung – Drei- bis siebenjährige westdeutsche Kinder in der Zeit von 1984 bzw. 1995 (odds ratios – geschätzt mit logistischer Regression) Erklärende Variablen Zeitdimensionen Alter Periode Ressourcen des Haushalts Haushaltsgröße Haushaltseinkommen Bildung der Mutter Bildung des Vaters Berufliche Integration Sozioökonomischer Status Erwerbstätigkeit der Mutter Pseudo-R² (Cox-Snell) Pseudo-R² (Nagelkerke) Besuch in % N (Insgesamt)
Odds ratios
3,61*** 1,03*** 0,93* 1,02 1,01 1,04*** 1,01*** 1,39*** 0,33 0,46 63,1 7.387
* p 0.05; ** p 0.01; *** p 0.01; † p 0.1 Quelle SOEP (ungewichtete Ergebnisse) – eigene Berechnung
Je höher der sozioökonomische Status des Elternhauses ist, desto eher erfolgt eine außerhäusliche Kinderbetreuung in vorschulischen Einrichtungen. Je besser die berufliche Integration des Elternhauses durch die Erwerbstätigkeit der Mutter gelingt, desto eher partizipieren Kinder auch an vorschulischer Betreuung. Die strukturelle Notwendigkeit der externen Kinderbetreuung, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu sichern, verliert an Trivialität, wenn berücksichtigt wird, dass gerade in Arbeiterschichten die Risiken für wiederholte und dauerhafte Arbeitslosigkeit hoch sind, die wiederum zusätzlich zu systematisch beeinträchtigten Bildungschancen von Arbeiterkindern führt. Der überaus enge Zusammenhang von sozialer Herkunft und Nutzung vorschulischer Betreuung verweist – wie dies bereits die bekannten Befunde zu den Bildungsergebnissen belegen – darauf, dass die Kinder aus unteren Sozialschichten seltener vorschulische Bildung nutzen und in Kindergärten und Vorschulen unterrepräsentiert sind. Wie groß und bedeutsam sind nun die Bildungseffekte? Zunächst wird im einfachen Modell auch bei Kontrolle der sozialen Selektivität vorschulischer Betreuung der vorherige Befund repliziert, wonach für westdeutsche Arbeiterkinder das Risiko, auf die Hauptschule zu wechseln, signifikant abnimmt, wenn sie vor ihrer
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Einschulung den Kindergarten oder die Vorschule besucht haben (Tabelle 3).14 Die Bildungseffekte vorschulischer Betreuung fördern die relative Chance, ins Gymnasium zu wechseln, um das 2-fache, wenn die Wahrscheinlichkeit, vor der Einschulung Kindergarten oder Vorschule zu besuchen, um eine Einheit zunimmt. Auch der Übergang in die Realschule ist für Teilnehmer wahrscheinlicher als für Nichtteilnehmer. Somit lohnen sich frühe Investitionen in die Bildung von Arbeiterkindern; sie sind hiermit eine der sinnvollen Maßnahmen, um die Bildungschancen von Arbeiterkindern deutlich zu verbessern.15 Tabelle 3: Bildungsbeteilung von 14-jährigen Arbeiterkindern in Westdeutschland, 19922003 (odds ratios – geschätzt mit multinomialer Logit-Regression bei Kontrolle sozialer Selektivität des Besuchs vorschulischer Bildungseinrichtungen) Arbeiterkinder
Ȝ (vorschulische Betreuung) Junge (Ref.: Mädchen) Bildungsniveau der Mutter Sozioökonomischer Status Periode Pseudo-R² N
Arbeiterkinder
Nur Kinder un- und angelernter Arbeiter RealGymnaschule sium
Realschule
Gymnasium
Realschule
Gymnasium
1,61*
1,98*
1,57†
1,92†
1,63
1,31
0,69
0,49*
0,81
0,40
1,29*
1,79
1,22
1,42†
1,01
1,01
1,02
1,00
1,07†
1,01
1,23*
1,09
1,09*
1,06 0,019 313
0,089 313
0,084 102
* p 0.05; ** p 0.01; *** p 0.01; † p 0.1 Quelle SOEP (ungewichtete Ergebnisse) – eigene Berechnung
Allerdings relativieren sich die positiven Effekte vorschulischer Kinderbetreuung, wenn bildungsrelevante Ressourcen des Elternhauses kontrolliert werden. Hierbei ist ersichtlich, dass sich die erwarteten Bildungseffekte nur für Kinder qualifizier14
15
Auch wenn hierbei wie im Selektionsmodell in Tabelle 2 die Periode berücksichtigt wird, um die Poolung historischer Kalenderjahre zu kontrollieren, tritt nicht das Problem der Multikollinearität auf, da die Perioden für das Selektionsmodell und Hauptmodell weitgehend überschneidungsfrei sind. Im Selektionsmodell wird die Zeit von 1983 bis 1995 und im Schätzmodell für Bildungseffekte die Zeit von 1992 bis 2003 erfasst. Dieses Ergebnis ist insofern erstaunlich, als dass in früheren und ähnlich angelegten Untersuchungen kein signifikanter Bildungseffekt für westdeutsche Schulkinder beim Übergang von der Grundschule auf die Sekundarstufe I festgestellt wurde (vgl. Büchel et al. 1997). Offensichtlich hatte die fehlende Kontrolle unbeobachteter Heterogenität nach Schichtzugehörigkeit zu diesem unerwarteten Befund geführt.
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ter Arbeiter („wohlhabende Arbeiter“ wie etwa Facharbeiter, Meister und Poliere sowie Industriewerkmeister) ergeben, während Kinder un- und angelernter Arbeiter in ihren Bildungschancen weiterhin besonders benachteiligt sind. Ihre nachteilige Situation im Schulsystem kann offensichtlich auch durch gegenwärtige Programme vorschulischer Betreuung, Erziehung und Bildung kaum ausgeglichen werden. Insgesamt liegen, wie eingangs theoretisch angenommen, positive Bildungseffekte vorschulischer Bildung für westdeutsche Arbeiterkinder vor. Jedoch ergibt sich daraus weder eine umfassende Angleichung von Bildungschancen noch ein Ausgleich der Bildungsdefizite zwischen den Sozialschichten. Vorschulische Bildung ist zwar ein wirksames Mittel, um die im Bildungssystem benachteiligten Arbeiterkinder zu fördern, aber sie ist als institutionelles Programm alleine nicht ausreichend, um Bildungsungleichheiten umfassend abzubauen. 6.
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Ziel des vorliegenden Beitrages war es, die Frage zu klären, in welchem Ausmaß Programme der vorschulischen Erziehung, Betreuung und Bildung in Krippenplätzen, Kindergärten, Kindertagesstätten und Vorschulen die Bildungschancen von Arbeiterkindern fördern und inwieweit die Arbeiterkinder dann bei den Bildungschancen zu sozial privilegierten Schulkindern aufschließen. Ausgehend davon, dass Erfahrungen der Kinder aus Arbeiterschichten mit vorschulischer Betreuung, Erziehung und Bildung in vorschulischen Einrichtungen nicht nur deren Einschulung erleichtert, sondern auch deren schulische Performanz fördern, und dass Eltern aus den Arbeiterschichten aufgrund dieser Erfahrungen höhere Bildungsaspirationen entwickeln und sich eher für höhere Bildung entscheiden, und dass Lehrer aufgrund der unerwartet günstigen Entwicklung schulischer Leistungen die Arbeiterkinder fördern und für die weiterführenden Schullaufbahnen empfehlen, wurde die Hypothese abgeleitet, dass Arbeiterkinder durch frühe bildungsbezogene Förderungen herkunftsbedingte Defizite bei den Startchancen reduzieren und so ihre Bildungsmöglichkeiten verbessern können. Unter Heranziehung von Längsschnittdaten des Sozioökonomischen Panels konnten zum einen positive Bildungseffekte für teilnehmende Schulkinder im Westen Deutschlands festgestellt werden: Besuch von Krippe, Kindergarten, Kindertagesstätte oder Vorschule gewährt zusätzliche Vorteile bei der Realisierung von Bildungschancen. Vor allem Arbeiterkinder können auf diesem Wege ihre Bildungschancen deutlich verbessern und die Bildungsdisparitäten zu den Kindern aus privilegierten Sozialschichten reduzieren. Jedoch bleiben in Bezug auf Bildungschancen trotz alledem signifikante Unterschiede zwischen diesen Sozialschichten bestehen: Arbeiterkinder haben immer noch ein sehr viel größeres Risiko, in die Hauptschule zu wechseln, und deutlich geringere Chancen für den Wechsel in das Gymnasium.
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Auch bei Kontrolle sozialer Selektivität beim Zugang zu vorschulischen Einrichtungen und ihrer Nutzung vor der Einschulung sowie weiterer Indikatoren für soziale Herkunft können für Arbeiterkinder positive Bildungseffekte festgestellt werden. Allerdings relativiert sich der Bildungseffekt vorschulischer Betreuung, wenn sozioökonomische und bildungsrelevante Ressourcen des Elternhauses kontrolliert werden. Hierbei ist ersichtlich, dass sich signifikante Bildungseffekte vorschulischer Betreuung ausschließlich für Kinder qualifizierter und relativ wohlhabende Arbeiter wie etwa Facharbeiter, Meister und Poliere sowie Industriewerkmeister ergeben, während Kinder un- und angelernter Arbeiter in ihren Bildungschancen weiterhin besonders benachteiligt sind. Ihre Benachteiligung kann offensichtlich durch gegenwärtige Programme vorschulischer Betreuung kaum ausgeglichen werden. Insgesamt kann – ohne die Effektivität vorschulischer Betreuung überschätzen zu wollen – festgehalten werden, dass über frühe Bildungsinvestitionen die überaus deutlichen Bildungsdisparitäten zwischen den Sozialschichten verringert werden können. So gesehen, sind vorschulische Einrichtungen geeignete Maßnahmen, um sowohl Startchancen sozial benachteiligter Schulkinder zu verbessern als auch langfristig ihre prekären Bildungschancen zu garantieren. Sie sind ein wirkungsvolles Instrumentarium, um Chancengerechtigkeit herzustellen und bestehende Bildungsungleichheiten zu reduzieren, und es dürfte sollte die Verringerung von sozialer Ungleichheit von Bildungschancen ein bildungspolitisches Ziel darstellen sinnvoll sein, dieses Programm quantitativ und qualitativ auszubauen. Defizitäre Infrastruktur sowie Mangel an flächendeckendem und qualifiziertem Angebot an Kindergarten, Vorschulen und Ganztagsschulen sowie an pädagogischen Freizeitangeboten verschärfen vorhandene Chancenungerechtigkeiten bei der Einschulung, in der Schule und im weiteren Bildungsverlauf. Der Ausbau professioneller wie familienergänzender und pädagogisch orientierter Kinderbetreuung sowie die Einführung einer obligatorischen Vorschule statt des freiwilligen Kindergartens wären notwendige bildungs- und sozialpolitische Programme für die Einlösung gesetzlich garantierter Chancengerechtigkeit im Bildungssystem. Die vorschulische Kinderbetreuung erweist sich (noch?) als zu wenig hilfreich, die Bildungschancen von Kindern un- und angelernter Arbeiter, die aufgrund ihrer Klassenlage besondere Nachteile beim Bildungserwerb zu vergegenwärtigen haben, zu verbessern. Kinder aus Arbeiterschichten weisen trotz Vorschulbildung immer noch ungünstigere Bildungschancen auf als die Kinder aus höheren Sozialschichten, welche keine vorschulischen Einrichtungen besucht haben. Entweder wird die sozial- und bildungspolitische Wirksamkeit vorschulischer Bildung gegenwärtig möglicherweise noch überschätzt, weil die vorschulischen Betreuungseinrichtungen immer noch eher den Charakter von „Kinderaufbewahrungsanstalten“ haben, statt professionelle Bildungseinrichtungen zu sein, die gezielt auf das lebenslange Lernen vorbereiten. Oder die Kindergärten und Vorschulen in
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Deutschland weisen immer noch – trotz der Hinweise von Heckhausen aus dem Jahre 1969 – eine unzulängliche Qualität auf, als dass sie langfristig zur Kompensation von Chancenungleichheiten beim Bildungserwerb und zur Steigerung von Leistung und Kompetenzen im Lebensverlauf führen (Weißhuhn 2001).16 Allerdings darf man sich von der vorschulischen Förderung, und das lehren uns vorliegende Evaluationen, nicht allzu viel erhoffen, wenn sie nicht ihre Fortsetzung in den Schulen erfährt (Heckhausen 1974: 128). Um diesen Sachverhalt zu klären und dann der Bildungspolitik rasch rationale Empfehlungen liefern zu können, ist weitere Forschung auf diesem Gebiete notwendig. Hierzu bedarf es eines interdisziplinären Zugangs mit Längsschnittinformationen über die persönliche Entwicklung der Kinder und ihren Bildungsverlauf (vgl. Meulemann 1990). Trotz alledem sind die von uns vorgelegten Befunde mit gewissen Einschränkungen zu interpretieren, die sich aus Messungenauigkeiten und fehlenden Informationen ergeben: Erstens führt möglicherweise die durch das SOEP vorgegebene unzureichende Abgrenzung der unterschiedlichen Formen vorschulischer Betreuung, Erziehung und Bildung zu diesem unerwarteten Ergebnis. Zweitens könnten wir es bei den Bildungseffekten mit einem statistischen Artefakt zu tun haben, weil mangels verfügbarer Informationen im SOEP nicht nur die schulische Leistung der Kinder, sondern auch die Qualität der vorsuchlischen Einrichtungen nicht berücksichtigt werden konnte. Drittens sollten die berichteten Bildungseffekte nicht überschätzt werden, da wir über keine Informationen über Einflüsse der Schule und der Lehrpersonen auf die schulische Performanz der Schulkinder während ihrer Grundschulzeit verfügen. Und schließlich müssen wir uns viertens vor Augen halten, dass wir es mit einer hochgradig selektiven Stichprobe zu tun haben, die vor allem die positiven Bildungseffekte bei den Arbeiterkindern betrifft. Die Evaluation wurde für die Kinder und ihre Eltern vorgenommen, die mindestens acht Jahre am Sozioökonomischen Panel teilgenommen haben. Panelmortalität haben wir nicht berücksichtigt.
16
So beurteilt Heckhausen (1974: 128) später selbst die Wirksamkeit vorschulischer Förderung generell skeptisch: „Die Hoffnung, vorschulische Förderung könne die mit der sozialen Herkunft verknüpften Disparitäten zum Verschwinden bringen, hat sich inzwischen als eine Fiktion erwiesen. Man beginnt sich bereits zu fragen, ob nicht im Gegenteil die Divergenz der individuellen Entwicklung noch größer werden könnte, da ja nicht nur rückständige, sondern auch vorauseilende Kinder vorschulisch angeregt werden. Jedenfalls hat sich mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt, dass Chancenausgleich innerhalb der Schule fortgesetzt werden muss. Angebotsgleichheit reicht dazu allerdings nicht hin“. Diese Erkenntnis basiert unter anderem auf den vielen „Head Start Programs“ wie etwa die Ohio-Westinghouse Study, die in der Folge des ersten Coleman-Reports aus dem Jahre 1966 und den ergänzenden Reanalysen durch Thomas F. Pettigrew oder durch David Armour initiiert wurden und auch langfristig nicht die erhofften Erfolge erbrachten (Iben 1971). Dass von kompensatorischer Erziehung nur geringe Effekte ausgehen, belegte bereits das berühmte Perry Pre-School Program – ein kontrolliertes Experiment, das im Jahre 1962 begonnen wurde (Barnett 1992).
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1.
Einleitung
Zweifelsohne war und ist das Prinzip der Chancengleichheit eine Maxime für die Bildungspolitik und Gestaltung von Bildungssystemen (vgl. Müller 1998; Friedeburg 1992; Baumert 1991: 333). Diese Prämisse wird nicht zuletzt durch Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes, wonach niemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf, inhaltlich vorgegeben. So lag ein Hauptteil der Zielsetzungen von Bildungsreformen seit den 1960er Jahren darin, die Rahmenbedingungen für den Bildungszugang in der Weise zu setzen, dass weder das strukturelle Angebot an Bildungsgelegenheiten noch sozialstrukturelle Eigenschaften von Schulkindern und ihres Elternhauses systematische Einflüsse auf den Bildungsweg und den Erwerb von Bildungszertifikaten haben (Friedeburg 1992). Mit dem Ausbau des Schul- und Hochschulwesens und den institutionellen Reformen seit den 1960er Jahren ist das Ziel auch größtenteils erreicht worden, dass neben institutionellen Barrieren auch ökonomische und geografische Barrieren beim Bildungszugang weitgehend an Bedeutung verloren haben (vgl. Müller 1998; Krais 1996). Bildungsdisparitäten nach sozialstrukturellen Merkmalen haben sich ebenfalls abgeschwächt (Müller und Haun 1994). Insbesondere konnten Mädchen ihre Bildungsdefizite gegenüber den Jungen mehr als ausgleichen (Rodax und Rodax 1996; Rodax 1995), sodass nunmehr von einer Bildungsungleichheit zu Ungunsten von Jungen auszugehen ist (Diefenbach und Klein 2002; Becker und Nietfeld 1999; Becker 1998). Einige der beabsichtigten wie unbeabsichtigten Folgen dieser Reformbemühungen können am Wandel der Bildungsbeteiligung, insbesondere beim Übergang von der Grundschule auf das Gymnasium, abgelesen werden (Köhler 1992). Wenn wir mit Daten der amtlichen Statistik den Übergang von der Primarstufe in die bislang sozial exklusivste Schullaufbahn der Sekundarstufe I betrachten, dann ist im Zeitraum von 1952 bis zum Jahre 2000 der relative Anteil der 13- bis 14-jährigen Schulkinder im Gymnasium von 12 auf 31 Prozent gestiegen (Abbildung 1). Im Vergleich zum Jahre 1952 hat sich bis zum Jahre 2000 die Chance, auf das Gymnasium zu wechseln, mehr als verdreifacht und im Zeitraum von 1965 bis 1989 mehr als verdoppelt. In der gleichen Zeit stiegen für Kinder von Beamten
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Becker
die Chancen für den Wechsel auf das Gymnasium um mehr als das Zweifache, während sie sich bei den Arbeiterkindern gar vervierfachten. Aber haben sich die Reformbemühungen seit den 1960er Jahren tatsächlich erfüllt, als es neben der Abwendung eines drohenden „Bildungsnotstandes“ (Picht 1964) und der Ausschöpfung von Begabtenreserven (Floud 1972) vor allem um „Bildung als Bürgerrecht“ (Carnap und Edding 1962; Dahrendorf 1965) ging? Wurde das Ziel der Bildungsreformen – nämlich „Chancengleichheit durch Bildung“ (Friedeburg 1989: 189) – erreicht? Abbildung 1: Entwicklung der relativen Bildungsbeteiligung von 13- bis 14-jährigen Schulkindern in der Bundesrepublik Deutschland von 1952 bis 2000 – Besuch des Gymnasiums nach sozialer Herkunft Prozent 100
90 80 70 58
60 50 36
40
30
31
30 16
20 10
12
11 3
0 1950
1955 1960 1965 1970 1975 1980 Beamtenkinder Gymnasialquote Arbeiterkinder
1985
1990
1995
2000
Quelle Köhler (1992); Statistisches Bundesamt 2001 (und frühere Jahrgänge des Statistischen Jahrbuchs)
Von einer ausgeprägten Konstanz der herkunftsbedingten Bildungsungleichheiten bis in die jüngste Vergangenheit gehen Meulemann und Wiese (1984), Meulemann (1985), Handl (1985), Blossfeld (1985, 1993), Mayer und Blossfeld (1990), Köhler (1992), Rodax (1995) und Geißler (1999) aus. Demnach haben sich lediglich geringfügige Verschiebungen bei den herkunftsbedingten Bildungschancen ergeben. Dagegen zeigen neuere empirische Befunde von Müller und Haun (1994) oder von Schimpl-Neimanns (2000) mit Mikrozensusdaten sowie von Henz und Maas (1995) mit Verlaufsdaten ausgewählter Geburtskohorten, dass sich im Zuge
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der Bildungsreformen und Bildungsexpansion vor allem die Benachteiligung der Arbeiterkinder verringert hat. So nahm im Zuge der Bildungsexpansion die Ungleichheit der Bildungschancen zwischen den sozialen Klassen ab, weil die unteren Sozialschichten ihre Anteile in höheren Schulen weitaus stärker steigern konnten, als es den privilegierten sozialen Klassen möglich war, die ihre Kinder bereits zu einem hohen Prozentsatz auf diese Schulen schickten. Vor allem die (unteren) Mittelschichten profitierten von der Bildungsexpansion (Becker 2003; Rodax 1995: 19). Allerdings fand nur für den Besuch der Realschule eine Angleichung der Bildungschancen von Arbeiter- und Beamtenkindern statt, während für den Übergang von der Grundschule auf das Gymnasium weiterhin eine Chancenungleichheit nach sozialer Herkunft besteht (Müller und Haun 1994; Henz und Maas 1995; Schimpl-Neimanns 2000).1 Wenn wir statt der Prozentsätze für die Bildungsbeteiligung unterschiedlicher Sozialschichten, die Verhältnisse der Prozentsätze, die so genannten ‚odds ratios’, für diese Gruppen betrachten, dann hatten im Jahre 1965 die Beamtenkinder eine 18-mal bessere Chance, auf die höchste Schullaufbahn zu wechseln, als die Kinder von Arbeitern (siehe Abbildung 1).2 Auch im Jahre 1989 betrug die relative Chan-
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Um eine einseitige Sichtweise über die Erfolge der Bildungsexpansion, nämlich die Bildungsbeteiligung in höheren Schullaufbahnen, zu vermeiden, sei auch auf die unintendierten Folgen dieser Entwicklung, wie etwa die gesunkene soziale Exklusivität beim Übergang auf das Gymnasium und die zunehmende soziale Homogenität der Hauptschüler, hingewiesen (Leschinsky und Mayer 1990). Eine nicht beabsichtigte Nebenfolge der Bildungsexpansion ist der zunehmend sozial selektive Übergang auf die entwertete Hauptschule, deren Schülerschaft als die „Kellerkinder der Bildungsexpansion“ die negativen Folgen dieser Entwicklung für das Sozial- und Lernklima in der „Restschule“ mit Getto-Charakter zu tragen hat (Solga und Wagner 2001: 109; Klemm 2000). Ebenso wurde die Hauptschule zu einer „ethnisch dominierten Restschule“ bzw. zur „Gettoschule“ mit einem wachsenden Anteil von Kindern nichtdeutscher Herkunft. Dahinter verbirgt sich eine herkunftsbedingte und institutionelle Segregation des deutschen Schulsystems, welche die soziale Homogenisierung der Erfolglosen der Bildungsexpansion zur Folge hat: Der Hauptschulbesuch wird – so Solga und Wagner (2001) – zu einem askriptiven Merkmal, weil die Vorhersage eines Hauptschulbesuchs unter Kenntnis der sozialen Herkunft – und sicherlich auch der mit der sozialen Herkunft verknüpften Schulleistungen – immer besser, und die soziale Benachteiligung eher zum Indiz für schulisches Versagen als zum Indiz für negativ privilegierte Startchancen wird. Da Chancengleichheit nicht die Gleichheit von Bildungsergebnissen im Sinne der Gleichverteilung von Bildung meint, kann nach Handl (1985) die Chancengleichheit nicht anhand der Verteilungsungleichheiten in Bildungswegen oder Bildungskategorien beurteilt werden. Vielmehr ist beim inhaltlichen Konzept der Chancengleichheit der Prozess des ungleichen Bildungszugangs zu betrachten, über welchen die unterschiedlichen Startchancen und Bildungsergebnisse zustande kommen (Handl 1985: 703). In statistischer Hinsicht sind statt des Vergleichs von Prozentsätzen und Prozentsatzdifferenzen die relativen Chancen (odds ratios), gemessen am Verhältnis von Chancen für unterschiedliche Gruppen, zu betrachten. Denn Prozentsätze und ihre Veränderungen reflektieren lediglich die Größenordnungen der Bildungskategorien, und sind nicht vom relativen Verhältnis zweier Gruppen im Zugang zu den Bildungskategorien abhängig. Hingegen berücksichtigen Prozentsatzverhältnisse im Unterschied zu den Prozentsatzdifferenzen „Chancenungleichheiten“ in ih-
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Becker
ce für Kinder von Beamten auf das Gymnasium zu wechseln immerhin noch mehr als das 11-fache der Arbeiterkinder.3 Demnach hat im Laufe der Zeit die soziale Selektivität beim Zugang zum Gymnasium abgenommen, ist aber immer noch recht deutlich. Insgesamt hat die Bildungsexpansion zu mehr Bildungschancen und, beim Zugang zur Realschule, zum Abbau von Chancenungleichheit nach sozialer Herkunft geführt (Geißler 1999; Baumert 1991). Dagegen hängen die Chancen für den Übergang auf das Gymnasium wie die daraus resultierenden Lebenschancen immer noch von der sozialen Herkunft – von der Schichtzugehörigkeit und der sozialen Position des Elternhauses – ab (Mayer und Blossfeld 1990).4 Die geschilderten
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rer reinen Form, da ausschließlich die Allokationsprozesse der betroffenen Personen im Vordergrund stehen (Handl 1985: 709). Neuere Ergebnisse der amtlichen Statistik liegen nicht vor. Denn durch Veränderungen von Fragen im Mikrozensus ist es für die Zeit nach 1989 nicht mehr möglich, die soziale Herkunft von Schulkindern nach Ende der Grundschulzeit differenziert für die einzelnen Schullaufbahnen der Sekundarstufe I zu betrachten. Statt der Schullaufbahnen werden nunmehr die Klassenstufen betrachtet, die zwar für einen internationalen Vergleich herangezogen werden können, aber nicht mehr für die Messung von herkunftsbedingten Bildungschancen (Schimpl-Neimanns und Lüttinger 1993). Diese Ergebnisse sind deswegen erstaunlich, weil man aus modernisierungstheoretischer Sicht hätte argumentieren können, dass im Zuge der Modernisierung – aufgrund funktionaler Erfordernisse an das Bildungssystem – auch die Herkunftseffekte wegen Meritokratisierung von Bildungschancen hätten verschwinden müssen. Angesichts verstärkter Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften im Erwerbssystem, gestiegener Bildungsnachfrage in der Bevölkerung und gesunkener Kosten von Bildung müsste man nicht nur zunehmende Partizipation an höherer Bildung erwarten, sondern man könnte auch aus modernisierungstheoretischer Sicht annehmen, dass bislang benachteiligte Sozialschichten ihre Bildungsdefizite durch verstärkte Bildungsnachfragen ausgleichen könnten. Dagegen ist einzuwenden, dass die Arbeiter so hohe Rückstände bei der höheren Bildung aufweisen, die sie kaum ausgleichen können. Sie müssten ihre Bildungsanstrengungen überproportional steigern, wobei die Modernisierungstheorie jedoch keine Aussagen dafür liefert, wie diese Entwicklung überhaupt vonstatten gehen soll. Deswegen ist dieser Erklärungsversuch (Treiman 1970) unvollständig, weil er keine sozialen Mechanismen benennt, unter welchen sozialen Bedingungen sich Eltern für die höhere Bildung ihrer Kinder entscheiden. Ebenso wenig finden sich Hinweise für die These von Collins (1979), wonach die sozial selektive Vergabe von Bildungszertifikaten dazu dient, den niedrigen Klassen weiterhin den Zugang zur höheren Bildung zu verwehren, und somit im Interesse der höheren Sozialschichten die Legitimationsfunktion von Ausbildung im Statussystem bewahrt bleibt (vgl. Blossfeld 1993). Nicht zuletzt hat die internationale Leistungsvergleichsstudie PISA für Deutschland deutlich gemacht, dass die Bildungschancen immer noch signifikant vom sozialen Status des Elternhauses abhängen (Deutsches PISA-Konsortium 2001, 2002). Darüber hinaus haben Baumert und Schümer (2001) aufgezeigt, dass der Erwerb von Basiskompetenzen in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften und der schulische Lernerfolg ebenfalls in bedeutsamem Maße von der sozialen Herkunft der 15-jährigen Schulkinder abhängen. Den Analysen von Baumert und Schümer zufolge liegt die durchschnittliche Lesekompetenz von 15-Jährigen aus dem oberen Viertel der sozialen Schichtung unterhalb der vierten Kompetenzstufe, während die mittlere Lesekompetenz der 15Jährigen aus den unteren Sozialschichten zwischen der zweiten und dritten Kompetenzstufe liegt. Während die deutschen Schülerinnen und Schüler aus der oberen Dienstklasse einen mittleren
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Befunde zur Entwicklung der Bildungsexpansion sind insofern überraschend, als dass es zwar deutliche Niveaueffekte beim Übergang auf das Gymnasium gab, aber vergleichsweise geringe Struktureffekte (Meulemann 1995).5 Die soziale Struktur der Zugangschancen zum Gymnasium hat sich bei verbesserten Übergangschancen für niedrige wie für höhere Sozialschichten nicht grundlegend geändert (Rodax 1995: 19). Legt man aber das Schwergewicht auf die soziale Selektivität beim Zugang zur höheren Bildung, dann hat sich für den Zugang zum Gymnasium die Struktur der intergenerationalen Bildungsvererbung wenig geändert (vgl. Meulemann 1992: 123). Es stellt sich daher die Frage, wie dieses Phänomen erklärt werden kann: Warum gibt es beim Zugang zum Gymnasium trotz lang anhaltender Bildungsexpansion immer noch Chancenungleichheiten zwischen den Sozialschichten? In Anlehnung an den Bericht von Müller und Mayer (1976: 25-27) geht es im vorliegenden Beitrag darum, Gründe dafür aufzudecken, warum es beim Zugang zum Gymnasium immer noch keine Chancengleichheit im Sinne der statistischen Unabhängigkeit der Bildungschancen nach sozialer Herkunft gibt. 2.
Theoretische Grundlagen
Chancengleichheit im Sinne des Modells der statistischen Unabhängigkeit heißt, dass jedes Schulkind unabhängig von seiner sozialen Herkunft die gleiche Start-
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Platz im internationalen Vergleich einnehmen, ist das Leseniveau der Arbeiterkinder im nationalen wie im internationalen Vergleich auffallend niedrig. Ebenso erstaunlich ist das Ausmaß der Differenz zwischen der mittleren Lesekompetenz von 15-Jährigen aus der oberen Dienstklasse und von Jugendlichen aus der Arbeiterschicht. Dabei sind Deutschland und die Schweiz die beiden Länder mit den größten Unterschieden zwischen den oberen und unteren Sozialschichten. So betragen in Deutschland die Differenzen mehr als anderthalb Kompetenzstufen oder 1,2 Standardabweichungen. Andere Länder weisen zwar ebenfalls beträchtliche, aber doch signifikant niedrigere herkunftsspezifische Leistungsunterschiede auf. Aber in Deutschland und in der Schweiz ist die Koppelung von sozialer Herkunft und Erwerb zentraler Basiskompetenzen wie Lesen weitaus enger als in anderen Ländern. Diesen deskriptiven Befund untermauern Baumert und Schümer mit Regressionsanalysen. Demnach sind in Deutschland, gefolgt von der Schweiz, die Herkunftseffekte für die Lesekompetenz in ihrem Gewicht am ausgeprägtesten. Ebenso kann für Deutschland wie für die Schweiz die Verteilung der Lesekompetenzen unter den 15-Jährigen vor allem durch die soziale Herkunft erklärt werden. Wie vertragen sich diese Ergebnisse von Baumert und Schümer mit den Befunden, dass in Deutschland im Zuge der Bildungsexpansion die soziale Ungleichheit von Bildungschancen geringer geworden ist, und dies auch zugunsten der bislang benachteiligten Kinder von Arbeitern und Landwirten? Denn wenn Bildungschancen und Bildungserfolge unter anderem durch die schulischen Leistungen bestimmt werden, dann sind die Befunde vom Baumert und Schümer (2001) zumindest für Deutschland erklärungsbedürftig. Die in diesem Zusammenhang oftmals angeführte Metapher des „Fahrstuhleffektes“ von Beck (1986) ist nicht nur irreführend, sondern empirisch falsch (vgl. Rodax 1995: 21). Nicht alle Sozialschichten konnten in Bezug auf die Bildung in den Fahrstuhl einsteigen und ein oder mehrere Etagen nach oben fahren. Die „Kellerkinder der Bildungsexpansion“ sind, um bei der bildhaften Sprache zu bleiben, erst gar nicht in den Fahrstuhl gelangt (siehe z.B. Solga und Wagner 2001).
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chance im Bildungssystem haben soll. Demnach sollten Kinder „nicht aufgrund ihrer unterschiedlichen Herkunft von vornherein ungleiche Chancen haben [...]“ und „Chancengleichheit (wäre) dann erreicht [...], wenn Unterschiede zwischen großen sozialen Gruppen sich nicht mehr in den Bildungs- und Berufschancen von Kindern auswirken würden“ (Müller und Mayer 1976: 27). Hierbei weisen Müller und Mayer (1976) darauf hin, dass das Postulat der Chancengleichheit nicht die Gleichheit von Bildungserfolgen impliziere, aber auch nicht die formale Chancengleichheit, nach der Bildungserfolge nunmehr ausschließlich von den individuellen Fähigkeiten, Anstrengungen, Leistungen und Motivationen abhängen soll (siehe auch Heid 1988: 1; Coleman 1975). Da diese eben nicht unabhängig von der sozioökonomischen Lage des Elternhauses sind, würde eine formale Chancengleichheit einen hohen Grad an Chancenungleichheit zwischen den sozialen Schichten und ihre dauerhafte Festschreibung bedeuten (Müller und Mayer 1976: 26-27). Die Herstellung formaler Chancengleichheiten dürfte zwar zu mehr Bildungschancen und höheren Bildungsbeteiligungen führen. Aber weil der Bildungserfolg über im Lernprozess erworbene Leistungen im Bildungssystem verteilt wird und die schulische Performanz als Voraussetzung dafür aber von der sozialen Herkunft abhängt, dürfte – so die These – die Herstellung von Chancengleichheiten so lange Utopie bleiben, sofern die Startchancen (d h. die Voraussetzungen für den Bildungserfolg) auch an die soziale Herkunft der Schulkinder geknüpft sind. Diese These lässt sich mit der Theorie von Boudon (1974) spezifizieren, die eine systematische Erklärung für den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungsungleichheit und ihrer Ursachen bietet. Um die Frage nach dauerhaften Bildungsungleichheiten klären zu können, ist es notwendig, das Zustandekommen von ungleichen Bildungschancen beim Übergang auf eine weiterführende Schule nach dem vierten Grundschuljahr zu rekonstruieren.6 Der Übergang von der Grundschule auf die weiterführenden Schulen ist nicht nur die erste, sondern auch die entscheidende Weichenstellung der Bildungslaufbahn im deutschen Schulsystem (Baur 1972: 13). Auf dieser Übergangsentscheidung bauen alle weiteren Bildungsaspirationen und Bildungschancen im Lebensverlauf auf (Henz und Maas 1995: 610). Für das Verständnis von persistenter Chancenungleichheit nach sozia6
In der Regel wird der Erwerb von Bildungszertifikaten als Maßstab für Bildungserfolg und Bildungsungleichheiten herangezogen (Schimpl-Neimanns und Lüttinger 1993), aber der sozial selektive Übergang auf die weiterführenden Schullaufbahnen ist die Voraussetzung für sozial ungleiche Bildungsergebnisse (Henz und Maas 1995). Ohne deren Verständnis kann die ungleiche Verteilung von Bildungszertifikaten nicht beurteilt werden: „Da die Transmission sozialer Status zwischen den Generationen nicht nur über Bildungsabschlüsse läuft, sondern auch über Aspirationen und individuelles Handeln, deren Einfluss auf den Bildungserfolg sich wandeln kann (Meulemann 1999: 321), kommt es darauf an, die komplexe Wirkung von sozialen Einflüssen auf den Bildungserfolg prozessorientiert statt lediglich ergebnisorientiert zu analysieren und neben Bezügen zur Schul- und formalen (Aus-) Bildungslaufbahn auch Einflussfaktoren zu berücksichtigen, die nicht unmittelbar auf das formale Bildungsgeschehen bezogen sind“ (Büchner 2002: 13).
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ler Herkunft ist dieser Bildungsübergang bedeutsam, weil dieser stärker als andere Bildungsentscheidungen vom Willen der Eltern, aber auch von der Schulleistung und Motivation des Kindes abhängt (Wiese 1986: 206). Soziale Ungleichheit von Bildungschancen – das Modell von Boudon (1974) Aus einer strukturell-individualistischen Perspektive betrachtet, sind die Bildungschancen als Ergebnisse individueller, sozial bestimmter Entscheidungen der Eltern und institutioneller Mechanismen des Bildungsübergangs, die vom Bildungswesen vorgegeben sind, anzusehen (Kristen 1996, 1999; Erikson und Jonsson 1996; Breen und Goldthorpe 1997; Becker 2000a, 2003). Sie ergeben sich aus einem inneren Zusammenhang zwischen Schulleistung und Auswahlverhalten, der zum einen durch das Schulsystem und zum anderen durch individuelle Entscheidungen der Eltern bestimmt wird (vgl. Böttcher 1986). Zwischen sozialen Schichten differierende Bildungsergebnisse resultieren wiederum aus sozialen Disparitäten in den Bildungsaspirationen und schulischen Leistungen. Demnach sind Bildungsungleichheiten aggregierte Folgen elterlicher Bildungsentscheidungen und der Schulleistungen, die zwischen den Sozialschichten variieren, sowie der leistungsbezogenen Selektion durch das Bildungssystem, die für die einzelnen Sozialschichten unterschiedliche Konsequenzen für den weiteren Bildungsverlauf haben kann. Die Wahl der Schulausbildung ist zweifelsohne eine seltene, folgenschwere und unter hoher Unsicherheit zu treffende Entscheidung im Familienkontext, die weit reichende Konsequenzen für die Lebens- und Statuschancen von Kindern haben (Kristen 1999: 11). Dessen sind sich vor allem die Eltern mit höherem Sozialstatus bewusst und sind daher daran interessiert, über die Bildung und Ausbildung ihrer Kinder die privilegierten Lebenschancen zu erhalten, die sie selbst bislang erreicht haben. Ausgehend von dieser Vorüberlegung wird die von Boudon (1974) vorgeschlagene Theorie für die Wahl der Schulausbildung herangezogen, die ein kohärentes Aussagesystem für Bildungsentscheidungen und Emergenz von Bildungsungleichheiten darstellt und sich bereits in mehreren empirischen Studien bewährt hat (vgl. Becker 2000a, 2000b). Nach Boudon (1974) erfolgen elterliche Bildungsentscheidungen – die Auswahl einer Schullaufbahn von mehreren möglichen, die durch das Bildungssystem vorgegeben werden – nach der Abwägung von Vor- und Nachteilen höherer Bildung im Sinne einer quasi-ökonomischen Investitionsentscheidung. Eltern wählen daher diejenige Schullaufbahn aus, die ihnen vorteilhafter erscheint als andere Bildungswege.7 7
„Rationales Entscheiden bedeutet, aus den zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen die optimale zu wählen. Dabei wird die Optimalität der Handlungsalternative gleichgesetzt mit dem Ausmaß, in dem sie die subjektiven Kriterien eines Entscheiders erfüllt. Eine rationale Entscheidung setzt damit die Existenz eines Kriteriums voraus, auf das hin optimiert wird“ (Borcherding, 1983: 81).
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Becker
Abbildung 2: Modell für die Entstehung und Reproduktion von sozialer Ungleichheit der Bildungschancen nach Boudon (1974)
1) Bildungsrenditen: - erwartete Berufs- und Einkommenschancen - Soziale Aufstiege oder Statuserhalt bzw. Vermeiden sozialer Abstiege
Soziale Herkunft (sozioökonomische Lage des Elternhauses)
2) Kosten der Bildung: - Investitionskosten - Opportunitätskosten
3) Sozialisation im Elternhaus - Kognitive Fähigkeiten - Sprachliche und soziale Kompetenzen - Schulleistungen
Elterliche Bildungsentscheidung in Abhängigkeit vom sozialen Status: Sekundärer Herkunftseffekt
Erfolgswahrscheinlichkeit in Abhängigkeit vom sozialen Status:
Soziale Ungleichheit von Bildungschancen
Primärer Herkunftseffekt
So bestimmt neben den Investitions- und Opportunitätskosten (C) der Nutzen von alternativen Bildungswegen die Wahl einer bestimmten Schulausbildung (Abbildung 2).8 Der subjektiv von Individuen beurteilte Nutzen von Bildungsinvestitionen (B) korrespondiert mit ihrem Beitrag zum Statuserhalt, der sich aus der beruflichen Verwertbarkeit von Bildung oder aus Bildungsrenditen in Form von Einkommen und Mobilitätschancen ergibt (Boudon 1974: 51).9 Dieser Nutzenbetrag 8
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Allerdings sollte – wie von der Humankapitaltheorie angenommen – der Stellenwert von Bildungskosten eher unter dem Aspekt der Diskontierung längerer Bildungsinvestitionen gesehen werden als unter einem monetären Kostenaspekt für unmittelbar anfallende Bildungsaufwendungen (Becker 1974). Denn in Deutschland wurden Schulgeld und Studiengebühren bereits in den 1950er Jahren abgeschafft und zudem besteht seit den 1960er Jahren Lernmittelfreiheit. Die Einführung der Schulgeld- und Lernmittelfreiheit hatte keinen Einfluss auf das Bildungsverhalten der Eltern gehabt, da dadurch die Kosten für schulische Ausbildung nicht sehr wesentlich beeinflusst werden. Es müssen daher – so Ehmann (2001: 58-59) – andere Faktoren ausschlaggebend für die gestiegene Bildungsbeteiligung in allen Sozialschichten gewesen sein. Diese Motive korrespondieren mit den theoretischen Prämissen der sozialen Produktionsfunktion. Die von Lindenberg (1989) vorgeschlagene Theorie der sozialen Produktionsfunktion besagt, dass Individuen bei der Auswahl von Handlungen zentrale Motive wie etwa Streben nach physischem
Soziale Ungleichheit von Bildungschancen
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wird noch mit der subjektiven Beurteilung der schulischen Performanz des Kindes gewichtet, da mit ihr auch die Erfolgswahrscheinlichkeit (p) verknüpft ist, den erwarteten Nutzen überhaupt realisieren zu können. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Eltern für das Gymnasium als weiteren Bildungsweg entscheiden, kann dann in vereinfachter Weise formalisiert werden: P(Gymnasium)
pB C
Die subjektive Beurteilung von Kosten und Nutzen höherer Bildung ergibt sich aus der sozialen Distanz zwischen Schichtzugehörigkeit und höherer Bildung, sodass die Bildungsentscheidungen vom Sozialstatus der Familie und ihren Ressourcen abhängen (siehe auch Heckhausen 1974: 119). Die Rationalität der Bildungsentscheidung ergibt sich daher aus der (vernünftigen) Beachtung von Möglichkeiten und Zwängen der Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten, die wiederum mit der sozialen Position der Familie und ihren Ressourcen gegeben sind. Hierbei unterscheidet Boudon (1974) zwischen dem primären und sekundären Effekt der sozialen Schichtung. (1) Der primäre Herkunftseffekt umfasst die langfristigen Wirkungen der Anregung und Förderung im Sozialisationsprozess, die sich in schichtspezifischen Unterschieden der schulischen Leistung und Kompetenzen des Kindes niederschlagen. Die soziale Herkunft bewirkt als kultureller Effekt in der sozialen Schichtung, dass die Kinder wegen ihrer sozialen Herkunft ungleich auf die Schullaufbahnen verteilt werden. Der kulturelle Sozialisationseffekt besteht nach dem gegenwärtigen Stand der Sozialisations- und Bildungsforschung darin, dass sich die Sozialschichten in der Vermittlung von Sprachkultur, in der Lern- und Bildungsmotivation hin zum selbst regulierten Handeln und Lernen sowie in den habitualisierten Lerngewohnheiten voneinander unterscheiden, sodass sich zwangsläufig aufgrund sozialer Unterschiede in der außerschulischen Vorbildung Wohlbefinden und nach sozialer Anerkennung verfolgen, und dabei versuchen, Verluste zu vermeiden oder nach Sicherheit zu streben. Gemäß dieser Sichtweise wäre Bildung ein wichtiges Zwischenprodukt, um diese Ziele zu erreichen. Im Modell von Boudon kann das Motiv „Streben nach physischem Wohlbefinden“ durch die berufliche Verwertbarkeit, die erzielbaren Einkommen und den relativen Chancen für Statuserhalt oder soziale Aufstiege abgebildet werden. Das Motiv der sozialen Anerkennung wird mit dem Interesse und Streben der Eltern verknüpft, über Bildung den erreichten Sozialstatus und das soziale Ansehen langfristig zu sichern. Während die unteren Sozialschichten Bildung nicht benötigen, um ihren sozialen Status zu erhalten, sind vor allem die Mittelschichten auf höhere Bildung angewiesen, um einen sicheren Statusabstieg zu vermeiden und sich Chancen für Statusaufstiege offen zu halten. Kurzum – die subjektiv eingeschätzte berufliche Verwertbarkeit von Bildung und ihr Beitrag zum Statuserhalt bestimmen die elterliche Bildungsmotivation. Das Vermeiden von Verlusten oder das Streben nach Sicherheit kann sowohl an den Kosten von Bildung als auch an der Wahrscheinlichkeit festgemacht werden, angesichts der schulischen Leistungen das angestrebte Bildungsziel auch mehr oder weniger sicher realisieren zu können. Das Verhältnis zwischen erwarteten Kosten und Schulleistungen bestimmt das von den Eltern subjektiv eingeschätzte Investitionsrisiko (vgl. Esser 1999: 269).
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herkunftsbedingte Ungleichheiten bei den Voraussetzungen für die Schulbildung und den daran geknüpften Startchancen beim Beginn des Bildungsverlaufs von Kindern ergeben (vgl. Büchner 2002; Baumert und Schümer 2001; Fend et al. 1973: 888-889; Baur 1972). Die Beziehungen zwischen sozialer Herkunft, individuellen Begabungen und schulischer Leistungen sind in groben Zügen bekannt, aber immer noch nicht genau erforscht (vgl. Diefenbach 2002; Floud 1967: 74). Vor allem liegen dabei wirksame Mechanismen der intergenerationalen Transmission des sozialen und kulturellen Kapitals mit ihren Konsequenzen für schulische Leistungen noch weitgehend im Dunkeln (Diefenbach und Nauck 1997; Rössel und BeckertZiegelschmid 2002). Offensichtlich gibt es empirisch fundierte Hinweise dafür, dass die Beziehung zwischen Sozialstatus und schulischer Leistung enger ist als zwischen sozialer Herkunft und Intelligenz (Floud 1967: 74-75; Meulemann 1985: 90-110); aber auch hierfür sind die Mechanismen ebenfalls noch weitgehend unklar (Meulemann 1995). Weil Kinder aus unteren Sozialschichten wegen ungünstiger Sozialisationskontexte im Elternhaus und daraus resultierender kognitiver Nachteile vergleichsweise schlechtere Schulleistungen aufweisen als Kinder aus höheren Sozialschichten, scheitern sie eher an den Selektionshürden des Bildungssystems, insbesondere beim Übergang auf das Gymnasium. Der primäre Herkunftseffekt – der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und schulischer Leistung – ist nichts anderes als die Korrelation des sozialen Status des Elternhauses mit dem kulturellen Niveau und der sozialen Distanz zur höheren Bildung: Je niedriger der Sozialstatus der Familie, desto ärmer die kulturelle Ausstattung der Kinder und desto begrenzter ist deren Bildungserfolg (Boudon 1974: 29). Daher unterscheiden sich die einzelnen Sozialschichten von Beginn ihrer Bildungslaufbahn an systematisch in ihren Erfolgswahrscheinlichkeiten. (2) Im Unterschied zum primären Herkunftseffekt stellt der sekundäre Effekt der sozialen Schichtung einen kurzfristigen und direkten Effekt für die Bildungschancen dar. Als sekundären Herkunftseffekt bezeichnet Boudon (1974) die schichtabhängigen Unterschiede in der subjektiven Kosten-Nutzen-Bewertung und die Auswahl des Bildungsweges. Familien treffen Bildungsentscheidungen in Abhängigkeit von ihrer sozialen Position, und wählen diejenige Schullaufbahn aus, die sie für vorteilhafter ansehen als andere Bildungswege. Nach Boudon (1974) sind elterliche Bildungsaspirationen und Bildungsentscheidungen nur im Kontext der Lebensplanung und des Bildungsdenkens der Familie und der damit verbundenen Bildungstraditionen erklärbar: Ansprüche hängen von Ressourcen – insbesondere von der sozialen Distanz zu den Bildungsstufen – ab. Jedoch ist die Dynamik der Interaktions- und Kommunikationsprozesse in Bezug auf Bildung bislang unzureichend empirisch belegt (Büchner 2002: 18). Daher sind Struktur und Dynamik von Vermittlungsprozessen in Familien und ihren sozialen Umwelten zu untersuchen, um die Genese von Bildungsungleichheiten vollständig verstehen zu können (Diefenbach 2000: 182).
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Der sekundäre Effekt der Schichtung hat zum Resultat, dass die Bildungswahl von der sozialen Position der Familie abhängt: je höher der Status, desto höher die Bildungslaufbahn. Aufgrund der größeren sozialen Distanz zwischen sozialem Status und höherer Bildung müssen im Vergleich zu den höheren Sozialschichten die unteren Sozialschichten höhere Aspirationsniveaus haben, mehr Ressourcen aufbringen und sich mehr anstrengen, damit sie sich für die höhere Bildung entscheiden. Für die höheren Sozialschichten sind die subjektiv erwarteten Kosten höherer Bildung geringer, da die zu überwindende soziale Distanz zur höheren Bildung weitaus geringer ist, und auch der erwartete Nutzen für höhere Bildung ist bei den höheren Sozialschichten deutlich größer als bei den unteren Sozialschichten (Boudon 1974: 30). Weil für höhere Sozialschichten die zu überwindenden Distanzen geringer sind und ihre Kinder aufgrund privilegierter Überlebenswahrscheinlichkeiten im Bildungssystem (der Wahrscheinlichkeit, die Bildungshürden zu nehmen und daher im Bildungssystem verbleiben zu können), die an die schulischen Leistungen geknüpft sind, die erwarteten Nutzen eher realisieren können, entscheiden sich höhere Sozialschichten eher für das Gymnasium als die unteren Sozialschichten. Somit sind soziale Ungleichheiten von Bildungschancen ein unbeabsichtigtes Ergebnis des Zusammenwirkens primärer und sekundärer Herkunftseffekte.10 Im Prozess der Entwicklung von Chancenungleichheit spielen nach Boudon (1974) die leistungsunabhängigen Faktoren der elterlichen Bildungsentscheidung eine bedeutendere Rolle als die leistungsabhängigen Faktoren. Allerdings vernachlässigt Boudon (1974) die Sozialisationswirkung der Schule (Büchner und Krüger 1996). Vorliegende Studien liefern empirische Hinweise dafür, dass die Grundschule die reinen primären Herkunftseffekte modifiziert, indem sie schichtabhängige Startchancen eher verstärkt oder zumindest reproduziert als kompensiert oder gar nivelliert (Blossfeld und Shavit 1993; Fend et al. 1973: 887). Daher können bei den frühesten Bildungsübergängen sowohl subjektiv wahrgenommene Bildungsrenditen als auch subjektiv erwartete Erfolgswahrscheinlichkeiten die wichtigsten Mechanismen für die soziale Ungleichheit beim Zugang in die höheren Schullaufbahnen sein (vgl. Erikson und Jonsson 1996: 55). Des Weiteren wird außer Acht gelassen, dass sich die Gewichte von primären und sekundären Herkunftseffekten im Zuge der Bildungsexpansion verschieben können. So könnte vermutet werden, dass bei einem Anstieg des Bildungsange10
Neben modernisierungs- und konflikttheoretischen Ansätzen kann auch der kultursoziologische Ansatz von Bourdieu und Passeron (1978) die nachlassende Bildungsungleichheit im Zuge der Bildungsexpansion nicht umfassend erklären, wenn gerade die „feinen Unterschiede“ die Bildungsentscheidungen determinieren (Goldthorpe 1996: 488). Darüber hinaus fehlen empirische Belege dafür, wie kulturelles Kapital mit sozialer Herkunft korreliert (Erikson und Jonsson 1996: 24) und dafür, dass das Kulturkapital für die Bildungschancen ausschlaggebend ist (Boudon 1974). Vielmehr geht kulturelles Kapital neben anderen Ressourcen in die Kalkulation von Bildungsentscheidungen ein.
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bots und der Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften die Bildungsbeteiligung durch gestiegene Bildungsaspirationen in allen Sozialschichten forciert wird (Becker 2003; Müller und Haun 1994; Lutz 1983). Sekundäre Herkunftseffekte für Bildungschancen nehmen dabei in der Abfolge von Geburtsjahrgängen und daher auch im Zeitverlauf ab. Aber es gibt weiterhin Bildungsungleichheiten, weil auf der einen Seite das Schulsystem nach schulischen Leistungen selektiert und weil auf der anderen Seite immer noch beträchtliche primäre Herkunftseffekte, also von der sozialen Herkunft abhängige Schulleistungen, die Bildungschancen beim Übergang auf das Gymnasium bestimmen. Trotz gestiegener Bildungsaspirationen in allen Sozialschichten werden wegen ihrer nachteiligen Schulleistungen die bislang sozial benachteiligten Sozialschichten weiterhin ungünstigere Bildungschancen im System der höheren Bildung haben. Folge davon ist das Weiterbestehen von Bildungsungleichheiten, weil nunmehr primäre Herkunftseffekte die Bildungschancen bestimmen. Wenn sich nicht primäre und sekundäre Herkunftseffekte gleichermaßen abschwächen, dann werden weiterhin Chancenungleichheiten nach sozialer Herkunft bestehen bleiben. Vor allem die Abschwächung primärer Herkunftseffekte wird für die Herstellung von Chancengleichheiten entscheidend sein. 3.
Datenbasis
Im Hinblick auf die empirische Überprüfung unserer Hypothese ist die Datenlage als desolat zu bezeichnen. Für den historischen Vergleich von Struktur und Dynamik der elterlichen Bildungsentscheidungen am Ende der Grundschulzeit und des darauf folgenden Übergangs auf das Gymnasium gibt es lediglich wenige Datensätze, mit denen auch die Mechanismen der Bildungsprozesse und des Bildungsverhaltens nach dem Modell von Boudon (1974) abgebildet werden können. Hiervon sind drei, für unsere Fragestellung brauchbare Datensätze aus dem Zentralarchiv für empirische Sozialforschung in Köln ausgewählt und für die 1960er, 1970er und 1980er Jahre ausgewertet worden. Diese drei Datensätze sind beim Kölner Zentralarchiv für empirische Sozialforschung unter ZA 893: „Elternhaus und Bildungschancen“, ZA 819: „Chancenzuweisung durch Ausbildung“ und ZA 1611: „Der Übergang auf weiterführende Schulen (Bildungsverläufe in Arbeiterfamilien)“ archiviert. 1) Beim ersten Datensatz handelt es sich um Informationen aus der Studie „Elternhaus und Bildungschancen“ (vgl. Baur 1972). Die Grundgesamtheit umfasst 1.729 Eltern von Schülern aus BadenWürttemberg, die im Herbst 1967 den Übergang von der vierten Klasse der Grundschule in die fünfte Klasse von Gymnasium, Realschule oder Hauptschule vollzogen hatten. Der Erhebungszeitraum lag zwischen Juni und Juli 1968. 2) Der zweite Datensatz basiert auf der Studie „Chancenzuweisung durch Ausbildung“ (vgl. Fröhlich 1973). Zwischen November 1971 und Mai 1972 wurden in einer Totalerhebung in NordrheinWestfalen (Lichtenau, Bielefeld, Bottrop, Wassenberg und Stolberg) 1.848 Haushaltsvorstände mit Kindern im vierten bzw. fünften Schuljahr befragt. Bei den Arbeiterfamilien wurde zusätzlich noch der Ehepartner interviewt. Dieses Verfahren hat den Vorteil, dass gerade bei dem der Arbeiterklasse zuge-
Soziale Ungleichheit von Bildungschancen
169
hörigen Haushaltsvorständen auftretende fehlende Werte zum Bildungsverlauf ihrer Kinder substituiert werden konnten. Des Weiteren konnte das „undercoverage“ bei den Arbeitern zumindest teilweise ausgeglichen werden. 3) Schließlich stammt der dritte Datensatz aus dem Projekt „Bildungsverläufe in Arbeiterfamilien“ (vgl. Fauser 1983). Berücksichtigt wurden die beiden Befragungen, die im Herbst 1982 und Herbst 1983 erfolgten. Im Herbst 1982 wurden in einer Totalerhebung Eltern mit Kindern in der vierten Grundschulklasse (Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen), in der Abschlussklasse der Orientierungsstufe (Niedersachsen) und in der sechsten Klasse der Grundschule (West-Berlin) zunächst über ihre Schulwünsche für das Kind befragt. Dieselben Eltern wurden dann im Herbst 1983 nach der inzwischen getroffenen Bildungsentscheidung und dem erfolgten Übergang auf die weiterführenden Schulen der Sekundarstufe I befragt. An der ersten Befragung nahmen 4.252 Eltern und an der zweiten Befragung noch 3.085 Eltern teil. Die Familien, die an beiden Befragungen teilgenommen haben, bilden die Stichprobe. Nach Ansicht von Fauser (1984: 13) unterscheiden sich die beiden Befragungen in zentralen Ergebnissen kaum voneinander. Ausfälle gab es vornehmlich bei Arbeiterfamilien, weniger gebildeten Familien und Familien mit niedrigeren Schulwünschen für ihre Kinder. Eltern, die ihr Kind auf die Hauptschule schickten, sind gemessen an den tatsächlichen Übergangsquoten unterrepräsentiert (vgl. Fauser 1983: 12). Weil Informationen zu den Ausfällen nicht verfügbar sind, ist die Korrektur einer eventuell vorliegenden Stichprobenverzerrung nicht möglich (vgl. Becker 2003). Familien, die für ihr Kind die Gesamtschule avisierten, oder Fälle mit fehlenden Angaben zu Bildungsvorstellungen und anderen, für unsere Fragestellung zentralen Variablen wurden von der Analyse ausgeschlossen. Die Analysestichprobe für den Zeitraum 1966-67 umfasst 1.685 Familien, die für 1970-71 1.840 Familien und für Anfang der 1980er Jahre dann 1.964 Familien.
Aktuellere, für Sekundäranalysen zugängliche Daten gibt es meines Wissens (noch) nicht. Gemeinsam ist diesen Sekundärdaten, dass sie auf der Individualebene wichtige bildungsbezogene Prozesse und Mechanismen im Elternhaus und in der Schule vor und nach dem Bildungsübergang gemessen haben. Daher können wir mithilfe wiederholter Befragungen von Eltern mit Kindern am Ende der Grundschulzeit und nach dem Vollzug des Übergangs auf das Gymnasium den Prozess der elterlichen Bildungsentscheidung für drei unterschiedliche Jahrgänge in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren in unterschiedlichen westdeutschen Bundesländern nachzeichnen. Diese Daten ermöglichen im Vergleich zu anderen Datenquellen, insbesondere der amtlichen Statistik, einen tieferen Einblick in Genese und Reproduktion von Chancenungleichheit. Zum einen erlauben die Daten, die Bedeutung primärer und sekundärer Herkunftseffekte im Prozess der elterlichen Bildungsentscheidung für zwei Zeitpunkte – vor und nach dem Bildungsübergang – zu untersuchen. Zum anderen können wir die Mechanismen von elterlichen Bildungsentscheidungen und die Gewichte für die Selektionsleistungen des Bildungssystems beim tatsächlichen Übergang von der Grundschule auf die weiterführenden Schullaufbahnen der Sekundarstufe I isolieren. Es ist abschließend noch zum einen darauf hinzuweisen, dass mit diesen drei Zeitpunkten in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren nur sehr eingeschränkte Aussagen zur langfristigen Entwicklung von Bildungsungleichheit möglich sind, sodass wir es bei komparativ-statischen Querschnittsbetrachtungen belassen, statt von Trends zu sprechen. Erst mit vergleichbaren Daten für eine größere Anzahl von Beobachtungszeitpunkten können langfristige Trends präzise beschrieben werden. Dafür liegen meines Wissens keine kompatiblen Datensätze in ausrei-
170
Becker
chender Zahl vor. Aufgrund dieser methodisch-statistischen Schwierigkeit sind die folgenden empirischen Befunde mit entsprechenden Einschränkungen versehen und auch mit einiger Vorsicht zu interpretieren. Zum anderen können – streng genommen aus Gründen der Vergleichbarkeit – nur die beiden Zeitpunkte 1967/68 und 1982/83 berücksichtigt werden, und das noch ausschließlich für das Bundesland Baden-Württemberg. Dies wäre in Zusammenhang mit dem föderalen Schulsystem deswegen geboten, weil in BadenWürttemberg nach wie vor die Grundschulempfehlung für den weiteren Schulbesuch maßgebend ist, während sich der Stellenwert der Bildungsempfehlung in den anderen berücksichtigten Ländern im Verlauf der Zeit verändert hat. Aber empirische Analysen haben keine unterschiedlichen Befunde ergeben, wenn einerseits ausschließlich das Land Baden-Württemberg oder andererseits auch die anderen Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen oder Berlin berücksichtigt werden. Auffällige Unterschiede zwischen den Stichproben werden dann zusätzlich betont. 4.
Empirische Befunde
Determinanten der elterlichen Bildungsentscheidung Zunächst betrachten wir das Entscheidungsverhalten der Eltern, um zu zeigen, welche Rolle die einzelnen Faktoren der Bildungsentscheidung für Bildungschancen spielen (siehe Abbildung 3). Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Eltern für das Gymnasium entscheiden, ergibt sich aus dem Zusammenwirken des erwarteten Bildungsnutzens, der sich aus dem Statuserhaltsmotiv ableitet, der erwarteten Erfolgswahrscheinlichkeit, die sich aus den schulischen Leistungen des Kindes abschätzen lassen und den erwarteten Kosten für Bildungsinvestitionen: § P(GYMNASIUM ) · ¸ ln¨ © 1 ( P(GYMNASIUM )) ¹
a b1 Statuserhalt b2 Schulleistung b3 Kosten
Das jeweilige Gewicht von Determinanten der elterlichen Bildungsentscheidung und des realisierten Bildungsübergangs wird anhand von relativen Chancen, den so genannten odds ratios, bemessen, die durch logistische bzw. multinomiale Regressionen geschätzt wurden (Urban 1993; Schimpl-Neimanns 2000; Becker 2003). Ein odds-ratio-Wert von 1 besagt, dass es keine Einflüsse der unabhängigen Variablen auf die abhängige Variable gibt oder keine Unterschiede zwischen Gruppen bestehen, die miteinander verglichen werden. Bei einem Wert über 1 hingegen liegen positive Einflüsse oder Unterschiede vor, während Werte zwischen 0 und kleiner als 1 negative Einflüsse oder Unterschiede anzeigen. So besagt der Wert von 3,3 für das Motiv des Statuserhalts im Jahre 1966 (siehe Abbildung 3), dass die relative Chance dafür, dass sich Eltern für das Gymnasium entscheiden, um das 3,3-fache ansteigt, wenn das Statuserhaltsmotiv um eine Einheit
Soziale Ungleichheit von Bildungschancen
171
zunimmt. Subtrahiert man von diesem odds-ratio-Wert die Eins und multipliziert das Ergebnis mit 100 Prozent, dann vergrößert sich die relative Chance um 230 Prozent, dass sich die Eltern für das Gymnasium entscheiden, wenn ihr Interesse am Statuserhalt um eine Einheit zunimmt. Verwendet man standardisierte Effektkoeffizienten, damit man die odds-ratio-Werte für die einzelnen Einflussfaktoren in ein und demselben Modell trotz unterschiedlicher Maßstäbe miteinander vergleichen kann, dann können Aussagen zu Chancen gemacht werden, die sich ergeben, wenn sich die Ausprägung um eine Standardabweichung ändert. So besagt der standardisierte Wert von 1,8 für das Motiv des Statuserhalts im Jahre 1966, dass die relative Chance dafür, dass sich Eltern für das Gymnasium entscheiden, um das 1,8-fache ansteigt, wenn das Statuserhaltungsmotiv um eine Standardabweichung zunimmt. Abbildung 3: Determinanten der Entscheidung für das Gymnasium (standardisierte Effektkoeffizienten und in Klammern: unstandardisierte odds ratios) 2,5
2
1,5
2,0 (4,0)
2,0 (4,0)
1,8 (4,5)
1,8 (6,2)
1,8 (3,3)
1,5 (3,3)
1 1,0 (1,0) 0,8 (0,5)
0,8 (0,6)
0,5
0 1966 Statuserhalt
1970 Schulische Leistung
1982 Kosten
Quellen 1) 1966: ZA-Studie 893: Elternhaus und Bildungschancen – eigene Berechnungen 2) 1970: ZA-Studie 819: Chancenzuweisung durch Ausbildung – eigene Berechnungen 3) 1982: ZA-Studie 1611: Bildungsverläufe in Arbeiterfamilien – eigene Berechnungen
Abgesehen vom vergleichsweise geringen Einfluss der Bildungskosten auf die elterliche Bildungsentscheidung zugunsten des Gymnasiums gibt es weiterhin ausgeprägte Einflüsse elterlicher Bildungsaspirationen und vor allem der schulischen Leistungen des Kindes darauf, ob sich die Eltern nach der Grundschule für
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Becker
die höchste Schullaufbahn entscheiden. Es könnte durchaus vermutet werden, dass – betrachtet man die unstandardisierten Effektkoeffizienten – der im Zeitverlauf gestiegene Einfluss des Statuserhaltsmotivs bei rückgängigen Einflüssen subjektiv erwarteter Bildungskosten zu einem Anstieg in der Bildungsbeteiligung geführt hat (Becker 2003). Insbesondere die zunehmende Motivation für einen intergenerationalen Statuserhalt hätte dann diese Entwicklung forciert.11 Hingegen sind die Einflüsse der Bildungskosten auf die elterliche Bildungsentscheidung erwartungsgemäß soweit gesunken, dass sie kaum noch eine Rolle spielen, wobei daraus nicht ohne weiteres der Schluss gezogen werden kann, dass die Veränderung der Kosten dafür verantwortlich ist, dass aus Sicht der Eltern der Nutzen höherer Bildung immer größer erscheint.12 Aber der Einfluss schulischer Leistungen auf die Entscheidung für das Gymnasium ist weiterhin relativ stark und es ist zu vermuten, dass er immer noch die elterliche Bildungsentscheidung mitbestimmt.13
11
12
13
Für das Motiv eines intergenerationalen Statuserhalts konnten für die einzelnen Messzeitpunkte zwar keine identischen, aber doch kompatible Indikatoren herangezogen werden. Für das Jahr 1966 wurde die Frage nach dem Berufswunsch berücksichtigt. Wünschten die Eltern für ihr Kind eine höhere berufliche Stellung als sie selbst hatten, wurde dies mit „1“ als Statuserhalt operationalisiert. Andere Berufswünsche stellen die mit „0“ codierte Referenzkategorie dar. Für das Jahr 1970 wurde das Motiv des Statuserhalts durch die subjektive Bewertung der Bildungsaffinität der Ober- und Mittelschicht abgebildet. Es wurde danach gefragt, ob die höhere Bildung ausschließlich eine Angelegenheit für Familien in der Mittel- oder Oberschicht sei. Wurde dies bejaht, wurde der Indikator für das Vermeiden eines Statusverlusts mit „1“, ansonsten mit „0“ codiert. Für das Jahr 1982 wird das Bestreben der Eltern, dass das Kind denselben oder einen höheren Schulabschluss erreichen soll, als sie selbst haben, als Indikator dafür herangezogen. Die erwarteten Kosten C einer höheren Bildung werden indirekt gemessen, ob es für die Eltern persönliche oder finanzielle Opfer bedeutet oder bedeuten könnte, dass ihr Kind auf die höhere Schule geht. Für den ersten Beobachtungszeitpunkt wurde die Frage herangezogen, ob man immer daran denken muss, ob das Geld bis zum Monatsende reicht. Wird diese Frage bejaht, kann davon ausgegangen werden, dass die höhere Bildung eine außerordentliche Zusatzbelastung für das Haushaltsbudget bedeutet. Die positiv beantwortete Frage, ob der Übergang auf die weiterführende Schullaufbahn zusätzliche Kosten für den Haushalt bedeutet, stellt den Kostenindikator für das Jahr 1970 dar. Die mit höherer Bildung verbundenen Kosten werden für das Jahr 1982 mangels alternativer Operationalisierung daran gemessen, ob zwei und mehr Kinder einer Familie in die Schule gehen. Gemessen wird die Erfolgserwartung für das Jahr 1966 anhand der Durchschnittsnote von Deutsch, Rechtschreibung und Rechnen. Für das Jahr 1982 standen nur die Noten für Deutsch und Mathematik zur Verfügung. War diese durchschnittliche Leistungsbewertung besser als 2,5, wurde der entsprechende Indikator mit „1“, ansonsten mit „0“ codiert. Zur Messung der Erfolgserwartung im Jahre 1972 konnte anhand der Angaben der Eltern nur festgehalten werden, ob ihr Kind die entsprechende Leistungsfähigkeit für die höhere Schullaufbahn aufweist oder mangels Lernwillen nicht reif für die höhere Schule ist bzw. mangelnde Leistungen und Begabungen aufweist. Wie zuvor, wurde eine positive Einschätzung der schulischen Leistung mit „1“, ansonsten als Referenzkategorie mit „0“ codiert.
Soziale Ungleichheit von Bildungschancen
173
Abbildung 4: Schichtzugehörigkeit und Schulleistungen (odds ratios und Arbeiter als Referenzkategorie) 3,5 3 3
2,6
2,5 2,5
2,2
2 1,5
1,6 1,7 1,2 1,3
1,7 1,5
1,4
1,6
1 0,5 0 Beamte
Leitende Angestellte
Schulische Leistung 1966
Beamte im höheren Dienst
Schulische Leistung 1970
Professionen
Schulische Leistung 1982
Quellen 1) 1966: ZA-Studie 893: Elternhaus und Bildungschancen – eigene Berechnungen 2) 1979: ZA-Studie 819: Chancenzuweisung durch Ausbildung – eigene Berechnungen 3) 1982: ZA-Studie 1611: Bildungsverläufe in Arbeiterfamilien – eigene Berechnungen
Die damit verknüpften primären Ungleichheiten zeigt der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und schulischer Leistung.14 Dies gilt vor allem für den kontrastierenden Vergleich zwischen den Arbeitern und Beamten, der typischerweise bei Analysen herkunftsbedingter Bildungschancen angestellt wird und auch den Vergleich mit der amtlichen Statistik über Bildungsbeteiligung und Bildungschancen nach beruflicher Stellung erleichtert. Diese – in Abbildung 4 dokumentierten – Korrelationen belegen, dass auch im Zuge der Bildungsexpansion ungleiche Verteilungen von Startchancen nach sozialer Herkunft bestehen bleiben, die aber unter Umständen durch die Grundschule modifiziert worden sind.15 14
15
Die Erfolgswahrscheinlichkeit bemisst sich daran, einen so guten Notendurchschnitt (besser als 2,5) zu erzielen, dass er für den sofortigen Wechsel auf das Gymnasium berechtigt. Diese Schulnoten sind im Sinne des Modells von Boudon (1974) als Ausdruck von Fähigkeiten und leistungsnahen Motivationen und Verhaltensweisen anzusehen, die den Schulkindern über die Sozialisation im Elternhaus mitgegeben werden, und die für andere Personen im sozialen Austausch leichter erfahrbar sind als abstrakte Größen wie Intelligenz, die auf kognitive Kompetenzen abzielen. So weist Meulemann (1985) darauf hin, dass bei Kontrolle der sozialen Herkunft der Einfluss der Schulnoten signifikanter ist als der von Intelligenz. Wenn wir für den letzten Messzeitpunkt nur die Ergebnisse für Baden-Württemberg betrachten, dann wird diese Schlussfolgerung bestätigt, wonach Beamtenkinder eine 3,5-mal bessere Chance haben als Arbeiterkinder, einen Notendurchschnitt zu erzielen, der für den Wechsel auf das Gym-
174
Becker
Zumindest liegen Hinweise dafür vor, dass die bis in die 1980er Jahre hinein ausgeprägten primären Herkunftseffekte – und es gibt bislang keine Belege für einen dramatischen Wandel ihres Einflusses auf Bildungschancen – zur Persistenz von Bildungsungleichheiten nach sozialer Herkunft beigetragen haben. Die seitdem weitgehend unverändert gebliebenen institutionellen Bildungsangebote und Regelungen des Bildungserwerbs dürften kaum zur Abschwächung von Bildungsungleichheiten beigetragen haben, die ihre Ursache außerhalb der Schule im Elternhaus haben. Abbildung 5: Schichtzugehörigkeit und Statuserhalt (odds ratiso und Arbeiter als Referenzkategorie) 14 11,7
12 9,7
10 8
6,5
6 6 4
3
3,6 2,7
2,1
3,2
2,3 2,7 2,5
2 0 Beamte
Leitende Angestellte
Statuserhalt 1966
Beamte im höheren Dienst
Statuserhalt 1970
Professionen
Statuserhalt 1982
Quellen 1) 1966: ZA-Studie 893: Elternhaus und Bildungschancen – eigene Berechnungen 2) 1979: ZA-Studie 819: Chancenzuweisung durch Ausbildung – eigene Berechnungen 3) 1982: ZA-Studie 1611: Bildungsverläufe in Arbeiterfamilien – eigene Berechnungen
Eine präzisere Kausalaussage, wonach die Sozialisation im Elternhaus und die sozial bedingten Startchancen auch die alleinige oder entscheidende Ursache für Leistungsdisparitäten und daraus resultierenden Chancenungleichheiten sind, wäre aber nur möglich, wenn man die frühkindliche Entwicklung von Kindern sowie nasium notwendig ist. Vor allem Kinder von Beamten im höheren Dienst und Kinder von Vätern mit professionellen oder akademischen Berufen haben hierbei privilegierte Chancen. So sind in Baden-Württemberg die Disparitäten zwischen den Sozialschichten größer als im Durchschnitt der berücksichtigten Bundesländer. So haben Akademikerkinder eine fast 7-mal bessere Chance, einen guten Notendurchschnitt zu erzielen, und Kinder höherer Beamter gar eine 9-mal bessere Chance als Arbeiterkinder.
Soziale Ungleichheit von Bildungschancen
175
die Startchancen bei der Einschulung und ihre Veränderungen während der Grundschulzeit im Längsschnitt erfassen würde. Mit den verfügbaren Daten ist dies jedoch nicht möglich. Zumindest liegen aber erste Anhaltspunkte dafür vor, dass diese Entwicklung von Startchancen im Vorfeld des Bildungsübergangs zur Persistenz von Chancenungleichheiten beigetragen haben könnten. Weitere empirische Hinweise dafür dürften die Mechanismen des Übergangs auf das Gymnasium liefern. Betrachtet man für den Statuserhalt als einen wichtigen Bestandteil der elterlichen Bildungsentscheidung die Unterschiede zwischen den Sozialschichten, dann gibt es auch empirische Hinweise für deutliche sekundäre Herkunftseffekte bei den elterlichen Bildungsentscheidungen (Abbildung 5). Noch Anfang der 1980er Jahre sind Beamte mit Kindern in der Grundschule immer noch deutlich mehr am Statuserhalt durch Bildung interessiert als die Arbeiter. Und die Unterschiede zwischen den Arbeiterschichten und den Angehörigen der oberen Dienstklasse sind ebenfalls besonders augenfällig. Dies gilt übrigens im eingeschränkten Maße auch für die hier aus Platzgründen nicht dokumentierte Beurteilung erwarteter Kosten, wobei ebenfalls noch recht deutliche Schichtunterschiede bestehen (siehe auch Becker 2003). Der Übergang auf das Gymnasium Nunmehr gehen wir der Frage nach, welches Gewicht die elterliche Bildungsentscheidung auf der einen Seite und die Bildungsempfehlung der abgebenden Grundschule auf den Übergang auf das Gymnasium jeweils haben. Hierfür wird eine multinomiale Logit-Regression verwendet, deren Schätzgleichungen in LogitForm dargestellt sind: § P ( REALSCHULE ) · ¸ (1) ln ¨ © 1 ( P ( REALSCHULE )) ¹ a b1 P( Bildungsentscheidung) b2 Empfehlung( REALSCHULE) b3 Empfehlung(GYMNASIUM)
( 2)
§ P (GYMNASIUM ) · ¸ ln ¨ © 1 ( P (GYMNASIUM )) ¹ a b1 P( Bildungsentscheidung) b2 Empfehlung( REALSCHULE) b3 Empfehlung(GYMNASIUM)
Um den Stellenwert der erreichten Schulnoten für den Bildungsübergang abschätzen zu können, wird die Schätzgleichung erweitert, indem die Instrumental-
176
Becker
Variable „P(Bildungsentscheidung)“ für die bedingte Wahrscheinlichkeit, dass sich Eltern für das Gymnasium entscheiden, durch Motiv für Statuserhalt, Bildungskosten und schulische Leistungen ersetzt wird, die sich aus den Schätzungen für die elterliche Bildungsentscheidung ergibt (zu Details siehe Becker 2003). Da wir für die 1970er Jahre über keine differenzierten Angaben für die Grundschulempfehlung nach den einzelnen Schullaufbahnen verfügen, können wir nur zwei Zeitpunkte betrachten (siehe hierzu Fend et al. 1976: 21-22). Dargestellt werden nur die für unsere Argumentation bedeutsamen Faktoren (Abbildung 6). Abbildung 6: Determinanten für den Übergang auf das Gymnasium (standardisierte Effektkoeffizienten) 14 12 10
10,3 10,1
8
7,4
6 2,7
4,1 3,7
1,3
1,3
4 2 0 1967
1983
Bildungsempfehlung (Gymnasium)
Elterliche Bildungsentscheidung
Schulnoten
Bildungsempfehlung (Realschule)
Quellen 1) 1967: ZA-Studie 893: Elternhaus und Bildungschancen – eigene Berechnungen 2) 1983: ZA-Studie 1611: Bildungsverläufe in Arbeiterfamilien – eigene Berechnungen
Während gegen Ende der 1960er Jahre sowohl die elterliche Bildungsentscheidung für das Gymnasium als auch die Gymnasialempfehlung hauptsächlich ausschlaggebend für den Übergang auf das Gymnasium war, ist für Anfang der 1980er Jahre ein schwächerer Einfluss der elterlichen Bildungsentscheidung festzustellen. Vielmehr strukturieren neben der Bildungsempfehlung für das Gymnasium die Noten, die für den sofortigen Besuch des Gymnasiums berechtigen, die Bildungschancen am Ende der Grundschulzeit. Betrachtet man nur das Bundesland Baden-Württemberg, so gibt es für die beiden Zeitpunkte keine Unterschiede in den Größenordnungen von Gewichten der für die Realisierung von Bildungschancen in Betracht gezogenen Mechanismen. Jedoch sind dort im beobachteten
Soziale Ungleichheit von Bildungschancen
177
Zeitraum die institutionellen, leistungsbezogenen Selektionsmechanismen, die mit der Gymnasialempfehlung verbunden sind, sehr viel bedeutsamer als dies für eine Vielzahl unterschiedlicher Bundesländer zusammen der Fall ist. Elterliche Bildungsentscheidungen sind notwendig für die Realisierung von Bildungschancen, und auf den ersten Blick scheint es, dass angesichts der leistungsbezogenen Selektion durch das Bildungssystem die Bildungschancen meritokratischer geworden sind (vgl. Meulemann 1992). Dieser Befund ist aus theoretischer Sicht überraschend, da Boudon (1974) davon ausgegangen ist, dass die kurzfristigen sekundären Herkunftseffekte bedeutsamer sind für die Bildungschancen als die langfristig wirkenden primären Herkunftseffekte. Unseren Daten zufolge, die unter dem Vorbehalt ihrer historischen Lückenhaftigkeit zu sehen sind, ist die Selektionsleistung des Bildungssystems beim frühen Übergang von der Grundschule auf die weiterführenden Schullaufbahnen mit entscheidend für die Verteilung von Bildungschancen (vgl. Jürgens 1989). Abbildung 7: Schichtzugehörigkeit und Empfehlungen für Gymnasien (odds ratios und Arbeiter als Referenzkategorie) 4,5
4
4
3,7
3,6
3,5 3 2,3
2,5 1,9
2 1,5
1,9
1,3
1,3
1 0,5 0 Beamte
1967
Leitende Angestellte
Beamte im höheren Dienst
Professionen
1983
Quelle 1) 1967: ZA-Studie 893: Elternhaus und Bildungschancen – eigene Berechnungen 2) 1983: ZA-Studie 1611: Bildungsverläufe in Arbeiterfamilien – eigene Berechnungen
Wie für die schulischen Leistungen, ist festzustellen, dass die sozialen Disparitäten für die Chance, eine Empfehlung für das Gymnasium zu erhalten, sehr deutlich sind (Abbildung 7). Somit finden sich – und in besonderer Weise für BadenWürttemberg alleine – empirische Belege für die eingangs formulierte Vermutung,
178
Becker
dass die immer noch signifikanten primären Herkunftseffekte zur Persistenz von Chancenungleichheiten im Bildungszugang beigetragen haben und möglicherweise heutzutage immer noch dazu beitragen, wenn wir beispielsweise die Befunde der Leistungsvergleichsstudie PISA 2000 zum Zusammenhang von Lesekompetenzen und sozialer Herkunft heranziehen. Offensichtlich hat sich mit der zunehmenden Bildungsbeteiligung auch der Leistungswettbewerb um privilegierte Bildungschancen verschärft – und zwar zulasten der sozial benachteiligten Sozialschichten. Diese Schlussfolgerung kann noch untermauert werden, wenn wir den Zusammenhang von Schulnoten und Gymnasialempfehlung nach sozialer Herkunft betrachten (Abbildung 8). Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und der Chance wegen guter Schulnoten eine Gymnasialempfehlung zu erhalten. Die soziale Selektivität, aufgrund von Schulnoten eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, weist auf eine Kumulation von Chancenungleichheiten vor und nach der Einschulung in die Primarstufe hin. Insofern steckt möglicherweise hinter der scheinbaren Meritokratisierung beim Übergang auf das Gymnasium eine kumulative Selektivität von Bildungschancen nach sozialer Herkunft, die vor allem Konsequenzen von primären Herkunftseffekten sind. Abbildung 8: Zusammenhang von Schulnoten und Gymnasialempfehlung nach sozialer Herkunft (odds ratios und Arbeiter als Referenzkategorie) 14 12 10 6,9
8
5,8
6 3,7
4 2
2,5 2,7 1,4
2,3
1,8
0 Beamte
Leitende Angestellte
Beamte im höheren Dienst
Professionen
Schulleistung und Gymnasialempfehlung 1966-67 Schulleistung und Gymnasialempfehlung 1982-83
Quellen 1) 1966-67: ZA-Studie 893: Elternhaus und Bildungschancen – eigene Berechnungen 2) 1982-83: ZA-Studie 1611: Bildungsverläufe in Arbeiterfamilien – eigene Berechnungen
Soziale Ungleichheit von Bildungschancen
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Wenn die Kopplung von Erfolgswahrscheinlichkeiten an die soziale Herkunft immer noch sehr eng oder möglicherweise gar noch enger geworden ist, dann bleiben die Bildungschancen zwangsläufig weiterhin sozial selektiv und konterkarieren damit eine Angleichung der Bildungschancen im System der höheren Bildung über Bildungsangebote und Nachfragen seitens des Arbeitsmarktes nach hoch und höher qualifizierten Arbeitskräften. Die Persistenz sozial ungleicher Startchancen ist offensichtlich – und darauf deuten unsere Befunde hin, die seit den 1960er und 1970er Jahren allseits bekannte und in der Zwischenzeit wieder in Vergessenheit geratene Ergebnisse bestätigen – eine gewichtige Ursache für dauerhafte Bildungsungleichheiten. Damit finden sich empirische Hinweise dafür, dass die Ausgangsthese über die Persistenz von Bildungsungleichheiten – auch bei lückenhafter Datenlage und eingeschränkter Vergleichbarkeit der Beobachtungszeitpunkte – vorerst aufrechterhalten werden kann. Diese These der Persistenz von Chancenungleichheiten müsste allerdings noch für die jüngere Vergangenheit und Gegenwart mit informationsreicheren und kompatibleren Daten überprüft werden. 5.
Zusammenfassung und Schlussfolgerung
Im vorliegenden Beitrag wurde vor dem Hintergrund der Bildungsexpansion und der in allen Sozialschichten gestiegenen Bildungsbeteiligung versucht, Gründe für dauerhafte Bildungsungleichheiten zwischen den Sozialschichten in frühen Phasen des Bildungsverlaufs aufzudecken. Der Ausgangspunkt war das auf den ersten Blick paradox erscheinende Phänomen, dass die Bildungsexpansion zur Verminderung sozialer Selektion beim Zugang zu weiterführenden Schullaufbahnen geführt hat, aber die Unterschiede zwischen den Sozialschichten immer noch sehr groß sind. Es stellte sich daher die Frage, warum die Bildungsexpansion zwar Niveaueffekte, aber keinen umfassenden strukturellen Chancenausgleich zur Folge hatte. Die empirischen Befunde zeigen bei Berücksichtigung der problematischen Datenlage in der empirischen Bildungsforschung in Deutschland für ausgewählte Zeitpunkte und Schuljahrgänge in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren, dass die sozialen Herkunftseffekte für die Bildungschancen, also die zwischen den Sozialschichten differierenden Bildungsentscheidungen für das Gymnasium, zurückgegangen sind und zur gestiegenen Bildungsbeteiligung beigetragen haben. Insofern ist die Bildungsexpansion mit einer Anhebung von Chancengleichheit im formalen Sinne einhergegangen.16 Allerdings bestätigte sich die These, dass der Einfluss der 16
Aus methodischer Sicht sollte deutlich geworden sein, dass es nicht ausreicht, Bildungsungleichheiten anhand von Bildungsergebnissen zu bemessen und auf den Effekt der sozialen Herkunft zurückzuführen, sondern wir müssen in der Logik der Entstehung von Bildungsungleichheiten die vielfältigen relevanten Ursachen und Wirkungen in angemessener Weise beschreiben und empirisch überprüfen. In angemessener Weise bedeutet zum einen, soziale Mechanismen, die Ursachen mit ihren Wirkungen verbinden, in der Theorie zu benennen und in der Sozialforschung empirisch
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Becker
sozialen Herkunft auf die schulischen Leistungen und die darauf basierende Chance, eine Gymnasialempfehlung zu bekommen, keinem grundlegenden Wandel unterlag. Die weiterhin bestehenden primären Herkunftseffekte hingegen dürften daher zur Festschreibung dauerhafter Bildungsungleichheiten über die Selektion und Verteilung entsprechend der herkunftsabhängigen Schulleistungen beigetragen haben, sodass die Bildungsexpansion nicht mit der Angleichung von Startchancen zwischen den Sozialschichten und von Chancen für den Übergang auf das Gymnasium einherging. Da die Gründe hierfür im Elternhaus, also im Vorfeld der Einschulung und allgemein bildenden Ausbildung, liegen, konnte die Bildungsexpansion bei unveränderten Strukturen und Regelungen des Bildungssystems nicht zum umfassenden Chancenausgleich für alle Sozialschichten führen. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Grundschule offensichtlich nicht in der Lage ist, die Ungleichverteilung von Startchancen so weit auszugleichen, dass die soziale Herkunft sich nicht mehr auf die Bildungschancen von Kindern auswirkt. Um Chancengleichheit zumindest vor der entscheidenden Gabelung im Bildungsverlauf herzustellen, scheint es notwendig zu sein, dass die elterliche Bildungsentscheidung von der Schichtzugehörigkeit abgekoppelt wird. In dieser Hinsicht war die Bildungsexpansion zweifelsohne erfolgreich, wenn man die Prozesse und Strukturen des Übergangs auf die Realschule und das Gymnasium betrachtet (siehe hierzu Becker 2003). Aber gleichermaßen notwendig und hinreichend für die Herstellung von Chancengleichheiten kann offensichtlich nur die Abschwächung von primären Herkunftseffekten – der ungünstige Einfluss der Sozialisation im Elternhaus in niedrigen Sozialschichten – sein. Wenn sich nicht primäre und sekundäre Herkunftseffekte gleichermaßen abschwächen, dann werden weiterhin Chancenungleichheiten nach sozialer Herkunft bestehen bleiben. Darin könnte einer der entscheidenden Gründe liegen, warum offenbar die hochgesteckten Erwartungen enttäuscht wurden, durch Bildungsexpansion eine weitgehende Angleichung der Bildungschancen zu erreichen (Köhler 1992: 126; Müller 1998; Solga und Wagner 2001). In bildungspolitischer Hinsicht scheint es für die Herstellung von Chancengleichheit von Anfang an notwendig, da vom Fortbestehen sozialer Ungleichheiten im gesellschaftlichen Schichtgefüge auszugehen ist (Heid 1988: 10-11; Lutz 1979), verstärkt in die vorschulische Bildung zu investieren und diese für die heranwachsenden Schulkinder zur Pflicht zu machen (siehe den Beitrag von Lauterbach und Becker in diesem Band; Büchel et al. 1997; Barnett 1992). Denn die zu messen und die Hypothesen über die wirksamen sozialen Mechanismen mithilfe geeigneter Daten, Designs und Verfahren auch zu überprüfen. Beim gegenwärtigen Stand von Theorie, Empirie und statistisch methodischem „Know-how“ in der empirischen Bildungsforschung und Sozialstrukturanalyse sollten wir uns nicht mehr damit begnügen, soziologische Phänomene ausschließlich anhand von Korrelationen wie etwa für soziale Herkunft und Bildungschancen zu beschreiben und ausschließlich auf Basis theoretischer Überlegungen Kausalzusammenhänge zu unterstellen, ohne diese direkt zu messen.
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bestehende Chancenungleichheit im Schulsystem besteht im bildlichen Sinne darin, dass die Startchancen beim Hundertmeterlauf insofern ungleich nach sozialer Herkunft verteilt sind, als dass die Arbeiterkinder mit zu groß geratenen Schuhen ohne Schnürsenkel an der Startlinie stehen, während die Kinder aus höheren Sozialschichten mit bester Ausstattung einen nicht einholbaren Vorsprung von über 50 Metern haben, bevor überhaupt der Startschuss gefallen ist (vgl. Heid 1988: 5). Mittels institutionalisierter Vorausbildung in Kindergärten, Kindertagesstätten und Vorschulen, die durch hoch qualifiziertes Lehrpersonal vorzunehmen ist, könnten über gezielte Förderungen sozial benachteiligter Kinder („soziale Integration für den Chancenausgleich“) bei gleichzeitiger Förderung von leistungsstarken oder sozial privilegierten Kindern („soziale Differenzierung für Herstellung von Chancengleichheit im Sinne individueller Optimierung“) der Ausgleich von primären Herkunftseffekten und die Reduktion von Chancenungleichheiten zwischen Sozialschichten gelingen (Coleman et al. 1966; Heckhausen 1974: 131-132; BMFSFJ 2002). Solch eine Reformbemühung, die ihrer Fortsetzung in der Primar- und Sekundarstufe im Schulwesen bedarf, wäre möglicherweise auch ein weiterer Schritt zur notwendigen Höherqualifizierung in der jungen Bevölkerung und zum Abbau des Rückstands an Akademikerquoten in Deutschland (Klemm und Weegen 2000; siehe auch den Beitrag von Müller-Benedict im Band).
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Becker
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Die Zurückgelassenen – die soziale Verarmung der Lernumwelt von Hauptschülerinnen und Hauptschülern Heike Solga und Sandra Wagner „Ascriptive forces find ways of expressing themselves as achievement“ (Halsey 1977: 184).
1.
Einleitung: Weniger Hauptschülerinnen und Hauptschüler – ein Erfolg oder Problem für das deutsche Schulsystem?
Bildungssysteme definieren mit ihren institutionellen Regelungen und Verfahren die Struktur des Bildungsangebots, die Zugangs-, Bewertungs- und Selektionskriterien sowie die jeweiligen schulischen Sozialisationskontexte. Die schulinstitutionelle Karriere von Kindern und Jugendlichen hängt somit nicht nur von ihrem Verhalten ab, sondern wesentlich auch von den Möglichkeiten, die ihnen die Organisation Schule gibt. In der deutschen Schule ist das zentrale Kriterium dieser institutionellen gatekeeping-Prozesse die in den vorhergehenden Bildungsstufen gezeigte Schulleistung – mit dem Ziel, homogene Leistungsgruppen zu schaffen, um – pädagogisch legitimiert – die Unterrichtsprozesse hinsichtlich der Schülervoraussetzungen zu optimieren. Dabei wird wissentlich in Kauf genommen, dass die „Kehrseite“ dieser Leistungsdifferenzierung eine soziale Segregation im deutschen Schulsystem (ab der Sekundarstufe) mit sich bringt (Baumert et al. 2003: 267). In kaum einer anderen westlichen Industrienation sind die Lernprozesse von Kindern und Jugendlichen so eng mit ihrer sozialen Herkunft verbunden wie in Deutschland. Hier gibt es einen besonders starken Zusammenhang zwischen dem besuchten Sekundarschultyp und der Beherrschung der Unterrichtssprache, der außerschulischen Vorbildung, der Lernmotivation und den habitualisierten Lerngewohnheiten (Baumert und Schümer 2001; Baumert et al. 2003). Die „Mitarbeit“ der Eltern bei den Lernprozessen ihrer Kinder wird vorausgesetzt, sodass Ungleichheiten in der sozialen und kulturellen Ressourcenausstattung von Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft kaum kompensiert werden. Kinder aus sozial schwächeren Schichten haben damit geringere Chancen für den Zugang zu höheren Bildungsgängen als Kinder aus bildungshöheren Schichten, und umgekehrt, Kinder aus bildungshöheren Schichten sind seltener in unteren Bildungsgängen anzutreffen als Kinder aus bildungsfernen Familien. Die in Deutschland vorhandenen Formen schulischer Separation führen damit während der Schulzeit zu einer herkunftsabhängigen Kanalisierung, zu einer subkulturellen Abschottung von Schülerkreisen und infolgedessen zu einer herkunftsspezifischen Differenzierung von sozialen Lernumwelten sowie schulischen Leistungsentwicklungsmilieus (vgl. Coleman 1965, 1966; Bourdieu und Passeron 1971; Fend et al. 1976; Coleman et
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Solga und Wagner
al. 1981; Bourdieu 1982; Klemm 1991; Friedeburg 1997; Baumert und Köller 1998; Baumert et al. 2000; Shavit und Müller 2000; Baumert et al. 2003).1 Durch diese herkunftsabhängigen gatekeeping-Prozesse im Bildungssystem wird die soziale Binnenstruktur von Lernsettings definiert, d h. die Zusammensetzung der Schülerpopulationen unterschiedlicher Schultypen hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft (Eltern) sowie der sozialen Herkunft ihrer Verkehrskreise (ihrer Freunde sowie Mitschülerinnen und Mitschüler) bestimmt. Einer der zentralen Befunde der PISA-2000-Studie ist nun, dass die Hauptschule heute die sozial homogenste Schulform und das Gymnasium die sozial heterogenste Schulform ist (Baumert und Schümer 2001: 371). Das wäre nicht weiter problematisch, wenn es sich bei der homogenen Hauptschule um eine sozial starke Elternschaft handeln würde. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. An der Hauptschule sind heute überproportional viele Kinder aus Familien mit un- und angelernten Eltern (Baumert und Schümer 2001: 355). Damit sind Kinder aus sozial schwächeren Schichten in mehrfacher Weise benachteiligt: Aufgrund ihrer schlechteren familiären Ressourcen für den Bildungserwerb besuchen sie häufiger die Hauptschule – ein Besuch, der zugleich mit einer inhaltlichen Reduzierung ihrer Lerninhalte, mit einem schlechteren Lernklima und einer geringeren Ausstattung an externen sozialen Ressourcen einhergeht, da sie vergleichsweise seltener Mitschülerinnen und Mitschüler und Freunde haben, die die hoch bewerteten Kulturfertigkeiten aus dem Elternhaus mitbringen. Im Umkehrschluss haben Kinder aus sozial höheren Schichten in mehrfacher Weise einen Vorteil: Ihnen werden mit dem Besuch der Realschule, der Gesamtschule oder des Gymnasiums anspruchsvollere Bildungsinhalte vermittelt; der Anregungsgehalt ihrer Lernumwelt ist höher, denn sowohl ihre Eltern als auch ihre Mitschülerinnen und Mitschüler können als Vorbilder, Motivatoren sowie Unterstützende mit hohem kulturellem und sozialem Kapital in Lernprozesse und Entscheidungsprozesse, die die Schulkarriere betreffen, eingreifen. Entsprechend ihrem „funktionalistisch orientierten Grundbildungsverständnis“ (Baumert et al. 2001: 17) charakterisieren die PISA-Forscher diese soziale Segregation im deutschen Bildungssystem als einen „unerwünschten Nebeneffekt“ der frühen Verteilung auf institutionell getrennte Bildungsgänge (Baumert und Schümer 2001: 458; Baumert et al. 2003: 267). Für sie stellen die Tests der PISA-2000Studie eine „Anwendung erworbener Kompetenzen“ dar (Baumert et al. 2001: 17; Hervorhebung durch Autorinnen), die sich die Schülerinnen und Schüler „in aller 1
Konform mit dieser herkunftsabhängigen Kanalisierung haben international vergleichende Untersuchungen gezeigt, dass der Effekt sozialer Herkunft am stärksten beim ersten Übergang im Lebensverlauf ist (Blossfeld und Shavit 1993: 44). Dieser findet in der Regel im Bildungssystem statt; in Deutschland ist es der Übergang von der Grundschule auf eine der Sekundarschultypen. Bei späteren Übergängen ist die soziale Herkunft zwar nicht minder bedeutsam, dann wirkt sie allerdings vermittelt über die herkunftsabhängig erworbenen Bildungszertifikate sowie die dadurch konstituierten Verkehrskreise (siehe Solga 2003; Wagner 2003).
Die Zurückgelassenen
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Regel nur“ aneignen können, wenn sie ihnen im Unterricht präsentiert wurden (Tillmann und Meier 2001: 473). Ausgeblendet wird mit dieser Betrachtung die oben angesprochene Mitarbeit der Eltern und damit eine Diskussion über das Grundverständnis von Schule, ob sie „Diener der Erziehungsaufgaben der Familie“ (Schelsky 1962: 17 ff.) oder moderne „Gegenkraft“ zur Familie (Dahrendorf 1965: 38 ff.) sein soll, d h. inwieweit sie als kompensatorisches Korrektiv einer ungleichen Ausstattung an familialen Ressourcen für den Bildungserwerb fungieren soll. Diese funktionalistische Sichtweise folgt der Tabuisierung von Diskussionen über strukturelle Veränderungen im deutschen Bildungssystem oder gar über die Einführung einer flächendeckenden integrierten Gesamtschule seit den abgebrochenen Reformen Mitte der 1970er Jahre. Ein wesentliches Ziel der deutschen Bildungsdiskussionen der 1960er und 1970er Jahre war die Durchsetzung von „Bildung als Bürgerrecht“ für alle (Dahrendorf 1965). Nicht nur die Erschließung der Bildungsreserve aufgrund der „deutschen Bildungskatastrophe“ (Picht 1964), auch die Entschärfung der sozialen Selektivität des deutschen Schulsystems sollte in der Formel „Chancengleichheit durch Bildung“ ihre Lösung finden (Friedeburg 1986: 189). Es gab Überlegungen, das vertikal gegliederte Bildungssystem durch ein horizontal gestuftes zu ersetzen (Speitkamp 1998: 281). Einige Gesamtschulen wurden eingerichtet. Mit der wirtschaftlichen Krise 1972/73 und der daraus folgenden zunehmenden Arbeitslosigkeit gewannen jedoch partikulare Interessen der Mittel- und Oberschichten, nämlich Schullaufbahnen mit unterschiedlichen Positionsansprüchen im Beschäftigungssystem weiterhin institutionell getrennt zu halten, wieder die Oberhand (Friedeburg 1986: 190). Die vertikale Gliederung – nun eine fünfgliedrige: Sonder-, Haupt-, Real- und Gesamtschule sowie das Gymnasium – und damit die institutionelle Segregation des deutschen Bildungssystems blieben erhalten. Dies wird unter anderem daran deutlich, dass trotz formal bestehender Möglichkeit des Wechsels von Schultypen etwa 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler in dem nach der Grundschule ‚gewählten’ Schultyp verbleiben – und dass, selbst wenn ein Wechsel stattfindet, es sich in der Regel um einen Abstieg in einen niedrigeren Schultyp handelt (Blossfeld 1990: 169; Baumert et al. 2003: 310). Dennoch setzten die Reformdiskussionen einen deutlichen Impuls für den Drang nach höherer Bildung. Neben den partiell realisierten Gesamtschulen (deutscher Art) wurde die Anzahl der höheren Schulen erhöht. Damit stand mehr Kindern eines Altersjahrgangs der Weg in höhere Bildungsgänge offen. Immer weniger, insbesondere deutsche Jugendliche besuch(t)en eine Hauptschule. In den 1950er Jahren waren es noch mehr als 70 Prozent eines Altersjahrgangs, heute sind es weniger als 30 Prozent in den alten Bundesländern (in einigen Bundesländern, wie dem Saarland und Hessen, und in einigen Stadtstaaten, wie Berlin und Hamburg, sind es sogar weniger als 20 Prozent). Im Gegenzug hat sich der Anteil der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten mehr als verdoppelt und der Anteil der
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Solga und Wagner
Realschülerinnen und Realschüler sogar verdreifacht. Zudem besuchen heute etwa 10 Prozent der 13-Jährigen die Gesamtschule. Im Unterschied zur historischen Momentaufnahme der PISA-2000-Studie untersucht der vorliegende Beitrag, inwieweit mit der „Schrumpfung der Hauptschulen“ (Reichwein 1985: 236) Kinder aus sozial schwächeren Familien auf den Hauptschulen im Verlauf der Bildungsexpansion noch stärker institutionell isoliert wurden, sodass nicht nur weiterhin ein Zusammenhang zwischen sozialen Herkunftsressourcen und dem Besuch einer Hauptschule besteht, sondern sich mit der Zunahme der Stärke dieses Zusammenhangs zugleich auch die sozialen Lernumwelten sowie schulischen (Leistungs-)Entwicklungsmilieus dieser Kinder aus sozial schwachen Familien verschlechtert haben. Letzteres – eine Verschlechterung der schulischen (Leistungs-)Entwicklungsmilieus – sollte nach Hurrelmann (1988) mit der Unterschreitung der „kritischen 40-Prozent-Marke“ eintreten. Die Hauptschule weist dann in pädagogischer Hinsicht eine zu einseitig leistungsmäßig zusammengesetzte Schülerschaft auf, bei „der Stimulationen und Anregungen durch leistungsstarke Schülerinnen und Schüler immer seltener werden“ (Hurrelmann 1988: 451). Diese Unterschreitung fand Anfang der 1980er Jahre statt. Die soziale Verarmung ihrer Lernumwelten fand infolge der primären und sekundären Stratifikationseffekte moderner Bildungssysteme (Boudon 1974) parallel dazu statt. Aufgrund der primären sozialen Disparitäten (d h. der ‚Primärsozialisation’ in der Familie) zeigen Kinder mit vergleichsweise besseren sozialen Herkunftsressourcen höhere Schulleistungen. Diese primären Prozesse ungleicher Bildungsbeteiligung setzen sich in den so genannten sekundären Stratifizierungsprozessen – aufgrund sozialstrukturell ungleicher Bildungsaspirationen und -entscheidungen von Kindern und ihren Eltern sowie mitverursacht durch herkunftsabhängige Lehrerurteile – fort (vgl. Ditton 1992: 132; Erikson und Jonsson 1996: 11; Breen und Goldthorpe 1997).2 Diese herkunftsabhängigen Selektions- und Sortierprozesse im Bildungssystem führten dazu, dass mit der Öffnung der höheren Bildungsgänge – ohne gleichzeitige Abschaffung der unteren Schultypen sowie Kursniveaus – überproportional Kinder mit vergleichsweise besseren sozialen Herkunftsressour2
Die Befunde der Hamburger LAU-Untersuchungen („Aspekte der Lernausgangslage und Lernentwicklung“) von 1996 und 1998 offenbarten eine Ungleichbehandlung von Kindern bildungsferner Familien bei der Sekundarschulzuweisungs- und Benotungspraxis (Lehmann et al. 1997; Lehmann et al. 1999; siehe auch den Beitrag von Ditton bzw. Becker in diesem Band). Sie mussten deutlich bessere Schulleistungen zeigen als Kinder aus bildungsstarken Familien, um nach der Grundschule eine Gymnasialempfehlung zu erhalten: „Allerdings ist dem Einwand zu begegnen, dass sich die Chancen von Kindern aus verschiedenen Bildungsschichten nur deshalb unterscheiden, weil auch ihre Schulleistungen voneinander abweichen. [...] Das Kind eines Vaters ohne Schulabschluss muss ein Leistungsniveau aufweisen, das noch wesentlich über dem durchschnittlichen Testwert der ‚Springer’ liegt, um mit einiger Wahrscheinlichkeit für das Gymnasium empfohlen zu werden. Dem Kind eines Vaters mit Abitur dagegen genügt eine Testleistung, die noch unter dem allgemeinen Durchschnitt liegt!“ (zitiert aus LAU-Untersuchung 1996: http://www.hamburger-bildungsserver.de/welcome.phtml?unten=/lau/lau5/; download: 6.02.2003).
Die Zurückgelassenen
191
cen in die höheren Bildungsgänge aufgestiegen sind bzw. den untersten Schultyp oder Bildungsgang verlassen haben. 2.
Wer bleibt ‚unten’? – Eine verloren gegangene Frage der Bildungssoziologie
In der soziologischen Forschung herrscht Uneinigkeit darüber, ob sich damit die soziale Ungleichheit in Bezug auf die Schichtunterschiede im Bildungssystem reduziert hat. Es gibt Arbeiten, die keine Veränderungen in den Bildungschancen von Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft finden (vgl. Meulemann und Wiese 1984; Handl 1985; Köhler 1992; Rodax 1995; Blossfeld und Shavit 1993; siehe den Beitrag von Becker in diesem Band). Ihr Grundtenor ist: „Als Instrument einer Politik der Verminderung von Chancenungleichheit war die Bildungsexpansion erfolglos“ (Meulemann 1992: 123). Die Bildungschancen von Kindern unterschiedlicher Herkunft haben sich nur auf höherem Niveau reproduziert und stabilisiert (Meulemann und Wiese 1984: 293; Haller 1980; Blossfeld 1985). Es lassen sich jedoch auch empirische Analysen finden, die eine Verringerung der herkunftsbedingten Unterschiede in den Bildungschancen nahe legen (Müller und Haun 1994; Henz und Maas 1995). Unabhängig davon, wie diese unterschiedlichen Ergebnisse zu erklären sind (vgl. Müller 1998), gemeinsam ist diesen Analysen, dass sie den Begriff der Chancengleichheit auf den Zugang zu höherer Bildung verengen (Friedeburg 1997: 43). Übergänge von der Grund- auf die Hauptschule werden nicht analysiert. Dies verschließt den Blick dafür, dass dieser Fahrstuhleffekt – demnach alle eine Etage höher gefahren sind (Beck 1985) – eben nicht zutrifft, denn die Hauptschülerinnen und Hauptschüler sind in ‚ihrer Etage geblieben’ bzw. ‚zurückgelassen worden’. Die Bildungsverteilung ist damit im Verlauf der Bildungsexpansion nicht gleicher, sondern ungleicher geworden. Die Sortierwirkung der Schule auf unterschiedliche Bildungsgänge hat sich gegenüber der vorher relativ undifferenzierten Hauptschule als ‚Volksschule’ erhöht (vgl. Geißler 2002: Kap. 13). Darüber hinaus wird mit dem Blick nach oben nur konstatiert, dass sich im Zuge der Bildungsexpansion die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft an den höheren Bildungseinrichtungen und damit ihr Sozial- und Lernklima gewandelt hat – das Gymnasium, wie oben erwähnt, ist heute die sozial heterogenste Schulform. Unzureichend untersucht wurde, inwieweit sich an den Hauptschulen nicht gleichfalls die soziale Zusammensetzung der Schülerpopulation verändert hat, hier allerdings mit einer sozialen Homogenisierung und Verarmung einhergegangen ist, durch die sich das Schul- und Lernklima für die zurückgelassenen Hauptschülerinnen und Hauptschüler verschlechtert hat. Die oben beschriebenen quantitativen Verschiebungen der Schüleranteile auf den einzelnen Schulformen sollten generell mit einem Wandel in der sozialen Komposition der jeweiligen Schülerpopulationen verbunden gewesen sein (Rösner 1989: 21; Leschinsky und Mayer 1999: 31). Es liegt nahe zu vermuten, dass es sich bei dieser Abwanderung
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Solga und Wagner
an die höheren Schulen um ein soziales creaming out handelt. Damit hätte Deutschland eine soziale Isolation im Bildungssystem geschaffen, die weniger durch eine geografische (wie in den USA) als durch eine „institutionelle Segregation“ (Klemm 1991: 897) verursacht wird. Diese Schrumpfung der Hauptschule wird in der soziologischen und pädagogischen Literatur unter anderem mit solchen Begriffen wie die Hauptschule als „bildungspolitisches Aus“ (Hiller 1989: 59), als „ethnisch dominierte Restschule“ (Bolder et al. 1996: 16) oder „Gettoschule“ (Hansen und Rolff 1990: 47) reflektiert. Auch wenn diese Begriffe das Phänomen der sozialen Isolation und Stigmatisierung von heutigen Hauptschülerinnen und Hauptschülern treffend zu beschreiben vermögen, so weisen diese Arbeiten zwei Defizite auf. Zum einen handelt es sich in der Regel nur um eine logische Ableitung – ähnlich wie bisher in diesem Beitrag (Ausnahmen sind Eigler et al. 1980; Rösner 1989; Hansen und Rolff 1990). Zum anderen wird zu wenig über die Konsequenzen einer derartigen Homogenisierung für die auf der Hauptschule ‚Zurückgelassenen’ reflektiert. Der vorliegende Beitrag analysiert daher empirisch die Homogenisierung der Hauptschulpopulation in den letzten 50 Jahren. Zudem werden die Befunde nicht aus der üblichen Sicht der individuellen familiären Sozialisationsressourcen (oder Bildungswahlentscheidungen), sondern aus der Sicht der Segregation sozialer (Schul-)Milieus und den damit verbundenen unterschiedlichen schulischen Sozialisationsbedingungen thematisiert. 3.
Die Schule als Sozialisationskontext
Die vertikale Mehrgliedrigkeit des deutschen Schulsystems trennt die Schülerpopulationen in unterschiedliche Schultypen, die sich in ihren Bildungsinhalten, ihren im Lehrplan definierten Anforderungsniveaus sowie ihren Schulabschlüssen unterscheiden. Erfolgt der Zugang zu diesen Schultypen zudem herkunftsabhängig, dann sind nicht nur die Bildungsinhalte und Abschlüsse, sondern auch die Sozialkompositionen der Schultypen und damit die peer groups und Netzwerkressourcen verschieden. Diesem Sachverhalt kommt im Zusammenhang mit der Schrumpfung der Hauptschule besondere Bedeutung zu. Warum? Bereits in den 1960er Jahren wies Coleman (1966) auf die Bedeutung der sozialen Durchmischung von Schulklassen für den Bildungserfolg von Kindern hin. Überträgt man seine Überlegungen auf die deutschen Verhältnisse, so hätte die soziale Entmischung der Hauptschule als soziale Verarmung des Lernumfeldes negative Auswirkungen auf die schulischen Leistungen sowie die Aneignung sozialer Kompetenzen der Hauptschülerinnen und Hauptschüler. Da Schulen und ihre Schulgemeinschaften wichtige Bestandteile der Lernumwelt und des Entwicklungsmilieus von Kindern darstellen, produzieren die deutschen separaten Schultypen unterschiedliche Erfahrungsräume der Schulkinder, da die soziale Kontakthäufigkeit weitgehend auf Angehörige der jeweils eigenen Schulform beschränkt ist (Fend et al. 1973: 890; 1976: 26 ff.). Damit stellen sie
Die Zurückgelassenen
193
unterschiedliche sozialökologische Bedingungen und Anregungssituationen kindlicher Sozialisation bereit (Mansel und Palentien 1998: 236; Heckhausen 1969: 216; Büchner und Krüger 1996). Fend et al. (1973: 900; 1976: 74) zeigten, dass sich schulformspezifische Aspirationsniveaus der Schulkinder herausbilden und dass diese Bildungsaspirationen nicht nur durch die familiäre Erwartung, sondern auch ganz wesentlich durch die Schule mitbestimmt werden. Diese Unterschiede im Anregungsgehalt der Schulumwelt tragen ihrerseits zu Unterschieden in Leistungstests bei (Heckhausen 1974; Fend et al. 1976). Entsprechend betont Coleman (1966: 325): ”The social composition of the student body is more highly related to achievement, independently of the student’s own social background, than is any school factor“. Das soziale Klima an Schulen beeinflusst dabei nicht nur die täglichen Interaktionen mit Mitschülerinnen und Mitschülern, sondern auch – über die Beobachtbarkeit anderer Lerneinstellungen und Lebensentwürfe – die eigene Lernhaltung (McDill und Coleman 1965: 117; Coleman 1966: 183 und 325; Büchner und Krüger 1996: 21; Mansel und Palentien 1998: 234). Die besuchte Schule und die dort ‚anzutreffenden’ Mitschülerinnen und Mitschüler sind somit eine aktivierbare soziale Ressource (Mansel und Palentien 1998: 237). Insofern überrascht der folgende Befund der PISA-2000-Studie wenig: „Auf Schulebene [gibt es] eine enge Kovariation zwischen sozialer Zusammensetzung der Schülerschaft einer Schule und deren mittlerem Leistungsniveau. […] 67 % der Leistungsvarianz zwischen Schulen wird durch das mittlere soziale Niveau der Schülerschaft vorhergesagt. [...] (Es) zeigt sich klar die leistungsmäßige und soziale Stratifizierung des Schulsystems, die insbesondere in der separaten Klumpung von Hauptschulen und Gymnasien an den Rändern der Verteilung zum Ausdruck kommt“ (Baumert et al. 2003: 273; Einfügungen von den Autorinnen). Dieser Einfluss des Schulkontexts ist verschieden für Kinder mit unterschiedlichen familiären Ressourcen, da die Bedeutung von zusätzlichen Ressourcen je nach schichtspezifischen Sozialisationsvoraussetzungen und Bildungsorientierungen der Eltern differiert. Damit sollen keinesfalls die familiären Einflüsse auf die Leistungsentwicklung von Kindern unterschätzt werden. Doch so wie der Schulkontext für Kinder mit vergleichsweise guten familiären Ressourcen eine geringere Rolle spielt, da sie auf die eigenen familialen Ressourcen zurückgreifen können, ist er für Kinder mit vergleichsweise schlechten eigenen Ressourcen von besonderer Bedeutung, da diese zusätzlichen Ressourcen einen kompensatorischen Beitrag leisten können. Gerade für sie gilt: ”The status of the schools could ‘neutralize’ one’s own family background to a certain extent“ (McDill und Coleman 1965: 117). Da der Erfolg in unserem Schulsystem – wie der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Schulleistung ausweist – besonders von der außerschulischen Vorbildung, der Lernmotivation, den habitualisierten Lerngewohnheiten sowie der Sprachbeherrschung abhängig ist, ist die jeweilige Schulumgebung für Kinder aus sozial benachteiligten Familien besonders wichtig. Eingedenk der sozialen Unter-
194
Solga und Wagner
schiede im Besitz bestimmter kultureller Werte und Einstellungen, in der Verfügung über bestimmte Sprachfertigkeiten sowie Kommunikationsstile (Bourdieu und Passeron 1971) gibt es, wenn die Kinder aus unteren sozialen Schichten in Schulen vor allem unter sich bleiben, nur selten Modelleffekte von Mitschülerinnen und -schülern, die diese Kulturfertigkeiten aus dem Elternhaus mitbringen. Dementsprechend kommt Turner (1964) zu dem Ergebnis, dass eine heterogene Schulkomposition insbesondere für Jugendliche aus unteren sozialen Gruppen ein förderliches soziales Erfahrungsfeld in Bezug auf Zukunftsorientierungen und Aspirationen darstellt. Diese Überlegungen zeigen, dass je nach Ausgestaltung der Lerngelegenheiten und schulischen Sozialisationskontexte die individuellen familiären Ungleichheiten verstärkt oder kompensiert werden können (Lamprecht 1991: 134; Coleman 1975: 29). Angesichts der Beibehaltung der Mehrgliedrigkeit des deutschen Schulsystems – bzw. dessen Ausbau durch die partiell eingeführte Gesamtschule als weiteren ‚parallelen’ Schultyp – sowie der Schrumpfung der Hauptschule im Zuge der Bildungsexpansion ergibt sich hieraus die Vermutung, dass die ohnehin vorhandene Benachteiligung dieser Kinder durch ihre eigenen Familienverhältnisse und ihre institutionelle Identitätsbeschädigung als „Schulversager“ durch die Konsequenzen einer negativen Gruppensegregation noch verstärkt werden. Da nicht nur die eigene Familienbiografie massive Belastungen aufweist, sondern auch die der Mitschülerinnen und Mitschüler, sind die aktivierbaren (sozialen) Ressourcen der Hauptschülerinnen und Hauptschüler deutlich geringer als die der Schülerinnen und Schüler höherer Schultypen. Die Konsequenz einer derartigen sozialen Segregation – die zugleich Ausdruck eines fehlenden Kompensationsanspruchs der deutschen Schule hinsichtlich ungleicher Ausgangslagen von Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft ist – ist, dass „nicht die in der Herkunftsfamilie bestehende, sondern die in der schulischen Selektion entstehende Klassenlage offenbar das Problem“ ist (Eckert 2001: 462). So betrachtet, offenbaren die PISABefunde zu den Leistungen der Hauptschülerinnen und Hauptschüler die Konsequenz der rein quantitativen Bildungsexpansion des deutschen Schulsystems, bei der qualitativ strukturelle Veränderungen – wie z.B. die Schaffung einer integrativen Gesamtschule für alle, wie sie in anderen westlichen Industrienationen mit der Bildungsexpansion etabliert wurde – bewusst vermieden wurden. 4.
Datengrundlage und Operationalisierungen
Im Folgenden wird empirisch die Veränderung der Hauptschulpopulation im Verlauf der Bildungsexpansion untersucht. Dabei ist zu beachten, dass Kinder aus sozial schwächeren Schichten heute auch höhere Schultypen besuchen. Eine zunehmende soziale Homogenisierung der Hauptschule kann daher nicht bedeuten, dass die Prozentanteile für nachteilige Herkunftsbedingungen bei den Hauptschülerinnen und Hauptschülern gestiegen sind. Es ist somit ein relatives – und nicht ein absolutes – Konzept sozialer Homogenisierung zugrunde zu legen. Deshalb
Die Zurückgelassenen
195
wird die Sozialkomposition der Hauptschulkinder mit der der Schülerinnen und Schüler höherer Schultypen (Real- und Gesamtschule sowie Gymnasium) verglichen. Da die Bildungsexpansion zu einer Art ‚Kettenabwanderung’ von den unteren auf die höheren Schultypen geführt hat – d h. ehemalige Hauptschülerinnen und Hauptschüler besuchen nun die Realschule und ehemalige Realschülerinnen und Realschüler besuchen nun ein Gymnasium – wird die Demarkationslinie zwischen der Hauptschule und den höheren Schultypen insgesamt untersucht. Die Abwanderungsprozesse von der Realschule auf das Gymnasium werden so zwar nicht sichtbar. Sie sind jedoch auch für die Entwicklung der sozialen Zusammensetzung der Hauptschulpopulation nicht von Bedeutung. Andererseits wird mit diesem Vorgehen des Vergleichs zur Schülerpopulation der höheren Schultypen insgesamt zugleich dem Problem begegnet, dass sich mit dieser ‚Kettenabwanderung’ auch die Realschulpopulation – wie die Hauptschulpopulation – verändert hat. Neben der Realschule und dem Gymnasium stellt zudem die Gesamtschule, in den Regionen, in denen sie angeboten wird, einen höheren Schultyp dar. Von einer zunehmenden sozialen Homogenisierung der Hauptschule wäre dann zu sprechen, wenn erstens die soziale Distanz zwischen den Schulpopulationen der Hauptschule und der höheren Schultypen hinsichtlich ihrer Familienverhältnisse über die Zeit größer geworden ist. Zweitens sollte sich bei dem historischen Vergleich der Schulkinder in der Hauptschule zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, Kinder aus sozial schwachen Familien unter den Hauptschülerinnen und Hauptschülern anzutreffen, zugenommen hat. Datenbasis Die Analysen basieren auf den Daten der Lebensverlaufsstudie des Max-PlanckInstituts für Bildungsforschung (MPIfB) für die Geburtsjahrgänge 1939-41, 195456 und 1959-61. Die Daten für die Geburtsjahrgänge 1964 und 1971 entstanden in einer Zusammenarbeit des MPIfB und dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) (zur Beschreibung der Untersuchungspopulation und des Frageprogramms: siehe Wagner (1996) und Hillmert und Kröhnert (2001)). Die Aggregatsicht auf die besuchten Schultypen der Befragten dient als Indikator der Sozialkomposition der jeweiligen Schülerpopulation. Diese Personengruppen können dabei nicht als ‚die’ (im Einzelfall tatsächlichen) Mitschülerinnen und Mitschüler interpretiert werden, sondern geben die Bezugsgruppe an, aus der ‚die’ Mitschüler und Mitschülerinnen stammen. Einbezogen werden nur Personen westdeutscher Herkunft; Personen mit Migrationshintergrund oder ostdeutscher Herkunft werden nicht betrachtet.3 Auch wenn Jugendliche mit Migrationshintergrund eine sehr 3
Dieser Ausschluss betrifft die Kohorten 1964 und 1971 – in den anderen Kohorten wurden keine Jugendlichen nichtdeutscher Staatszugehörigkeit befragt. Von den hier insgesamt 2909 befragten Jugendlichen werden dadurch 86 ‚Ostdeutsche’ und 275 Jugendliche mit Migrationshintergrund ausgeschlossen (nähere Angaben in Tabelle 1 und Legende).
196
Solga und Wagner
wichtige Personengruppe für die Untersuchung der heutigen Hauptschulrealität darstellen, so gibt es doch zwei Gründe für unser Vorgehen.4 Erstens variiert der Anteil von Migranten an Hauptschulen aufgrund der regionalen Ballung der ausländischen Bevölkerung. Insofern wären regionale Analysen notwendig, die mit den hier verfügbaren Daten nicht möglich sind. Zweitens möchten wir im Unterschied zur Diskussion um die Hauptschule als „Problem der ethnischen Minderheiten“ zeigen, dass es sich auch um ein Problem in der deutschen Population handelt. Die Analysen der deutschen Population sollen zeigen, dass das deutsche Schulsystem weit davon entfernt ist, selbst für die deutsche Bevölkerung Chancengleichheit zu gewährleisten. Dies könnte mit zur Erklärung beitragen, warum in Deutschland – trotz der bekannten Missstände an Hauptschulen – derzeit nicht über die Abschaffung der Hauptschule diskutiert wird. Gehören die Eltern deutscher Hauptschulkinder eher zu den sozial Schwächeren, so wären auch sie in einer denkbar schlechten Lage, ihre Interessen zu vertreten. Nichtsdestotrotz hat der Hauptschulbesuch von Kindern nichtdeutscher Herkunft sicherlich dazu beigetragen, dass deutsche Eltern vermehrt Anstrengungen unternommen haben, damit ihre Kinder nicht mehr die Hauptschule besuchen (vgl. Baker und Lenhardt 1988). Ferner ist zu konstatieren, dass in Hauptschulen mit einem hohen Ausländeranteil der Schulalltag – zusätzlich zu den hier untersuchten Problemlagen – auch durch sprachliche Probleme und eine verschärfte Stigmatisierung beeinträchtigt wird (Hansen und Rolff 1990: 47). Deskription historischer Entwicklungen in der Nachkriegszeit Die historische Betrachtung erfolgt über einen Vergleich von fünf Geburtsjahrgangsgruppen (siehe Tabelle 1). Diese Kohorten weisen eine unterschiedliche zeitliche Lagerung zur Reformperiode auf. In der Kohorte 1949-51 fielen die Bildungsentscheidungen für den Schultyp der Sekundarstufe um 1960 und somit vor der Reformphase. In den Kohorten 1954-56 und 1959-61 wurde diese Entscheidung während der Reformperiode getroffen. Die Bildungsentscheidungen für die Kohorten 1964 und 1971 fanden nach der Reformperiode statt. Die im vorangegangenen Abschnitt abgeleiteten Entwicklungen rekurrieren insbesondere auf die Zeit seit Ende der 1970er Jahre, als der Hauptschüleranteil unter die 40-Prozent-Marke sank. Mit der nochmaligen Halbierung des Hauptschüleranteils in den 1990er Jahren sollte ein weiterer Schub der sozialen Homogenisierung (einschließlich des überproportionalen Hauptschulbesuchs von Kindern aus ethnisch-kulturellen Minderheiten) stattgefunden haben. Mit den jüngsten der hier betrachteten Kohorten (1964 und 1971) kann daher nur der Beginn der sozialen Homogenisierung der Hauptschule beobachtet werden.
4
In den alten Bundesländern waren Ende der 1990er Jahre ca. 18 Prozent der Hauptschülerinnen und Hauptschüler ausländischer Herkunft (Grund- und Strukturdaten 1999/2000).
Die Zurückgelassenen
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Tabelle 1: Verwendete Fälle aus der Lebensverlaufsstudie des MPIfB – nur westdeutsche Befragtea) Verwendete Fälle: Haupt- oder höherer konkurrierender Schultyp (letzte Schulepisode) (1) HauptSchule (Anteile der Hauptschüler in %) (2) Realschulee) (3) Gesamtschule
Stellung zur Reformperiodeb) Kohorte Kürzel % der Haupt schüler an den 13-Jährigen (amtliche Statistik) c)
(4) Gymnasium %-Anteil „höherer Schultyp“ (2 – 4)d)
Gesamtzahl der Befragten Vor Während Während
194951 195456 195961
1950
69,5
733
1955
56,4
1007
1960
51,9
1001
Nach
1964
1964
45,0
1305
Nach
1971
1971
37,0
1243
Gesamt
5289
477 (65,1) 536 (53,2) 454 (45,5) 532 (40,8) 403 (32,4) 2402
14
–
38
34,4
97
3
63
46,0
25
2
91
53,8
47
8
52
56,5
30
8
42
65,2
213
21
486
Chi-Quadrat = 291.2 (df = 24; p = 0.000) a) Ohne Jugendliche mit Migrationshintergrund (mindestens ein Elternteil im Ausland geboren und/oder Jugendlicher nichtdeutscher Staatszugehörigkeit), ohne Aussiedler (die nach dem 10. Lebensjahr in die BRD eingereist sind) und Ostdeutsche, die nach dem Schulbesuch nach Westdeutschland gezogen sind. b) Stellung zur Reformperiode definiert über historische Zeit der Schulentscheidung im Alter von 10 Jahren c) Jahresangabe für Kohortenmitte + 13 (einschließlich der ausländischen Schülerinnen und Schüler) d) Differenz der beiden Prozentspalten zu 100% = Sonderschulen, Waldorfschulen, Privatschulen, keine Angabe e) Vor 1964 Mittelschule (Hamburger Abkommen 1964) Quelle MPIfB-Lebensverlaufsstudie (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin); für Kohorte 1964/71: MPIfB-IAB-Lebensverlaufsstudie – eigene Berechnungen
Abschließend eine Anmerkung zur Repräsentativität der verwendeten Daten. Wie aus Tabelle 1 sichtbar wird, liegt der Anteil der Hauptschülerinnen und Hauptschüler in den hier verwendeten Daten unter den Werten der amtlichen Statistik. Dies ist zum Teil durch die unterschiedliche Gesamtpopulation verursacht: Die
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Solga und Wagner
Werte der amtlichen Statistik beziehen sich auf alle Schulkinder einschließlich derjenigen mit ausländischer Herkunft, während die Werte der Lebensverlaufsdaten nur die westdeutsche Bevölkerung berücksichtigen. Ferner ist der Frauenbzw. Mädchenanteil vor allem in der Kohorte 1971 mit 46 Prozent zu gering. Da jedoch relative Betrachtungen zwischen den Schülerpopulationen durchgeführt werden, sind diese Abweichungen weniger kritisch. Problematisch werden sie nur, wenn sie mit einer systematischen Nichtbeteiligung an der Befragung einhergehen. Analysen mit dem Mikrozensus haben gezeigt, dass Antwortverweigerungen besonders bei den unteren und oberen Qualifikationsgruppen vorliegen (vgl. Riede und Emmerling 1994). Damit wird in unseren Ergebnissen die Distanz zwischen der Hauptschule und den höheren Schultypen unterschätzt. Abhängige und unabhängige Variablen Entsprechend der Fragestellung des Beitrages ist die abhängige Variable der Besuch von Schultypen und nicht das Erreichen von Schulabschlüssen. Für die Abbildung der sozioökonomischen familiären Ressourcen werden mehrere Indikatoren als unabhängige Variablen verwendet. Die Schul- und Berufsausbildung der Eltern sind Indikator der kulturellen Herkunftsressourcen (Müller und Haun 1994: 13), der sozial unterschiedlichen Bildungsaspirationen der Eltern (McDill und Coleman 1965: 119; Walper 1988: 267) sowie der unterschiedlichen familiären Wertvorstellungen und Rollenbilder (McDill und Coleman 1965: 122). Indikatoren für die sozioökonomischen Herkunftsbedingungen sind die berufliche Stellung der Eltern (Müller und Haun 1994: 13) und die Familiengröße (Blake 1981). Gemeinsam geben diese Indikatoren auch Hinweise auf die potenziellen ‚Modelleffekte’ für Mitschülerinnen und Mitschüler – gegeben deren soziale Herkunft. Zu den finanziellen Ressourcen sowie zur Problematik des Aufwachsens in ‚Sozialhilfefamilien’ stehen uns leider keine Informationen zur Verfügung. Der zweite Faktorenkomplex ist die Stabilität der Familienverhältnisse. Forschung zu familiären Stresssituationen (wie z.B. der Tod eines Elternteils, die Trennung der Eltern, das Aufwachsen mit Stiefeltern) haben gezeigt, dass solche kritischen Lebensereignisse für Kinder vielfältige Anforderungen an die Alltagsbewältigung stellen (Walper und Schwarz 1999). Ferner kann auch die frühe Geburt von Kindern zu einem problematischeren Aufwachsen führen, da sich bei diesen jungen Müttern bzw. Vätern eher Überforderungserscheinungen einstellen können und ihre berufliche Entwicklung möglicherweise beeinträchtigt wurde. Außerdem können junge Eltern Ausdruck unterschiedlicher Rollenmuster und Lebensvorstellungen sein. Die vorhandenen Fallzahlen reichen für robuste Ergebnisse für jeden Einzelfaktor nicht aus. Deshalb wurde ein gemeinsamer Indikator instabile Familienverhältnisse gebildet (siehe Übersicht der unabhängigen Variablen im Anhang).
Die Zurückgelassenen
5.
199
Empirische Analysen
Deskriptive Analysen Zunächst zeigen bivariate Analysen die historische Veränderung der Anteilswerte der unterschiedlichen Kompositionsfaktoren von Hauptschulen und höheren Schultypen (Tabelle 2). Tabelle 2: Soziale Herkunft von Hauptschülern und Schulkindern in höheren Schultypen – nur Westdeutschland (Prozentualer Anteil im jeweiligen Schultyp) Hauptschulbesuch nach Geschlecht Anteil unter den Mädchen Anteil unter den Jungen Besuch einer höheren Schule nach Geschlecht Anteil unter den Mädchen Anteil unter den Jungen Mutter mit max. Hauptschulabschluss Anteil der Hauptschülerinnen und -schüler Anteil in den höheren Schultypen Väter mit max. Hauptschulabschluss Anteil der Hauptschülerinnen und -schüler Anteil in den höheren Schultypen Mutter ohne Ausbildungsabschluss Anteil der Hauptschülerinnen und -schüler Anteil in den höheren Schultypen Vater ohne Ausbildungsabschluss Anteil der Hauptschülerinnen und -schüler Anteil in den höheren Schultypen Haushaltsvorstand in gering qualifizierter Tätigkeit Anteil der Hauptschülerinnen und -schüler Anteil in den höheren Schultypen Kinderreiche Familie (4 und mehr Kinder) Anteil der Hauptschülerinnen und -schüler Anteil in den höheren Schultypen Instabile Familienverhältnisse Anteil der Hauptschülerinnen und -schüler Anteil in den höheren Schultypen
1950
1955
1960
1964
1971
70 61
54 53
42 48
36 45
28 37
30 39
45 47
57 51
61 53
71 60
92 66
81 66
70 62
77 63
70 53
90 23
82 39
76 46
75 50
70 58
72 51
64 46
55 36
44 25
33 15
30 18
19 10
19 9
13 6
8 3
30 13
28 16
26 13
29 14
24 11
36 18
41 27
39 23
40 23
25 13
10 3
17 10
16 7
16 8
18 8
Quelle MPIfB-Lebensverlaufsstudie (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin); für Kohorte 1964/71: MPIfB-IAB-Lebensverlaufsstudie – eigene Berechnungen
Mit der Bildungsexpansion besuchten immer weniger Mädchen die Hauptschule. In der Kohorte 1950 besuchten noch ca. 70 Prozent der Mädchen eine Hauptschule, in der Kohorte 1971 hingegen nur noch 28 Prozent. Bei den Jungen sank der Anteil von etwa 60 Prozent auf 37 Prozent. Im Gegenzug besuchen heute etwas mehr als 70 Prozent der Mädchen und 60 Prozent der Jungen einen höheren Schultyp.
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Solga und Wagner
In Bezug auf den Bildungshintergrund der Eltern wird deutlich, dass über die Kohorten hinweg der Anteil der Eltern mit maximal einem Hauptschulabschluss bei den Hauptschülerinnen und Hauptschülern etwas zurückgegangen ist; bei den Schülerinnen und Schülern der höheren Schultypen der Anteil an gering gebildeten Vätern allerdings zugenommen hat. Dies ist – neben der höheren Bildungsbeteiligung der Mädchen – ein weiterer Ausdruck für die Öffnung der höheren Bildungsgänge, nämlich nun auch für Kinder aus sozial schwächeren Familien (durch die sich der oben referierte PISA-Befund hinsichtlich des Gymnasiums als heutzutage heterogenste Schulform erklären lässt). In Bezug auf das Ausbildungsniveau der Eltern werden sowohl bei den Hauptschülerinnen und Hauptschülern als auch den Schulkindern in höheren Schultypen Erfolge der Bildungsexpansion in der Elterngeneration sichtbar. Der Anteil der Väter, aber auch insbesondere der Anteil der Mütter, die keine berufliche Ausbildung abgeschlossen haben, hat sich über die Kohorten hinweg deutlich verringert. Als logische Folge dieser höheren Ausbildungsbeteiligung hat in beiden Schülerpopulationen der Anteil der Eltern, die nur in gering qualifizierten Tätigkeiten beschäftigt sind, abgenommen. Der Anteil kinderreicher Familien folgt in beiden Schülerpopulationen den allgemeinen demografischen Trends: Sowohl die Hauptschülerinnen und Hauptschüler als auch die Schulkinder in höheren Bildungsgängen haben in den Geburtskohorten 1955 bis 1964 mit einer höheren Wahrscheinlichkeit drei und mehr Geschwister, da sie selbst oder ihre Geschwister den geburtenstarken Jahrgängen angehören; die Schülerinnen und Schüler der geburtenschwachen Kohorte 1971 kommen mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit aus kinderreichen Familien. Interessant ist jedoch, dass in allen Kohorten die Wahrscheinlichkeit, aus einer kinderreichen Familie zu kommen, für Hauptschülerinnen und Hauptschüler etwa doppelt so hoch war wie für die Schülerinnen und Schüler höherer Schultypen – diesbezüglich hat es mit der Öffnung der höheren Bildungsgänge keine Veränderung gegeben. Schließlich zeigt sich – konform mit zeitgenössischen Alltagserfahrungen – dass der Anteil an Kindern, die in instabilen Familienverhältnissen aufwachsen, insbesondere durch die höhere Trennungswahrscheinlichkeit der Eltern, über die Kohorten hinweg zugenommen hat. Doch auch hier ist zu konstatieren, dass sich an der Tatsache, dass Hauptschülerinnen und Hauptschüler eine mehr als doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit instabiler Familienverhältnisse hatten, nichts geändert hat. Zur Untersuchung der Distanz zwischen der Hauptschule und den höheren Schultypen werden Proporzindizes betrachtet (siehe Abbildung 1). Sie stellen eine erste relative Betrachtungsweise dar, da sie den Anteil von Kindern unterschiedlicher Herkunft in den Schultypen in Bezug auf die sich verändernden Anteile in den einzelnen Schultypen berücksichtigen. Die Proporzindizes berechnen sich aus der Verteilung der Kinder mit dem jeweils betrachteten Merkmal auf den unterschiedlichen Schultypen, dividiert durch den Anteil der Kinder einer Kohorte, die den jeweils betrachteten Schultyp besuchen. Ist der Proporzindex eines Schultyps gleich 1, so ist der Anteil der merk-
Die Zurückgelassenen
201
malstragenden Kinder, die diesen Schultyp besuchen, gleich dem Anteil des Schultyps an der Kohorte. Ist der Wert kleiner als 1, sind die merkmalstragenden Kinder in diesem Schultyp unterproportional vertreten; ist er größer als 1, sind sie überproportional vertreten. Eine gleiche soziale Komposition von Schultypen ist dann gegeben, wenn die Proporzindizes aller Merkmale für alle Schultypen gleich 1 sind (Fend et al. 1976: 73). Abbildung 1: Herkunftsspezifische Chancenungleichheiten beim Zugang zu höheren Schultypen, Westdeutschland (Proporzindizes) 1,8
a) Mutter mit maximal einem Hauptschulabschluss
1,8
1,6
1,6
1,4 1,2
1,4 1,2
1,0
1,0
0,8
0,8
0,6
0,6 0,4
0,4
b) Vater mit maximal einem Hauptschulabschluss
0,2
0,2 1950
1955
1960
1964
1950
1971
c) Mutter ohne Ausbildungsabschluss
1960
1964
1971
d) Vater ohne Ausbildungsabschluss
1,8
1,8
1,6
1,6
1,4
1,4
1,2
1,2
1,0
1,0
0,8
0,8
0,6
0,6
0,4
0,4
0,2
1955
0,2 1950
1955
1960
1964
Proporzindex - Hauptschule Proporzindex - höhere Schultypen
1971
1950
1955
1960
1964
1971
202
Solga und Wagner
1,8 1,6 1,4 1,2 1,0 0,8 0,6 0,4 0,2
e) Haushaltsvorstand in gering qualifizierter Tätigkeit
f) Kinderreiche Familie 1,8 1,6 1,4 1,2 1,0 0,8 0,6 0,4 0,2
1950
1955
1960
1964
1971
1950
1955
1960
1964
1971
g) Instabile Familienverhältnisse 1,8 1,6 1,4 1,2 1,0 0,8
Proporzindex - Hauptschule Proporzindex - höhere Schultypen
0,6 0,4 0,2 1950
1955
1960
1964
1971
Proporzindex = Der Schulabschlussgruppen-Anteil am jeweils betrachteten Familienmerkmal, dividiert durch den Populationsanteil der jeweiligen Schulabschlussgruppe. Eine gleiche familiale Zusammensetzung der Schulabschlussgruppen ist dann gegeben, wenn die Proporzindizes für alle Schulabschlussgruppen den Wert 1 annehmen (vgl. Fend et al. 1976: 73). Interpretationsbeispiel (erstes Viereck = 0,8): Der Anteil der Personen, die einen höheren Schultyp besuchen und deren Mutter nur maximal einen Hauptschulabschluss hat, ist kleiner als der Anteil der Personen auf höheren Schultypen an der Gesamtpopulation. Quelle MPIfB-Lebensverlaufsstudie (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin); für Kohorte 1964/71: MPIfB-IAB-Lebensverlaufsstudie – eigene Berechnungen
Hinsichtlich der Schulbildung der Eltern wurde die soziale Distanz zwischen Hauptschulkindern und Schulkindern in höheren Schullaufbahnen geringer. Der Blick auf das Ausbildungsniveau der Eltern zeigt hingegen eine Vergrößerung des Abstandes der Proporzindizes, sodass trotz sinkenden Anteils an Eltern ohne Ausbildungsabschluss in der Gesamtpopulation die Hauptschülerinnen und Hauptschüler in den jüngeren Geburtskohorten deutlich überproportional ausbildungslose Eltern hatten. Die Proporzindizes der Hauptschulkinder sind stets deutlich größer als Eins und über die Kohorten hin zunehmend. Die der Schulkinder höherer Schultypen
Die Zurückgelassenen
203
sind dagegen relativ konstant, wenn nicht gar abnehmend. Insbesondere für die Kohorten 1964 und 1971 ist hier eine zunehmende Distanz zwischen den Schülerpopulationen der Hauptschule und den höheren Schultypen festzustellen. Bestätigt wird diese Zunahme auch durch die Befunde zur beruflichen Stellung des Haushaltsvorstandes. Der Anteil der Hauptschulkinder mit Eltern, die nur in einfachen Tätigkeiten beschäftigt sind, hat sich zwar etwas verringert. Die Proporzindizes enthüllen dennoch eine auseinander klaffende Schere zwischen Hauptschülerinnen und Hauptschülern zu ihren Altersgenossinnen und -genossen, die einen höheren Schultyp besuchen. Gleiches zeigt sich hinsichtlich der Familiengröße: Die Distanz ist größer geworden, obgleich der Anteil der Hauptschulkinder, die aus kinderreichen Familien kamen, mit dem „Pillenknick“ beim Übergang von der Kohorte 1964 zu 1971 deutlich zurückgegangen ist. Schließlich weisen auch die Proporzindizes für den Indikator instabile Familienverhältnisse darauf hin, dass Kinder aus instabilen Familiensituationen deutlich überproportional an Hauptschulen anzutreffen sind, und dies mit steigender Tendenz. Resümierend ist festzuhalten, dass in den Kohorten 1964 und 1971 die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder aus geringer qualifizierten Haushalten, kinderreichen Familien sowie instabilen Familienverhältnissen die Hauptschule besuchen, nicht geringer geworden ist im Vergleich zu früher. Im Gegenteil, die zunehmenden Abstände der Proporzindizes zeigen, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien überproportional die Hauptschule besuch(t)en und die Sozialkompositionen von Hauptschulen und höheren Schultypen ungleicher geworden sind. Multivariate Analysen Im Folgenden werden mittels multivariater Analysen Veränderungen in den Randverteilungen mitberücksichtigt (d h. das historisch jeweils ungleiche Angebot an Eltern mit sozial schwachen Ressourcen). Angesichts der dichotomen abhängigen Variablen wurden binäre logistische Regressionen geschätzt (siehe Tabelle 3).5 Ziel der gepoolten Kohortenregression ist die Dekomposition der Kohorteneffekte. Sie hilft zu erklären, welche Abwanderungsprozesse die „Schrumpfung der 5
Die abhängige Variable ist 1, wenn die Hauptschule besucht wurde, die Referenzkategorie ist der Besuch eines höheren Schultyps (Realschule, Gesamtschule oder Gymnasium). Die Grundgesamtheit bilden alle Zielpersonen, die in ihrer letzten Schulepisode der allgemeinen Schulzeit eine Hauptschule oder einen höheren Schultyp besuchten. Die berechneten Logit-Koeffizienten ȕk stellen in ihrer exponierten Form ‚odds ratios’ dar. Die Interpretation erfolgt dabei als Vergleich zur jeweiligen Referenzkategorie. Je näher sich die Koeffizienten am Wert 1 befinden, desto geringer sind die Unterschiede. Werte über 1 signalisieren höhere Risiken für einen Hauptschulbesuch im Vergleich zur Referenzkategorie, Werte kleiner als 1 ein geringeres Risiko. Betrachten wir folgendes Interpretationsbeispiel für den ersten Wert von 0.6 in Tabelle 3: Die Wahrscheinlichkeit, dass Angehörige der Geburtskohorte 1954-56 (1955) nur eine Hauptschule und nicht einen höheren Schultyp besucht haben, ist um 40 Prozent geringer als bei Angehörigen der ReferenzGeburtskohorte 1949-51 (1950). Der Wert von 40 Prozent ergibt sich aus folgenden Rechenoperationen: 1-0.6 = 0.4 · 100 Prozent = 40 Prozent.
204
Solga und Wagner
Hauptschule“ begleitet haben. Der Vergleich der Modelle 1 und 2 in Tabelle 3 zeigt, dass es selbst nach Einführung einer Vielzahl von wichtigen Einflussgrößen kaum Veränderungen in den Kohorteneffekten gegeben hat. Tabelle 3: Binäre logistische Regressionen zum Besuch einer Hauptschule versus eines höheren Schultyps – gepooltes Kohortenmodell (odds ratios) Kohorte (Ref : 1950) 1955 1960 1964 1971 Schulbildung der Mutter (Ref : höher als Haupt- bzw Volksschulabschluss) Max Hauptschulabschluss Schulbildung des Vaters (Ref : höher als Haupt- bzw Volksschulabschluss) Max Hauptschulabschluss Ausbildungsabschluss der Mutter (Ref : mit Ausbildungsabschluss) Ohne Ausbildungsabschluss Ausbildungsabschluss des Vaters (Ref : mit Ausbildungsabschluss) Ohne Ausbildungsabschluss Berufliche Stellung des Haushaltsvorstandes (Ref : qualifizierte Tätigkeit) Gering qualifizierte Tätigkeit oder nicht erwerbstätig Geschlecht (0=Jungen/1=Mädchen) Kinderreiche Familie (4 und mehr Kinder)(0=nein, 1=ja) Indikator „instabile Familiensituation“ (0=nein, 1=ja) Geschlecht Kohorte (Ref.: Geschlecht · Kohorte 1955/1960) Geschlecht Kohorte 1950 Geschlecht Kohorte 1964/1971 Schulbildung des Vaters · Kohorte (Ref : Schulbildung Kohorte 1950) Schulbildung 1955 Schulbildung 1960 Schulbildung 1964 Schulbildung 1971 Berufliche Stellung des Haushaltsvorstandes · Kohorte (Ref : berufliche Stellung Kohorte 1955/1960) Berufliche Stellung Kohorte 1950 Berufliche Stellung Kohorte 1964/1971 Konstante Pseudo-R2 (Nagelkerke) Improvement of fit - Chi2 (Schrittweise) Freiheitsgrade*
Modell 1
Modell 2
Modell 3
Modell 4
0.6 0.4 0.4 03
0.5 0.4 0.4 0.4
ns ns ns ns
ns ns ns ns
2.7
2.7
2.6
3.7
7.1
7.2
1.6
1.6
1.7
1.2
1.3
1.3
19 57 225.1 4
1.4
1.4
ns
0.8 1.7 1.8
ns 1.7 1.8
ns 1.7 1.9
1.6 0.7
1.7 0.7
0.5 0.6 0.5 0.3
0.6 0.5 0.4 0.3
0.1 30 2 46.2 10
ns 1.4 0.1 30 4 4.7 2
0.2 29 5 1073.9 14
N = 5202 (2402 Hauptschule + 2800 höherer Schultyp); Fett: Signifikanzniveau p < 0.05, kursiv: Signifikanzniveau p < 0.1; *Für Missing value-Kategorien wurde kontrolliert. Quelle MPIfB-Lebensverlaufsstudie (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin); für Kohorte 1964/71: MPIfB-IAB-Lebensverlaufsstudie – eigene Berechnungen
Die Zurückgelassenen
205
Mit der Einführung der Interaktionseffekte von „Kohorte · Geschlecht“ und „Kohorte · Schulbildung des Vaters“ gibt es eine Dekomposition der Kohorteneffekte (Modell 3). Die beiden geschlechtsspezifischen Interaktionseffekte (mit den odds ratios von 1,6 für die Kohorte 1950 und von 0,7 für die Kohorten 1964 und 1971) bestätigen den bivariaten Befund, dass die Schrumpfung der Hauptschule mit einer Abwanderung von Mädchen verbunden gewesen ist. Die Dekompositionsleistung der Interaktion von Kohorte und Schulbildung des Vaters sowie die odds ratios mit Werten von unter 1 bekräftigen, dass Kinder aus bildungsschwachen Familien vor der Reformperiode weit geringere Chancen hatten, eine höhere Schule zu besuchen, im Vergleich zur Zeit während und nach dieser Periode. Sie haben zwar auch dann immer noch ein deutlich höheres Risiko, nur eine Hauptschule zu besuchen – wie die Multiplikation des Haupteffekts von 7,1 mit den Interaktionseffekten (die sich um 0,5 bewegen) signalisieren (also ein etwa 3,5-mal so hohes Risiko wie Kinder aus höheren Bildungsschichten). Der Unterschied ist jedoch geringer geworden. In der 1950er-Kohorte war er doppelt so hoch (odds ratio = 7,1). Dies bestätigt, dass die Differenzierungskraft der Sozialkategorie ‚Schulbildung der Eltern’ geringer geworden ist. Dafür gab es allerdings ein funktionales Äquivalent in den jüngeren Kohorten, wie Modell 4 zeigt. Der signifikante Interaktionseffekt von beruflicher Stellung des Haushaltsvorstandes und Kohorte – und der gleichzeitig insignifikant werdende Haupteffekt für die berufliche Stellung – weist aus, dass die berufliche Stellung nur in den beiden jüngeren Kohorten einen differenzierenden Einfluss ausübt. Dies ist deutlicher Ausdruck einer Homogenisierung der Schülerschaft an unseren Hauptschulen. Im Vergleich zu den früheren Kohorten haben in den Kohorten 1964 und 1971 Hauptschülerinnen und Hauptschüler deutlich häufiger Eltern, die nur einfache Tätigkeiten ausübten oder nicht erwerbstätig waren, und demzufolge deutlich seltener Mitschülerinnen oder Mitschüler aus sozial höheren Familien im Vergleich zu ihren Altersgenossinnen und -genossen, die einen höheren Schultyp besuchen. Interessanterweise gibt es kein funktionales Äquivalent für die Differenzierungskraft der Schulbildung des Vaters für die Kohorten 1955 und 1960 (im Vergleich zur Kohorte 1950), da sich dieser Interaktionseffekt nur für die beiden jüngsten Kohorten als signifikant erwies. Dies bekräftigt das eingangs erwähnte Phänomen des qualitativen Umschlagens der sozialen Zusammensetzung der Hauptschulpopulation. Dieser soziale creaming-out-Effekt sollte für die nachfolgenden Geburtskohorten noch drastischer ausfallen, da es nach der Geburtskohorte 1971 nochmals einen deutlichen Schub der Abwanderung von der Hauptschule gegeben hat. Diese Befunde können mit einem direkten Kohortenvergleich der Hauptschulpopulationen weiter untermauert werden. Dazu wurden vier separate logistische Regressionen geschätzt, in denen die soziale Komposition der Gruppe der Haupt-
206
Solga und Wagner
schulkinder der 1950er-Kohorte mit jeweils einer der anderen vier Kohorten verglichen wurde (siehe Tabelle 4). Tabelle 4: Binäre logistische Regressionen zur sozialen Zusammensetzung der Schülerpopulation auf Hauptschulen – Kohortenvergleich (odds ratios)* Referenzkohorte = 1950 Schulbildung der Mutter (Ref.: höher als Haupt- bzw. Volksschulabschluss) Max. Hauptschulabschluss Schulbildung des Vaters (Ref.: höher als Haupt- bzw. Volksschulabschluss) Max. Hauptschulabschluss Ausbildungsabschluss der Mutter (Ref.: mit Ausbildungsabschluss) Ohne Ausbildungsabschluss Ausbildungsabschluss des Vaters (Ref.: mit Ausbildungsabschluss) Ohne Ausbildungsabschluss Berufliche Stellung des Haushaltsvorstandes (Ref.: qualifizierte Tätigkeit) Gering qualifizierte Tätigkeit Nicht erwerbstätig Kinderreiche Familie (4 und mehr Kinder) (0=nein, 1=ja) Indikator „instabile Familiensituation“ (0=nein, 1=ja) Konstante N (ungewichtet: 1950/Vergleichskohorte) Pseudo-R2 (Nagelkerke) Improvement of fit - Chi2 (Vgl. zum Mean-Modell) Freiheitsgrade**
1955
1960
1964
1971
n.s.
n.s.
n.s.
0.5
n.s.
n.s.
n.s.
n.s.
n.s.
0.6
0.4
0.3
0.6
0.6
0.4
0.4
n.s. n.s.
n.s. n.s.
1.6 n.s.
1.4 n.s.
n.s.
n.s.
n.s.
n.s.
n.s.
n.s.
n.s.
1.8
0.4 477 /536 26.8 214 5 14
0.9 477 /454 30 1 244.3 14
1.5 477 /532 32.8 269.6 14
3.6 477 /403 41.4 354.7 14
Fett: Signifikanzniveau p < 0.05; kursiv: Signifikanzniveau p < 0.1 * Risikogruppe: Nur westdeutsche Personen, die eine Hauptschule besuchten; standardisiert für die Gruppengröße und Geschlechterkomposition der Kohorte 1950 (M = 221, F = 256) ** Für Missing value-Kategorien wurde kontrolliert Quelle MPIfB-Lebensverlaufsstudie (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin); für Kohorte 1964/71: MPIfB-IAB-Lebensverlaufsstudie – eigene Berechnungen
Die Grundgesamtheit in diesen Berechnungen sind nur die Hauptschülerinnen und Hauptschüler der jeweils verglichenen Geburtskohorten.6 Die abhängige Variable 6
Der historische Vergleich nur der Hauptschüler/innen über die Kohorten hinweg wurde gewählt, um den erwarteten Prozess der sozialen Homogenisierung dieser Gruppe zu untersuchen. Logistische Regressionen, in denen alle Kohortenmitglieder einbezogen werden (siehe Tabelle 3), nehmen im Unterschied dazu einen Vergleich der Hauptschulkinder mit den Schülerinnen und Schü-
Die Zurückgelassenen
207
ist – gegeben die jeweiligen sozialen Merkmale – die Wahrscheinlichkeit, zu einer der vier jüngeren Kohorten statt zur 1950er-Kohorte anzugehören. Für diesen Vergleich wurden die vier jüngeren Kohorten entsprechend der Gruppengröße und Geschlechterzusammensetzung der Gruppe der Hauptschülerinnen und Hauptschüler in der 1950er-Kohorte standardisiert. Die Ergebnisse dieser Schätzungen zeigen die soziale Verarmung der Hauptschulpopulation besonders deutlich. Mit der 1964er-Kohorte war die Wahrscheinlichkeit, dass Hauptschülerinnen und Hauptschüler insbesondere aus gering qualifiziert beschäftigten Haushalten kamen, deutlich höher als in den älteren Kohorten; mit der 1971er-Kohorte kam noch eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit von Hauptschülerinnen und Hauptschülern aus instabilen Familienverhältnissen hinzu. Das heißt, im Vergleich zu den drei älteren Kohorten gehörten die Hauptschülerinnen und Hauptschüler der 1964er- und 1971er-Kohorte in deutlich stärkerem Maße sozial schwachen Familien an – und waren auf der Hauptschule unter sich. Von daher wurde „Bildung im Fall der Hauptschule vom erwerbbaren zum askriptiven Merkmal“ (Beck 1986: 245), da die ‚Treffsicherheit’, dass ein Hauptschulkind aus einer sozial schwächeren Familie kommt, heute größer als früher ist. Es wäre nun wünschenswert, direkt zu untersuchen, inwieweit sich diese soziale Verarmung der Hauptschule in einer Verarmung der intellektuellen und sozialökologischen Lernbedingungen und einer damit (möglicherweise) einhergehenden Verschlechterung der Leistungsentwicklung von Hauptschülerinnen und -schülern niedergeschlagen hat. Ob sich beispielsweise ihr Schulstress (unter anderem durch vermehrte Gewalterfahrungen, siehe Eckart 2001) erhöht hat, da heute ein deutlich höherer Anteil der Hauptschülerinnen und Hauptschüler im Vergleich zu früher mit sozialen Problemen konfrontiert ist, oder inwieweit sich das Anregungsniveau im Hauptschulalltag verringert hat. Für beides haben wir leider keine Indikatoren. Daher soll ein indirekter Indikator, nämlich das ‚Schulversagen’ – in Form des Schulabgangs ohne einen Hauptschulabschluss –, einen Hinweis auf die Konsequenzen der sozialen Verarmung für die Lernumwelt an Hauptschulen bieten. Folgt man den vorangegangenen Überlegungen, dann sollte der Anteil der Schulentlassenen ohne Schulabschluss dort am niedrigsten sein, wo der Hauptschüleranteil am größten ist, da hier die Hauptschule am stärksten sozial durchmischt ist. Zur Modellierung dieser Variation dient ein Vergleich der alten Bundesländer, in denen die Hauptschüleranteile sich auch heute noch deutlich unterscheiden. In Bayern besuchten im Schuljahr 1999/2000 noch 40 Prozent der Neuntklässler die Hauptschule, in Berlin nur 11 Prozent. Der Anteil der Schulentlassenen ohne Hauptschulabschluss war im Jahr 2000 jedoch in Bayern mit 9,5 Prozent deutlich geringer als in Berlin mit 13 Prozent. Für einen Bundesländervergleich sind natürlich nicht nur die unterschiedlichen Anteile an Hauptschülern, lern der höheren Schultypen innerhalb der jeweiligen Kohorte vor. Mit den Kohorteninteraktionen können zwar Abwanderungsprozesse untersucht werden, dennoch ist ein direkter Kohortenvergleich der Hauptschulpopulationen nicht möglich.
208
Solga und Wagner
sondern auch an Schulkindern mit Migrationshintergrund sowie an Gesamtschülern zu berücksichtigen (da – wenn Gesamtschulen im Bundesland vorhanden sind – möglicherweise ein leichterer Übergang auf einen höheren Schultyp möglich ist). Der Partialkorrelationskoeffizient zwischen dem Anteil der Hauptschülerinnen und Hauptschülern in den Bundesländern und dem Bundesländer-Anteil der Schulentlassenen ohne Schulabschluss (unter Kontrolle des Anteils der 15Jährigen mit Migrationshintergrund, basierend auf den PISA-Auswertungen, und des Anteils der Gesamtschülern in den Bundesländern) ist mit 0,57 negativ (p = 0,026 bei einem einseitigen Test für die richtungsabhängige Hypothese). Das heißt, je weniger Schulkinder die Hauptschule besuchen, desto höher ist der Anteil der Schulentlassenen ohne Abschluss. Dies bedeutet letztlich, da Schulentlassene ohne Abschluss zu ca. 90 Prozent aus Haupt- und Sonderschulen kommen, dass das Risiko der verbleibenden Hauptschülerinnen und Hauptschülern, die Schule ohne einen Abschluss zu verlassen, in Ländern mit geringer Hauptschulquote höher ist. Insofern ließe sich das ‚gute’ Abschneiden von Bayern in der PISA-Studie auch dahingehend interpretieren, dass hier die Hauptschule noch in stärkerem Maße eine stärker sozial durchmischte ‚Volksschule’ darstellt als beispielsweise in Nordrhein-Westfalen (mit einem Hauptschüleranteil von etwa 26 Prozent unter den Neuntklässlern) – einem Bundesland, in dem die partielle Einrichtung von Gesamtschulen als fünftem Schultyp paradoxerweise für eine stärkere quantitative Marginalisierung und damit soziale Verarmung seiner Hauptschulen mitverantwortlich ist. Andererseits ist der bayerische ‚Preis’ für seine sozial durchmischteren Hauptschulen vergleichsweise hoch, da in diesem Bundesland nur etwa 20 Prozent der Schulentlassenen ein Abitur (als Vorrausetzung für den Hochschulzugang) erwerben, in Nordrhein-Westfalen hingegen fast 30 Prozent. Worin bestünde nun eine ‚bessere’ Lösung dafür, den Kindern aus sozial schwachen Familien eine sozial kompensatorische Schulumwelt zu bieten – ohne dafür den Erwerb eines Abiturs bzw. den Übergang in höhere Bildungsgänge einschränken zu müssen? Eine mögliche Antwort auf diese Frage wird unter anderem in den abschließenden Bemerkungen des Beitrages gegeben. 6.
Die soziale Verarmung der Hauptschule und ihre bildungspolitischen Konsequenzen
Der vorliegende Beitrag ging von der Überlegung aus, dass sich mit der Bildungsexpansion die Bedingungen des Bildungserfolgs von Hauptschülerinnen und Hauptschülern verschlechtert haben. Eine zentrale Erklärung für diese Verschlechterung wurde in einer über die Zeit sozial stärker homogenen, einer sozial schwächer gewordenen Schülerschaft von Hauptschulen gesehen. Die Ursachen für das ‚Schulversagen’ von Hauptschülerinnen und Hauptschülern wurden damit nicht nur in der eigenen Familie, sondern auch im Schulsystem selbst gesucht. Neben der abnehmenden sozialen Akzeptanz des Hauptschulbesuchs (Ditton 1996: 150)
Die Zurückgelassenen
209
und der damit verbundenen Stigmatisierung ihrer Schülerinnen und Schüler wurde betont, dass auch die ‚Positivabwanderung’ und die damit verbundene soziale Entmischung der Hauptschule in einer Verringerung der sozialen Ressourcen für den Bildungserwerb von Hauptschülerinnen und Hauptschülern mündete (Entwisle, Alexander und Olsen 1997: 94). Die empirischen Analysen haben gezeigt, dass die soziale Distanz zwischen Hauptschülerinnen und Hauptschülern und Schulkindern in höheren Schultypen größer geworden ist. Die Schrumpfung der Hauptschule wurde im Wesentlichen durch eine Abwanderung von Mädchen und insbesondere von Kindern, deren Eltern in qualifizierten Tätigkeiten beschäftigt sind, erzeugt. Zurückgeblieben sind überproportional Kinder, deren Eltern in einfachen Tätigkeiten beschäftigt oder gar nicht erwerbstätig sind und die in instabilen Familienverhältnissen aufgewachsen sind. Diese Befunde untermauern die These: “The social distance between educational groups has narrowed toward the top but has widened toward the bottom” (Leschinsky und Mayer 1999: 31). Bezogen auf den Schulkontext heißt dies: Die Hauptschule ist weniger als früher ein Feld „antizipatorischer Sozialisation“ (Fend et al. 1976: 63), da die soziale Homogenität der Elternschaft mit einer weiteren Verringerung des Anspruchsniveaus, der Kompensationsmöglichkeiten der eigenen familiären Benachteiligung durch Mitschüler sowie der Möglichkeit von positiven Modelleffekten in Hauptschulen verbunden ist. Die Entscheidung über den weiteren Lebensverlauf für Hauptschüler/innen findet damit heute früher statt: nicht erst beim Zugang zur Berufsausbildung, sondern bereits beim Wechsel auf die Hauptschule. Von daher ist für die Zeit ab Mitte der 1970er Jahre der Befund von Blossfeld (1990: 174), basierend auf den Geburtskohorten 1929-31, 1939-41 und 1949-51, nicht mehr zutreffend: “Educational reforms may, at least partially, break up the determining character of early educational decisions“. Gleichzeitig wird soziale Benachteiligung damit eher als früher als ‚individuelles Versagen’ legitimierbar. Die deutliche Zunahme der Bildungsbeteiligung der Bevölkerung hat eine veränderte gesellschaftliche Stellung von jungen Erwachsenen ohne Hauptschulabschluss hervorgerufen. Die Anderen sind mit dem Fahrstuhl eine Etage höher gefahren; sie sind jedoch in ihrem Stockwerk geblieben – um, qualitativ abgewandelt, eine Metapher von Ulrich Beck (1985) zu verwenden. Diese generationale Veränderung der Wahrnehmung von den Hauptschülerinnen und Hauptschülern äußert sich unter anderem darin, dass den älteren Generationen (insbesondere den Frauen) noch ein strukturell verwehrter Übergang auf höhere Schultypen zugestanden wird, während die jüngeren Generationen – mit der Expansion des allgemein bildenden Bildungssystems – Gefahr laufen, dass ihr Verbleiben auf der Hauptschule einem individuellen Leistungsdefizit zugeschrieben wird (siehe Solga 2003: Kap. 7 und 8; Lamprecht 1991: 136; Heid 1988: 7; Rösner 1989: 15). Bildungspolitisch bedeutet diese soziale Verarmung der Hauptschule, dass staatlich finanzierte Programme für diese ‚Problemjugendlichen’, die nach dem
210
Solga und Wagner
Verlassen der Schule beginnen und darauf abzielen, ihre Startchancen in die Arbeitswelt zu verbessern, zu spät einsetzen (Schierholz 1990: 16; Cordes 1997: 78). Mehr noch, infolge ihres zugrunde liegenden individualistischen – statt systemischen – Handlungsparadigmas (demzufolge Bildung heute primär ein individueller Investitionsprozess ist) tragen sie sogar zu einer weiteren Individualisierung der Problemlagen dieser Jugendlichen bei (Geißler und Orthey 1996: 196). Darüber hinaus kann über ihre nachträgliche Qualifizierung – angesichts der stigmatisierenden und ‚abschottenden’ Momente von Sonderwegen – nur in geringem Maße eine ‚Normalisierung’ ihrer Ausbildungs- und Erwerbsbiografie bewerkstelligt werden. In der Regel handelt es sich bei diesen Programmen um Maßnahmen in einem ‚Parallelsystem’, in dem diese Jugendliche wieder unter sich sind und mit dem die Kanalisierungen und Zuschreibungen des Schulsystems fortgeschrieben werden (siehe Solga 2003: Kap. 9). Unsere Analysen weisen darauf hin, dass das Bildungsproblem dieser Jugendlichen weit früher beginnt und bereits in der Schulzeit verstärkt wird. Da dieses Problem durch eine soziale Entmischung der Hauptschule mitverursacht wurde, könnte eine ‚wiederkehrende’ soziale Durchmischung ihres Schulalltags zur Lösung beitragen. Nimmt man dies ernst, so ist man erneut bei den Reformdiskussionen der 1960er und 1970er Jahre – bzw. den Bildungsrealitäten anderer westlicher Industrienationen – und damit bei der Frage nach der Abschaffung der Hauptschule als separatem Schultyp (Hurrelmann 1988: 456) sowie bei der Forderung von Friedeburg (1979: 110) nach einer flächendeckenden Gesamtschule – allerdings finnischer Couleur: Um dem verfassungsrechtlichen Auftrag der gleichen Zugangschancen zu den verschiedenen Bildungslaufbahnen zu erfüllen, ist „im öffentlichen Bildungswesen die erste Voraussetzung, dass die heranwachsenden Bürger nicht im Kindesalter voneinander getrennt werden“.
Die Zurückgelassenen
211
Anhang Übersicht über die unabhängigen Variablen zur Messung des familialen Umfeldes Indikatoren
Definition
1
Schulbildung der (Stief-) Mutter (wenn länger bei Stiefmutter aufgewachsen)
1 = maximal einen Volks- bzw. Hauptschulabschluss 2 = Schulabschluss höher als Volks- bzw. Hauptschulabschluss
2
Schulbildung des (Stief-) Vaters (wenn länger bei Stiefvater aufgewachsen)
s. o.
3
Berufliche Stellung des Haushaltsvorstandes im 15. bzw. 16. Lebensjahr der Zielperson
= berufliche Stellung des (Stief-)Vaters Ausnahme wenn (Stief-)Vater nicht erwerbstätig oder bereits tot war, dann berufliche Stellung der (Stief-)Mutter Kategorien 1 = einfache Tätigkeiten (un- bzw. angelernter Arbeiter, einfacher Angestellter, Heimarbeiter) 2 = qualifizierte Tätigkeiten (Facharbeiter und höher, qualifizierter Angestellter und höher, Selbstständiger, freie akademische Berufe) 3 = nicht erwerbstätig
4
Familiengröße
0 = weniger als 4 Kinder in der Familie 1 = und mehr Kinder
5
Indikator „instabile Familiensituation“
0 = max. einer der folgenden Indikatoren trifft zu 1 = mehr als 2 der folgenden Indikatoren treffen zu
Aufwachsen mit Stiefmutter
0 = hatte keine Stiefmutter 1 = hatte bis zum 16. Lebensjahr eine Stiefmutter
Aufwachsen mit Stiefvater
s. o.
Tod der Mutter bis zum 16. Lebensjahr der Zielperson
0 = leibliche Mutter lebte 1 = leibliche Mutter war gestorben
Tod des Vaters bis zum 16. Lebensjahr
s. o.
„Junge“ Mutter*
0 = bei der Geburt des 1. Kindes älter als 21 Jahre 1 = bei der Geburt des 1. Kindes max. 21 Jahre alt
„Junger“ Vater*
s. o.
* Kriterium der Volljährigkeit dieser Elterngenerationen, eine Umstellung der Volljährigkeit auf das 18. Lebensjahr erfolgte erst 1975.
212
Solga und Wagner
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Bildungschancen und Bildungs(miss)erfolg von ausländischen Schülern oder Schülern aus Migrantenfamilien im System schulischer Bildung Heike Diefenbach
1.
Einleitung
Die Frage nach der Bildungsbeteiligung und dem Bildungs(miss)erfolg ausländischer Kinder oder speziell von Migrantenkindern im deutschen Bildungssystem gehört nicht zu den „klassischen” Fragestellungen der deutschen Bildungsforschung. Vielmehr trifft zu, dass am Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre einige Forscher unter Verwendung des Instrumentariums der quantitativ empirischen Sozialforschung Pionierarbeit auf diesem Gebiet geleistet haben (Esser 1990; Hopf 1987; Köhler 1990), die wiederum erst ab der Mitte der 1990er Jahre verstärkt weitergeführt worden ist. Die empirische Forschung nach den Determinanten der Bildungsbeteiligung und des Bildungserfolgs von ausländischen Kindern oder Kindern aus Migrantenfamilien steckt also derzeit noch in den Anfängen. Dies ist jedoch nicht nur auf Versäumnisse in der Bildungsforschung zurückzuführen, sondern auch den historischen Gegebenheiten geschuldet: Als die Bundesrepublik Deutschland in den 1950er Jahren damit begann, Arbeitskräfte aus dem Ausland anzuwerben, ging man davon aus, dass sie „Gastarbeiter” seien, die sich als solche nur vorübergehend in Deutschland aufhalten und daher keinen Wunsch oder keine Notwendigkeit haben würden, ihre Familien nachzuholen. Tatsächlich besuchten in der Mitte der 1960er Jahre nur 50.000 bis 55.000 ausländische Schüler allgemein bildende Schulen, was einem Anteil ausländischer Schüler an allen Schülern von 0,5 Prozent entspricht. Die relativ geringe Zahl ausländischer Kinder in deutschen Schulen zu diesem Zeitpunkt war sicherlich ein Grund dafür, dass die Beschulung ausländischer Kinder als ein randständiges Thema behandelt wurde. Dementsprechend hatten ausländische Schüler nicht in allen Bundesländern eine Schulpflicht oder ein Recht auf Beschulung an einer deutschen Schule (Baker und Lenhardt 1988: 43), sondern eher einen Duldungsstatus, der das besondere Engagement ihrer Eltern für ihre Schulbildung voraussetzte (Koch 1970). Forderungen deutscher Betriebe nach der Rezession von 1966/67, das Rotationsprinzip aufgrund mangelnder Effizienz aufzugeben (Bielefeld 1988), führten zum verstärkten Nachzug von Familienangehörigen ausländischer Arbeitnehmer, die nunmehr Aussichten auf eine Aufenthaltsdauer von deutlich mehr als nur zwei oder drei Jahren hatten: Lebten im Jahr 1961 noch 100.000 abhängige
218
Diefenbach
Familienangehörige ausländischer Arbeitnehmer in Deutschland, so waren es zehn Jahre später bereits mehr als eine Million. Das bedeutet, dass bereits im Jahr 1971 35 Prozent aller in Deutschland lebenden „Gastarbeiter” keineswegs Arbeiter waren, sondern Ehegatt(inn)en oder minderjährige Kinder (Zander 1982). Die Stichtagregelung vom Juni 1973, die im Rahmen der so genannten Konsolidierungspolitik der Bundesregierung getroffen wurde und die besagte, dass Kindern von Arbeitsmigranten, die nach dem 30. November 1974 nach Deutschland einreisen würden, keine Arbeitserlaubnis mehr erteilt werden würde, führte ebenfalls zum verstärkten Nachzug von Familienangehörigen ausländischer Arbeitnehmer (Dohse 1981), wenn auch unabsichtlich, sodass zum einen die Anzahl der Ausländer in der Bundesrepublik nicht geringer wurde – sie bewegte sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre konstant um die vier Millionen –, und zum anderen der Anteil abhängiger Familienmitglieder an allen Ausländern in der Bundesrepublik weiter wuchs. Im Zuge dieser politischen Entwicklungen hatte sich die Zahl der ausländischen Schüler zwischen 1965 und 1975 verzehnfacht. Die Bildungsbeteiligung und der Bildungserfolg der ausländischen Schüler im allgemein bildenden Schulsystem wurden erstmals in den 1970er Jahren im Rahmen einer allgemeinen Debatte um die Notwendigkeit einer Integrationspolitik thematisiert. Von bildungspolitischer Seite ging es vor allem darum, den Schulbesuch der ausländischen Kinder durchzusetzen, der seinerseits ihre Integration bei gleichzeitiger Erhaltung ihrer kulturellen Identität befördern sollte (Baker und Lenhardt 1988), während Sozialwissenschaftler erstmals darauf hinwiesen, dass der Anteil der Schulversager unter den ausländischen Kindern deutlich höher sei als unter den deutschen Kindern (Hopf 1981; Reiser 1981). Prägend für die Auseinandersetzung mit diesen Befunden in den 1970er und 1980er Jahren war eine kulturanthropologische Perspektive, die die Nachteile der ausländischen Kinder als Ergebnis eines Akkulturationsprozesses interpretierte, in dessen Verlauf eine neue „kulturelle Persönlichkeit” entwickelt werden müsse (Schrader et al. 1976). Dementsprechend zielten so genannte ausländerpädagogische Maßnahmen darauf ab, die kulturell bedingten „Defizite gegenüber dem im Bildungssystem als ‘normal’ Gesetzten” (Gogolin 2002: 264) zu beseitigen. Verschiedene Autoren haben jedoch festgestellt, dass die Nachteile ausländischer Kinder gegenüber deutschen Kindern hinsichtlich ihrer Bildungsbeteiligung und ihres Bildungserfolgs in den 1980er und 1990er Jahren trotz der Vielzahl der ausländerpädagogischen Maßnahmen nahezu im selben Ausmaß fortbestanden (siehe etwa Alba et al. 1994; Diefenbach 2002; Hopf 1987; Kornmann und Klingele 1996; Kornmann und Schnattinger 1989; Nauck 1994; Seifert 1992), was die Suche nach alternativen oder zusätzlichen Erklärungen für diese Nachteile erforderlich machte. Hinzu kam, dass die Anzahl der ausländischen Schüler an deutschen Schulen seit den 1980er Jahren – abgesehen von Perioden der Stagnation zwischen 1982 und 1985 sowie 1997 und 1999 (Nauck 1994) – weiter gewachsen war, sodass ausländische Schüler schlicht aufgrund ihrer zahlenmäßigen Stärke immer mehr Aufmerksam-
Bildungs(miss)erfolg von ausländischen Schülern
219
keit von Lehrpersonal, Bildungspolitikern und Sozialwissenschaftlern auf sich zogen. Die aktuellen Daten der amtlichen Bildungsstatistik weisen für das Schuljahr 2003/2004 eine Zahl von 962.835 ausländischen Schülern auf allgemein bildenden Schulen aus, was einem Anteil von 9,9 Prozent (in Westdeutschland: 11%; in Ostdeutschland (mit Berlin): 4,7 %) an allen Schülern entspricht. Hinzu kommt eine unbekannte Anzahl von Schülern mit Migrationshintergrund, die die deutsche Staatsangehörigkeit haben und deshalb in der amtlichen Bildungsstatistik nicht identifizierbar sind.1 Während im öffentlichen Diskurs ebenso wie in der sozialwissenschaftlichen Literatur Einigkeit darüber besteht, dass die Beschulung ausländischer Kinder und Jugendlicher in Deutschland längst kein randständiges Phänomen mehr ist, sondern in vielen deutschen Schulen zur täglichen Praxis gehört, ist man uneins darüber, ob ausländische Kinder oder Kinder aus Migrantenfamilien „Sorgenkinder” sind, die nicht über die notwendigen Voraussetzungen oder den Willen verfügen, das deutsche System schulischer Bildung mit Erfolg zu durchlaufen, oder ob es sich bei ihnen um eine Bildungsreserve handelt, die zu nutzen die Institutionen des deutschen Schulsystems bislang nicht verstanden haben. Im vorliegenden Beitrag wird versucht, auf diese Frage eine vorläufige Antwort zu geben, indem der Stand der empirischen Forschung und die Diskussion über die Ursachen der Nachteile von ausländischen Kindern oder Kindern aus Migrantenfamilien gegenüber deutschen Kindern skizziert werden. 2.
Art und Ausmaß der Nachteile von Schülern aus Migrantenfamilien bzw. ausländischen Schülern gegenüber deutschen Schülern an allgemein bildenden Schulen in Deutschland
Bereits die Feststellung, inwieweit Schüler aus Migrantenfamilien oder ausländische Schüler gegenüber deutschen Schülern Nachteile haben, ist schwieriger als man auf den ersten Blick anzunehmen geneigt ist, und zwar deshalb, weil hierfür nur unzureichende bzw. nur teilweise miteinander vergleichbare Daten vorliegen. Sie stammen entweder aus amtlichen Bildungsstatistiken oder aus der Bildungsforschung, in der meistens Individualdatensätze (besonders häufig das Sozioökonomische Panel [SOEP]) analysiert werden. Weil amtliche Bildungsstatistiken Vollerhebungen für Gesamtdeutschland, einzelne Bundesländer oder Landkreise darstellen und darüber hinaus für einen mehr oder weniger langen Zeitraum vor1
Diese Messproblematik gilt übrigens auch für die Kinder von Aussiedlern: Weil sie in der amtlichen Statistik Deutsche sind, sind sie als Gruppe nicht identifizierbar (vgl. Beer-Kern 2000). Auf der Grundlage der Daten aus der IGLU-Studie berichten Schwippert et al. (2003: 277) für Grundschüler der vierten Jahrgangsstufe, dass gut ein Fünftel von ihnen Schüler mit Migrationshintergrund sind, d h. selbst im Ausland geboren wurden oder mindestens einen Elternteil haben, der im Ausland geboren wurde. Stanat (2003: 247) kommt anhand der PISA-Daten, die sich auf 15jährige Schüler an allgemein bildenden Schulen der Sekundarstufe beziehen, zu dem selben Anteil.
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Diefenbach
liegen, sind sie geeignet, das Ausmaß und die Entwicklung ethnischer Segmentierung im Schulsystem abzubilden. Fragen der Repräsentativität stellen sich hier nicht. Nur anhand von amtlichen Bildungsstatistiken ist auch eine Feststellung systematischer Variationen zwischen Staaten, Bundesländern oder Landkreisen möglich, die wiederum auf unterschiedliche strukturelle Bedingungen und möglicherweise auf Mechanismen struktureller Diskriminierung hinweisen können. Jedoch sind auch verschiedene Nachteile mit der Analyse amtlicher Bildungsstatistiken verbunden: Sie stellen gewöhnlich nur sehr wenige Indikatoren bereit und können eventuell bestehende Heterogenität (z.B. Unterschiede zwischen Schülern unterschiedlicher nichtdeutscher Staatsangehörigkeiten) verdecken. Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass die amtliche Bildungsstatistik lediglich deutsche und ausländische Schüler unterscheidet, weswegen diese Daten nicht ermöglichen, Kinder oder Jugendliche aus Migrantenfamilien, die die deutsche Staatsangehörigkeit haben, oder solche, die in Deutschland geboren und sozialisiert wurden und ihre gesamte Bildungslaufbahn in Deutschland absolviert haben, aber nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben (die so genannten Bildungsinländer), zu identifizieren. Für die Analyse von Individualdaten, wie sie in der Bildungsforschung meist verwendet werden, spricht, dass sie es ermöglichen, die Bildungskarrieren einzelner Schüler zu verfolgen und die Effekte individueller Merkmale oder familialer Umstände auf die Bildungskarriere festzustellen. Sofern die entsprechenden Merkmale erhoben werden, lassen sich auch zugewanderte Ausländer von eingebürgerten Zuwanderern oder von in Deutschland geborenen Ausländern unterscheiden. Allerdings sind entsprechende Erhebungen und Analysen bislang noch die Ausnahme.2 Wenn Individualdatensätze Ausländer berücksichtigen, dann sind
2
Der einzige mir bekannte Individualdatensatz, der sowohl die ethnische Abstammung von Personen als auch deren Staatsangehörigkeit(en) und gegebenenfalls ihre Wanderungsbiografie erfasst und daher geeignet ist, zu prüfen, welche Effekte die ethnische Abstammung oder die Staatsangehörigkeit auf die schulische und berufliche Bildung haben, ist der Integrationssurvey des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) aus dem Jahr 2000. Das Sozioökonomische Panel (SOEP), das für Analysen von Bildungskarrieren häufig genutzt wird, beinhaltet Stichproben der zum Initiierungszeitpunkt (1984) fünf größten ausländischen Minoritäten. Eingebürgerte lassen sich zwar identifizieren, aber eingebürgerte Italiener, Griechen und Spanier sind in so geringer Zahl im SOEP vertreten, dass vergleichende Analysen nicht möglich sind (vgl. Salentin und Wilkening 2003: 283, Fußnote 1). Die PISA-2000-E-Studie ermöglicht eine Unterscheidung von Schülern danach, ob sie selbst oder ob ihre Eltern in Deutschland oder im Ausland geboren sind und danach, ob sie zu Hause die deutsche Sprache sprechen oder nicht. Es können also Schüler mit Migrationshintergrund identifiziert werden. Informationen zur Staatsangehörigkeit liegen jedoch nicht vor. Die Verweildauer von Schülern mit Migrationshintergrund kann ebenfalls festgestellt werden, sodass wichtige Abschnitte der Schulkarriere nachgezeichnet werden können. Als Schulleistungsstudie ist die PISA-E-Studie jedoch nicht dazu geeignet, die Effekte der ethnischen Zugehörigkeit und der Schulkarriere auf den Bildungsweg und den tatsächlich von Schülern erreichten Schulabschluss zu klären, der als Bildungszertifikat (oder als institutionalisiertes kulturelles Kapi-
Bildungs(miss)erfolg von ausländischen Schülern
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dies Ausländer bestimmter ausgewählter Nationalitäten. Damit sind Vergleiche zwischen Ausländern bestimmter Nationalitäten möglich, über die ausländische Wohnbevölkerung Deutschlands lassen sich aber keine Aussagen machen. Außerdem sind Subgruppenanalysen in Individualdatensätzen aufgrund geringer Fallzahlen häufig enge Grenzen gesetzt, und es stellt sich die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit der Befunde. Trotz dieser Probleme hinsichtlich der Generalisier- und Vergleichbarkeit von Befunden wurde in der Forschung wiederholt eine Vielzahl von Nachteilen von ausländischen Schülern oder Schülern aus Migrantenfamilien gegenüber deutschen Schülern festgestellt, und zwar sowohl im Bereich vorschulischer institutioneller Betreuung als auch in den Bereichen der Primar- und Sekundarschulbildung. Die wichtigsten Befunde hierzu seien stichwortartig zusammengestellt, wobei der Einfachheit halber von Migrantenkindern die Rede sein soll, unabhängig davon, ob es sich – je nach Datengrundlage – um ausländische Kinder oder Kinder mit Migrationshintergrund handelt: x
Migrantenkinder erfahren gegenüber deutschen Kindern weniger vorschulische Betreuung (Becker und Tremel 2006; Diefenbach 2002; Büchel et al. 1997).
x
Migrantenkinder werden deutlich häufiger als deutsche Kinder von der Einschulung zurückgestellt (Gomolla und Radtke 2000; Rohling 2002).
x
Migrantenkinder bekommen deutlich häufiger als deutsche Kinder eine Grundschulempfehlung für die Hauptschule und deutlich seltener als deutsche Kinder eine Grundschulempfehlung für die Realschule oder das Gymnasium, was zum großen Teil, aber nicht vollständig, ihren Noten in Deutsch und Mathematik entspricht (Kristen 2002).
x
Migrantenkinder treten von der Grundschule deutlich häufiger als deutsche Kinder in eine Hauptschule über und deutlich seltener als deutsche Kinder in eine Realschule oder ein Gymnasium (Diefenbach 2002; Kristen 2002).
x
Migrantenkinder haben eine deutlich geringere Lesekompetenz als deutsche Kinder, auch wenn sie in Deutschland geboren wurden oder im Ausland geboren wurden, aber ihre gesamte Schullaufbahn in Deutschland durchlaufen haben (OECD 2001: 155 und Abbildung 6.5; Stanat et al. 2002: 13), wobei diesbezüglich zwischen den Bundesländern große Unterschiede zu beobachten sind (Baumert et al. 2003: 52-53).
tal im Gegensatz zu inkorporiertem kulturellem Kapital im Sinne Bourdieus; vgl. hierzu Bourdieu 1983) letztlich für die weitere Bildungs- und Erwerbskarriere entscheidend ist.
222
Diefenbach
x
Migrantenkinder bleiben deutlich häufiger als deutsche Kinder ohne einen Hauptschulabschluss (KMK 2002b). Der prozentuale Anteil von Migrantenkindern, die ohne Hauptschulabschluss bleiben, entspricht dem prozentualen Anteil von deutschen Kindern, die einen Hauptschulabschluss erwerben (nämlich 20%) (Diefenbach 2002).
x
Migrantenkinder erwerben deutlich häufiger als deutsche Kinder einen Hauptschulabschluss und seltener einen Realschulabschluss oder eine Fach- bzw. Hochschulreife (Avenarius et al. 2003: 172-173; Diefenbach 2002, 2004a).
x
Im Zeitverlauf gesehen hat der Anteil der Migrantenkinder, die einen Hauptschulabschluss erwerben, leicht abgenommen, während der Anteil der Migrantenkinder, die einen höherwertigen Abschluss erreicht haben, leicht zugenommen hat (Alba et al.1994). Aber der Anteil der Migrantenkinder, der ohne Hauptschulabschluss bleibt, liegt stabil bei 20 Prozent (Diefenbach 2002).
x
Zwischen den westdeutschen Bundesländern bestehen große Unterschiede hinsichtlich der Sekundarschulabschlüsse, die Migrantenkinder erreichen (wobei Migrantenkinder in Nordrhein-Westfalen, Bremen und Hamburg am häufigsten höherwertige Abschlüsse erzielen, am seltensten in Bayern, Rheinland-Pfalz, im Saarland, in Baden-Württemberg und in Schleswig-Holstein) (Diefenbach 2004a).
x
Bei Migrantenkindern ebenso wie bei deutschen Kindern besuchen Jungen häufiger als Mädchen Hauptschulen (Avenarius et al. 2003: 214215), und Mädchen erwerben häufiger höherwertige Schulabschlüsse als Jungen und bleiben seltener ohne Hauptschulabschluss (Diefenbach 2004b).
x
Migrantenkinder wiederholen Klassen deutlich häufiger als deutsche Kinder (Avenarius et al. 2003: 215).
x
Migrantenkinder besuchen doppelt so häufig Sonderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen wie deutsche Kinder (Kornmann und Schnattinger 1989; Kornmann und Klingele 1996; Kornmann et al. 1997; Kornmann et al. 1999; Kornmann und Neuhäusler 2001; Powell und Wagner 2001).
x
Vergleiche zwischen verschiedenen Nationalitäten unter den Migranten oder Ausländern hinsichtlich verschiedener Indikatoren zeigen, dass türkische und italienische Kinder im deutschen Schulsystem am schlechtesten gestellt sind, gefolgt von Kindern aus dem ehemaligen Jugoslawien (Alba et al. 1994; Diefenbach 2002; Kristen 2002).
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Weil im stark hierarchisch gegliederten Schulsystem Deutschlands Nachteile zu einem früheren Zeitpunkt bzw. auf früheren Stufen der Bildungskarriere die Ausgangspositionen zu späteren Zeitpunkten bzw. an späteren Schwellen in der Bildungskarriere deutlich verschlechtern und Wechsel zwischen Schulformen nur eingeschränkt möglich, riskant und in vielerlei Hinsicht aufwändig sind, es sich hier also um eine historische Kontingenz handelt, ist es nicht verwunderlich, dass sich Nachteile von Migrantenkindern gegenüber deutschen Kindern gleichermaßen bei der vorschulischen institutionellen Betreuung, im Primarschulbereich und im Bereich der Sekundarschulbildung feststellen lassen. Im Verlauf ihrer Bildungskarriere werden Migrantenkinder bzw. ausländische Schüler von deutschen Schülern immer stärker getrennt, sodass im Ergebnis eine ethnische Differenzierung entsteht, und zwar insofern als ausländische und deutsche Schüler zumindest teilweise parallele Schülerschaften darstellen mit jeweils deutlich häufiger von ausländischen als von deutschen Schülern erreichten Abschlüssen, besuchten Schultypen oder Typen von Klassen (z.B. Regel- oder Förderklassen) und dementsprechend mit jeweils mehr oder weniger binnenethnischen, zumindest aber nach dem Merkmal „Deutsch” – „Nicht-Deutsch” getrennten Milieus. 3.
Erklärungen für die Nachteile von ausländischen Schülern und ihre empirische Überprüfung
Aufbauend auf den ersten Befunden über die Nachteile ausländischer Schüler im deutschen Bildungssystem (insbesondere bezüglich ihrer höheren Überstellungsrate an Sonderschulen für Lernbehinderte; vgl. Hopf 1981; Reiser 1981) wurden probeweise Erklärungen formuliert, die vorrangig mit der „Fremdheit” der ausländischen Familien und der Herkunft ,der’ Migranten aus vormodernen Gesellschaften argumentierten (vgl. hierzu Rosen und Stüwe 1985): Ihnen wurde beispielsweise eine Unkenntnis der bundesdeutschen institutionellen und gesellschaftlichen Verhältnisse sowie ein kulturelles „Anders-Sein” konstatiert. Beides wurde und wird mit den Werten der bundesrepublikanischen Gesellschaft und den Werten und Einstellungen, die für ein erfolgreiches Durchlaufen der Bildungsinstitutionen notwendig sind. als zumindest teilweise unvereinbar angesehen. Die kulturell-defizitäre Erklärung Die Grundthese der kulturell-defizitären Erklärung für den mangelnden Bildungserfolg von ausländischen Schülern oder Schülern aus Migrantenfamilien lautet, dass sie aufgrund ihres kulturellen Erbes Defizite hinsichtlich dessen aufweisen, was als „‘Normalausstattung’ an Verhaltensweisen, Kenntnissen und Fähigkeiten [vorausgesetzt wird] ..., die ein Kind oder ein Jugendlicher eines bestimmten Entwicklungsstandes in die Institutionen der Bildung und Erziehung mitbringe” (Gogolin 2002: 264). Worin diese Defizite genau bestehen, variiert je nach Autor(en).
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So argumentieren Leenen et al. (1990: 760-761), türkische Migranten hätten eine traditionelle Haltung dem Lernen und der Schule gegenüber, entsprechend derer das Auswendiglernen und die absolute Autorität der Lehrer in allen Fragen des schulischen Betragens und Erfolges der Kinder selbstverständlich sei. Diese „traditionelle Haltung zum Wissen ist autoritativ-sachgebunden, die moderne Haltung instrumentell und individualistisch” (Leenen et al. 1990: 762), sodass Migranteneltern „Skepsis und Misstrauen” (Leenen et al. 1990: 760) der deutschen Schule gegenüber konstatiert wird. In einem solchen heimischen Klima würden die Kinder entweder die ablehnende Einstellung der Eltern zur Schule reproduzieren, oder sie müssten sich unter Austragung eines Kultur- und Generationenkonfliktes selbst platzieren: „‘Selbstplatzierung’ meint also, dass diese Gruppe [der schulerfolgreichen Jugendlichen] einen großen Bereich familiärer Platzierungsleistungen selbst übernehmen muss: die Vertretung ihrer Interessen gegenüber schulischen Instanzen, die Konkretisierung allgemeiner Berufs- und Bildungsziele und ihre Übersetzung in Entscheidungen hinsichtlich Schulformen und -laufbahnen” (vgl. Leenen et al. 1990: 762).3 Wenn die Mehrzahl der türkischen Migrantenkinder in der deutschen Schule nicht erfolgreich ist, dann liegt dies – dieser Argumentation folgend – also daran, dass sie aufgrund ihres kulturellen Erbes dort nicht erfolgreich sein kann. Nur diejenigen, die über ausreichende Selbstplatzierungsfähigkeiten verfügen, was notwendigerweise ein gewisses Ausmaß an individueller Modernisierung, Individualisierung und damit Akkulturation voraussetzt, haben die für schulischen Erfolg notwendige Passung. Nach Leenen et al. (1990: 765) ergibt sich hieraus ein Generationenkonflikt, denn die „bildungserfolgreichen“ Jugendlichen entwickeln durch den längeren Verbleib im deutschen Bildungssystem und durch die intensivere Auseinandersetzung mit modernen Persönlichkeitsidealen Grundorientierungen der Lebensgestaltung, die sich von den traditionellen Vorstellungen der Elterngeneration entfernen. Um im deutschen Bildungssystem erfolgreich sein zu können, müssen Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien also ihre kulturellen „Defizite” gegen den Widerstand ihrer Eltern überwinden, sich also im Zuge eines Akkulturationsprozesses „modernisieren”, und denjenigen, denen dies nicht gelingt, versucht die so genannte Ausländerpädagogik Hilfe zu leisten (vgl. hierzu Tränhardt 1999).4 Hier ist 3
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Gemeint ist – trotz der von den Autoren gewählten Formulierung – sicher nicht, dass nur bildungserfolgreiche Migrantenkinder sich selbst platzieren müssten, sondern, dass nur die Bildungserfolgreichen dies geschafft haben – sonst wären sie ja nicht erfolgreich gewesen! Interessanterweise scheint die Möglichkeit, kulturelle Werte von Migranten könnten Bildungserfolg befördern, statt ihn zu behindern, in der deutschsprachigen Literatur meines Wissens nicht formuliert worden zu sein, während dies in der US-amerikanischen Literatur durchaus der Fall ist. Zum Beispiel führen Sue und Okazaki (1990) den Erfolg asiatischer Migranten in den USA auf entsprechende kulturelle Werte zurück. Entsprechend könnte man die Frage stellen, ob der Erfolg griechischer Migranten in Deutschland ebenfalls auf spezifische kulturelle Werte zurückzuführen ist. Die Fixierung auf die in der Bildung erfolglosen Migranten in Deutschland (vor allem auf türkische Migranten) hat jedoch bislang eine solche Fragestellung verunmöglicht.
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kein Raum, diese (im Übrigen zirkuläre) Argumentation einer Kritik zu unterziehen oder die methodischen und argumentativen Mängel der Studie von Leenen et al. (1990) oder der Ausländerpädagogik zu erläutern. Eine detaillierte und überzeugende Kritik der verschiedenen Varianten der kulturell-defizitären Erklärung für den mangelnden Schulerfolg von Kindern aus Migrantenfamilien haben bereits Diehm und Radtke (1999) vorgelegt, und es mag an dieser Stelle der Hinweis genügen, dass empirische Belege für verschiedene Varianten der kulturelldefizitären Erklärung ausstehen (Bender-Szymanski und Hesse 1987). Insbesondere bleibt ungeklärt, warum es – neben türkischen Kindern – italienische Kinder sind, die im deutschen Bildungssystem so schlecht abschneiden. Im Fall italienischer Migrantenfamilien dürfte man wohl von einer insgesamt größeren kulturellen Nähe zur deutschen Gesellschaft ausgehen als im Fall türkischer Migrantenfamilien, und es ist sicher wenig plausibel, für Italiener eine traditionelle, nämlich autoritativ-sachgebundene Haltung zum Wissen im Sinne von Leenen et al. (1990) zu vermuten. Weiter wäre zu erwarten, dass Migrantenkinder oder -jugendliche erfolgreicher im deutschen Schulsystem sind, wenn sie in Deutschland geboren oder sozialisiert wurden und man daher annehmen darf, dass ihre kulturelle Basispersönlichkeit, die die kulturell-defizitäre Erklärung unterstellt (vgl. hierzu Claessens 1972), in Deutschland gebildet wurde. Zwar ist empirisch belegt, dass Migrantenkinder umso bessere Chancen im Bildungssystem haben, je niedriger ihr Einreisealter bzw. das Alter ist, in dem sie in das deutsche Bildungssystem eingetreten sind (Esser 1990; Nauck et al.1998), und dass so genannte Bildungsinländer (d h. in Deutschland geborene oder vor ihrem siebten Lebensjahr nach Deutschland gewanderte ausländische Schüler) höherwertige Sekundarschulabschlüsse erreichen als Migranten im Allgemeinen, jedoch erreichen sie keine den deutschen Schülern vergleichbaren Bildungsabschlüsse. Außerdem bleiben auch dann, wenn man nur Bildungsinländer betrachtet, statistisch signifikante Unterschiede zwischen verschiedenen Nationalitäten bestehen (Haug 2002: 127-128). Diese empirischen Befunde belegen, dass die Nachteile der ausländischen Kinder oder der Kinder aus Migrantenfamilien im deutschen Bildungssystem nicht einfach eine Funktion ihrer mangelnden Deutschkenntnisse, also einer weiteren Art von Defizit, sind. Insgesamt gesehen muss man den verschiedenen Varianten der kulturelldefizitären Erklärung daher den Status von Plausibilisierungen bescheinigen, die auf bestimmte in Deutschland verbreitete Bilder vom „typischen“ Leben in einer muslimischen oder südeuropäischen Gesellschaft oder Familie zurückgreifen, um Deutschen nachvollziehbar zu machen, warum Integration für die Migranten schwierig sei, und nebenbei die „ethnische Ordnung von Dominanz und Subordination” (Diehm und Radtke 1999: 85) ebenso wie die „Bedeutung der eigenen Arbeit [von Sozialpädagogen] zu unterstreichen und einen immer unzureichenden Ressourcenbedarf” (Diehm und Radtke 1999: 90) zu legitimieren. Trotz dieser und anderer Kritiken (Hebenstreit 1988; Lutz 1991) an der kulturell-defizitären Erklä-
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rung hat die Ausländerpädagogik, die auf ihr basiert, auch heute noch ihre Anhänger und ist durch eine Vielzahl so genannter kompensatorischer Maßnahmen im deutschen Bildungssystem institutionalisiert (Gogolin 2002). Die humankapitaltheoretische Erklärung Ebenfalls auf Defizite der Migrantenkinder bzw. Defizite ihrer Herkunftsfamilien rekurrieren humankapitaltheoretische Erklärungen für ihren im Vergleich zu deutschen Kindern deutlich geringeren Schul- und Berufserfolg. Hier ist der Grundgedanke derjenige, dass es Kindern aus Migrantenfamilien gegenüber deutschen Kindern an Humankapital mangele, das für das erfolgreiche Durchlaufen der Schullaufbahn in Deutschland notwendig sei. In der Bildungsökonomie bezeichnet „Humankapital” alle Investitionen, die in einen Menschen im Verlauf seiner Erziehung und Ausbildung gemacht werden und die ihm monetäre oder nichtmonetäre Erträge bringen: “Schooling, a computer training course, expenditures on medical care, and lectures on the virtues of punctuality and honesty are capital too in the sense that they improve health, raise earnings, or add to a person’s appreciation of literature over much of his or her lifetime. Consequently, it is fully in keeping with the capital concept as traditionally defined to say that expenditures on education, training, medical care, etc., are investments in capital. However, these produce human, not physical or financial, capital because you cannot separate a person from his or her knowledge, skills, health, or values the way it is possible to move financial and physical assets while the owner stays put” (Becker 1993a: 15-16). Die familiale Sozialisation wird als besonders bedeutsam für die Akkumulation von Humankapital betrachtet, weil Eltern ihren Kindern grundlegende Wissensbestände, Werte und Gewohnheiten, die dem Erfolg in den Bildungsinstitutionen oder auf dem Arbeitsmarkt zu- oder abträglich sind, vermitteln. Dies gelingt umso besser, je mehr Humankapital die Eltern ihrerseits aufzuweisen haben. Als Indikatoren dieses Humankapitals gelten vor allem die Bildungsabschlüsse der Eltern und ihr Einkommen bzw. das Haushaltseinkommen (Krüsselberg et al. 1986: 115). Weil die familialen Ressourcen wie Zeit, Zuwendung und Geld auf mehrere „Köpfe” verteilt werden müssen, wenn mehrere Kinder in der Familie leben, wird außerdem angenommen, dass sich Geschwister (bzw. eine höhere Anzahl von Geschwistern) negativ auf die Akkumulation von Humankapital in einem Kind auswirken (Becker 1993a: 21-23; Leibowitz 1977). Übertragen auf die Aggregatebene bedeutet dies, dass Bildung- oder Einkommensunterschiede zwischen Gruppen von Personen auf differenzielle Investitionen bzw. differenzielle Akkumulation von Humankapital in diesen Gruppen von Personen zurückgeführt werden (Leibowitz 1974). Für Einkommensunterschiede zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen in den USA stellt Gary S. Becker (1993a: 23) fest: “It should come as no surprise that children from the ethnic groups with small families and large investments in human capital typically
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rise faster and further in the United States’ income-occupation hierarchy than do children from other groups”. Entsprechend wäre der geringe Schulerfolg von Migrantenkindern im Vergleich zu deutschen Kindern ein Ergebnis systematisch geringerer familialer Ressourcen in Migrantenfamilien als in deutschen Familien: Weil Migranteneltern eine geringere Bildung und ein geringeres Einkommen sowie mehr Kinder haben als deutsche Eltern, stehen für die Akkumulation von Humankapital weniger Ressourcen zur Verfügung, und dies wirkt sich im geringeren Bildungserfolg von Migrantenkindern aus, der sich wiederum in geringeren Erfolg auf dem Arbeitsmarkt übersetzt. Empirische Studien haben die Grundannahmen der Humankapitaltheorie nur teilweise bestätigt: Für die USA konnte beispielsweise Gary S. Becker (1993a; 1993b) zeigen, dass die Bildung von Kindern tatsächlich positiv mit der Bildung ihrer Eltern korreliert, die Bildung von Eltern positiv mit dem Haushaltseinkommen korreliert, Kinder aus einkommensschwachen Familien mehr Zeit brauchen, bis sie einen Bildungsabschluss erreichen als Kinder aus Familien mit höherem Einkommen, und dass mit der Anzahl der Kinder in einer Familie eine Reduktion des Zeit- und Güterinputs je Kind einhergeht. Ein Test der humankapitaltheoretischen Grundannahmen für deutsche Kinder und Kinder aus Migrantenfamilien, den Nauck et al. (1998) vornahmen, ergab jedoch eine deutlich bessere Bestätigung in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit deutscher Kinder, einen bestimmten Schulabschluss zu erreichen. Eine Ausnahme stellt in dieser Studie der erwartete Effekt der Anzahl von Kindern im Haushalt dar, der bei deutschen Familien nicht bestätigt werden konnte.5 Bei Migrantenfamilien dagegen haben Nauck et al. (1998: 713) einen Effekt der Anzahl der Kinder im Haushalt feststellen können: „Je höher die Anzahl der Kinder im Haushalt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit der Jugendlichen, einen weiterführenden Schulabschluss zu erreichen”. Abgesehen von diesem Zusammenhang ergab sich aber für Migrantenfamilien, „dass der Bildungserfolg von Jugendlichen aus Migrantenfamilien – anders als bei deutschen Jugendlichen – in einem zwar signifikant positiven, aber außerordentlich geringen Zusammenhang mit dem ökonomischen und kulturellen Kapital der Herkunftsfamilie steht” (Nauck et al. 1998: 713). Weil also bei deutschen Familien sowohl die Bildung der Eltern als auch das Einkommen die Wahrscheinlichkeit eines Kindes, einen bestimmten Schulabschluss zu erreichen, beeinflussen, während dies bei Migrantenfamilien nicht der Fall ist, kann die Behauptung, nach welcher der mangelnde Schulerfolg von Kindern aus Migrantenfamilien ihrer
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Dies steht allerdings im Gegensatz zu den Ergebnissen der PISA-2000-E-Studie, in der festgestellt werden konnte, dass „für die individuellen Bildungschancen [...] die Zahl der Geschwister somit keineswegs unbedeutend [ist]. Vielmehr gilt in 8 von 14 Ländern, dass mit steigender Geschwisterzahl die individuellen Chancen auf eine gymnasiale Bildungsbeteiligung sinken” (Baumert et al. 2003: 79).
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Zugehörigkeit zu den unteren sozialen Schichten (und nicht ihrer Migrationsbiografie bzw. ihrer Nationalität) geschuldet sei, zurückgewiesen werden.6 Eine Möglichkeit, die Tatsache zu erklären, dass der Zusammenhang zwischen Bildung und Einkommen der Eltern und schulischer Platzierung der Kinder bei Migrantenfamilien nur schwach ist, ist der Verweis auf den unsicheren Aufenthaltsstatus und die damit in Frage stehende Bleibeabsicht vieler Migrantenfamilien: Folgt man der Argumentation von Korte (1990) und von Schiffauer (1991), so entwickeln Migranten wegen ihres unsicheren Aufenthaltsstatus keine langfristige Perspektive auf die Aufnahmegesellschaft hin, sodass sie ein vergleichsweise geringes Interesse an den Bildungsabschlüssen ihrer Kinder haben, weil diese Abschlüsse im Falle einer Rückkehr in das Herkunftsland „wertlos“ seien. Statt dessen hätten viele Migranten ein Interesse daran, ihre Kinder so früh wie möglich von der Schule zu nehmen, damit sie durch eine Erwerbstätigkeit zum Familieneinkommen beitragen können, was wiederum die Rückkehr in das Herkunftsland beschleunigen soll. Nach dieser Argumentation investieren Migranten also aufgrund rationaler Kalküle nur eingeschränkt in die Bildung ihrer Kinder, sodass bei ihren Kindern im Vergleich zu deutschen Kindern eher unterdurchschnittliche Bildungsabschlüsse zu erwarten sind. Wenn diese Erklärung zutrifft, sollten die Bildungsbeteiligung und der Bildungserfolg systematisch mit der Rückkehrabsicht bzw. der Bleibemöglichkeit variieren. Investitionen von Migrantenfamilien in die Bildung der Kinder sollten vergleichsweise stark sein, wenn sie planen, dauerhaft in der Bundesrepublik zu bleiben. Mit geringen Investitionen in die Bildung der Kinder ist bei Migrantenfamilien zu rechnen, die keine (längerfristige) Bleibeabsicht haben. Diese Erklärung lässt auch eine größere Bildungsbeteiligung und einen größeren Bildungserfolg bei Migrantenkindern derjenigen Nationalitäten erwarten, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Europäischen Union Freizügigkeit genießen (z.B. Italiener), als bei denen, für die dies nicht zutrifft (z.B. Türken). Dies ist jedoch nicht der Fall, und weder Alba et al. (1994) noch Diefenbach (2002) konnten anhand ihrer Analysen des Sozioökonomischen Panels einen Effekt der vom Haushaltsvorstand geäußerten Rückkehrabsicht auf die schulische Platzierung von Migrantenkindern feststellen. Auch die wiederholt als unrealistisch hoch festgestellten Bildungsaspirationen von Migranteneltern und ihren Kindern sprechen gegen eine bewusst geringe Bildungsinvestition aufseiten der Migrantenfamilien (Holtbrügge 1975; Karasan-Dirks 1980; Mehrländer et al. 1981; Neumann 1980; Wilpert 1980). 6
Studien, die neben den für die humankapitaltheoretische Erklärung relevanten Faktoren andere, wie etwa kulturelle Faktoren oder Wohnortbedingungen, berücksichtigt haben, um die schulische Platzierung von deutschen Kindern und Kindern aus Migrantenfamilien zu erklären, haben für Kinder aus Migrantenfamilien ebenfalls keine oder nur schwache Effekte sozioökonomischer Variablen oder der Bildung der Eltern feststellen können, und selbst dann, wenn solche Effekte feststellbar sind, bleiben – unabhängig hiervon – Effekte der Nationalität auf die schulische Platzierung erhalten (Alba et al. 1994; Diefenbach 2002; Gang und Zimmermann 1996).
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Der Befund, nach dem der Zusammenhang zwischen Bildung und Einkommen der Eltern und schulischer Platzierung der Kinder bei Migrantenfamilien nur schwach ist, kann auch mit Problemen beim Transfer von Qualifikationen in der umgekehrten Richtung erklärt werden, nämlich dadurch, dass Migrantenfamilien ihr in der Herkunftsgesellschaft akkumuliertes Humankapital (z.B. ein bestimmter Bildungstitel) in der Aufnahmegesellschaft nicht zum Einsatz bringen können, weil es dort einfach nicht gefragt ist (wenn z.B. ein bestimmter im Herkunftsland erworbener Bildungstitel im Aufnahmeland nicht anerkannt wird). Tatsächlich spielte die formale Bildung von Arbeitsmigranten im Zuge der Anwerbung durch die Bundesregierung in den 1960er Jahren – anders als z.B. in der Einwanderungspolitik Kanadas – keine Rolle. Für die soziale Platzierung von Migranten und die Chancen ihrer Kinder im Schulsystem des Aufnahmelandes ist also nicht nur von Bedeutung, wie viel oder welche Art von Humankapital sie mitbringen; ebenso wichtig ist, ob es in der Aufnahmegesellschaft direkt einsetzbar ist oder in eine Form transferiert werden kann, die in der Aufnahmegesellschaft nutzbar gemacht werden kann. In Abhängigkeit hiervon ergeben sich für Migrantenfamilien verschiedene Strategien der sozialen Platzierung, die gleichermaßen zum (finanziellen) Erfolg führen können und nicht notwendigerweise eine Bildungskarriere im Aufnahmeland involvieren (Diefenbach und Nauck 1997). Damit verschiebt sich die Perspektive weg von den individuellen Merkmalen der Migranten(familien) und hin zu den gesellschaftlichen Bedingungen, die sie vorfinden und mit denen sie sich arrangieren müssen. Die Erklärung durch Merkmale der Schule oder Schulklasse So müssen sich Migrantenkinder in dem Kontext zurechtfinden, in dem sich die tagtäglichen Lernprozesse abspielen. Zu den Merkmalen dieses Kontextes gehören Merkmale des Unterrichts ebenso wie Merkmale der Schule und der Klasse(n), die ein Kind besucht, weil Letztere den Unterricht und seine Effizienz beeinflussen (Baumert et al. o.J.: 12). Diesen Kontextmerkmalen kommt deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil sie im Rahmen bildungspolitischer Interventionen direkt beeinflusst werden können. Vor diesem Hintergrund ist es bedauerlich, dass sie bei weitem nicht so gut erforscht sind, wie man vermuten sollte und wie es wünschenswert wäre, insbesondere im Hinblick auf die Bildungsbeteiligung und den Bildungserfolg von ausländischen Kindern oder Migrantenkindern.7 Verschiedene Einzelbefunde hierzu seien im Folgenden zusammengestellt. Aufgrund der hierarchischen Struktur des Schulsystems in Deutschland sind mit dem Besuch eines bestimmten Schultyps Kontextbedingungen verbunden, die Schüler gegenüber anderen Schülern privilegieren (vgl. hierzu Solga und Wagner in diesem Band). Zum Beispiel besteht ein starker Zusammenhang zwischen der 7
Einen Überblick über die empirische Schulentwicklungsforschung in Deutschland geben Fend (1998) und Ditton (2000).
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besuchten Schulform und dem erreichbaren Schulabschluss (vgl. hierzu Avenarius et al. 2003: 179-180). Weil Integrierte Gesamtschulen ihren Schülern alle Typen von Schulabschlüssen bieten, also alle Typen von Schulabschlüssen theoretisch erreichbar sind, stellt sich bei ihnen mehr als bei anderen Schultypen die Frage nach den von den Schülern tatsächlich erreichten Schulabschlüssen. Um die Frage zu klären, ob Schüler im Hinblick auf ihren Sekundarschulabschluss vom Besuch einer Integrierten Gesamtschule profitieren oder nicht, hat Diefenbach (2003) berechnet, wie groß die Differenzen zwischen Schülern, die von Integrierten Gesamtschulen abgegangen sind, und Schülern, die von Sekundarschulen des dreigliedrigen Schulsystems zusammengenommen (bestehend aus Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien) abgegangen sind, hinsichtlich ihrer Schulabschlüsse sind. Tatsächlich haben in jedem einzelnen Schuljahr innerhalb des Beobachtungszeitraums von 1990 bis 2000 mehr ausländische Schüler, die von Integrierten Gesamtschulen abgehen, als ausländische Schüler, die von Schulen des dreigliedrigen Schulsystems abgehen, die Fachhochschulreife bzw. das Abitur (nämlich 4,25% mehr im Durchschnitt über den Beobachtungszeitraum) oder den Realschulabschluss (11,05% mehr) erworben, während es sich in Bezug auf den Hauptschulabschluss (10,3% weniger Absolventen von Integrierten Gesamtschulen als von Schulen des dreigliedrigen Schulsystems) und diejenigen, die die Sekundarstufe ohne Hauptschulabschluss verlassen (5% weniger), umgekehrt verhält. Ausländische Schüler erreichen auf Integrierten Gesamtschulen also tatsächlich über den gesamten Beobachtungszeitraum hinweg konsistent höhere Bildungsabschlüsse als auf Sekundarschulen mit einem Bildungsgang, und sie gehen von Integrierten Gesamtschulen seltener ohne einen Hauptschulabschluss ab, sodass der Besuch einer Integrierten Gesamtschule für ausländische Schüler gegenüber dem Besuch einer Schule des dreigliedrigen Systems vorteilhaft ist.8 Merkens (1990) hat darauf hingewiesen, dass Integrierte Gesamtschulen eine Möglichkeit für Migrantenfamilien darstellen, den eventuell vorhandenen Konflikt zwischen Grundschulempfehlung und eigenen Bildungsaspirationen für das Kind zu lösen: „Wenn Schüler bzw. Eltern beim Übergang von der Primarschule zur Sekundarstufe I die Schulform Gymnasium oder Realschule wünschen, die Grundschulempfehlung beim Wunsch Gymnasium aber höchstens Realschule und bei der Realschule Hauptschule lautet, dann wird dieser Konflikt aufgelöst, indem die Gesamtschule gewählt wird” (Merkens 1990: 243-244). Tatsächlich besuchen größere Anteile ausländischer Schüler als deutscher Schüler Integrierte Gesamtschulen: Im Durchschnitt der Jahre 1992 bis 2001 besuchten 14 Prozent der ausländischen Schüler und 9,9 Prozent der deutschen Schüler Integrierte Gesamtschu-
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Allerdings ist auch erkennbar, dass diese Vorteile ausländischer Schüler, die Integrierte Gesamtschulen besucht haben, seit dem Schuljahr 1990/91 insgesamt gesehen etwas geringer geworden sind.
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len.9 Es ist zu vermuten, dass ein noch größerer Anteil von ausländischen Schülern auf Integrierte Gesamtschulen entfallen würde, hätten nicht viele städtische Integrierte Gesamtschulen einen Nachfrageüberhang, der sie zu einer Aufnahmeselektion zwingt, bei der unter anderem eine Ausländerquote zum Tragen kommt (z.B. in Bielefeld: Gomolla und Radtke 2002: 249-251). Damit ist ein weiteres Kontextmerkmal schulischen Lernens angesprochen, das in der Forschung Beachtung gefunden hat, nämlich die Zusammensetzung der Schülerschaft in einer Schule und in den Klassen, in denen unterrichtet wird (vgl. für die USA: Coleman et al. 1966 [„Coleman Report“]; Mayer 1998). Im vorliegenden Beitrag ist insbesondere die ethnische Zusammensetzung von Schulklassen von Interesse, über deren Effekte auf den Schulerfolg in der Literatur einige Erwartungen formuliert worden sind. Die Grundidee, die diesen Zusammenhang plausibel machen soll, ist, dass die ethnische Zusammensetzung der Schülerschaft nicht direkt auf den Schulerfolg einzelner Schüler wirkt, sondern vermittelt über verschiedene Größen, wie z.B. die Entwicklung spezifischer Gruppennormen und Normalitätsstandards (Caldas und Bankston 1997) oder die Qualität des Unterrichtes (Rüesch 1998). Die wenigen deutschen Studien, die den Zusammenhang zwischen ethnischer Zusammensetzung von Schulklassen und dem Schulerfolg der Schüler in diesen Klassen untersucht haben, haben einen solchen tatsächlich belegen können, aber nicht in konsistenter Weise: x
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Im Rahmen der PISA-2000-E-Studie wurde festgestellt, dass in Schulen ab einem Anteil von 20 Prozent Schülern mit Migrationshintergrund, deren Umgangssprache in der Familie nicht Deutsch ist, schwächere Leistungen im Lesen erzielt wurden, mit einem höheren Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund aber keine weitere Verschlechterung der erzielten Leistungen einhergeht (Stanat 2003: 256). Auf der Ebene der einzelnen Bundesländer lässt sich ebenfalls kein linearer Zusammenhang zwischen dem prozentualen Anteil von Schülern aus Zuwandererfamilien in den Schulen und dem im Durchschnitt erreichten Leistungsniveau ausmachen: „Für einige Länder scheint zwar ein solcher Trend zu erkennen zu sein, dieser wird jedoch wiederum durch die mittleren Leistungsergebnisse im Saarland und in Schleswig-Holstein durchbrochen, die trotz des eher geringen Migrantenanteils in ihren Schulen vergleichsweise niedrig sind” (Stanat 2003: 258).
Es sei darauf hingewiesen, dass es diesbezüglich Unterschiede zwischen den verschiedenen Bundesländern gibt: Zwar trifft es zu, dass in den meisten Bundesländern größere Anteile ausländischer als deutscher Schüler Integrierte Gesamtschulen besuchen, aber in Berlin, Bremen und Schleswig-Holstein sind die entsprechenden Anteile in etwa ausgeglichen, und in Bremen besucht ein größerer Anteil deutscher Schüler als ausländischer Schüler eine Integrierte Gesamtschule (vgl. KMK 2002a: Grafik 17 auf Seite 37).
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Kristen (2002) hat in ihrer Untersuchung von 3.354 Viertklässlern in 151 Schulklassen an sechs Grundschulen in Baden-Württemberg über den Zeitraum von 1984 bis 2000 hinweg einen Effekt des Anteils ausländischer Kinder in der Schulklasse auf die Chance, nach der Grundschule auf eine Realschule oder ein Gymnasium statt auf eine Hauptschule zu wechseln, festgestellt: Türkische und (besonders) italienische Kinder haben eine um so geringere Chance, von der Grundschule auf eine Realschule oder ein Gymnasium zu wechseln, je mehr ausländische Kinder in ihrer Grundschulklasse sind (Kristen 2002: 548).
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Abgesehen von diesen beiden Studien, die den Zusammenhang zwischen ethnischer Zusammensetzung der Schülerschaft in der Schule und den Leseleistungen bzw. zwischen der Zusammensetzung der Schülerschaft der Grundschulklasse und dem besuchten Sekundarschultyp prüfen, liegen verschiedene Studien vor, die zwar nicht den Zusammenhang zwischen schulischen Leistungen oder der schulischen Platzierung und der ethnischen Zusammensetzung der Schülerschaft testen, sich also nicht direkt auf ein Merkmal des schulischen Umfeldes beziehen, aber die schulischen Leistungen von ausländischen Schülern mit der Häufigkeit ihres Kontaktes zu deutschen Schülern oder mit der ethnischen Konzentration im Wohngebiet in Zusammenhang bringen: Die Untersuchung von Esser (1990) zur Schulkarriere von 463 türkischen und 431 jugoslawischen Kindern ergibt allerdings keinen statistisch signifikanten Effekt der ethnischen Konzentration im Wohnviertel auf die Schulkarriere des Kindes (Esser 1990: 141-142). Dagegen konnten RöhrSendlmeier (1986) und Abele (1988) in ihren Studien zeigen, dass der häufige Kontakt ausländischer Schüler zu ihren deutschen Mitschülern mit besseren schulischen Leistungen der ausländischen Schüler zusammenhängt.
Diese wenigen Befunde zeigen immerhin, dass der Zusammenhang zwischen der ethnischen Zusammensetzung einer Schülerschaft oder allgemein der ethnischen Konzentration im Umfeld von ausländischen Schülern und ihrem Schulerfolg nicht ohne weiteres als Kausalzusammenhang zu interpretieren ist. Weil mit der ethnischen Zusammensetzung einer Schülerschaft andere Aspekte der Zusammensetzung einer Schülerschaft konfundiert sind, die das Leistungsniveau und mithin den Schulerfolg von Schülern in Schulen oder Klassen mit einem bestimmten Anteil von ausländischen Schülern oder Schülern mit Migrationshintergrund senken (können), wäre es notwendig festzustellen, welche (kausalen) Mechanismen dieser Korrelation tatsächlich zugrunde liegen.
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Die Erklärung durch institutionelle Diskriminierung Erst seit kurzer Zeit widmen sich Migrations- oder Bildungsforscher den Bildungsinstitutionen, ihren Erwartungen an die Schülerschaft und ihren Selektionsmechanismen, um den mangelnden Erfolg von Migrantenkindern im deutschen Bildungssystem zu erklären. Empirische Studien hierzu sind daher bislang selten und hinsichtlich ihres Geltungsbereiches aufgrund der (aus praktischen Gründen notwendigen) Beschränkung auf bestimmte Schulen in bestimmten Städten oder einem bestimmten geografischen Raum beschränkt: Gomolla und Radtke (2000; 2002) haben in Bielefeld auf der Grundlage von Interviews mit und Gutachten von Lehrern, Schulleitern und Repräsentanten der Schulbehörden untersucht, wie Diskriminierung von Migrantenkindern als Ergebnis organisatorischen Handelns in Schulen im Zusammenhang mit einwanderungs- und bildungspolitischen Rahmenbedingungen entsteht, und dabei besonders die Einschulung, die Überweisung auf eine Sonderschule für Lernbehinderte und den Übergang in die Sekundarstufe am Ende der Grundschulzeit betrachtet. Sie kommen zu dem Resultat, dass tatsächlich „Schulerfolg oder -misserfolg nicht nur von den eigenen Leistungen der SchülerInnen, sondern auch von Entscheidungspraktiken der Schulen abhängen, die in ihre institutionellen und organisatorischen Strukturen eingelassen sind” (Gomolla und Radtke 2002: 334). Einen indirekten Hinweis auf institutionelle Diskriminierung gibt auch die bereits erwähnte Studie von Kristen (2002): Für den Übergang von der Grundschule auf einen bestimmten Typ von Sekundarschule sind sowohl bei ausländischen Kindern als auch bei deutschen Kindern die Noten in Mathematik und Deutsch entscheidend, und ausländische Kinder haben deutlich schlechtere Deutschnoten als deutsche Kinder (und deutlich schlechtere Deutschnoten als Mathematiknoten), sodass der deutliche häufigere Wechsel von ausländischen Kindern als von deutschen Kindern auf die Hauptschule durch ihre schlechteren Noten in Deutsch erklärt werden kann. Allerdings bleiben Unterschiede zwischen ausländischen Kindern und deutschen Kindern sowie zwischen ausländischen Kindern verschiedener Nationalitäten bestehen, wenn die Schulnoten kontrolliert werden: „Insgesamt kann [...] geschlossen werden, dass die ethnische Herkunft für die Frage, ob ein Kind auf die Hauptschule wechseln wird oder nicht, eine bedeutsame Rolle spielt; wenn es allerdings um die Frage geht, ob ein Kind die Realschule oder das Gymnasium besuchen wird, dann verliert die ethnische Zugehörigkeit an Gewicht” (Kristen 2002: 545). Im Hinblick auf die Frage, warum die ethnische Herkunft eines Kindes nach Kontrolle seiner Schulnoten einen Einfluss darauf haben sollte, ob es die Hauptschule oder eine weiterführende Sekundarschule (also eine Realschule oder ein Gymnasium) besucht, „scheint der Verweis auf Diskriminierungen seitens der Schule nahe zu liegen” (Kristen 2002: 549). Die Autorin gibt allerdings zu bedenken, dass „auch andere, bislang nicht kontrollierte Faktoren, für den Fortbestand derartiger Unterschiede verantwortlich sein können” (Kristen 2002: 549). Die Einschränkung der Autorin rechtfertigt jedoch nicht das Urteil, zu
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dem Esser (2001) in seiner Interpretation derselben Daten kommt: „Es gibt beim Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schulen keine unmittelbare ‚Diskriminierung’ der ausländischen Kinder. Der Übergang zu den weiterführenden Schulen folgt vielmehr strikt [...] meritokratischen Gesichtspunkten. [...] Aufgrund der schlechten Lernleistungen erhalten sie schlechte Noten und aufgrund dieser Noten weniger Empfehlungen für den Besuch einer weiterführenden Schule. Einen besonderen ‘Malus’ als Angehörige bestimmter ethnischer Gruppen bekommen sie nicht. Die Schulen funktionieren ganz offenbar als ‘moderne’, strikt nach Leistung operierende Institution” (Esser 2001: 63). Dass Kristen angesichts derselben Daten und des „ganz Offenbaren” nicht zur selben uneingeschränkt positiven Einschätzung kommt, liegt vielleicht (auch) daran, dass sie nicht induktiv von Noten auf in der Studie nicht kontrollierte Lernleistungen und ebenfalls nicht von Resultaten für sechs Grundschulen in Baden-Württemberg auf Grundschulen oder „die Schulen” im Allgemeinen schließen möchte. Dass dies unangebracht ist, belegen die oben berichteten Ergebnisse von Gomolla und Radtke (2000; 2002). Selbst dann, wenn es so wäre, dass deutsche und Migrantenkinder gleichermaßen entsprechend ihrer Noten nach dem Abschluss der Grundschule auf die verschiedenen Typen von Sekundarschulen verteilt werden, könnte man fragen, ob es sich nicht um eine institutionelle Diskriminierung handelt, wenn die Deutschnote, die bei Migrantenkindern deutlich schlechter ist als die Mathematiknote (Kristen 2002: 541 und Tabelle 2 auf S. 542), bei ihnen ebenso stark gewichtet wird wie bei deutschen Kindern und dementsprechend zu einer schlechteren Durchschnittsnote als bei deutschen Kindern führt, was wiederum darin resultiert, dass Migrantenkinder mit weit geringerer Wahrscheinlichkeit nach Abschluss der Grundschulzeit auf eine weiterführende Sekundarschule als die Hauptschule wechseln. Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich zutreffend, wenn die Förderung der Deutschkenntnisse als dringlichste Aufgabe betrachtet wird, wenn es darum geht, die Bildungsbeteiligung und den Bildungserfolg von Kindern aus Migrantenfamilien zu fördern. Allerdings ist die koordinierte Förderung des Deutschen und der Muttersprache der Kinder aus Migrantenfamilien entscheidend sowohl für die Sprachentwicklung im Allgemeinen als auch für die Entwicklung der Deutschkenntnisse im Speziellen (Reich und Roth 2002: 29-36), sodass es nicht hinreicht, die Deutschkenntnisse der Kinder aus Migrantenfamilien – unter Umständen auf Kosten ihrer Kenntnisse der Muttersprache – durch zusätzliche Unterrichtsstunden verbessern zu wollen. Das Festhalten am „monolingualen Habitus der multilingualen Schule” (Gogolin 1994) ist daher kontraproduktiv. Es kann darüber hinaus als eine Form institutioneller Diskriminierung aufgefasst werden, weil es Sprachkenntnisse in legitime und illegitime unterteilt, indem den Sprachen der Mehrzahl der Migranten in Deutschland bzw. der Familien mit Migrationshintergrund, allen voran dem Türkischen, jeder Bildungswert bestritten wird, weil sie zum Beispiel nicht als Schulfremdsprachen anerkannt werden oder indem die Förderung dieser
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Sprachen ohne Anschluss an den übrigen Unterricht bleibt (vgl. hierzu Gogolin 2001). Neumann kommt dementsprechend in ihrer Betrachtung der Bildungs- und Erziehungssituation türkischer Kinder in Hamburg und Schleswig-Holstein zu der folgenden Einschätzung: „Die Beherrschung der deutschen Sprache gilt als Schlüssel zum Schulerfolg und zum gesellschaftlichen Aufstieg, während die mitgebrachten Sprachen der Einwanderer nicht als gesellschaftliche Ressource positiv bewertet werden. Will man die Bildungssituation zweisprachiger Kinder in Deutschland tatsächlich verbessern, wird dies ohne eine Neuorientierung in dieser Frage kaum möglich sein” (Neumann 2001: 11). 4.
Implikationen für die Bildungspolitik
Für den deutschen Schülern gegenüber mangelnden schulischen Erfolg von ausländischen und Migrantenkindern im deutschen Schulsystem gibt es verschiedene Erklärungen, für die mehrheitlich gilt, dass sie bei weitem nicht so gut durch empirische Forschung geprüft sind, wie man angesichts der Brisanz von Bildungsfragen im Allgemeinen und der Stellung von ausländischen Schülern oder Schülern mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem im Speziellen meinen sollte. Wie für andere Fragen von einiger gesellschaftlicher Relevanz gilt auch hier, dass die politische Verarbeitung von vorläufigen Befunden der Gewinnung von fundierten Erkenntnissen vorauseilt.10 Eine wenig spektakuläre, aber dennoch wichtige Schlussfolgerung aus dem Vorangegangenem ist also die Forderung nach mehr systematischer und unabhängiger Forschung, insbesondere darüber, welchen Beitrag die Schule und die Lehrer zur Reproduktion von ungleichen Bildungschancen, speziell bei Migranten, spielen (vgl. hierzu Ditton in diesem Band). Sie ist in idealer Weise interdisziplinär angelegt und erschöpft sich nicht in dem Versuch, die lieb gewonnene Theorie (einmal mehr) unter Nicht-Beachtung konkurrierender Theorien zu belegen oder bestimmte ideologisch fundierte Vorurteile zu legitimieren. In diesem Zusammenhang würden sich neue Untersuchungsdesigns vermutlich als hilfreich erweisen, bei denen zum Beispiel einmal nicht deutsche Schüler mit ausländischen Schülern oder Schülern aus Migrantenfamilien verglichen werden, sondern bildungserfolgreiche Schüler aus Migrantenfamilien mit weniger erfolgreichen Schülern aus Migrantenfamilien. Bereits zu diesem Zeitpunkt zeichnet sich in der empirischen Forschung von Sozialwissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen ab, dass die Erklärungskraft individueller Merkmale von Migranten und ihrer Familien, allem voran ihre so10
Zum Beispiel erscheint es – gelinde gesagt – angesichts des Wenigen, was die empirische Forschung zu den Effekten der ethnischen Zusammensetzung der Schülerschaft auf den Schulerfolg von Schülern aussagt, voreilig, wenn Politiker eine Quote für ausländische Schüler an den Schulen oder in Schulklassen fordern, wie dies beispielsweise die CSU-Fraktion Bayerns oder Niedersachsens ehemaliger Regierungschef und heutiger Bundesumweltminister Sigmar Gabriel von der SPD getan haben.
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zioökonomische Situation und die mangelhaften Deutschkenntnisse, überschätzt worden ist. Dies festzuhalten, ist besonders wichtig angesichts des aktuellen Zustands der fachöffentlichen und öffentlichen Diskussion um die Situation speziell der Migrantenkinder im deutschen Schulsystem und eventuell durchzuführender Reformen: Migrantenkinder wurden zwar zwischenzeitlich vom Vorwurf rein gewaschen, das vergleichsweise schlechte Abschneiden Deutschlands in der PISA-2000-Studie verursacht zu haben, aber die Beschäftigung mit ihren schulischen Problemen findet dennoch nur in der Beschränkung auf ihre mangelhaften Deutschkenntnisse statt, oder gar nicht, wenn nämlich die Probleme der Migrantenkinder lediglich als Spezialfall der Probleme angesehen werden, die Kinder aus den unteren Bevölkerungsschichten im Schulsystem Deutschlands haben.11 Bildungspolitiker, die bislang meinten, die Bildungsbeteiligung und den Bildungserfolg von ausländischen Schülern bzw. Schülern mit Migrationshintergrund durch die Einrichtung von Förderkursen verbessern zu können, in denen die „Defizite” dieser Schüler ausgeglichen oder wenigstens verwaltet werden, stehen damit vor einem Problem: Mit zusätzlichen Geldmitteln und dem Verweis auf andere, in der Gesellschaft existierende soziale Schieflagen als der zwischen Deutschen und Ausländern ist es nämlich offensichtlich nicht getan. Vielmehr mehren sich die Hinweise, dass für die Bildungsbeteiligung und den Bildungserfolg von ausländischen Schülern oder Schülern mit Migrationshintergrund die Kontextmerkmale und die – intendierten oder nicht intendierten – Folgen institutioneller Handlungslogiken wichtig sind (vgl. Hillmert in diesem Band). Zwar ist es angesichts der wenigen hierzu vorliegenden Forschungsergebnisse zu früh, Empfehlungen für die Bildungspolitik auszusprechen, aber klar scheint bereits jetzt zu sein, dass die Bildungspolitik sich mit diesen Folgen institutioneller Handlungslogiken beschäftigen muss. Insofern muss sich eine reflexive Bildungspolitik fragen, inwieweit die institutionellen Logiken der politischen Willensbildung und des Verwaltungshandelns, insbesondere im Rahmen der Hilfsindustrie, der Sache selbst, nämlich der Beförderung der Bildungsbeteiligung und des Bildungserfolgs von Migranten oder Ausländern, im Wege stehen.
11
Die starke oder gar alleinige Betonung des sozioökonomischen Status der Herkunftsfamilie als erklärende Variable für die Schulkarriere oder den Schulerfolg eines Kindes ist schon deshalb unzureichend (und geradezu naiv), weil die Beurteilung der Schulreife eines Kindes durch Ärzte oder Psychologen ebenso wie die Einschätzung der Chancen eines Kindes, einen höheren Schulabschluss zu erreichen, durch Lehrer unweigerlich durch die Kenntnis des sozioökonomischen Status der Herkunftsfamilie eines Kindes beeinflusst ist (vgl. hierzu die entsprechende Diskussion bei Jeynes 2002). Dies bedeutet, dass es wichtig ist, neben den verschiedenen Dimensionen des sozioökonomischen Status als solchen, zu berücksichtigen, welche Alltagstheorien die Entscheidungsträger im schulischen Kontext darüber haben, was mit dem sozioökonomischen Status verbunden und für die schulische Laufbahn eines Kindes relevant ist.
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Der Beitrag von Schule und Lehrern zur Reproduktion von Bildungsungleichheit Hartmut Ditton
1.
Einleitung
Bedeutsame Unterschiede in der Bildungsteilhabe und im schulischen Erfolg bestehen im deutschen Bildungssystem in Abhängigkeit vom Geschlecht, der Nationalität und der sozialen Herkunft. Die Differenzen bezüglich der sozialen Herkunft sind im internationalen Vergleich in Deutschland außergewöhnlich stark ausgeprägt (Baumert et al. 2000). Auch die regionalen Disparitäten in Deutschland sind beträchtlich, sowohl hinsichtlich der allgemeinen Lebensqualität bzw. der Versorgung mit Infrastruktureinrichtungen (Korczak 1995) als auch bezüglich des Bildungsangebots und der Bildungsnachfrage (Bargel und Kuthe 1992; Institut für Länderkunde 2002). Wie die deutsche Zusatzstudie zu PISA (PISA-E) nachweist, bestehen zudem erhebliche Differenzen im erreichten Leistungsniveau zwischen den Bundesländern (Baumert et al. 2002; Baumert et al. 2003a). Übereinstimmend belegen die vorliegenden Daten damit eine gravierende Ungleichheit der erreichten Bildungsergebnisse zwischen sozialen Gruppen und Regionen (Ditton 2004). Ungleiche Bildungsergebnisse müssen jedoch nicht unbedingt und in jedem Fall auch ungerecht oder ungerechtfertigt sein. Sofern man aber nicht biologische oder naturgegebene Ursachen unterstellen will, bedürfen Formen der Ungleichheit in sich demokratisch verstehenden Gesellschaften einer Rechtfertigung, z.B. durch nachweisliche Unterschiede in den erbrachten Leistungen, die zu unterschiedlichem Bildungserfolg führen können. Weit weniger strittig als die Forderung nach Ergebnisgleichheit ist die Forderung nach Chancengleichheit, die sich auf die Aussichten bezieht, in begehrte soziale Positionen gelangen und die mit ihnen verbundenen Güter oder Privilegien erwerben zu können (Koller 1995). Auch das Gebot der Chancengleichheit gilt nicht uneingeschränkt, sondern wiederum nur insoweit als nicht allgemein annehmbare Gründe eine ungleiche Verteilung von Chancen rechtfertigen. Soziale Positionen müssen zwar grundsätzlich allen Bürgern offen stehen, und alle müssen gleiche Chancen haben, in diese Positionen zu gelangen, allerdings nur insofern als sie über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen und entsprechende Leistungen tatsächlich auch erbringen (Koller 1995: 62). Bezüglich der Verteilung von Bildungsgütern bzw. des Erwerbs von Bildungstiteln führt dies zu einer Fülle schwieriger Probleme und strittiger Fragen, z.B. nach der Art und erforderlichen Höhe der Leistungen, deren objektiver Feststellung und Bewertung sowie nicht zuletzt nach dem Zeitpunkt der Ent-
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Ditton
scheidung über die Zulassung zu Bildungsgängen und danach, wer diese Entscheidung auf welcher Grundlage letztlich zu treffen hat. Die Regelung des Zugangs zu begehrten und knappen sozialen Positionen sollte in einer demokratischen Gesellschaft nach Leistung, Können und Anstrengung, d.h. nach nachvollziehbaren und gesellschaftlich akzeptierten bzw. allgemein als gerecht empfundenen Kriterien, erfolgen. Das schließt die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs ebenso ein, wie die eines Abstiegs. Im Hinblick auf die Möglichkeiten, gute (schulische) Leistungen erzielen zu können und Bildungsabschlüsse zu erwerben, bestehen im bundesdeutschen Bildungswesen auch keine formalen Barrieren zwischen sozialen Gruppen. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass es sich um einen offenen Wettbewerb handelt, in dem niemand aufgrund persönlicher Merkmale oder seiner Herkunft benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Im Sinne des Gebots der Chancengleichheit heißt es in einer Informationsunterlage der Kultusministerkonferenz zum Übergang von der Grundschule in die Schulen des Sekundarbereichs denn auch: „Jedem Kind muss – ohne Rücksicht auf Stand und Vermögen der Eltern – der Bildungsweg offen stehen, der seiner Bildungsfähigkeit entspricht“ (KMK – Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland 2003: 4). Dieser Anspruch bringt das Grundproblem der Reproduktion von Bildungsungleichheit knapp zusammenfassend zum Ausdruck: Einerseits ist die Unabhängigkeit von Stand und Vermögen der Eltern gefordert, andererseits wird der Begriff der Bildungsfähigkeit ins Spiel gebracht. Nicht eingegangen wird darauf, welche Verbindung zwischen beiden Faktoren besteht, und ob Schule den Auftrag hat, ungleichen Bildungsfähigkeiten, die schon zum Eintrittszeitpunkt in die Schule vorliegen können, ausgleichend entgegen zu wirken. Der Argumentation von Bourdieu und Passeron (1971) folgend ließe sich noch weitergehend einwenden, dass in der Stellungnahme der KMK lediglich eine gesellschaftlich verbreitete Ideologie der Chancengleichheit zum Ausdruck kommt, die der Verschleierung systemimmanenter Reproduktionsmechanismen dient. Es würde sich dann letztlich um eine Pseudo-Legitimation sozial selektiver Mechanismen handeln, die den herrschenden Klassen dazu verhilft, ihre Macht- und Herrschaftsposition zu festigen. Unter dem Deckmantel der Chancengleichheit würden bestehende Strukturen dadurch legitimiert und perpetuiert, dass die Verantwortung des Systems durch den Verweis auf die formal gegebene Gleichheit geleugnet und an die Betroffenen zurück gegeben wird. Zur näheren Klärung der wirksamen Mechanismen bei der Reproduktion von Bildungsungleichheit ist der Hinweis auf die Ideologie der Chancengleichheit bestenfalls bedingt hilfreich. Es ist davon auszugehen, dass die Ursachen und Wirkmechanismen für ungleichen Bildungserfolg und ungleiche Bildungschancen vielfältig sind. Betrachtet man die relevanten Faktorengruppen im Einzelnen, dann ist das Zusammenwirken von individuellen, familialen, schulischen und Kontextbedingungen bedeutsam. Hierbei hat die Unterscheidung zwischen dem primären
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(oder kulturellen) und dem sekundären (oder positionsspezifischen) Effekt eine zentrale Bedeutung (Boudon 1974). Während die erste Komponente Unterschiede in Werthaltungen und im kulturellen Hintergrund der Akteure reflektiert, und damit auch den Vermittlungsmechanismus über die erreichten Schulleistungen, bezieht sich die zweite Komponente auf Kosten- und Nutzenabwägungen bei zu treffenden Bildungsentscheidungen bzw. im Bildungsverhalten, die selbst unter gleichen kulturellen Bedingungen in Abhängigkeit von der sozialen Position unterschiedlich ausfallen. Die erstrangige Vermittlungsgröße in der Reproduktion von Bildungsungleichheit sind die erzielten schulischen Leistungen. Unter Kontrolle dieses primären Effekts gehen die Effekte der sozialen Herkunft auf den Bildungserfolg erheblich zurück, wenngleich signifikante Effekte bestehen bleiben. Die Mehrzahl der vorliegenden empirischen Studien – häufig retrospektiv angelegte Surveys – erlaubt allerdings keine Kontrolle von Leistungsvariablen und ist insofern auch unzureichend, um die Reproduktionsmechanismen differenziert zu analysieren. Weil davon auszugehen ist, dass Kinder bereits mit unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen in die Schule eintreten, ist eine wesentliche Untersuchungsfrage, wieweit diese Differenzen im Verlauf der Schulzeit erhalten bleiben bzw. reduziert oder vergrößert werden. Dazu sind Längsschnittuntersuchungen unverzichtbar, die, um die Wirkung der Institution Schule abschätzen zu können, bereits mit dem Zeitpunkt der Einschulung beginnen müssten. Für Faktoren der sozialen Herkunft sind selbst unter Kontrolle des primären Effekts Wirkungen auf den Bildungserfolg nachweisbar. Dies ist zu einem erheblichen Teil darauf zurückzuführen, dass an den Entscheidungsstellen über die weitere Bildungslaufbahn die Kosten-Nutzen-Kalkulation in Abhängigkeit von der sozialen Lage der Herkunftsfamilie unterschiedlich ausfällt (sekundärer Effekt). Das gilt sowohl für die Bildungsaspirationen der Eltern als auch für die Bildungsempfehlungen der Lehrkräfte. Zudem spielt eine Rolle, dass bereits durch die Notenvergabe untere soziale Schichten über die bestehenden Leistungsunterschiede hinaus benachteiligt werden und die Bildungsaspirationen und Bildungsempfehlungen für Kinder unterer Schichten selbst bei gleichen Noten niedriger ausfallen als für Kinder der oberen Sozialgruppen. Höheren sozialen Schichten steht ein breiteres Repertoire an Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung, um den Schulerfolg des Kindes zu fördern, und sie können von daher riskantere Spekulationen in der Wahl des weiteren Bildungsweges wagen als Angehörige unterer sozialer Schichten. Offensichtlich antizipieren dies auch die Lehrkräfte in ihren Bildungsempfehlungen. Auf der schulstrukturellen Ebene bedeutsame Faktoren für die Reproduktion von Bildungsungleichheit sind der Zeitpunkt der Selektion für unterschiedliche Bildungsgänge und die schulische Selektion durch Klassenwiederholungen und schulische Abstiege (Überweisungen an Sonderschulen, Rückstufungen von höheren Schulen). Ebenfalls bedeutsam sind schulart- oder schulspezifische Angebote
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der individuellen Förderung und Betreuung sowie gezielte Maßnahmen zum Abbau von Bildungsbenachteiligungen bzw. umgekehrt: das Fehlen solcher Angebote. Im Hinblick auf die regionalen Unterschiede im Bildungsangebot und in der Bildungsnachfrage bestehen Differenzen in der Lebensplanung, die im Zusammenhang mit dem regionalen Arbeitsmarkt und mit der Bevölkerungs-, Wirtschafts- und Erwerbsstruktur einer Region stehen (Ditton 1992). Betrachtet man die familialen, schulischen und kontextuellen Faktoren im Zusammenhang, so wird deutlich, dass es sich um komplexe Wirkstrukturen handelt und institutionell spezifische Effekte nur schwer zu separieren sind. Im Folgenden werden zunächst die Grundlagen dargestellt, von denen im vorliegenden Beitrag ausgegangen wird. Im Anschluss daran werden Theorieansätze und der Forschungsstand behandelt. Den Abschluss bildet ein Ausblick auf die sich daraus ergebenden Perspektiven. 2.
Grundlagen
Auch wenn der vorliegende Beitrag auf den Stellenwert von Schule und Lehrkräften zur Reproduktion von Bildungsungleichheit abzielt, kann dies nur im Zusammenhang mit familialen und kontextuellen Faktoren behandelt werden. Von welchen Grundannahmen wird dabei im Folgenden ausgegangen? Im deutschen Bildungssystem ist der Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schulen die entscheidende Weichenstellung (Blossfeld 1988; Ditton und Krüsken 2006b). Spätere Korrekturen der Schullaufbahn, vor allem Aufstiege in höhere Schulformen und das Nachholen von Abschlüssen, sind schwierig und selten. Sie gelingen eher den Angehörigen oberer sozialer Schichten, die eine zunächst verpasste Chance nachträglich realisieren (Henz 1997a, 1997b). Auch im Verlauf der Bildungskarriere nach der Grundschule finden sich somit soziale Barrieren, die Effekte der sozialen Herkunft auf den weiteren Bildungsverlauf zeigen jedoch eine abnehmende Tendenz. Bestätigt wird der entscheidende Stellenwert der Übergangsentscheidung nach der Primarstufe zum wiederholten Mal durch Befunde der Längsschnittstudie „Bildungsverläufe im Jugendalter (BIJU)“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung sowie durch aktuelle Analysen der Daten aus PISA. Demnach ist davon auszugehen, dass mit der Wahl des Bildungsweges in die Sekundarstufe I auch eine grundlegende Entscheidung über die weitere Kompetenzentwicklung getroffen wird. Selbst wenn kognitive, motivationale und soziale Eingangsvoraussetzungen konstant gehalten werden, verläuft die Entwicklung von Kompetenzen sowie fachlichen Leistungen in den Schulformen höchst unterschiedlich. In einer Längsschnittanalyse von der siebten zur zehnten Klassenstufe verbessern sich die Leistungen von Schülern mit gleichen Eingangsvoraussetzungen im Gymnasium um den Faktor 1,9, an den Realschulen um den Faktor 1,7 und an den Gesamtschulen bzw. Hauptschulen um den Faktor 1,6 bzw. 1,4 (Baumert et al. 2003b: 287). Insofern sind Schulformen als differenzielle Entwicklungsumwelten anzusehen. Auch Differenzen zwischen
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einzelnen Schulen innerhalb der Schulformen erklären einen nicht unerheblichen Teil der Varianz in der Leistungsentwicklung (vgl. auch Köller und Baumert 2001; Köller et al. 1999). Die Bildungsexpansion führte zu einer Aufhebung der Bildungsbenachteiligung des weiblichen Geschlechts im allgemein bildenden System. Inzwischen sind Mädchen in den höheren Schulen überrepräsentiert und in ihren schulischen Karrieren überwiegend erfolgreicher als Jungen. Die soziale und regionale Ungleichheit besteht dagegen weitgehend fort, wenn auch mit gewissen Modifikationen. Mit Blick auf die sozialen Disparitäten ist der Realschulbesuch für untere soziale Gruppen offener geworden. Für den Gymnasialbesuch ist demgegenüber davon auszugehen, dass der Zugang in der Nachkriegszeit zunächst sozial offener, in neuerer Zeit dagegen wieder sozial geschlossener geworden ist (Ditton 2004; Müller und Haun 1994; Schimpl-Neimanns 2000). Damit scheinen sich modernisierungstheoretische Hypothesen, die davon ausgehen, dass durch die Bildungsexpansion eine Universalisierung der Bildungsnachfrage und -teilhabe einsetzt, insgesamt nicht zu bestätigen. Eine schrittweise Angleichung der Beteiligungsquoten ist allenfalls in Teilbereichen festzustellen. Eher können die Daten im Sinne macht- und kontrolltheoretischer Hypothesen interpretiert werden, die von stabilen Mustern der Reproduktion ausgehen und erwarten lassen, dass durch subtile Mechanismen der Sicherung von Macht- und Herrschaftspositionen der Öffnung des Zugangs zu Bildungstiteln entgegengewirkt wird. Bedeutsame Reduzierungen von Ungleichheiten sind damit nicht zu erwarten. Bildungsgänge werden erst dann allgemein zugänglich, wenn die von ihnen vergebenen Berechtigungen bereits eine tendenzielle Entwertung erfahren (z.B. Realschule), weil die Anforderungsspirale bereits nach oben gestiegen ist. Im regionalen Vergleich bestehen zwischen den Bundesländern Unterschiede in den wählbaren Schulformen nach der Primarstufe. Besonders offensichtlich ist die Unterschiedlichkeit der Schulstruktur zwischen den alten und neuen Bundesländern. Im Vergleich der einzelnen Länder, aber auch zwischen Regionen in den Ländern, variiert vor allem das Angebot an integrierten Schulformen und die Versorgungsdichte mit Gymnasien beträchtlich. Unterschiede bestehen ebenso im Zeitpunkt der endgültigen Festlegung auf eine Schulform. Kaum zu überschauen sind die länderspezifischen Regelungen hinsichtlich der Möglichkeit von Schulformwechseln nach dem Übergang in den Sekundarbereich. Uneinheitlich geregelt sind schon die Übertrittsverfahren auf die weiterführenden Schulen (Weishaupt 1999). In der Mehrzahl der Bundesländer können die Eltern selbst die endgültige Entscheidung über die Schulwahl treffen, in Baden-Württemberg und Bayern hat die Empfehlung durch die Schule einen höheren Stellenwert. In der Bildungsbeteiligung sind innerhalb der Bundesländer inzwischen weniger globale Stadt-LandUnterschiede auszumachen als vielmehr feinere regionale Disparitäten (Bargel und Kuthe 1992; Bertram und Dannenbeck 1990; Ditton 2004; Ditton und Krüsken 2006a). Die Unterschiede in den Beteiligungsquoten scheinen im regio-
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nalen Vergleich seit der Studie von Peisert (1967) nur wenig verändert zu sein. Das ist vermutlich zum Teil auch Ausdruck einer regional spezifischen Lebensplanung, die sich aus dem Zusammenspiel von verfügbarem Angebot und vorhandener Nachfrage ergibt. Für die Themenstellung des Beitrags ist wesentlich, dass für den Schulerfolg und die Wahl oder Weiterführung einer Schullaufbahn die durch die Noten attestierten schulischen Leistungen das entscheidende Kriterium sind. Selektionsmechanismen sind von daher auf dem Hintergrund von bestehenden Unterschieden in den objektiv feststellbaren schulischen Leistungen sowie den Noten und den darüber zustande kommenden Entscheidungen oder Empfehlungen über die weitere Schullaufbahn zu analysieren. Analysen von Baumert et al. (2003c) weisen nach, dass der Zusammenhang zwischen Merkmalen der familiären Herkunft und dem Kompetenzerwerb durch psychologische und institutionelle Vermittlungsmechanismen zum Großteil erklärbar ist. Für die Lesekompetenz erklären soziokulturelle Merkmale im Westteil Deutschlands 32 Prozent und im Ostteil 24 Prozent der Varianz. Unter Einbezug kognitiver Fähigkeiten steigt der Erklärungsanteil auf 70 bzw. 64 Prozent. Strukturelle und institutionelle Merkmale gemeinsam erklären 56 bzw. 53 Prozent der Varianz. Werden die kognitiven Fähigkeiten noch hinzugenommen, ergibt sich eine Erklärungskraft von 73 bzw. 68 Prozent für alle Merkmale gemeinsam. Das weist zum einen auf die Konfundierung der Effekte hin und zum anderen auf die begrenzte Aussagekraft von Querschnittsdaten. Die Tatsachen werden zwar damit benannt, über die wirksamen Mechanismen muss jedoch weiter spekuliert werden. Notwendig sind deshalb differenzierte Längsschnittstudien zu Schulleistungen und zur Leistungsentwicklung, in denen Effekte der sozialen Herkunft im Hinblick auf schulische Übergangsphasen untersucht werden. 3.
Sozialisationsprozess und (rationale) Bildungsentscheidung
Bei der Reproduktion von Bildungsungleichheit wirken mit der sozialen Herkunft verbundene individuelle Faktoren, institutionelle Faktoren auf der Ebene des Unterrichts und der einzelnen Schule, des Schulsystems sowie schließlich kontextuelle und regionale Bedingungen zusammen. Erklärungsansätze haben darauf abzuzielen, diese komplexe Konstellation in einem kohärenten Zusammenhang darzustellen. Ohne den Anspruch dies hier leisten zu können, sollen im Folgenden zwei bedeutsame Theoriestränge aufeinander bezogen dargestellt werden, die sich jeweils stärker auf den institutionell-kontextuellen und den individuell-familialen Bereich beziehen: die Theorie der schichtspezifischen Sozialisation und der Rational-Choice-Ansatz zur Erklärung des Bildungsverhaltens. In der Forschung zu schichtspezifischer Sozialisation wird im Sinne der so genannten Zirkelhypothese argumentiert, wonach eine unterschiedliche berufliche Sozialisation zu Unterschieden in der familialen Sozialisation führt. Aus der Orientierung des schulischen Wertsystems an den Einstellungen und Verhaltensweisen der Mittel- und Oberschicht resultieren schließlich Vorteile der Kinder dieser
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Schichten gegenüber der Unterschicht. Für eine genauere Analyse der dabei schulisch wirksamen Mechanismen muss überwiegend auf ältere Arbeiten zurückgegriffen werden. Rolff (1997) schreibt in der Neuauflage seines Klassikers Sozialisation und Auslese durch die Schule durchaus zu Recht, dass seit dem ersten Erscheinen des Bandes im Jahr 1967 „(...) prinzipiell neue Erkenntnisse im Sinne neuer Argumente, Sichtweisen oder Erklärungsmodelle nicht vorliegen“ (Rolff 1997: 6). Untersuchungsergebnisse von Kemmler (1967: 182) liefern den Hinweis, dass die schulische Selektion bereits lange vor dem vierten Grundschuljahr einsetzt. Sie deuten außerdem darauf hin, dass die beim Eintritt in die Grundschule bestehenden Unterschiede im Verlauf der weiteren Schulzeit nicht abgebaut, sondern kontinuierlich verstärkt werden. Ebenfalls deutlich wird die Bedeutung der Grundschulzeit in der Untersuchung von Kob (1963: 192). Die Entscheidung über den weiteren Bildungsweg nach der Grundschule steht bei Eltern der Mittelschicht häufig bereits im zweiten oder dritten Schuljahr, teils sogar schon beim Schuleintritt, fest. Wesentlich scheinen dabei weniger Überzeugungen von der Begabung des Kindes zu sein, sondern vielmehr verfolgte Berufsziele und die schulische Tradition der Familie. Für eine bessere Anpassung an die schulische Kultur und eine höhere Akzeptanz schulischer Werte durch Kinder höherer Schichten sprechen Ergebnisse der Untersuchung von Hitpass (1965: 191). Er zeigte, dass die Arbeiterschaft die höheren Schulen überwiegend als fremd, kompliziert, theoretisch, schwierig, streng, fordernd usw. wahrnimmt, und dass dies vermutlich auf die fehlenden eigenen Erfahrungen in diesem schulischen Kontext zurückzuführen sein dürfte. Da aber andererseits die Vorteile des Besuchs höherer Schulen auch den Angehörigen der unteren sozialen Schichten bewusst sind, spricht Kob (1963) von einer resignativen Zurückhaltung bzw. Unentschiedenheit in der Wahl höherer Schulformen. Als weiterer Hinweis auf die höhere kulturelle Passung wird üblicherweise die Rekrutierung der Lehrkräfte aus den mittleren und oberen Schichten interpretiert (Rolff 1997: 135 ff.). Einen zentralen Stellenwert hat ohne Zweifel das Ausleseverhalten durch die Lehrkräfte. Als sozial selektiv wirkende Merkmale werden hierzu die Blindheit gegenüber dem Phänomen sozialer Ungleichheit und der damit verbundenen Konsequenzen sowie vorherrschende statische Begabungsauffassungen genannt (Rolff 1997: 141). Erwartungen der Gymnasiallehrkräfte scheinen eher darauf ausgerichtet zu sein, die geistige Elite auszubilden, als eine breite Masse zu fördern. Von besonderem Interesse sind Untersuchungen zu den Kriterien, die für Empfehlungen auf höhere Schulen angewendet werden. Steinkamp (1967: 142) ermittelte, dass die überwiegende Mehrzahl der Lehrkräfte leistungsfremde Kriterien berücksichtigt, dabei vor allem Fleiß, Ausdauer, Konzentration, Mitarbeit, Leistungswille, Interesse, Gewissenhaftigkeit und Ordnung. Auch Wahrnehmungen bzw. Zuschreibungen von Charaktereigenschaften (Ehrlichkeit, Gehorsam, Aufrichtigkeit, Höflichkeit, Disziplin) spielen offenbar eine Rolle für die Übertrittsempfehlungen.
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Aus Untersuchungen zur Bewertung schulischer Leistungen ist hinreichend bekannt, dass Noten den Anforderungen an Objektivität, Reliabilität und Validität nur unzureichend genügen (Ingenkamp 1977, 1985). Wichtig ist im Kontext hier eine Untersuchung von Weiss (1965: 143), der einen Zusammenhang zwischen der Vorinformation der Lehrkräfte über den sozialen Hintergrund der Schüler und den Noten nachwies. Ein und dieselbe Klassenarbeit wurde schlechter benotet, wenn den Lehrkräften der soziale Hintergrund des Schülers, der die Arbeit angeblich geschrieben haben sollte, als weniger günstig geschildert wurde. Für den Schulerfolg sind sprachliche Fähigkeiten ohne Zweifel von ganz besonderer Bedeutung. Die Ausdrucksfähigkeit und sprachliche Gewandtheit ist vermutlich als Schlüssel für schulischen Erfolg anzusehen. Zu verweisen ist hier auf die Arbeiten zu schichtspezifischen Formen des Sprachgebrauchs und die sich daran anschließende Diskussion um die so genannte Defizit- versus Differenzhypothese (Bernstein 1972; Dittmar 1980; Klein und Wunderlich 1972; Oevermann 1977). Unabhängig von der Frage nach der Funktionalität unterschiedlicher sprachlicher Codes ist davon auszugehen, dass ein elaborierterer Sprachgebrauch Vorteile in der schulischen Karriere verschafft (vgl. auch Gomolla und Radtke 2002). Im Überblick ergeben sich damit zahlreiche Hinweise auf spezifische und auch weniger offensichtliche Reproduktionsmechanismen. Zu hinterfragen ist allerdings, wieweit die genannten Befunde heute noch Aktualität beanspruchen können. Im Zuge des gesellschaftlichen und schulischen Wandels könnten Mechanismen inzwischen außer Kraft gesetzt oder in ihrer Wirkung relativiert sein. Auf die generelle Kritik an der schichtspezifischen Sozialisationsforschung kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden (dazu: Rolff 1997: 237 ff.). Wesentlich ist aber festzuhalten, dass der Erklärungsansatz auf Reproduktionsprozesse hinweist, die nach wie vor untersuchenswert sind. Das schließt nicht aus, dass eine Einteilung in soziale Schichten nicht ausreichend differenziert sein mag. Auf der anderen Seite zeigen die Ergebnisse aus PISA, dass mit klassischen Schichtindikatoren erhebliche Differenzen in Schulleistungen und Bildungsbeteiligungsquoten aufgedeckt werden können (vgl. auch Geißler 1990, 2002). Demgegenüber fehlen überzeugende Belege dafür, dass z.B. lebensstil- oder milieutheoretische Zugänge einen substanziell höheren Beitrag zur Erklärung der Reproduktion von Bildungsungleichheit leisten könnten. Bemerkenswert ist, dass durch die schichtspezifische Sozialisationsforschung Handlungszusammenhänge thematisiert sind, die nach wie vor eine weiterführende und differenziertere Untersuchung erfordern. Im Folgenden wird versucht, den Bezug zu Rational-Choice-Modellen (Esser 1990, 1999, 2000) herzustellen, die überwiegend zur Erklärung von Bildungsaspirationen und Bildungsverhalten herangezogen werden (Becker 1998; Ditton 1992; Meulemann 1985). Es ist zu prüfen, wieweit das Modell auch zur Erklärung von Handlungsweisen und Bildungsempfehlungen von Lehrkräften verwendet werden kann und es stellt sich die Fra-
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ge, wieweit der Ansatz geeignet erscheint, die mit der Komplexität der Entscheidungssituation ins Spiel kommenden Faktoren der individuellen Situation, der Familie und Schule sowie des (regionalen) Kontextes im Sinne eines Mehrebenenmodells angemessen einbeziehen zu können. Bildungsverhalten wird im Rational-Choice-Ansatz als Prozess des Abwägens der erwarteten Kosten und Erträge sowie des wahrscheinlichen Erfolgs der Handlung erklärt (Becker 1998, 2000; Ditton 1992). Berücksichtigt wird damit, dass es sich bei bildungsrelevanten Entscheidungen um ungewisse Entscheidungen handelt, d.h., dass einer Entscheidung keine eindeutigen Konsequenzen und den möglichen Konsequenzen keine eindeutigen Eintretenswahrscheinlichkeiten zugeordnet werden können. Als Entscheidungskriterium für Handlungen wird somit der subjektiv erwartete Nutzen (subjective expected utility) angesehen. Im Kern scheint dieses Modell geeignet, die Entscheidungen bei anstehenden Übergängen im Bildungswesen zu erklären. Wichtig ist jedoch, den vorgegebenen Bedingungsrahmen für Entscheidungen mitzureflektieren: Ebenso wie im ökonomischen Bereich nur diejenigen Geld ausgeben können, die Geld haben, kann auf dem Bildungsmarkt nur in Bildungstitel investieren, wer die entsprechenden Leistungsbedingungen erfüllt. Die Empfehlungen, die von Lehrkräften gegeben und die Entscheidungen, die von Eltern getroffen werden, bewegen sich in einem vorgegebenen System struktureller Bedingungen. Außerdem erscheint es schon wegen der einzukalkulierenden Kosten für die Beschaffung zuverlässiger Informationen für die zu treffende Entscheidung plausibel zu sein, dass Akteure nicht in jedem Fall eine bestmögliche Wahl, sondern oft nur eine sie zufrieden stellende Wahl treffen können (Simon 1978). Die folgenden Ausführungen geben Hinweise darauf, wo Schwierigkeiten in der Anwendung der Rational-Choice-Erklärung auf bildungsrelevantes Handeln bestehen. Eine rationale Entscheidung über den weiteren Bildungsweg eines Schülers bzw. des eigenen Kindes nach der Grundschule zu fällen, bedeutet für Lehrkräfte und Eltern etwas Unterschiedliches. Noch nicht geklärt ist mit der These der Nutzenmaximierung außerdem, wessen Nutzen damit eigentlich gemeint ist. Der Bezugspunkt der Kalkulation könnte das einzelne Kind, die Familie, die abgebende und aufnehmende Schule und schließlich die gesamte Gesellschaft sein – je nachdem, ob die Perspektive der Eltern oder der Lehrkraft eingenommen wird. Eine Gemeinsamkeit für beide Parteien besteht allerdings darin, dass Entscheidungen über den weiteren Bildungsweg schwierig zu treffen sind, weil sie auf einer nur unsicheren Prognose auf dem Hintergrund des gegenwärtigen Leistungsstandes und der bisherigen Leistungsentwicklung beruhen müssen. Sowohl Eltern als auch Lehrkräfte werden sich um eine bestmögliche Entscheidung im Interesse ihres Kindes bzw. des einzelnen Schülers bemühen. Dazu sind die zu erwartenden weiteren schulischen und beruflichen Chancen gegen das Leistungspotenzial abzuwägen. Eine Rolle spielt hierbei auch die Einbeziehung der zeitlichen Perspektive. So kann ein künftig erwarteter höherer Nutzen höhere
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Kosten in der Gegenwart und nahen Zukunft rechtfertigen und insofern die Fähigkeit zur Aufschiebung unmittelbarer Bedürfnisse und eine gewisse Frustrationstoleranz erfordern. Diesbezüglich könnten Kinder der höheren sozialen Schichten im Vorteil sein. Mit dem in der Zukunft erwarteten Nutzen sind in der Regel die Höhe der erreichbaren beruflichen Position, das erzielbare Einkommen und insgesamt die Privilegien und Deprivationen der künftigen Lebenssituation gemeint. Die Lebensziele und die Lebensplanung können aber sehr unterschiedlich sein und es deshalb nahe legen, unterschiedliche Wege einzuschlagen. Die inzwischen bestehende Notwendigkeit, höherwertige Bildungsabschlüsse als Voraussetzung des Zugangs zu attraktiven beruflichen Positionen zu erwerben, wird z.B. auch in Abhängigkeit von regionalen Bedingungen variieren. In einer strukturschwächeren Region kann auch ein Hauptschulabschluss die gewünschte berufliche Perspektive eröffnen und kongruent zur Lebensplanung sein. Hinzu kommt, dass Eltern und Lehrer stellvertretend für das Kind entscheiden und damit letztlich jeweils zumindest zwei Perspektiven abzustimmen sind. Der für die Familie resultierende Nutzen ist primär aus Sicht der Eltern relevant, vorrangig im Hinblick auf den Erhalt oder die Verbesserung der sozialen Position. Aus Sicht der Lehrkräfte dürfte die Antizipation der elterlichen Erwartungen an das Kind und die Einschätzung ihrer Möglichkeiten zur Förderung des Schulerfolgs bedeutsam sein: Können von den Eltern die entstehenden Kosten bei der Wahl einer Bildungslaufbahn getragen werden? Sind sie in der Lage, den Erfolg des Kindes auf einer weiterführenden Schule durch eigene Initiative oder Nachhilfe zu stützen? Lehrkräften wird in aller Regel von den Eltern höherer Schichten deutlich gemacht, welchen Nutzen sie mit einer Schullaufbahn verbinden und welcher Widerstand bei einer als nicht angemessen angesehenen Laufbahnempfehlung zu erwarten ist. Dadurch entstehen Kosten für die Lehrkraft selbst, und es wäre die einfachste Strategie, dem Wunsch der Eltern zu entsprechen, sofern nicht gravierende Gründe dem entgegenstehen. Für das Funktionieren des Schulsystems ist eine Bedingung, dass durch die Regelung der Schulübertritte eine wenigstens annähernde Entsprechung von angebotenen und nachgefragten Plätzen an den weiterführenden Schulen erreicht wird. Aus Sicht der Eltern dürfte diese Passung beim Übergang vom Primar- in das Sekundarsystem kaum eine Rolle spielen. Für sie ist lediglich von Bedeutung, dass eine Schule der gewünschten Schulform in einer noch als zumutbar empfundenen Entfernung vom Wohnort zur Verfügung steht. Die Lehrkräfte haben dagegen das Verhältnis von Angebot und Nachfrage in ihren Entscheidungen entweder explizit oder implizit mitzureflektieren. Geprüft werden müsste z.B., ob es länder- oder regionalspezifische Vorgaben für Quoten bei Übertrittsempfehlungen gibt und ob bzw. wieweit diese von den einzelnen Schulen eingehalten werden. Möglicherweise ergeben sich auch bereits auf der Basis einer annähernd normal verteilten Zensurengebung pro Schulklasse regional oder schulspezifisch recht stabil zu erwartende Übertrittsquoten. Eine Rolle spielt zudem, welches Bild Eltern und Lehr-
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kräfte von den Anforderungen in den weiterführenden Schulen haben. Welches Profil verbinden sie mit den weiterführenden Schulen im Einzelnen? Welche Erwartungen sehen sie hinsichtlich welcher Kompetenzen jeweils an die Schüler gestellt? Wie werden die Möglichkeiten eingeschätzt, die einmal eingeschlagene Schullaufbahn nachträglich noch zu korrigieren und Abschlüsse nachzuholen? Für wie durchlässig wird das Bildungssystem gehalten? Wird der Aufwand für einen nachgeholten Abschluss für vertretbar gehalten? Es ist zu erwarten, dass von den Antworten auf diese Fragen die konkrete Handhabung der Übertrittsregelungen bzw. der elterlichen Bildungsentscheidungen wesentlich mitbestimmt sind. Auf der gesellschaftlichen Ebene schließlich muss – zu einem entscheidenden Teil über die Vergabe von Bildungstiteln – eine bedarfsgerechte und als hinreichend gerecht empfundene Verteilung auf soziale Positionen erreicht werden. Eine Rolle könnte von daher z.B. spielen, wie Eltern und Lehrkräfte die zukünftig zu erwartenden Qualifikationsanforderungen einschätzen. Vermutlich haben diese Einschätzungen Einfluss auf die Empfehlungsstrategien von Lehrern und es wäre zu prüfen, in welcher Weise diesbezüglich Wirkungen bestehen. Von Eltern und Lehrkräften wird beim Schulübertritt eine mit vielen Unwägbarkeiten verbundene Entscheidung gefordert, da sie eine unbekannte Zukunft zu antizipieren haben und hinreichend eindeutige Entscheidungsgrundlagen und -kriterien nicht wirklich zur Verfügung stehen. In einem Gesamtmodell der Kosten-Nutzen-Kalkulation seitens der Lehrkräfte und Eltern ist schwierig abzuklären, welche Faktoren auf der individuellen, institutionellen und gesellschaftlichen Ebene mit welchem Gewicht eingehen. Dabei sehen sich die Lehrkräfte widersprüchlicheren Erwartungen ausgesetzt als die Eltern, da von ihnen eine objektive und unvoreingenommene Empfehlung erwartet wird, wohingegen Eltern durchaus parteiisch sein dürfen. Den Rational-Choice-Ansatz auf die Übertrittsempfehlungen der Lehrkräfte anzuwenden impliziert, dass diese nicht bewusst sozial selektiv entscheiden oder handeln. Sie sind vielmehr diejenigen, die strukturellen Zwängen des schulischen Systems ausgesetzt sind und diese umzusetzen, d h. zu vertreten haben, was ihnen selbst vorgegeben ist (vgl. auch Preuß 1970). Die offiziell verfügbaren Vorgaben für Schullaufbahnempfehlungen sind hierbei keine wirkliche Hilfe. In der schon genannten Informationsunterlage der KMK heißt es lediglich, es seien die für eine erfolgreiche Bildungsarbeit auf den weiterführenden Schulen unentbehrlichen Kenntnisse und Fertigkeiten festzustellen. Außerdem sollen aber auch Eignung, Neigung und Wille des Kindes zu geistiger Arbeit insgesamt gewürdigt werden. Die Entscheidung dürfe außerdem nicht durch das Ergebnis einer Prüfung von wenigen Stunden oder Tagen bestimmt sein. Das Verfahren müsse sich vielmehr über einen längeren Zeitraum erstrecken, der den Lehrern hinreichende Gelegenheit zur Beobachtung des Kindes und zur Beratung der Eltern gibt. Überhaupt solle auf jede schematische und mechanische Gestaltung des Verfahrens verzichtet werden. Anhaltspunkte dafür, welche Verfahren damit ausgeschlossen oder emp-
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fohlen werden und welche Aspekte im Einzelnen zu berücksichtigen sind, werden nicht angeführt. Unklar bleibt außerdem, welcher Beurteilungsmaßstab überhaupt anzulegen ist. Sollen Empfehlungen auf der Basis einer sozialen Vergleichsnorm gegeben werden oder auf der Basis einer kriteriumsbezogenen oder entwicklungsbezogenen Norm? Je nachdem, welche Norm angewandt werden soll, können sich sehr unterschiedliche Konsequenzen ergeben. Unter Bezug auf eine soziale Vergleichsnorm könnten die Schüler etwa annähernd normal verteilt auf die weiterführenden Schulen überwiesen werden (das obere Drittel an die Gymnasien, das mittlere Drittel an die Realschulen und das untere an die Hauptschulen). Kriterienbezogen wäre denkbar, dass ganze Schulklassen oder Schülerjahrgänge eine Empfehlung für das Gymnasium erhalten, sofern alle Schüler den Empfehlungskriterien entsprechen. Eine auf die individuelle Entwicklung bezogene Norm würde das Verfahren insofern weiter verkomplizieren, als Schüler mit gleichen Leistungen unterschiedliche Übertrittsempfehlungen erhalten könnten, wenn z.B. in einem Fall die Leistungen gesteigert wurden und sie im anderen Fall nur gleich geblieben oder sogar abgefallen sind. Wie die Empfehlung der KMK verdeutlicht, sollen jedoch nicht allein die Leistungen den Ausschlag geben. Schwierig ist hierbei, dass weder die Kriterien noch die Entscheidungsprozesse transparent sind, und dass die Anwendung der Kriterien deshalb von Lehrkraft zu Lehrkraft in unterschiedlicher Weise erfolgen kann. Insgesamt sind die Kriterien für den Erfolg auf den weiterführenden Schulen nicht expliziert. Damit ist von Interesse, welche Kriterien Lehrkräfte bei Übertrittsempfehlungen und schon bei der Leistungsbewertung anwenden und welche Zielsetzung und Entscheidungsstrategie sie dabei verfolgen. Sicherlich spielen in diesem Zusammenhang auch die genannten strukturellen Bedingungen eine Rolle, bei denen es mit Blick auf das schulische Gesamtsystem um die Steuerung von Schülerströmen respektive die Regelung des Bildungsmarktes geht. 4.
Forschungsstand und Forschungslücken
Wie die Ergebnisse aus PISA zeigen, ist die Abhängigkeit der schulischen Leistungen und des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft im internationalen Vergleich der Bildungssysteme unterschiedlich stark ausgeprägt. Es liegt keineswegs auf der Hand, welche spezifischen Merkmale der schulischen Systeme mit mehr oder weniger Selektivität einhergehen. Da die Unterscheidung zwischen integrierten und gegliederten Systemen keineswegs genügt, um die Differenzen zu erklären, müssen Faktoren auf der Ebene des Unterrichts, der einzelnen Schule, des Schulsystems und des gesellschaftlichen Kontexts insgesamt berücksichtigt werden. Unter Einbeziehung der Befunde der Internationalen GrundschulLeseuntersuchung (IGLU) (Bos et al. 2003) ergibt sich für Deutschland, dass die Schülerleistungen in der vierten Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich überdurchschnittlich ausfallen und die Leistungsstreuung nicht auffallend groß ist – beides im Gegensatz zu den Ergebnissen aus PISA. Dies könnte darauf hinweisen,
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dass sich die nach PISA diskutierten Probleme des deutschen Schulwesens insbesondere auf die Sekundarstufe konzentrieren. Zumindest kann man schließen, dass die Leistungsentwicklung in der Sekundarstufe erheblich auseinander läuft. Dies ist sozusagen zwangsläufig der Fall, da die Schulformen sich einer unterschiedlichen Schülerklientel bedienen und unterschiedliche Profile verfolgen. Insofern stellen die Schulformen in der Tat, wie zuvor schon erwähnt, differenzielle Entwicklungsmilieus dar (Baumert et al. 2003b; Baumert et al. 2003c). Durch die in Deutschland enge Koppelung des Besuchs der weiterführenden Schulen an die soziale Herkunft ergeben sich die sozialen Disparitäten zu einem erheblichen Teil schon aus der Wahl der Schulform. Aus der Zusammenschau der Ergebnisse aus IGLU und PISA ergibt sich eine erste Beschreibung des Phänomens, allerdings noch keine nähere Erklärung. Auch eine Sichtung vorliegender Studien zum Beitrag von Lehrkräften und Schulen zur Reproduktion von Bildungsungleichheit verweist auf erhebliche Lücken im Forschungsstand. Insbesondere fehlt es an aussagekräftigen Längsschnittstudien zu Bildungslaufbahnen und zur Entwicklung schulischer Leistungen, die familiale und institutionelle Faktoren in ihrem Zusammenwirken über einen hinreichend langen Zeitraum untersuchen. Im Überblick vorgestellt werden nachfolgend Untersuchungen zu Schulleistungen, zur Bewertung schulischer Leistungen und zu Bildungslaufbahnen. Da die Schulübertritte nach der Grundschule und Aspekte der Leistungsbewertung sowie Leistungsentwicklung die Schlüsselvariablen markieren, wird darauf der Schwerpunkt gelegt. Die prognostische Validität der Übertrittsberatung wurde letztmals umfassend in einer Längsschnittstudie von Heller et al. (1978) untersucht. Der Studie liegt eine umfangreiche Stichprobe zugrunde und es wurde eine differenzierte Klassifikation von Schullaufbahnempfehlungen verwendet. Im Rahmen der Untersuchung wurden im Abstand von 3 Jahren die Anteile der Schüler ermittelt, die in Übereinstimmung mit oder entgegen der Bildungsempfehlung ihre Schullaufbahn erfolgreich weitergeführt hatten. Die Ergebnisse zeigen, dass der prognostische Wert der Bildungsempfehlungen insgesamt gering ist. Selbst Schüler, die nur eine Empfehlung für die Hauptschule erhalten hatten, waren zu 27 bis 45 Prozent auf dem Gymnasium erfolgreich. Die Erfolgsquoten für Schüler mit einer Realschulempfehlung, die zum Gymnasium gewechselt waren, bewegen sich zwischen 44 und 73 Prozent. Eine hohe Treffsicherheit der Empfehlungen besteht nur bei den für das Gymnasium empfohlenen Schülern (Erfolgsquoten von 71 bis 86 Prozent). Heller et al. (1978) ermittelten zudem, welche Faktoren bedeutsam für das Eignungsurteil sind: Neben den Noten im Aufsatz schreiben (r = .46), Rechtschreiben und Rechnen (.53) erwiesen sich Arbeitsweise (.48) bzw. Arbeitsverhalten (.44), Konzentration (.43) und Selbstständigkeit (.42) als relevante Größen für die Schullaufbahnempfehlung. Jürgens (1989) untersuchte die Schullaufbahnen von Schülern des Schülerjahrgangs 1979 nach der Orientierungsstufe. Hierbei zeigte sich, dass die für eine
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Schulform empfohlenen Schüler teilweise zu erheblich höheren Anteilen erfolgreich waren als die Schüler, die keine entsprechende Empfehlung erhalten hatten. Zugleich konnten sich aber viele der nicht empfohlenen Schüler auf einer höheren Schulform bewähren: In der Realschullaufbahn waren es bis zur siebten Klasse 66 Prozent und bis zur zehnten Klasse 42 Prozent der Schüler mit einer Empfehlung für die Hauptschule. Die Erfolgschancen im Gymnasium betrugen bis zur siebten Klasse für Schüler mit einer Hauptschulempfehlung 35 Prozent und für Schüler mit einer Realschulempfehlung 75 Prozent (Schüler mit Gymnasialempfehlung: 96,2 Prozent). Bis Klasse 10 lauten die Erfolgsanteile für Schüler mit einer Empfehlung für die Realschule 49 Prozent und mit einer Empfehlung für das Gymnasium 85 Prozent. Bis zum Schulabschluss erfolgreich waren 59 Prozent der Hauptschulempfohlenen in der Realschule und 45 Prozent der für die Realschule Empfohlenen am Gymnasium. Die Daten weisen damit auf eine hohe prognostische Unsicherheit des Lehrerurteils bezüglich der nicht empfohlenen Schüler hin. Zudem ermittelte Jürgens, dass Mittel- bzw. Oberschichteltern etwa doppelt so häufig von der Oberstufenempfehlung abweichen wie Unterschichteltern. Einflüsse auf die Bildungsempfehlungen der Lehrer hat Preuss (1970) differenziert untersucht. Geprüft wurden Beziehungen der abgegebenen Übertrittsempfehlungen mit Noten, Testdaten und Einschätzungen in einem Polaritätenprofil, in dem die Lehrer bezogen auf jeden Einzelnen der Schüler eine Persönlichkeitseinschätzung abgaben. Die Eignungsurteile der Lehrkräfte fielen unter Kontrolle der schulischen Leistungen zum Nachteil der Kinder von Arbeitern aus und zum Vorteil der Kinder höherer sozialer Schichten. In besonders auffälliger Weise war dieser Effekt für die Kinder der Oberschicht (leitende Angestellte, Beamte und freie Berufe) festzustellen. Signifikante Effekte ergaben sich dabei für Merkmale, die im Polaritätenprofil abgefragt waren (sauber, gepflegt, gute Umgangsformen, interessiert, Leistungswille, gewandter sprachlicher Ausdruck, kritisches Denken). Unterschiede ergaben sich zudem bezogen auf das Verhältnis von Lehrkräften und Eltern in Abhängigkeit von der sozialen Schicht: Die Lehrkräfte gaben an, dass sie mit den Eltern der unteren sozialen Schichten weniger Kontakt haben, dass die Gespräche in den höheren Schichten mehr auf Initiativen der Eltern selbst zurückgehen und stärker auf die anstehenden Schulübertritte fokussiert sind. Außerdem wurden die Eltern der höheren Schichten von den Lehrkräften als freundlicher und interessierter wahrgenommen. Einflussfaktoren auf die schulische Leistungsbewertung analysiert Schumacher (2002) auf der Basis einer Befragung von ca. 500 Lehrkräften an Grundschulen. Die ermittelten Befunde sind überraschend: So gibt ein hoher Anteil der befragten Lehrkräfte (46 bzw. 39 Prozent) an, bei der Leistungsbewertung die kognitive Leistung der Schüler „überhaupt nicht“ oder „eher nicht“ vorrangig zu berücksichtigen. Besonderes Gewicht wird dagegen auf die individuelle Jahresleistung bzw. den individuellen Lernfortschritt gelegt. Darüber hinaus wichtige Bewertungskriterien sind für eine eindeutige Mehrheit der Lehrkräfte (73 Prozent) gute Um-
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gangsformen und ein positives Sozialverhalten. Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass nicht nur bei der Abgabe von Bildungsempfehlungen, sondern schon bei der Leistungsbewertung ein erheblicher Interpretationsspielraum für die einzelne Lehrkraft besteht. Von daher werden im folgenden Abschnitt Untersuchungsergebnisse zu Schullaufbahnen auf dem Hintergrund der erzielten fachlichen Leistungen und der Notengebung berichtet. Aktuelle und umfangreiche Studien, die den Zusammenhang von Schulleistungen, Notengebung und Schulübertritten behandeln, liegen von Lehmann und Mitarbeitern vor. Es handelt sich zum einen um die Untersuchung zu den Lernausgangslagen an Hamburger Schulen (LAU), die im Längsschnitt von der fünften bis zur zehnten Klassenstufe durchgeführt wurde (Lehmann et al. 1999; Lehmann und Peek 1997; Lehmann et al. 2002). Die zweite Untersuchung fand als repräsentative Erhebung zu den Schülerleistungen im Fach Mathematik in den fünften und siebten Jahrgangsstufen in Brandenburg als Querschnitterhebung statt (Lehmann et al. 2000). In der Hamburger Untersuchung ermitteln Lehmann und Peek (1997) einen substanziellen Zusammenhang zwischen Faktoren der sozialen Herkunft und den Schulleistungen. Die Untersuchung erfolgte zu Beginn der fünften Klassenstufe, d.h. unmittelbar nach dem Übertritt in die Sekundarstufe. Durch die Bildung der Mutter lassen sich 15,3 Prozent und durch die Bildung des Vaters 12,2 Prozent der Varianz in den Schülerleistungen erklären (Lehmann und Peek 1997: 64). Ebenfalls statistisch bedeutsam, aber wenig stark ausgeprägt, sind die Effekte des Erwerbsstatus. Substanzielle Zusammenhänge bestehen darüber hinaus mit der Familiengröße und mit dem soziokulturellen Milieu, das über den Buchbestand in der Familie operationalisiert wurde. Geschlechtsspezifische Unterschiede finden sich zugunsten der Mädchen im sprachlichen und zugunsten der Jungen im mathematischen Bereich. Die Effektgrößen sind allerdings gering. Wesentlich stärker ist das Leistungsgefälle zwischen deutschen Kindern und Migrantenkindern. Regressionsanalysen zum Einfluss der Schülerleistungen und weiterer Faktoren auf die Noten führen zu folgenden Ergebnissen: Das stärkste Gewicht haben für die Noten im Fach Deutsch die Testleistungen (r = -.71), das Leistungsniveau der Klasse (.19), der Bildungsstand der Eltern (-.14), das Geschlecht (-.13) und ein positives Selbstbild (-.11). Für die Mathematiknoten sind die bedeutsamsten Faktoren wiederum die Testleistungen (-.51), ein positives Selbstbild (-.21), der Bildungsstand der Eltern (-.18), das Leistungsniveau der Klasse (.14) und das Geschlecht (-.09). Für die Noten in beiden Fächern ergibt sich damit ein in der Struktur sehr ähnliches Ergebnis. In beiden für die Schullaufbahn primär bedeutsamen Fächern werden unter Kontrolle der Schülerleistungen mit steigendem Bildungsniveau bessere Noten erzielt. Bei der Notenvergabe werden zudem Mädchen günstiger behandelt. Zu damit vergleichbaren Ergebnissen führt die Erhebung in Brandenburg (Lehmann et al. 2000). Die Korrelationen zwischen der Anzahl der Bücher zu Hause und den Mathematikleistungen betragen bei den Fünftklässlern r =
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0,30 und bei den Neuntklässlern r = 0,34. Die Korrelationen zwischen dem höchsten erreichten Schulabschluss der Eltern und der Mathematikleistung sind ähnlich hoch. Sie liegen bei den Fünftklässlern bei r = 0,31 und bei den Neuntklässlern bei r = 0,35 (Lehmann et al. 2000: 78). Außerdem ist unter Konstanthaltung der Leistungen wiederum ein Effekt von Bildungsstand (-.12) und Geschlecht (-.14) auf die Noten nachweisbar (Lehmann et al. 2000: 119). Die Ergebnisse zu den Gymnasialempfehlungen der Grundschulen in LAU (Lehmann und Peek 1997: 86 ff.) bestätigen den bekannt engen Zusammenhang mit dem Bildungsstatus der Herkunftsfamilie. Kinder, deren Väter das Abitur haben, erhalten zu 70 Prozent eine Empfehlung für das Gymnasium, Kinder von Vätern ohne Schulabschluss dagegen nur zu 15,7 Prozent (Haupt- bzw. Volksschule: 26,2 Prozent; Realschule: 40,2 Prozent; Fachhochschulreife: 51,3 Prozent). Als bedeutsamste Einflussfaktoren für eine Gymnasialempfehlung ergeben sich in einer Regressionsanalyse (Lehmann und Peek 1997: 91) die Deutschnote (r = -.41), die allgemeine Schulleistung (Testergebnis: -.20), die Mathematiknote (-.15) und der Beruf des Vaters (-.11). Bezogen auf die Deutschnote haben die Fähigkeit zu schriftlicher Darstellung, die Rechtschreibung und der sprachliche Ausdruck in etwa das gleiche Gewicht. Bezüglich des vergleichsweise geringen eigenständigen Effekts der sozialen Herkunft (Beruf des Vaters) darf nicht übersehen werden, dass die soziale Selektion schon über die Schulleistungen erfolgt und durch die Notenvergabe weiter verstärkt wird. Insofern ist eher bemerkenswert, dass ein Effekt der sozialen Herkunft auf die Gymnasialempfehlungen unter Kontrolle der Leistungen und Noten überhaupt besteht. Außer den Grundschulempfehlungen untersuchen Lehmann und Peek (1997) auch die Schulformentscheidungen der Eltern (Lehmann und Peek 1997: 98) mittels einer Diskriminanzanalyse. Danach sind für die von den Eltern getroffenen Entscheidungen die Gymnasialempfehlung der Grundschule (standardisierter kanonischer Diskriminationskoeffizient skd = .65), der Bildungsabschluss des Vaters (.26), die Deutschnote (-.23), die Mathematiknote (-.18) und die allgemeine Schulleistung (.14) bedeutsam. Es zeigt sich somit, dass die Bildungsaspirationen der Eltern bzw. deren Schulentscheidungen sozial selektiver sind als die Empfehlungen der Lehrer (vgl. auch Ditton 1989). Auch die Ergebnisse einer aktuellen Längsschnittuntersuchung in Bayern bestätigen diesen Befund (Ditton, Krüsken und Schauenberg 2005; Ditton und Krüsken 2006b). Besonders bemerkenswert ist in der LAU-Studie der Nachweis, dass für Gymnasialempfehlungen unterschiedliche Standards bezüglich der Schülerleistungen in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft wirksam sind (Lehmann und Peek 1997: 86 ff. und 95 ff.). Kinder von Eltern mit niedrigeren Schulabschlüssen müssen hoch signifikant höhere Leistungsanforderungen erfüllen, um eine Empfehlung für das Gymnasium zu erhalten als Kinder von Eltern mit höheren Schulabschlüssen. Noch deutlicher zeigen sich diese Unterschiede in den Bildungserwartungen der Eltern: Der kritische Schwellenwert der Schulleistungen für einen
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Übertritt des Kindes ins Gymnasium sinkt mit der Höhe des Bildungsabschlusses der Eltern deutlich. Zum Entwicklungsverlauf über die Schulzeit nach der Primarstufe gibt wiederum die Untersuchung in Hamburg Auskunft (Lehmann et al. 1999: 87 ff.). Nach den Übergängen von der Grundschule zeigen sich nahezu durchgängig differenzielle und mehrfach kompensatorische Effekte. Insbesondere werden die Leistungen innerhalb der Schulformen homogener. Besonders stark trifft dies für die Gymnasien zu. Ein auffälliges Ergebnis betrifft die Lernzuwächse der schwächeren Schüler, die ihre Leistungen im sprachlichen Bereich an den Haupt- und Gesamtschulen um 12 bzw. 14 Punkte, an den Gymnasien aber um 36 Punkte steigern können. Unter Kontrolle der Eingangsleistungen ist die Leistungsentwicklung im Gymnasium für Kinder von Vätern mit Abitur nur unwesentlich günstiger als für Kinder von Vätern, die keinen Schulabschluss haben (Lehmann et al. 1999: 133). Dies steht im Gegensatz zu den in der Grundschule angelegten höheren Schwellenwerten für einen Übertritt in das Gymnasium für Kinder unterer Schichten, deren Leistungsentwicklung im Gymnasium – sofern sie die Chance dazu erhalten – unauffällig zu verlaufen scheint. Daraus ist jedoch noch nicht auf gleiche Erfolgschancen in der weiteren Schulzeit zu schließen: Nach der sechsten Klassenstufe verlassen von den Schülern, deren Väter keinen Schulabschluss haben, 16,5 Prozent das Gymnasium, gegenüber nur 2,7 Prozent der Kinder, deren Väter das Abitur haben (Lehmann et al. 1999: 154). Über die bereits vorausgegangene Eingangsselektion hinaus ist also im weiteren Verlauf der Schulkarriere eine „[...] durch die Fachleistung nicht gedeckte tendenzielle Bevorzugung von Kindern zu konstatieren, deren Eltern einen höheren Bildungsabschluss besitzen“ (Lehmann et al. 1999: 162). Dass die Verbleibschancen in den höheren Schulen, insbesondere im Gymnasium, zwischen den Sozialgruppen stark unterschiedlich sind und sich im Vergleich der 1970er und 1980er Jahre nicht angenähert, sondern stärker auseinander entwickelt haben, weist eine Längsschnittuntersuchung von Bofinger (1990) nach: Während die Abbruchquote an bayerischen Gymnasien bis zur zehnten Klasse zwischen 1969 und 1981 insgesamt von 24 auf 23 Prozent geringfügig zurückgegangen ist, ist sie für Kinder, deren beide Elternteile selbst kein Gymnasium besucht haben, von 29 auf 31 Prozent gestiegen. Für Kinder, deren beide Elternteile über eine gymnasiale Ausbildung verfügen, ging die Abbruchquote dagegen von 14 auf 9 Prozent zurück. Zudem ermittelt Bofinger (1990), dass Schüler der oberen Sozialgruppe allenfalls dann das Gymnasium verlassen, wenn sie schlechte Noten in mehreren Fächern zugleich haben. Für Schüler der unteren Sozialgruppe sind dagegen schon schlechte Leistungen in einem Fach Grund genug, eine gymnasiale Schullaufbahn abzubrechen. Die Übergänge zur Sekundarstufe II und in den Beruf untersuchen Schnabel und Schwippert (2000). Sie verwenden dazu Daten der TIMSS-III-Erhebungen zu Schülerleistungen, Alter und Geschlecht, bildungsrelevantem Besitz in der Fami-
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lie, verfügbarem kulturellem Kapital und zum Bildungsniveau der Eltern. Außerdem berücksichtigt werden das Begabungsselbstbild und die Sachinteressen der Schüler. In deskriptiven Analysen zeigt sich, dass die Zusammensetzung der Schülerschaft in den Ausbildungsgängen höchst unterschiedlich ist: Der Anteil der Eltern mit Abitur variiert in den praktisch orientierten Ausbildungsgängen zwischen 10,3 Prozent (Hauptschule) und 20,4 Prozent (Realschule), in der gymnasialen Oberstufe liegt er dagegen mit 51 Prozent wesentlich höher. Eine Hauptscheidelinie besteht damit zwischen der gymnasialen Oberstufe sowie dem Fachgymnasium und den anderen Ausbildungsgängen. In einem weiteren Schritt werden die oben genannten Variablen als Prädiktoren für das Niveau des Hauptschulabschusses (regulär oder qualifiziert), den Bildungsverlauf nach dem Realschulabschluss und die Aufnahme eines universitären Ausbildungsgangs herangezogen. Als durchweg erklärungsstarke Faktoren erweisen sich der lernrelevante Besitz und das kulturelle Kapital in der Familie. Die Bildung der Eltern ist dagegen nur für die Prognose einer universitären Ausbildung signifikant, hier allerdings mit einer hohen Erklärungskraft. Der Prozess der Übertragung des kulturellen Kapitals von der Eltern- zur Kindergeneration im Zusammenspiel von Familie und Schule steht im Mittelpunkt der Untersuchungen von Meijnen (1991). Ihm geht es wesentlich darum, die nicht expliziten, aber in der Schule doch vorhandenen Erwartungen an die Schüler herauszuarbeiten. Vergleichbar wird in einem Bericht der OECD das Bildungssystem als ‚difficult obstacle race’ bezeichnet (OECD 1985: 43), in das privilegierte Kinder mit entsprechendem kulturellem Kapital mit Vorteilen eintreten und von dem sie mehr profitieren (Di Maggio 1982; Di Maggio und Mohr 1985; Mehan 1992). Neue Lehrmethoden bauen vermutlich oft deshalb soziale Unterschiede nicht ab, sondern verstärken sie noch, weil die für das Lernen erforderlichen Qualifikationen nicht selbst in der Schule erworben, sondern schon als Voraussetzung erwartet werden. Privilegierte Kinder haben nicht nur die günstigeren Voraussetzungen in dem Rennen, ihnen sind auch die unausgesprochenen Regeln und Bedingungen besser vertraut. Dazu zeigt Meijnen (1987) in einer Längsschnittstudie mit 700 Schülern in den Niederlanden, deren Schulkarriere im Alter von sechs, neun und zwölf Jahren analysiert wurde, dass Differenzen im Verlauf der Schulzeit zu einem erheblichen Teil erst erzeugt bzw. weiter verstärkt werden: „Pupils from the lower status groups increasingly become ‚underachievers’, whereas their more privileged counterparts increasingly become ‚overachievers’“ (Meijnen 1987). Kindern aus höheren Schichten gelingt es im Verlauf der Schulzeit, ihren Startvorsprung in einen zunehmend größer werdenden Leistungsvorsprung umzusetzen. Die Ergebnisse sprechen somit für die genannte These, dass im schulischen Lernen grundlegende Qualifikationen bereits vorausgesetzt werden und dies die höheren Schichten begünstigt (Böttcher 2002). Insofern trägt Schule vielfach eher zur Verstärkung als zum Abbau von bereits unterschiedlichen Startbedingungen bei. Aktuelle Studien im deutschsprachigen Raum belegen hierzu, dass sich die schuli-
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schen Leistungen zwischen den sozialen Gruppen in der Grundschulzeit (Moser und Rhyn 2000) und hierbei auch in der entscheidenden Statuspassage von der dritten zur vierten Jahrgangsstufe (Ditton und Krüsken 2006b) auseinander entwickeln. Bemerkenswert ist, dass Meijnen (1987) auch differenzielle Wirkungen der schulischen Bedingungen ermitteln konnte. Nach seinen Befunden sind die Schulleistungen der Kinder aus unteren Schichten stärker von Form und Inhalt des Curriculums beeinflusst als dies bei Kindern aus oberen Schichten der Fall ist. Seine Befunde fasst Meijnen (1987: 222) folgendermaßen zusammen: “At those schools which pay a lot of attention to the instruction in basics and also to ‚nonintellectual’ learning objectives, which have adopted streaming only to a moderate degree and moreover try to bridge the gap between home and school culture, the working-class children reach a reasonable standard of attainment. In contrast, their performance remains under their level in ‘pupil-centered’ schools with advanced streaming and without minimum standards.” In einer eigenen Untersuchung (Ditton 1989) konnte gezeigt werden, dass die Übertrittsempfehlungen der Lehrkräfte und noch stärker die Bildungsaspirationen der Eltern mit der sozialen Herkunft in Beziehung stehen. Für höhere Bildungsaspirationen und Übertrittsempfehlungen ergeben sich bei einer differenzierten Analyse in Übereinstimmung mit dem Modell rationaler Bildungsentscheidungen folgende Einflussfaktoren: Die Schüler benötigen weniger Zeit für die Hausaufgaben und die Mütter helfen weniger dabei. Zudem fühlen sich die Mütter besser über die schulischen Möglichkeiten informiert; sie halten die schulischen Anforderungen für niedriger und kritisieren die Notengebung weniger. In einem Pfadmodell (Ditton 1989) wurde ermittelt, dass die Hausaufgabendauer, die Mithilfe der Mutter bei den Hausaufgaben sowie die wahrgenommene Schwierigkeit der Hausaufgaben, vermittelt über die erlebte familiale Belastung und die Noten, auf die Übertrittsentscheidung wirkt. Von Bedeutung sind darüber hinaus die schulischen Einstellungen der Schüler. Das Schülerverhalten, das über eine Einschätzung des Leistungs- und Sozialverhaltens durch Mütter und Lehrkräfte ermittelt wurde, wirkt ebenfalls über die schulischen Einstellungen und Noten, aber auch direkt auf den Schulwunsch und die Übertrittsempfehlung. Insgesamt kommt damit dem sozialen Status eine erhebliche Bedeutung zu, da mehrfach indirekte Beziehungen zu den schulischen Leistungen und dem Übertrittsverhalten nachweisbar sind. Über die indirekten Beziehungen hinaus ergeben sich direkte Effekte sowohl auf die Bildungsaspirationen der Mütter als auch auf die Schulempfehlungen der Lehrkräfte. Hierbei sind die Elternaspirationen enger an die soziale Herkunft gekoppelt und weniger an den Leistungen orientiert als die Empfehlungen der Lehrkräfte. Zu einem damit weitgehend vergleichbaren Ergebnis führen Pfadanalysen von Merkens und Wessel (2002: 189 ff.). Beide Untersuchungen stimmen auch darin überein, dass es eher Angehörige unterer sozialer Schichten sind, die hinter den Lehrerempfehlungen zurückbleiben, und eher Angehöriger oberer
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Schichten, die sich entgegen der Lehrerempfehlung für eine höhere Schulform entscheiden. In einer Mehrebenanalyse zu den Schulübertritten (Ditton 1992) konnten zwei Kontextwirkungen ermittelt werden, die sich einerseits als struktureller und andererseits als prozeduraler Effekt interpretieren lassen. Mit der Bildungsnähe des Kontextes steigen die Anteile des Besuchs der höheren Schulen. Zudem wird der Zusammenhang mit der sozialen Herkunft enger bzw. das Gefälle zwischen den sozialen Lagen größer (Ditton 1992: 189 ff.). Es scheint, dass dies mit impliziten Standards bezüglich der erwarteten Schülerleistungen für den Besuch der höheren Schulen zu tun hat. Die Standards, besonders für den Besuch des Gymnasiums, liegen im bildungsnäheren Kontext vermutlich höher und der Anschluss an die oberen Schichten gelingt nur den besten Schülern aus den unteren sozialen Gruppen. Der zweite Befund (Ditton 1992: 192 ff.) bezieht sich auf die Streuung der Leistungsbewertungen. Bei einer großen Streuung der Leistungsbewertungen vergrößert sich der Abstand zwischen den sozialen Gruppen. Die bestehenden Leistungsdifferenzen werden in der Notenvergabe drastisch überzeichnet. Kinder der unteren Schichten werden, gemessen an ihren tatsächlichen Leistungen, zu schlecht, Angehörige der mittleren, vor allem aber der oberen Sozialgruppe werden bezogen auf die tatsächlichen Leistungen deutlich zu gut benotet. Das kann als Stereotypisierung gedeutet werden, die in Zusammenhang mit einer sozialspezifischen Attribution von Begabungen durch die Lehrkräfte stehen könnte. Weitere Analysen sprechen dafür, dass die Lehrer in den Schulklassen mit einer großen Streuung ihren Unterricht vorwiegend auf die oberen Sozialgruppen ausrichten, und dass ihre Wahrnehmung der Schülerfähigkeiten und -leistungen sozialspezifisch stereotyp ausfällt. Im Hinblick auf Haltungen der Lehrer zeigt sich, dass die Lehrer in den Schulklassen mit einer größeren Streuung mit der Lehrerrolle durchweg geringere Anforderungen verbunden sehen. Insgesamt könnte dies auf ein reduziertes Engagement dieser Lehrergruppe hinweisen und in Verbindung mit einem weniger gut strukturierten und organisierten Unterricht gesehen werden, in dem die Leistungsentwicklung der Schüler weit auseinander laufen kann, ohne dass sich der Lehrer in die Pflicht genommen sieht. Im Gegensatz dazu wäre zu erwarten, dass eine effiziente Klassenführung und hohe Adaptivität des Unterrichts, ein angepasstes Lehr- und Lerntempo sowie schließlich eine hohe diagnostische Sensibilität der Lehrkraft mit einer Relativierung sozialer Differenzen in Beziehung stehen könnten (Helmke 1988). Wirksam bezüglich der Reduzierung von Leistungsdifferenzen ist sehr wahrscheinlich ein kognitiv anspruchsvoller Unterricht, der sich nicht auf einen Teil der Klasse konzentriert, sondern alle Schüler gleichermaßen einbezieht (Treinies und Einsiedler 1996). Darauf, dass schulstrukturelle und regionale Faktoren von Bedeutung für Schulübertritte sind, verweisen Ergebnisse unserer eigenen Untersuchungen (Ditton 1992: 165). Die Quoten der Schulempfehlungen und -wahlen steigen für alle drei Schulformen an, wenn diese Schulform die am nächsten gelegene ist. Einen
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bedeutsamen Einfluss auf Schullaufbahnen haben von daher die Verfügbarkeit des Schulangebots und die Erreichbarkeit. Aus institutioneller Perspektive kommt zudem dem Aspekt der Sicherung bzw. des Erhalts von Schulstandorten ein nicht unerhebliches Gewicht zu. Ein bemerkenswertes Ergebnis aus LAU ist der Nachweis erheblicher Unterschiede im erreichten Leistungsniveau beim Vergleich zwischen Stadtregionen: Die regionale Gliederung für Hamburg erlaubt es, 13,5 Prozent der Varianz in den individuellen Schülerleistungen zu Beginn der fünften Jahrgangsstufe zu erklären (Lehmann und Peek 1997: 53). Wird eine Differenzierung nach den Grundschulen vorgenommen, aus denen die Schüler kommen, sind sogar 21,4 Prozent der Varianz in den Schülerleistungen erklärbar. Eine sehr enge Beziehung besteht dabei mit der Bildungsnähe des schulischen Kontextes. Um diesen zu bestimmen, wurden aggregierte Angaben aus der Schülerbefragung verwendet. Der Index zur Bildungsnähe erklärt auf der Aggregatebene 86,9 Prozent der Unterschiede in den Schulleistungen zwischen den Schulen. Erwartungsgemäß finden sich in den sozial stärker belasteten Gebieten die ungünstigeren Testergebnisse. Dementsprechend zeigen auch die PISA-Daten, dass durch die soziale Herkunft der Schüler und die soziale Zusammensetzung der Schulen ein sehr erheblicher Teil der Varianz in den Leseleistungen aufgeklärt werden kann – nämlich 22 Prozent im internationalen Vergleich und 52 Prozent in Deutschland (OECD 2001a: Tabelle 2.4 auf Seite 301). Die deutsche PISA-E-Zusatzstudie zeigt nicht nur bezüglich der erzielten schulischen Leistungen erhebliche Differenzen im Vergleich der Bundesländer auf (Baumert et al. 2002; Baumert et al. 2003a). Vielmehr zeigt sich, dass die soziale Selektivität des Besuchs der weiterführenden Schulen (besonders des Gymnasiums) in den alten Bundesländern deutlich stärker ausgeprägt ist als in den neuen. Dabei ist für Bayern eine besonders hohe soziale Selektivität des Gymnasialbesuchs festzustellen. Die Abhängigkeit der fachlichen Leistungen von der sozialen Herkunft ist in Bayern dagegen nur unterdurchschnittlich stark. Dieser auf den ersten Blick paradox erscheinende Befund weist auf das ungeklärte Verhältnis von schulischen Leistungen, nicht vergleichbaren schulischen Anforderungen in den Schulformen der Bundesländer und überdies unterschiedlichen bildungspolitischen Zielsetzungen hin. Abzulesen ist dies auch daran, dass sich die Leistungsverteilungen der Schulformen nicht unerheblich überschneiden. Die besseren Hauptschulen erzielen fachliche Leistungen, die im Leistungsspektrum der Realschulen anzusiedeln sind, und ebenso können die besseren Realschulen mit den Gymnasien des unteren Leistungsspektrums mithalten (Baumert et al. 2003a). Dazu kommt noch, dass die Vergabe schulischer Abschlüsse an die erzielten Noten und nicht an objektiv gemessene Leistungen gekoppelt ist. Die Noten wiederum stehen, wie PISA-E nochmals bestätigt, nur in einem mäßig engen Zusammenhang mit den objektiv messbaren fachlichen Leistungen. Diese kaum durchschaubare Gemengelage von schulischen Leistungen, Noten und der Vergabe von Berechtigungen über Schulabschlüsse entspricht auch der Alltagswahrnehmung,
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dass die Anforderungen an schulische Abschlüsse zwischen den Bundesländern kaum vergleichbar sind und sich auch von Schule zu Schule unterscheiden können. Als Antwort auf die Frage, wie der Problematik zu begegnen ist, findet sich inzwischen mehrfach der Hinweis auf die Notwendigkeit einer Entkopplung von nominellem Bildungsgang und Schulabschluss (z.B. die Möglichkeit, mittlere Abschlüsse auch an den Hauptschulen und allgemein bildende Abschlüsse auch an beruflichen Schulen erwerben zu können) (Baumert et al. 2003b; Baumert et al. 2003c). Dies ist jedoch nur eine von mehreren Möglichkeiten, und vermutlich werden bei diesem Weg die (sozialen) Hürden nicht geringer sein als beim Nachholen schulischer Abschlüsse. Zudem ist dabei die Gleichwertigkeit der Abschlüsse wiederum nur schwer zu gewährleisten. Denkbar wäre daher auch, sozusagen in Umkehrung des Verfahrens, Zugangsberechtigungen nicht an schulische Abschlüsse zu koppeln, sondern an direkte Zulassungsverfahren (z.B. Eignungsprüfungen). Überdies drängt sich aber bei allen partiellen Korrekturlösungen die Frage nach der Berechtigung und nach dem Sinn und Zweck der frühen Separierung in unterschiedliche Schulformen auf. Weil das Verteilungssystem nach Leistung offenbar nicht im gewollten Sinn funktioniert und dabei noch in erheblichem Maße als ein entscheidender sozialer Filter wirkt, sollten strukturelle Reformen nicht vorschnell bei den weiteren Reformüberlegungen ausgeblendet werden. 5.
Perspektiven
Bildungsungleichheit war eines der politischen Zentralthemen der 1960er Jahre. Der Kontext, in dem die Diskussion heute wieder aufgelebt ist, hat sich gegenüber damals deutlich verändert. In der heutigen Zeit stehen vor allem Fragen der Effektivität und der Optimierung des Schulwesens im Vordergrund. In Zeiten leerer Kassen ist es eine allgemein verbindliche Zielsetzung, mit geringem Ressourceneinsatz dennoch möglichst viel zu erreichen. Ein Verdienst der OECD besteht darin, mit PISA das Thema Chancengleichheit im Rahmen dieses Kontexts wieder in die Schlagzeilen gebracht zu haben. Auch wenn das Anlass zu Hoffnungen gibt, sollten die Erwartungen nicht zu hoch gesteckt werden. Als wichtiges Ergebnis liefert PISA den Nachweis, dass ein hohes Leistungsniveau und ein geringes Maß an Leistungsstreuung sowie eine geringe soziale Selektivität sich nicht wechselseitig ausschließen müssen. Die Ergebnisse beinhalten außerdem, dass in leistungsheterogenen Gruppen sehr effektiv gelernt werden kann. Zudem wird die bekannte These bestätigt, dass Systeme umso stärker sozial selektiv wirken, je früher die Differenzierung erfolgt. Von daher wird man auch in Deutschland nicht umhin kommen, die Schulstrukturen zu überdenken. Schon um bei den anhaltend rückläufigen Schülerzahlen eine regional angemessene schulische Versorgung gewährleisten zu können, wird in vielen Fällen eine Aufhebung der Trennung in Real- und Hauptschule zu überlegen sein.
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Ebenso deutlich wird mit PISA aber auch, dass mit schulischen Strukturen keine ausreichenden Erklärungen gewonnen sind, weder bezüglich des Leistungserfolgs noch bezüglich der sozialen Selektivität der Schulsysteme. Wie bzw. ob ein System gegliedert ist, erlaubt noch keinen Rückschluss auf die Regelungen und Prozesse innerhalb des Systems – und genau darauf kommt es an. Zunächst einmal geht es hierbei um Fragen der Definition und Diagnose von Leistungen, um Verfahren der Leistungsbewertung und um Möglichkeiten der zuverlässigen Prognose von Leistungsentwicklungen. Fachliche Leistungen allein sind noch keine Gewähr für schulischen Erfolg. Über den nüchternen und durch objektive Verfahren überprüfbaren Leistungsstand hinaus kommen sprachliche Fähigkeiten bzw. Ausdrucksvermögen, das Auftreten und Wohlverhalten, die Gewandtheit, der Leistungswille und wohl noch Vieles mehr zur Wirkung. In dieser Hinsicht können schulische und gesellschaftliche Erfolgsbedingungen in Bezug aufeinander gesehen werden. Aufgrund des erheblichen Interpretationsspielraums verwundert es nicht, wenn Lehrkräfte mit Leistungsbewertungen eher intuitiv und äußerst uneinheitlich umgehen – wie die außergewöhnlich große Spannbreite der Korrelationen zwischen Noten und Ergebnissen in Leistungstests im Vergleich zwischen Schulklassen immer wieder zeigt. Bezogen auf Schullaufbahnempfehlungen müssten außerdem die Bedingungen des Erfolgs auf den weiterführenden Schulen ermittelt und offen gelegt werden. Bislang ist nur bekannt, dass weder Noten noch kognitive Fähigkeits- oder Leistungstests eine zuverlässige Prognose erlauben. Schule beansprucht, für das Leben zu qualifizieren. Wenn deshalb außer fachlichen Leistungen auch andere Kriterien in schulische Leistungsbewertungen einfließen, könnte das durchaus als funktional angesehen werden. Probleme und Ungerechtigkeiten ergeben sich aber dann, wenn diese Kriterien nicht bekannt und nachvollziehbar sind. Es gibt keinen Grund davon auszugehen, dass Lehrkräfte gezielt sozial diskriminieren. Von Bedeutung scheinen eher implizite Persönlichkeits- und Begabungstheorien zu sein, teils in Form stereotyper Erwartungshaltungen, die sich auf die Diagnosekompetenz auswirken und sich in der Notengebung niederschlagen. Der Fairness halber sollte auch gesehen werden, dass eine zuverlässige Diagnose und Prognose schulischer Leistungen schwierig ist und nicht nur den einzelnen Lehrer überfordert, sondern auch die Forschung noch vor erhebliche Herausforderungen stellt. Der Entwicklung geeigneter diagnostischer und prognostischer Verfahren und die Schulung der Kompetenz der Lehrkräfte wird eine erhebliche Bedeutung in der weiteren schulischen Entwicklung zukommen. Ganz besonders die frühzeitige Erkennung und das Beheben von Defiziten im Leseverständnis und im sprachlichen Bereich wird wichtig sein, um der Entstehung eines kaum mehr überbrückbaren Leistungsgefälles entgegenwirken zu können. Die gezielte Qualifizierung der Lehrkräfte zur Erkennung von Entwicklungsdefiziten ist ohne Frage eine der vordringlichen Aufgaben. Darüber hinaus muss im Unterricht auch die Möglichkeit bestehen, Defizite auszugleichen. Hierbei könnten verstärkt kooperative Lernformen ange-
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wandt werden, um mit Leistungsheterogenität Gewinn bringend umzugehen; im Unterricht müssen Möglichkeiten bestehen, um Ungleiches auch ungleich zu behandeln (Slavin 1996). Die vielfältigen Facetten der von den Schülern erwarteten Leistungen offen zu legen und geforderte Qualifikationen auch tatsächlich zu vermitteln, wird eine herausragende Bedeutung haben. Die Denkgewohnheiten und – üblicherweise unausgesprochenen – Regeln, nach denen das Bildungssystem funktioniert, sind also zu explizieren. Die Mechanismen der Reproduktion von Ungleichheit scheinen wesentlich darauf zu beruhen, dass Schule implizit das schon voraussetzt, was sie eigentlich lehren soll (Böttcher 2002; Bourdieu et al. 1981; College de France 1987). Professionalität im Lehrerberuf beinhaltet damit auch, für subtile kommunikative Verzerrungen sensibel sowie zur Selbstprüfung und Reflexion des eigenen Handelns fähig zu sein. Werden die genannten Aspekte zusammen in den Blick genommen, ergibt sich das Bild einer Schule, die durch das Lernen des Lernens, eine größere Variabilität der Lernformen und mehr kooperatives Lernen, durch intensivierte Maßnahmen der frühen Förderung und eine hoch professionelle Lehrerschaft gekennzeichnet ist. Vor allzu großem Optimismus sollte man sich trotz der gegenwärtig allerorten proklamierten Aufbruchstimmung hüten. Gegen die recht optimistische Interpretation der PISA-Ergebnisse durch die OECD spricht schon, dass insgesamt eine enge Koppelung von sozialer Zusammensetzung der Schülerschaft und schulischer Qualität besteht, wobei Faktoren der familialen Herkunft die insgesamt erklärungsstärksten Variablen sind.1 Das kann Anlass zu der kritischen Rückfrage sein, ob sich der mühsame Weg über Reformen im schulischen Bereich angesichts der nur partiellen Wirkung denn überhaupt lohnt bzw. wie wirksam der Beitrag von Schule und Lehrern überhaupt sein kann. Die Antwort darauf muss nach den vorliegenden Erkenntnissen lauten, dass Schulen einen substanziellen Beitrag zur Begrenzung sozialer Disparitäten leisten, in jedem Fall leisten können. Ergebnisse aus der BIJU-Studie am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung deuten an, dass bei der Freigabe des Elternwillens bei Übertrittsentscheidungen soziale Disparitäten zunehmen, da die stärker an die schulischen Leistungen gebundene regulierende Funktion von Übergangsempfehlungen verloren geht (Baumert et al. 2003c). Entwisle und Alexander (1992, 1994) fanden in einer Studie in Baltimore, dass die Leistungsentwicklung von Kindern unterschiedlicher Sozialschichten während des Schuljahres weitgehend parallel verläuft, wohingegen sich über die schulfreie Sommerpause Diskrepanzen ergaben: Die Schüler der unteren Sozialschichten fielen in den Leistungen zurück, während die Schüler aus den privile1
Schulbezogene Faktoren erklären in einer Mehrebenenanalyse für sich allein 31 Prozent der Varianz in den Leseleistungen, die familialen Faktoren dagegen 66 Prozent. Werden zu den familialen die schulbezogenen Faktoren hinzugenommen, dann erhöht sich der Anteil erklärter Varianz nur geringfügig (von 66 auf 72 Prozent) (OECD 2001b: Tabelle 8.5).
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gierteren Familien ihr Leistungsniveau halten oder sogar Leistungsgewinne erzielen konnten. Dieser gegenläufige Trend von disparitätsreduzierenden Wirkungen während der Zeit der Beschulung und der Zunahme von Disparitäten in der schulfreien Zeit ergab sich regelmäßig im Untersuchungszeitraum von zwei Jahren. Ansätze, die eine stärkere Deregulierung im Schulwesen verfolgen, sind vor diesem Hintergrund auch kritisch zu sehen. Eine erweiterte Selbstständigkeit für die einzelnen Schulen birgt die Gefahr, dass Disparitäten zunehmen (Radtke 2000). Es könnten aber auch im Falle einer gezielt positiven Diskriminierung Mittel und Förderangebote ungleich zwischen den Schulen verteilt werden, d h. Ressourcen gezielt dahin gegeben werden, wo nachweislich ein besonderer Förderbedarf besteht. Ob und in welchem Umfang dies geschieht, ist von politischen Entscheidungen und daher auch vom gesellschaftlichen Konsens abhängig. Es wäre unrealistisch zu erwarten, dass durch Reformen im Bildungswesen allein der Kreislauf der sozialen Reproduktion durchbrochen werden könnte. Man kommt nicht um die Erkenntnis herum, dass Schulsysteme auch ein Spiegel der jeweiligen Gesellschaft sind. Insofern trifft die Einschätzung von Jencks (1973) durchaus zu, dass der Weg zu einer weniger durch Ungleichheit gekennzeichneten Gesellschaft nicht in erster Linie über Reformen des Schulsystems verläuft, sondern über direkt wirksame Maßnahmen zum Abbau von Ungleichheit. Ganz ähnlich argumentiert auch Boudon (1974), wenn er feststellt, dass Bildungsgleichheit nur in einer völlig gleichen Gesellschaft und mit einem undifferenzierten Bildungssystem erreicht werden kann. Realistisch ist daher eher die Perspektive einer reduzierten Bildungsungleichheit durch eine erhöhte Durchlässigkeit und Anschlussfähigkeit der Bildungswege. Zwar ist die Anschlussfähigkeit von Bildungswegen inzwischen formal weitgehend gegeben, die Anschlussmöglichkeiten werden jedoch vergleichsweise selten genutzt und dies wiederum vorwiegend von den höheren sozialen Schichten. Die frühe und strenge, faktisch nahezu endgültige Festlegung auf Bildungslaufbahnen im deutschen Schulsystem wird nochmals überdacht werden müssen. Um eine stärkere Entkopplung von sozialer Herkunft, besuchter Schulform, letztlich erreichtem Bildungsabschluss und beruflichen Chancen zu erreichen, werden also mehrere Wege zugleich beschritten werden müssen und es sind sowohl innere als auch äußere Reformen notwendig. Die häufige Feststellung, dass mehr Forschung und neue kreative Ideen nötig sind, trifft bezogen auf die institutionellen und organisatorischen Bedingungen der Reproduktion von Bildungsungleichheit ganz besonders stark zu. Bei all dem wird die Wissenschaft nur Bezugsdaten und Entscheidungshilfen liefern können. Für die endgültigen Entscheidungen ist die Politik und ist unsere Gesellschaft als Ganzes gefordert. Letzen Endes ist darüber zu befinden, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben möchten.
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Ditton
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Berufliche Ausbildung und der Übergang in den Arbeitsmarkt Dirk Konietzka
1.
Einleitung
Der Zusammenhang von beruflicher Bildung und sozialer Ungleichheit in Deutschland ist im Lauf der letzten Jahrzehnte aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert worden. In den 1960er Jahren stand im Zusammenhang mit der fachwissenschaftlichen Konsolidierung der Berufsbildungsforschung die Auseinandersetzung mit dem Erbe der hergebrachten Berufspädagogik im Vordergrund (vgl. Stratmann 1991). Dominante Themen waren das Lehrlingssystem als Hort der Ausbeutung und die unzureichende demokratische Kontrolle der beruflichen Bildung. Mit der Gewichtszunahme der empirischen Arbeits- und Berufsforschung wurden in den 1970er Jahren verstärkt Fragen der Reproduktion sozialer Ungleichheit über das Berufssystem und Muster milieuspezifischer Berufswahl untersucht (Lempert 1971; Müller 1975; Beck et al. 1979). In den 1980er Jahren rückten Probleme zunehmender Arbeitslosigkeit und verschlechterter Ausbildungs- und Berufszugangschancen von benachteiligten Gruppen immer mehr in das Zentrum der Forschung (vgl. Heinz et al. 1987). Im vergangenen Jahrzehnt haben sich im Zusammenhang mit einer verstärkten Analyse von Bildungsübergängen die dominanten Problemperspektiven u.a. auf geschlechtsspezifische Ungleichheiten, die Ausbildungschancen von Ausländern bzw. Migranten sowie regional ungleiche Ausbildungschancen (insbesondere zwischen Ost und West) gerichtet. Daneben haben Untersuchungen internationaler Differenzen von Bildungssystemen und Übergangsmustern von der Schule in den Beruf eine zunehmende Aufmerksamkeit erhalten (vgl. Shavit und Müller 1998; Brauns et al. 1999b; Hillmert 2001; Müller und Gangl 2004). Bei systematischer Betrachtung lassen sich zwei unterschiedliche Ebenen des Zusammenhangs von beruflicher Ausbildung und sozialer Ungleichheit unterscheiden. Auf der makrosoziologischen Ebene stehen Strukturmerkmale und Regulierungsprinzipien des (beruflichen) Bildungssystems mit den damit einhergehenden sozialen Zugangs-, Berechtigungs- und Ausschlussregeln im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Mikroperspektive richtet sich dagegen vor allem auf die Prozesse und Mechanismen, welche Individuen aufgrund ihrer sozialen Herkunft, ihrer Geschlechtszugehörigkeit und/oder ihrer Ressourcenausstattung in unterschiedliche Berufe und auf diesem Weg in ungleiche soziale Positionen befördern. Handlungstheoretisch betrachtet stehen individuelle Akteure zu bestimmten Zeitpunkten im Lebensverlauf vor Entscheidungen über Bildungsalternativen. Strukturelle Merkmale des Bildungssystems wirken als Rahmenbedingungen auf die
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Konietzka
individuellen Bildungs- und Ausbildungsentscheidungen ein. Insofern bedürfen Aussagen über die ungleichheitsstrukturierende Wirkung des Bildungssystems einer Spezifizierung solcher Entscheidungen. In diese gehen u.a. Kalkulationen über Bildungsziele und -erfolge ein, die wiederum sozialstrukturell unterschiedlich ausfallen können (vgl. Becker 2000a). Die Rahmenbedingungen von Bildungsentscheidungen werden wesentlich von der Institutionenstruktur des Bildungssystems und deren Zugangsregeln definiert. Die für diesen Beitrag zentrale Frage ist, ob und über welche Prozesse das Ausbildungssystem soziale Ungleichheit produziert und reproduziert, d h. individuelle Ressourcenungleichheiten und/oder Herkunftsungleichheiten verstärkt, mildert oder transformiert und welche Folgen dies für den anschließenden Übergang in den Arbeitsmarkt hat.1 Im Rahmen dieses Beitrags können allerdings nur ausgewählte Gesichtspunkte des komplexen Wirkungsgefüges von Merkmalen des Bildungssystems und sozial ungleichen Handlungsbedingungen und -folgen diskutiert werden. Ich werde den Schwerpunkt auf Aspekte sozialer Ungleichheit beim Zugang zum beruflichen Bildungssystem und beim Übergang in den Arbeitsmarkt sowie deren Veränderungen in den letzten Jahrzehnten legen. Die Frage der Reproduktion intergenerationaler Ungleichheit durch das berufliche Bildungssystem werde ich nur streifen, da diese nur im Gesamtkontext des ‚trackings’ des Bildungssystems und des Gesamtgefüges institutioneller Übergangs- und Anschlussmöglichkeiten abgeschätzt werden. Im Folgenden sollen vor allem die sozialen Integrations- und Ausschlussmechanismen, die mit dem dualen System der beruflichen Bildung und seiner institutionellen Struktur verbunden sind, diskutiert werden. Diese werden empirisch – in eher exemplarischer Weise – in ihren kohortenspezifischen Veränderungen illustriert. Dabei wird der jüngere Wandel der Chancen des Zugangs zum dualen System und des Arbeitsmarktzugangs in die Betrachtungen mit einbezogen. Zunächst werden die strukturellen Aspekte, und zwar der Zusammenhang zwischen Beruf und sozialer Ungleichheit und die historische Entwicklung der Institutionen der beruflichen Bildung, diskutiert. Damit soll der Blick für die spezifischen institutionellen Grundlagen beruflich konstituierter sozialer Ungleichheit in Deutschland geschärft werden.
1
Die aus kausalanalytischer Sicht besonders wichtige Frage, ob und in welchem Maß andere institutionelle Rahmenbedingungen und Regulierungsprinzipien des beruflichen Bildungssystems andere outcomes (und Strukturierungen sozialer Ungleichheit) zur Folge hätten, kann allerdings mangels experimenteller Analysemöglichkeiten nur hypothetisch adressiert werden.
Berufliche Ausbildung
2.
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Strukturmerkmale von Beruf und Berufsbildung in Deutschland
Historische Hintergründe des Berufsbildungssystems Eine sozialhistorische Perspektive zeigt, dass das berufliche Bildungssystem nicht in erster Linie als eine zweckhafte institutionelle Lösung des Problems der Allokation von Personen auf dem Arbeitsmarkt konzipiert wurde. Es stellt vielmehr ein Nebenprodukt einer konservativ-korporatistischen Modernisierungspolitik der deutschen Gesellschaft im bismarckschen Kaiserreich dar. Dies soll im Folgenden in einer knappen Rückschau der institutionellen Entwicklung des Berufsbildungssystems verdeutlicht werden. Der Grundstein des heutigen dualen Systems wurde im späten 19. Jahrhundert gelegt. In den Jahrzehnten zuvor war in Preußen die traditionelle zunftgebundene Meisterlehre im Zuge einer dezidierten Liberalisierungspolitik bereits weitgehend abgeschafft worden. Von der bismarckschen Reichsregierung wurden den Innungen im Rahmen der Gewerberechtsnovelle von 1881 jedoch korporative Befugnisse zurückgegeben, darunter die Regelung der Lehrlingsausbildung, die Durchführung von Gesellen- und Meisterprüfungen und die Ausstellung von Zeugnissen (Stratmann 1991; Greinert 1998). Ab 1897 wurde auch das Recht auszubilden an die Gesellenprüfung des Ausbilders im entsprechenden Gewerbe gebunden (Stratmann 1982). In den 1920er Jahren wurde der Grundstein einer eigenständigen Industrieausbildung und damit der Ausweitung des Systems der betrieblichen Lehre auf den industriellen Sektor gelegt. Auch während des Naziregimes wurde die quasi-ständische Berufsbildungs- und Mittelstandspolitik fortgesetzt und 1935 sogar der ‘große Befähigungsnachweis’ eingeführt, der „die Niederlassung als Handwerker nur dem ermöglicht, der die Meisterprüfung abgelegt hat“ (Stratmann 1982: 192). Nach dem Zweiten Weltkrieg ist das berufliche Bildungssystem, darunter auch die rechtliche Trennung von handwerklicher und industrieller Berufsausbildung, bis in die 1960er Jahre hinein weitgehend unverändert geblieben. Ab den 1960er Jahren haben Forderungen nach einer stärkeren öffentlichen Kontrolle und demokratischen Legitimierung der Berufsausbildung sowie einer Stärkung der schulischen Ausbildungsanteile zugenommen (vgl. Lempert 1971; Stratmann 1991; Friedeburg 1992). 1969 wurde schließlich das Berufsbildungsgesetz (BBiG) verabschiedet, das bis heute die gültige gesetzliche Grundlage der dualen Berufsausbildung ist. Seit den 1980er Jahren wurde vor allem die Modernisierung und Neuordnung der Ausbildungsberufe vorangetrieben (Greinert 1998). Zur Geschichte der beruflichen Bildung in Deutschland gehört ferner die Herausbildung und Konsolidierung der institutionellen Doppelstruktur des beruflichen Bildungssystems. Neben dem dualen System spielen vollzeitschulische Berufsfachschulen sowie Fachschulen und Schulen des Gesundheitswesens eine bedeutende Rolle bei der beruflichen Erstausbildung. Diese haben insbesondere mit der
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Konietzka
zunehmenden beruflichen Bildung von Frauen und berufsstrukturellen Veränderungen in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen. Der institutionelle Rahmen der beruflichen Bildung Die historische Entwicklung der dualen Berufsausbildung gibt bereits einige Aufschlüsse über die Frage der Prägung sozialer Ungleichheit durch die Berufsausbildung. So nehmen die Institutionen des dualen Systems einen zentralen Platz im Rahmen des ‚konservativ-staatskorporatistischen‘ Sozialmodells in Deutschland ein. Es finden sich bis heute verschiedene quasi-ständische Sonderregelungen und Schutzvorkehrungen, etwa die Regulierung der Meisterfortbildung und die Gründung selbstständiger Handwerksbetriebe oder auch die Delegation des Prüfungsrechts an die Kammern und die Beteiligung der Sozialparteien bei der Aufsicht und Regulierung des dualen Systems. Ein wichtiges Merkmal ist auch die institutionelle Trennung zwischen den betrieblichen und berufsschulischen Ausbildungsteilen, die eng mit den föderalen Strukturen der Bundesrepublik verbunden ist. Die anhaltende rechtliche Unterscheidung der Ausbildung im handwerklichen und industriellen Bereich sowie die sozialrechtliche Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten sind ebenfalls Beispiele dieser korporatistisch geprägten Sozialordnung, auch wenn deren Bedeutung im Lauf der Zeit abgenommen hat (Kocka 1981). Die institutionellen Differenzierungslinien zwischen den Ausbildungssektoren Handwerk sowie Industrie und Handel, den Arbeiter- und Angestelltenberufen, dualem System und vollzeitschulischer Berufsausbildung (Born 2000; Krüger 2001) und die damit mehr oder weniger eng verknüpfte Zuschreibung von Männer- und Frauenberufen (Schober und Gaworek 1996) prägen bis heute die sozialen Strukturen der beruflichen Bildung. Sie haben mehr oder weniger deutliche Konsequenzen auch für die soziale Ungleichheit zwischen Klassen und den Geschlechtern. Die viel gerühmte ‚duale‘ Struktur der Ausbildungsorte ist dagegen nur eines von vielen Charakteristika. Analysen der Muster intergenerationaler Mobilität machen darauf aufmerksam, dass einige der genannten Systemmerkmale ihren Niederschlag auch auf der Ebene beruflicher Mobilität finden. So besteht ein Spezifikum des deutschen Mobilitätsregimes darin, dass sich die Mobilitätschancen von Söhnen ungelernter und gelernter Arbeiter in der Bundesrepublik deutlicher als in anderen Ländern unterscheiden (Erikson und Goldthorpe 1992). Soziale Ungleichheiten in den Mobilitätschancen bestehen in ungewöhnlichem Ausmaß auch zwischen den Kategorien der Arbeiter und Angestellten. Dies verweist auf die spezifischen Ausschlussmechanismen, die dem institutionellen Kontext beruflicher Mobilität in Deutschland geschuldet sind. Welchen Beitrag das System der Berufsausbildung zur intergenerationalen Reproduktion sozialer Ungleichheit leistet, kann nicht allein aufgrund einer Analyse dessen institutioneller Merkmale bestimmt werden. Das deutsche Bildungssystem ist durch eine strikte Trennung zwischen Allgemein-, Berufs- und Hochschulbil-
Berufliche Ausbildung
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dung gekennzeichnet. Berufliche Bildungswege bzw. deren Abschlüsse gewähren nur in Ausnahmefällen einen Zugang zu den Hochschulen, weshalb bereits der Bildungsübergang zwischen den Sekundarstufen I und II eine entscheidende Bedeutung für die langfristige Entwicklung individueller Berufschancen hat. Die dreigliedrige Struktur des deutschen Bildungssystems, dessen Trennung zwischen Allgemein-, Berufs- und Hochschulbildung, und die dadurch bestimmten Übergangsregeln und Zeitpunkte des Übergangs prägen in diesem Sinne entscheidend die Muster der beruflichen Mobilität. Nichtsdestotrotz sind einige Merkmale des Systems postsekundärer Bildung in Deutschland für die Konturierung sozialer Ungleichheit hoch relevant. Die starre Trennung des Sektors der beruflichen von der höheren bzw. Hochschulbildung, die hierarchische Stufung des Bildungssystems und die lebenszeitlich sehr frühe Sortierung der Jugendlichen bewirken auf der einen Seite eine geringe soziale Durchlässigkeit bzw. hohe soziale Schließung. Auf der anderen Seite weist das berufliche Bildungssystem eine vergleichsweise große soziale Offenheit in dem Sinne auf, dass es über Jahrzehnte hinweg große und zunehmende Anteile einer jeweiligen Schulabgängerkohorte integriert hat. Dies gilt wiederum nur mit Einschränkungen für Frauen (Mayer 1996; Krüger 2001). Strittig ist zudem, ob sich das duale System für die Integration von Ausländern in das berufliche Bildungssystem als eher hinderlich erweist (vgl. Müller 2002). In systematischer Absicht sollen nun die Faktoren diskutiert werden, die soziale Ungleichheiten im beruflichen Bildungssystem produzieren. Welche strukturellen Merkmale regeln den Ausbildungszugang, prägen das Profil der ‚Fertigkeiten und Kenntnisse‘ der Ausgebildeten und steuern die Allokation auf dem Arbeitsmarkt? 3.
Ausbildung, Beruf und soziale Ungleichheit
Strukturmerkmale des Ausbildungssystems Das System der beruflichen Ausbildung in Deutschland hat sich nicht zuletzt aufgrund international vergleichender Untersuchungen des Übergangs von der Schule in den Beruf den Ruf erworben, Jugendliche bzw. junge Erwachsene effektiv und rasch in das Beschäftigungssystem zu integrieren. Im Hinblick auf die spezifischen Muster der Strukturierung sozialer Ungleichheit ist jedoch ein genauerer Blick auf die institutionellen Strukturen des Bildungs-, Berufsbildungs- und Beschäftigungssystems in Deutschland erforderlich. In diesem Zusammenhang sind die Standardisierung, die Verberuflichung sowie die betriebliche Trägerschaft der beruflichen Ausbildung von besonderer Bedeutung. Insbesondere das hohe Ausmaß der Verberuflichung des (postsekundären) Bildungssystems, des Arbeitsmarkts und der Bildungs- und Erwerbsverläufe ist in Mobilitätsstudien als entscheidendes Merkmal herausgehoben worden (Müller und Shavit 1998).
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Konietzka
Die berufliche Ausbildung ist erstens durch eine starke curriculare Standardisierung der Ausbildungsinhalte und eine abschließende Prüfung und Zertifizierung der individuellen Ausbildungsleistungen gekennzeichnet. Die Abschlussprüfungen werden von den zuständigen Kammern abgehalten, durch welche die Zertifikate eine bundesweite Normierung bzw. Standardisierung erfahren (Allmendinger 1989). Zweitens konstituiert die staatliche bzw. öffentlich-rechtliche Regulierung des Ausbildungsmarktes, also die Trägerschaft der Berufsausbildung durch die Betriebe bei gleichzeitiger überbetrieblicher Regelung – systemtheoretisch gesprochen – eine grundlegende Betriebs-Berufs-Differenz (Kutscha 1992). Ausbildungsinhalte sind nicht primär betriebsspezifischer, sondern berufsspezifischer Art, was besondere Implikationen für die Chancenstrukturierung des Berufszugangs und der beruflichen Mobilität hat. In engem Zusammenhang damit steht, dass die Zertifizierung der Ausbildungen auf der Ebene von Einzelberufen stattfindet. Die Verberuflichung der Ausbildung geht insofern drittens mit einer starken Differenzierung der Abschlüsse nach ‚anerkannten Ausbildungsberufen’ einher (Müller und Shavit 1998). Viertens impliziert die Tatsache, dass Ausbildungen im dualen System wesentlich von den Betrieben getragen werden, dass Betriebe auch den Ausbildungszugang kontrollieren, indem sie die Auszubildenden auswählen (und mit diesen privatrechtliche Ausbildungsverträge abschließen). Der Zugang zum dualen System hat also nicht nur einen marktvermittelten Charakter, sondern er wird stark durch Selektionspraktiken der Betriebe bzw. der betrieblichen ‚gatekeeper’ bestimmt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die so genannte erste Schwelle systematisch von den Zugangsregelungen, die etwa bei schulischen und öffentlich getragenen Ausbildungsformen vorherrschen. Durch diesen Mechanismus des Ausbildungsmarkts werden wiederum spezifische Muster der Stratifizierung des Ausbildungszugangs begünstigt. Mit der Integration der Berufsausbildung in Betriebe, der Standardisierung der Ausbildungsinhalte, ihrer fachspezifischen Schneidung und übergreifenden Zertifizierung sowie der betrieblichen ‚gatekeeper’-Funktion sind bereits zentrale Rahmenbedingungen des Ausbildungszugangs und des Übergangs in das Beschäftigungssystem benannt. Im Folgenden sollen soziale Ungleichheiten des Berufszugangs und der beruflichen Mobilität von Absolventen dieses Systems im Zusammenhang der institutionellen Merkmale des dualen Ausbildungssystems diskutiert werden. Soziale Strukturen des Übergangs in den Beruf: Berufsmobilität und Statussicherheit Es ist empirisch vielfach belegt, dass auf dem deutschen Arbeitsmarkt Erwerbschancen sehr stark von den formellen Abschlüssen des Ausbildungssystems abhängen. Eine erfolgreiche abgeschlossene Ausbildung ist zunächst die zentrale Voraussetzung für den Zugang in den so genannten primären Arbeitsmarkt (Blossfeld und Mayer 1988; Konietzka und Seibert 2001). Mit Brauns et al. (1999a: 4)
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lassen sich für die Absolventen des dualen Systems vorteilhafte Arbeitsmarktchancen in mehrfacher Hinsicht feststellen. Sie besitzen beruflich spezialisierte Qualifikationen, sie sind schon während der Ausbildung für das Arbeitsleben sozialisiert und sie sind bereits mit der Organisationskultur ihres Betriebs vertraut. Die Betriebe sind wiederum nur geringen Risiken einer Fehleinschätzung der Qualifikationen der – von ihnen selbst – Ausgebildeten ausgesetzt. Aufgrund der Standardisierung der Qualifikationen besitzen Ausbildungszertifikate aber auch auf externen Arbeitsmärkten eine starke Signalwirkung. Für die große Mehrheit der Absolventen des dualen Systems besteht vor diesem Hintergrund die Aussicht auf einen glatten Übergang in den Arbeitsmarkt und stabile erste Erwerbsjahre. Empirische Studien haben immer wieder gezeigt, dass Absolventen einer dualen Berufsausbildung überwiegend ohne lange Suchphase eine dem Ausbildungsabschluss angemessene Beschäftigung finden (Blossfeld 1989; Konietzka 1999, 2002; Steinmann 2000). Dies gilt im Großen und Ganzen auch noch für die 1990er Jahre. Diese Gruppe ist auch vergleichsweise selten von Arbeitslosigkeit betroffen und langfristig relativ gut vor beruflichen Abstiegsprozessen geschützt (Blossfeld und Mayer 1988; Büchtemann et al. 1994; Witte und Kalleberg 1995). Die Beschäftigung auf einer statusgemäßen Position ist auch 10 Jahre nach der Berufsausbildung der Regelfall (Konietzka 1999). Auf dem stark durch berufsfachliche Kriterien strukturierten deutschen Arbeitsmarkt ist der Abschluss der beruflichen Erstausbildung also nicht nur für den Übergang in das Beschäftigungssystem, sondern auch für die Erwerbschancen im weiteren Erwerbsverlauf entscheidend (Lauterbach und Sacher 2001; Blossfeld 1989; Mayer und Carroll 1987). Wenn auf diese Weise auf der Ebene der Erwerbsmobilität die enge Verknüpfung zwischen den Institutionen des Berufsbildungssystems und des Arbeitsmarkts untermauert wird, sind zugleich beträchtliche Kosten dieses Mobilitätsregimes zu berücksichtigen. Aus der Sicht der Absolventen des dualen Systems bestehen Ambivalenzen vor allem in Bezug auf Muster beruflicher Mobilität, d h. die Wechselchancen zwischen Betrieben, Statusebenen oder Berufen. Das berufliche Bildungssystem etabliert “a certain safeguard against downward mobility, but also – in as much as it builds on and prolongs the tracking inherent in German secondary education – a ceiling limiting upward mobility towards positions requiring more than intermediate workforce skills” (Büchtemann et al. 1994: 132). Die andere Seite des ‚Sicherheitsnetzes‘ ist also eine ausgeprägte Undurchlässigkeit und Rigidität der beruflichen Chancenstrukturen (Hamilton und Hurrelmann 1993). Soziale Schließungsprozesse beim Übergang in den Beruf Die Begrenzung der Statusmobilität und damit auch der Aufstiegschancen im deutschen Mobilitätsregime verweist auf einen weiteren, letztlich gravierenderen Ausschlusseffekt. Ist der typische Horizont beruflicher Aufstiege für Absolventen des dualen Systems in der Regel auf mittlere Positionen begrenzt, so haben unund angelernte Arbeitskräfte im Allgemeinen nur geringe Aufstiegschancen aus
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dem Segment der einfachen und unqualifizierten Beschäftigung. Im Gegensatz zu Ausbildungssystemen, die auf mehr oder weniger unstandardisierten, betriebsspezifischen Formen des ‚on-the-job-trainings’ beruhen und nicht kategorisch zwischen un- und angelernten versus formell ausgebildeten Personen unterscheiden, erfolgt durch das berufliche Bildungssystem in Deutschland eine – nicht zuletzt rechtlich und institutionell untermauerte – Trennung zwischen berufsfachlich ausgebildeten und un- oder angelernten Arbeitskräften. Da dieses System in beinahe allen Wirtschaftsbereichen und Branchen die dominante Ausbildungsinstitution ist, bestehen kaum alternative Wege in den primären Arbeitsmarkt. Da außerdem auch berufliche Weiterbildungschancen stark von der beruflichen Erstausbildung abhängen (Becker und Schömann 1996; Becker 1991), verstärken sich Arbeitsmarktungleichheiten tendenziell im Lauf des Erwerbslebens. Wir haben es insofern mit einer dauerhaften Verfestigung der Unterschiede der Berufschancen zwischen den Inhabern berufsfachlicher Qualifikationen und unoder angelernten Arbeitskräften zu tun. Ein solches Arbeitsmarktregime weist entsprechend starke soziale Schließungseffekte auf. Nach Esping-Andersen (1993: 20) ist die Bundesrepublik ein Musterbeispiel eines „rigidly credentialist system“, dessen Ungleichheitsfolgen in „class-closure and low occupational or sectoral mobility“ bestehen. Soziale Schließungsprozesse sind demnach die logische Kehrseite der Schutzwirkung von Ausbildungszertifikaten. Mit anderen Worten und mit besonderer theoretischer Relevanz für die Frage der sozialen Ungleichheit: Ein allgemein anerkannte Berufszertifikate verleihendes Ausbildungssystem ist eine hervorragende Basis für die Durchsetzung monopolisierter Ansprüche auf Berufspositionen und des Schutzes vor Wettbewerb und Konkurrenz. Die Monopolisierung von Marktchancen ist wiederum eng mit Prozessen ‚sozialer Schließung’ verknüpft und in diesem Sinne eine elementare Quelle der Reproduktion sozialer Ungleichheit.2 Die Verberuflichung des Ausbildungssystems und des Arbeitsmarkts repräsentiert also nicht nur ein besonderes Allokationsprinzip, sondern zudem einen Kernmechanismus der Herstellung und Aufrechterhaltung sozial ungleicher Handlungschancen, durch den sich der Zugang von Konkurrenten zu berufsspezifischen Teilmärkten beschränken lässt. Insgesamt kann man davon ausgehen, dass je stärker berufliche Kompetenzbündel institutionalisiert sind, d.h. je ausgeprägter sich ungleiche Anweisungsbefugnisse und hierarchische Abhängigkeitsverhältnisse entwickelt haben, und je dauerhafter Personen spezifischen Berufen zugeordnet werden, umso stärker wird die gesellschaftliche Berufsstruktur die Basis der sozialen Ungleichheitsstruktur (vgl. Berger et al. 2001).
2
Unter sozialer Schließung versteht man nach Max Weber eine „Tendenz, die sich gegen andere Mitbewerber, welche durch ein gemeinsames positives oder negatives Merkmal gekennzeichnet sind, richtet. Und das Ziel ist: in irgendeinem Umfang stets Schließung der betreffenden (sozialen und ökonomischen) Chancen gegen Außenstehende“ (Weber 1976: 202).
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Betriebliche Selektionsmechanismen beim Ausbildungszugang Wenn man diese Charakteristika beruflich konstituierter Ungleichheit berücksichtigt, dann stellt sich die Frage nach den Zeitpunkten im Lebenslauf und Mechanismen, zu denen bzw. über die Individuen mit berufsspezifischen Handlungschancen ausgestattet (resp. von diesen ausgeschlossen) werden. In diesem Zusammenhang spielen die betrieblichen Auswahlmechanismen, die beim Ausbildungszugang zur Geltung kommen, eine besonders bedeutsame Rolle. Betriebe und auch der öffentliche Dienst haben als gatekeeper des Ausbildungsmarkts einen großen Einfluss auf die sozialen Selektionsprozesse an dieser Schwelle (vgl. Becker 1993). Im ‚dualen‘ Ausbildungssystem setzen langfristig wirksame Selektionen bereits vor der Aneignung beruflicher Qualifikation in der Ausbildungsphase ein. Schulabgänger aus allgemein bildenden Schulen werden also gemäß ihrer potenziellen Eignung für das Erlernen berufsspezifischer Fertigkeiten und Kenntnisse – und nicht auf der Basis der in der Ausbildung erlernten beruflichen Handlungskompetenzen – ausgewählt. Insofern hat bereits die ‚erste Schwelle‘ eine strategische Schlüsselrolle im Hinblick auf die Zuweisung von Lebenschancen. In schulisch organisierten Ausbildungssystemen finden Prozesse des Screenings durch Betriebe dagegen nach der Ausbildung auf der Basis der beruflichen Qualifikation statt. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass den Selektionsmechanismen an der ersten Schwelle in der beruflichen Sozialisations- und Übergangsforschung traditionell eine große Aufmerksamkeit zuteil wurde. Viele, nicht zuletzt qualitativ orientierte Studien sind in der Vergangenheit den Prozessen der Herausbildung von Berufswünschen und deren Anpassung an die Gelegenheitsstrukturen vorwiegend lokaler und regionaler Arbeitsmärkte nachgegangen (z.B. Heinz et al. 1987; Evans und Heinz 1994; vgl. auch Beck et al. 1979). Sie heben hervor, dass die Berufswahl ein mehrstufiger, sich über einen mehr oder weniger ausgedehnten Zeitraum erstreckender biografischer Prozess ist. Insbesondere für Hauptschulabsolventen hat sich demnach die Berufswahl seit den 1980er Jahren verstärkt zu einem Prozess der sukzessiven Anpassung beruflicher Wunschvorstellungen an eine begrenzte Chancenstruktur entwickelt. Heinz et al. (1987) sprechen von einer zunehmenden ‚Optionslogik‘ der Berufswahl. Auf begrenzte und abnehmende Handlungsspielräume an der ersten Schwelle verweisen auch repräsentative Kohortenstudien. Folgt man den retrospektiven Urteilen von Befragten unterschiedlicher Geburtskohorten über die Realisierung des eigenen Berufswunschs, dann haben zwischen einem Drittel und der Hälfte der Männer und mehr als die Hälfte der Frauen ihre Berufswünsche ‚überhaupt nicht‘ realisieren können (Konietzka 1999: 239). Als die beiden dominierenden subjektiven Gründe bei den um 1955 und 1960 Geborenen für die Nichtrealisierung des Berufswunsches wurden ‚mangelnde Ausbildungsmöglichkeiten‘ und ‚mangelnde eigene Voraussetzungen‘ genannt (Konietzka 1999: 241). Dies unterstreicht die These, dass die ‚Berufswahl‘ in zunehmendem Maß durch ungünstige
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Opportunitätsstrukturen und in erheblichem Maß durch Muster der Fremdselektion beherrscht wurde.3 Geschlechtsspezifische Berufschancen Geschlechtsspezifische Ungleichheiten in der beruflichen Bildung verdienen eine besondere Beachtung vor dem Hintergrund, dass sich im Bereich der Allgemeinbildung eine klare Benachteiligung der Bildungschancen im Verlauf der letzten Jahrzehnte in einen leichten Vorsprung der Frauen verwandelt hat (Geißler 2002). Hierzu steht der Befund in augenscheinlichem Kontrast, dass sich das Ausmaß an Geschlechtersegregation im Bereich der beruflichen Ausbildung und des Arbeitsmarkts – mit Ausnahme im Bereich einiger kaufmännischer Berufe – im Lauf der Zeit eher wenig verändert hat. In weiten Bereichen der handwerklichen, Büro- und Dienstleistungsberufe haben sich im Gegenteil die Ausbildungs- und Arbeitsmärkte für Männer und Frauen als weithin voneinander getrennte Sphären konsolidiert (Trappe und Rosenfeld 2001). Den institutionellen Strukturen des beruflichen Bildungssystems wird eine zentrale Bedeutung für die offenkundige Reproduktion geschlechtsspezifischer Ungleichheit zugeschrieben. Zum einen wird die These vertreten, dass die starke geschlechtsspezifische Segregation von Berufen Frauen in der Tendenz in weniger prestigeträchtige und mit geringeren Einkommens- und Aufstiegschancen versehene Berufe lenkt (Schömann 1994). Zum anderen seien, so eine weitergehende These, Frauenberufe strukturell als minderwertig sozial konstruiert. Als ein Beleg für diese Annahme wird die institutionelle Trennung der beruflichen Bildung in den dualen und den vollzeitschulischen Sektor betrachtet (Krüger 2001). Wurde das duale System historisch für die Berufserziehung (nichtbürgerlicher) Jugendlicher geschaffen, so wurden junge Frauen in gesonderte Bereiche des beruflichen Bildungssystems ‚abgeschoben‘, die explizit für die Ausbildung in typischen Frauenberufen (u.a. Erzieherinnen und Pflegeberufe) eingerichtet und vielfach ohne nennenswerte Anschluss- und Aufstiegschancen ausgestattet wurden (Heinz 1995; Krüger 2001). In vielen der typischen Frauenberufe sind nicht nur die Einkommens- und Aufstiegschancen relativ schlechter, sondern die beruflichen Laufbahnmuster mit einem quasi konstitutiven Sackgassencharakter versehen (Mayer 1991). Als nachteilig erweise sich für Frauen zudem, dass die im schulischen Sektor dominierenden Ausbildungen nicht unter die bundeseinheitlichen Regelungen des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) fallen, in diesem Bereich keine Ausbildungsvergütungen gezahlt werden und teilweise sogar Schulgebühren anfallen. Als ein gravierender struktureller Nachteil schulischer Ausbildungsgänge gilt 3
Dies impliziert jedoch nicht notwendigerweise, dass bessere Chancen der Realisierung der eigenen beruflichen Präferenzen geringere Unterschiede z.B. zwischen Männern und Frauen im Berufssystem zur Folge hätten. Zweifel in dieser Hinsicht ergeben sich aufgrund der höheren geschlechtsspezifischen Segregation der Berufswünsche als der realisierten Ausbildungsberufe (Konietzka 1999).
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auch, dass der Berufszugang aufgrund der fehlenden betrieblichen Einbindung risikoreicher ist. In diesem Sinne können die institutionellen Rahmenbedingungen der beruflichen Erstausbildung in der Bundesrepublik als Faktoren der Reproduktion geschlechtsspezifischer Ungleichheiten betrachtet werden (vgl. Krüger 2001: 519 ff.; Born 2001: 42 ff.). Empirische Studien haben das Fortwirken geschlechtsspezifischer Ungleichheiten in den Ausbildungs- und Berufschancen in der Bundesrepublik weitgehend bestätigt. Die Chancen des Zugangs zu einer dem Ausbildungsniveau entsprechenden Beschäftigung sind in vielen frauentypischen Berufen bereits beim Berufseinstieg geringer als in männertypischen Berufen (Solga und Konietzka 2000). Allerdings sind erhebliche Veränderungen in der Zeit sowie Abstufungen in den Arbeitsmarktchancen für unterschiedliche Kategorien von Frauen zu beobachten. Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich, begleitet von höheren allgemein bildenden Qualifikationen und dem berufsstrukturellen Wandel zugunsten qualifizierter kaufmännischer und Dienstleistungsberufe, die Ausbildungsbeteiligung von Frauen stark erhöht und Frauen haben zunehmend von der beruflichen Ausbildung profitiert (Blossfeld 1989; Mayer und Blossfeld 1990; Handl 1996; Müller et al. 1998). Zudem zeigen Analysen des Berufseinstiegs, dass eine generelle Benachteiligung von Absolventinnen schulischer Ausbildungsgänge im Hinblick auf die Platzierungschancen auf dem Arbeitsmarkt, d h. die Aussichten, eine adäquate Berufsposition zu erreichen, nicht besteht (Konietzka 1999; Steinmann 2000). ‚Frauenberufe‘ sind demnach kein homogener Block innerhalb des Ausbildungssystems oder des Arbeitsmarktes (Lauterbach 1994). Dagegen steht eine große Varianz der Berufseinstiegschancen (Konietzka 2002) sowie Aufstiegs- und Fortbildungschancen bei Frauen (Klement 2001). Diese Befunde bestätigen wiederum die These berufsspezifischer Schließungsmechanismen als zentrale Weichenstellungen im Lebenslauf. Das Ausbildungssystem ist in diesem Sinne als eine Sortierungsinstanz zu betrachten, welche eine „entscheidende Transformation von zunächst formal gleichgestellten Ausbildungssuchenden beiderlei Geschlechts in Ungleichgestellte durch ein Berufsbildungssystem“ (Trappe und Rosenfeld 2001: 174) vornimmt. Ausbildungs- und Berufschancen von Ausländern bzw. Migranten Anders als zwischen Frauen und Männern haben sich Bildungsungleichheiten zwischen Ausländer- bzw. Migrantenkindern und Deutschen bzw. Einheimischen im allgemeinen Schulsystem im Lauf der letzten Jahrzehnte nicht aufgehoben. Angesichts der Tatsache, dass 60 Prozent der Nichtdeutschen, aber nur 33 Prozent der Deutschen mit oder ohne Hauptschulabschluss auf den Ausbildungsmarkt treten, erweist sich der Übergang in das Ausbildungssystem aus der Sicht von Migrantenkindern von vornherein als besonders problematisch (vgl. Konietzka und Seibert 2003). Dies bestätigt die weitaus geringere Übergangsquote in die
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berufliche Ausbildung und die höhere Konzentration auf ein begrenztes Spektrum von Ausbildungsberufen – handwerklichen Berufen bei den Männern und Dienstleistungsberufen bei den Frauen. Zugleich sind unter den Migrantenkindern die Ausbildungschancen von Frauen geringer als die der Männer, die der Türken und Türkinnen schlechter als die der Angehörigen anderer Nationalitäten geblieben. Deutliche Unterschiede zwischen Deutschen und Nichtdeutschen lassen sich auch an der zweiten Schwelle nachweisen. Ausländer, die eine Ausbildung im dualen System absolviert haben, finden seltener eine Beschäftigung in ihrem erlernten Beruf und dem Betrieb, der sie ausgebildet hat (Konietzka und Seibert 2003). Sie werden deswegen nach der Ausbildung auch eher arbeitslos. Die Ursachen für die im Kontext des deutschen Arbeitsmarkts hochgradig bedeutsamen schlechteren Berufszugangschancen der Ausländer nach der Berufsausbildung sind vielschichtig. Teilweise sind sie auf die strukturellen Unterschiede bei der Schulbildung und den ‚gewählten‘ Ausbildungsberufen zurückzuführen, teilweise sind sie aber auch die Folge schlechterer Chancen, nach dem Ende der Ausbildung einen ‚reibungslosen‘ Übergang in den Beruf zu bewerkstelligen. Die dahinter stehenden Mechanismen sind wiederum umstritten (vgl. Seibert 2005; Seibert und Solga 2005; Kalter 2006). Insgesamt ist im Hinblick auf die Gruppe der Nichtdeutschen im dualen System festzuhalten, dass deren schlechtere Übergangschancen an der zweiten Schwelle bereits in erheblichem Maß von sozialen Sortierungs- und Ausschlussmechanismen bestimmt werden, die vor der Phase der Berufsausbildung liegen – im allgemein bildenden Schulsystem und insbesondere bei der so genannten Berufswahl an der ersten Schwelle. Zwischenfazit Individuelle Arbeitsmarktchancen sind in der Bundesrepublik stark vom Erfolg einer vorangegangenen beruflichen Ausbildungsphase abhängig. Soziale Schließungsprozesse sind an formellen beruflichen Ausbildungsabschlüssen orientiert und operieren überwiegend auf der berufsspezifischen Ebene. Für die Frage nach der Reproduktion sozialer Ungleichheit haben daher die Mechanismen des Ausbildungszugangs – und nicht erst des Arbeitsmarktzugangs – eine entscheidende Bedeutung. So genannte Filterungs- bzw. Selektionsprozesse erfolgen im dualen Ausbildungssystem zu einem lebenszeitlich sehr frühen Zeitpunkt. Eine wichtige Schlussfolgerung lautet an dieser Stelle, dass beim Prozess der Berufswahl die Selektion von Schulabgängern entscheidend von den betrieblichen gatekeepern vorgenommen wird. Dies bedeutet zwar nicht von vornherein, dass Jugendliche nur geringe Handlungsspielräume der Berufswahl haben. Jedoch ist die Situation der Lehrstellen suchenden Schulabgänger in den letzten zwei Jahrzehnten überwiegend von mehr oder weniger begrenzten Wahlchancen auf dem Ausbildungsmarkt geprägt worden.
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Schließt man die, in einer längerfristigen Vergleichsperspektive erfolgten, beträchtlichen Veränderungen des Bildungsverhaltens und der angestrebten Schulund Ausbildungsabschlüsse in die Betrachtung ein, ergibt sich ein komplizierteres Bild. So haben sich in den letzten drei Jahrzehnten die Bildungsentscheidungen von Kindern bzw. deren Eltern sowie die Ausbildungspräferenzen von Schulabgängern gravierend geändert. Dabei handelt es sich unter anderem um Reaktionen auf die perzipierten strukturellen Bedingungen des Ausbildungs- und Berufszugangs. Entsprechend scheint es notwendig, den Wandel individueller Entscheidungen über Bildungslaufbahnen in die Analyse des ‚Übergangssystems‘ in die berufliche Ausbildung einzubeziehen. 4.
Wandel des Bildungsverhaltens und der sozialen Strukturen des Ausbildungszugangs
Seit den 1960er Jahren hat sich bekanntlich die Bildungsstruktur von Schulabgängerkohorten tief greifend verändert. Mit der Bildungsexpansion, d h. dem Ausbau und Öffnung weiterführender Schultypen, hat sich das Bildungsverhalten überaus stark verändert. Dies machen einige grundlegende Zahlen deutlich. 1960 verließen 73 Prozent der Schulabgänger das allgemein bildende Schulwesen mit oder ohne Hauptschulabschluss, 1990 nur noch 31 Prozent. Zugleich verdoppelte sich der Anteil der Schulabgänger mit mittlerer Reife auf 35 Prozent und der Anteil mit Hochschulreife verdreifachte sich auf 32 Prozent (vgl. Konietzka 1999: 93). In den 1990er Jahren ist diese Dynamik weitgehend zum Erliegen gekommen. Im Jahr 2000 hatten bundesweit 35 Prozent der Schulabgänger maximal einen Hauptschulabschluss, 40 Prozent einen Realschulabschluss und 26 Prozent die Hochschulreife (Datenreport 2002). Die Verringerung des Anteils der Volks- bzw. Hauptschüler um mehr als die Hälfte seit 1960 hatte notwendigerweise Folgen für den (makrostrukturellen) Zusammenhang zwischen Volks- bzw. Hauptschule und (dualem) Ausbildungssystem. Darüber hinaus hat sich das Ausbildungsverhalten unter den Abgängern der verschiedenen allgemein bildenden Schularten gewandelt. Vor allem Männer und Frauen mit höherer schulischer Vorbildung, also die Absolventen der gymnasialen Oberstufe, haben verstärkt eine duale Ausbildung absolviert. Die Zusammensetzung der Auszubildenden im dualen System nach der schulischen Vorbildung hat sich in der Folge drastisch verändert. Noch im Jahre 1970 verfügten 80 Prozent aller Auszubildenden über einen Hauptschulabschluss und 19 Prozent über die mittlere Reife (Tessaring 1993: 138). Im Jahre 2000 betrug dagegen bei den neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen der Anteil der Abgänger aus Hauptschulen (mit und ohne Abschluss) 34 Prozent und der Anteil mit Realschul- (oder gleichwertigem) Abschluss 37 Prozent. Hinzu kamen 13 Prozent Abgänger aus beruflichen Schularten, d h. aus Berufsfachschulen, dem Berufsvorbereitungsjahr und dem schulischen Berufsgrundbildungsjahr. Rund 16 Prozent der Abgänger verfügten schließlich über die Hochschulreife (Berufsbildungsbericht 2002: 86). In Ost-
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deutschland war in den 1990er Jahren die Ausbildungsneigung von Gymnasiasten deutlicher höher als in Westdeutschland (von Below und Goedicke 2001; Becker 2000b). Damit haben sich die Muster des Übergangs in die Berufsausbildung gegenüber dem Übergangssystem der 1950er und 1960er Jahre grundlegend gewandelt. Während das duale System in dieser Zeit einen klaren sozialstrukturellen Hintergrund hatte und – etwas zugespitzt formuliert – der „Elite der Volksschulabgänger den Einstieg in den Fachkräftestatus“ (Greinert 1995: 109) eröffnete, hat sich seitdem die soziale Heterogenität der Ausbildungspopulation (nach Vorbildung, Geschlecht und teilweise auch Nationalität) beträchtlich erhöht. So beginnen heutzutage – anstelle der einstigen männlichen Volksschüler – Männer und Frauen aus allen Schultypen (einschließlich beruflicher Schulen) sowie zunehmend Männer und Frauen ausländischer Herkunft bzw. Migranten eine duale Ausbildung. Mit dieser sozialen Differenzierung ist eine verstärkte bildungs- und geschlechtsspezifische Segmentierung in den Bereich der Ausbildungsberufe eingezogen. In diesem Zusammenhang ist die Frage nach einer Zunahme sozialer Verdrängungsprozesse im Ausbildungssystem von besonderer Bedeutung. Für eine Zunahme solcher Prozesse spricht, dass Ausbildungsberufe verstärkt bildungs- sowie geschlechtsspezifische Profile erhalten haben. So fand beispielsweise eine zunehmende Monopolisierung der Ausbildung in den Versicherungs- und Bankberufen durch Abiturienten statt (vgl. AG Bildungsbericht 1994: 607 ff.). Diese ist darauf zurückzuführen, dass Betriebe in Folge der Differenzierung der Auszubildenden die „berufsspezifische Selektion bei der Rekrutierung der Auszubildenden“ (Kutscha 1994: 42) verstärkt haben. Es hat demnach den Anschein, dass sich im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte die soziale Ungleichheit im beruflichen Bildungssystem verstärkt hat. Es handelt sich dabei jedoch um einen hochgradig ambivalenten Prozess, da verschiedene Aspekte des Wandels der Bildungs- und Ausbildungsbeteiligung zu berücksichtigen sind. Wenn es also intuitiv einleuchtend scheint, dass das zunehmende Drängen von Abiturienten auf den Lehrstellenmarkt die Zugangschancen anderer Schulabgänger vor allem zu anspruchsvollen und zukunftsträchtigen Ausbildungsberufen verschlechtert hat, so hatte der strukturelle Wandel der schulischen Vorbildung und letztlich des gesamten Übergangssystems in den Arbeitsmarkt die Folge, dass nicht einfach eine Verdrängung von Hauptschülern im oder aus dem beruflichen Bildungssystem erfolgt ist (vgl. Blossfeld 1985). Ein erster relevanter Aspekt ist, dass die Bildungsexpansion die Bildungsungleichheit der Schulabgänger erhöht hat (Mayer und Blossfeld 1990; vgl. dagegen Müller und Haun 1994). Dadurch wurde der allgemein bildende Schulabschluss als Zugangskriterium zur beruflichen Bildung immer wichtiger. Vor die mögliche Selektion von Auszubildenden durch die Betriebe an der ‚ersten Schwelle‘ ist die soziale Differenzierung und damit die Vorselektion beim Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe verstärkt worden. Die verstärkte Orientierung der Betriebe an Schulabschlüsse (und -noten) reflektiert in diesem Sinne den Wandel
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der Sortierungsfunktion von Schülern durch das allgemein bildende Schulsystem (vgl. Blossfeld und Becker 1989). Ein zweiter Aspekt ist, dass der Ausbau der gymnasialen Oberstufe und der Fachhochschulen zunehmend attraktive Zugangswege in das Beschäftigungssystem jenseits der beruflichen Bildung geschaffen hat. Durch den Ausbau der Fachhochschulen, der teilweise ein Upgrading von (höheren) Fachschulen war, sind Aufstiegskanäle im Anschluss einer beruflichen Erstausbildung entfallen, und weiterführende Schulabschlüsse haben zugleich als Karrierevoraussetzung an Bedeutung gewonnen. Die Ausbildungs- und Karrierewege haben sich auf diese Weise zulasten der dualen Ausbildung verschoben. Der Wandel individueller Bildungsentscheidungen reflektiert daher auch diesen Wandel der Opportunitätsstrukturen. Drittens, und scheinbar gegenläufig, ist das Interesse von Abiturienten an einer dualen Ausbildung gestiegen. Deren berufliche Erstausbildung dient zugleich in vielen Fällen als Vorstufe zum Studium. Die mengenmäßigen Verschiebungen zwischen Absolventen der verschiedenen Schultypen haben nun zur Folge, dass sich die sozialstrukturellen Hintergründe der Absolventen unterschiedlicher Schultypen verändert haben. Insbesondere ist die Hauptschule als Schulform sozial zunehmend selektiv geworden (Köhler 1992; Leschinsky und Mayer 1990), indem sie sich von einer ehemaligen Volksschule zu einer ‚Restschule‘ für benachteiligte und lernschwache Jugendliche entwickelt hat (Greinert 1994; Lempert 1995; Solga und Wagner in diesem Band; Becker 2003). Bereits hieraus ergibt sich die Folgerung, dass – ceteris paribus – die durchschnittlichen Chancen von Hauptschülern auf dem Ausbildungsmarkt abgenommen haben. Zudem gibt es empirische Hinweise, dass sich die Bildungsrenditen von Hauptschülern mit einer dualen Ausbildung auf dem Arbeitsmarkt verringert haben (Müller 2001). Angesichts der verstärkten sozialen Selektivität der Population der Hauptschüler mit beruflicher Ausbildung taugen diese Tendenzen jedoch nicht von vornherein als Nachweis des Wirkens von Verdrängungsprozessen. Die Zunahme von Verdrängungsprozessen von Hauptschülern auf dem Ausbildungsmarkt im eigentlichen Sinne ist aufgrund der inhärenten Selektionsproblematik generell empirisch nur schwer nachzuweisen, da sich in den letzten Jahrzehnten sowohl die Gewichte der allgemein bildenden Schulformen, die Sortierungen zwischen Allgemein- und Berufsbildung als auch das Übergangssystem in die berufliche Ausbildung und den Arbeitsmarkt strukturell verändert haben. Die individuellen Bildungsaspirationen sind gestiegen, die Struktur der Ausbildungsberufe hat sich im Tertiarisierungsprozess verändert, zu einem gewissen Grad ‚feminisiert‘ und die Konkurrenz durch das Hochschulsystem (und zunehmend Berufsakademien) ist gestiegen. Das Zusammentreffen dieser unterschiedlichen Tendenzen erschwert auch die Identifikation eines Wandels von Mechanismen der Strukturierung sozialer Ungleichheit.
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Jedoch spricht vieles dafür, dass sich mit dem Wandel der allgemeinen Bildungslaufbahnen und der Übergangsmuster in die Berufsausbildung bzw. den Arbeitsmarkt die typischen sozialen Selektionsprozesse an den verschiedenen Schwellen bzw. Übergängen verschoben haben. So hat der Prozess der zunehmenden Durchsetzung der beruflichen Ausbildung als Lebenslaufinstitution die Offenheit der Berufszugangswege reduziert. Damit ist die zunehmende Schließung von Arbeitsmarktpositionen vor allem für jene Gruppen vorangeschritten, die formal nicht oder nur wenig qualifiziert sind. Daher ist davon auszugehen, dass die genannten Strukturveränderungen im Übergangssystem vor allem für die formell besonders gering Qualifizierten negative Folgen in den Ausbildungschancen hatten und haben. Für die verschlechterten Ausbildungs- und Erwerbschancen einer quantitativ kleiner gewordenen Gruppe der Verlierer der Bildungsexpansion spielen vermutlich sowohl Fremd- als auch Selbstselektionsprozesse eine Rolle (Solga 2002). Die besagten Ausschlussprozesse haben für Jugendliche, die den ‚normalen’ Übergang in die berufliche Bildung nicht geschafft haben, besondere Folgen. Für sie sind zunehmend Ersatzinstitutionen wie das Berufsvorbereitungs- oder das Berufsgrundbildungsjahr Auffangbecken geworden. Auch Ausbildungen in Berufsfachschulen haben häufig einen Warteschleifencharakter, da sie nicht direkt in den Arbeitsmarkt, sondern in eine weitere Ausbildung münden. Unter verschlechterten Bedingungen auf dem Ausbildungsmarkt sind damit für die Verlierer der Bildungsexpansion solche Ausweichstrategien und Umwege im Ausbildungssystem bedeutsamer geworden. Strukturelle Problemgruppen werden verstärkt in den „marktkompensatorischen Schleifen des Bildungssystems“ (Kutscha 1994: 43) untergebracht. Die Ausbildungsphase dieser Gruppen ist verstärkt durch Teilausbildungen und eine Reihe von Übergängen im Ausbildungsverlauf mit kritischem Schwellencharakter und potenziell kumulativen Selektionseffekten geprägt worden (Konietzka 1999: 159 ff.). Die Verschlechterung der Ausbildungsbedingungen hat in diesem Sinne zur Etablierung eines Parallelsystems von Maßnahmenkarrieren geführt (vgl. Dietrich 2001; Solga 2004), das sich in der Bundesrepublik zunehmend als ein Kristallisationskern sozialer Exklusion erweist (Konietzka und Sopp 2006). Zugangschancen zum dualen System im Kohortenvergleich Im Folgenden soll anhand eines langfristigen Kohortenvergleichs gezeigt werden, welche Veränderungen sich in den Zugangschancen zum dualen System für unterschiedliche Kategorien von Schulabgängern ergeben haben. Dem bisherigen Argumentationsgang folgend, konzentriere ich mich vor allem auf die Chancen von Absolventen der Hauptschule, als (ehemaliger) Kernklientel des dualen Systems, nach Schulende und vor dem Berufseinstieg einen Lehrabschluss zu erreichen. In Tabelle 1 sind auf der Basis der westdeutschen Lebensverlaufsstudie des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung die Anteile an Schulabgängern darge-
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stellt, deren erste berufsqualifizierende Ausbildung zu einem Abschluss im dualen System führte, sowie die Anteile der Schulabgänger, die einen solchen Abschluss als letzten berufsqualifizierenden Abschluss vor dem Berufseinstieg (definiert als erste Haupterwerbstätigkeit mit einer Mindestdauer von 6 Monaten) erworben haben. Tabelle 1: Anteile an Schulabgängern mit erfolgreich abgeschlossener dualer Ausbildung als erstem beruflichen Abschluss und als Abschluss beim Berufseinstieg
Männer Erster beruflicher Abschluss Volks-/Hauptschulabschluss Mittlere Reife (Fach-)Abitur Abschluss beim Berufseinstieg Volks-/Hauptschulabschluss Mittlere Reife (Fach-)Abitur Frauen Erster beruflicher Abschluss Volks-/Hauptschulabschluss Mittlere Reife (Fach-)Abitur Abschluss beim Berufseinstieg Volks-/Hauptschulabschluss Mittlere Reife (Fach-)Abitur
Kohorte 193919491941 1951
19191921
19291931
19541956
19591961
59 53 12
53 76 36
74 83 29
84 78 5
79 78 9
71 78 15
62 58 13
59 76 24
75 76 24
87 75 12
85 85 16
83 80 25
18 26 6
19 45 10
36 43 9
55 54 5
61 55 5
47 53 20
20 28 6
21 47 11
42 37 5
60 53 5
68 55 14
57 61 25
Quelle Westdeutsche Lebensverlaufsstudie (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin) – eigene Berechnungen
Die Übergangsbilanz der Hauptschüler hat sich an der ersten Schwelle tatsächlich erkennbar verschlechtert (zu Details siehe Konietzka 1999: 170). Die Chancen, gleich im ersten Anlauf einen Lehrabschluss zu erzielen, waren für Hauptschulabsolventen, die in der Mitte der 1950er Jahre und um 1960 herum geboren wurden, deutlich geringer als für jene des Jahrgangs 1949-51, während bei den Anteilen der Realschüler mit einem Lehrabschluss im Kohortenvergleich keine Veränderungen festzustellen sind. Für eine Verdrängung von Hauptschulabsolventen an der ersten Schwelle spricht insbesondere auch, dass parallel Abiturienten verstärkt in das duale System eingetreten sind. Der Anteil der Abiturienten, der direkt nach der Schule eine Lehre absolviert hat, stieg von 5 Prozent (in der Kohorte 1949-51) auf 15 Prozent (in der Kohorte 1959-61). Auch bei den Frauen lässt sich nur bei den Hauptschulabsolventinnen in der jüngsten Kohorte eine rückläufige Chance
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der erfolgreichen Bewältigung der ersten Schwelle beobachten. Während bei diesen der Anteil der erfolgreichen Abschlüsse im dualen System von 61 Prozent auf 47 Prozent zurückgegangen ist, haben sich die Übergangsquoten der Frauen mit mittlerer Reife nicht verändert. Für den Übergang an der ersten Schwelle kann damit die These einer verstärkten Ungleichheit der Übergangschancen nach der schulischen Vorbildung durchaus bestätigt werden. Jene Schulabgänger, die nach der allgemein bildenden Schule zunächst keine Lehrstelle finden konnten, wurden überwiegend in institutionelle ‚Warteschleifen‘ gedrängt. Zum Zeitpunkt des Berufseinstiegs zeigt sich ein etwas verändertes Bild. Die Tatsache, dass in der Kohorte 1959-61 zum Zeitpunkt des Berufseinstiegs immerhin ein Viertel der Abiturienten eine duale Ausbildung abgeschlossen hatte, spricht zwar durchaus für einen verstärkten Konkurrenzkampf auf dem Lehrstellenmarkt. Allerdings haben auch in dieser Kohorte mehr als vier Fünftel der männlichen Hauptschüler bis zum Berufseinstieg eine Lehre erfolgreich absolviert. Sie lagen damit an der so genannten zweiten Schwelle auf dem gleichen Niveau wie die Realschüler. Insofern lassen sich keine überzeugenden Hinweise auf eine zunehmende Verdrängung der Hauptschüler aus dem dualen Ausbildungssystem finden. Für die Hauptschulabsolventinnen der Kohorte 1960 sieht die Bilanz aber schlechter aus. Deren Abschlussquote im dualen System ist auch an der zweiten Schwelle deutlich hinter der in den älteren Kohorten zurückgeblieben, während zugleich die Absolventinnen von Realschule und Gymnasium in zunehmendem Ausmaß einen Abschluss im dualen System erworben haben. Hatten also männliche Hauptschulabsolventen vor allem an der ersten Schwelle schlechtere Zugangschancen zu einer dualen Ausbildung, ist bei den Frauen mit Hauptschulabschluss über die Kohorten ein geringerer Erfolg im dualen System auch zum Zeitpunkt des Übergangs in den Arbeitsmarkt festzustellen. Die hier dargestellten Ergebnisse bilden die Komplexität der Übergänge zwischen der allgemein bildenden Schule und Berufseinstieg selbstverständlich nur grob ab. Genauere Analysen zeigen, dass angefangene Ausbildungsepisoden und Ausbildungsabbrüche vor dem Berufsstart deutlich an Bedeutung gewonnen haben und insbesondere Hauptschüler verstärkt auf schulische Ausbildungen ausgewichen sind. Die Veränderungen in den Rahmenbedingungen der beruflichen Ausbildung haben für die hier betrachteten Kohorten zu einer zeitlichen Verschiebung des Berufseinstiegs, einem Ausweichen auf Ersatzausbildungen und mehrfachen Ausbildungsversuchen (weniger dagegen Doppelqualifikationen im engeren Sinne) geführt (siehe auch Jacob 2004). Annähernd die Hälfte der Frauen der Kohorten 1954-56 und 1959-61 hat im Anschluss an eine Berufsfachschulausbildung eine weitere Ausbildung begonnen (Konietzka 1999: 173). Trotz dieser Veränderungen und Verschiebungen ist aber das berufliche Ausbildungssystem für die betrachteten Kohorten unter dem Strich integrationskräftig geblieben, und es ist (noch) nicht zu der erwarteten durchgreifenden Schwächung der Hauptschulabsolventen im Kern des Ausbildungssystems gekommen.
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Die Entwicklung der Ausbildungsverläufe in jüngeren Geburtskohorten lässt jedoch darauf schließen, dass die Schwierigkeiten für Hauptschulabsolventen auf dem Ausbildungsmarkt größer sind als für andere Gruppen und dass sie im Zeitverlauf wahrscheinlich gestiegen sind. Die mit Abstand schlechtesten Chancen besitzen aber Jugendliche ohne Hauptschulabschluss (Dietrich 2001; Solga 2004), welche in hohem Maß in Maßnahmenkarrieren geleitet werden. Es ist daher davon auszugehen, dass soziale Ausschlussmechanismen am deutlichsten am ‚unteren Rand‘ des Bildungssystems wirksam sind. Abschließend zeigt Tabelle 2 den Wandel der Ausbildungsstrukturen zum Zeitpunkt des Berufseinstiegs im Vergleich der Geburtskohorten 1919-21 bis 1971 in Westdeutschland. Tabelle 2: Der letzte vor dem Berufseinstieg erreichte Ausbildungsabschluss westdeutscher Männer und Frauen Kohorte 19191921
19291931
19391941
19491951
19541956
19591961
Männer Gewerbliche Lehre Kaufmännische Lehre Berufsfach-/Fachschule Fachhochschule, Universität Kein Abschluss Noch in Ausbildung
43 13 3 7 35 0
46 10 1 5 38 0
58 11 2 7 22 0
50 16 1 15 16 3
45 18 3 15 18 1
Frauen Gewerbliche Lehre Kaufmännische Lehre Berufsfach-/Fachschule Fachhochschule, Universität Kein Abschluss Noch in Ausbildung
7 14 11 3 66 0
10 11 5 2 71 0
10 26 8 5 52 0
12 38 10 9 31 1
14 34 14 15 23 0
1964
1971
48 13 3 11 18 7
55 17 2 14 12 1
54 16 3 9 10 8
15 33 16 12 22 3
18 35 17 10 20 0
20 35 13 12 16 5
Anmerkung: Personen, die zum Befragungszeitpunkt noch keine berufliche Ausbildung erfolgreich beendet hatten, sich aber noch in Ausbildung befanden, werden als „noch in Ausbildung“ ausgewiesen. Quelle Westdeutsche Lebensverlaufsstudie (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin) – eigene Berechnungen
Die Tabelle unterstreicht einige zentrale Merkmale des Wandels der Ausbildungsstrukturen, die in diesem Beitrag bereits thematisiert wurden. Ich meine damit erstens den langfristigen Rückgang der kohortenspezifischen Anteile, die in den Arbeitsmarkt eingetreten sind, ohne vorher eine berufliche Ausbildung abgeschlossen zu haben. Dies gilt für die Frauen in besonderem Maß. Zweitens verweist die Tabelle auf eine überragende und noch in den jüngsten Geburtskohorten steigende quantitative Bedeutung des dualen Systems als Ausbildungs- und Lebenslaufinstitution. 70 Prozent der Männer und mehr als die Hälfte der Frauen der
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Konietzka
Jahrgänge 1964 und 1971 haben einen solchen Abschluss vor ihrem Erwerbseinstieg erworben. Bei den Frauen kommt drittens die schulische Berufsausbildung in Berufsfach- und Fachschulen als eine weitere bedeutsame Ausbildungsinstitution hinzu. Die in der Tabelle angegebenen Anteile der Männer und Frauen mit einem Hochschulabschluss können dagegen zwischen den Kohorten nicht direkt verglichen werden, da vor allem die um 1960 und im Jahr 1971 Geborenen ihre Ausbildungsphase zum Teil noch nicht abgeschlossen hatten. 5.
Soziale Strukturen des Berufszugangs
Aus ungleichheitssoziologischer Sicht besonders relevant ist die Frage, in welcher Hinsicht soziale Ungleichheiten beim Übergang von der Berufsausbildung in den Arbeitsmarkt im Verlauf der letzten Jahrzehnte zugenommen haben. Allgemein herrscht die Einschätzung vor, dass Berufsanfänger seit den 1980er Jahren mit verschlechterten Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt, einer ‚Prekarisierung’ des Übergangs in den Beruf und abnehmenden Verwertungschancen der Berufsausbildung zu kämpfen haben. Die Folgen einer solchen Verschlechterung der Arbeitsmarktbedingungen können allerdings sehr unterschiedlich ausfallen. Sie können eine allgemeine und insofern individualisierte Zunahme von Risiken und Diskontinuitäten des Berufseinstiegs oder eine verstärkte Ausgrenzung und soziale Marginalisierung dauerhaft Ungelernter implizieren. Es können aber auch neue Formen der Ungleichheit in den Arbeitsmarktchancen unter den Absolventen des dualen Systems entstehen. Schlechtere Berufseinstiegschancen für Absolventen des dualen Systems? Den meisten empirischen Studien zufolge ist die Beziehung zwischen Ausbildungsabschlüssen und beruflichen Positionen in der Bundesrepublik bis in die 1990er Jahre hinein vergleichsweise stabil und eng geblieben, sodass die zweite Schwelle zunächst einmal nicht als eine bedeutsame Quelle sozialer Ungleichheit erscheint. Empirische Untersuchungen zeigen übereinstimmend, dass das Risiko der Arbeitslosigkeit, eine atypische Beschäftigung, einen geringen Berufsstatus (Müller 1999; Solga 2002), eine instabile oder befristete Beschäftigung (Lauterbach und Sacher 2001; Giesecke und Groß 2002; Kurz und Steinhage 2001) auszuüben, für Personen ohne Schul- und/oder beruflichen Ausbildungsabschluss mit Abstand am höchsten ist. Jedoch ist auch auf einen Rückgang der Bildungsrenditen seit den 1980er Jahren im Bereich der mittleren Qualifikationsstufen verwiesen worden (Handl 1996; Müller et al. 1998; Brauns et al. 1999b; Müller 2001; Butz 2001). In diesem Zusammenhang wurde bislang vergleichsweise wenig untersucht, inwieweit Ungleichheiten in den Berufschancen auch unter den Absolventen des dualen Systems zugenommen haben. Wenn man berücksichtigt, dass die berufliche Differenzierung der Berufsausbildung nicht lediglich eine horizontale Seg-
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mentierung zwischen einzelnen Ausbildungsberufen, sondern Ungleichwertigkeiten in Bezug auf Zugangsvoraussetzungen, Sozialstatus und Karrierechancen impliziert sowie Handlungsressourcen und Verwertungschancen erheblich zwischen Ausbildungsberufen variieren, ist davon auszugehen, dass die berufsspezifische Differenzierung auch bedeutsam für die Ungleichheit von Berufseinstiegschancen ist – d h. zum Beispiel für die Chancen der Übernahme durch den ausbildenden Betrieb, die vorübergehende oder dauerhafte Beschäftigung in ausbildungsfremden und nichtadäquaten Stellen sowie die Erfahrung von Arbeitslosigkeit vor dem Erwerbseinstieg. Berufliche Qualifikationen sind theoretischen Standardannahmen zufolge in der Regel nur auf eingegrenzten berufsspezifischen Teilmärkten ‚voll‘ einsetzbar. Betriebsspezifische Faktoren der Ausbildung und der Berufssozialisation begrenzen darüber hinaus die Transferierbarkeit beruflicher Zertifikate auf externen Arbeitsmärkten. Ereignisse wie Betriebswechsel, Arbeitslosigkeit, Berufswechsel und Statusveränderungen beim Übergang von der Ausbildung in den Beruf haben vor diesem Hintergrund potenziell negative Folgen für den Berufseinstiegsprozess. Der Wandel betrieblicher Strukturen, der Arbeitsorganisation und Qualifikationsanforderungen in den letzten zwei Jahrzehnten (Fürstenberg 2000) hat die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass solche Mobilitätsereignisse stattfinden und mit ihnen die interne Differenzierung der Absolventen des dualen Systems zunimmt. Es stellt sich damit die Frage, ob diese durchgängig oder je nach Ausbildungsberuf unterschiedlich von zunehmenden Problemen des Übergangs in das Erwerbsleben betroffen sind – mithin die Risiken des Berufseinstiegs bei einer (wachsenden) Minderheit kumulieren. Die Schließungsmechanismen, welche die Absolventen der beruflichen Ausbildung im Regelfall gegen Abstieg und Konkurrenz nicht formal Qualifizierter schützen, könnten sich damit in der jüngeren Vergangenheit verstärkt gegen eine Teilgruppe dieser Absolventen gewendet haben. Die berufsspezifische Differenzierung von Übergangsmustern in den Arbeitsmarkt Empirische Daten darüber, in welchem Maß Absolventen unterschiedlicher Berufe ungleiche Verwertungschancen der Ausbildung besitzen, sind vergleichsweise rar. Analysen mit der IAB-Beschäftigungsstichprobe 1976-1995 haben jedoch einige markante Aspekte des Übergangs an der zweiten Schwelle zwischen der Mitte der 1970er und der Mitte der 1990er Jahre aufgezeigt (Konietzka 2002). Man kann feststellen, dass sich die Berufseinstiegschancen für Absolventen einer betrieblichen Berufsausbildung zwischen der Mitte der 1970er und der Mitte der 1990er Jahre, wenn nicht gravierend, so doch erkennbar verschlechtert haben (Tabelle 3). Dabei ist jedoch ein differenzierter Blick auf das Übergangsgeschehen angebracht. Eine Tendenz weniger glatter Übergänge betrifft stärker die Männer als die Frauen, was vor allem auf eine Zunahme von Betriebswechseln und Arbeitslosigkeit beim Berufseinstieg zurückzuführen ist. Männer hatten in den 1970er Jahren noch deutlich bessere Chancen als Frauen, eine Beschäftigung im
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erlernten Beruf und im Ausbildungsbetrieb zu finden. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede haben im Kohortenvergleich abgenommen. Tabelle 3: Übergangsmuster an der zweiten Schwelle im Vergleich zwischen 1976/77 und 1994/95 (in Prozent)
Männer 1976-77 1994-95 Frauen 1976-77 1994-95
Berufswechsel
Betriebswechsel, Berufswechsel
Arbeitslos, Betriebswechsel, Berufswechsel
Kein Wechsel
Betriebswechsel
Arbeitslos, Betriebswechsel
69,6 57,0
9,6 7,9
1,1 4,2
8,3 9,1
9,2 12,1
2,2 9,8
64,3 57,9
13,4 14,5
3,1 5,2
6,8 5,9
10,2 9,9
2,1 6,6
Quelle Konietzka (2002: 656), eigene Berechnungen mit der IAB-Beschäftigungsstichprobe
Eine wichtige Frage ist zudem, inwieweit mit betrieblicher und beruflicher Mobilität an der zweiten Schwelle ein berufliches Abstiegsrisiko einhergeht. Hier zeigt sich erwartungsgemäß, dass zumindest im Facharbeitersegment die größten Chancen, eine adäquate Stellung zu erreichen, bei einer Weiterbeschäftigung im Ausbildungsbetrieb und im erlernten Beruf gegeben sind (Konietzka 2002, 2003). Große Unterschiede in den Übergangsmustern in den Beruf bestehen zudem zwischen den einzelnen Ausbildungsberufen. Es ist nicht nur eine große Vielfalt der Übergangsmuster aus dem dualen System, sondern auch eine auf der berufsspezifischen Ebene deutlich ausgeprägte ungleiche Verteilung der Chancen und Risiken festzustellen, den Übergang in den Beruf erfolgreich zu bewältigen. Im Bereich der Ausbildungsberufe stellen zum Beispiel die Ausbildungen für Bankkaufleute und Handelskaufleute zwei geradezu gegensätzliche Fälle dar. Für diese beiden Berufsgruppen sind völlig verschiedene empirische Berufseinstiegsmuster charakteristisch. So ist der Erwerbseinstieg für Absolventen einer Banklehre in den 1970er Jahren genauso wie in den 1990er Jahren hochgradig standardisiert und weitgehend bruchlos verlaufen. Sowohl der Wechsel des Berufs als auch Arbeitslosigkeit ist in ihrem Fall ein ausgesprochen seltenes Ereignis geblieben. Demgegenüber waren die Chancen der Handelskaufleute, im Ausbildungsberuf und im ausbildenden Betrieb zu bleiben, deutlicher geringer. In den 1980er und 1990er Jahren haben zum Beispiel jeweils knapp 30 Prozent der Männer und Frauen nach der Ausbildung sowohl den Betrieb als auch den Beruf gewechselt. Man kann generell feststellen, dass die Übergangschancen in den Arbeitsmarkt trotz relevanter Kohorten- und Geschlechtsunterschiede besonders deutlich und anhaltend durch Unterschiede zwischen den Ausbildungsberufen geprägt worden sind. Die berufsspezifischen Unterschiede der Bewältigung der zweiten Schwelle
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können nicht auf Faktoren wie Betriebsmerkmale oder die schulische Vorbildung des Auszubildenden zurückgeführt werden (vgl. Konietzka 2002). Auf der Basis von Analysen der Mobilitätsmuster an der zweiten Schwelle lässt sich somit vor allem der Schluss ziehen, dass die ausgeprägte berufsspezifische Differenzierung des Ausbildungssystems in Deutschland in erheblichem Maß in eine Ungleichheit der Übergangschancen in den Arbeitsmarkt mündet. Es gibt keine Hinweise darauf, dass diese Unterschiede zwischen den Berufen im Lauf der letzten Jahrzehnte an Relevanz für die Ausgestaltung des Übergangsprozesses an der zweiten Schwelle sich verloren haben. Vor diesem Hintergrund wird wiederum deutlich, dass die an der ersten Schwelle erfolgten berufsspezifischen Sortierungen in starkem Maß vorentscheidend sind für den Übergangsprozess in den Arbeitsmarkt. Abschließend ist auf die Grenzen von Analysen der hier vorgestellten Art zu verweisen. Die präsentierten Befunde können nicht beanspruchen, die Frage nach den zugrunde liegenden Selektionsmechanismen im dualen Ausbildungssystem abschließend zu beantworten. Der Befund großer berufsspezifischer Ungleichheit in den Übergangsmustern und den Chancen eines nahtlosen Berufseinstiegs ist mit unterschiedlichen theoretischen Erklärungsansätzen vereinbar. Individuen haben unterschiedliche Eignungen und Fähigkeiten, sie sind durch das elterliche soziale Milieu beeinflusst, sie entwickeln in der Regel bereits vor der Ausbildung unterschiedliche Berufswünsche und sie sind auch mit regionalen Unterschieden des Ausbildungsmarkts und der betrieblichen Nachfragestruktur konfrontiert. Es bedürfte expliziter Analysen der kausalen Faktoren, die die empirisch zu beobachtenden relativ stabilen Ergebnisse von Berufswahlentscheidungen und Zuweisungsprozessen herbeiführen. Es ist jedoch bei dem gegebenen Stand der Forschung zu Berufseinstiegsprozessen und der Art der zugänglichen Daten kaum möglich, das Ausmaß fremd- und selbstbestimmter Anteile bei den Sortierungsprozessen bei den unterschiedlichen und sequenziellen Bildungsübergängen analytisch zu trennen. Dessen ungeachtet liegen die sozial ungleichen ‚outcomes‘ dieser Bildungsentscheidungen sehr deutlich zutage. 6.
Schlussfolgerungen und Ausblick
In diesem Beitrag wurde die Frage bearbeitet, in welchem Maß das berufliche Bildungssystem soziale Ungleichheiten reproduziert oder verstärkt und welche Mechanismen dafür verantwortlich sind. Im Mittelpunkt standen Ungleichheiten insbesondere von Ausbildungschancen, Berufseinstiegschancen und Karrierechancen. Nicht untersucht wurde die Frage intergenerationaler Ungleichheiten sowie die übergeordnete Frage, welche Konsequenzen das deutsche dreigliedrige Bildungssystem mit seiner strikten Differenzierung der Sekundarstufe II und der Trennung von Sekundar- und tertiärer Bildung für die Strukturierung sozialer Ungleichheit hat. Die Analyse richtete sich schwerpunktmäßig auf die Ebene der institutionellen Strukturen des beruflichen Bildungssystems und ihrer Implikationen für die Zuweisung von Lebenschancen. Im Folgenden sollen die zentralen
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Ergebnisse der bisherigen Argumentation gebündelt und weiterführende Aspekte diskutiert werden. Im Gesamtkontext des deutschen Bildungssystems hat das berufliche Bildungssystem, und hier insbesondere das duale System, eine entscheidende Funktion im Hinblick auf die Verteilung von Lebenschancen. Seine Stärke wird gemeinhin darin gesehen, einen relativ ‚sicheren‘ Weg in den Bereich qualifizierter Erwerbsarbeit zu ebnen für eine große Mehrheit von Schulabgängern, die der nichtakademischen Laufbahn der Sekundarstufe zuzurechnen sind. Es besteht eine breite Übereinstimmung dahingehend, dass es diese Aufgabe insbesondere in den Nachkriegsjahrzehnten erfolgreich erfüllt hat. Das duale System hat vor allem in den handwerklichen und industriellen Berufen anerkanntermaßen den Einstieg in den Gesellen- bzw. Facharbeiterstatus sowie anschließend Aufstiege über Fortbildungsberufe (Meister- und Fachschulfortbildungen) bis in den mittleren Managementbereich ermöglicht (Fischer 1993; Mayer 1996). Vor allem männliche (deutsche) Volksschüler haben von diesem institutionellen Arrangement profitiert. Das duale Bildungssystem hat aber nicht zuletzt deshalb über eine lange Zeit eine so zentrale Rolle bei der sozialen Inklusion gespielt, weil das dreigliedrige Schulsystem und das gering ausgebaute und schwer zugängliche Hochschulsystem kaum alternative Ausbildungs- und Karrierewege für (männliche) Jugendliche mit sozialer Herkunft aus Arbeiterfamilien geboten haben. Die heutige Situation des beruflichen Bildungssystems ist weitaus komplizierter. Das Angebot an Lehrstellen ist einerseits durch höhere Anforderungen geprägt. Andererseits haben erhöhte Bildungsaspirationen und verbesserte Zugangschancen zu den weiterführenden Schulen die Bildungsunterschiede von Schulabgängern vergrößert. Die Dynamik der Bildungsaspirationen ist dabei nicht zuletzt von der Antizipation einer Verbesserung der eigenen Chancen auf dem beruflich stark differenzierten Ausbildungsmarkt durch den Besuch und Abschluss einer weiterführenden allgemein bildenden Schule vorangetrieben worden. Die damit beschriebene Bildungsspirale hat einer Form von Meritokratie Vorschub geleistet, die den Leistungen im schulischen Sekundarbereich eine größere Bedeutung für den Zugang zum dualen System bzw. den einzelnen Berufen und Segmenten innerhalb dieses Systems zuweist. Nichtsdestotrotz ist die duale Berufsausbildung ein zentrales Scharnier der ‚Ungleichheitsproduktion‘ geblieben. Dabei ist nicht so sehr bemerkenswert, dass bei Filterungsprozessen durch die ausbildenden Betriebe allgemein bildende Schulabschlüsse eine starke Orientierungsfunktion ausüben. Schulische Zertifikate stellen aus der Sicht der Betriebe verlässliche Signale für die Auswahl von Kandidaten für die Berufsausbildung dar. Im Kontext des deutschen Berufsbildungssystems sticht vielmehr ein lebenszeitlich sehr früher Zeitpunkt dieser Sichtungsprozesse (im Vergleich zu schulischen Ausbildungssystemen) im Zusammenspiel mit der tendenziell langfristigen Weichenstellung einer Ausbildung für einen bestimmten Beruf (im Rahmen eines berufsfachlich strukturierten Arbeitsmarkts) hervor. Dies bedeutet, dass in Folge der Bildungsexpansion
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auch die Vorentscheidung über berufliche Selektionsprozesse in der Tendenz an den Übergang zur Sekundarstufe vorverschoben wurde. Betriebe selektieren anschließend die Schulabgänger für die Ausbildung in bestimmten Berufen, und mit der Berufszuweisung an der ersten Schwelle wird in der Regel bereits der langfristige Mobilitätshorizont einer Person abgesteckt. Mit den Ausbildungsberufen variieren wiederum die zu erwartenden Übergangschancen an der so genannten zweiten Schwelle, d h. die Chancen, vom Betrieb übernommen zu werden, die Risiken arbeitslos zu werden, die Chancen, den erlernten Beruf ausüben zu können und die Chancen auf eine adäquate berufliche Stellung. In diesem Beitrag habe ich insgesamt die strukturellen Faktoren, insbesondere die im internationalen Vergleich spezifischen Rahmenbedingungen des Ausbildungs- und Berufszugangs junger Menschen und deren Bedeutung für die Ausprägung sozialer Ungleichheiten der Ausbildungs- und Berufschancen, betont. Die berufsspezifische Abschottung von Arbeitsmarkt- und Ausbildungssegmenten und die betrieblichen Selektionspraktiken an der so genannten ersten Schwelle sind als Faktoren der Produktion von Unterschieden in den Chancen und Risiken des Berufseinstiegs zwischen Ausbildungsberufen besonders hervorgehoben worden. Für die zukünftige Forschung wird es bedeutsam sein, die Selektionsprozesse näher zu identifizieren, die den Zugang zu betrieblichen Ausbildungsplätzen in verschiedenen Berufen sowie die Übernahme durch den Betrieb nach der Ausbildung steuern. Präferenzen auf der Ebene der Berufswünsche, schulisches und herkunftsbedingtes Kapital, daran angeschlossene Bewertungs- und Screeningprozesse durch Betriebe, Diskriminierungspraktiken nach Nationalität (oder Geschlecht) sind prima facie Faktoren, die Ungleichheiten im Zugang zu Ausbildungsberufen produzieren. Diese operieren allerdings zugleich in einem institutionellen Rahmen, dessen Parameter wesentlich durch das duale System und dessen Steuerungsmechanismen bestimmt werden.
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Weshalb gibt es so wenige Arbeiterkinder in Deutschlands Universitäten? Walter Müller und Reinhard Pollak
1.
Einleitung
Ähnlich wie in anderen hoch entwickelten Gesellschaften hat die Beteiligung an Tertiärbildung in Deutschland über die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts beträchtlich zugenommen. Für die Zukunft kann ein weiteres Anwachsen erwartet werden. Wenngleich akademische Abschlüsse damit ihre soziale Exklusivität und viel von dem damit verbundenen sozialen Prestige verloren haben, bleiben sie nach wie vor der bedeutungsvollste Schritt im Bildungssystem auf dem Weg zu vorteilhaften Erwerbspositionen und zu höheren Einkommen. Nach Untersuchungen für zahlreiche Länder ist Hochschulbildung überall der Bereich des Bildungssystems, der im Vergleich zu anderen Bildungsgängen den Absolventen und Absolventinnen den entscheidenden Vorsprung für die beruflichen und sozialen Chancen im weiteren Lebensverlauf verschafft (Müller und Shavit 1998; Butz 2001; Müller und Gangl 2003; Kogan und Müller 2003). Bei den Chancen einen solchen Abschluss zu erreichen, bestehen aber in allen Ländern massive Ungleichheiten zwischen Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft. Für die Analyse von Bildungsungleichheit ist es deshalb von besonderem Interesse, wie sich im Prozess der Bildungsexpansion Ungleichheiten der sozialen Herkunft bezüglich der Tertiärbildung entfaltet haben. Für die Erklärung und für das Verständnis sozial ungleicher Bildungspartizipation und ungleicher Bildungsergebnisse hat sich Boudons (1974) Unterscheidung von primären und sekundären Herkunftseffekten als sehr tragfähig erwiesen. Als Folge unterschiedlicher kultureller, sozialer und ökonomischer Bedingungen für die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten und unterschiedlicher Unterstützung und Förderung in den Familien, in denen Kinder aufwachsen, werden Kinder unterschiedlicher sozialer Herkunft den jeweiligen schulischen Leistungsanforderungen unterschiedlich gut gerecht und sind unterschiedlich erfolgreich (primäre Effekte). Aber wahrscheinlich noch wichtiger ist, dass sich Kinder unterschiedlicher sozialer Herkunft selbst bei gleichen Leistungen oder gleicher Leistungsfähigkeit auch darin unterscheiden, ob sie die Ausbildung auf einer gegebenen Bildungsstufe beenden oder auf einer weiterführenden, anspruchsvolleren Stufe fortsetzen (sekundäre Effekte). Das Zusammenspiel dieser beiden Typen von Herkunftseinflüssen führt zu einer von Bildungsstufe zu Bildungsstufe sozial zunehmend selektiveren Zusammensetzung der Schüler- und Studierendenpopulationen (vgl. im Einzelnen dazu Erikson und Jonsson 1996 und Becker in diesem Band).
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Müller und Pollak
Methodisch wird diesen theoretischen Vorstellungen der Vorschlag von Mare (1980) am besten gerecht, das Bildungsgeschehen als einen Prozess sukzessiver Bildungsetappen zu analysieren. Damit können die Art und die Folgen des Zusammenwirkens primärer und sekundärer Effekte im Prinzip von Bildungsetappe zu Bildungsetappe abgebildet werden. Für den Zugang zu einem Hochschulstudium ist in Deutschland der Erwerb des Abiturs die zentrale Voraussetzung. Wie soziale Klassenzugehörigkeit oder andere Charakteristika sozialer Herkunft den Erwerb eines Hochschulstudiums beeinflussen und sich in ihrer Wirkung möglicherweise im Verlauf der historischen Zeit verändern, kann man deshalb stark vereinfacht als von zwei Prozessen abhängig sehen: zum einen von der sozialen Selektivität bis zum Abitur, zum anderen von der sozialen Selektivität beim Eintritt und beim Erfolg in den verschiedenen Bildungsalternativen nach dem Abitur. Aufgrund plausibler Argumente, auf die vor allem Mare (1981) und international vergleichend Shavit und Blossfeld (1993) hingewiesen haben, kann man erwarten, dass der Abbau von sozialer Selektivität in den unteren Stufen des Bildungswesens durch zunehmende Selektivität in den höheren Stufen zumindest teilweise kompensiert wird. Je universeller Bildung im Primar- und Sekundarbereich wird, umso wahrscheinlicher ist es, dass Ungleichheit produzierende Mechanismen verstärkt im Tertiärbereich zum Zuge kommen. Wenn Veränderungen der sozialen Ungleichheit in Bezug auf Tertiärbildung aufgedeckt werden sollen, müssen Veränderungen auf dem Weg zum Abitur zusammen mit der sozialen Selektivität der Bildungsbeteiligung nach dem Abitur und möglichem Wandel dabei analysiert werden. Für Deutschland gibt es inzwischen eine ganze Reihe von Untersuchungen zu den Wirkungen der sozialen Herkunft in der Sekundarbildung. Zwar gibt es aus den Erhebungen des deutschen Studentenwerkes und des Hochschulinformationssystems auch regelmäßig veröffentlichte Befunde zur sozialen Zusammensetzung der Abiturienten oder Studierenden. Diese Untersuchungen haben jedoch ein grundlegendes Selektivitätsproblem: Da sie auf Daten von Abiturienten, Studienanfängern und Studierenden basieren, sind in ihnen Personen nicht enthalten, die kein Abitur machen oder nicht an einer Hochschule immatrikuliert sind. Selbst wenn man die soziale Herkunft der Studierenden kennt, lässt sich die soziale Selektivität nicht angemessen analysieren, weil die soziale Herkunft der Nichtstudierenden unbekannt ist und sich allenfalls durch Annahmen mit einem hohen Unsicherheitsgrad schätzen lässt. Das Hauptinteresse dieses Beitrages liegt bei der Entwicklung des Bildungsgeschehens nach dem Abitur. Wir untersuchen, wie sich die Einflüsse der sozialen Herkunft bei der Wahl unterschiedlicher Bildungsalternativen nach dem Abitur entwickelt haben. Um dem Selektivitätsproblem zumindest in einer deskriptiven Annäherung gerecht zu werden, wird ein kurzer Abschnitt auch einige zentrale Befunde über die langfristige Entwicklung der sozialen Selektivität auf dem Weg zum Abitur beleuchten.
Arbeiterkinder in Deutschlands Universitäten
2.
305
Die deutsche Situation: niedrige Hochschulquote und hohe soziale Ungleichheit
Im Vergleich zu anderen Ländern und gemessen an seinem wirtschaftlichen Entwicklungsstand hat Deutschland eine ausgesprochen niedrige Quote von Studierenden und von Hochschulabsolventen. Diese Quoten haben seit den 1980er Jahren in Deutschland langsamer als in zahlreichen anderen europäischen Ländern zugenommen (Müller 1999; Müller und Wolbers 2003; OECD 2003). Gleichzeitig ist Deutschland durch ein besonders hohes Maß an Bildungsungleichheit zwischen Kindern verschiedener sozialer Herkunft gekennzeichnet. Mit unterschiedlichen Daten und methodischen Verfahren haben verschiedene vergleichende Studien für Deutschland stark ausgeprägte Klassenunterschiede bei der Bildungsbeteiligung und beim erreichten Bildungsgrad schon länger übereinstimmend festgestellt (Müller und Karle 1993; Jonsson et al. 1996). Ergebnisse, nach denen die Ungleichheit in den vergangenen Jahrzehnten zurückgegangen ist (Müller und Haun 1994; Henz und Maas 1995; Schimpl-Neimanns 2000), müssen keinen Widerspruch dazu darstellen. Der Abbau von Bildungsungleichheit hat nicht ausgereicht, um die diesbezügliche Diskrepanz zu anderen Ländern einzuebnen. In mehreren anderen Ländern hat die Bildungsungleichheit zudem ebenfalls abgenommen. Zur Erklärung der beiden Besonderheiten Deutschlands, der niedrigen Hochschulquote sowie der großen sozialen Ungleichheit beim Erwerb von Hochschulbildung, helfen – in Boudons Terminologie – eher die sekundären als die primären Effekte weiter. Hinsichtlich der primären Effekte gibt es in der Tat wenig Grund zu der Annahme, dass individuelle Fähigkeiten (wie z.B. kognitive Begabung oder andere Faktoren des schulischen Leistungsvermögens) an sich in Deutschland den Erfolg in der Schule in anderer Weise beeinflussen als in anderen Ländern. Auch ist kaum zu erwarten, dass die Verteilung dieser Fähigkeiten nach den sozialen Klassen sich in Deutschland wesentlich von der entsprechenden Verteilung in anderen Ländern unterscheidet oder dass Eltern ihre Kinder weniger fördern als in anderen Ländern.1 Für das allgemeine Verständnis des Zustandekommens der sekundären Effekte haben sich in der neueren Literatur handlungstheoretische Modelle der rationalen Wahl bewährt, die von verschiedenen Autoren in weitgehend übereinstimmender Weise formuliert wurden (Goldthorpe 1996; Breen und Goldthorpe 1997; Esser 1999). Die entsprechenden Modelle enthalten in der Regel die üblichen drei Komponenten von Modellen rationaler Wahlentscheidungen: die von den Bildungsaspiranten mit bestimmten Bildungsalternativen verbundenen Kosten- und Nutzenerwartungen, gewichtet mit der subjektiven Einschätzung der Erfolgswahrschein1
Oder es ist kaum zu erwarten, dass (in noch komplexerer Weise) die nach sozialen Klassen variierende Verteilung der kognitiven Fähigkeiten durch die Gestaltung der allgemeinen Lernbedingungen oder des Schulalltages in Deutschland in anderer Weise ausgeschöpft wird als in anderen Ländern, von den Folgen des dreigliedrigen Schulsystems einmal abgesehen (dazu siehe weiter unten).
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Müller und Pollak
lichkeit, d h. ob der entsprechende Bildungsgang auch erfolgreich bewältigt werden kann und dann die damit verbundenen Nutzenerwartungen eintreten. Bei der Einschätzung aller drei Elemente spielen die sozialen Herkunftsbedingungen eine entscheidende Rolle. Die mit einem bestimmten Bildungsgang verbundenen Kosten mögen sich für verschiedene soziale Gruppen faktisch zwar nicht unterscheiden, aber es fällt weniger bemittelten Gruppen schwerer, die Kosten zu tragen. Sie haben typischerweise auch einen kürzeren Zeithorizont, innerhalb dessen sich Bildungsinvestitionen auszahlen müssen (Hillmert und Jacob 2003). Sie haben ein niedrigeres finanzielles Polster und können weniger lang warten, bis sich die Bildungsaufwendungen und die während der Bildungsjahre entgangenen Einkommen durch die höheren späteren Erwerbseinkommen ausgleichen. Typischerweise schätzen statushöhere Gruppen auch den Nutzen von Bildung höher ein. Dies liegt nicht unwesentlich daran, dass Eltern primär danach trachten, für ihre Kinder wenigstens den eigenen Status zu sichern. Nach der zuerst von Keller und Zavalloni (1964) formulierten und in der sozialpsychologischen Forschung vielfach bestätigten Hypothese wird die Verhinderung eines Verlustes subjektiv als größerer Nutzen erfahren als ein entsprechender Gewinn – in unserem Fall der Gewinn des sozialen Aufstiegs, der in statusniedrigeren Herkunftsgruppen durch entsprechende Bildung erzielt werden kann. Schließlich sind in höheren sozialen Herkunftsgruppen typischerweise auch die Erfolgserwartungen höher, weil Kinder eher mit Unterstützung unterschiedlichster Art durch ihre Eltern und ihre soziale Umwelt rechnen können und weil sie – wie Erikson und Jonsson 1996 treffend bemerkten – auch durch die Erfahrungen ihrer Eltern wissen, dass man gar nicht besonders clever sein muss, um es an der Universität zu schaffen. Goldthorpe (2000) hat die Konstellation dieser Bedingungen zu zwei typischen Strategien der Investition in Bildung zusammengefasst: die Strategie (der Dienstklasse) von oben, für die alles dafür spricht, zur Sicherung des Statuserhaltes von vornherein auf die Karte hoher Bildung ihrer Kinder zu setzen, und die Strategie (der Arbeiterklasse) von unten, bei der die Logik der Situation die Wahl weniger anspruchsvoller, weniger kostspieliger und weniger riskanter, mittlerer Bildungspfade nahe legt, die aber dennoch den Zugang zu qualifizierten Erwerbspositionen ermöglichen und vor Abstieg in ungelernte Arbeit und Arbeitslosigkeit möglichst schützen. Alle diese Mechanismen steuern sehr wirksam das Verhalten der Menschen und sie sind nicht einfach zu verändern, weil sie letztlich auf vernünftigen Überlegungen der Menschen darüber basieren, was für sie in der gegebenen Situation, in der sie leben, am besten ist – also in Abhängigkeit von Ressourcen, über die sie verfügen und von Erwartungen über die Zukunft, die sie haben. Diese grundlegenden sozialen Mechanismen bei der Bildungswahl dürften in Deutschland ähnlich funktionieren wie in anderen Ländern. Deutschland hat auch keine besonders großen Ungleichheiten in den Familieneinkommen oder besonders hohe Armutsquoten, aufgrund deren man größere soziale Ungleichheiten bei
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der Bildungswahl als in anderen Ländern erwarten sollte.2 Das größte Potenzial zur Erklärung des hohen Grades sozialer Ungleichheit der Bildungsbeteiligung und der Bildungsergebnisse liegt vielmehr in der institutionellen Ausgestaltung des Bildungssystems und in den institutionellen Rahmenbedingungen des Bildungserwerbs, die die Wahlentscheidungen zwischen alternativen Bildungspfaden strukturieren. Diesbezüglich weist das deutsche Bildungssystem im Unterschied zu den Systemen vieler anderer Länder mehrere Elemente auf, die bis zur Ebene der Hochschulbildung zur Akkumulation besonders hoher Herkunftsungleichheiten führen. Die folgenden Elemente erscheinen besonders wichtig: 1. Die frühe Aufteilung von Kindern in verschiedene Bildungslaufbahnen. 2. Die spezifische Attraktivität berufsbezogener Bildung. 3. Die entscheidungsintensive Struktur des Bildungssystems. Ad 1: Die sehr frühe Aufteilung von Kindern in die nach den Bildungsinhalten und Leistungsanforderungen sich stark unterscheidenden Bildungsgänge des dreigliedrigen deutschen Schulsystems wirkt in mehrfacher Weise sozial selektiv und ungleichheitsverstärkend. Eine Entscheidung zwischen unterschiedlich anspruchsvollen Bildungsgängen wird (unabhängig von der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Kinder) umso mehr zum Nachteil von Kindern aus ‚bildungsferner’ sozialer Herkunft ausfallen, je früher sie in der Ausbildungslaufbahn des Kindes getroffen werden muss. Je jünger das Kind bei der Entscheidung ist, umso weniger ist vorhersehbar, wie gut es die Anforderungen der anspruchsvolleren Bildungswege (in Deutschland also des Gymnasiums bis hin zum Abitur) erfüllen kann. Je jünger es ist, umso höher werden auch die von den Eltern für einen längeren Bildungsgang zu antizipierenden (zusätzlichen) Bildungskosten sein. Beides, große Erfolgsunsicherheit und hohe antizipierte Bildungskosten, wird in ‚bildungsfernen’ Familien und Familien mit begrenzten Ressourcen stärker im Sinne einer weniger riskanten und weniger aufwändigen Bildungswahl ins Gewicht fallen als in ‚bildungsnahen’ und ressourcenreichen Familien. Der frühe Zeitpunkt der entscheidenden Weichenstellung verstärkt die ohnehin (in praktisch jedem System bestehende) Tendenz von Familien der Arbeiter- und anderer bildungsferner Klassen, weniger riskante und weniger anspruchsvolle Bildungsgänge zu wählen (in Deutschland also die Haupt- oder Realschule). Nach den Untersuchungen des BIJU-Projekts zur Wissens- und Fähigkeitsentwicklung führen nun die unterschiedlichen Lerninhalte, Leistungsansprüche und Lernbedingungen in den verschiedenen Bildungsgängen zu systematisch wachsenden Unterschieden in 2
Bei großen Ungleichheiten in der Einkommensverteilung sollten sich die einkommensärmeren Familien häufiger für die kostengünstigeren Bildungsalternativen entscheiden, da für sie in diesem Fall die Bildungskosten vergleichsweise schwerer aufzubringen sind als bei geringer Ungleichheit der Einkommensverteilung. Da Deutschland diesbezüglich eine mittlere Position einnimmt und auch die Bildungskosten selbst nicht besonders hoch sind, sind die großen herkunftsbedingten Bildungsungleichheiten kaum damit zu erklären.
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den Fähigkeiten und im Wissen der Schüler der verschiedenen Bildungsgänge, selbst wenn die Schüler dort mit gleichem Wissen und gleichen Fähigkeiten gestartet sind. Die PISA-Befunde von besonders großen herkunftsbedingten Kompetenzunterschieden unter den 15 Jahre alten deutschen Schülerinnen und Schülern sind zumindest zum Teil Folge dieses sich kumulierenden Prozesses einer frühen, dadurch stark nach sozialer Herkunft geschichteten Bildungswahl und einer dann in den Bildungsgängen auseinander driftenden Fähigkeitsentwicklung (Baumert und Schümer 2001). Zum Zeitpunkt, zu dem Kinder das Ende der allgemeinen Schulpflicht erreichen, verteilen sich also in Deutschland Kinder aus den verschiedenen Herkunftsklassen in hohem Grade ungleich auf die verschiedenen Bildungsgänge des dreigliedrigen Systems. Dabei haben Kinder in der Haupt- und Realschule wegen der dort niedrigeren Fähigkeitsentwicklung weniger gute Voraussetzungen erworben, den Weg zum Abitur doch noch zu schaffen, als wenn sie gleich ins Gymnasium eingetreten wären. Ad 2: Die starke berufsbildende Komponente des deutschen Bildungssystems verstärkt die herkunftsspezifischen Zugänge in die unterschiedlichen Schultypen und sie führt gewissermaßen zu einer Ablenkung von Arbeiterkindern vom Weg zum Abitur und in die Hochschulen. Die Berufsbildung ist in Deutschland eine Option, über die vergleichsweise sicher Abschlüsse erreicht werden können, die mit vergleichsweise niedrigen Kosten und niedrigen Arbeitslosigkeitsrisiken in qualifizierte Erwerbspositionen führen. Die Misserfolgsquoten sind wesentlich niedriger als bei der Hochschulbildung. Berufsausbildung verspricht also ein attraktives „Sicherheitsnetz“. Sie lenkt aber von den langfristig mehr Erfolg versprechenden Wegen des akademischen Lernens ab. Als eine relativ sichere und kostengünstige Möglichkeit des Statuserhalts wird diese Alternative vor allem für Familien in den Arbeiter- und mittleren Klassen attraktiv sein, kaum jedoch für die Dienstklassen. Die Aussicht, nach der Haupt- oder Realschule eine qualifizierende Berufsausbildung aufnehmen zu können, wird sowohl die Wahl des Schultyps am Ende der Grundschule beeinflussen als auch am Ende von Haupt- oder Realschule die Entscheidung, ob doch noch in einem zweiten Anlauf der Weg zum Abitur versucht wird oder ob durch berufliche Bildung der Eintritt in das Erwerbsleben vorbereitet wird. An den verschiedenen Entscheidungsstellen in der allgemeinen und beruflichen Ausbildungslaufbahn ergibt sich auf diese Weise sukzessive eine zunehmende Konzentration von Kindern der Dienstklassen in den Bildungsgängen, die zum Abitur und in die Hochschulbildung führen. Wie wir unten ausführlicher diskutieren, hat in den zurückliegenden Jahrzehnten die nichttertiäre berufsbildende Alternative selbst nach dem Abitur mit ähnlichen Effekten an Bedeutung gewonnen. Ad 3: Die komplexe institutionelle Struktur des deutschen allgemeinen und beruflichen Ausbildungssystems bringt eine große Zahl von Weichenstellungen mit sich, die wegen der starken Segmentierung der verschiedenen Bildungsgänge
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voneinander besonders konsequenzenreich sind. Das Durchlaufen dieses Systems impliziert eine größere Anzahl folgenreicher Entscheidungen als das Durchlaufen weniger differenzierter Systeme (z.B. der amerikanischen High School oder des schwedischen Bildungssystems, das die Schüler bis zum zehnten Schuljahr kaum differenziert und sie auch danach nur für einzelne Fächer unterschiedlichen Bildungsgängen zuweist). Es kann davon ausgegangen werden, dass bei jeder dieser Entscheidungen soziale Faktoren im Spiel sind. Je mehr solcher Entscheidungen zu treffen sind, umso größer werden die sozialen Unterschiede bei den im Endeffekt erzielten Bildungsabschlüssen sein. 3.
Institutionelle Optionen und Bildungswahl nach dem Abitur
Eine dem schulischen Bildungssystem vergleichbare Logik, die auf dem Weg zum Abitur eine hohe herkunftsspezifische (Selbst-) Selektion mit sich bringt, besteht im deutschen System auch bei den Bildungs- und Erwerbsentscheidungen nach dem Abitur. Abiturienten haben im Wesentlichen vier Optionen: Sie können sofort in das Erwerbsleben eintreten; sie können eine nichttertiäre berufliche Ausbildung aufnehmen oder sie können ein Studium in einer der beiden Einrichtungen der Tertiärbildung (Fachhochschule oder Universität) beginnen. Das deutsche System zeichnet sich dabei durch eine ausgeprägte Parallelität verschiedener, voneinander segmentierter Ausbildungslinien aus. Übergänge zwischen ihnen sind schwierig; sie erfolgen nur selten, und Ausbildungen in einer Lehre oder einer Fachhochschule können bislang nur sehr begrenzt in einem akademischen Studium verwertet werden. In anderen Ländern bestehen oft ebenfalls mehrere Optionen, aber insbesondere die nach Stufen gegliederten Tertiärbildungssysteme (etwa in Frankreich, England oder in den USA) weisen eine Struktur auf, in denen Übergänge von Stufe zu Stufe institutionell aufeinander abgestimmt sind und auch viel häufiger erfolgen. Mit den unterschiedlichen Optionen postsekundärer Bildung sind in Deutschland offensichtlich markante Unterschiede in den späteren Arbeitsmarktchancen verbunden, aber die Optionen unterscheiden sich auch erheblich in den Anforderungen, in den Kosten und in den Chancen, eine begonnene Ausbildung erfolgreich abzuschließen. Dieses stark segmentierte System postsekundärer Ausbildung weist eine ähnliche Ungleichheit generierende Anreizstruktur wie die Sekundarbildung auf. In den zurückliegenden Jahren sind eine ganze Reihe nichttertiärer berufsorientierter Ausbildungsalternativen nach dem Abitur entstanden. Vor allem hat das Absolvieren einer (in der Regel auf zwei Jahre verkürzten) beruflichen (Lehr-) Ausbildung an Bedeutung gewonnen. Damit kann eine auf dem deutschen Arbeitsmarkt anerkannte Qualifikation erworben werden. Die mit einem Lehrabschluss nach dem Abitur unmittelbar verbundenen Berufsperspektiven mögen sich nicht entscheidend von den Perspektiven eines gleichen Abschlusses ohne vorausgehendes Abitur unterscheiden. Das vorausgehende Abitur kann aber die Zugangschancen in versprechende Berufsausbildungen verbessern, wohl auch spätere
310
Müller und Pollak
berufliche Weiterentwicklung fördern und damit längerfristig ökonomisch vorteilhaft sein. Bekanntlich werden Lehren nach dem Abitur teilweise auch als Basisund Absicherungsausbildung absolviert, auf die man sich stützen kann, falls ein danach angestrebtes (riskanteres) Studium nicht gelingen sollte (Büchel und Helberger 1995). Bei der Wahl zwischen Studium und beruflicher Ausbildung nach dem Abitur gibt es einen ähnlichen Ablenkungsmechanismus, wie er oben beschrieben wurde. Hillmert und Jacob (2003) haben ihn theoretisch und durch Simulationsrechnungen instruktiv modelliert. Er besteht in sozial selektiv wirkenden Ausbildungsanreizen für Studienberechtigte. Nach Hillmerts und Jacobs Analysen lenken berufsbildende Alternativen vor allem Abiturienten vom Studium ab, die bei einer mittleren Erfolgserwartung eine geringe zeitliche Toleranz für die Kompensation der Ausbildungskosten haben, also vor allem für ein Studium hinreichend begabte Kinder aus ressourcenarmen Elternhäusern. Dagegen findet über den Weg einer dazwischen geschalteten beruflichen Ausbildung eine andere Gruppe von Personen später doch noch den Weg in ein Hochschulstudium, die ohne berufsbildende Alternative kein Studium aufnehmen würde. Hillmert und Jacob zeigen, dass es sich dabei primär um Personen handelt, die sich einen langen Zeithorizont für die Kompensation der Ausbildungskosten leisten (können), jedoch nach dem Abitur sehr geringe Erfolgserwartungen haben. Mit anderen Worten sind dies am ehesten Abiturienten an der unteren Grenze des Leistungsspektrums aus ressourcenreichen Elternhäusern.3 Das von Hillmert und Jacob für die Bildungsalternativen nach dem Abitur entwickelte Modell eignet sich durchaus auch zur Erklärung der sozial selektiven Präferenzen für allgemein bildende und berufsbildende Ausbildungsgänge auf dem Sekundarniveau und wahrscheinlich auch für die Wahl zwischen einer Fachhochschulausbildung oder einem akademischen Studium an einer Universität. Für diese Wahl ist bedeutsam, dass sich die Fachhochschulen seit ihrer Gründung in den Standards der Eintrittsbedingungen, den Leistungsanforderungen (in einzelnen Fächern) und im Ansehen der Ausbildung an die Universitäten angenähert haben. Die Universitätsabsolventen haben zwar bei den beruflichen Perspektiven im Durchschnitt weiterhin einen merklichen Vorsprung vor den Fachhochschulabsolventen, aber auch diese Unterschiede sind kleiner geworden (Müller et al. 2002). Bei der eher praxisbezogenen Orientierung, der höheren Strukturierung des Studiums, der kürzeren Ausbildungsdauer und den niedrigeren Drop-outRisiken (Heublein et al. 2003) sollten bei der Wahl zwischen Universität und Fachhochschule ähnliche sozial selektive Prozesse wirksam sein, wie wir sie schon zwischen beruflichen und allgemein bildenden Ausbildungsgängen im Se-
3
Diese Wirkung tritt unter der nicht unplausiblen Annahme ein, dass sich durch eine dazwischen geschaltete berufliche Ausbildung, die sich am ehesten Personen mit einem langen Zeithorizont leisten können, die Erwartungen für den Studienerfolg verbessern.
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kundarbereich oder nichttertiärer beruflicher Ausbildung und Studium diskutiert haben. Mit nichttertiären Berufsausbildungen und Fachhochschulstudium existieren also zwar weniger ertragreiche, aber auch weniger riskante und weniger aufwändige Alternativen zur Universität, die durch ihre spezifische Anreizstruktur selbst studienbegabte Abiturientinnen und Abiturienten aus der Arbeiterklasse von der Universität ablenken können. Es sind deshalb selbst nach dem Abitur ausgeprägte herkunftsbedingte Unterschiede in der weiteren Bildungsbeteiligung zu erwarten. Unseres Wissens nach hat es keinen direkten empirischen Test des Ablenkungsmechanismus’ gegeben, aber indirekte Belege zeigen, dass im Sekundarbereich in Ländern, in denen attraktive Varianten der Berufsausbildung existieren, ein größerer Anteil einer Kohorte berufliche Qualifikationen auf Kosten von allgemeiner Schulbildung wählt und dass die berufliche Option vor allem von Kindern aus Arbeiterfamilien gewählt wird (Müller und Wolbers 1999; Shavit und Müller 2000).4 Diese Länder tendieren auch zu insgesamt niedrigeren Hochschulabsolventenquoten. In Deutschland sollte dieses besonders ausgeprägt der Fall sein, weil die Bildung und Ausbildung in vielen semiprofessionellen Tätigkeiten im Bereich der Technik oder der Dienstleistungen, wie z.B. bei den verschiedenen Arten der Krankenpflege, nicht Teil des deutschen Tertiärbildungssystems sind. Stattdessen werden sie im dualen System angeboten oder in anderen berufsbildend ausgerichteten Schulen unterhalb des Tertiärniveaus. 4.
Zur Entwicklung der sozialen Selektivität in der höheren Bildung
Wenn damit eine Erklärungsskizze für die im internationalen Vergleich zugleich hohe soziale Ungleichheit und die begrenzte Expansion des Tertiärniveaus angedeutet ist, deren Mechanismen stabil in den institutionellen Arrangements des deutschen Bildungssystems verankert sind, so ist zugleich auf den mehrfach bestätigten empirischen Sachverhalt hinzuweisen, dass die soziale Ungleichheit in den erreichten Bildungsabschlüssen zwar nach wie vor hoch ist, diese jedoch in der Kohortenfolge kleiner geworden ist (Müller und Haun 1994; Henz und Maas 1995; Jonsson et al. 1996; Schimpl-Neimanns 2000).5 Dabei ist nach den Befunden von Müller und Haun (1994) die soziale Selektivität und Ungleichheit in den höheren Bildungsabschlüssen, z.B. der Abiturientenquote, vor allem eine Spätfolge davon, dass die soziale Selektivität bei der Wahl des Schultyps nach der Grundschule geringer geworden ist und nicht davon, dass die soziale Selektivität 4
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Im Fall Schweden hat sich gezeigt, dass die Einführung von Möglichkeiten der Berufsqualifikationen auf der Sekundarbildungsebene die Schüleranzahl in den allgemeinen Schulbahnen in sozial selektiver Weise verringert hat. Schülerinnen bzw. Schüler mit Eltern aus der Arbeiterklasse entschieden sich relativ gesehen häufiger für eine Berufsausbildung als Schülerinnen bzw. Schüler mit Eltern aus der Dienstklasse. Argumente und Ergebnisse, die anhaltende Ungleichheit darstellen, liefern Mayer et al. (1991), Meulemann (1992) und Blossfeld (1993).
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bei einem späteren Übertritt (von Realschule oder Hauptschule) auf das Gymnasium oder der sozial bedingte Drop-out aus dem Gymnasium kleiner geworden ist. Dieser Ungleichheitsabbau vollzog sich hauptsächlich bei den Kohorten, die die Schulwahl bis zu den frühen siebziger Jahren vollzogen haben. Danach haben die Übergangsquoten in die weiterführenden Schulen zwar weiterhin zugenommen, jedoch ohne weiteren deutlichen Abbau der sozialen Selektivität. Wenn die empirischen Belege dafür auch überzeugend sind, ist noch unklar, weshalb genau diese Entwicklung eingetreten ist. Im Hinblick auf die beschriebenen sozial selektiven Lenkungswirkungen des Berufsausbildungssystems erscheint jedoch der Umstand sehr bedeutsam, dass der Eintritt in aussichtsreiche Ausbildungsplätze im deutschen Berufsausbildungssystem zunehmend die mittlere Reife oder teilweise sogar das Abitur erfordert. Zur Sicherung des Zugangs zu bestimmten Lehrstellen ist es für Kinder aus der Arbeiterklasse und anderer unterer oder mittlerer Klassenlage als Strategie des Statuserhalts wichtiger geworden, auf die Realschule oder das Gymnasium zu gehen. Diese Strategie kann damit zur verstärkten Beteiligung von Kindern dieser Klassen an Realschulen und Gymnasien geführt und zu sinkender sozialer Ungleichheit bei dem ersten entscheidenden Übergang in der Schullaufbahn beigetragen haben. Allerdings können auch andere Faktoren daran beteiligt gewesen sein.6 Im Hinblick auf die Entwicklung der unterschiedlichen Ausbildungswege nach dem Abitur gibt es in der Forschung bislang noch keine schlüssigen Befunde. Wir wollen zunächst kurz Entwicklungen diskutieren, die zur Veränderung der sozialen Selektivität bei der Option zwischen nichttertiären beruflichen Bildungsgängen und einem Studium relevant erscheinen, danach bei der Option zwischen den beiden Typen des Studiums an Fachhochschulen und Universitäten. Von der fachlichen Ausrichtung abgesehen sind dieses die wichtigsten Alternativen, vor denen Abiturienten stehen. Die Alternative keiner weiteren Ausbildung ist eher eine heterogene Restgröße, für die es noch schwieriger wäre, konkrete Erwartungen zu formulieren. Bei der Wahl zwischen einer nichttertiären beruflichen Ausbildung und einem Studium erwarten wir, dass dabei in den letzten Jahrzehnten die soziale Selektivität aus zwei Gründen zugenommen hat. Zunächst ist wohl die subjektive KostenNutzen-Bilanz zugunsten eines Studiums geringer geworden. Nach der Phase der intensiven Bildungswerbung in den 1960er und frühen 1970er Jahren wurde die
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In diesem Zusammenhang weisen Müller und Haun (1994) vor allem auf zwei Elemente hin: (1) das in den Wirtschaftswunderjahren, während deren sich der Ungleichheitsabbau vor allem vollzog, allgemein verbesserte Wohlfahrtsniveau, das Bildungskosten auch für die Arbeiterklasse leichter aufbringen ließ; (2) die allgemeine Verlängerung der Schulpflicht (auch bei der Hauptschuloption), die den Unterschied zwischen den Bildungsgängen in der Wartezeit bis zum Erwerbseintritt (und der materiellen Unabhängigkeit von den Eltern) verringerte.
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Generosität der Stipendienprogramme zunehmend eingeschränkt.7 Dadurch hat sich gerade für die ökonomisch weniger vorteilhaft situierten Klassen die Kostenbelastung für ein Studium ihrer Kinder erhöht. Eine weitere Entwicklung, die im Sinne erhöhter Kosten verstanden werden kann, sind die mit der Einführung des Numerus clausus in verschiedenen Fachbereichen verbundene Verschärfung der Zugangsbedingungen, die Einführung von Wartezeiten auf Studienplätze oder die Notwendigkeit des Ausweichens auf oft wenig produktive Studienumwege.8 Die subjektive Nutzenbilanz eines Studiums dürfte vor allem in der Zeit etwa seit Ende der 1970er Jahre beeinträchtigt worden sein, als in der öffentlichen Debatte das Risiko der Arbeitslosigkeit unter Hochschulabsolventen und die bevorstehende Entwicklung eines akademischen Proletariats im Vordergrund stand.9 Diese Entwicklungen sollten primär bei denjenigen Gruppen zu einer relativ geringeren oder geringer werdenden Beteiligung am Studium führen, bei denen die Entscheidung dafür ohnehin prekär ist. Unabhängig von diesen Veränderungen in den relevanten Randbedingungen des Bildungsverhaltens ist das oft angeführte Argument zu bedenken, bei geringerer Selektivität auf dem Weg zum Abitur sei mit einer größeren Heterogenität unter den Abiturienten zu rechnen – vor allem unter den Herkunftsgruppen, bei denen die Auswahl weniger selektiv geworden ist (Mare 1981; Cameron und Heckman 1998). Dies wäre beispielsweise dann der Fall, wenn sich in dem vergrößerten Anteil von Arbeiterkindern, die das Abitur erreichen, vermehrt Abiturienten mit geringerer Studierneignung oder Erfolgserwartung finden würden. Es gibt jedoch keine empirischen Hinweise, die in diese Richtung weisen.10 Das Heterogenitätsargument ist aber in einem anderen Sinne plausibel. Wenn beim Erwerb des Abiturs die Unterschiede nach sozialer Herkunft auch oder überwiegend deshalb geringer geworden sind, weil ein größerer Anteil von Schülern aus unteren sozialen Schichten sich auf den Weg zum Abitur macht, um Zugangschancen zu 7
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Vgl. Heine (2002: 156), nach dem die beim BAföG für die Studierenden anerkannten Bedarfssätze zunehmend hinter der Entwicklung der Lebenshaltungskosten und die für die Familie anerkannten Freibeträge hinter der Nettoeinkommensentwicklung zurückbleiben. Ein mögliches Gegenargument zu den gestiegenen Kosten ist der allgemeine Zuwachs an Wohlstand in den betreffenden Jahren, der die relativen Bildungskosten für Kinder aus unteren und mittleren Klassenlagen mindert. Wenn sich im Vergleich zu den Wirtschaftswunderjahren die Arbeitsmarktperspektiven von Akademikern insbesondere bei einigen sichtbaren Gruppen (z.B. von Lehrern) in der Tat verschlechtert hatten, so war die öffentliche Debatte teilweise dennoch durch massive Übertreibungen geprägt und hat oft nicht zur Kenntnis genommen, dass Hochschulabsolventen im Vergleich zu anderen Gruppen faktisch weiterhin die besten Arbeitsmarktchancen besaßen und besitzen. Nach den Erhebungen der Hochschul-Informations-System GmbH (HIS) haben sich zwar im Vergleich zu Abiturienten aus Akademikerfamilien die Abiturdurchschnittsnoten von Abiturienten von Eltern mit höchstens Hauptschulabschluss seit 1976 minimal verschlechtert, aber keineswegs in einer Weise, aus der eine verringerte Eignung zum Studium abgeleitet werden könnte (Heine 2002: 20).
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beruflichen (Lehr-)Ausbildungen zu verbessern, dann ist die Gruppe der Abiturienten der Arbeiterklasse im Hinblick auf die Studienmotivation heterogener geworden und es ist dann in der Tat mit mehr Ungleichheit bei der Ausbildungswahl nach dem Abitur zu rechnen. Verstärkte herkunftsbezogene Ungleichheit in der Ausbildungswahl nach dem Abitur resultiert dann gewissermaßen als Kehrseite verringerter Ungleichheit beim Erwerb des Abiturs. Eine solche Entwicklung kann im deutschen Fall durchaus erwartet werden. Die in den beiden vorausgehenden Abschnitten angeführten Punkte lassen also zunehmende Unterschiede zwischen Herkunftsgruppen in der Wahl zwischen Studium und nichttertiärer Berufsausbildung erwarten. Bei der Entscheidung zwischen Fachhochschule und Universität sind Entwicklungen, die zu einer veränderten Herkunftsselektivität führen könnten, weniger eindeutig. Die Tatsache, dass der akademische Standard an den Fachhochschulen gestiegen ist, ihre Reputation zugenommen hat und die zu erwartenden Löhne auf dem Arbeitsmarkt angewachsen sind, könnte das Nutzendifferenzial zwischen beiden Einrichtungen auch bei den höheren sozialen Klassen verringert und damit zur Abnahme des sozialen Gefälles bei der Wahl zwischen Fachhochschule und Universität geführt haben. Auf der anderen Seite sollten einige der beschriebenen, eher generellen Entwicklungen (die Verringerung der Großzügigkeit bei der Ausbildungsförderung, die verlängerten Studiendauern und die vermehrt skeptische Wahrnehmung der Arbeitsmarkterträge von Universitätsstudierenden), die Neigung und die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder aus der Arbeiterklasse die Universität besuchen, verringern. Das sollte das Klassengefälle bei der Wahl zwischen Fachhochschule und Universität vergrößern. Da die beiden Prozesse in die entgegengesetzte Richtung weisen, können sie sich gegenseitig kompensieren. Das Klassendifferenzial sollte dann weitgehend unverändert bleiben. Zusammengefasst erwarten wir also, dass auch neuere Daten die Verringerung der sozialen Ungleichheit auf dem Weg zum Abitur bestätigen. Bei der weiteren Ausbildungswahl nach dem Abitur und bei den in den verschiedenen Bildungsoptionen erreichten Abschlüssen sind ausgeprägte Unterschiede nach Klassen- und Bildungshintergrund der Abiturienten zu erwarten. Einzelne, jedoch nicht immer bestätigte Befunde in dieser Richtung kann man schon in vorliegenden Untersuchungen finden.11 Die bisherigen Studien basieren aber teilweise auf kleinen Stichproben oder differenzieren nicht hinreichend zwischen den unterschiedlichen 11
Müller und Haun (1994) finden unter den Abiturienten im Grenzbereich signifikante Unterschiede nach Herkunftsklassenzugehörigkeit im erfolgreichen Erwerb eines Hochschulabschlusses, jedoch keinen Einfluss der Bildung der Eltern. Blossfeld (1993) dagegen berichtet vernachlässigbare und nicht signifikante Effekte der sozialen Herkunft (Beruf des Vaters) auf einen erfolgreichen Hochschulabschluss, für Frauen jedoch einen stabilen Einfluss der Bildung des Vaters. Nach Tabellen des deutschen Studentenwerkes und der HIS ist der Anteil von Arbeiterkindern und Studierenden, deren Eltern einen niedrigeren Bildungsabschluss haben, an Fachhochschulen höher als an Universitäten.
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Bildungsoptionen nach dem Abitur. Schließlich erwarten wir, dass im Zeitverlauf die Ungleichheit im Ausbildungsverhalten nach dem Abitur größer geworden ist, vor allem, weil Arbeiterkinder sich relativ häufiger einer beruflichen nichttertiären Ausbildung zuwenden und seltener studieren. In der folgenden Analyse prüfen wir diese Erwartungen in einem einen langen Zeitraum abdeckenden Vergleich. Dabei ist vor allem das Zusammenspiel der Entwicklung von Ungleichheiten im Sekundarbereich und in den postsekundären Bildungsetappen von Interesse. Kompensiert die erwartete Gegenbewegung die Ungleichheitsabnahme bis zum Abitur oder bleibt alles in allem beim Erwerb tertiärer Bildung noch ein Gewinn an Chancenegalisierung? Um dies beurteilen zu können, verwenden wir eine einheitliche Datenbasis, die uns Analysen für die gesamte Bevölkerung und fokussiert auf die Abiturienten, ermöglicht. Darüber hinaus erlaubt sie die Ungleichheitsentwicklung insgesamt sowie gezielt die Bildungsetappe nach dem Abitur in den Blick zu nehmen. 5.
Soziale Ungleichheit bei Abiturienten und Hochschulabsolventen und ihre Entwicklung
Unsere Ergebnisse basieren auf einer Datenbasis, in der vier verschiedene Datenquellen kumuliert sind: 1) Die deutsche allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) 1980-2000, 2) die ZUMA-Standarddemografie 1976-1982, 3) das deutsche Sozioökonomische Panel (GSOEP) 1986, 1999 und 200012 und 4) die westdeutsche Lebenslaufstudie (Brückner 1990)13. Zusammengefügt umfasst der Datensatz 65.797 Fälle und ermöglicht mit dieser großen Stichprobe, die auch Informationen über die soziale Herkunft der untersuchten Personen enthält, eine Analyse der Entwicklung der herkunftsbedingten Abhängigkeit des Bildungserwerbs für die Bürger Westdeutschlands, die einen großen Teil des 20. Jahrhunderts umfasst. Die Beobachtungen reichen bis zu den Geburtsjahrgängen 1910 zurück. Abhängige Variable der Analysen ist jeweils das Erreichen bestimmter Bildungsabschlüsse. Als unabhängige Variable werden zwei Maße von sozialer Herkunft verwendet. Mit einer 8-Klassen-Version des Klassenschemas von Goldthorpe (2000) messen wir die soziale Klassenzugehörigkeit des Vaters der Befragten. Als groben Indikator für die kulturellen Herkunftsbedingungen benutzen wir für die Bildung des Vaters eine Dummy-Variable, bei der ein Bildungsabschluss auf
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Vom GSOEP wurden die Samples A+B für 1986, Sample E für 1999 und eine vorläufige Version des Samples F für 2000/2001 verwendet. Aus verschiedenen Gründen haben wir uns gegen eine Gewichtung entschieden. Die Datensätze aus dem Projekt „Lebensverläufe und gesellschaftlicher Wandel“ umfassen insgesamt die Geburtskohorten 1919-21, 1929-31, 1939-41, 1949-51, 1954-56 und 1959-61.
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mindestens Abiturniveau mit „1“ codiert ist.14 Bedauerlicherweise fehlen in manchen Erhebungen die Informationen über die Bildung des Vaters. Um die betreffenden Fälle für die anderen Variablen in der Analyse zu behalten, benutzen wir eine entsprechende Variable für fehlende Werte (missing value). Veränderungen über die Zeit untersuchen wir durch den Vergleich von Geburtskohorten. Dabei bilden die Geburtsjahrgänge 1910-1927 die Erfahrungen der Kohorten ab, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg die Übergangsentscheidung nach dem vierten Schuljahr zu treffen hatten; für die Kohorten 1928-1937 erfolgte diese Entscheidung überwiegend während des Zweiten Weltkrieges oder in der schwierigen Situation unmittelbar danach; bei den nachfolgenden Zehnjahreskohorten fiel sie in die Zeit des zunehmenden ökonomischen Wohlstandes und der wachsenden Bildungsexpansion; für die Geburtsjahrgänge 1968-1978 schließlich bereits in die Zeit, in der sich die Chancen des Übergangs der Hochschulabsolventen in den Arbeitsmarkt im Vergleich zu den vorausgehenden Jahrzehnten verschlechterten (insbesondere bei den Absolventen von Lehramtsstudiengängen). Tabelle 1: Bildungsabschlüsse nach Geburtskohorten* Männer
weniger als Abitur 1910-1927 1928-1937 1938-1947 1948-1957 1958-1972
82,4 82,6 75,6 67,8 64,9
Abitur ohne Hochschulabschluss 6,1 3,9 4,5 9,7 13,1
Frauen
Hochschulabschluss
weniger als Abitur
11,4 13,5 19,8 22,5 22,0
92,0 91,5 87,8 80,2 71,0
Abitur ohne Hochschulabschluss 3,9 3,6 3,6 6,1 14,9
Hochschulabschluss 4,2 4,9 8,6 13,7 14,1
* Zeilenprozente nach Geburtskohorten für Männer und Frauen in Westdeutschland, 30 Jahre und älter; N1 = 19.929 Männer und N2 = 22.339 Frauen Quelle Kumulierter Datensatz 1976-2000
Tabelle 1 zeigt, wie sich die Bildungsabschlüsse in der Kohortenfolge bei den jeweils wenigstens 30 Jahre alten Männern und Frauen entwickelt haben. Die Daten sind nicht gewichtet. Deshalb sind die Hochgebildeten wegen der geringeren Stichprobenausfälle in dieser Gruppe wohl überschätzt (mit Ausnahme wahrscheinlich der jüngsten Kohorte, in der einige Personen das Hochschulstudium noch nicht abgeschlossen haben). Bei Einrechnung dieser Verzerrungen wird deutlich, dass in den älteren Kohorten bereits das Abitur noch ein sehr exklusives 14
Leider enthalten die meisten Daten keine Informationen über die individuelle Klassenposition der Mutter oder deren Bildung. Daher sind wir gezwungen, uns ausschließlich auf die Informationen über den Vater zu verlassen.
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Bildungsniveau darstellte. Aber auch in den jüngsten Jahrgängen erreicht höchstens jeder Dritte das Abitur oder einen tertiären Abschluss. Vor allem unter den Männern nahm höhere Bildung in Deutschland (im Vergleich zu anderen Ländern) nur langsam zu. Bei den Frauen verlief das Bildungswachstum von einem wesentlich niedrigeren Niveau ausgehend schneller. Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist kleiner geworden. Bei den hier untersuchten Kohorten hatten die Frauen insbesondere bei den Hochschulabschlüssen aber mit den Männern noch nicht gleichgezogen.15 Wie hat sich im Verlaufe dieser Expansion höherer Bildung die Ungleichheit in der Bildungsbeteiligung nach der sozialen Herkunft der Schülerinnen und Schüler entwickelt? Tabelle 2 analysiert dazu mit einer logistischen Regression die Wahrscheinlichkeiten, wenigstens das Abitur zu erreichen.16 Die allgemeine Zunahme der Abiturientenquote ist in den Kohortenvariablen eingefangen. Der Erwartung entsprechend finden wir zunehmend höhere positive Werte für nach dem Zweiten Weltkrieg Geborene, vor allem bei den Frauen. Für die soziale Klassenzugehörigkeit des Elternhauses zeigen sich für alle Klassen signifikant niedrigere Abiturientenquoten als für die obere Dienstklasse, die die Referenzkategorie der Analyse bildet. Vor allem Kinder aus Arbeiter- und Bauernfamilien bleiben weit hinter Kindern aus der oberen Dienstklasse zurück. Einen starken Einfluss von Herkunftsbedingungen weist auch die gleichzeitig kontrollierte Bildungsvariable aus. Kinder von Vätern mit (wenigstens) Abitur erreichen das Abitur ebenfalls wesentlich häufiger als Kinder von Vätern ohne Abitur. Wie sich die Einflüsse der sozialen Herkunft im Verlauf der Zeit gewandelt haben, zeigen die Interaktionsterme im Modell (zwischen Kohorten- und Herkunftsklassenzugehörigkeit sowie zwischen Kohortenzugehörigkeit und Bildung des Vaters).17 Sowohl die Klassen- als auch die Bildungsherkunft sind im Zeitverlauf weniger bedeutsam für das Bildungsverhalten geworden.18
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Bei jüngeren Geburtsjahrgängen, die in unseren Daten noch nicht repräsentiert sind, scheinen auch diese Unterschiede nicht mehr zu bestehen (Statistisches Bundesamt 2003). In der Annahme, dass in der überwiegenden Mehrheit der Fälle das Abitur mit 22 Jahren erreicht ist, sind in die Analyse alle Personen einbezogen, die zum Befragungszeitpunkt mindestens 22 Jahre alt waren. Um das Modell sparsam zu formulieren, sind in der Regel nur statistisch signifikante Interaktionseffekte in das Modell einbezogen worden. Aus dem gleichen Grund enthält das Modell nur einen Interaktionseffekt, der für die drei Arbeiterklassen zusammen (V-VIIab) gilt. Dies verschlechtert das Modell nicht signifikant im Vergleich zu einem Modell, das Interaktionseffekte für jede einzelne Arbeiterklassenkategorie beinhaltet. Positive Effekte für die Interaktionen zwischen Kohorten- und Klassenzugehörigkeit bedeuten, dass die Kinder aus einer gegebenen Klassenherkunft und Geburtskohorte in der Abiturientenquote weniger weit hinter Kindern aus Dienstklassenfamilien zurückliegen als in der Referenzkohorte 1910-1927. Negative Effekte für die Bildungsvariable indizieren einen geringeren Vorsprung von Kindern von Vätern mit höherer Bildung.
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Tabelle 2: Logistische Regressionen (Abitur vs. kein Abitur) nach sozialer Herkunft und Geburtskohorte (getrennt für Männer und Frauen in Westdeutschland, 22 Jahre und älter) b Haupteffekte Klasse obere Dienstklasse (I) Untere Dienstklasse (II) Ausführende Nichtmanuelle (IIIab) Kleinbürgertum (IVab) Landwirte (IVc) Meister, Techniker (V) Facharbeiter (VI) Un- und angelernte Arbeiter (VIIab) Bildung des Vaters kein Abitur Bildung des Vaters (mind. Abitur) Fehlende Werte (missing value) Kohorte 1910-1927 Kohorte 1928-1937 Kohorte 1938-1947 Kohorte 1948-1957 Kohorte 1958-1967 Kohorte 1968-1978 Interaktionseffekte mit Kohorte IVab * Kohorte 1928-1937 IVab * Kohorte 1938-1947 IVab * Kohorte 1948-1957 IVab * Kohorte 1958-1967 IVab * Kohorte 1968-1978 IVc * Kohorte 1928-1937 IVc * Kohorte 1938-1947 IVc * Kohorte 1948-1957 IVc * Kohorte 1958-1967 IVc * Kohorte 1968-1978 V-VIIab * Kohorte 1928-1937 V-VIIab * Kohorte 1938-1947 V-VIIab * Kohorte 1948-1957 V-VIIab * Kohorte 1958-1967 V-VIIab * Kohorte 1968-1978 Vater (Abitur) * Kohorte 1928-1937 Vater (Abitur) * Kohorte 1938-1947 Vater (Abitur) * Kohorte 1948-1957 Vater (Abitur) * Kohorte 1958-1967 Vater (Abitur) * Kohorte 1968-1978 Konstante
Anmerkung Referenzkategorien sind kursiv Quelle Kumulierter Datensatz 1976-2000
Männer z-Wert
Frauen
b
z-Wert
-0.44 -0.91 -1.53 -2.65 -1 94 -2.73 -3.09
(-6.71) (-12.67) (-11.76) (-16.36) (-16.28) (-23.16) (-24.97)
-0.63 -1.04 -1.45 -2.31 -2.30 -3.04 -3.47
(-9.79) (-13.77) (-9.88) (-12.90) (-14.64) (-19.48) (-21.06)
1.39 -0.45
(9.21) (-4.05)
1.20 -0.25
(20.77) (-2.07)
-0 13 0.08 0.29 0.57 0.80
(-1.25) (0.83) (3.22) (5.99) (5.44)
0.05 0.07 0.73 1.38 1.64
(0.50) (0.80) (8.71) (15.78) (12.34)
-0.04 (-0.22) 0.21 (1.23) 0.76 (4.54) 0.36 (1.95) 0.65 (2.06) 0.03 (0.11) 0.41 (1.74) 0.78 (3.71) 0.84 (3.45) 1.31 (3.48) 0.36 (2.38) 0.45 (3.25) 0.83 (6.50) 0.69 (5.12) 0.76 (3.90) 0.01 (0.03) -0 39 (-2.06) -0 29 (-1.54) -0 29 (-1.44) -0.73 (-2.48) 0.06 (0.77) N = 23 983 L0 = -13 791 L1 = -11 050
0.33 (1.47) 0.44 (2.15) 0.48 (2.61) 0.59 (3.06) 0.26 (0.78) -0.49 (-1.41) 0.27 (0.96) 0.87 (3.86) 0.73 (3.02) 0.63 (1.54) 0.13 (0.61) 0.68 (3.66) 0.98 (5.92) 0.80 (4.74) 0.91 (4.20) -1.01 (-12.85) N = 26 622 L0 = -11 576 L1 = -8 788
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Bei den Frauen haben wir keine signifikante Veränderung im Einfluss der väterlichen Bildung gefunden. Deshalb wurden entsprechende Interaktionen nicht in das Modell aufgenommen. Abbildung 1a: Logit-Effekte der Herkunftsklasse auf Abitur vs. kein Abitur (Männer in Westdeutschland, 22 Jahre und älter; Werte aus Tabelle 2) Männer log-odds 0 -0,5 -1 -1,5 -2 -2,5 -3 -3,5 1910-1927
1928-1937
1938-1947
1948-1957
1958-1967
I
II
IIIab
IVab
IVc
V
VI
VIIab
1968-1978 Kohorten
Anschaulicher gehen die massiven Klassenunterschiede auf dem Weg zum Abitur und der begrenzte Abbau dieser Unterschiede für Männer und Frauen aus den Abbildungen 1a und 1b hervor. Kinder aus der oberen Dienstklasse (I) haben die günstigste Ausgangsposition, um das Abitur zu erreichen, gefolgt von Kindern der unteren Dienstklasse (II) und Kindern von ausführenden nichtmanuellen Angestellten (Klasse IIIab). In diesen drei Klassen haben sich die Abstände voneinander über die Zeit hinweg nicht verändert. Kinder aus dem Kleinbürgertum (IVab), von Landwirten (IVc), aus der Arbeiterelite (Klasse V) und von gelernten und ungelernten Arbeitern (VI und VIIab) holen beim Erwerb des Abiturs im Vergleich zu den drei nichtmanuellen Klassen mehr oder weniger im gleichen Ausmaß auf. Nach Abbildung 1b treten bei Frauen die Effekte der Klassenherkunft vor allem in den ältesten Kohorten stärker hervor als bei Männern, aber auch diesbezüglich sind im Zeitverlauf die Unterschiede zwischen den Geschlechtern kleiner
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Müller und Pollak
geworden.19 Wie und weshalb und an welcher Stelle in der Bildungslaufbahn sich dieser Ungleichheitsabbau vollzogen hat, lassen die vorliegenden Analysen nicht erkennen. Aus früheren Arbeiten von Müller und Haun (1994) und SchimplNeimanns (2000) wissen wir aber, dass die soziale Ungleichheit auf dem Weg zum Abitur vor allem bei der ersten entscheidenden Verzweigungsstelle, beim Übergang auf die weiterführenden Schulen, kleiner geworden ist. Abbildung 1b: Logit-Effekte der Herkunftsklasse auf Abitur vs. kein Abitur (Frauen in Westdeutschland, 22 Jahre und älter; Werte aus Tabelle 2) Frauen log-odds 0 -0,5 -1 -1,5 -2 -2,5 -3 -3,5 1910-1927
1928-1937
1938-1947
1948-1957
1958-1967
I
II
IIIab
IVab
IVc
V
VI
VIIab
1968-1978 Kohorten
Hat sich der Ungleichheitsabbau in der Sekundarstufe bis zum Niveau der Tertiärbildung fortgepflanzt oder haben ihn Gegenbewegungen auf der höchsten Bildungsstufe rückgängig gemacht? Wir prüfen dies mit einem fast gleichen logistischen Regressionsmodell, bei dem nun der Kontrast „Tertiärabschluss (d.h. Fachhochschule oder Universität) vs. kein Tertiärabschluss“ die abhängige Variable bildet. Geringe Unterschiede im Modell bestehen bei den Interaktionsvariablen. Tests haben gezeigt, dass ein Kohorteninteraktionseffekt für die Klasse der aus19
Wie zusätzliche Tests gezeigt haben, resultiert dies aber teilweise daraus, dass im Modell für die Frauen kein Interaktionseffekt zwischen Bildung des Vaters und Kohortenzugehörigkeit enthalten ist.
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führenden nichtmanuellen Arbeitnehmer (IIIab) sinnvoll ist, während die Arbeiterelite (Klasse V) besser aus dem Verbund der Arbeiterklassen herausgenommen wird. Die Analysestichprobe schließt nur Personen ein, die mindestens 30 Jahre alt sind.20 Die Ergebnisse der Modelle für Männer und Frauen sind in Tabelle 3 wiedergegeben und in Abbildung 2a und 2b visualisiert. Das Gesamtbild ist dem Bild beim Blick auf das Abitur tatsächlich sehr ähnlich. Kinder der beiden Dienstleistungsklassen behalten ihre günstige Position beim Erwerb eines tertiären Bildungsabschlusses, während Kinder aus den Arbeiterklassen ihr Zurückbleiben hinter den Dienstklassen verringern konnten. Der Ungleichheitsabbau auf der Sekundarstufe wurde also nicht, oder zumindest nicht völlig, durch Gegenprozesse auf dem Hochschulniveau aufgelöst. Zumindest gemessen an dem groben Indikator, einen Hochschulabschluss zu erreichen, hat die Abnahme der Ungleichheit bis zur Hochschulzugangsberechtigung dazu geführt, dass in der Gesellschaft auch die Chancen auf einen Hochschulabschluss heute weniger ungleich nach der sozialen Herkunft verteilt sind als in den ersten Jahren nach Gründung der Bundesrepublik oder in der Zeit davor. Bei näherer Betrachtung der Tabelle und der Abbildungen für die beiden Abschlussebenen lassen sich geringe Unterschiede zwischen ihnen ausmachen. Für Kinder aus der Herkunftsklasse der ausführenden nichtmanuellen Arbeitnehmer (IIIab) finden wir beim Abitur keine signifikante Veränderung, während wir beim Hochschulabschluss eine langsame Annäherung an die Chancen der unteren Dienstklasse beobachten. Umgekehrt finden wir für die Kinder aus der Arbeiterelite für das Abitur eine signifikante Chancenverbesserung im Zeitverlauf, nicht jedoch im Hinblick auf Hochschulabschlüsse. Man sollte diese Unterschiede nicht überbetonen. Der Hauptbefund ist, dass im Zeitverlauf die Ungleichheiten nach sozialer Herkunft in den Wahrscheinlichkeiten, einen höheren Bildungsabschluss zu erreichen, kleiner geworden sind. Bei den bis Ende des Zweiten Weltkrieges am weitesten zurückliegenden Klassen (ungelernte Arbeiter, Facharbeiter und Bauern) war die Verringerung des Rückstandes am deutlichsten; bei den Klassen in der Mitte (Arbeiterelite, Selbstständige, ausführende Angestellte und Beamte) erfolgte wohl auch eine gewisse Annäherung an die Bildungsbeteiligung der Dienstklassen, aber weniger ausgeprägt.
20
Das Durchschnittsalter beim Hochschulabschluss ist etwas höher als 28 Jahre (vgl. Wissenschaftsrat 2002). Deshalb haben wir eine Begrenzung bei 30 Jahren gesetzt. Zusätzliche Tests mit höherer Altersbegrenzung zeigen grundsätzlich gleiche Ergebnisse.
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Müller und Pollak
Tabelle 3: Logistische Regressionen (tertiäre Bildung vs. keine tertiäre Bildung) nach sozialer Herkunft und Geburtskohorte (getrennt für Männer und Frauen in Westdeutschland, 30 Jahre und älter)
Haupteffekte Klasse obere Dienstklasse (I) Untere Dienstklasse (II) Ausführende Nichtmanuelle (IIIab) Kleinbürgertum (IVab) Landwirte (IVc) Meister, Techniker (V) Facharbeiter (VI) Un- und angelernte Arbeiter (VIIab) Bildung des Vaters kein Abitur Bildung des Vaters (mind. Abitur) missing value Kohorte 1910-1927 Kohorte 1928-1937 Kohorte 1938-1947 Kohorte 1948-1957 Kohorte 1958-1972 Interaktionseffekte mit Kohorte IIIabc * Kohorte 1928-1937 IIIabc * Kohorte 1938-1947 IIIabc * Kohorte 1948-1957 IIIabc * Kohorte 1958-1972 IVab * Kohorte 1928-1937 IVab * Kohorte 1938-1947 IVab * Kohorte 1948-1957 IVab * Kohorte 1958-1972 IVc * Kohorte 1928-1937 IVc * Kohorte 1938-1947 IVc * Kohorte 1948-1957 IVc * Kohorte 1958-1972 VI-VIIab * Kohorte 1928-1937 VI-VIIab * Kohorte 1938-1947 VI-VIIab * Kohorte 1948-1957 VI-VIIab * Kohorte 1958-1972 Vater (Abitur) * Kohorte 1928-1937 Vater (Abitur) * Kohorte 1938-1947 Vater (Abitur) * Kohorte 1948-1957 Vater (Abitur) * Kohorte 1958-1972 Konstante
Anmerkung Referenzkategorien sind kursiv Quelle Kumulierter Datensatz 1976-2000
b
Männer z-Wert
-0 36 -1 10 -1.46 -2.45 -1 37 -2.71 -3.03
(-4.99) (-6.49) (-9.53) (-12.53) (-15.98) (-16.70) (-17.88)
-0.55 -1.21 -1.33 -2.08 -1.54 -3.22 -3.34
(-6.84) (-4.96) (-6.66) (-8.63) (-13.37) (-11.38) (-11.54)
1.09 -0.40
(7.70) (-2.72)
1.15 -0.48
(15.91) (-2.30)
0.10 0.37 0.52 0.44
(0.86) (3.55) (5.00) (3.66)
0.20 0.44 1.00 1.07
(1.58) (4.11) (9.28) (8.60)
0.21 0.32 0.41 0.48 -0.05 0.21 0.64 0.32 0.16 0.38 0.73 0.53 0.45 0.50 0.73 0.79 0.11 -0.18 -0.41 -0.50 -0.63
(0.90) (1.53) (2.00) (1.91) (-0.22) (1.07) (3.20) (1.13) (0.56) (1.43) (2.83) (1.40) (2.19) (2.65) (4.01) (3.76) (0.51) (-1.02) (-2.20) (-2.18) (-6.75) N = 19 929 L0 = -9 145 L1 = -7 556
0.03 0.31 0.52 0.41 0.25 0.31 0.89 0.11 -0.39 0.11 0.72 1.43 -0.11 0.94 1.16 1.27 -1.89
(0.08) (1.06) (1.84) (1.30) (0.84) (1.16) (3.66) (0.34) (-0.90) (0.32) (2.32) (4.07) (-0.26) (2.96) (3.89) (3.98)
b
Frauen z-Wert
(-18.89) N = 22 339 L0 = -6 288 L1 = -4 986
Arbeiterkinder in Deutschlands Universitäten
323
Abbildung 2a: Logit-Effekte der Herkunftsklasse auf tertiäre Bildung vs. keine tertiäre Bildung (Männer in Westdeutschland, 30 Jahre und älter; Werte aus Tabelle 3) Männer log-odds 0 -0,5 -1 -1,5 -2 -2,5 -3 -3,5 1910-1927
1928-1937
1938-1947
1948-1957
I
II
IIIab
IVab
IVc
V
VI
VIIab
1958-1972 Kohorten
Ergebnisse früherer Analysen werden auch insofern bestätigt, als die Ungleichheit vor allem in den 1950er und 1960er Jahren kleiner wurde (bis zu den Geburtskohorten 1948-1957, d h. bis zu den Jahrgängen, bei denen der Übertritt in die Typen des dreigliedrigen Schulsystems bis Ende der 1960er Jahre erfolgte). Danach verharren die Klassendifferenziale mehr oder weniger auf dem damals erreichten Niveau. Werden Frauen und Männer in einem Modell zusammengefasst analysiert und die Unterschiede zwischen den Geschlechtern und deren Veränderung im Zeitverlauf mit entsprechenden Interaktionsparametern analysiert (Ergebnisse hier nicht dargestellt), finden wir einen starken signifikanten Rückgang der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Frauen haben selbst in der jüngsten untersuchten Kohorte zwar noch immer niedrigere Chancen einen Hochschulabschluss zu erwerben, aber die Lücke zu den Männern verringert sich beständig.
324
Müller und Pollak
Abbildung 2b: Logit-Effekte der Herkunftsklasse auf tertiäre Bildung vs. keine tertiäre Bildung (Frauen in Westdeutschland, 30 Jahre und älter; Werte aus Tabelle 3) Frauen log-odds 0 -0,5 -1 -1,5 -2 -2,5 -3 -3,5 1910-1927
1928-1937
1938-1947
1948-1957
I
II
IIIab
IVab
IVc
V
VI
VIIab
1958-1972 Kohorten
Wir haben bislang die Bildungsungleichheit mit so genannten unconditional odds untersucht. Sie geben mit griffigen Indikatoren – das Abitur oder einen Hochschulabschluss zu erreichen oder nicht zu erreichen – einen Blick auf die am Ende der Bildungslaufbahn zwischen sozialen Herkunftsklassen bestehenden Ungleichheiten in den erreichten Bildungsabschlüssen. Allerdings ist in diesen Modellen das Bildungsgeschehen nach dem Abitur sehr undifferenziert – eben nur mit den Quoten von Hochschulabschlüssen – betrachtet. Im Folgenden betrachten wir das Bildungsgeschehen nach dem Abitur und seine Veränderung in der Zeit genauer an den unterschiedlichen Bildungsoptionen, die nach dem Abitur bestehen. Nach den oben formulierten Überlegungen ist es ja nicht unwahrscheinlich, dass junge Erwachsene aus unterschiedlicher sozialer Herkunft selbst nach Erreichen des Abiturs unterschiedliche Optionen der weiteren Bildung wahrnehmen. Unterschiedliche Bewegungen bei den einzelnen Optionen könnten sich bei dem groben Indikator verwischen und letztlich ein falsches Bild ergeben. Die folgenden Analysen begrenzen sich also auf Männer und Frauen mit Abitur. Wir konzentrieren uns jetzt mit so genannten conditional odds – d.h. gegeben das Abitur – auf das Bildungsgeschehen nach dem Abitur.
Arbeiterkinder in Deutschlands Universitäten
6.
325
Das Bildungsgeschehen nach dem Abitur
Die Tabellen 4a und 4b zeigen für alle Männer und Frauen unserer Stichprobe, die jemals das Abitur erreicht haben, die Anteile derjenigen, die eine der vier wichtigsten weiteren Bildungsoptionen vollzogen haben: das Bildungssystem ohne weiteren Abschluss verlassen, eine nichttertiäre Berufsausbildung absolvieren, einen Fachhochschulabschluss oder einen Universitätsabschluss erwerben.21 Tabelle 4a: Zeilenprozente für Bildungsabschlüsse für Befragte mit Abitur nach Geburtskohorten (getrennt für Männer und Frauen in Westdeutschland, 30 Jahre und älter) Männer
1910-1927 1928-1937 1938-1947 1948-1957 1958-1972
ohne weiteren Abschluss 10,7 5,0 5,5 8,1 10,1
nichttert. Ausbildung 29,3 21,1 16,2 23,9 28,2
Frauen
Fachhochschule
Universität
21,7 23,8 20,6 21,8 22,7
38,2 50,1 57,7 46,2 39,0
ohne weiteren Abschluss 28,8 16,9 10,6 7,3 13,7
nichttert. Ausbildung 24,3 28,1 21,5 24,9 39,5
Fachhochschule
Universität
13,5 14,2 14,3 15,0 14,2
33,3 40,8 53,4 52,8 32,7
Quelle: Kumulierter Datensatz 1976-2000
Eher überraschend sind in Tabelle 4a die schon in früheren Jahrzehnten niedrigen Quoten von Abiturienten, die einen Universitätsabschluss erreichen. Dabei sind diese Quoten in den ältesten wie in den jüngsten Kohorten im Vergleich zu den mittleren Kohorten aus unterschiedlichen Gründen wahrscheinlich unterschätzt.22 Es steht aber in Einklang mit Ergebnissen der Schul- und Hochschulstatistik, dass in den 1980er und 1990er Jahren der Anteil der Abiturienten, die später auch erfolgreich ein Hochschuldiplom erworben haben, abgenommen hat. Nach Tabelle 4a hat vor allem der Anteil der Abiturientinnen und Abiturienten zugenommen, die zusätzlich zum Abitur eine nichttertiäre Berufsausbildung absolvieren und dann ins Erwerbsleben eintreten. Dass dieser Anteil auch in den ältesten Kohorten relativ hoch war, dürfte u.a. an den Ausbildungen für die gehobene Beamtenlauf21
22
Wir haben unsere Daten in Bezug auf Personen in der Erwerbstätigkeit nicht eingeschränkt. Daher beinhaltet diese Gruppe ebenso Personen, die sich dafür entschieden haben, nicht aktiv am Erwerbsleben teilzunehmen. Vor allem in der jüngsten Kohorte wird sich ein Teil der in die Analyse einbezogenen Personen noch im Studium befinden, und deshalb als Abiturienten ohne weiteren Abschluss erfasst sein, obwohl sie letztlich einen Hochschulabschluss erwerben werden. In den älteren Kohorten wird ein Großteil der als Fachhochschulabsolventen codierten Personen faktisch das Abitur überhaupt nicht erworben haben, wenn sie auch ohne Abitur Zugang zum Studium für das Lehramt an Volksschulen oder für eine Ausbildung an Ingenieurschulen gefunden haben.
326
Müller und Pollak
bahn liegen, die in früheren Jahrzehnten typischerweise nach dem Abitur (ohne formalen Hochschulabschluss) erfolgten. Der Anteil der als Fachhochschulabsolventen eingeordneten Personen blieb über den gesamten Zeitraum weitgehend stabil.23 Frauen haben vor allem in den älteren Kohorten nach dem Abitur häufiger als Männer keinen weiteren Abschluss erworben, und in der jüngsten Kohorte zeichnen sie sich durch einen deutlich höheren Anteil nichttertiärer Berufsausbildung aus. Während in den jüngsten Kohorten Abiturientinnen und Abiturienten zu ähnlichen Anteilen Universitätsabschlüsse zu erreichen scheinen, erreichen Abiturientinnen über die gesamte Zeit hinweg seltener Fachhochschulabschlüsse als Abiturienten, was sicherlich mit dem stark technisch geprägten Profil dieser Hochschuleinrichtung in Verbindung steht. Tabelle 4b: Zeilenprozente für Bildungsabschlüsse für Befragte mit Abitur (nach Klassenherkunft; getrennt für Männer und Frauen in Westdeutschland, 30 Jahre und älter)
I II IIIab IVab IVc V-VIIab
ohne weiteren Abschluss Männer Frauen 8,9 14,1 7,4 16,3 7,6 13,0 8,1 15,7 7,8 12,3 7,4 12,8
nichttertiäre Berufsausbildung Männer Frauen 14,0 22,5 19,8 24,5 23,5 28,8 29,3 28,5 22,9 26,1 32,9 37,9
Fachhochschule
Männer 15,9 20,8 23,9 21,4 25,7 27,2
Frauen 11,8 13,6 14,7 17,9 18,8 15,7
Universität
Männer 61,2 52,0 45,1 41,2 43,6 32,6
Frauen 51,6 45,6 43,5 37,9 42,8 33,7
Legende I = obere Dienstklasse, II = untere Dienstklasse, IIIab = ausf. Nichtmanuelle, IVab = Kleinbürgertum, IVc = Landwirte, V-VIIab = Arbeiterklasse Quelle Kumulierter Datensatz 1976-2000
Für die soziale Herkunft zeigen schon die einfachen Prozentverteilungen in Tabelle 4b die markanten Unterschiede. Zwar differieren die verschiedenen Herkunftsklassen kaum in den Anteilen ohne weiteren Bildungsabschluss nach dem Abitur. Die Wahl und der erfolgreiche Abschluss der weiteren Bildungsoptionen korrelieren aber deutlich mit Herkunftsbedingungen. Arbeiterkinder unter den Abiturienten erwerben wesentlich seltener einen Universitätsabschluss als Kinder anderer Klassenherkunft, insbesondere der beiden Dienstklassen und vor allem der oberen Dienstklasse. Sie erreichen dagegen viel häufiger nur einen nichttertiären oder einen Fachhochschulabschluss.24 23 24
Für Fachhochschulen (niedriger tertiärer Abschluss), deren Einführung die Kohorten ab 1947-1957 betrifft, zeigt sich ein sehr geringer Anstieg der relativen Zahlen. Wir haben zusätzlich getestet, inwieweit es herkunftsbedingte Unterschiede bei der Wahl eines Studiums (Fachhochschule oder Universität) vs. keines weiteren oder eines nichttertiären Ausbildungsgangs gibt (Ergebnisse nicht veröffentlicht, aber auf Anfrage erhältlich). Hierzu haben wir ein weiteres logistisches Regressionsmodell gerechnet. Bei Männern fanden wir signifikant niedrigere Effekte für die meisten Klassen im Vergleich zu der oberen Dienstklasse. Betrachtet man die
Arbeiterkinder in Deutschlands Universitäten
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Tabelle 5a: Multinomiale logistische Regression für Befragte mit Abitur, nach sozialer Herkunft und Geburtskohorte (Männer in Westdeutschland, 30 Jahre und älter) keine Ausbildung vs. nichttertiäre Ausbildung b z-Wert Haupteffekte Klasse obere Dienstklasse (I) Untere Dienstklasse (II) Ausf. Nichtmanuelle (IIIab) Kleinbürgertum (IVab) Landwirte (IVc) Arbeiterklasse (V-VIIab) Bildung des Vaters kein Abitur mindestens Abitur missing value Kohorte 1910-1927 Kohorte 1928-1937 Kohorte 1938-1947 Kohorte 1948-1957 Kohorte 1958-1972 Interaktionseffekte mit Kohorte V-VIIab * Kohorte 1928-1937 V-VIIab * Kohorte 1938-1947 V-VIIab * Kohorte 1948-1957 V-VIIab * Kohorte 1958-1972 Konstante
Fachhochschule vs. nichttertiäre Ausbildung b z-Wert
Universität vs. nichttertiäre Ausbildung b z-Wert
-0.41 -0.45 -0.64 -0.38 -0.60
(-2.05) (-1.83) (-2.57) (-1.09) (-1.62)
-0.07 -0.11 -0.42 0.03 -0.03
(-0.47) (-0.59) (-2.24) (0.14) (-0.13)
-0.41 -0.64 -0.95 -0.57 -0.91
(-3.08) (-4.02) (-5.95) (-2.52) (-3.61)
0.41 0.05
(2.26) (0.11)
0.03 -0.04
(0.23) (-0.14)
0.38 -0.17
(3.22) (-0.61)
-0.48 0 15 0.09 0 17
(-1.74) (0.65) (0.45) (0.74)
0.35 0.62 0.40 0.25
(1.87) (3.48) (2.54) (1.36)
0.61 1.21 0.64 0.34
(3.81) (8.02) (4.73) (2.12)
0 22 -0.78 -0.20 -0.40 -0.72
(0.40) (-1.49) (-0.49) (-0.68) (-3.41)
0.14 (0.39) 0.00 -0.26 (-0.81) -0.71 -0.51 (-1.74) -0.36 -0.47 (-1.44) -0.59 -0.20 (-1.17) 0.67 L0 = -5,284; L1 = -5,085
(0.01) (-2.30) (-1.31) (-1.91) (4.68)
Anmerkung Referenzkategorien sind kursiv Quelle Kumulierter Datensatz 1976-2000; N = 4300
Diese Befunde bestätigen sich auch in der multivariaten Analyse, in der wir die Klassenbedingtheit des Bildungsgeschehens nach dem Abitur gleichzeitig mit der allgemeinen Veränderung der Bildungsbeteiligung im Zeitverlauf betrachten. Tabelle 5a und 5b enthalten die Ergebnisse einer multinomialen logistischen Regression mit den vier unterschiedlichen potenziellen Bildungsabschlüssen nach dem Abitur als abhängige Variablen. Die Option einer nichttertiären beruflichen AusVeränderungen über die Zeit hinweg, so stellt man fest, dass die Bildung des Vaters zwar an Bedeutung verliert, jedoch nehmen im Gegenzug Klasseneffekte bei den Söhnen immer mehr zu. Ein fast gegensätzliches Muster weisen Frauen auf. Die Bildung des Vaters beeinflusst – konstant über die Kohorten – beträchtlich die weibliche Entscheidung für oder gegen eine Laufbahn im tertiären Bildungssektor. Dagegen wirken die Herkunftsklassen mit Ausnahme der Töchter aus der Arbeiterklasse kaum noch auf die Bildungsentscheidung. Generell zeigen sich folglich sowohl für Männer als auch für Frauen auch nach dem Abitur bei den anstehenden Bildungsentscheidungen weiterhin Effekte der sozialen Herkunft, die dem Trend zu mehr Chancengleichheit im Sekundarbereich entgegenwirken.
328
Müller und Pollak
bildung bildet dabei die Referenzkategorie. Die unabhängigen Variablen und die Veränderung der Klasseneinflüsse im Zeitverlauf sind ähnlich wie in den Modellen in den Tabellen 2 und 3 modelliert. Weniger sparsame Modelle, in denen Klassenabhängigkeiten differenzierter als im dargestellten Modell mit der Zeit variierend unterstellt werden, verbessern die Passung des Modells nicht. Der wichtigste Befund für die Männer ist nach Tabelle 5a die Bestätigung, dass Abiturienten von einer Dienstklassenherkunft (vor allem der oberen Dienstklasse) signifikant häufiger einen Universitätsabschluss erreichen, während Kinder anderer Herkunft (insbesondere der Arbeiterklasse) häufiger einen nichttertiären Abschluss erwerben. Kinder von oberer Dienstklassenherkunft treten auch relativ häufiger ohne weiteren Abschluss ins Erwerbsleben ein. Dagegen finden sich keine Klassenunterschiede in der relativen Präferenz zwischen einem nichttertiären und einem Fachhochschulabschluss.25 Klassenunterschiede bestehen also vor allem im Erwerb keines weiteren Abschlusses oder eines Universitätsabschluss. Zwischen den stärker berufsorientierten Optionen von Fachhochschule oder nichttertiärem beruflichen Ausbildungsgang bestehen keine zusätzlichen klassenspezifischen Unterschiede. Zusätzlich wirkt eine höhere Bildung des Vaters ähnlich wie eine Herkunft aus der Dienstklasse: Sie führt zu häufigeren Universitätsabschlüssen und auch zu höheren Quoten von Personen ohne weiteren Abschluss. In der Kohortenfolge finden wir bei allen Vergleichen eine systematische Tendenz für Arbeitersöhne, in jüngerer Zeit nach dem Abitur häufiger eine nichttertiäre berufliche Ausbildung allen anderen Alternativen vorzuziehen.26 Bei den Frauen erscheint die Bildungspartizipation nach dem Abitur (Tabelle 5b) deutlich weniger strukturiert als bei den Männern. Wie in den bivariaten Ergebnissen zeigt sich am deutlichsten die Veränderung der Partizipation in der Kohortenfolge: Die Quoten derjenigen gehen zurück, die nach dem Abitur keinen oder nur einen beruflichen nichttertiären Abschluss erwerben, während die Quoten der Universitätsabsolventinnen zunehmen. Im Hinblick auf die soziale Strukturierung erscheint die Klassenposition des Vaters im Wesentlichen ohne Bedeutung – allenfalls tendieren Arbeitertöchter verstärkt zu einem nichttertiären Berufsabschluss – dagegen wirkt sich ein höherer Bildungsabschluss des Vaters bei den Töchtern stärker als bei den Söhnen günstig für den Erwerb eines akademischen Abschlusses aus.
25
26
Da im Modell die Option des nichttertiären Berufsabschlusses, die häufiger von Abiturienten mit Herkunft aus der Arbeiterklasse gewählt wird, die Referenzkategorie bildet, bedeutet die Konstellation dieser Befunde auch, dass Arbeiterkinder häufiger als Dienstklassenkinder ein Fachhochschulstudium und nicht ein Universitätsstudium wählen – vgl. weiter unten in Tabelle 6 die spezifische Analyse dazu. Alle Kohorteninteraktionseffekte für die Geburtsjahre nach 1938 sind negativ, wenn auch nicht immer statistisch signifikant.
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Tabelle 5b: Multinomiale logistische Regression für Befragte mit Abitur nach sozialer Herkunft und Geburtskohorte (Frauen in Westdeutschland, 30 Jahre und älter) keine Ausbildung vs. nichttertiäre Ausbildung b z-Wert Haupteffekte Klasse obere Dienstklasse (I) untere Dienstklasse (II) ausf. Nichtmanuelle (IIIab) Kleinbürgertum (IVab) Landwirte (IVc) Arbeiterklasse (V-VIIab) Bildung des Vaters kein Abitur mind. Abitur missing value Kohorte 1910-1927 Kohorte 1928-1937 Kohorte 1938-1947 Kohorte 1948-1957 Kohorte 1958-1972 Konstante
Fachhochschule vs. nichttertiäre Ausbildung b z-Wert
Universität vs. nichttertiäre Ausbildung b z-Wert
0.13 -0.14 -0.05 -0.26 -0.34
(0.70) (-0.57) (-0.23) (-0.78) (-1.69)
0.12 0.04 0.20 0.33 -0.20
(0.61) (0.17) (0.88) (1.10) (-1.00)
-0.00 -0.08 -0.24 0.01 -0.59
(-0.01) (-0.45) (-1.38) (0.06) (-3.92)
0.06 -0.35
(0.34) (-0.96)
-0.03 -1.71
(-0.18) (-2.79)
0.59 -0.85
(4.76) (-2.67)
-0.69 -0.84 -1.33 -1.17 0.22
(3.27) (-4.14) (-6.82) (-6.41) (1.19)
0.05 0.61 0.62 -0.30 0.21
(0.26) (3.67) (4.08) (-1.89) (1.28)
-0.11 (-0.45) 0.20 (0.93) 0.12 (0.60) -0.41 (-2.04) -0.59 (-2.81) L0 = -3,575; L1 = -3,416
Anmerkung Referenzkategorien sind kursiv Quelle Kumulierter Datensatz 1976-2000; N = 2808
Übersichtlicher und leichter interpretierbar lassen sich die Befunde des Regressionsmodells aus den durch das Modell geschätzten Wahrscheinlichkeiten unterschiedlicher postsekundärer Abschlüsse unter gegebenen Herkunftsbedingungen ersehen. In den Abbildungen 3a und 3b sind diese Wahrscheinlichkeiten für Söhne und Töchter aus der oberen Dienstklasse mit einem Vater, der als Bildung wenigstens das Abitur besitzt, den Wahrscheinlichkeiten für Kinder von Arbeitervätern ohne Abitur gegenübergestellt.27
27
Etwa 2/3 der Väter aus der oberen Dienstklasse haben das Abitur, wohingegen nur 2-5 Prozent der Väter aus der Arbeiterklasse diesen Abschluss aufweisen.
330
Müller und Pollak
Abbildung 3a: Wahrscheinlichkeiten für das Erreichen einer der vier Bildungsabschlüsse für Befragte mit Abitur (Männer in Westdeutschland, 30 Jahre und älter; vgl. Tabelle 5a) Vater Abitur und Position in der oberen Dienstklasse Wahrscheinlichkeiten 0,80 0,70 0,60 0,50 0,40 0,30 0,20 0,10 0,00 1910-1927
1928-1937
1938-1947
1948-1957
1958-1972 Kohorten
Vater kein Abitur und Position in der Arbeiterklasse Wahrscheinlichkeiten
0,80 0,70 0,60 0,50 0,40 0,30 0,20 0,10 0,00 1910-1927
1928-1937
kein weit. Abschluss
1938-1947
nichttert. Ausbildung
1948-1957 Fachhochschule
1958-1972 Kohorten Universität
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Abbildung 3b: Wahrscheinlichkeiten für das Erreichen einer der vier Bildungsabschlüsse für Befragte mit Abitur (Frauen in Westdeutschland, 30 Jahre und älter; vgl. Tabelle 5b) Vater Abitur und Position in der oberen Dienstklasse Wahrscheinlichkeiten 0,80 0,70 0,60 0,50 0,40 0,30 0,20 0,10 0,00 1910-1927
1928-1937
1938-1947
1948-1957
1958-1972 Kohorten
Vater kein Abitur und Position in der Arbeiterklasse Wahrscheinlichkeiten 0,80
0,70 0,60 0,50 0,40 0,30 0,20 0,10 0,00 1910-1927 kein weit Abschluss
1928-1937
1938-1947
nichttert Ausbildung
1948-1957
Fachhochschule
1958-1972 Kohorten Universität
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Müller und Pollak
Söhne und Töchter aus der oberen Dienstklasse mit hoch gebildeten Vätern schließen ihre Bildung in allen Kohorten am häufigsten und in der Mehrheit mit einem Universitätsdiplom ab. Ein Fachhochschulabschluss ist dagegen in dieser Herkunftsgruppe selten und nimmt in der Kohortenfolge auch nicht zu. Auch die anderen Optionen sind bei den Männern sehr selten, bei den Frauen etwas häufiger. Bei den Frauen treten im Zeitverlauf nichttertiäre Berufsabschlüsse zunehmend an die Stelle keiner weiteren Abschlüsse. Im Kohortenverlauf finden wir bei den Männern wie bei den Frauen eine kurvilineare Entwicklung: Universitätsabschlüsse nehmen zunächst zu, dann jedoch wieder ab (wobei die Abnahme für die jüngste Kohorte wahrscheinlich überzogen gezeichnet ist); für die anderen Optionen beobachten wir den umgekehrten kurvilinearen Verlauf: Sie nehmen zunächst ab, dann zu. Für die Arbeiterkinder zeigt sich ein völlig anderes Bild. Nur wenige von ihnen – vor allem bei den Männern – bleiben ohne weiteren Abschluss. Fast alle sichern sich also einen Abschluss (bei den Männern unter den Arbeitersöhnen sogar häufiger als unter den Söhnen der Dienstklasse). Dabei handelt es sich in der Mehrheit nicht um einen Universitätsabschluss, sondern um ein Fachhochschuldiplom oder (vor allem bei den Frauen) um einen nichttertiären Berufsabschluss. Nur etwa 30-40 Prozent (im Unterschied zu 60-70 Prozent in der Dienstklasse) erreichen einen Universitätsabschluss. Im Zeitverlauf erkennt man bei den Männern wie bei den Frauen eine zunehmende Tendenz zu den Berufsabschlüssen. Die Arbeitertöchter holen im Zeitverlauf auch bei den Universitätsabschlüssen auf; sie zeigen dagegen im Unterschied zu den Männern eine niedrige Präsenz an den Fachhochschulen. Nach den Abbildungen für die Dienst- und die Arbeiterklasse bestehen also auch nach der Hochschulreife ausgeprägte Unterschiede im Bildungsverhalten der sozialen Klassen. Arbeiterkinder – man kann es fast so krass sagen – meiden die Universitäten. Im Zeitverlauf sind die Klassenunterschiede zudem größer geworden. Am deutlichsten zeigt sich dies in dem schnelleren Anwachsen der Anteile von nichttertiären Berufsausbildungen bei Arbeiter- im Vergleich zu Dienstklassenkindern. Wir können diese Analysen ein wenig weiterführen, indem wir zusätzlich auf Daten des Studienberechtigtenpanels der Hochschul-Informations-Systems GmbH (HIS) zurückgreifen.28 In diesen Panelstudien wurden zwischen 1980 und 2002 verschiedene Studienberechtigtenkohorten danach befragt, welche Motive für den nachschulischen Werdegang von Bedeutung waren und warum sie – falls zutreffend – auf ein Studium verzichtet haben. Aus der Fülle von Daten ragen vor allem zwei Befunde heraus: Bei der Frage nach den Motiven gibt es je nach Bildungsabschluss der Eltern drei Bereiche, in denen sich die Studienberechtigten unterschei28
An dieser Stelle möchten wir uns sehr herzlich bei Dr. Christoph Heine von HIS dafür bedanken, dass wir die HIS-Daten in unsere Analysen mit einschließen durften und dass er einige Prozeduren für uns hat durchlaufen lassen.
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den: Den finanziellen Aspekt betreffend legen Kinder von hoch gebildeten Eltern weniger Wert auf Motive wie „baldige finanzielle Unabhängigkeit“ und dergleichen, wohingegen Kinder mit niedrig gebildeten Eltern vor allem fehlende finanzielle Voraussetzungen und die Vermeidung von BAföG-Schulden als Gründe für einen Studiumsverzicht anführen. In Bezug auf die angestrebte berufliche Sicherheit gibt es ebenfalls merkliche Unterschiede. Kinder von niedrig gebildeten Eltern scheuen eher das Risiko einer unsicheren beruflichen Zukunft als Kinder von höher gebildeten Eltern. Und schließlich spielen bei Kindern aus bildungsfernen Familien familiäre Gründe und örtliche Bindungen eine größere Rolle als bei Akademikerkindern. Diese herkunftsspezifische Betonung unterschiedlicher Motive findet man zu allen untersuchten Zeitpunkten.29 Jedoch zeigt sich Ende der 1990er Jahre ein Trend in zweierlei Hinsicht. Zum einen werden generell in allen Herkunftsgruppen ökonomische Motive deutlich stärker betont, als dies noch 1980 der Fall war. Zum anderen fällt aber auf, dass gerade in den letzten Jahren die unterschiedliche Gewichtung ökonomischer Motive je nach Bildungsherkunft stark zugenommen hat. Diese hier auftretenden Klassenunterschiede bezüglich relevanter Motive bei der Wahl des nachschulischen Werdegangs haben sich in den letzten 20 Jahren verstärkt und sind Teil der Erklärung, warum Kinder aus weniger privilegierten Herkunftsklassen trotz Studienberechtigung eher einen nichttertiären Ausbildungsweg wählen. Klassenselektivität in der Ausbildungswahl und in den Ausbildungsergebnissen nach dem Abitur besteht aber nicht nur in den aus verschiedenen Gründen nicht genutzten Gelegenheiten eines Universitätsstudiums in der Arbeiterklasse. Dies verdeutlicht ein letztes Modell mit unseren ursprünglichen Daten, in dem wir unter denen, die sich für ein Studium entscheiden, den sozial selektiven Zugang zur Fachhochschule oder Universität näher betrachten. Wir zeigen wiederum nur die Ergebnisse eines sparsamen Modells, das übrig geblieben ist, nachdem mit komplexeren Interaktionen ein Wandel im Zeitverlauf wegen Nichtsignifikanz auszuschließen war. Nach den formulierten theoretischen Überlegungen erwarten wir bei der Wahl zwischen den beiden Optionen ebenfalls Ungleichheiten, die wir vor allem auf unterschiedliche Studiendauern, Risiken eines erfolgreichen Abschlusses und den unterschiedlichen beruflichen Bezug der Studiengänge zurückführen. Die Ergebnisse des Modells, in dem wir Männer und Frauen zusammen und die Unterschiedlichkeit zwischen ihnen analysieren, sind in Tabelle 6 aufgeführt.
29
Uns standen die Daten des Studienberechtigtenpanels 1980, 1996, 1999 und 2002 für Analysen zur Verfügung.
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Tabelle 6: Logistische Regression (Universität vs. Fachhochschule) für Befragte mit Abitur, nach sozialer Herkunft und Geburtskohorte (Männer und Frauen in Westdeutschland, 30 Jahre und älter) Haupteffekte Männer Frauen Klasse obere Dienstklasse (I) untere Dienstklasse (II) ausführende Nichtmanuelle (IIIab) Kleinbürgertum (IVab) Landwirte (IVc) Arbeiterklasse (V-VIIab) Bildung des Vaters kein Abitur mind. Abitur missing value Kohorte 1910-1927 Kohorte 1928-1937 Kohorte 1938-1947 Kohorte 1948-1957 Kohorte 1958-1972 Interaktionseffekt mit Kohorte V-VIIab * Frauen Konstante
b
z-Wert
0.27
(3.66)
-0.24 -0.34 -0.46 -0.54 -0.92
(-2.60) (-2.98) (-3.93) (-3.61) (-8.75)
0.50 0.03
(6.11) (0.12)
0.26 0.43 0.63 0.42
(2.45) (4.65) (6.91) (3.95)
0.32 0.35
(2.13) (3.39)
L0 = -3,413 L1 = -3,247 Anmerkung: Referenzkategorien sind kursiv Quelle: Kumulierter Datensatz 1976-2000; N = 5238
Die soziale Bedingtheit der Hochschulwahl zeigt sich ausgeprägt und hoch signifikant bei beiden berücksichtigten Herkunftsindikatoren. Bei den sozialen Klassen nimmt die Wahrscheinlichkeit der Wahl und des erfolgreichen Abschlusses der Universität systematisch ab, je weiter entfernt die Herkunftsklasse von der oberen Dienstklasse ist. Diese Herkunftsabhängigkeit wird durch den Bildungshintergrund des Elternhauses noch verstärkt. Als Veränderung in der Zeit finden wir nur eine zunehmende allgemeine Präferenz der Universitäten gegenüber den Fachhochschulen, jedoch keine Veränderung in der Herkunftsgebundenheit dieser Wahl.30 Interessante Unterschiede zeigen sich zwischen den Geschlechtern. Unter denjenigen, die sich für ein Hochschulstudium entscheiden, fällt bei den Frauen 30
Bei der Überprüfung der Interaktionseffekte sieht man lediglich für Facharbeiter- und Bauernkinder in der jüngsten Kohorte eine Tendenz zu Fachhochschulabschlüssen, die die allgemeine Präferenz für die Universität aufwiegt. Eine unterschiedliche Entwicklung zwischen den Geschlechtern über die Zeit ist nicht festzustellen.
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335
die Wahl häufiger als bei den Männern auf die Universität, und diese Wahl ist bei den Frauen vergleichsweise weniger klassenabhängig als bei den Männern. Dies kommt im signifikant positiven Interaktionseffekt für die Wahl der Universität bei den Frauen aus der Arbeiterklasse zum Ausdruck. Im Datensatz sind keine Informationen über die studierten Fächer enthalten. Dies macht es leider unmöglich, die unterschiedliche Präsenz von Frauen und Männern an Universitäten und Fachhochschulen explizit als Ergebnis der Unterschiede in den dort angebotenen und von Männer und Frauen unterschiedlich präferierten Studienfächern zu modellieren. 7.
Fazit
Die Ergebnisse der verschiedenen Analysen lassen mehrere Folgerungen zu, die weitgehend mit den zu Beginn formulierten Erwartungen übereinstimmen. Sie haben auch einige zusätzliche Erkenntnisse über die soziale Selektivität in der postsekundären und tertiären Bildungsbeteiligung und in deren zeitlicher Entwicklung erbracht. Zunächst werden frühere Befunde einer insgesamt verringerten Bildungsungleichheit nach sozialer Herkunft durch den neuen erweiterten Datensatz bestätigt. Sowohl beim Erwerb des Abiturs als auch eines Hochschulabschlusses sind langfristig die Ungleichheiten zwischen Kindern aus unterschiedlicher sozialer Herkunft kleiner geworden. Ebenso bestätigt werden frühere Ergebnisse zur zeitlichen Lokalisierung des Ungleichheitsabbaus und zu der Scharnierstelle im Bildungssystem, an der er sich vor allem vollzog. Er erfolgte vor allem bei den Kohorten, die in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre hinein die zentrale Schulwahlentscheidung nach dem Ende der Grundschule zu treffen hatten. Bei den Kohorten, die mit dieser Entscheidung später unter dem Eindruck verschlechterter Beschäftigungsaussichten von Akademikern und einer entsprechenden öffentlichen Diskussion konfrontiert waren (obwohl tertiäre Bildung faktisch weiterhin die beste Investition für vorteilhafte Karriereperspektiven ist), setzte das Aufholen der Bildungsbeteiligung in den Arbeiterklassen aus. Das Hauptinteresse dieses Beitrages richtete sich aber auf das Bildungsgeschehen nach dem Abitur. Dabei stellten sich bei genauerem Hinsehen selbst auf dieser hohen Stufe im Bildungswesen ausgeprägte Selektivitäten nach sozialen Herkunftsbedingungen heraus: Kinder aus Arbeiterfamilien wählen viel häufiger nichttertiäre Berufsausbildungen als Kinder aus anderen Klassenherkünften. Unter denen, die sich für ein Studium entscheiden, wählen Studierende, die nicht aus einer Familie der (oberen) Dienstklasse stammen, häufiger die Fachhochschule und nicht die Universität. Im Zeitverlauf hat insbesondere bei den Abiturienten aus Arbeiterfamilien die Tendenz zu einer nichttertiären beruflichen Ausbildung zugenommen, und insofern haben sich beim Bildungsverhalten nach dem Abitur soziale Ungleichheiten verstärkt. Die längerfristig geringer gewordene soziale Selektivität auf dem Weg zum Abitur hat in den letzten Jahrzehnten also eine
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Gegenbewegung durch eine leicht stärkere soziale Selektivität im Bildungsgeschehen nach dem Abitur erfahren. Der im Sekundarbereich erzielte Ungleichheitsabbau wurde jedoch durch die Veränderungen in der Bildungsbeteiligung nach dem Abitur nicht aufgezehrt. Das belegt die zu Beginn der Analysen dargestellte Entwicklung der (unkonditionalen) Hochschulabsolventenquoten. Was immer die noch zu diskutierenden Gründe für die Gegenbewegung sind, die Gegenbewegung war nicht so stark, dass die Spätfolgen des Ungleichheitsabbaus an der ersten Scharnierstelle bis hin zur (begrenzten) Chancenegalisierung der Hochschulbildung zurückgenommen worden wären. Bei der Interpretation dieser Befunde sind eine Reihe von Punkten interessant und führen zu weiteren Fragen, die sich mit den verfügbaren Daten aber nicht abschließend beantworten lassen. Zunächst ist die Größe der beobachteten Diskrepanzen erstaunlich. Die Arbeiterkinder, die das Abitur erreichen, stellen im Hinblick auf Intelligenz und andere Elemente des kognitiven Potenzials eine wahrscheinlich selektivere Auswahl dar als Kinder aus den Dienst- und Bildungsklassen, da die Letzteren bei der Wahl des Schultyps nach der Grundschule auch bei geringeren kognitiven Fähigkeiten und Leistungen eher das Gymnasium wählen als Arbeiterkinder. Dass die Bildungslaufbahnen auch nach dem Abitur dennoch so unterschiedlich ausfallen, weist auf die große Bedeutung sekundärer, sozialer Mechanismen bei der Entscheidung über Bildungsinvestitionen hin. Auch für die Erklärung der Zunahme der Ungleichheit bei den Bildungswahlen nach dem Abitur könnte ein Selektivitätsargument ins Feld geführt werden. Mit der zunehmenden Beteiligung von Arbeiterkindern im höheren Sekundarbereich könnten Arbeiterkinder, die das Abitur erreichen, eine nach kognitiven Fähigkeiten weniger selektive Auswahl darstellen. Gegen diese Möglichkeit der Interpretation spricht jedoch, dass das beschriebene Phänomen nur bei Arbeitersöhnen, nicht jedoch bei Arbeitertöchtern zu beobachten ist (bei den Töchtern müsste das Phänomen sogar eher eintreten als bei den Söhnen, da bei den Töchtern die Bildungsbeteiligung stärker expandierte als bei den Söhnen). Deshalb dürfte auch hier eine Erklärung eher in veränderten Bedingungen bei der Einschätzung der instrumentellen Funktion, der Erfolgserwartungen und der Kosten und Nutzen verschiedener Bildungsgänge für das spätere Leben zu finden sein, wie es die Befunde der HISDaten andeuten. Eine akademische, universitäre Ausbildung hat für Kinder der (oberen) Dienstklasse den relativ größten Nutzen, da sie die größte Sicherheit bietet, wiederum den beruflichen Status der Herkunftsfamilie zu erreichen. Zum Zweck des Statuserhalts ist eine solche Ausbildung für Kinder anderer Herkunftsklassen nicht unbedingt erforderlich. Für Kinder dieser (Nichtdienstklassen-)Herkunft fallen zudem die Kosten und Risiken einer akademischen Ausbildung stärker ins Gewicht. Deshalb wählen sie weniger kostenintensive und weniger riskante Ausbildungswege, die dennoch mindestens der Statussicherung und vielleicht einem begrenzten beruflichen Aufstieg dienen. Im deutschen System sind dies nichtterti-
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äre berufliche Ausbildungsgänge, bei denen es je nach Beruf Einstiegsmöglichkeiten aus unterschiedlichen Allgemeinbildungsniveaus – des Hauptschulabschlusses, der mittleren Reife oder des Abiturs – gibt. Da in den letzten Jahrzehnten die Chancen eines Ausbildungsplatzes in attraktiven und zukunftsversprechenden beruflichen Ausbildungsgängen von zunehmend höheren Allgemeinbildungsabschlüssen abhingen, ergaben sich auch für Kinder aus Arbeiterfamilien allein zur Statussicherung oder begrenzten Aufwärtsmobilität verstärkte Anreize zum Besuch der Realschule oder des Gymnasiums. Damit lässt sich beides erklären: sowohl eine gewisse Annäherung der Beteiligung der Arbeiterklasse im weiterführenden Sekundarbildungswesen an das Beteiligungsmuster der Dienstklasse als auch nach dem Abitur eine Auseinanderentwicklung von Kindern der Arbeiterklasse und der Dienstklasse in der Wahl nichttertiärer beruflicher Ausbildungen. Der Logik der Wahl weniger aufwändiger und weniger riskanter Ausbildungen bei den Arbeiterkindern entspricht auch deren stärkere Bevorzugung der Fachhochschule auf dem Niveau der Hochschulausbildung. Auch dort scheint es so zu sein, dass das Vorhandensein relativ sicherer, günstiger und auf dem Arbeitsmarkt geschätzter Alternativen Kinder aus niedrigeren Schichten davon abhält, die teureren, riskanteren, aber später auch höhere Erträge versprechenden akademischen Laufbahnen anzustreben. Das unerwartete Ergebnis, dass Kinder, die in hoch gebildeten Familien der oberen Dienstklasse aufwachsen, relativ häufiger als Kinder anderer Herkunft nach dem Abitur über keinen weiteren Abschluss verfügen, hat wahrscheinlich diverse Gründe. Da alle Bildungs- und Klassenkoeffizienten, die sich auf dieses Ergebnis beziehen, fast genau die gleichen sind wie diejenigen, die sich auf den Universitätsabschluss beziehen, nehmen wir an, dass viele dieser Kinder sich zunächst an einer Universität einschreiben, jedoch diese nicht erfolgreich abschließen, sondern sie verlassen, wenn sie eine ihren Ansprüchen entsprechende Erwerbsposition finden, sei dies mit der Hilfe des sozialen Netzwerkes ihrer Eltern oder aufgrund von speziellen Fähigkeiten, die sie durch ihre Erziehung in einem hohen Klassenumfeld mitbekommen haben. Zum anderen ist denkbar, dass sich gerade auch in dieser Gruppe Personen finden, die unter elterlichem Druck zwar – mit Hängen und Würgen – das Abitur, aber keinen Studienabschluss schaffen. Diese und denkbare weitere Interpretationen lassen sich mit den verfügbaren Daten nicht verifizieren.31 Für die Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen möchten wir vor allem zwei aufschlussreiche Befunde festhalten. Bei aller Annäherung in der Bildungsbeteiligung bis zur Hochschulreife ergaben sich für die untersuchten Jahrgänge nach dem Abitur nach wie vor bedeutsame Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Frauen nehmen vergleichsweise seltener als Männer ein Studium auf. Wenn 31
Vor allem in den jüngeren Kohorten können sich in dieser Gruppe überproportional auch Fälle finden, die sich auch im Alter von über 30 Jahren noch im Studium befinden, weil sie sich mit elterlichen Ressourcen ein sehr langes Studium leisten können.
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sie dies jedoch tun, dann erwerben sie häufiger als Männer und mit geringeren Unterschieden nach sozialer Herkunft als bei den Männern ein Universitätsdiplom. Zum einen scheinen sich also Frauen insgesamt stärker als Männer von tertiärer Bildung ablenken zu lassen, da eine Reihe von Möglichkeiten in der nichttertiären Berufsausbildung bestehen, die besonders für Frauen attraktiv zu sein scheinen (z.B. im Bereich der Krankenpflege und in verschiedenen Ausbildungsangeboten für Büro-, Dienstleistungs- und Assistententätigkeiten auf gehobenem Niveau). In älteren Kohorten waren auch Heirat und Familiengründung eine Option, die Frauen nach dem Abitur von einer weiteren Ausbildung überhaupt abhielt. Unter den Studierenden dürfte die relativ stärkere Beteiligung der Frauen an universitären Angeboten in hohem Grad durch den starken Bias der Studienangebote an den Fachhochschulen in Richtung Technik und Ingenieurswesen bestimmt sein, die generell eher von Männern präferiert werden. Diese Angebote dürften auch für Töchter aus Arbeiterfamilien eine weniger attraktive Option als für Arbeitersöhne darstellen, was dann auch die bei Töchtern geringere Herkunftsungleichheit in der Wahl zwischen Fachhochschule und Universität erklärt. Ein Teil der höheren Abiturientenquote und des Ungleichheitsabbaus und der kleiner gewordenen sozialen Selektivität auf dem Weg zum Abitur könnte, so haben wir argumentiert, durch die erhöhten Allgemeinbildungsanforderungen für den Zugang zu attraktiven Lehrstellen induziert sein. Dies könnte gleichzeitig ein Grund dafür sein, dass Arbeiterkinder nach dem Abitur dann relativ häufiger eine Berufsausbildung und nicht ein Studium aufnehmen. Das gilt aber bei weitem nicht für alle Arbeiterkinder, die zusätzlich das Abitur erreicht haben, denn wir haben ja auch für die Hochschulausbildung insgesamt eine deutliche Chancenegalisierung gefunden. Es ist davon auszugehen, dass auf dem einmal erreichten Niveau, und bei den Bedingungen, die dann gegeben sind, ‚neu‘ entschieden wird. Auf dem Weg zum Abitur können Kinder ihre Fähigkeiten, Interessen und Präferenzen entwickeln und besser einschätzen. Auch die ökonomischen Voraussetzungen mögen sich verändern. Insofern ist es entscheidend, das Bildungssystem so zu strukturieren, dass nicht frühzeitig Optionen verschlossen oder nur mit hohen Kosten wieder gewonnen werden können. Leider können wir in unserem Datensatz nicht direkt überprüfen, ob die beobachteten Ergebnisse aus unterschiedlichem Wahlverhalten zwischen den verfügbaren Alternativen oder aus dem unterschiedlichen Erfolg in der gewählten Bildungslaufbahn resultieren. Die Konstellation der Befunde liefert dennoch viele Belege für die große Bedeutung der im Bildungssystem angelegten Struktur der Optionen, die bei den gegebenen Möglichkeiten sowie Kosten-, Nutzen- und Risikoeinschätzungen für unterschiedliche Klassen unterschiedlich vorteilhaft erscheinen müssen. Wir haben argumentiert, dass die Optionenstruktur des deutschen Systems Arbeiterkinder an vielen Stellen vom Weg zu einem akademischen Studium abhält und damit die massive Ungleichheit in den Bildungsergebnissen von Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft zumindest mitverursacht. Dass die in
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Deutschland vorhandene berufsbildende Alternative dabei eine wichtige Rolle spielt, bedeutet nicht, dass man sie aufgeben sollte. Umgestaltet und im Zusammenspiel mit anderen Reformen könnte sie ein wichtiges Element in einem weniger Ungleichheit produzierenden Bildungssystem bleiben. Im Sekundarbereich ist die Ablenkungswirkung durch die berufsbildende Alternative vor allem deshalb so groß, weil tendenziell schon im zehnten Lebensjahr die Weichen dafür gestellt werden, obwohl die berufliche Ausbildung selbst dann erst viele Jahre später beginnt. Die soziale Selektivität in der Sekundarbildung kann durch den Abbau der frühen Segmentierungen des dreigliedrigen Schulsystems verringert werden, ohne dass damit die Stärken des dualen Systems in der Sekundarstufe II beeinträchtigt würden. Das berufsbildende Ausbildungswesen kann bei entsprechender Umgestaltung – wie beispielsweise der erfolgreiche Ausbau von Optionen zum Erwerb der Berufsmaturität in Österreich oder der Schweiz zeigt – viel effizienter als bisher in Deutschland durch anschlussfähige Wege zur Vorbereitung und zum Eintritt in die Tertiärbildung geöffnet werden. Damit könnte sich die Berufsbildung für viele Arbeiterkinder von einer ablenkenden zu einer zu Tertiärbildung hinführenden Alternative weiterentwickeln. Schließlich könnten auf dem postsekundären Niveau durch eine neue und für die ressourcenärmeren Bevölkerungsschichten generösere Gestaltung der Studienfinanzierung die materiellen Hemmnisse zur Aufnahme eines Studiums verringert werden. Wenn dies nur über eine Gegenfinanzierung durch die ressourcenreichen Bevölkerungsschichten möglich ist, dann würde auch die durch die ungleiche Nutzung im Hochschulsystem angelegte Umverteilung von unten nach oben verringert.
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Lebenslanges Lernen und soziale Inklusion – der Markt alleine wird’s nicht richten Klaus Schömann und Janine Leschke
1.
Einleitung
Technische und organisatorische Veränderungen, der demografische Wandel und das stete Wachstum der Beschäftigung in den Dienstleistungen haben zu einer Bedeutungszunahme von Weiterbildung geführt. Infolge dieser Trends haben sich Arbeitsmärkte, Berufsbilder und Berufsstrukturen gewandelt. Während die Erstausbildung früher eine solide Grundlage für den weiteren Berufsverlauf darstellte, ist heute eine fortlaufende Strategie der Weiterbildung (lebenslanges Lernen) mit dem Ziel einer Anpassung an die im spezifischen Arbeitskontext benötigten Fertigkeiten und Fähigkeiten in den meisten Berufsfeldern unerlässlich. Bereits das „Delors“-Weißbuch von 1993 und die OECD „jobs strategy“ haben frühzeitig auf die Bedeutung lebenslangen Lernens hingewiesen, obwohl in diesen strategischen Vorschlägen zu wenig konkrete Wege aufgezeigt wurden, wie eine lebensbegleitende Strategie für alle implementiert werden könnte. Laut der Humankapitaltheorie steigern Bildungsinvestitionen sowohl im schulischen als auch im beruflichen Bereich die Produktivität der betreffenden Person (Franz 1994: 87). Dabei stellt das Humankapital den Bestand an Wissen und Fertigkeiten eines Individuums dar. Die gesteigerte Produktivität erhöht den Marktwert der Arbeit des Individuums, Investitionen in das Humankapital führen somit laut der Theorie zu höheren Einkommen. Die Humankapitaltheorie stellt eine Erweiterung des neoklassischen Modells dar; der Faktor Arbeit ist dieser Theorie zufolge nicht mehr homogen, sondern hängt von der Menge des investierten Humankapitals ab (Sesselmeier und Blauermel 1990: 57). Die berufliche Weiterbildung in Deutschland ist noch weit entfernt von einem systematischen Ansatz des lebenslangen Lernens. Zu starkes Vertrauen auf den Markt als Regelungsmechanismus für Angebot und Nachfrage in der beruflichen Weiterbildung hat zu einer Tendenz geführt, die berufliche Weiterbildung in der Wissensgesellschaft zu einem bedeutenden Faktor der Verstärkung, zumindest der Fortschreibung, sozialer Ungleichheit macht. Ein Vergleich der Teilnehmer an beruflicher Weiterbildung im Mikrozensus 1997 und 2002 zeigt sogar einen leichten Rückgang des Anteils der Teilnehmer gemessen an allen Erwerbspersonen im Alter zwischen 25 und 65 Jahren für Deutschland (ETUI 2003). Trotz der hohen politischen Bedeutung, die lebenslanges Lernen besonders auf der europäischen politischen Agenda besitzt (Europäische Kommission 2003; OECD 2003), zeigt sich empirisch eher ein Bild der Stagnation. Dabei fehlt es nicht an allgemeiner
344
Schömann und Leschke
politischer Zustimmung zu der Bedeutung von lebenslangem Lernen. Aber das freie Spiel der Kräfte von Angebot und Nachfrage auf dem Markt für Qualifikationen führt in der Tendenz zur Suche nach raschen Erträgen aus Bildungsinvestitionen, die gerade in Phasen der gesamtwirtschaftlichen Stagnation zu ungleichen Zugangschancen in berufliche Weiterbildung führen (Schömann und O'Connell 2002). Ziel dieses Beitrags ist es, neueres empirisches Material zur Stützung dieser These vorzulegen und die Funktionsweise der sozialen Selektivität am Beispiel beruflicher Weiterbildung aufzuzeigen (Schömann und Becker 2002). Da zumindest den wichtigsten Individualerhebungen zufolge Frauen in der beruflichen Weiterbildung noch immer unterrepräsentiert sind, soll insbesondere die Frage im Vordergrund stehen, welche Faktoren die Weiterbildungsentscheidung von Frauen beeinflussen bzw. ihre Teilnahmechancen hemmen. Dabei können Einflussfaktoren sowohl in der Familiensituation, beispielsweise in einer höheren Belastung durch Betreuungsaktivitäten, gesucht werden, als auch in der Arbeitswelt. Insbesondere ist zu erwarten, dass die Beschäftigung in weniger weiterbildungsaktiven Wirtschaftssektoren oder Berufen, eine Benachteiligung durch die Arbeitgeber (Fremdselektion), stärkere Vertretung in atypischen Beschäftigungsverhältnissen, Einkommensunterschiede oder andere Formen der Selbstselektion, die Teilnahme an der beruflichen Weiterbildung hemmen. Die möglichen familienspezifischen sowie beruflichen und betrieblichen Einflussfaktoren werden anhand einer Modellschätzung auf ihre Erklärungskraft überprüft. 2.
Entwicklung der allgemeinen Weiterbildungsbeteiligung 1984-2001
Die folgende Abbildung 1 verdeutlicht die Entwicklung der Weiterbildungsbeteiligung1 seit 1984, seit der ersten Welle des Sozioökonomischen Panels (SOEP). Hierbei handelt es sich um die Weiterbildungsbeteiligung jeweils zum Zeitpunkt der Befragung. Folglich weichen diese Angaben deutlich von den referierten Ergebnissen der Schwerpunktbefragungen ab. Diese beziehen sich jeweils auf die Weiterbildungsaktivitäten der letzten drei Jahre.2 Lediglich 1,5 bis 3 Prozent aller Befragten gab zum jeweiligen Untersuchungszeitpunkt eine Weiterbildungsbeteiligung an. Ein deutlicher Anstieg der Beteiligungszahlen ist nach der Wiedervereinigung zu beobachten. Inzwischen hat sich die Weiterbildungsbeteiligung auf einem Level von knapp unter 2 Prozent eingependelt. Die Fortbildung macht durchgehend den größten Anteil der Weiterbildungsaktivitäten aus, Umschulungsmaßnahmen haben vor allem in Folge der Wiedervereinigung an Bedeutung gewonnen. Die allgemeine bzw. politische Weiterbildung sowie die berufliche Rehabilitation entwickeln sich relativ konstant auf niedrigem Niveau. Von etwas größerer Bedeutung mit steigender Tendenz ist die
1 2
Die Definition von Weiterbildung befindet sich im Anhang. Eine detaillierte Beschreibung des herangezogenen Datensatzes erfolgt im Anhang.
Lebenslanges Lernen und soziale Inklusion
345
Kategorie der sonstigen Weiterbildung, die weniger formelle Formen der Weiterbildung beinhaltet. Abbildung 1: Gesamtbeteiligung an unterschiedlichen Formen der Weiterbildung 1984 bis 2001 Prozent 3,5 3 2,5 2 1,5 1 0,5
19 85 19 86 19 87 19 88 19 89 19 90 19 91 19 92 19 93 19 94 19 95 19 96 19 97 19 98 19 99 20 00 20 01
19 84
0
Umschulung Berufl Rehabilitation Sonstige Weiterbildung
Jahr der Befragung Fortbildung Allg /pol Weiterbildung
Quelle: SOEP 2000 – eigene Berechnungen
Während im Jahr 1984 die Männer noch eine deutlich höhere Weiterbildungsbeteiligung aufwiesen und vor allem im Bereich der beruflichen Umschulung und Fortbildung vorn lagen, sind Frauen im Jahr 2001 und auch schon in den zwei vorangegangenen Jahren stärker in Weiterbildungsmaßnahmen vertreten. Die größere Beteiligung von Frauen an Weiterbildung in dieser breiten Formulierung wird auch durch das Berichtssystem Weiterbildung VIII bestätigt (BSW VIII 2000: 37). Insbesondere die Kategorie sonstige Weiterbildung ist überproportional von Frauen frequentiert. Tabelle 1 verdeutlicht die Differenzen in der Weiterbildungsbeteiligung zwischen Männern und Frauen in den unterschiedlichen Weiterbildungsbereichen zu vier verschiedenen Zeitpunkten.
346
Schömann und Leschke
Tabelle 1: Prozentuale Anteile von Männern und Frauen in den jeweiligen Weiterbildungsformen in 1984, 1990, 1995 und 2001 1984
1990
1995
2001
M
F
M
F
M
F
M
F
Berufliche Umschulung
70
30
71
29
53
47
49
51
Berufliche Fortbildung
71
29
60
40
48
52
38
62
Allgemeine Weiterbildung
40
60
67
33
59
41
30
70
Sonstige Weiterbildung
41
59
31
69
52
48
40
60
Insgesamt
55
45
57
43
53
47
39
61
Quelle: SOEP 2000 – eigene Berechnungen
Die berufliche Weiterbildung Im weiteren Verlauf wird ausschließlich die berufliche Weiterbildung betrachtet, die im Rahmen von betrieblichen oder außerbetrieblichen Kursen und Lehrgängen, also organisiert, erfolgt. Um ein umfassenderes Bild der beruflichen Weiterbildung zu zeichnen, soll hier aber ein kurzer Blick auf zwei weitere Formen der beruflichen Weiterbildung – die Teilnahme an Fachmessen oder Kongressen und das Lesen von Fachzeitschriften bzw. Fachbüchern – gerichtet werden. Im Vergleich zu den Angaben für die Jahre 1990 bis 1993 ist die Beteiligung an diesen Formen der beruflichen Weiterbildung in allen hier betrachteten Bereichen leicht gestiegen (siehe Tabelle 2). Tabelle 2: Weiterbildung über die Lektüre von Fachzeitschriften und den Besuch von Kongressen nach Geschlecht und Jahren in Prozent Fachzeitschriften/ -bücher gelesen ja (1990-1993) ja (1997-2000) Fachmessen/ Kongresse besucht ja (1990-1993) ja (1997-2000) Quelle: SOEP 2000 – eigene Berechnungen
Männlich
Weiblich
Total
39 45
24 32
32 38
20 24
9 11
15 17
Lebenslanges Lernen und soziale Inklusion
347
So gaben im Jahr 2000 38 Prozent der Untersuchungsgruppe an, in den letzten drei Jahren regelmäßig Fachzeitschriften bzw. Fachbücher gelesen zu haben, und rund 17 Prozent der Befragten hatten an Fachmessen oder Kongressen teilgenommen.3 Betrachtet man diese Formen der Weiterbildung getrennt nach Frauen und Männern ergeben sich deutliche Differenzen. So gaben etwa 13 Prozent mehr Männer an, sich durch das Lesen von Fachzeitschriften und -büchern weitergebildet zu haben, die Beteiligung an Fachmessen und Kongressen lag für Männer mehr als doppelt so hoch wie für Frauen. Trotz eindeutiger Annäherungen von Frauen und Männern gegenüber der Befragung von 1993, bestätigen diese Ergebnisse eine Geschlechtersegregation in den Formen der Weiterbildungsbeteiligung, der für die „klassische“ organisierte Weiterbildung im Folgenden aufgezeigt wird. Selektivität der Weiterbildungsteilnahme Die Weiterbildungsbeteiligung ist in Deutschland in Bezug auf unterschiedliche Charakteristika selektiv. So hängt die Beteiligung nicht nur vom Geschlecht ab, sondern wird zusätzlich vom Bildungsgrad und der Wohnregion beeinflusst. Weitere wichtige Einflussfaktoren stellen die Herkunft, das Alter und der Erwerbsstatus dar. Der folgende Abschnitt erläutert diesen Sachverhalt. Die im Folgenden erörterte Segmentierung der Weiterbildungsbeteiligung wird auch durch Ergebnisse vonseiten der Betriebe bestätigt (ETUI 2003). Fast ein Viertel der Untersuchungsgruppe gaben im Jahr 2000 an, in den letzten drei Jahren berufsbezogene Kurse oder Lehrgänge besucht zu haben, dies stellt eine geringfügige Steigerung gegenüber den Angaben von 1993 (etwa 22 Prozent) dar. Frauen liegen bei der beruflichen Weiterbildung mit einer Beteiligungsquote von rund 22 Prozent nach wie vor hinter den Männern mit rund 26 Prozent, auch wenn sich der Abstand zu den männlichen Weiterbildungsteilnehmern im Vergleich zur Umfrage von 1993 leicht verringert hat. Es kann angenommen werden, dass sowohl eine Eigenselektivität – wahrscheinlich aufgrund einer stärkeren Einbindung in Familienaktivitäten neben der Erwerbsbeteiligung – vorliegt als auch eine von außen gesteuerte Selektivität durch die Betriebe, die unter Umständen dazu tendieren, eher in Personen in regulärer Vollzeitbeschäftigung – vorwiegend Männer – zu investieren. So bestätigen dann auch Analysen anhand der Daten des SOEPs, dass Arbeitgeber häufiger Weiterbildungsmaßnahmen von männlichen als von weiblichen Angestellten finanziell unterstützen. Die Ergebnisse zur geschlechterspezifischen Selektivität bei der beruflichen Weiterbildung werden durch die Individualbefragungen des „Berichtssystems Weiterbildung“ (BSW) aus dem Jahr 2000 bestätigt. Dem BSW zufolge nahmen 3
Die Untersuchungsgruppe besteht aus vollzeitbeschäftigten, teilzeitbeschäftigten, geringfügig beschäftigten und nicht erwerbstätigen Personen zwischen 20 und unter 65 Jahren. Ausgeschlossen sind folglich Personen in Ausbildung, Personen, die Militär- und Zivildienst leisten, und Personen, die in Behindertenwerkstätten beschäftigt sind.
348
Schömann und Leschke
nur 23 Prozent der Frauen an beruflicher Weiterbildung teil, während sich 34 Prozent der Männer beteiligten (BSW VIII 2000: 37). Bei den Betriebsumfragen sind die Ergebnisse ambivalenter. Während die Ergebnisse des „Continuous Vocational Training Survey“ (CVTS 2000) in Bezug auf die Weiterbildungspartizipation von Frauen mit den Individualbefragungen übereinstimmen, kommt die IABBetriebsbefragung aus dem Jahr 2001 hinsichtlich der Verteilung von betrieblich finanzierter Weiterbildung auf Frauen und Männer zu einem konträren Ergebnis. Sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern profitieren Frauen mit 18 zu 17 Prozent respektive 22 zu 16 Prozent stärker von dieser Art der Weiterbildung als Männer (Bellmann 2003: 63). Während die Verschiebung hin zu einer höheren Beteiligung von Frauen in den neuen Bundesländern schon 1997 in der IAB-Umfrage beobachtet wurde, erfolgte sie in den alten Bundesländern erst 1999. Der Vergleich zwischen Individualerhebungen und Betriebsbefragungen ist insofern problematisch, als dass bei den Individualerhebungen häufig auch berufsbezogene individuelle und öffentlich finanzierte Maßnahmen erfragt werden. So wird beispielsweise im SOEP die Frage nach der Teilnahme an berufsbezogenen Lehrgängen und Kursen gestellt; explizit erfragt werden unter dieser Kategorie auch vom Arbeitsamt finanzierte Umschulungsmaßnahmen. Neben dem Geschlecht stellt der Bildungsgrad bzw. das Qualifikationsniveau einen weiteren bedeutenden Einflussfaktor dar. So ist die Weiterbildungsbeteiligung von Hoch- und Fachhochschulabsolventen mit fast 38 Prozent im Jahr 2000 bedeutend höher als die von Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung (26 Prozent). Trotz der gezielten Förderung von Geringqualifizierten (beispielsweise durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen) liegt die Weiterbildungsbeteiligung von Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung mit 7 Prozent sehr niedrig. Gegenüber den Ergebnissen von 1993 fanden hier kaum Veränderungen statt. In diesem Bereich werden die Ergebnisse mit dem SOEP durch alle anderen großen Untersuchungen bestätigt. Differenzen in der Weiterbildungsbeteiligung lassen sich auch in Abhängigkeit der Wohnregionen erkennen. Die Beteiligung an beruflicher Weiterbildung liegt in den neuen Bundesländern mit durchschnittlich 27 Prozent und in den Stadtstaaten mit 26 bis 29 Prozent höher als in den alten Bundesländern (durchschnittlich 23 Prozent). Mit Ausnahme Thüringens weisen alle neuen Bundesländer Weiterbildungsbeteiligungsquoten auf, die oberhalb der Quoten der alten Bundesländer liegen. Während in Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Baden Württemberg die Frequentierung beruflicher Weiterbildung mit um die 20 Prozent am geringsten ist, liegt Brandenburg mit einer Beteiligung von fast 30 Prozent an erster Stelle. Bei der Schwerpunktbefragung im Jahr 1993 war die Weiterbildungsbeteiligungsdifferenz zwischen den neuen und alten Bundesländern mit einem Abstand von bis zu 15 Prozent noch wesentlich deutlicher gewesen. Die Quoten zwischen den einzelnen Bundesländern haben sich folglich angeglichen (BMBF 2003: 131ff.). Neben den unterschiedlichen rechtlichen Grundlagen für
Lebenslanges Lernen und soziale Inklusion
349
Weiterbildung können die Differenzen in der Beteiligung insbesondere zwischen den alten und den neuen Bundesländern unter anderem auf die divergierende Arbeitsmarktlage zurückgeführt werden, so nimmt aufgrund der umfassenden wirtschaftlichen Umstrukturierungen die Umschulung in den neuen Bundesländern eine wesentlich bedeutendere Rolle ein, auch wenn die Frequentierung von Umschulungsmaßnahmen in den letzten Jahren rückläufig ist. Diese Erklärung dürfte auch für die Stadtstaaten zutreffen, allerdings kann für diese zusätzlich angenommen werden, dass es aufgrund der höheren Dichte der Angebote und der besseren Infrastruktur wesentlich einfacher ist insbesondere außerbetriebliche Weiterbildungsangebote in Anspruch zu nehmen. Dem BSW zufolge gibt es nach Ansicht der Weiterbildungsnachfrager erhebliche Angebotsdiskrepanzen zwischen kleineren Gemeinden und Großstädten (BSW 2000: 66). Eine weitere Segmentierung der beruflichen Weiterbildungsbeteiligung erfolgt zwischen deutschen und nichtdeutschen Arbeitnehmern. So lag die Teilnahmequote der Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit in den Jahren 1997 bis 2000 mit ca. 8 Prozent fast 20 Prozent unterhalb der Quote von Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Nichtdeutsche, die häufiger als Deutsche auf Stellen mit niedrigem Qualifikationslevel, auf denen traditionell weniger Weiterbildung stattfindet, beschäftigt sind, sind folglich bei der beruflichen Weiterbildungsbeteiligung deutlich benachteiligt. Des Weiteren schwankt die Weiterbildungsaffinität mit dem Alter. Den Daten des SOEPs von 1993 zufolge ist die Teilnahme an beruflichen Weiterbildungsangeboten zwischen Mitte 20 und Anfang 40 am höchsten, danach sinkt sie kontinuierlich. Die Daten aus dem Jahr 2000 deuten allerdings auf eine Verschiebung der Weiterbildungsaktivitäten auf ältere Personen hin. Die Beteiligung steigt erst mit Ende 20 deutlich an und bleibt bis Ende 40 auf einem konstant hohen Niveau. Die Ergebnisse des BSW aus dem Jahr 2000 bestätigen diese Beobachtung (BSW VIII 2000: 25). Betrachtet man die Beteiligung von Frauen isoliert, so erkennt man in den frühen Dreißigern ein vorübergehendes Abflachen der Beteiligung. Dies könnte auf eine verstärkte Einbindung in Kinderbetreuungsaktivitäten und folglich weniger Freiraum für Weiterbildungsaktivitäten zu diesem Zeitpunkt zurückzuführen sein. Als letzter Einflussfaktor soll hier der Erwerbsstatus erwähnt werden. Differenziert man zwischen Erwerbstätigen und Nichterwerbstätigen, so wird deutlich, dass die Nichterwerbstätigen sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern nur einen sehr geringen Teil der Personen in Weiterbildung ausmachen (vgl. Tabelle 3). Auch bei Nichterwerbstätigen sinkt die Weiterbildungsbeteiligung deutlich mit dem Alter und steigt mit dem Qualifikationsgrad. So nehmen jüngere Erwerbslose (20 bis 45 Jahre) wesentlich häufiger an Weiterbildungsmaßnahmen teil als ältere Erwerbslose (45 bis 65 Jahre). Betrachtet man die Teilnahme der nichterwerbstätigen Personen differenziert nach Ost- und Westdeutschland, so schneiden insbesondere die Nichterwerbstätigen mit höheren Qualifikationsniveaus in Ostdeutsch-
350
Schömann und Leschke
land deutlich besser ab als die in Westdeutschland. Der Großteil der Weiterbildungsbeteiligung von Nichterwerbstätigen dürfte sich auf Umschulungsmaßnahmen konzentrieren. Tabelle 3: Teilnahme an beruflicher Weiterbildung nach Erwerbsstatus (in Prozent) Alter und Qualifikationsniveau 45-65
20-45 HS/FHS maB
HS/FHS maB oaB
Insgesamt
HS/FHS maB oaB
Total
oaB Total
Total
Westdeutschland Anteil der WBTeilnehmer an den Erwerbstätigen Anteil der WBTeilnehmer an den Nichterwerbstätigen Anteil der Erwerbstätigen
43
35
11
33
44
28
6
27
44
32
9
31
15
12
5
11
9
4
3
4
14
7
3
7
70
83
61
78
82
62
48
61
74
74
54
71
Ostdeutschland Anteil der WBTeilnehmer an den Erwerbstätigen Anteil der WBTeilnehmer an den Nichterwerbstätigen Anteil der Erwerbstätigen
45
35
21
36
50
30
6
33
47
33
17
35
26
21
6
20
18
7
1
7
22
12
3
12
69
78
51
75
75
55
23
55
72
67
37
66
Legende: HS/FHS: Hochschule/Universität oder Fachhochschule; maB: mit abgeschlossener Berufsausbildung; oaB: ohne abgeschlossene Berufsausbildung Quelle: SOEP 2000 – eigene Berechnungen
Die Untersuchung des Einflusses weiterer Faktoren auf die Teilnahme von Frauen und Männern an beruflicher Weiterbildung und die Betrachtung der Interaktionen
Lebenslanges Lernen und soziale Inklusion
351
zwischen den einzelnen Einflussfaktoren erfolgt in differenzierter Form im vierten Teil des Beitrags anhand von multivariaten Analysen. 3.
Ausgestaltung, Zielsetzung und subjektiver Nutzen berufsbezogener Weiterbildungsmaßnahmen
Wo liegen nun die Beweggründe für eine Teilnahme an berufsbezogenen Weiterbildungsmaßnahmen und welche Argumente können aus individueller Sicht gegen eine Weiterbildungsbeteiligung sprechen? Wie sehen die Ziele der spezifisch durchgeführten Weiterbildungskurse aus und in welchem Umfang finden sie statt? In welchem Ausmaß treten Arbeitgeber als Anbieter der Maßnahmen auf und wer finanziert die Weiterbildungskurse? Steht die Wahrnehmung der Beweggründe in Übereinstimmung mit den konstatierten Veränderungen der Arbeitswelt (strukturelle Veränderungen der Arbeitswelt, Technisierung der Arbeitsvorgänge, Halbwertzeit des Wissens) oder stehen andere Motive im Vordergrund? Schließlich ist auch ein näherer Blick auf die individuelle Beurteilung des Nutzens spezifischer Weiterbildungsmaßnahmen von Bedeutung. Die folgenden Abschnitte beziehen sich vorwiegend auf die Umfrageergebnisse aus der Weiterbildungsschwerpunkterhebung des SOEPs aus dem Jahr 2000. Punktuell werden Vergleiche mit der Erhebung von 1993 durchgeführt.4 Die Daten werden aufgrund der Kenntnisse über den segmentierten Weiterbildungsmarkt jeweils nach Geschlecht, Qualifikationsniveau und Wohnregion (neue vs. alte Bundesländer) analysiert (in Anlehnung an Büchel und Pannenberg 2002). Gründe für oder gegen eine Teilnahme an beruflicher Weiterbildung Auf Individualebene dürfte der wichtigste Grund für eine Weiterbildungsbeteiligung, also eine Humankapitalinvestition, die Annahme sein, durch diese Maßnahme die innerbetrieblichen sowie die außerbetrieblichen beruflichen Perspektiven und das zukünftige Einkommen zu verbessern. Von betrieblicher Seite werden Weiterbildungsmaßnahmen der Belegschaft in der Hoffnung unterstützt, so die Wettbewerbs- und die Gewinnsituation des Unternehmens zu stärken. Die Bereitschaft vonseiten des Unternehmens zumindest einen Teil der Kosten einer Weiterqualifizierung zu übernehmen dürfte vor allem dann bestehen, wenn die Mitarbeiter nicht bereit sind, die Kosten der Maßnahme selbst zu tragen und vor allem wenn keine Abwanderung der weitergebildeten Arbeitskräfte zu befürchten ist (Hübler und König 1999: 263ff.).5 Teilweise existieren Rückzahlungsklauseln, die den Arbeitnehmer an den entstandenen Qualifizierungskosten beteiligen, wenn er 4 5
Wegen des begrenzten Textumfangs sind die Tabellen nicht beigefügt. Sie sind auf Anfragen bei den Autoren erhältlich. Eine ausführliche Darstellung der individuellen Beweggründe für eine Weiterbildungsbeteiligung und der Förderung der Weiterbildung durch die Arbeitgeber hat Behringer (1999: 31-58) vorgelegt.
352
Schömann und Leschke
den Betrieb nach Abschluss einer vom Betrieb finanzierten Weiterbildungsmaßnahme verlässt (Bellmann 1993: 84). Tabelle 4:Motivation für Teilnahme an beruflicher Weiterbildung (Mehrfachnennung in Prozent)* Alter und Qualifikationsniveau 45-65
20-45 HS/FHS maB
HS/FHS maB oaB
Insgesamt
HS/FHS maB oaB
Total
oaB Total
Total
Westdeutschland Beruflichen Abschluss nachholen Umschulen Kenntnisse auffrischen An neue Entwicklungen anpassen Qualifizieren für beruflichen Aufstieg Neue Gebiete kennenlernen
5
3
9
4
8
3
5
4
6
3
7
4
9
10
10
10
14
11
6
10
11
10
7
10
37
28
13
27
38
28
5
23
37
28
8
25
60
41
20
41
57
35
8
30
59
38
12
35
46
33
23
34
44
26
8
23
45
30
13
28
34
22
22
24
42
22
10
21
38
22
14
22
11
4
7
3
13
4
Ostdeutschland Beruflichen Abschluss nachholen Umschulen Kenntnisse auffrischen An neue Entwicklungen anpassen Qualifizieren für beruflichen Aufstieg Neue Gebiete kennenlernen
8
3
19
5
6
2
15
18
17
17
17
18
9
16
16
18
12
17
34
30
17
30
46
30
12
29
40
30
13
29
57
37
30
40
60
33
15
34
58
35
19
37
40
27
32
29
41
20
16
22
40
23
20
25
34
23
31
25
38
20
16
21
36
21
20
23
*In den Tabellen 5-10 sind Auszubildende, Zivil- und Militärdienstleistende mit einbezogen. Außerdem umfassen sie Personen zwischen 16 und 65 Jahren. Die Ergebnisse weichen kaum von Ergebnissen für die in Fußnote 2 benannte Untersuchungsgruppe ab. Eine Beschränkung auf die oben genannte Untersuchungsgruppe hätte die Fallzahlen insbesondere in bestimmten Kategorien stark eingeschränkt und kleinteiligere Analysen nicht erlaubt. Quelle: SOEP 2000 – eigene Berechnungen
Lebenslanges Lernen und soziale Inklusion
353
Motive, die für und gegen eine Teilnahme an beruflicher Weiterbildung sprechen, beziehen sich auf die Schwerpunktfragen zur beruflichen Weiterbildung im SOEP, die an alle Personen unter 65 Jahren unabhängig von ihrer tatsächlichen Weiterbildungsbeteiligung gerichtet wurden. Mehrfachnennungen waren möglich. Mit steigendem Qualifikationsniveau wird den einzelnen Motiven für eine Teilnahme an Weiterbildung, mit Ausnahme des Ziels eine Abschlussprüfung nachzuholen, sowohl von Frauen als auch von Männern deutlich größere Bedeutung zugesprochen (siehe Tabelle 4). Das Weiterbildungsmotiv, sich ständig neuen Entwicklungen im Beruf anzupassen, erhält die größte Zustimmung. Über ein Drittel der Befragten nannte dieses Ziel als möglichen Auslöser einer Weiterbildungsteilnahme. Die große Bedeutung, die diesem Beweggrund entgegengebracht wird, deutet darauf hin, dass die fortwährende Veränderung und Technologisierung der Arbeitswelt von den Arbeitnehmern deutlich wahrgenommen wird und der Bedarf an Hilfestellungen bei der Abstimmung der Fähigkeiten auf diese Neuerungen weit reichend ist. Mehr als 25 Prozent der Personen mit Berufsausbildung oder höherem Bildungsabschluss sahen außerdem den Erwerb von Aufstiegsqualifikationen und das Auffrischen teilweise veralteter Kenntnisse als bedeutend an. Bei Personen ohne Berufsbildungsabschluss stehen neben dem Motiv der Anpassung an neue Entwicklungen, mit annähernd gleichen Zustimmungswerten der Erwerb von Aufstiegsqualifikationen und das Kennenlernen neuer Gebiete, um beruflich flexibler sein zu können, im Vordergrund. Deutlich weniger Personen – nur ca. 4 Prozent - nannten als möglichen Auslöser einer Weiterbildung das Nachholen eines Abschlusses, und auch eine berufliche Umschulung wurde nur von wenigen Personen als Weiterbildungsgrund angegeben. Hier bestehen allerdings nach wie vor deutliche Unterschiede zwischen den alten und den neuen Bundesländern mit respektive 10 und 17 Prozent. Insgesamt messen Männer der beruflichen Weiterbildung (gemessen an der Motivbenennung) eine größere Bedeutung zu als Frauen. Erhebliche Differenzen existieren insbesondere bei der Benennung der Motive Aufstiegsqualifikationen und der Anpassung an neue Entwicklungen. Allerdings existieren kaum Unterschiede zwischen Männern und Frauen mit Hoch- oder Fachhochschulabschluss bezüglich der allgemeinen Beurteilung der Wichtigkeit von Weiterbildung. Ein erheblich geringeres Interesse von Frauen an Weiterbildung wird erst auf den niedrigeren Qualifikationsniveaus deutlich. Der Vergleich der Aussagen zu den Motiven für eine Weiterbildungsbeteiligung aus dem Jahr 2000 mit den Aussagen von 1993 zeigt nur sehr geringe Unterschiede. Die oben formulierten Zusammenhänge sind weitgehend auch für die Ergebnisse von 1993 zutreffend. Betrachtet man die betriebliche Seite, so stellen die mit Abstand wichtigsten Gründe für eine Unterstützung von Weiterbildungsmaßnahmen neue Anforderungen im Produktionsprozess dar, d h. neue Produkte, neue Verfahren oder neue Organisationsstrukturen. Mit weitem Abstand folgen Weiterbildungsmaßnahmen zur Leistungsstimulierung und berufliche Weiterquali-
354
Schömann und Leschke
fizierung als Ausgleich für Kenntnisse, die in der Erstausbildung nicht vermittelt wurden oder auf dem Arbeitsmarkt nicht verfügbar sind (BSW VIII 2003: 73). Worin bestehen nun die möglichen Beweggründe nicht an beruflicher Weiterbildung in organisierter Form zu partizipieren? Schließlich hatte der Großteil auch der erwerbstätigen Befragten in den der Umfrage vorausgegangenen drei Jahren nicht an berufsbezogenen Weiterbildungskursen oder -lehrgängen teilgenommen. Tabelle 5: Persönliche Gründe für die Nichtteilnahme an beruflicher Weiterbildung (Mehrfachnennung in Prozent) Männer
Frauen
HS/FHS maB
Insgesamt
HS/FHS maB oaB
HS/FHS maB oaB
Total
oaB Total
Total
Westdeutschland Finanzielle Gründe bzw. Verdienstausfall Fehlende Zeit Keine Verbesserung der Berufschance Generell kein Interesse
24
36
45
35
27
35
29
33
25
35
35
34
27
27
31
28
27
31
21
28
27
29
24
28
19
26
34
26
21
27
24
26
20
27
27
26
13
25
41
25
15
28
39
29
14
26
39
27
Ostdeutschland Finanzielle Gründe bzw. Verdienstausfall Fehlende Zeit Keine Verbesserung der Berufschance Generell kein Interesse
30
42
48
41
28
39
22
35
29
40
29
38
19
26
25
25
23
21
8
19
21
23
13
22
18
27
28
26
17
26
13
23
18
27
17
25
13
24
25
22
12
25
21
23
13
24
22
22
Quelle: SOEP 2000 – eigene Berechnungen
Wie in Tabelle 5 verdeutlicht, werden im Durchschnitt aller Qualifikationsgruppen als häufigstes Nichtteilnahmemotiv sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern finanzielle Gründe und der antizipierte Verdienstausfall genannt. Differenziert man nach den Qualifikationsabschlüssen, so ergeben sich nur bei Männern aus den alten Bundesländern, die einen Hoch- oder Fachhochschulabschluss besitzen, und Frauen aus den alten Bundesländern ohne Abschluss Abweichungen. Sie nennen fehlende Zeit respektive generell kein Interesse an Weiterbil-
Lebenslanges Lernen und soziale Inklusion
355
dung als wichtigste Motive der Nichtteilnahme. Insgesamt sind finanzielle Gründe als Motiv für die Nichtteilnahme an Weiterbildung bedeutender für Personen, die keinen Hoch- oder Fachhochschulabschluss besitzen. Die Aussage, dass generell kein Interesse an Weiterbildung bestünde, wird von Frauen und Männern ohne Berufsbildungsabschluss in den alten Bundesländern höher bewertet als in den neuen Bundesländern. Allerdings wird dieses Motiv in West- und Ostdeutschland wesentlich seltener genannt als in der Befragung aus dem Jahre 1993. Dies könnte zumindest in den neuen Bundesländern mit den schlechteren Arbeitsmarktbedingungen zusammenhängen, die Weiterbildungskurse als Voraussetzung für die Stabilität einer vorhandenen Arbeitsstelle oder für die Chance einer Arbeitswiederaufnahme als unerlässlich erscheinen lassen. Klare Differenzen zwischen den Aussagen von Frauen und Männern ergeben sich nur bei den Personen ohne Abschluss. Hier sprechen sich Frauen in Ost- und Westdeutschland in deutlich geringerem Maße für die jeweiligen Nichtteilnahmemotive aus als Männer. Auch bei den möglichen Gründen, die gegen eine Teilnahme an Weiterbildung sprechen, lassen sich nur wenig deutliche Abweichmuster zu den Aussagen von 1993 beobachten. Allerdings hat fast durchgehend, und besonders deutlich in Westdeutschland, das Nichtbeteiligungsmotiv „keine Verbesserung der Berufschancen“ an Bedeutung verloren. Struktur der Teilnahme an Weiterbildung und Charakteristika der Maßnahme Die im Folgenden referierten Ergebnisse beziehen sich auf die Personen unter 65 Jahre, die in den letzten drei Jahren tatsächlich an Weiterbildungskursen oder -lehrgängen teilgenommen haben. In den folgenden Abschnitten, die sich auf die spezifische Weiterbildungsbeteiligung beziehen, sollten die Ergebnisse für die Kategorie „Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung“ mit Vorsicht interpretiert werden; insbesondere für die neuen Bundesländer sind die Fallzahlen in dieser Kategorie gering. Die folgenden Analysen beruhen größtenteils auf den Umfrageergebnissen für den Weiterbildungskurs, der zeitlich am nächsten zur Umfrage liegt. Dies hat den Vorteil, dass alle Personen, die in dem Dreijahreszeitraum an Weiterbildungsmaßnahmen teilgenommen haben, nur einmal in den Daten auftauchen und dass das Erinnerungsvermögen bezüglich des am kürzesten zurückliegenden Kurses wahrscheinlich am akkuratesten ist. Betrachtet man nun die Struktur der durchgeführten Weiterbildungskurse anhand der Kriterien Maßnahmenzahl, Gesamtdauer und wöchentliche Stundenzahl des letzten Weiterbildungskurses sowie Bedarf an Eigenmitteln, so ergeben sich wiederum deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Qualifikationsgruppen, zwischen Frauen und Männern sowie Ost- und Westdeutschland (siehe Tabelle 6).
356
Schömann und Leschke
Tabelle 6: Struktur der zuletzt besuchten Weiterbildungsmaßnahme (Absolute Zahlen und Durchschnittswerte) Männer
Frauen
HS/FHS maB
Insgesamt
HS/FHS maB oaB
HS/FHS maB oaB
Total
oaB Total
Total
Westdeutschland Anzahl aller Maßnahmen Gesamtdauer der Maßnahme (Wochen) Stunden pro Woche Eigenmittel (DM)
4.1
4.0
2.7
3.9
4.0
3.6
2.3
3.6
4.0
3.8
2.5
3.8
3
4
2.5
4
4
5
4
5
3
4.5
3.5
4
21
21
22
21
17
16
18.5
16.5
19.5
19
20
19
860
1700
849
978
257
916
1187 1402
566
1317
1553 1792
Ostdeutschland Anzahl aller Maßnahmen Gesamtdauer der Maßnahme (Wochen) Stunden pro Woche Eigenmittel (DM)
3.4
2.9
2.0
3.0
3.8
3.0
1.6
3.2
3.6
3.0
1.8
3.0
3
3.5
11
35
6
7
3
6.5
5
5
6.5
5
20
23
27
22.5
16
17
21
17
18
20
24
20
1265
997
716
1075
720
830
770
778
992
920
328
934
Quelle: SOEP 2000 – eigene Berechnungen
Die Zahl der absolvierten Weiterbildungskurse innerhalb der letzten drei Jahre schwankt zwischen durchschnittlich um die zwei Maßnahmen bei Personen ohne Abschluss und um die vier Weiterbildungsmaßnahmen bei Personen mit Hochoder Fachhochschulabschluss. Die Anzahl der absolvierten Maßnahmen in den neuen Bundesländern liegt auf allen Qualifikationslevels etwas niedriger. Die Gesamtdauer der am kürzesten zurückliegenden Maßnahme beträgt durchschnittlich vier Wochen in den alten Bundesländern und fünf Wochen in den neuen Bundesländern. Personen mit einem Berufsbildungsabschluss verzeichnen die längste Gesamtdauer der Maßnahme, während die Stundenzahl pro Woche bei den Personen ohne Abschluss am höchsten liegt. Dies könnte auf den vergleichsweise großen Anteil von Personen ohne Berufsbildungsabschluss in Umschulungsmaßnah-
Lebenslanges Lernen und soziale Inklusion
357
men zurückzuführen sein. Denn ein Drittel der Personen, die an Umschulungslehrgängen teilnahmen, besuchten eine Vollzeitmaßnahme, während von den Personen, die Aufstiegsqualifikationen als Ziel ihrer Weiterbildungsmaßnahme angaben, nur ein Zehntel eine Vollzeitmaßnahme absolvierte. Die durchschnittliche wöchentliche Stundenzahl eines Qualifizierungskurses liegt bei Männern um die 22 Stunden, bei Frauen deutlich geringer um die 17 Stunden; dafür liegt die Gesamtdauer der Weiterbildungsmaßnahme bei Frauen durchschnittlich oberhalb derjenigen der Männer. Die neuen Bundesländer schneiden bezüglich der Dauer und des Volumens der Maßnahmen besser ab als die alten Bundesländer. Dieses Ergebnis wird auch vom BSW für das Jahr 2000 bestätigt, allerdings wird auch konstatiert, dass sich die Differenz seit 1997 abgeschwächt hat (Kuwan 2003: 65ff.). Die Eigenmittel, die Frauen durchschnittlich in Weiterbildungsmaßnahmen investieren, liegen deutlich unterhalb der Eigenmittel der Männer. Des Weiteren bestehen große Differenzen zwischen den finanziellen Aufwendungen von Personen mit Ausbildungs-, Fachhochschul- oder Hochschulabschluss und Personen ohne Ausbildungsabschluss, die – und hier sind es insbesondere die Frauen – wesentlich weniger eigene Mittel beisteuern. In Westdeutschland erfolgt häufiger eine finanzielle Unterstützung der Weiterbildung durch den Arbeitgeber als in Ostdeutschland (vgl. Tabelle 7). Durchschnittlich werden zwei Drittel der männlichen Weiterbildungsteilnehmer im Westen zumindest teilweise von ihrem Arbeitgeber unterstützt, der Anteil westdeutscher Frauen, die finanzielle Unterstützung vonseiten des Arbeitgebers erhalten, liegt 10 Prozentpunkte niedriger und damit auf ähnlichem Niveau wie bei den ostdeutschen Männern. Frauen in den neuen Bundesländern schneiden mit unter 50 Prozent noch schlechter ab. Die Differenzen zwischen West- und Ostdeutschland schlagen sich auch in deutlich geringeren Aufwendungen je Mitarbeiter nieder, während Betriebe in den alten Bundesländern im Jahr 1998 im Durchschnitt ca. 2240 DM für die Weiterbildung je Mitarbeiter aufgewendet haben, waren es in den neuen Bundesländern nur ca. 1315 DM (Weiß 2000: 35). Insbesondere Personen ohne Ausbildungsabschluss erhalten in den neuen Bundesländern kaum finanzielle Unterstützung vom Arbeitgeber. Dies könnte wiederum auf den großen Anteil an Umschulungsmaßnahmen, die in der Regel vom Arbeitsamt unterstützt werden, in dieser Gruppe zurückzuführen sein. So erhalten den Daten des SOEPs zufolge 12 Prozent der Personen ohne Berufsausbildungsabschluss während der Weiterbildungsmaßnahme finanzielle Unterstützung vom Arbeitsamt, bei den Personen mit Berufsbildungsabschluss liegt dieser Anteil bei 5,8 Prozent, bei Hoch- oder Fachhochschulabsolventen bei nur 2,6 Prozent. Insgesamt wandten sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern über zwei Drittel der Weiterbildungsteilnehmer an Kursen keine eigenen finanziellen Mittel für die vor der Befragung zuletzt besuchte Weiterbildungsmaßnahme auf. Freizeit als nicht finanzielle Zeitressource wurde hier nicht berücksichtigt.
358
Schömann und Leschke
Tabelle 7: Charakteristika des zuletzt besuchten Weiterbildungskurses bzw. Weiterbildungslehrgangs (Angaben in Prozent) Männer
Frauen
HS/FHS maB
Insgesamt
HS/FHS maB oaB
HS/FHS maB oaB
Total
oaB Total
Total
Westdeutschland Während Arbeitszeit durchgeführt* Von Arbeitgeber, Betrieb, Behörde durchgeführt Finanzielle Unterstützung vom Arbeitgeber* Ohne Kosten für Teilnehmer
73
75
60
74
59
61
49
60
67
69
54
68
37
43
35
42
35
38
38
37
36
41
37
40
62
68
52
66
49
58
47
56
56
64
49
61
72
71
70
71
60
68
72
67
66
70
71
69
Ostdeutschland Während Arbeitszeit durchgeführt* Von Arbeitgeber, Betrieb, Behörde durchgeführt Finanzielle Unterstützung vom Arbeitgeber* Ohne Kosten für Teilnehmer
78
68
33
70
43
56
30
53
59
62
32
61
26
39
21
36
29
43
27
40
28
41
24
38
49
59
22
57
35
52
14
47
42
56
18
52
52
73
80
69
58
75
54
71
55
74
66
70
* zumindest teilweise Quelle: SOEP 2000 – eigene Berechnungen
Klare Unterschiede in der Weiterbildungspartizipation von Frauen und Männern ergeben sich, wenn man die zeitliche Lage der Maßnahmen betrachtet. Frauen absolvieren ihre Weiterbildungsmaßnahmen seltener während der Arbeitszeit als Männer. Am seltensten erfolgen die Weiterbildungsmaßnahmen von Personen ohne Berufsabschluss insbesondere in den neuen Bundesländern während der Arbeitszeit. Allerdings finden insgesamt über die Hälfte der Maßnahmen sowohl in West- als auch in Ostdeutschland während der Arbeitszeit statt. Das IABBetriebspanel kommt zu ähnlichen Ergebnissen und der IW-Untersuchung zufolge sind sogar 75 Prozent des Weiterbildungsvolumens innerhalb der Arbeitszeit angesiedelt (Heidemann 2001: 34). Annähernd 40 Prozent der Maßnahmen werden vom Arbeitgeber bzw. dem Betrieb oder der Behörde selbst durchgeführt, von
Lebenslanges Lernen und soziale Inklusion
359
betriebsinternen Maßnahmen profitierten Personen mit Berufsbildungsabschluss am häufigsten. Tabelle 8: Veranstalter der Weiterbildungsmaßnahme (letzter/derzeitiger Kurs) Arbeitgeber, Betrieb, Behörde bei dem man/der man beschäftigt ist Besondere Ausbildungsstätte der Firma bzw. Behörde Volkshochschule Wirtschafts-, Berufsverband, Kammer, Innung Gewerkschaft Kirche Privates Schulungszentrum, Institut Sonstiges Insgesamt
Absolut 1908 506 260 623 28 49 840 533 4747
Prozent 40,2 10,7 5,5 13,1 0,6 1,0 17,7 11,2 100,0
Quelle: SOEP 2000 – eigene Berechnungen
Tabelle 8 gibt eine Übersicht über die Trägerstruktur der Weiterbildungsmaßnahmen. Neben den Betrieben, die mit Abstand am häufigsten direkt als Anbieter von berufsbezogenen Weiterbildungsmaßnahmen auftreten oder über eigene Ausbildungsstätten verfügen, spielen auch private Schulungszentren sowie Wirtschaftsund Berufsverbände eine bedeutende Rolle. Ziel und subjektiver Nutzen der Weiterbildungsmaßnahme Gefragt nach dem Ziel der letzten Weiterbildungsmaßnahme, benennen über zwei Drittel der Weiterbildungsteilnehmer die Notwendigkeit, sich an neue Anforderungen in der bisherigen Tätigkeit anzupassen (vgl. Tabelle 9). Die Nennung dieser Zielsetzung erfolgt seltener bei Personen ohne Berufsbildungsabschluss, liegt aber mit Ausnahme der männlichen Teilnehmer in Ostdeutschland (28 Prozent) auf allen Qualifikationsniveaus bei durchschnittlich über 50 Prozent. Der Erwerb von Aufstiegsqualifikationen spielt in Westdeutschland für knapp 30 Prozent der Teilnehmer und Teilnehmerinnen eine Rolle, in Ostdeutschland für ein Viertel der männlichen Teilnehmer und ein Fünftel der Teilnehmerinnen. Die Zustimmung zu diesem Ziel sinkt tendenziell mit abnehmendem Qualifikationsniveau und liegt bei ostdeutschen Frauen auf allen Qualifikationsniveaus am niedrigsten. Der Vorrang von Motiven, die die Aktualisierung des beruflichen Wissens und die Förderung der beruflichen Karriere betreffen, lässt sich auch durch Betriebsbefragungen bestätigen. So standen in der Betriebsbefragung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) 70 Prozent aller Nennungen zu Weiterbildungsmotiven im Zusammenhang mit der beruflichen Verwertung (Bellmann 2003: 81). Die Einarbeitung an einem neuen Arbeitsplatz erfolgt nur in sehr wenigen Fällen in Form von organisierten Kursen oder Lehrgängen (ca. 5 Prozent). Es kann angenommen werden, dass die Einarbeitung in den meisten Fällen eigenständig oder mit Anleitung direkt am Arbeitsplatz stattfindet – genauere Angaben zu diesem Feld werden
360
Schömann und Leschke
im SOEP nicht erhoben. Allerdings hatte die Einarbeitung als Ziel der letzten organisierten Weiterbildungsmaßnahme in der Befragung von 1993 in den neuen Bundesländern noch eine wesentlich bedeutendere Stellung eingenommen. Umschulungsmaßnahmen spielen in den neuen Bundesländern noch immer eine größere Rolle als in den alten Bundesländern, allerdings ist bzw. war diese Form der Maßnahme auch in den neuen Bundesländern nur bei durchschnittlich 6 Prozent der Weiterbildungsteilnehmer Ziel der momentanen oder zuletzt besuchten Maßnahme. Eine deutliche Zunahme der Beteiligung in Umschulungskursen ist mit sinkendem Qualifikationsniveau sowohl bei Frauen als auch bei Männern in beiden Teilen Deutschlands zu beobachten. Tabelle 9: Ziel des zuletzt besuchten Weiterbildungskurses bzw. -lehrgangs (Mehrfachnennung in Prozent) Männer
Frauen
HS/FHS maB
Insgesamt
HS/FHS maB oaB
HS/FHS maB oaB
Total
Anpassung Aufstieg Einarbeitung Umschulung Sonstige
68 28 7 2 14
71 33 6 3 10
52 18 6 13 23
69 31 6 3 11
Anpassung Aufstieg Einarbeitung Umschulung Sonstige
74 28 5 3 7
71 26 6 6 8
28 23 0 16 28
70 27 5 6 8
oaB Total
Westdeutschland 64 70 54 68 31 29 28 29 4 7 8 6 2 2 8 3 20 12 27 14 Ostdeutschland 71 71 66 71 23 20 02 20 4 5 0 5 4 7 10 6 18 12 34 14
Total
66 29 6 2 16
70 31 6 3 10
53 23 7 10 25
69 30 6 3 12
72 25 5 4 13
71 23 6 7 10
48 12 0 13 31
71 23 5 6 11
Quelle: SOEP 2000 – eigene Berechnungen
Wie schätzen die Weiterbildungsteilnehmer nun den Nutzen der von ihnen absolvierten Weiterbildungsmaßnahme ein? Der subjektive Nutzen lässt sich beispielsweise daran beurteilen, ob sich die Maßnahme in den Augen der teilnehmenden Person beruflich sehr ausgezahlt hat (vgl. Tabelle 10). Diese Meinung vertreten durchschnittlich 40 Prozent der Teilnehmer in den alten Bundesländern und 35 Prozent der Teilnehmer in den neuen Bundesländern mit Abweichungen innerhalb der einzelnen Untergruppen, die aber keinem klaren Muster folgen. In den neuen Bundesländern, nicht aber in den alten, ist der Anteil der Personen, die den beruflichen Nutzen positiv einschätzen gegenüber 1993 gesunken.
Lebenslanges Lernen und soziale Inklusion
361
Tabelle 10: Subjektiver Nutzen der Weiterbildung (alle Kurse – Mehrfachnennung in Prozent) Männer
Frauen
HS/FHS maB
Insgesamt
HS/FHS maB oaB
HS/FHS maB oaB
Total
oaB Total
Total
Westdeutschland Teilnahmebestätigung erhalten (bewerbungsrelevant)* Erworbene Kenntnisse voll/ weitgehend übertragbar Beruflich sehr ausgezahlt
75
74
64
74
73
74
69
74
74
74
67
74
69
68
50
67
65
71
47
68
67
69
48
68
38
42
38
41
42
42
37
42
40
42
38
41
Ostdeutschland Teilnahmebestätigung erhalten (bewerbungsrelevant)* Erworbene Kenntnisse voll/ weitgehend übertragbar Beruflich sehr ausgezahlt
72
77
68
76
80
74
89
75
76
75
79
76
72
61
49
63
64
60
92
61
68
60
72
62
39
36
30
36
41
32
55
34
40
34
43
35
* Diese Angabe bezieht sich auf den zuletzt besuchten bzw. zum Zeitpunkt der Befragung besuchten Kurs Quelle: SOEP 2000 – eigene Berechnungen
Durchschnittlich drei Viertel aller Weiterbildungsteilnehmer haben für den letzten besuchten Kurs eine Teilnahmebestätigung erhalten, die sie als relevant für die Beilage bei einer eventuellen Bewerbung erachten, in den alten Bundesländern sind dies 10 Prozent mehr als bei der Umfrage von 1993. Auch der Anteil der Personen, die die vermittelten Kenntnisse für voll oder weitgehend auf eine andere Stelle übertragbar halten, liegt mit ca. zwei Dritteln hoch. Personen ohne Berufsabschluss halten die ihnen vermittelten Kenntnisse für weniger übertragbar. Allerdings sprachen sich in dieser Qualifikationsgruppe sowohl westdeutsche Frauen als auch Männer 1993 noch wesentlich häufiger für dieses Nutzenargument aus, in Ostdeutschland demgegenüber seltener. Unterschiedlichen Studien zufolge wird der Nutzen berufsbezogener Weiterbildung vonseiten der Teilnehmer häufig höher bewertet, als dies die tatsächlichen
362
Schömann und Leschke
beruflichen Verbesserungen erwarten lassen. So führt insbesondere die berufsbezogene, aber unzertifizierte Weiterbildung in der Regel nicht zu einer Verbesserung der beruflichen Position oder des Einkommens. Immerhin mindert sie aber im Lebensverlauf das Risiko, arbeitslos zu werden oder Rückschritte in der Arbeitsposition in Kauf nehmen zu müssen (Schreiber 1998: 44). Weiterbildungsbeteiligung nach Branchenzugehörigkeit und Betriebsgröße Abschließend soll hier noch ein Blick auf die Weiterbildungsbeteiligung von Frauen und Männern innerhalb einzelner Branchen geworfen werden. Die Banken und Versicherungen, in denen die Weiterbildungsintensität der Mitarbeiter laut SOEP mit am größten ist und die auch Betriebsumfragen zufolge seit Jahren hohe und höchste Werte sowohl bezüglich der Teilnehmerfälle als auch der Teilnehmerstunden aufweisen (Weiß 2000: 32), zeichnen sich durch ein relativ ausgewogenes Verhältnis zwischen Frauen und Männern aus (vgl. Tabelle 11). Tabelle 11: Individuelle Weiterbildungsbeteiligung in Branchen nach Geschlecht (Rangfolge nach gesamter Weiterbildung) und prozentuale Verteilung von Männern und Frauen auf die einzelnen Branchen
Staat und Sozialversicherung Banken und Versicherungen Bildung und Sport Gesundheitswesen Kirchen und Verbände Bergbau Investitionsgüter Sonstige Dienstleistungen Grundstoffverarbeitung Landwirtschaft Verkehr und Nachrichten Handel Bau Verbrauchsgüter Gaststätten Insgesamt
Weiterbildungsbeteiligung innerhalb der Branchen (in Prozent) Gesamt Männer Frauen 52 55 49 51 53 48 42 35 46 37 45 35 36 41 33 36 29 80 30 33 21 29 31 27 27 27 26 25 20 34 25 24 28 21 25 18 18 18 23 13 14 13 13 15 12 -
Prozentuale Verteilung auf die Branchen Männer Frauen 53 47 49 51 38 62 21 79 39 61 85 15 78 22 45 55 76 24 66 34 70 30 41 59 89 11 60 40 39 61 56 44
Quelle: SOEP 2000 – eigene Berechnungen
Vergleichsweise ausgeglichen ist diese Verteilung auch in der Branche Staat und Sozialversicherung. Die Branche Bildung und Sport, die an dritter Stelle steht, weist einen höheren Anteil an weiblichen Arbeitskräften auf. Auch in den übrigen Bereichen polarisiert sich die Beschäftigungsbeteiligung deutlich zwischen Indust-
Lebenslanges Lernen und soziale Inklusion
363
riegewerbe und Dienstleistungsgewerbe mit einem wesentlich größeren Beschäftigungsanteil von Frauen im Letzteren. Das Wachstum des Dienstleistungssektors äußert sich in einem erhöhten Weiterbildungsbedarf – mit einem Anteil von durchschnittlich 34 Prozent berufsbezogener Weiterbildungsbeteiligung schneidet er deutlich besser ab als das Industriegewerbe mit durchschnittlich 25 Prozent. Allerdings verteilt sich die Weiterbildungsintensität zwischen den einzelnen Dienstleistungsbranchen sehr unterschiedlich. Es ist zu beobachten, dass Frauen, abgesehen von den Bereichen Verkehr und Nachrichten sowie Bildung und Sport, bei der Weiterbildungsbeteiligung im Dienstleistungssektor schlechter abschneiden als Männer. Während die wenigen weiblichen Beschäftigten im Industriegewerbe – insbesondere in der Landwirtschaft, im Bau und Bergbau (sehr geringe Fallzahlen) – gegenüber den männlichen Beschäftigten vergleichsweise gut abschneiden. Allgemein fiel die Weiterbildungsbeteiligung in den Branchen Gaststätten, Verbrauchsgüter und Bau auffallend gering aus. Bellmann und Düll (1999) kommen auf Grundlage von Auswertungen des IAB-Betriebspanels zu dem Schluss, dass sich sektorale Unterschiede in der Weiterbildungsintensität in den Betrieben mit Weiterbildung praktisch aufheben, wenn nur die qualifizierten Angestellten betrachtet werden, für die anderen Qualifikationsgruppen treffe dies nicht zu (Düll und Bellmann 1999: 77). Tabelle 12: Verteilung der Geschlechter auf die einzelnen Betriebsgrößen in Prozent Betriebsgröße Unter 5 5 bis unter 20 20 bis unter 100 100 bis unter 200 200 bis unter 2000 2000 und mehr Selbstständige Total
Männer 9,9 15,7 19,7 8,6 20,5 21,9 3,7 100,0
Frauen 14,6 19,1 19,2 8,8 18,7 16,3 3,3 100,0
Insgesamt 12,0 17,2 19,5 8,7 19,7 19,4 3,6 100,0
Quelle: SOEP 2000 – eigene Berechnungen
Auch bezüglich der Betriebsgrößen ergeben sich Unterschiede im Hinblick auf das Angebot von Weiterbildungsmaßnahmen. Die Weiterbildungserhebung des Instituts der deutschen Wirtschaft bestätigt, dass große Unternehmen eher Weiterbildungsmaßnahmen anbieten als kleine und mittlere Unternehmen, da sie häufig über mehr eigene Ressourcen und einen kontinuierlichen Bedarf verfügen (Weiß 2000: 28). In Relation zur Mitarbeiterzahl profitieren in den kleineren Betrieben, die Weiterbildungsmaßnahmen anbieten, allerdings deutlich mehr Personen von Weiterbildung als in Großbetrieben (Weiß 2000: 29). Die nach Größe der Betriebe differierenden Weiterbildungsaktivitäten könnten ein weiterer Faktor für die niedrigere Weiterbildungsbeteiligung von Frauen sein, da diese eher in kleinen Betrieben beschäftigt sind – in Betrieben mit unter 20
364
Schömann und Leschke
Mitarbeitern stellen sie die Mehrheit dar. In Betrieben mit über 200 Mitarbeitern sind hingegen männliche Beschäftigte in der Überzahl; insbesondere in einigen Segmenten des Industriegewerbes überwiegen Großbetriebe wie z.B. in der Grundstoffverarbeitung oder im Bergbau. Im Segment zwischen 20 und 200 Mitarbeitern ist die Geschlechterverteilung ausgewogen (vgl. Tabelle 12). Auffallend ist die deutlich geringere Weiterbildungsbeteiligung der Selbstständigen und unter ihnen auch die der Frauen, die eventuell die Überlebenswahrscheinlichkeit dieser Mikrofirmen gefährdet. 4.
Einflussfaktoren auf die Weiterbildungsentscheidung und Implikationen für lebenslanges Lernen
Im Folgenden sollen unterschiedliche Faktoren, die auf die individuelle Weiterbildungsentscheidung wirken, anhand mehrerer Modellschätzungen mit unterschiedlichen Teilgruppen auf ihre Bedeutung untersucht werden. Vor allem die unterschiedliche Weiterbildungsteilnahme zwischen Frauen und Männern steht im Vordergrund der Analysen. Bei einer genaueren Untersuchung der geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Weiterbildungsteilnahme wird deutlich, dass es aus statistischen Gründen unbedingt notwendig ist, eine vollständige Interaktion aller Variablen untereinander zuzulassen, d h. Analysen getrennt für Frauen und für Männer zu berechnen. Durch diese getrennten Berechnungen werden genauere geschlechtsspezifische Einflussfaktoren berechnet, die in einer gemeinsamen Analyse sonst eventuell als unspezifischer Durchschnittseinfluss erscheinen. Die abhängige Variable in unseren Modellschätzungen stellt die Teilnahme an berufsbezogenen Kursen und Lehrgängen dar und ist damit zwar nur ein Ausschnitt aus der gesamten beruflich relevanten Weiterbildung, aber zumindest der Teil, der eine relativ präzise Definition gleichermaßen gültig für beide Geschlechter beinhaltet. Bei den unabhängigen Variablen müssen neben der Standarddemografie einerseits Variablen der Familiensituation und andererseits Variablen der Arbeitsumwelt Beachtung finden. Neben dem Geschlecht fließt auch das Alter – gruppiert in die Stufen 20 bis unter 35 Jahre, 35 bis unter 45 Jahre und 45 bis unter 65 Jahre – in die Regression ein. Den Segmentationsanalysen aus dem zweiten Teil des Beitrags folgend wird auch die Staatsangehörigkeit kontrolliert und eine Dummy-Variable für den Wohnort (West- oder Ostdeutschland) eingeführt. Die Familiensituation wird über den Familienstand (ledig, verheiratet, getrennt lebend/geschieden/verwitwet) gemessen. Außerdem werden das Vorhandensein von Kindern sowie die nominale Anzahl der Kinder berücksichtigt. Es kann angenommen werden, dass insbesondere für Frauen die Weiterbildungsintensität – die ja häufig ein zusätzliches Zeitbudget erfordert – mit zunehmender Kinderzahl sinkt. Im ersten Schritt erfolgt eine Probit-Regression mit den aufgeführten standarddemografischen Variablen und den Variablen, die die Familiensituation abbilden.
Lebenslanges Lernen und soziale Inklusion
365
In einem zweiten Schritt werden Variablen in die Regression aufgenommen, die das Qualifikationsniveau (ohne Berufsbildungsabschluss, mit Berufsbildungsabschluss, mit Fachhochschul- oder Hochschulabschluss) und den Beschäftigungsumfang (vollzeitbeschäftigt, teilzeitbeschäftigt, geringfügig beschäftigt, nicht erwerbstätig) beschreiben. Den meisten Studien zufolge (OECD 2003; Tujnmann und Schömann 1996) übt das Bildungsniveau einen wichtigen Einfluss auf die Weiterbildungsbeteiligung aus. Mit höherem Bildungsabschluss sollte auch die Weiterbildungsbeteiligung steigen. Es kann auch angenommen werden, dass mit zunehmendem Beschäftigungsumfang die Weiterbildungsbeteiligung steigt, da es sich beispielsweise für Arbeitgeber tendenziell eher lohnt, in Vollzeitbeschäftigte zu investieren als in teilzeitbeschäftigte oder geringfügig beschäftigte Personen. In einem dritten Schritt werden Variablen der Arbeitsumwelt eingeführt, die einen Einfluss auf die Weiterbildungsentscheidung ausüben könnten. Es wird vermutet, dass Personen mit einer befristeten Beschäftigung in geringerem Maße von Weiterbildungsmaßnahmen profitieren als Personen mit unbefristetem Beschäftigungsverhältnis. Denn die Arbeitgeber sollten eher bereit sein, Arbeitnehmer in ihrer Weiterbildungsentscheidung sowohl logistisch als auch finanziell zu unterstützen, wenn damit zu rechnen ist, dass diese noch längere Zeit im Unternehmen beschäftigt sein werden. Dem BSW zufolge gehen knapp über die Hälfte aller Weiterbildungsbeteiligungen auf betriebliche Anordnung oder Vorschlag vom Arbeitgeber zurück (BSW VIII 2003: 71). Auch der Bruttoverdienst wird in diesem Zusammenhang mit in die Regression aufgenommen. Hier liegt die Vermutung nahe, dass mit steigendem Einkommen die Weiterbildungsteilnahme ebenfalls zunimmt, denn einerseits können höhere Einkommen auf ein höheres Qualifikationsniveau zurückzuführen sein, aber auch eine höhere Arbeitsmotivation und damit eine potenziell stärkere Weiterbildungsneigung widerspiegeln, und zumindest teilweise auf vorangegangene Bildungs- oder Weiterbildungsintensität zurückzuführen sein. Die Anzahl der Überstunden, die im letzten Monat geleistet wurden, wird ebenfalls als erklärender Faktor berücksichtigt, wobei zunächst zu erwarten ist, dass viele Überstunden weniger Zeit für Weiterbildung lassen sollten. Aufgrund des höheren Arbeitsumfangs mit dementsprechend weniger Freizeit wäre es einleuchtend, wenn Personen, die einen hohen Überstundenanteil aufweisen vergleichsweise weniger an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen würden. Des Weiteren wird die Betriebsgröße, gemessen an der Anzahl der Beschäftigten im Gesamtunternehmen, in die Untersuchung aufgenommen. Da vorangegangene Studien zum beruflichen Weiterbildungsbereich zu dem Ergebnis gekommen sind, dass größere Betriebe weiterbildungsaktiver sind, ist anzunehmen, dass die individuelle Weiterbildungsbeteiligung mit der Größe des Unternehmens steigt. Somit könnte die vergleichsweise stärkere Konzentration von Frauen auf kleine und mittlere Unternehmen und die Überzahl von Männern in Großunternehmen ein
366
Schömann und Leschke
Faktor für die konstatierte geringere Weiterbildungsbeteiligung von Frauen in Lehrgängen und Kursen darstellen. Als weiterer Indikator wird eine Dummy-Variable eingeführt, die bestimmt, ob die einzelnen Individuen im öffentlichen Dienst beschäftigt sind oder nicht. Es wird angenommen, dass Beschäftigte des öffentlichen Dienstes durchschnittlich häufiger an Weiterbildung teilnehmen als die übrigen Beschäftigten. Auch das BSW VIII kommt zu dem Schluss, dass die Weiterbildungsquoten im öffentlichen Dienst deutlich höher sind als in den Bereichen Industrie, Handwerk und Dienstleistungen (BSW VIII 2003: 156). Als letzter Bestimmungsfaktor werden Teile des EGP-Klassenschemas nach Erikson et al. (1979) genutzt, wonach Individuen unter anderem auf der Grundlage ihrer Beschäftigungsverhältnisse, ihrer beruflichen Stellung und ihrer beruflichen Tätigkeit in unterschiedliche soziale Klassen eingeteilt werden. Für unsere Zwecke steht nicht die Einordnung der Beschäftigten in soziale Klassen im Vordergrund, sondern stattdessen sollen die Beschäftigungspositionen systematisch und theoretisch fundiert danach untersucht werden, ob sie die Weiterbildungsentscheidungen der Individuen beeinflussen. Auch hier wird angenommen, dass Personen, die der oberen Dienstklasse zuzurechnen sind oder als Facharbeiter und leitende Arbeiter eingestuft werden, eher für Weiterbildungsmaßnahmen optieren als Personen, die den Kategorien untere Dienstklasse, einfache Arbeiter oder einfache Büroberufe zugeordnet werden. Die Modellschätzungen zur Überprüfung der Erklärungskraft der einzelnen unabhängigen Variablen erfolgen in drei Schritten. Im ersten Schritt wird ein Modell mit den standarddemografischen Variablen und den Variablen, die die Familiensituation umschreiben, berechnet. Das zweite Modell nimmt die Qualifikationsniveaus und den Umfang der Beschäftigung mit auf. Im letzten Modell, das nur erwerbstätige Personen einbezieht, werden zusätzlich noch die Variablen der Arbeitsumwelt eingefügt. Es werden jeweils Modelle für Frauen und Männer gemeinsam und dann getrennt nach Geschlechtern berechnet und in einer Tabelle gegenübergestellt. Lebenslanges Lernen fördert soziale Inklusion In den beiden ersten Analysen zur Weiterbildungsteilnahme an berufsbezogenen Kursen und Lehrgängen werden alle Personen im erwerbsfähigen Alter (20 bis 65 Jahre) unabhängig von ihrem Erwerbsstatus berücksichtigt. In diesen beiden Analysen, jeweils gemeinsam für Männer und Frauen und getrennt nach Geschlecht, lassen sich nicht nur Aussagen über die geschlechtsspezifische Verteilung, sondern auch über die unterschiedliche Weiterbildungsteilnahme von erwerbstätigen und nicht erwerbstätigen Personen gewinnen. In den beiden Modellvarianten (einfaches Schätzmodell in Spalte 1 und vollständigeres Modell in Spalte 4 in Tabelle 13) wird deutlich, dass lebenslanges Lernen für die gesamte Bevölkerung eine Illusion geblieben ist. Die Altersselektivität der Weiterbildung (Becker 1991; Behringer 2000; BSW 2002), besonders der
Lebenslanges Lernen und soziale Inklusion
367
Personen ab dem 45. Lebensjahr ist ein sehr robustes Ergebnis. Ältere Personen nehmen deutlich weniger an Weiterbildung teil. Ebenso beständig bleibt die Weiterbildungsteilnahme von Bürgern ausländischer Herkunft unter der Weiterbildungsbeteiligung der deutschstämmigen Bevölkerung. Der vereinigungsbedingte Boom der Weiterbildung in Ostdeutschland beginnt sich dem Westniveau anzugleichen, lediglich Frauen in Ostdeutschland weisen noch höhere Weiterbildungsteilnahmen als Frauen in Westdeutschland auf. Der Familienstatus einer Person hat keinen systematischen Effekt auf die Weiterbildungsteilnahme. Kinder im Haushalt führen nicht zwangsläufig zur Verringerung der Weiterbildungsteilnahmen. Lediglich bei zwei und mehr Kindern unter 16 Jahren werden Weiterbildungen seltener, besonders stark bei Frauen. Die Spalten 3-6 in Tabelle 13 zeigen, dass sich bei Frauen, bei Kontrolle von Bildung und Informationen über den Grad der Erwerbsbeteiligung, die Effekte von Kindern auf eine Verringerung der Weiterbildungsteilnahme abschwächen. Tabelle 13: Determinanten für Besuch berufsbezogener Weiterbildungskurse und Weiterbildungslehrgänge (Probit-Regression; in Klammern: z-standardisierte Koeffizienten) Modell 11 Modell 22 Alle Frauen Männer Alle Frauen Männer -0.153* 0.090* Mann (Referenz: Frauen) (7 51) (3.77) Kinder unter 16 Jahren im Haushalt (Referenz: keine Kinder unter 16 Jahren im Haushalt) -0.028 -0.062 -0.024 -0.013 0.041 -0.072 ein Kind unter 16 (1.01) (1.60) (0.62) (0.45) (1.00) (1.79) -0.111* -0.285* 0.028 -0.052 -0.10 -0.017 zwei Kinder unter 16 (3 52) (6.18) (0.63) (1.57) (2.03) (0.37) -0.275* -0.402* -0.175 -0.131* -0.054 -0 204* drei o. m. Kinder unter 16 (6 50) (6.64) (2.93) (2.97) (0.83) (3.34) Altersgruppen (Referenz: Alter: 35 bis unter 45)1 -0.088* -0.121* -0.040 0.009 0.007 0.012 20 bis unter 35 (3 22) (3.14) (1.02) (0.30) (0.18) (0.29) -0.434* -0.482* -0.411* -0.250* -0.236* -0 268* 45 bis unter 65 (15.34) (11.76) (10.42) (8.42) (5.43) (6.56) Familienstand (Referenz: verheiratet zusammenlebend) verheiratet getrennt lebend, 0.009 0.102 -0.094 0.020 0.056 -0.034 geschieden, verwitwet (0 26) (2.43) (1.79) (0.57) (1.26) (0.62) 0.015 0 179* -0.133* -0.028 0.022 -0.078 ledig (0.49) (4.05) (3.05) (0.86) (0.46) (1.75) Staatsangehörigkeit (Referenz: Westdeutsche) -0.805* -0.712* -0.891* -0.629* -0.478* -0.747* Ausländer (18.52) (11.13) (15.00) (13.45) (6.80) (11.93) 0.055 0 191* -0.081 0.047 0.122* -0.028 Ostdeutsche (2 31) (5.74) (2.40) (1.91) (3.43) (0.80)
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Schömann und Leschke
Fortsetzung von Tabelle 13 Modell 11 Alle Frauen Männer Alle Qualifikation (Referenz: Hochschul- oder Fachhochschulabschluss) -0.352* mit Berufsabschluss (11.80) -0.950* ohne Berufsabschluss (19.17) Erwerbsstatus (Referenz: Vollzeitbeschäftigung)2 -0.181* Teilzeitbeschäftigung (5.19) geringfügige -0.573* Beschäftigung (9.50) -0.902* keine Erwerbstätigkeit (30.64) -0.316* -0.477* -0.291* 0.043 Konstante (10.60) (12.19) (7.23) (1.08) N 18.958 9.732 9 226 18.958 Pseudo-R² 0.04 0.05 0.04 0.11
Modell 22 Frauen
Männer
-0.346* (7.75) -1.045* (14.83)
-0.352* (8.72) -0.829* (11.67)
-0 151* (3.77) -0 563* (7.99) -0 926* (23.29) 0.076 (1.29) 9.732 0.14
-0.341* (3.24) -0.541* (4.23) -0.832* (17.84) 0.091 (1.72) 9.226 0.09
* Signifikanzniveau < 1 Prozent 1 Es sind enthalten: Vollzeitbeschäftigte, Teilzeitbeschäftigte, geringfügig Beschäftigte und nichterwerbstätige Personen sowie Personen im Alter von 20 bis unter 65 Jahren. 2 Nicht berücksichtigt sind folgende Zustände: Ausbildung/Lehre, Wehrdienst, Zivildienst, Werkstatt für Behinderte. Quelle: SOEP 2000 – eigene Berechnungen
In der gemeinsamen Schätzung für Männer und Frauen zeigt sich, dass bei einer schnellen Interpretation der geschätzten Weiterbildungsteilnahme Vorsicht geboten ist. Ein signifikanter Effekt dreht sich bei Berücksichtigung mehrerer anderer Einflussfaktoren wie Bildungsniveau und Erwerbsbeteiligung ins Gegenteil (siehe Spalte 1 und Spalte 4 in Tabelle 13). Die Bedeutung und Berücksichtigung von Bildungsselektivität und Erwerbstätigkeit ist also in der Diskussion um Weiterbildungsteilnahme von Männern und Frauen von großer Bedeutung, da sonst Fehlaussagen entstehen können. Bildungsselektivität (Spalten 4-6) erweist sich als hartes empirisches Faktum, das sich über die letzten Jahre scheinbar nicht abgeschwächt hat. Personen mit Hochschul- oder Fachhochschulabschluss weisen eine signifikant höhere Weiterbildungsteilnahme auf als Personen mit mittleren Qualifikationsniveaus und abgeschlossener Berufsausbildung. Am geringsten ist die Weiterbildungsteilnahme bei Personen, die über keine abgeschlossene oder in Deutschland anerkannte Berufsausbildung verfügen. Der Grad der Beteiligung am Erwerbsleben hat ebenfalls einen starken Einfluss auf Beteiligung am lebenslangen Lernen. Vollzeitbeschäftigte nehmen signifikant mehr an Weiterbildung in Kursen und Lehrgängen teil als Teilzeitbeschäf-
Lebenslanges Lernen und soziale Inklusion
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tigte. Für geringfügig Beschäftigte fällt die Teilnahmewahrscheinlichkeit weiter und erreicht das niedrigste Niveau bei nicht erwerbstätigen Personen. Neben der gut dokumentierten Alters- und Bildungsselektivität existiert eben auch eine starke Selektion durch das Arbeitsleben, die in gleicher Weise für Frauen und Männer wirkt. Lebenslanges Lernen in Form von Weiterbildungsteilnahme an Lehrgängen und Kursen ist zu einem bedeutenden gesellschaftlichen Selektionsprozess geworden. Nicht erwerbstätige Personen und Personen, die nur am Rande im Erwerbsleben beteiligt sind, verlieren bei den raschen technologischen und organisatorischen Veränderungen der letzten Jahre in der Arbeitswelt leicht den Anschluss, da sie kaum mit den Weiterentwicklungsmöglichkeiten durch Weiterbildungsteilnahme für Vollzeitbeschäftigte Schritt halten können. Politische Maßnahmen der sozialen Inklusion, die bereits auf der europäischen Agenda stehen (Europäische Kommission 2003) und für die jedes Mitgliedsland einen nationalen Aktionsplan entworfen haben, benötigen eine umfassende Strategie des lebenslangen Lernens. Ohne die Berücksichtigung der Belange der dem Arbeitsmarkt fern stehenden Personen wird sich die Kluft zwischen den Personen in Arbeit, die an technologischen, organisationellen und persönlichen Lernprozessen beteiligt sind, und denen die draußen stehen, weiter vergrößern. Ungleiche Chancen bei der Weiterbildung im Arbeitsleben Die Weiterbildungsteilnahme der Erwerbstätigen ist Gegenstand dieses Abschnitts. Förderliche und hinderliche Rahmenbedingungen, die durch den direkten Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit einer Person entstehen, können durch Berücksichtigung von Merkmalen wie Firmengröße, Befristung und Entlohnung einer Tätigkeit oder beispielsweise der Anzahl der Überstunden entstehen. Da diese Merkmale nur von Personen in Beschäftigung im SOEP erhoben werden, ergibt sich die Einschränkung der Gültigkeit dieser Aussagen auch nur für Erwerbstätige, genauer sogar nur für abhängig Beschäftigte. Wichtigstes Ergebnis ist die weitere Fortdauer der bereits beschriebenen Selektivitätsprozesse: Ältere und ausländische Arbeitnehmer sowie gering qualifizierte Arbeitnehmer nehmen signifikant seltener an Lehrgängen und Kursen teil. Hinzu kommen weitere Erklärungsfaktoren wie die Befristung des Arbeitsplatzes (Spalten 1 und 2 in Tabelle 14). Beschäftigung in einem Betrieb mit mehr als 200 Arbeitnehmern erleichtert Männern die Weiterbildungsteilnahme, was für Frauen allerdings nicht in gleicher Weise gilt. Der öffentliche Dienst ermöglicht beiden Geschlechtern überdurchschnittlich gute Chancen, sich beruflich weiterzubilden. Ein höherer Bruttoverdienst erhöht für Frauen und Männer die Weiterbildungschancen. Personen mit bereits höherem Verdienst steigern folglich bereits ihre zukünftigen Verdienstmöglichkeiten durch kontinuierliche Investition in Weiterbildung.
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Schömann und Leschke
Tabelle 14: Übergänge in berufsbezogene Weiterbildungskurse und Weiterbildungslehrgänge – Nur Erwerbstätige (Probit-Regression; in Klammern: z-standardisierte Koeffizienten) Modell 3 Modell 4 Alle Frauen Männer Alle Frauen Geschlecht: Männer 0.212* 0.028 (6.45) (0.75) (Referenz: Frauen) Kinder unter 16 Jahren im Haushalt (Referenz: keine Kinder unter 16 im Haushalt) -0.048 -0.019 -0.076 -0.042 -0.018 ein Kind unter 16 (1.39) (0.36) (1.53) (1 11) (0.33) -0.056 -0.035 -0.084 -0.040 -0.038 zwei Kinder unter (1.38) (0.52) (1.50) (0 92) (0.54) -0.190* -0.037 -0.265* -0.148 0.032 drei o. m. Kinder u. 16 (3.18) (0.36) (3.40) (2 35) (0.30) 1 Altersgruppen (Referenz: 35 bis unter 45) 0.046 0.010 0.084 0.046 -0.006 20 bis unter 35 Jahren (1.34) (0.19) (1.68) (1 21) (0.11) -0.269* -0.209* -0.322* -0.266* -0.193* 45 bis unter 65 Jahren (7.26) (3.68) (6.26) (6.83) (3.30)
Männer
-0.068 (1.31) -0.057 (1.00) -0.238* (2.97) 0.105 (2.04) -0.330* (6.25)
Familienstand (Referenz: verheiratet zusammenlebend)
verheiratet getrennt lebend, geschieden, verwitwet
0.020 (0.34)
-0.088 (1.24)
0.037 (0.80)
0.033 -0.039 -0.041 (0.54) (0.69) (0 97) Staatsangehörigkeit (Referenz: Westdeutsche) -0.657* -0.598* -0.701* -0.447* Ausländer (10 55) (5.78) (8.89) (6.81) 0.154* 0.146* 0.172* 0.173* Ostdeutsche (4.53) (2.97) (3.61) (4 91) Qualifikation (Referenz: Hochschul- oder Fachhochschulabschluss) -0.107 -067 -0.131 -0.001 mit Berufsabschluss (2.52) (1.01) (2.32) (0.03) -0.699* -0.759* -0.606* -0.261* ohne Berufsabschluss (9.47) (6.90) (5.97) (3 21) Erwerbsstatus (Referenz: Vollzeitbeschäftigung)2 0.016 0.120 -0.227 -0.026 Teilzeitbeschäftigung (0.36) (2.15) (1.73) (0 56) geringfügige -0.061 0.099 -0.145 -0.008 Beschäftigung (0.64) (0.84) (0.72) (0.08) ledig
0.055 (0.89)
-0.046 (0.62)
-0.008 (0.13)
-0.080 (1.38)
-0.437* (3.96) 0.155* (3.03)
-0.464* (5.60) 0.203* (4.09)
0.005 (0.08) -0.293 (2.43)
0.004 (0.07) -0.210 (1.88)
0.074 (1.28) 0.179 (1.43)
-0.322 (2.38) -0.188 (0.88)
Lebenslanges Lernen und soziale Inklusion
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Fortsetzung der Tabelle 14
Befristete Beschäftigung (Referenz: unbefristete Beschäftigung)
Alle
Modell 3 Frauen
Männer
Alle
Modell 4 Frauen
Männer
-0.173* (3.31)
-0.217* (2.90)
-0.096 (1.29)
-0.115 (2.10)
-0.165 (2 12)
-0.029 (0 36)
0.046* (5.59) 0.004* (3.81)
0.097* (5 50) 0.007* (4.00)
0.034* (3 57) 0.002 (2 18)
-0.035 (0.85) 0.120* (2.72) 0.266* (6.07)
-0.053 (0 90) 0.011 (0 17) 0.048 (0.73)
-0.008 (0 13) 0.211* (3.41) 0.424* (6 94)
0.312* (9.38)
0.340* (7 15)
0.283* (5 93)
0.133 (2.32) -0.218* (3.03) -0.147 (1.85) -0.498* (7.09) -1.036* (13.10) -0.639* (5.32)
0.057 (0 52) -0.248 (2.06) -0.326 (1 59) -0.484* (3 26) -1.146* (8.02) -0.711* (4.42)
0.142 (2.06) -0.256 (2 33) -0.139 (1 54) -0.527* (6 37) -1.019* (10.41) -0.527 (2 12)
-0.535* (5.39) 9784 0.15
-0.647* (3.88) 4317 0 15
-0.500* (3 98) 5467 0 15
0.096* 0.151* 0.083* (13.23) (9.82) (9.70) Anzahl der Überstunden 0.004* 0.008* 0.003* im letzten Monat (4.58) (4.45) (2.90) Betriebsgröße (Referenzkategorie: 1 bis unter 20 Mitarbeiter) 20 bis unter 200 -0.050 -0.093 0.003 (1.26) (1.65) (0.06) Mitarbeiter 200 bis unter 2000 0.105 -0.013 0.208* Mitarbeiter (2.49) (0.20) (3.51) 0 260* 0.009 0.447* über 2000 Mitarbeiter (6.15) (0.14) (7.62) Betrieb des öffentlichen 0.437* 0.430* 0.437* Dienstes (Referenz: (13.71) (9.40) (9.64) Privatwirtschaft) Beschäftigtenkategorien (Referenz: obere Dienstklasse) Bruttoverdienst (1/1000)
untere Dienstklasse einfache Büroberufe leitende Arbeiter; Techniker Facharbeiter einfache Arbeiter sonstige nichtmanuelle Berufe Konstante Anzahl der Fälle Pseudo-R²
-0.934* (12.39) 9873 0.10
-0.941* (8.02) 4351 0.11
-0.889* (8.63) 5522 0.11
* Signifikanzniveau < 1 Prozent 1 Alter: 20 bis unter 65 2 Es sind die folgenden Erwerbsstatus nicht enthalten: Ausbildung/Lehre, Wehrdienst, Zivildienst, Werkstatt für Behinderte. Berücksichtigt sind: Vollerwerbstätige, Teilzeitbeschäftigte, geringfügig Beschäftigte und Nichterwerbstätige. Quelle: SOEP 2000 – eigene Berechnungen
Ein scheinbares Paradox besteht in der höheren Weiterbildungsbeteiligung der Personen, die Überstunden arbeiten. Eigentlich würden wir erwarten, dass es für diese Personen zu einem „time squeeze“ (Clarkberg 2002; ETUI 2003; Townsend
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Schömann und Leschke
2001) kommt, aber aus individueller Sicht der Befragten führt wahrscheinlich gerade die Weiterbildungsteilnahme zu einer Zunahme der Überstunden, da die betrieblichen Zwänge die temporäre Freistellung für Kurse nicht ermöglichen. Genauere Untersuchungen dieses Zusammenhangs stehen noch aus. Die Spalten 4-6 in Tabelle 14 berücksichtigen zusätzlich eine berufsspezifische Klassifikation nach dem EGP-Klassenschema in den Analysen. Es zeigt sich, dass im Vergleich zu den oberen Schichten der Gesellschaft, leitenden Angestellten und Technikern, Personen in einfachen Büroberufen, einfache Arbeiter und auch Facharbeiter weniger an Lehrgängen und Kursen teilnehmen. In dieser Hinsicht reproduziert die Weiterbildung in gewisser Weise die Schichtung der Gesellschaft und bietet ihr vielleicht sogar die Legitimation für den Fortbestand dieser Schichtung. Eine Strategie des lebenslangen Lernens, die diesem Prozess entgegentreten möchte, wird sich besonders um die Barrieren der Weiterbildungsteilnahme auch im Arbeitsprozess kümmern müssen. Die „time squeeze“-Ansätze, die Haushaltssituation und Kinderbetreuung mit in die Analysen zur Weiterbildung einbeziehen, werden wir erst in späteren Analysen bearbeiten können. In den Analysen der abhängig Beschäftigten hatten der Familienstatus und die Anzahl der Kinder keinen statistisch signifikanten Einfluss (Ausnahme: mehr als 3 Kinder für Männer). Sowohl zwischen Erwerbstätigen und Nichterwerbstätigen als auch innerhalb der Gruppe der abhängig Beschäftigten bestehen große Unterschiede in der Weiterbildungsteilnahme. Die ökonomische Sichtweise, Bildung als Investition in Humankapital zu verstehen, hat nach 40 Jahren ihrer Entfaltung als Bildungsdoktrin eher die Personen begünstigt, die über genügend Ressourcen verfügen und freie Investitionsmittel haben. Die steuerliche Absetzbarkeit von bestimmten anerkannten und beruflich relevanten Lehrgängen und Kursen verstärkt eventuell die Begünstigung von Personen mit höherem Einkommen, da finanziell weiter reichende Absetzungsmöglichkeiten bestehen und solche Personen eher das finanzielle Risiko einer steuerlichen Ablehnung der Absetzbarkeit verkraften können. Ärmere Personen oder Haushalte haben andere Zwänge und scheinbar häufig auch andere Prioritäten sowie teilweise auch schlechte Erfahrungen gesammelt, wie Analysen zur Weiterbildungsbereitschaft zeigen (Eurobarometer 1997). In der Konsequenz ergibt sich eine tief greifende Segmentierung der Gesellschaft in Personen, die lebenslanges Lernen bereits aktiv betreiben (höhere Schichten) und denen, die weder die Ressourcen zur Investition besitzen noch überhaupt davon überzeugt sind, dass sich solche Investitionen für sie selbst auszahlen (beispielsweise einfache Arbeiter). Die Bedeutung der schichtspezifischen Zugehörigkeit erweist sich in der Weiterbildungsteilnahme sogar als stärker als eine geschlechtsspezifische Prägung (insignifikanter Geschlechtseffekt in Spalte 4 in Tabelle 14).
Lebenslanges Lernen und soziale Inklusion
5.
373
Zusammenfassung und Ausblick
Berufliche Weiterbildung in Kursen und Lehrgängen als eine bedeutende Form des lebenslangen Lernens hat ein nicht ausgeschöpftes Potenzial zur sozialen Inklusion beizutragen. Unsere Auswertung und Analyse der Daten des SOEPs des Jahres 2000 belegen die suboptimale Fortdauer der Selektivität von beruflicher Bildung in der Bundesrepublik Deutschland. Trotz hoher Aufwendungen von öffentlicher und privater Seite, von Arbeitnehmern und Betrieben, sind weite Teile der Bevölkerung nach wie vor unterrepräsentiert. Zu den üblichen Mustern der Selektion durch Alter und vorherige Ausbildungsabschlüsse (Becker 1991; Schömann und Becker 2002) treten die Selektivität der Staatsangehörigkeit und der Grad der Integration in die Arbeitswelt. Da diese deutlichen Selektionsmechanismen weiter im Bereich der beruflichen Weiterbildung existieren, kann die kompensatorische Wirkung von Qualifikationsmaßnahmen als Ausgleich für ungleiche Chancen im Schul-, Hochschul- oder Ausbildungssystem als gering eingestuft werden. Wenn insbesondere Personen mit bereits höheren Qualifikationen, höherem Status und höheren Einkommen von Weiterbildungsmaßnahmen durch Teilnahme profitieren, so dürften sich sowohl Einkommensunterschiede als auch Beschäftigungschancen eher noch weiter verstärken. Dies wird in weiteren Wellen des SOEPs empirisch zu untersuchen sein. Berufliche Weiterbildung ist ein Prozess der Selektion, der Selbstselektion beeinflusst von individuellen Faktoren, als auch von Fremdselektion, die weitestgehend vom betrieblichen Umfeld eines Arbeitsplatzes abhängt. Für Fortschritte auf dem Weg in die wissensbasierte Gesellschaft von Morgen werden Wege gefunden werden müssen, die die vielfältigen Arten der feinen Unterschiede der Weiterbildungsteilnahme überwinden. Ein stärkeres Ansetzen an der Motivation für berufliche Bildung und den Auslösern von Weiterbildungsprozessen (siehe Teil 3 im Beitrag) mit leicht zu realisierenden Angeboten für mehrfache Übergänge zwischen Arbeiten und Lernen bietet vielleicht einen Erfolg versprechenden Weg, Lernaktivitäten zu erhöhen. Neben den Politikempfehlungen wie der Einrichtung von Bildungskonten und Qualifizierungsgutscheinen, wird weiterhin ein Bedarf an kompensatorischen Maßnahmen für Personen, die von regulärer beruflicher Bildung nicht profitieren, zu erwägen sein. Dies kann nicht nur die Rolle der aktiven Arbeitsmarktpolitik und damit der Beitragszahler der Arbeitslosenversicherung sein, sondern ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe zur Sicherung der Zukunft einer alternden Gesellschaft und damit Aufgabe aller Steuerzahler. Segmentierung in der Arbeitswelt wird durch Weiterbildung nicht aufgehoben sondern tendenziell sogar verstärkt oder zumindest verfestigt, wie die differierenden Ergebnisse in Abhängigkeit z.B. vom Qualifikationsniveau verdeutlichen. Ob Arbeitsmarktrisiken wie Entlassung, Arbeitslosigkeit oder Frühverrentung in begrenztem Umfang durch eine breiter angelegte Strategie des lebenslangen Lernens
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Schömann und Leschke
vorgebeugt werden können, bleibt eine wichtige Frage für die Ausrichtung sozialer Sicherung und des Managements sozialer Risiken.
Lebenslanges Lernen und soziale Inklusion
375
Anhang Beschreibung des Datensatzes Die Analysen beruhen auf den Individualdaten des deutschen Sozioökonomischen Panels (SOEP).6 Die Panelumfrage findet seit 1984 jährlich statt. Seit 1990 sind auch die neuen Bundesländer in der Umfrage enthalten. Beim SOEP handelt es sich um eine repräsentative Wiederholungsbefragung privater Haushalte in Deutschland. In den zufällig ausgewählten Haushalten werden alle Personen ab 16 Jahren direkt befragt und über die Kinder in den Haushalten werden ebenfalls Angaben erhoben. Die Stichprobengröße lag in den hier insbesondere relevanten Jahren bei 13.179 (1993) und 24.586 (2000). In unregelmäßigen Abständen erfolgen Schwerpunktbefragungen zum Thema Weiterbildung. Die Fragen zur Weiterbildung beziehen sich jeweils auf die Aktivitäten der vergangenen drei Jahre. Die erste Weiterbildungsschwerpunktbefragung wurde im Jahr 1989 durchgeführt. Eine weitere Detailbefragung fand 1993 statt, die bisher letzte weiterbildungsspezifische Welle stammt aus dem Jahr 2000. Da die Daten von 1989 noch keine Angaben für die neuen Bundesländer enthalten und die vergleichsweise geringen Fallzahlen für Detailanalysen wenig geeignet sind, beschränken sich die vorliegenden Analysen auf die weitgehend kompatiblen Umfrageergebnisse der Jahre 1993 und insbesondere 2000. Es werden ausschließlich Individuen und keine Haushalte betrachtet. Die Daten enthalten Informationen zu den allgemeinen Motiven, die für die einzelnen Befragten unabhängig von ihrer tatsächlichen Beteiligung an Weiterbildungskursen für oder gegen eine Teilnahme an beruflicher Weiterbildung sprechen. Im Hinblick auf die spezifischen Weiterbildungskurse werden Anzahl, Umfang und Dauer der Kurse sowie Ziele der spezifischen Maßnahme und subjektive Beurteilung des beruflichen Nutzens abgefragt. Des Weiteren wird erhoben, ob die Kurse während der Arbeitszeit stattfanden und welcher Träger die Kurse veranstaltet und finanziert hat. Neben den erwähnten Schwerpunktbefragungen wird in jeder Welle des SOEPs eine Frage zur aktuellen Weiterbildungsbeteiligung gestellt, sodass zumindest ein grober vergleichender Überblick über die Entwicklung der Beteiligung an Weiterbildung von Frauen und Männern erfolgen kann. Da der SOEP-Datensatz umfassende Informationen zu soziodemografischen Merkmalen enthält, ist es möglich, den Zusammenhang zwischen Weiterbildungsverhalten und individuellen Merkmalen sowie beruflicher Qualifikation und Arbeitsumwelt der jeweiligen Personen zu untersuchen.
6
Die im Beitrag verwendeten Daten des Sozioökonomischen Panels wurden freundlicherweise von der SOEP-Projektgruppe am DIW zur Verfügung gestellt. Die Verantwortung für die hier durchgeführten Analysen liegt ausschließlich bei den Autoren.
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Die Analyse beschränkt sich weitgehend auf Personen, die entweder vollzeitoder teilzeitbeschäftigt, geringfügig beschäftigt oder erwerbslos sind. Ausgenommen von der Analyse sind folglich Auszubildende, Zivil- oder Militärdienstleistende und Beschäftigte in Behindertenwerkstätten. Des Weiteren beschränkt sich die Analyse auf berufliche Weiterbildung. Persönliche individuelle Weiterbildung beispielsweise in Form von Volkshochschulkursen oder durch Medien wird hier nicht näher betrachtet. Die Formen der beruflichen Weiterbildung, die im SOEP umfassend abgefragt werden, beziehen sich auf die so genannte „klassische“ oder formelle Weiterbildung. Folglich wird insbesondere die Weiterbildung untersucht, die im Rahmen betrieblich oder außerbetrieblich organisierter Aktivitäten in Form von berufsbezogenen Lehrgängen oder Kursen stattfindet. Die so genannte informelle Weiterbildung, beispielsweise durch ein selbstgesteuertes Lernen am Arbeitsplatz, wird in den SOEP-Daten nicht erhoben. Daher kann diese Form der Weiterbildung trotz des zunehmenden Gewichts, das ihr in den letzten Jahren beigemessen wird – so sind aus betrieblicher Sicht Zuwächse in den folgenden Jahren vor allem in den Bereichen des Lernens in der Arbeitssituation und dem selbstgesteuerten Lernen zu erwarten –, in der Analyse keine weitere Beachtung finden. Auf Grundlage der Daten des SOEPs haben in den Jahren 1997 bis 2000 (Frühjahr 1997 bis Frühjahr 2000) annähernd 24 Prozent der Untersuchungsgruppe mindestens einen beruflichen Weiterbildungskurs besucht.7 Betrachtet man nur die Weiterbildungsbeteiligung der Erwerbstätigen, so nahmen in diesem Zeitraum ca. 30 Prozent der Erwerbstätigen in den alten Bundesländern und 34 Prozent der Erwerbstätigen in den neuen Bundesländern an Weiterbildungsmaßnahmen teil. Zwei weitere wichtige Individualdatenbefragungen, die weiterbildungsspezifische Informationen enthalten, sind das Berichtssystem Weiterbildung (BSW) des Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und der Mikrozensus. Der Mikrozensus ermittelt für die Jahre 1993 bis 1995 eine Weiterbildungsbeteiligung von 16,4 Prozent der Befragten, während das Berichtssystem Weiterbildung für das Jahr 2000 eine Beteiligungsquote an beruflicher Weiterbildung von 29 Prozent (bezogen auf Personen im Alter zwischen 19 und 64 Jahren) ausweist (Expertenkommission 2002: 72ff.). Die abweichenden Ergebnisse können beispielsweise durch teilweise differierende Definitionen von Weiterbildung sowie unterschiedliche Formulierung und Platzierung der Fragen zustande kommen. Die vergleichsweise hohen Ergebnisse, die das Berichtssystem Weiterbildung ermittelt, werden darauf zurückgeführt, dass es sich bei dieser Umfrage um eine Einthemenbefragung handelt, bei der weiterbildungsaktive Personen überrepräsentiert sind (Expertenkommission 2002: 74). 7
Die Untersuchungsgruppe besteht aus Personen zwischen 20 und 65 Jahren, die im Befragungszeitraum entweder vollzeit- oder teilzeitbeschäftigt, geringfügig beschäftigt oder erwerbslos waren. Personen, die sich in Ausbildung befanden, Zivil- oder Militärdienst ableisteten oder in Behindertenwerkstätten beschäftigt waren, sind folglich nicht berücksichtigt.
Lebenslanges Lernen und soziale Inklusion
377
Definition von Weiterbildung Diese Definition von Weiterbildung ist aus der Fragenstruktur der SOEPWeiterbildungsdaten abgeleitet. Die Teilnehmer werden jährlich zur Weiterbildungsteilnahme befragt. Diese kann neben beruflicher Umschulung, Fortbildung und Rehabilitation auch aus allgemeiner politischer Weiterbildung oder sonstiger Weiterbildung bestehen. Die Weiterbildungsteilnahme muss also nicht unbedingt im Zusammenhang mit dem Beruf stehen. Breite oder weite Weiterbildung umfasst demnach sowohl die berufliche Weiterbildung, der sich der Großteil des Zusatzmoduls Weiterbildung in den SOEP-Wellen 1989, 1993 und 2000 widmet, als auch die Weiterbildung, die sich nicht direkt auf den Beruf bezieht und in der Freizeit der Teilnehmer in der Form von Kursen, Lehrgängen oder Vorträgen stattfindet. Lediglich eine Frage des SOEPs-Weiterbildungsmoduls bezieht sich auf diese Formen der Weiterbildung. In der Fachliteratur werden die Inhalte, die wir unter Weiterbildung verstehen, unter die Begriffe allgemeine Weiterbildung und berufliche Weiterbildung gefasst. In die allgemeine Weiterbildung fallen zum Beispiel Themen zu Fragen der Gesundheit, Sprachkenntnisse, Praktische Kenntnisse, Wissen über Politik und ähnliches. Die berufliche Weiterbildung umfasst sowohl selbst gesteuertes Lernen z.B. in Form der Lektüre von Fachzeitschriften und Fachbüchern sowie Fernunterricht als auch vom Betrieb oder anderen Anbietern organisierte interne oder externe Kurse. Ergänzung zu Tabelle 11: Branchencodes
Landwirtschaft Grundstoffverarbeitung Bergbau Investitionsgüter Verbrauchsgüter Bau Handel Verkehr und Nachrichten Banken und Versicherungen Gaststätten Sonstige Dienstleistungen Bildung und Sport Gesundheitswesen Kirchen und Verbände Staat und Sozialversicherung als Referenzkategorie Insgesamt
Absolute Häufigkeiten 151 823 31 834 423 555 934 416 321 176 587 611 694 118
2,07 11,28 0,43 11,43 5,80 7,61 12,81 5,70 4,40 2,41 8,05 8,38 9,51 1,62
Kumulierte Prozentanteile 2,07 13,35 13,78 25,21 31,01 38,62 51,43 57,13 61,53 63,94 71,99 80,37 89,88 91,50
620
8,50
100,00
7294
100,00
Prozentanteile
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Intendierte und nicht intendierte Folgen von Bildungspolitik – eine Simulationsstudie über die sozialstrukturellen Grenzen politischer Einflussnahme Volker Müller-Benedict
1.
Einleitung
Bildungspolitik gleich welcher Partei verfolgt Ziele, die sich in ihrer Reichweite unterscheiden. So werden nach der internationalen Leistungsvergleichsstudie „PISA 2000“ 11 Milliarden Euro bereitgestellt, um viele Schulen in Ganztagsschulen umwandeln zu können, weil nach den Ergebnissen der PISA-Studie gerade die erfolgreicheren Länder einen Ganztagsunterricht für die Schulkinder anbieten (Koalitionsvereinbarung SPD/Grüne nach der Wahl am 21. September 2002; taz vom 10.2.03). Das Ziel, die Zahl der Ganztagsschulen zu vermehren, wird sicherlich erreicht werden. Ob dadurch das weitergehende Ziel, in der nächsten Ländervergleichsstudie besser abzuschneiden, erreicht wird, ist nicht sicher, weil der Wirkungszusammenhang zwischen der Länge eines Schultags und den Schulleistungen nicht genau bekannt ist. Genauer betrachtet besteht gar kein direkter Zusammenhang, sondern es ist eine ganze Wirkungskette, deren einzelne Glieder bekannt sein müssten. Beispielsweise führt ein längerer Aufenthalt in der Schule zu mehr Zeit zum Lernen und mehr Zeit zum Lernen wird auch immer zum Lernen genutzt. Das heißt aber auch: Die Lehrer bereiten sich mehr vor, bringen mehr Stoff, fördern mehr, und mehr lernen führt zu besseren Leistungen in Tests, die auch bei der PISA-Studie verwendet wurden. Oder: Ein längerer Aufenthalt in der Schule führt zu mehr Zusammensein von Kindern aus Ausländerfamilien und sozial schwächeren Familien mit anderen Kindern und zu weniger Einfluss ihrer Familien. Dies wiederum führt zu mehr Lernmotivation bei diesen Kindern und auch dazu, dass intelligente Kinder aus diesen Familien verstärkt ihre Fähigkeiten in der Schule zeigen. Dadurch werden die Lernleistungen der Klassen insgesamt besser und daher schneiden sie bei den nächsten Tests besser ab. An jedem dieser nun schon etwas direkteren Zusammenhänge kann man Fragezeichen setzen. So wird z.B. der letzte Zusammenhang zwischen besserer Lernleistung und besserem Abschneiden beim Test bezweifelt, wenn behauptet wird, der deutsche Unterricht würde die Schüler in Fähigkeiten ausbilden, etwa literarischen, musischen, philologischen oder sozialen, die bei den Leistungstests der PISA-Studie nutzlos waren, bei dem vornehmlich interpretative oder kombinatorische Fähigkeiten gefragt waren. Wenn ein Zusammenhang über eine Wirkungskette besteht, muss nur ein Glied in der Kette nicht die richtige Wirkung zeigen,
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und die Gesamtwirkung besteht nicht. So wird als noch weitergehendes Ziel nach der PISA-Studie deshalb das Bildungssystem reformiert, damit Deutschland als Wirtschaftsstandort attraktiv bleibt und seine wirtschaftliche Position in der Welt und seine sozialen Standards halten kann. Dieser Zusammenhang zwischen verbesserter Bildung der Bevölkerung und wirtschaftlicher und sozialer Verbesserung wurde auch angenommen, als die weit reichenden Bildungsreformen ab Ende der 1960er Jahre durchgeführt wurden. Man könnte sagen, dass hier der erste Teil der Wirkungskette, die Verbesserung der Bildung, bis heute gelungen ist, dass aber der zweite Teil, eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation und der sozialen Lagen, eher fraglich ist (vgl. Müller 1998). Bildungspolitik wirkt oft nur in die ersten Teile einer Wirkungskette hinein und hofft, dass sich die Wirkung in die weiteren Schritte fortsetzt. Diese weiteren Schritte erfolgen jedoch in bestimmten vorgegebenen Strukturen, sei es zunächst im Bildungssystem oder nachfolgend in anderen gesellschaftlichen Subsystemen. So kann man als ein mögliches Ziel versuchen, die Zahl der Abiturienten zu erhöhen, aber ob sich dadurch auch automatisch die Zahl der Studierenden erhöhen wird, ist nicht sicher. Es könnte sogar die nicht intendierte Folge eintreten, dass sich dadurch die Ausbildungsvoraussetzung in einigen mittleren Berufen wie Bankwesen erhöhen, die nunmehr nur noch von Abiturienten ausgeführt werden. Welche Folge eintritt, ist u.a. abhängig von der zur Verfügung stehenden Zahl an Studienplätzen und dem Angebot an Ausbildungsplätzen in diesen mittleren Berufen, also von Größen, die durch die Struktur der Hochschulen und Berufe limitiert sind. In diesem Beitrag geht es darum, theoretisch mithilfe eines Simulationsmodells zu analysieren, wie einige limitierende Strukturen des Bildungssystems wirken, wenn bildungspolitische Maßnahmen zur Steigerung der Leistungen des Bildungssystems durchgeführt werden. Im Vordergrund stehen logisch ableitbare strukturelle Einflüsse und Grenzen von Bildungspolitik, also die Spielräume und Möglichkeiten der Politik innerhalb der strukturellen Gegebenheiten. Bildungspolitik kann an sehr unterschiedlichen Punkten ansetzen. Gefordert wurden nach der Publikation der PISA-Studie (Deutsches PISA-Konsortium 2001, 2002) unter anderem x
organisatorische und gesetzliche Rahmenbedingungen, die wirtschaftliche Ziele ins Bildungssystem einführen wollen, wie „mehr Wettbewerb“ und „mehr Autonomie“ unter den Institutionen,
x
strukturelle Änderungen, wie mehr (im Hinblick auf die besten Länder bei PISA) oder aber weniger Integration (so die CDU Niedersachsen nach der Wahl Februar 2003, im Hinblick auf Bayerns Ergebnisse im innerdeutschen Vergleich) der drei „Säulen“ Haupt-, Realschule und Gymnasium des spezifischen deutschen Systems, oder die Einführung von Ganztagsschulen, sowie
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x
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Maßnahmen, die auf den Unterricht zielen, den „Kern“ des Systems, und dort meist an spezifischen Teilgruppen der Schülerschaft wie ausländischen Kindern, hoch Begabten o.a. ansetzen und durch gezielte Förderungen deren Kompetenzen erhöhen sollen.
Hier werden nur die letzten beiden bildungspolitischen Vorstellungen einbezogen. Die ersten Forderungen nach mehr wirtschaftlichen Gesichtspunkten sind erst in neuerer Zeit Forschungsgegenstand und werden etwa im Werk von Böttcher et al. (1997) dargestellt. In Bezug auf den letzten Punkt der spezifischen Fördermaßnahmen existiert in der Bildungspolitik seit jeher der Gegensatz zwischen „konservativen“ und „reformerischen“ Vorstellungen. Sie lassen sich dadurch charakterisieren, dass x
die konservativen weniger an den sozialen Voraussetzungen der Schüler ansetzen möchten, sondern den Gesichtspunkt der Belohnung und Förderung von Leistung und die Bildung von Eliten in den Vordergrund stellen, während
x
die reformerischen eher daran denken, schon in der vorschulischen Phase entstandene und sich durch die familiären Bedingungen reproduzierende Bildungshemmnisse zu beseitigen und durch die Entfaltung von „Begabungsreserven“ spezieller sozialer Schichten zu besseren Leistungen des Bildungssystems zu gelangen.
In tagespolitischen Äußerungen lassen sich beide Gesichtspunkte oft nicht einfach voneinander trennen. Für den folgenden Beitrag ist es jedoch anschaulicher, wenn sie, wie hier formuliert, als Gegensätze angenommen werden. Aber in Bezug auf konkrete Maßnahmen kann man den Unterschied zum Teil genau erkennen, etwa wenn Vorschulen gestrichen werden (konservativ) oder Ausländerförderung (reformerisch) eingerichtet wird. 2.
Ein Modell der kollektiven Schullaufbahnen
Um die Auswirkungen politischer Maßnahmen auf das Schulsystem absehen zu können, soll im Folgenden mit einem Modell gearbeitet werden. Modelle sind vereinfachte Darstellungen der Realität, die oft extra mit dem Ziel konstruiert werden, dass sie die Wirkung ganz bestimmter hypothetischer Einflüsse testen können. Die Möglichkeit echter Experimente in der sozialen Wirklichkeit ist beschränkt, zum einen, weil viele zusätzliche Einflussfaktoren nicht einfach abgeschaltet werden können und deshalb die kausale Zurechnung der Wirkung unklar bleibt, und zum anderen, weil sie zu viele, und nicht nur finanzielle Kosten verursachen. Das Schulsystem Deutschlands kann nicht insgesamt Experimenten darüber ausgesetzt werden, welche Maßnahmen etwa nach PISA am erfolgreichsten wären; denn ein Scheitern dieser Experimente würde einer ganzen Schülergenera-
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Müller-Benedict
tion eine erfolgreiche Ausbildung verwehren. Deshalb sind Modelle besonders auch in den Sozialwissenschaften eine elegante Methode, die Wirkung von Maßnahmen theoretisch abzuschätzen. Um Wirkungen schätzen zu können, muss allerdings der Wirkungsmechanismus bekannt sein. Mit anderen Worten, es muss eine bestätigte Theorie existieren, die den heutigen Zustand als Folge bestimmter Voraussetzungen erklären kann. Wie die obigen Ausführungen aber zeigen, gibt es im Allgemeinen in der Realität, etwa im Schulalltag, zu viele Einflüsse auf die Resultate, deren komplexe Wechselwirkungen vielfach auch nicht hinreichend bekannt sind, um sie in einem Modell alle miteinander abbilden zu können. Man spricht deshalb vom Problem der „abnehmenden Abstraktion“ (Esser 1993). Das bedeutet, dass ein Modell oder auch eine Theorie einerseits von der komplexen Realität notwendigerweise abstrahieren muss, um zu nachvollziehbaren Aussagen über Wirkungen zu kommen, und deshalb die Wirklichkeit nur vereinfacht abbilden kann. Der Grad der Abstraktion von der Realität muss also notwendigerweise abnehmen. Andererseits darf ein Modell auch nicht so einfach sein, dass es wesentliche Bedingungen nicht widerspiegelt. Das Problem besteht darin, das richtige Maß an Abstraktion für ein Modell zu finden. Festzuhalten ist aber aus dieser Betrachtung, dass die beiden geläufigsten Gegenargumente gegen Modelle, nämlich: „Da fehlt ja noch der Einfluss XY“ oder „aus dem Modell kann man ja alles Mögliche ableiten“, das Problem der abnehmenden Abstraktion nicht erkannt haben, weil ein Modell weder die Realität im Verhältnis von 1:1 abbilden möchte noch in seinen Ergebnissen auf bekannte Entwicklungen beschränkt sein sollte. Es muss daran gemessen werden, inwieweit es bestimmte theoretisch begründete Wirkungszusammenhänge nachvollziehbar darstellen kann und daraus Folgerungen ableiten kann, die auf die tatsächlichen Verhältnisse bezogen werden können. Im Brennpunkt des folgenden Modells steht die Frage, wie politische Maßnahmen zur Steigerung der Leistungen des Bildungssystems ihre Wirkungen entfalten können. Politische Maßnahmen können im Modell nur darin bestehen, entweder Strukturen des Bildungssystems oder bestimmte pädagogische Tätigkeiten innerhalb des Systems zu verändern. Im zweiten Fall zielen die Maßnahmen auf ausgewählte Teile der Schülerschaft, die besonderen Einflussfaktoren unterliegen. Wie sehr differenziert und detailliert diese beiden Bereiche – Strukturen des Bildungssystems und persönliche Gegebenheiten jedes Schülers – inzwischen in der aktuellen Forschung beschrieben werden, kann man an der Vielzahl der in die PISA-Studie aufgenommenen Indikatoren ablesen. Wie kann nun diese Vielzahl von Dimensionen „vereinfacht“ dargestellt werden, um in einem Modell Wirkungen von politischen Maßnahmen abschätzen zu können? Das Modell muss erstens die wesentlichen strukturellen Bedingungen darstellen. Zweitens muss die Vielzahl der Einflussfaktoren auf einige zentrale reduziert werden, die zudem als durch politische Maßnahmen beeinflussbar angesehen werden können.
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Die Struktur des Bildungssystems im Modell Die wesentlichen strukturellen Vorgaben bestehen darin, dass schulische Ausbildung immer in Stufen vor sich geht: Der Lernstoff wird in Teile aufgeteilt, die in einer bestimmten notwendigen Reihenfolge gelernt werden müssen, weil sie aufeinander aufbauen. Ein Schulsystem ist deshalb notwendigerweise in verschiedene Schulstufen eingeteilt wie eine Kaskade, sodass die Schüler eine Stufe nach der anderen bewältigen müssen, um ganz hindurchzugelangen. Dabei besteht auf vielen Stufen die Gelegenheit, die Schule abzubrechen und sich mit dem so weit erreichten Abschluss zufrieden zu geben.1 In Ländern mit allgemeiner Schulpflicht ist klar, dass auf der untersten Stufe alle Kinder in das System eintreten. Ebenso klar ist, dass auf der obersten Stufe – sei es Hochschulausbildung, Abitur oder ein ähnlicher Bildungsabschluss – nicht alle ankommen können, da ein Ziel des Systems ebenfalls ist, die Fähigsten für die anspruchsvollste, und in der Regel auch längste Ausbildung auszuwählen. Damit werden die Schwund- bzw. Erfolgsquoten auf den Stufen des Systems zu seinem entscheidenden Charakteristikum. Diese Art Modellierung des Schulsystems ist auch die Grundlage der gängigen Prognosemodelle der Schülerpopulation (vgl. Klemm 1992; KMK 1993). Dabei werden die Übergangsquoten aus der jüngsten Vergangenheit geschätzt und die Eingangspopulation der Erstklässler aus demografischen Daten übernommen. Sie bildet zudem wichtige Erkenntnisse der Schulerfolgsforschung ab (Müller und Haun 1993, 1994; Mare 1980, 1981). Nach diesen Ergebnissen lassen sich die Schulstufen auch als wichtige Entscheidungsstellen charakterisieren, an denen die Eltern aktiv Entscheidungen über den weiteren Verbleib ihrer Kinder fällen. Dabei können sowohl die ökonomischen und sozialen Bedingungen und Gewohnheiten als auch eine rationale Abwägung der weiteren Erfolgschancen und der dafür aufzubringenden Kosten, beispielsweise in Form von weiterem Unterhalt des Kindes, eine Rolle spielen (Cortina 2003). In dieser Sicht wären die Übergänge auf einer Stufe nicht als Schwundquote, sondern als Verbleibsentscheidungsquote zu bezeichnen. Die Anzahl der Schulstufen sei im Folgenden n, wobei 1 die niedrigste und n die höchste sei, die Anzahl der Schüler auf den Stufen sei mit Si bezeichnet (i = 1,..., n) und die Übergangswahrscheinlichkeiten von Stufe i zu Stufe i+1, d h. der Anteil derjenigen, der nicht das System verlässt, mit pi. Eine mögliche Aufgabe von Schulpolitik, möglichst viele hoch qualifizierte Absolventen auf den Arbeitsmarkt zu entlassen, kann mit diesen Definitionen beschrieben werden als die Aufgabe, die Si mit den hohen i’s, z.B. Sn, möglichst groß zu machen. Da aber gilt Si+1 = Si · pi, kann Sn nur gesteigert werden durch Steigerung mindestens eines der pi’s. Schon hier stellt sich eine einfache Frage für die Wirkung unterschiedlicher politi-
1
Auf jeder Stufe fließt also eine gewisse Anzahl aus dem System heraus, deshalb ist auch der Name „leaky pipeline“ dafür bekannt.
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scher Maßnahmen: Gibt es ein pi, das für die Steigerung von Sn die größte Wirkung verspricht, oder muss man alle pi’s steigern oder eine Kombination? Die Einflussfaktoren der individuellen Schülerleistung Aber wie kann man überhaupt die Übergangswahrscheinlichkeiten pi steigern? Hier kommen nun im Wesentlichen drei Theorien zum Zuge, die verschiedene Einflussfaktoren hervorheben, warum Schüler eine bestimmte Klassenstufe nicht mehr bewältigen. Da sich die Größe der pi als Summe individueller Schülerleistungen ergibt, können es erstens persönliche Schülerfähigkeiten sein, die die pi’s bestimmen, etwa Begabungen und Anlagen. Die eher statischen Begabungstheorien (Weiss 2000) schreiben jedem einzelnen Schüler eine individuelle Begabung zu, die durch seine körperliche Ausstattung bedingt und wenig veränderbar sei. Sie stattet ihn mit einer konstanten Erfolgswahrscheinlichkeit p aus, in der Schule auf die nächste Stufe weiterzukommen. Wie wäre der Schulerfolg beschreibbar, wenn statische Begabungen vorlägen? Sei B die Zahl der Schüler mit der Begabung p auf Stufe S1. Dann ist der Anteil Schüler von B, die nach dieser Theorie die Stufe S2 erreichen, gleich B · p und der Anteil, der die höchste Stufe Sn erreicht, im Modell B · pn-1. Um den Erfolg des Schulsystems insgesamt zu beschreiben, reicht es deshalb in diesem Fall, die Verteilung der Begabungen unter den Erstklässlern zu kennen; das Schulsystem selbst spielt keine Rolle mehr und die Schulpolitik wäre machtlos, weil p nicht veränderbar wäre.2 Andere Theorien heben zweitens die Schulform, die Form des Unterrichts oder andere Bedingungen hervor, die innerhalb der Handlungsmöglichkeiten der Schule liegen. Die pi’s wären abhängig von diesen Bedingungen, etwa höhere pi’s für Gymnasien als für Gesamtschulen oder umgekehrt, wie man oft in der politischen Diskussion hören kann. Dann hätte die Schulpolitik große Verantwortung. Weitere Theorien heben drittens einschränkend vor allem die Rolle der Familien hervor, die als primäre Sozialisations- und Entscheidungsinstanz für das Kind sowohl seine Motivation für Schule als auch seine Entscheidungen über den Verbleib in den Schulstufen entscheidend beeinflusst. Die Erfolgswahrscheinlichkeit p, eine Schulstufe weiterzukommen, wäre dann abhängig von der Familie des Schülers, die unter anderem mitentscheidet, wann das Kind die Schule verlässt. Nach dieser Theorie wären Handlungsmöglichkeiten für Schulpolitik vorhanden, aber eher klein: Sie müsste in die Familien hineinwirken und in der Schule dem Kind andere als die familiären Werte vermitteln. Um das Modell weiter zu konstruieren, ist es nicht nötig, sich auf eine dieser Theorierichtungen zu beschränken. Um überhaupt Aussagen über Schulpolitik 2
Begabungstheorien kommen meist in komplexerem Gewand daher, indem sie Normalverteilungen der Begabungen mit verschiedenen Mittelwerten für die sozialen Schichten annehmen und damit dann rechtfertigen, dass bei den höheren Bildungsabschlüssen die hohen sozialen Schichten deutlich mehr vertreten sind (Weiss 2000). Man sieht am Modell, dass es so einfach nicht sein kann.
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machen zu können, müssen natürlich reine Begabungstheorien ausgeschlossen werden. Die anderen beiden Faktoren werden auf die Weise ins Modell integriert, dass für schulische Maßnahmen zwei Ansatzpunkte bei den Kindern gesehen werden: Sie können zum einen die Erfolgswahrscheinlichkeit steigern, indem sie pädagogisch auf die familiären Hintergründe der Kinder einwirken. Zum anderen können sie direkt durch geeignete Unterrichtsformen an den kognitiven Fähigkeiten der Kinder ansetzen. Im schulischen Alltag wird man diese Unterscheidung oft nicht genau treffen können. In den Empfehlungen der PISA-Studie etwa wird jedoch dazwischen genau unterschieden, wenn festgestellt wird: „Eine Optimierung beider Gesichtspunkte – Sicherung eines hohen Kompetenzniveaus und Verminderung sozialer Disparitäten – hängt maßgeblich vom Erreichen eines befriedigenden Niveaus der Lesekompetenz in den unteren Sozialschichten ab“ (Deutsches PISA-Konsortium 2001: 389). Hier wird eine schichtspezifische Förderung nahe gelegt. Oder wenn es an anderer Stelle heißt: „Der hohe Erklärungswert von veränderbaren Faktoren (Lernstrategiewissen, Interesse am Lesen, inhaltliches Interesse) [...] bedeutet, dass Schülerinnen und Schüler mit hohem Lernstrategiewissen [...] höhere Werte im Lesekompetenztest erzielen. Diese Befunde weisen auf wichtige Bereiche der Förderung hin“ (Deutsches PISA-Konsortium 2001: 131). Hier wird eine Förderung individueller Schülerfähigkeiten nahe gelegt. Auch die politischen Maßnahmen unterscheiden zwischen diesen beiden Faktoren. So gibt es in Berlin bereits Sprachtests für Kinder und vom Ergebnis abhängige Maßnahmen, um die Sprachfähigkeit überhaupt so weit herzustellen, dass dem normalen Unterricht gefolgt werden kann, oder Vorschläge zur Aufhebung der Jahrgangsklassen – Einteilung für die ersten zwei bis drei Schuljahre – eine offenbar kompensatorische sozialschichtbezogene Maßnahme. Durchgeführt werden aber auch besondere Differenzierungen für hoch Begabte – also eine auf die individuellen kindlichen Fähigkeiten zielende Maßnahme. Um die Unterschiede in den Familien der Schüler zu modellieren, wird die soziale Schichtzugehörigkeit als Indikator gewählt (Deutsches PISA-Konsortium 2001: Kapitel 8). Wie immer man „soziale Schicht“ definiert, so bestätigen viele Untersuchungen, dass das Aspirationsniveau, die Ansprüche an die schulischen Leistungen des Kindes, in Arbeiter- und Kleinbürgerfamilien niedriger ist als in mittleren und gehobenen Schichten. Auch die finanzielle Belastung, die eine lange Schulkarriere mit sich bringt, kann von den oberen sozialen Schichten besser getragen werden. Im Modell seien die sozialen Schichten mit Ci („class“ C) bezeichnet und eine kleine Anzahl Schichten mit ordinaler Reihenfolge angenommen, d h. Ci+1 ist eine höhere Schicht als Ci Die Anlagen der Kinder seien ebenfalls nur in einer kleinen Anzahl Stufen differenzierbar. Das kann etwa im Hinblick auf die beschränkte Möglichkeit, Unterricht schulintern nach „Talenten“ zu differenzieren, gerechtfertigt werden. Sie werden mit Rk („resources“ R) bezeichnet und Rk bezeichne eine geringere Bega-
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bung als Rk+1. In jeder sozialen Schicht gebe es Kinder aller Begabungen. Die Verteilung der Begabungen auf die Schichten ist natürlich eine kritische Größe des Modells, die die Wirkung von Maßnahmen beeinflusst. Deshalb wird sie im Modell variabel gehalten. Die schulischen Maßnahmen verändern die Einflüsse, die die beiden Faktoren soziale Schicht und Begabung auf den Schulerfolg der Kinder haben. Deshalb wird die Erfolgswahrscheinlichkeit p eines Kindes, die nächste Schulstufe zu erreichen, generell abhängig von C und R modelliert: pjk = f (Cj, Rk). Dabei bezeichnet der erste Index j im Folgenden immer die Schicht, der zweite Index k immer die Begabung. Damit ist ein individuelles Kind nur durch diese zwei Merkmale – seine soziale Herkunft und seine „Anlagen“ – definiert. Natürlich ließen sich an dieser Stelle weitere Merkmale hinzufügen, um das Modell „realistischer“ zu gestalten. Die Zunahme an Komplexität ist jedoch gegen die Transparenz der Simulation abzuwägen; da viele vorstellbare weitere Merkmale ebenfalls unter die beiden aufgenommen Faktoren subsumiert werden können, soll es hier dabei bleiben. Schulische Maßnahmen können sich deshalb in diesem Modell im differenziertesten Fall auf eine spezifische Begabungsuntergruppe einer speziellen Schicht beschränken, etwa auf die Förderung der hoch Begabten der Unterschicht. Die Wirkung schulischer Maßnahmen besteht im Modell in der Veränderung des Werts der Erfolgsquoten pjk. Das bedeutet, sie werden gemessen durch die Erhöhung oder Verminderung der Übergangsquoten in die nächste Schulstufe. Die pjk heißen nach Boudon (1973), von dem die Grundlage zu diesem Modell stammt, „Fundamentalparameter”, da sie die Grundlage für die schulische Erfolgsprognose eines Kindes geben, dessen Familie und kognitive Ausstattung bekannt sind. Die Fundamentalparameter bleiben dieselben auf jeder Stufe des Bildungssystems. Das ist eine vereinfachende Annahme. Tatsächlich verliert sich der Einfluss der sozialen Herkunft auf den höheren Stufen im amerikanischen System (Mare 1980, 1981), während es zum deutschen System widersprüchliche Ergebnisse gibt (Müller und Haun 1994; PISA-Konsortium 2001; siehe auch den Beitrag von Müller und Pollak in diesem Band). Da die Änderungen der pjk’s jedoch in spezifischen fixen Verhältnissen pro Schulstufe vorkommen, würden wesentliche qualitative Ergebnisse, die durch die Änderung eines einzigen Fundamentalparameters erzeugt werden, sich auch bei einem komplizierteren, aber aus konstanten Relationen zum Fundamentalparameter bestehenden System von Übergangsquoten zeigen. Deshalb wird das Modell im Sinn der Modellökonomie auf einen Satz von Fundamentalparametern beschränkt. Damit sind die wesentlichen Elemente des Modells bestimmt: Es besteht aus den n Stufen des Bildungssystems Si (1< i < n), der Aufteilung der Schülerpopulation nach den Merkmalen soziale Schicht Cj und individuelle Begabung Rk und den Erfolgswahrscheinlichkeiten pjk, je nach Schichtzugehörigkeit und Begabung. Als erstes Beispiel sei der Schulerfolg von CjRk = 10000 Kindern aus Schicht Cj mit Begabung Rk bei fünf Schulstufen, die etwa Hauptschule, Realschule, Abitur,
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389
Bachelor, Magister/Diplom heißen könnten, berechnet. Er ergibt sich in allgemeinen Formeln aus ihrer Erfolgswahrscheinlichkeit pjk: S1 10000 · (1 - p jk ) 10000 (1 - p jk ) p jk
S2
S1 · p jk
S3
10000 (1 - p jk ) p jk
2
S4
10000 (1 - p jk ) p jk
3
S5
10000 p jk
Allgemein: S j
4
C j R k · (1 - p jk ) · p jk
j-1
für j n , S n
C j R k · p jk
n -1
Schon aus diesen Formeln wird ersichtlich, dass es sich bei Abschätzung der Konsequenzen von Änderungen der pjk‘s nicht um ein triviales Unterfangen handelt, insbesondere wenn Änderungsraten von Quoten verglichen werden sollen, da es sich offenbar um ein nichtlineares System handelt. Die Komplexität dieses Modells ist unter anderem von Fararo und Kosaka (1978) mathematisch umfassend dargelegt worden, deren Ergebnisse hier zum Teil herangezogen werden. Da die rein analytische Durchdringung in die höhere Mathematik führt, wird das Modell hier auf dem Weg der Simulation durchgerechnet.3 3.
Ziele und Ausgangsbedingungen des Modells
Um Simulationen mit einem Modell berechnen zu können, müssen die Modellparameter mit konkreten Zahlen belegt werden. Für die Auswahl ihrer Werte gilt dasselbe wie beim Problem der abnehmenden Abstraktion: Es ist nicht zu erwarten und auch nicht wichtig, dass sie genau mit empirisch ermittelbaren Werten übereinstimmen, da die realen Werte immer auch einen Großteil an Komplexität widerspiegeln, der im Modell gar nicht vorhanden ist. Wichtig ist, dass die Parameter und vor allem die Ergebnisse der Simulation im Rahmen möglicher, vorstellbarer Realität bleiben. Nur ein Modell, das überwiegend unmögliche oder unvorstellbare Zustände erzeugt, kann mit Recht als ein Artefakt beschrieben werden. Die Parameterwerte, die im Modell zu besetzen sind, sind die Anzahl n der Stufen Sn, die Anzahl j der Schichten Cj und k der Begabungen Rk, die Anzahl der Kinder in jeder Schicht-Begabungskombination CjRk und die Werte für die Erfolgswahrscheinlichkeiten pjk. Um den reinen Wirkungszusammenhang des Modells besser hervortreten zu lassen, empfiehlt es sich mit durchschaubaren, sprich einfachen Parametern anzufangen. Entsprechend soll es nur je zwei Schichten (hoch, niedrig) und zwei Begabungen (hoch, niedrig) geben und zunächst alle CjRk gleich besetzt sein mit je 5.000 Kindern. 3
Das Simulationsprogramm kann direkt vom Autor bezogen werden.
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Entscheidend ist natürlich die Quantifizierung der pjk. Ausgehend von vielen Befunden kann man sowohl einen besseren Schulerfolg wegen der Zugehörigkeit zu höheren Sozialschichten als auch selbstverständlich wegen der höheren Begabungen annehmen. Für die Erfolgsdifferenz in Bezug auf die sozialen Herkünfte spielen bekannte sozialisatorische Einflüsse wie höherer Wert von Bildung, Lesen und Selbstbeschäftigung, mehr Förderung und Interesse am Fortschritt der Kinder und mehr finanzieller Spielraum für außerschulische Bildungsangebote in höheren Schichten eine Rolle. Ferner wird dabei noch unterschieden zwischen „primären“ und „sekundären“ Einflüssen der Herkunftsschicht (Boudon 1974). Primäre Einflüsse sind diejenigen, die sich direkt in der Lernfähigkeit des Kindes bemerkbar machen. Sekundäre Einflüsse sind die Unterschiede im durchschnittlichen Schulerfolg, die zwischen zwei Kindern aus unterschiedlichen Sozialschichten bestehen bleiben, auch wenn sie dieselben kognitiven Fähigkeiten besitzen. Man kann dabei an Motivation, Leistungsdruck oder Entscheidungen über frühen Schulabgang in den Familien aus unteren Sozialschichten, aber auch an selektive Wahrnehmung durch die Lehrer denken, die Kinder aus ihnen nahe stehenden Schichten eher wahrnehmen (Wiese 1982). Bei Vorhandensein sekundärer Einflüsse bleibt eine soziale Differenz im Erfolg bestehen, auch wenn Kompetenzunterschiede durch die Lehrer ausgeglichen werden können. Aufgrund dieser Ergebnisse werden für eine erste Simulation folgende Werte für die Fundamentalparameter angenommen: Unterschicht, niedrig Begabte p11 = 0.3 Unterschicht, hoch Begabte p12 = 0.6 Oberschicht, niedrig Begabte p21 = 0.5 Oberschicht, hoch Begabte p22 = 0.8. Dadurch ist die „mittlere“ Erfolgsdifferenz zwischen den Begabungen, die die primären Einflüsse der sozialen Herkunft beinhaltet, auf 0.6-0.3 = 0.8-0.5 = 0.3 = 30 Prozent mehr Übergänge auf die nächste Stufe und die „mittlere“ Differenz zwischen den sozialen Herkünften, die die sekundären sozialen Einflüsse darstellt, auf (0.8 + 0.5)/2 – (0.6 + 0.3)/2 = 0.2 = 20 Prozent mehr Übergänge festgelegt. Mit diesen Parametern ist ein Grundmodell beschrieben, in dem sich folgende Schulleistungen ergeben (zur Berechnung siehe den mathematischen Anhang M0):
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Tabelle 1: Grundmodell der Abgänge der Schüler auf den einzelnen Schulstufen nach ihren sozialen Merkmalen
Herkunft C1 C2 Alle Begabung R1 R2 Alle Herkunft C1 C2 Alle Begabung R1 R2 Alle Herkunft C1 C2 Alle Begabung R1 R2 Alle
S1
S2
5500 3500 9000
2250 2050 4300
6000 3000 9000
Schulstufen S3 S4 Absolute Zahlen
S5
Alle
688 2360 3049
10000 10000 20000
2300 940 407 2000 1360 944 4300 2300 1351 Schulstufen pro Merkmal in Prozent
353 2696 3049
10000 10000 20000
55.00 35.00 45.00
22.50 20.50 21.50
6.88 23.60 15.25
100.00 100.00
60.00 30.00 45.00
23.00 9.40 4.07 20.00 13.60 9.44 21.50 11.50 6.76 Merkmale pro Schulstufe in Prozent
3.53 26.96 15.25
100.00 100.00
1035 1265 2300
10.35 12.65 11.50
527 825 1351
5.27 8.25 6.76
61.11 38.89 100.00
52.33 47.67 100.00
45.00 55.00 100.00
38.97 61.03 100.00
22.58 77.42 100.00
50.00 50.00
66.67 33.33 100.00
53.49 46.51 100.00
40.87 59.13 100.00
30.13 69.87 100.00
11.58 88.42 100.00
50.00 50.00
Insgesamt erreichen 3.049 von 20.000 Schülern (= 15,25 Prozent) den obersten Abschluss, aufgeteilt auf 22,58 Prozent aus der Unterschicht und 77,42 Prozent aus der Oberschicht. Von den Anfangskohorten von jeweils 10.000 Schülern erreichen nur 6,88 Prozent der Unterschicht, aber 23,60 Prozent der Oberschicht diesen höchsten Abschluss. Den obersten Abschluss teilen sich 11,58 Prozent niedrig Begabte und 88,42 Prozent hoch Begabte. Von den jeweils 10.000 niedrig Begabten erreichen 3,53 Prozent und von den hoch Begabten 26,96 Prozent einen höchsten Abschluss. Damit steht eine ganze Reihe von Größen zur Verfügung, um die „Leistung“ dieses Schulsystems anhand des von ihm erzeugten Outputs zu beschreiben und vor allem auch zu bewerten. Welche Größen können ausgewählt werden, um die möglichen Ziele von Schulpolitik zu erfassen? Dafür muss versucht werden, die zahlreichen, aber auf den zweiten Blick geradezu erschreckend unkonkreten Äu-
392
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ßerungen von Bildungspolitikern auf die vom Modell bereitgestellten Indikatoren zu beziehen. Die drei folgenden Werte sollen dazu dienen, die „Ziele“ von Maßnahmen darzustellen: 1. Zunächst ist Schulpolitik daran interessiert, das Bildungsniveau insgesamt anzuheben und insbesondere im Hinblick auf die internationale Konkurrenz einen Mangel an hoch Qualifizierten zu vermeiden. Dieses Ziel lässt sich nicht nur in den politischen Forderungen als Reaktionen auf PISA („Vorbereitung auf die Wissensgesellschaft“ (Schipanski in Fahrholz et al. 2002), „neue Werte für die Informationsgesellschaft“ (Schäuble in Fahrholz et al. 2002)), sondern auch in der PISA-Studie selbst feststellen. Um dieses Ziel zu messen, soll die Quote des höchsten Abschlusses insgesamt dienen, im obigen Beispiel sind es immerhin 15,25 Prozent. 2. Bildungspolitik ist weiter daran interessiert, Begabungsreserven zu wecken und Leistungsstarke zu fördern, um den meritokratischen Charakter unseres Ausbildungssystems zu stärken und Wettbewerb und Leistungswillen zu fördern: „Ausschöpfung der Begabungsreserven“ (Gabriel in Fahrholz et al. 2002), mehr Wettbewerb und Leistung (Westerwelle in Fahrholz et al. 2002), „Elitebildung“ (Biedenkopf in Fahrholz et al. 2002). Das soll hier mit dem Schlagwort „Exzellenz“ bezeichnet und am Anteil der hoch Begabten, die den höchsten Abschluss erreichen, gemessen werden. Im obigen Beispiel beträgt er 26,96 Prozent. 3. Schulpolitik ist daran interessiert, Chancengleichheit für die Kinder aus unteren sozialen Schichten herzustellen: „Frühzeitige individuelle Förderung, insbesondere bei Benachteiligungen durch soziale Herkunft“ (Bulmahn in Fahrholz et al. 2002) oder „Ganztags-Betreuung“ (Bergmann in Fahrholz et al. 2002). Zur Messung der Chancengleichheit wird die Maßzahl „Odds“ verwendet, definiert als die Chancen der Kinder aus der Oberschicht, den höchsten Abschluss zu erlangen, im Verhältnis zu denselben Chancen von Kindern aus der Unterschicht. Das ist im obigen Beispiel: 23,60 / 6,88 = 3,43. Unter den Modellbedingungen haben Kinder aus der Oberschicht eine 3,43-mal höhere Chance, den höchsten Abschluss zu erreichen, als Kinder aus der Unterschicht, obwohl beide Schichten gleich stark mit Begabungen besetzt sind. Auch die Bezeichnung „Disparität“ der Schichten ist dafür gebräuchlich. 4.
Simulationsresultate
Mithilfe der so definierten Bedingungen und Ziele des Modells kann nun begonnen werden, die Ergebnisse von schulpolitischen Maßnahmen als Simulation zu berechnen und zu bewerten. Die Ergebnisse von Maßnahmen werden generell daran gemessen, ob sie in Bezug auf die definierten drei Ziele Verbesserungen bewirken oder nicht.
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Zunächst geht es in den beiden darauf folgenden Abschnitten um Maßnahmen, die die Struktur des Systems betreffen, d h. die Anzahl n oder Verzweigungen der Schulstufen Si. Alle anderen Maßnahmen, die in den beiden letzten Abschnitten im vierten Abschnitt diskutiert werden, wirken sich so aus, dass die Übergangsparameter pjk verändert werden. Um solche Maßnahmen vergleichen zu können, muss vorher definiert werden, in welcher Weise Maßnahmen, die auf verschiedene Teile der Schülerpopulation, etwa Unter- oder Oberschicht, einwirken, als vergleichbar angesehen werden können. Der Zeitpunkt der Förderung Als erstes Problem soll die Frage nach dem Zeitpunkt von Maßnahmen gleich welcher Art, die die Übergangsparameter beeinflussen, gestellt werden. Auf welcher Schulstufe sollte eine Förderung einsetzen? Um diese Frage mit dem Modell zu beantworten, muss vom Fundamentalparameter abgewichen werden und Übergangsparameter für einzelne Schulstufen betrachtet werden. Für eine beliebige Schülergruppe CjRk gebe es eine Sequenz von Übergangsparametern pi (i = 1,..., n), die den Übergang von Stufe Si-1 auf Si bestimmen. Der Anteil von CjRk, der den höchsten Abschluss Sn erreicht (Ziel 1), ist dann CjRk · (p1· · · pn). Wird die Übergangsquote pi auf einer beliebigen Stufe i um 10 Prozent auf pi + 0.1 · pi erhöht, erhöht sich die Quote genau auf CjRk · (p1 · · · pn) + 0.1 · CjRk · (p1 · · · pn), also ebenfalls um 10 Prozent. Es scheint also egal, auf welcher Stufe die Förderung einsetzt. Übersehen wird dabei aber, dass es sich bei einer Steigerung eines Parameters pi ja um eine schulische Maßnahme handelt, die die individuellen Lernkompetenzen der Schüler steigert. Steigert man diese Kompetenzen auf einer Stufe, so bleiben sie – jedenfalls teilweise, so die Hoffnung der Lehrerinnen und Lehrer – auf den späteren Stufen erhalten, d.h. es erhöhen sich auch die Parameter der folgenden Stufen. Gleich wie viel Steigerung auf den späteren Stufen erhalten bleibt, ist offensichtlich, dass ein um so größerer Anteil die letzte Stufe erreicht, je früher die Förderung einsetzt (siehe mathematischer Anhang M1). Nur dann wäre ein Beginn der Förderung auf späteren Stufen im Hinblick auf Ziel 1 sinnvoll, wenn der Kompetenzerhalt auf den folgenden Stufen bei einem späteren Beginn wesentlich höher wäre als auf den früheren Stufen. Wenn also schulische Förderung so angelegt ist, dass sie nicht nur auf eine Schulstufe zielt, sondern Lernkompetenzen bei den Schülern fördern will, die auch die weitere Schullaufbahn verbessern, dann sind zweifellos die schulischen Maßnahmen in Bezug auf Ziel 1 umso wirksamer, je früher die Förderung einsetzt. Diese Argumentation ist offenbar auch unabhängig von der Anzahl und Verteilung der Schüler nach sozialer Herkunft und Begabungen, der Anzahl der Schulstufen und der Größe der Erfolgsquoten pjk. Dieses Ergebnis steht vollkommen in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der PISA-Studie, dass Länder mit guten Resul-
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taten über bessere Vorschulerziehung in den Kindergärten, besser ausgebildetes Kindergartenpersonal und ein breiteres Kindergartenangebot verfügen. Integrierte versus selektierende Schulsysteme Deutschland gehört zu den wenigen Ländern, die eine frühe Selektion der Schüler auf getrennte, in Bezug auf die geplante Länge und Leistung des Schulverbleibs geordnete Zweige („Säulen“) des Schulsystems praktizieren, bei denen ein Wechsel zwischen Zweigen selten bleiben soll. Wie kann ein solches „versäultes“ System modelliert werden? Die Säulen unterscheiden sich durch ihre Länge: je leistungsstärker der Zweig, desto mehr Schulstufen enthält er. Modelliert wird also ein System, das die Schüler nach einer frühen Stufe trennt, ab der es in zwei getrennten Zweigen (Kaskaden) weitergeht, die unterschiedlich lang sind; der höchste Abschluss kann nur noch auf einem der beiden Zweige erreicht werden. Abbildung 1: Abgangsmöglichkeiten selektierender und nicht selektierender Schulsysteme 1) nicht selektierendes System
S1
S2
S3
S4
S5
S4
S5
2) auf früher Stufe selektierendes System
S1
S2
S1
S2
S0
S3
Zu beachten dabei ist, dass die eingefügte Stufe S0 keine Abgangsstufe ist, von der das Schulsystem verlassen werden kann (und in der die Erfolgsquote angewendet werden kann), sondern hier eine Aufteilung der kompletten Schülerschaft erfolgt. Zu modellieren ist also der Selektionsmechanismus auf der zusätzlichen Selektionsstufe. Hier gehen wir mit einer für das deutsche System positivsten Annahme davon aus, dass tatsächlich alle hoch Begabten auf den weiter führenden Zweig selektiert, d h. „erkannt“ werden können. Wie steht es dann mit der Zielerreichung? Wir lassen zur Vereinfachung die Unterschiede in der sozialen Herkunft zunächst weg und rechnen mit zwei Begabungen, niedrig (R1) und hoch (R2), die zu je 5.000 Kinder vorhanden seien. R1 habe Erfolgsquote p1 = 0.3 und R2 Erfolgsquote p2 = 0.7. Dann ist der Anteil, der im nicht selektierenden System den höchsten Abschluss erreicht, 5.000 · 0.74 + 5.000 · 0.34. Im „versäulten“ System werden nach Stufe S0 die Schüler nach Begabung aufgeteilt: 5000 weniger Begabte kommen auf den niedrigeren Zweig, die 5000 höher Begabten auf den weiterführenden Zweig. Der Anteil aller Schüler, der im „versäulten“ System einen höchsten Abschluss erreicht, beträgt dann 5.000 · 0.74. Das ist offenbar immer weniger als im
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nicht selektierenden System, auch wenn andere Werte als 0.7 und 0.3 für die Erfolgsquoten, andere Werte als jeweils 5.000 für die Verteilung der Begabungen eingesetzt werden oder auf einer späteren Stufe selektiert wird. Als Folgerung ergibt sich, dass in selektierenden Systemen unter den Annahmen des Modells der Anteil derjenigen Schüler, die den höchsten Abschluss erreichen, immer geringer sein muss als in nicht-selektierenden Systemen, weil – wie auch aus der Formel leicht abzulesen ist – einfach dem weniger begabten Teil der Schülerschaft die Chance (= die Übergangsquote) genommen wird, doch die nächste Stufe zu erreichen. Doch wie steht es mit der Exzellenz? Da nach Voraussetzung alle hoch Begabten auf den weiterführenden Zweig gelangen, ist im selektierenden System dieselbe Exzellenz vorhanden wie im nicht-selektierenden. Das Ziel der Exzellenz lässt sich also auch in selektierenden Systemen erreichen. Um die Auswirkungen selektierender Systeme auf die Chancengleichheit – das dritte Ziel – zu untersuchen, müssen Annahmen über die Verteilung der Begabungen auf die sozialen Herkünfte und die schichtspezifischen Übergangsquoten gemacht werden. Geht man vom obigen Grundmodell aus (p12 = 0.6, p22 = 0.8), so ergeben sich für den weiterführenden Zweig folgende Übergänge: Tabelle 2: Abgänge der Schüler auf den Schulstufen im selektierenden System, weiterführender Zweig S1
S2
Herkunft C1 C2 Alle
2000 1000 3000
1200 800 2000
Herkunft C1 C2 Alle
40.00 30.00 20.00
24.00 16.00 20.00
Schulstufen S3 S4 Absolute Zahlen
720 432 640 512 1360 944 Abstrom in Prozent 14.40 12.80 13.60
8.64 10.24 9.44
S5
Alle
648 2048 2696
5000 5000 10000
12.96 40.96 26.96
100.00 100.00 100.00
Damit ergeben sich die Odds von 40.96/12.96 = 3.16 und sinken damit geringfügig gegenüber dem Grundmodell aus Abschnitt 3. Dieses Ergebnis lässt sich verallgemeinern: In selektierenden Systemen fällt der kleine Anteil weniger Begabter aus beiden Schichten auf der höchsten Stufe weg, weil sie sich auf dem Zweig befinden, der früher endet. Die Odds dieses Anteils sind aber wegen der geringeren Erfolgsquoten höher, deshalb sinken ohne diesen Anteil die Odds auf den letzten Stufen in selektierenden Systemen. Man kann also festhalten, dass selektierende Systeme ohne Einbuße an Exzellenz schon unter der günstigsten Annahme der reinen Begabungsselektion weniger hohe Abschlüsse produzieren, die dafür aber etwas mehr chancengleich sind.
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Müller-Benedict
Das Ergebnis ist wiederum schon aus PISA bekannt: Dort haben integrierte Schulsysteme generell bessere Ergebnisse erzielt als selektierende Systeme. Dies lässt sich auch im innerdeutschen Vergleich nachweisen: Bayern mit der rigidesten Selektion hat den geringsten Anteil an Abiturienten (Deutsches PISAKonsortium 2002). Das Ergebnis zur Chancengleichheit scheint nicht mit PISA übereinzustimmen. Dort ist jedoch der Einfluss der sozialen Herkunft immer nur bei den 15-Jährigen gemessen worden und deswegen nicht mit den hier gemessenen Odds auf der höchsten Stufe vergleichbar. Im Modell ergeben sich auf den unteren Stufen keine Änderungen bei den Odds, da sich die Ergebnisse der Zweige dort additiv zusammensetzen. Bessere Leistungen für selektive Schulsysteme würden sich jedoch ergeben, wenn sich innerhalb der einzelnen Zweige die Erfolgsquoten der Schüler ändern, etwa im höchsten Zweig erhöht würden. Durch die „Homogenität“ der Schülerschaft oder durch ein besseres „Lernklima“ infolge besserer Lehrerausbildung und Ausstattung wären dann die Leistungen der Schüler allein durch den Schulkontext besser, und der Anteil des höchsten Abschlusses würde steigen. Ein Schüler würde allein durch einen Wechsel aufs Gymnasium seine individuelle Erfolgswahrscheinlichkeit fürs Abitur erhöhen. Dafür gibt es in der Tat auch empirische Hinweise. Bessere Ausstattung des höchsten Zweiges widerspricht allerdings zunächst dem Gleichheitsprinzip, das jeder Schulform dasselbe Recht auf staatliche Förderung zugesteht. Insbesondere wird es aber dann wieder zu einem Nachteil für die Chancengleichheit, wenn die Homogenität der Schülerschaft nicht nur auf Begabung, wie im Modell, sondern auf ihrer sozialen Herkunft beruht, wie die empirischen Ergebnisse ebenfalls nachweisen. In dieser Simulation wurde ja immer der günstigste Fall angenommen, dass nur nach Begabungen selektiert wird. Vergleichbarkeit von Erfolgsquotenänderungen Im Folgenden werden die Maßnahmen, die sich in den Veränderungen der verschiedenen Erfolgsquoten pjk bemerkbar machen, im Hinblick auf ihre Wirkungen verglichen. Dazu muss notwendigerweise vorher definiert werden, wann Änderungen von zwei verschiedenen Erfolgsquoten pjk und plm auf verschiedene Teilpopulationen der Schülerschaft als „gleich“ aufwändig anzusehen sind. Dies ist notwendig, um Fragen der Art entscheiden zu können, ob die Förderung von Unterschichtschülern bessere Ergebnisse bringt, als eine „gleich“ aufwändige Förderung von Oberschichtschülern erbringen würde. Da in den Werten der pjk ein universelles quantifiziertes „Zahlungsmittel“ besteht, können in diesem Modell alle Maßnahmen über die Größenordnung ihrer Wirkungen auf die pjk verglichen werden. Als einfacher Vergleich bietet sich der direkte Vergleich von Differenzen an: Eine Maßnahme, die eine Steigerung von pjk = 0.3 auf pjk = 0.33 (Differenz 0.03) für die Teilpopulation CjRk bewirkt, ist mit demselben Aufwand verbunden wie eine andere Maßnahme, die die Erfolgsquote pnm = 0.8 auf pnm = 0.83 (Differenz = 0.03) für die Teilpopulation CnRm steigert.
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Ein etwas realistischerer Vergleich berücksichtigt den so genannten „Plafond effect“ oder „Ceiling effect“: Wenn eine Erfolgsquote schon relativ hoch ist, ist es schwieriger, sie um denselben absoluten Betrag zu steigern, als wenn sie viel niedriger wäre. Wenn etwa die Abiturientenquote für Kinder aus Akademikerfamilien schon 90 Prozent und für Kinder aus Arbeiterfamilien erst 10 Prozent beträgt, so ist es viel aufwändiger, die Quote der Akademikerkinder um weitere 5 Prozent auf 95 Prozent zu steigern, als die Quote der Arbeiterkinder auf 15 Prozent, weil angenommen werden kann, dass in den Akademikerfamilien schon die maximale Motivation für ein Abitur vorhanden ist, während in den Arbeiterfamilien noch eine Menge ungenutzte Talente brachliegen. Um diesen Plafond-Effekt zu modellieren, hat Boudon (1973) folgende Formel vorgeschlagen: Eine Steigerung einer Erfolgsquote p um den „Faktor“ a entspricht dem neuen Wert p + (1-p) · a. Mit dieser Formel entspricht eine Steigerung um den „Faktor“ 0.1 von p = 0.3 dem neuen Wert 0.3 + 0.7 · 0.1 = 0.37 und von p = 0.8 dem neuen Wert 0.8 + 0.2 · 0.1 = 0.82. Ohne zusätzliche Lehrkräfte einzustellen bzw. ohne zusätzliche staatliche Förderung gleich welcher Art lassen sich nur schulische Maßnahmen durchführen, bei denen der Lehraufwand insgesamt gleich bleibt. Das lässt sich etwa damit begründen, dass pro Lehrerin die Aufmerksamkeitsmenge, die sie insgesamt einsetzen kann, begrenzt ist. Deshalb kann ohne zusätzliche Kapazität die gesamte pädagogische Zuwendung nur umverteilt, nicht erhöht werden. Im Modell lässt sich das durch die Bedingung darstellen, dass die Summe über alle pjk konstant bleibt. „Kostenneutrale“ Maßnahmen, die eine Teilpopulation fördern sollen, können also nur „zulasten“ einer anderen Teilpopulation gehen. Eine Steigerung der Erfolgsquote einer Teilpopulation bedeutet dann eine gleich große Minderung der Erfolgsquote einer anderen Teilpopulation um denselben Wert. Im Falle einer Steigerung ohne Plafond-Effekt würde eine „kostenneutrale“ Veränderung von zwei Erfolgsquoten p1 und p2 um die Größe x zu den beiden neuen Erfolgsquoten p1 + x, p1 - x führen und im Falle einer Steigerung mit Plafond-Effekt ergeben sich die beiden neuen Werte p1 + (1-p1) · x und (p2-x)(1-x). Eine noch realistischere Modellierung muss auch berücksichtigen, dass die Teilpopulationen an Schülern eventuell verschieden große Anteile aller Schüler darstellen. Der Aufwand, den Erfolg von 5.000 Schülern der Oberschicht um den „Faktor“ x zu steigern, entspricht damit demselben Aufwand wie 10.000 Schüler der Unterschicht um den „Faktor“ x/2 zu steigern. Das lässt sich wiederum damit begründen, dass es bei allen Maßnahmen um individuelle Lernsteigerungen geht, die deshalb als Aufwand pro Schüler eingehen. Bei ungleicher Verteilung der Schülerpopulation muss deshalb die obige Bedingung noch verfeinert werden dazu, dass für kostenneutrale Maßnahmen die Summe über alle CjRkpjk konstant bleibt. Damit sind die Vorüberlegungen für einen Vergleich von Maßnahmen abgeschlossen.
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Förderung von Begabung – eher differenzierend oder eher ausgleichend? Die Frage, die nun erläutert werden soll, lautet: Was ist günstiger im Hinblick auf die formulierten Ziele: a) ein Unterricht, der sich eher egalitär um die Angleichung der Erfolgschancen von Schülern mit hohen und niedrigen Lernkompetenzen bemüht oder b) ein eher elitärer Unterricht, der sich differenziert um die Schüler mit „höherer“ Kompetenz zulasten der „weniger“ Kompetenten kümmert? Die Frage kann auf beliebige Merkmale verallgemeinert werden, wenn statt „Lernkompetenz“ allgemein das Geschlecht, die soziale Herkunft, die Lesefähigkeit oder andere Variablen eingesetzt werden. Im Folgenden soll sie bezüglich des Merkmals „Begabung“ R untersucht werden. Die Unterschiede zwischen den Schülern seien zunächst auf die Begabungsunterschiede eingeschränkt, d h. es gebe keine Schichtunterschiede. Um die Fragestellung weiter zu vereinfachen, gebe es nur zwei Arten Begabungen: weniger (R1) und mehr Begabte (R2), die zunächst in gleicher Anzahl vorhanden seien, etwa je 5.000. Eine egalitäre Förderung würde im Idealfall gleiche Übergangsquoten für beide erreichen, etwa p1 = p2 = p = 0.6. Die Simulation ergibt dann folgendes Ergebnis: Tabelle 3: Abgänge bei "egalitärer" Förderung wenig und hoch Begabter, wenn keine Schichtunterschiede bestehen
Begabung R1 R2 Alle
S1
S2
2000 2000 4000
1200 1200 2400
Schulstufen S3 Absolute Zahlen
720 720 1440
S4
Alle
1080 1080 2160
5000 5000 10000
Dann besteht keine Disparität (Odds = 1), insgesamt erreichen 21,6 Prozent den höchsten Abschluss und die Exzellenz beträgt ebenfalls 21,6 Prozent (= 1080/ 5000). Ein differenzierender Unterricht würde dagegen höhere Erfolgsquoten für die mehr Begabten, aber geringere Erfolgsquoten für die weniger Begabten erreichen. Ein kostenneutraler Vergleich beider Maßnahmen, z.B. mit x = 0.1 als „Differenzierungsgrad“, führt zu folgenden Erfolgsquotenveränderungen: p1 = p – x für R1, p2 = p + x für R2, also p1 = 0.7 und p2 = 0.5. Resultat ist:
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Tabelle 4: Abgänge bei "differenzierender" Förderung wenig und hoch Begabter, wenn keine Schichtunterschiede bestehen
Begabung R1 R2 Alle
S1
S2
2500 1500 4000
1250 1050 2300
Schulstufen S3 Absolute Zahlen
625 735 1360
S4
Alle
625 1715 2240
5000 5000 10000
Mit diesen Voraussetzungen steigt die Quote des letzten Abschlusses auf 23,4 Prozent, die Exzellenz auf 34,3 Prozent und die Disparität allerdings steigt ebenfalls auf 2,74. Das wäre allerdings in diesem Fall durchaus hinnehmbar, weil die Disparität hinsichtlich der Begabung die unterschiedlichen Erfolge der Begabungen ausdrückt, die herauszuarbeiten geradezu die Aufgabe der Schule ist. Also ergibt sich als Ergebnis dieser Simulation, dass ein die Begabungen differenziert fördernder Unterricht im Hinblick auf die Steigerung hoher Abschlussquoten und Exzellenz geeigneter ist als ein die Begabungen egalisierender Unterricht. Dieses Ergebnis hat auch Bestand, wenn die R1 und R2 ungleich groß sind und man Schichten berücksichtigt, solange es mehr als 2 Stufen im System gibt. Ebenso bleibt es auch für Änderungen der Erfolgsquoten mit Plafond-Effekt bestehen (siehe mathematischer Anhang M2). Es ist also allgemein gültig. Das Ergebnis lässt sich nun ebenfalls auf soziale Herkünfte statt Begabungen anwenden. Für die Simulation ist es gleich, ob es sich um die Erfolgsquoten der verschiedenen Begabungen oder um die Erfolgsquoten der verschiedenen Schichten handelt, die umverteilt werden. Also gilt auch: Werden die Schüler aus sozialen Herkünften differenziert gefördert, ergeben sich mehr Abgänger aus den höheren Schulstufen, mehr Abgänger aus der stärker geförderten Herkunft und eine höhere Disparität zwischen den sozialen Schichten. Die letzten beiden Resultate sind nun aber bezüglich der sozialen Herkunft gerade nicht die Ziele, da hier das Ziel der möglichst großen Chancengleichheit, also kleiner Disparität und einer sozial gleichmäßigen Verteilung der sozialen Herkünfte in der höchsten Abgangsstufe, besteht. Diese letzten Ziele sind offenbar gerade dadurch zu erreichen, dass die Erfolgsquoten der Schüler bezüglich ihrer sozialen Herkunft angeglichen werden, wie die Simulation zeigt. Die Schule steht deshalb bei der Erreichung der Ziele vor der Aufgabe, bezüglich der Begabung eine größtmögliche Differenzierung, aber hinsichtlich der sozialen Herkunft eine möglichst weitgehende Egalisierung gleichzeitig anzustreben. Bestimmte Unterrichtsmaßnahmen, die Veränderungen der Erfolgsquoten zur Folge haben, wirken aber immer auf beide Merkmale: Wenn man beispielsweise die mehr Begabten mehr fördert, fördert man begabte Schüler aus allen Schichten. Die Resultate der vorangehenden Simulation galten
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aber nur für ein isoliertes Merkmal. Es ist deshalb zunächst unklar, mit welchen Erfolgsquotenänderungen die Ziele beim Vorhandensein von beiden Merkmalen am besten erreicht werden können. Vergleich von Unterschichtförderung vs. Begabtenförderung – was ist besser? Es folgen deshalb Simulationen zu den unterschiedlichen Wirkungen, die bei Erfolgsquotenänderungen mit beiden Merkmalen gleichzeitig auftreten. Ausgegangen wird wiederum davon, dass schulische Maßnahmen tatsächlich zwischen den beiden Schülermerkmalen, ihrer familiären sozialen Herkunft auf der einen Seite und ihren individuellen Lernkompetenzen auf der anderen Seite, unterscheiden können. Diese Merkmale sind zwar sicher im einzelnen Schüler vermischt, aber Maßnahmen lassen sich im Schulalltag vielleicht doch auf eines der beiden Merkmale fokussieren. Zu denken ist beispielsweise daran, dass man die „Übergangsberatung“ an den entscheidenden Stufen des Bildungssystems verstärkt, um den Anteil der begabten Schüler aus bildungsfernen Schichten, die sich für eine Fortsetzung ihrer Bildungslaufbahn entscheiden, zu erhöhen. Untersuchungen weisen nämlich nach, dass nur 10 Prozent der Schüler mit Sekundarstufenreife aus höheren Schichten, aber mehr als 30 Prozent aus unteren sozialen Schichten ihre Befähigung nicht wahrnehmen und das Abitur nicht versuchen (taz vom 20.2.03). Eine solche Beratung würde sich offenbar überwiegend an untere Sozialschichten richten. Oder es wird ein reiner Begabtenkurs innerhalb eines Jahrgangs eingerichtet, in den die Schüler allein aufgrund einer Eingangsprüfung gelangen. In solch eine Aufnahmepraxis würde die familiäre Herkunft nur indirekt eingehen. Auch wenn in der Praxis wohl viele Maßnahmen nur schwer in Bezug auf ihre Wirkung auf beide Merkmale zu trennen sind, lohnt es sich aus dem Grund, ihre wechselseitigen Auswirkungen theoretisch zu untersuchen, weil dann eingeschätzt werden kann, auf welches der beiden Merkmale sich in der Praxis das Gewicht legen sollte, um die Ziele von Reformmaßnahmen zu erreichen. Wechselwirkungen beider Merkmale können zum Beispiel diese sein: Welche Folgen hat eine Hochbegabungsförderung auf die soziale Chancengleichheit? Oder umgekehrt: Welche Folgen hat eine Verminderung der Chancenungleichheit auf die Exzellenz, den Anteil der hoch Begabten auf der letzten Stufe? Bei einer Simulation mit beiden Merkmalen ist das Ergebnis nicht nur von den Erfolgsquoten pjk der einzelnen Kombination Schicht k und Begabung j abhängig, sondern ebenso von der spezifischen Verteilung der Begabungen auf die einzelnen Schichten, d h. dem Anteil der höher Begabten an der Unter- bzw. an der Oberschicht. Konservative Begabungstheorien gehen davon aus, dass die individuellen Lernfähigkeiten in den unteren Schichten geringer sind: Der Anteil der höher Begabten wäre umso geringer, je niedriger die soziale Herkunft ist. Das könnte allerdings auch ein Effekt längerer meritokratischer sozialer Mobilität einer Gesellschaft sein. Wenn die Begabten aller Schichten tatsächlich allein aufgrund des
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höheren Ertrags ihrer Begabung auf dem Arbeitsmarkt frei in höhere soziale Schichten aufsteigen könnten, und wenn ein Teil der Begabung tatsächlich genetisch vererbbar wäre, dann müssten sich über Generationen hinweg die Begabteren in den oberen Schichten konzentrieren. Wenn andererseits die Lernkompetenzen, mit denen die Schüler in der Grundschule starten, hauptsächlich durch die familiäre Sozialisation der ersten Lebensjahre geprägt sind, worauf viele Untersuchungen hindeuten, und deshalb stark mit der familiären Herkunft korrelieren, würde sich derselbe Eindruck eines höheren Anteils an weniger Begabten in den unteren Schichten ergeben, obwohl tatsächlich die genetischen Begabungen durchaus in allen sozialen Schichten gleichmäßig verteilt wären. Die Verteilung der Lernkompetenzen der Schüler auf die sozialen Schichten stellt eine in der Realität – dies zeigt die internationale Leistungsvergleichsstudie PISA – messbare und langfristig in der Gesellschaft stabile Größe dar. Das kann jede Grundschullehrerin bestätigen, und das könnte deshalb prinzipiell ermittelt werden. Im Simulationsmodell muss man sich zum Glück nicht auf eine Verteilung festlegen, sondern kann die Effekte beider Möglichkeiten simulieren. Im Folgenden wird deshalb sowohl mit gleichen wie mit ungleichen Begabungs- und Schichtgrößenverteilungen gearbeitet. Es sei davon ausgegangen, dass die Politik – wie es nach PISA tatsächlich der Fall war – beschlossen hat, das Bildungssystem zu fördern, um die obigen drei Ziele besser zu erreichen als bisher. Sei es, weil die gewährten Mittel immer zu knapp sind, um alles Mögliche zu unternehmen oder weil die regierende Partei eine eher konservative oder eher reformerische Politik verfolgt, es stellt sich dann immer die Frage: Welche Teilgruppe sollte gefördert werden, um im Hinblick auf die Erreichung der drei Ziele den größten Ertrag zu erbringen? Aus den obigen Simulationen geht schon hervor, dass sowohl eine reine Förderung der oberen Schichten als auch eine reine Förderung der weniger Begabten ausfällt: Ersteres, weil die Chancenungleichheit extrem erhöht würde und Letzteres, weil die Exzellenz zu stark fallen würde. Deshalb wird im Weiteren zur Beantwortung dieser Frage nur noch eine Förderung der höher Begabten in ihren Effekten verglichen mit einer reinen Unterschichtförderung. Die Effekte auf die Chancenungleichheit Die Ausgangsbedingungen der folgenden Simulation sind wie im Grundmodell (Abschnitt 3). Dann gebe es die Möglichkeit, schulische Förderung zu verstärken. Sie kann entweder zur Erhöhung der Erfolgsquoten der Unterschicht, p11 und p12, oder zur Erhöhung der Erfolgsquoten der Begabten, p12 und p22, eingesetzt werden. Dabei wird von einer „gleichwertigen“ Erhöhung im Sinn des PlafondEffekts um 10 Prozent ausgegangen. Die folgenden Resultate ergeben sich:
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Tabelle 5: Abgänge auf den Schulstufen: Unterschichtförderung vs. Begabtenförderung S1 Herkunft C1 C2 Alle Begabung R1 R2 Alle Herkunft C1 C2 Alle Begabung R1 R2 Alle
Schulstufen S2 S3 S4 S5 Unterschichtförderung: p11 = 0.37, p12 = 0.64
11.69 12.65 12.17
6.31 8.25 7.28
Alle
49.50 35.00 42.25
23 18 20 50 21.84
9.33 23.61 16.47
100.00 100.00 100.00
56.50 28.00 42.25
24 16 10.56 4.72 4.06 19 52 13.77 9.84 28.87 21.84 12.17 7.28 16.47 Begabtenförderung: p12 = 0.64, p22 = 0.82
100.00 100.00 100.00
53.00 34.00 43.50
22.02 19.88 20 95
10.52 12.30 11.41
5.66 8.09 6.88
8.79 25.73 17.26
100.00 100.00 100.00
60.00 27.00 43.50
23.00 18.90 20 95
9.40 13.42 11.41
4.07 9.68 6.88
3.53 30.99 17.26
100.00 100.00 100.00
Wie man sieht, ergeben unter diesen Bedingungen beide Fördermöglichkeiten gegenüber dem Grundmodell Verbesserungen bei allen drei Zielen. Der Unterschied besteht darin, dass die Förderung der Unterschicht die Chancenungleichheit in höherem Maß reduziert wie die Begabtenförderung, dagegen aber die Exzellenz weniger erhöht. Da die Begabtenförderung auch die größte Erhöhung der Abgangsquote auf der obersten Stufe bringt, ist sie im Hinblick auf die Erreichung aller drei Ziele vorzuziehen. Steht allerdings die Reduzierung der Chancenungleichheit allein im Vordergrund, wäre die Förderung der Unterschicht die geeignetere Maßnahme. Sind diese Resultate auch unter veränderten Ausgangsbedingungen stabil? Eine interessante Frage wäre hier, ob etwa unter veränderten Bedingungen die Begabtenförderung doch zu einer Erhöhung der Chancenungleichheit führt, denn dann könnte man ausnahmslos die Unterschichtförderung als Maßnahme empfehlen. Bei veränderten Bedingungen ist insbesondere an die kombinierte Begabungsund die Schichtverteilung zu denken oder an die mittlere Schichtdifferenz und die mittlere Begabungsdifferenz bzgl. der Übergangsquoten. Hier lässt sich nachweisen, dass nur unter sehr extremen Bedingungen eine Begabungsförderung zu einer Erhöhung der Chancenungleichheit führt; es muss gelten: Satz 1: O(Sn) sei die Chancenungleichheit auf der letzten Stufe, und p12 und p22 werden um den Faktor e mit Plafond-Effekt gesteigert. Seien x und y die Wachstumsfaktoren, mit denen die Abgänge auf der höchsten Stufe in beiden Schichten durch die Wirkung von e steigen, d.h. dadurch definiert, dass
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p 22 p12
n -1
n -1
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(1 x) (p 22 e (1 - p 22 )) n -1
(1 y) (p12 e (1 - p12 )) n -1
Sei z = x/y. Dann steigt O(Sn) nur dann an, wenn (Beweis siehe mathematischer Anhang M3) n 1
z
n 1
C1R1p11 C Rp 2 1 21 n 1 ! 1 z . n 1 C1R2p12 C2R2p22
In den beiden Brüchen stehen für jede Schicht die Verhältnisse von wenig und hoch Begabten, die von der letzten Stufe abgehen. Sie sind direkt von dem Begabungsverhältnis in der gesamten Schicht abhängig. Die Größe z ist das Verhältnis, in dem eine Plafond-Effekterhöhung die Übergangsraten erhöht. Wegen des Plafond-Effekts wird z umso kleiner sein, je weiter der Durchschnitt der Übergangsquoten in beiden Schichten voneinander entfernt ist. Aus dem Satz ergibt sich deshalb, dass x je mehr viele hoch Begabte in der Oberschicht (C2R2, Nenner des Subtrahenden) und viele wenig Begabte in der Unterschicht (C1R1, Zähler des ersten Bruchs) sind, desto eher wird eine reine Begabtenförderung zu mehr Chancenungleichheit führen und x
je größer die sekundären sozialen Einflüsse (die mittlere Erfolgsdifferenz zwischen den Schichten) ist, desto eher führt reine Begabungsförderung nicht zur Erhöhung der Chancenungleichheit.
Weil in die Formel alle relevanten Parameter des Modells eingehen, lässt sich im konkreten Fall nur durch Einsetzen konkreter Werte für die Parameter ermitteln, ob Begabungsförderung oder Unterschichtförderung vorzuziehen ist. Als einfaches Beispiel diente das in folgenden Punkten veränderte Grundmodell: Die Übergangsquoten seien für beide Begabungsarten gleich (keine primären sozialen Einflüsse), aber sekundäre soziale Einflüsse seien im Maß von 0.2 vorhanden: p11 = p12 = 0.4, p21 = p22 = 0.6 und in der Unterschicht gebe es 9-mal mehr weniger Begabte als hoch Begabte (C1R1 = 9.000, C1R2 = 1.000). Dann ergibt sich:
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Tabelle 6: Abgänge im Spezialfall: nur sekundäre soziale Einflüsse, Begabungsverhältnis in der Unterschicht von 1:9 (hoch Begabte: niedrig Begabte) S1 Herkunft C1 C2 Alle
6000 4000 10000
S2
2400 2400 4800
Schulstufen S3 S4 Absolute Zahlen
960 1440 2400
384 864 1248
S5
Alle
256 1296 1552
10000 10000 20000
Die Odds betragen dann 1296/256 = 5.06. Nun werde mit 10 Prozent PlafondEffekt die hoch Begabten gefördert, d h. p12 = 0.46 und p22 = 0.64: Tabelle 7: Spezialfall nach Förderung der hoch Begabten
Herkunft C1 C2 Alle
S1
S2
5940 3800 9740
2408 2352 4760
Schulstufen S3 S4 Absolute Zahlen
978 1457 2436
398 904 1302
S5
Alle
275 1487 1762
10000 10000 20000
Die Odds erhöhen sich auf 1487/275 = 5.41, d h. Begabungsförderung führt unter diesen Umständen zur Erhöhung der Chancenungleichheit! Wäre dagegen das Verhältnis der wenige Begabten zu den hoch Begabten in der Unterschicht nur 4 zu 1 (C1R1 = 8.000, C1R2 = 2.000), dann ergäbe sich vor der Förderung dieselben Odds von 5.06 (weil beide Begabungen gleich erfolgreich sind), aber nach der Förderung Folgendes: Tabelle 8: Abgänge nach Förderung im leicht veränderten Spezialfall: nur sekundäre soziale Einflüsse, Begabungsverhältnis in der Unterschicht von 2:8 (hoch Begabte: niedrig Begabte)
Herkunft C1 C2 Alle
S1
S2
5880 3800 9680
2417 2352 4769
Schulstufen S3 S4 Absolute Zahlen
997 1457 2454
412 904 1316
S5
Alle
294 1487 1781
10000 10000 20000
Bei dieser Verteilung sinken die Odds auf 1487/294 = 5.05! Hier ist also eine recht extreme Begabungsverteilung nötig, damit die reine Begabungsförderung
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Nachteile ergibt, genauer muss das Verhältnis der Begabungen in der Unterschicht größer als 4.12 sein (zur Berechnung siehe mathematischer Anhang M4). Da die Ergebnisse der Simulation wiederum nicht von der „Benennung“ der Merkmale abhängen, können sie einfach auf andere Merkmalskombinationen übertragen werden, zum Beispiel auf das Merkmal Geschlecht. Hier ergibt sich ein kontraintuitives Ergebnis. Da Jungen und Mädchen am Anfang der Schullaufbahn immer gleich häufig sind, kann man hier die Fälle ungleicher (Geschlechter-) Verteilung ausschließen. Wenn Mädchen nun – nach Simulationsannahme – schlechtere Erfolgsquoten als Jungen hätten, zeigt sich hier, dass die reine Mädchenförderung (im obigen Fall gleich der reinen Unterschichtförderung) zwar die Disparität zwischen Jungen und Mädchen deutlich abbaut, aber insgesamt nicht die Exzellenz und Abschlussquotensteigerung erreicht, wie eine reine, nicht nach Geschlecht differenzierende Begabtenförderung erreichen würde, die zudem noch die Disparität abbauen würde! Die Effekte auf die Abschlussquote und die Exzellenz Unter denselben Bedingungen sollen nun die beiden Fördermöglichkeiten im Hinblick auf die Steigerung der höchsten Stufe, der Abschlussquote, verglichen werden. Nach den Resultaten der letzten beiden Simulationen, in denen die Begabtenförderung auch immer die größte Steigerung der Abschlussquote gebracht hat, ist zu fragen, ob es demgegenüber Konstellationen gibt, unter denen die Förderung der Unterschicht zusätzlich zur größten Verringerung der Chancengleichheit auch noch die höchste Steigerung der Abschlussquote ergibt. Die folgende Simulation zeigt, dass das möglich ist. Die Bedingungen sind die des Grundmodells, auf 4 Stufen reduziert und in einem Parameter geändert: Der Erfolg der höher Begabten der Oberschicht ist generell etwas geringer (p22 = 0.7). Dann ergibt sich: Tabelle 9: Abgänge im leicht veränderten Grundmodell (4 Stufen, p22 = 0.7) nach Unterschichtförderung vs. Begabtenförderung S1 Herkunft C1 C2 Alle
4950 4000 8950
Herkunft C1 C2 Alle
5300 3850 9150
Schulstufen S2 S3 S4 Unterschichtförderung: p11 = 0.37, p12 = 0.64
2318 1169 1564 2300 1360 2340 4618 2529 3904 Begabtenförderung: p12 = 0.64, p22 = 0.73 2202 2236 4438
1052 1344 2397
1446 2570 4016
Alle
10000 10000 20000
10000 10000 20000
406
Müller-Benedict
In der zweiten Simulation ist nun einfach die Unterschicht insgesamt doppelt so groß, bei gleicher Verteilung der Begabungen (C1R1 = 10.000, C1R2 = 10.000): Tabelle 10: Abgänge im leicht veränderten Grundmodell bei verdoppelter Unterschicht nach Unterschichtförderung vs. Begabtenförderung S1 Herkunft C1 C2 Alle
9900 4000 13900
Herkunft C1 C2 Alle
10600 3850 14450
Schulstufen S2 S3 S4 Unterschichtförderung: p11 = 0.37, p12 = 0.64
4635 2337 3128 2300 1360 2340 6935 3697 5468 Begabtenförderung: p12 = 0.64, p22 = 0.73 4404 2236 6640
2105 1344 3449
2891 2570 5462
Alle
20000 10000 30000
20000 10000 30000
Die asymmetrische Verteilung der Schichtgrößen führt offenbar dazu, dass die reine Unterschichtförderung nicht nur die größte Reduktion von Chancenungleichheit, sondern ebenfalls die höchste Steigerung der Abschlussquoten ergibt (Unterschichtförderung: 5468 vs. Begabtenförderung: 5462, vorher Tabelle 9 Unterschichtförderung: 3904 vs. Begabtenförderung: 4016). Unter diesen Bedingungen ist es eindeutig, dass eine gezielte Unterschichtförderung alle drei Ziele am besten erfüllt. Die Bedingungen dieser Simulation – doppelt große Unterschicht – stellen in etwa die Grenze dar, ab der eine solche reine Unterschichtförderung die optimale Lösung ist. Das Ergebnis gilt allgemein unter folgender Voraussetzung: Satz 2: Sei a ein Plafond-Effektfaktor, und x und z seien definiert durch: p11(1+x) = p11 +a(1-p11), p22(1+z) = p22 + a(1-p22). Wenn dann n 1
C2R 2p22 n C1R1p11
1
(1 z)n 1 1 (1 x)n 1 1
ist, dann wird durch die Unterschichtförderung mit dem Faktor a eine höhere Steigerung der Abschlussquote erreicht als durch die Begabtenförderung mit dem Faktor a (für den Beweis siehe mathematischer Anhang M5).
Intendierte und nicht intendierte Folgen von Bildungspolitik
407
Der linke Teil der Gleichung ist das Verhältnis des „erfolgreichsten“ Teils (hoch Begabte der Oberschicht) der Bevölkerung auf der letzten Stufe des Bildungssystems zum „erfolglosesten“ Teil (wenig Begabte der Unterschicht). Es wird umso kleiner, je größer der letztere Teil im Verhältnis zum Ersteren in der Bevölkerung insgesamt ist (C1R1/C2R2). Der rechte Teil der Gleichung ist das Verhältnis der „Steigerungsraten“, die durch den Plafond-Effektfaktor im erfolglosesten und im erfolgreichsten Teil erreicht werden können. Es wird umso größer, je größer die Differenz zwischen den beiden Erfolgsquoten am Anfang ist. Der Satz bedeutet deshalb, dass die Unterschichtförderung um so eher eine höhere Steigerung der Abschlussquote erreicht als die Begabtenförderung, je größer der Anteil der wenig Begabten in der Unterschicht ist und je größer die Differenz im Bildungserfolg vom „schwächsten“ zum „stärksten“ Teil der Bevölkerung ist. Im vorangegangenen Simulationsbeispiel sind diese Bedingungen dadurch erfüllt worden (siehe mathematischen Anhang M6), dass bei gleicher Begabungsverteilung der Anteil der Unterschicht insgesamt verdoppelt worden ist. Die Bedingung, dass die Unterschicht erheblich größer als die Oberschicht ist, ist nun aber wieder so häufig in unseren Gesellschaften anzutreffen, dass man in der Zusammenfassung der Ergebnisse dieses letzten vorangegangenen Abschnitts zu der Empfehlung gelangen könnte, in jedem Fall die Unterschichtförderung der Begabtenförderung vorzuziehen, da sie erheblich mehr zur Reduzierung bestehender Chancenungleichheit beiträgt und unter durchaus realistischen Bedingungen zusätzlich die größte Abschlussquote bringt. 5.
Zusammenfassung: Zielverwirklichung in der Bildungspolitik – ein ungewisses Geschäft
Das Modell, das hier für das Bildungssystem verwendet wurde, ist relativ einfach zu beschreiben. Die Ansatzpunkte für Bildungspolitik sind auf wenige Parameter beschränkt. Wenn eine Entscheidung zwischen diesen wenigen Parametern getroffen werden soll, d.h. für welche Maßnahmen Geld ausgegeben werden soll, so zeigt das Modell aber, dass dafür keine allgemein gültigen Aussagen gemacht werden können, sondern die Entscheidung oft von der ganz konkreten Zusammensetzung der Schülerschaft abhängt. Das bedeutet aber auch, dass dieselbe Maßnahme an einer Schule zu einer höheren Abschlussquote führen und sie auf einer anderen vermindern kann. Die Formeln in den letzten beiden Abschnitten im vierten Abschnitt sind zwar genau, aber ihr Ergebnis hängt von konkreten Schichtgrößenverhältnissen und Erfolgsparametern ab, deren empirische Erfassung zwar prinzipiell möglich, aber keineswegs eindeutig ist. So zeigt sich schon in diesem einfachen Modell, dass eine Entscheidung zwischen zwei politisch wesentlich unterschiedlichen Maßnahmen unter allgemeinen Bedingungen nicht optimal, sondern nur unter in Kaufnahme ungewollter Folgen getroffen werden kann. Die Ergebnisse des Modells sind denn auch, was die wesentlichen politischen Unterschiede betrifft, überraschenderweise ausgewogen:
408
Müller-Benedict
x
Sie liefern – mit dem Nachweis, dass Begabungen differenzierender Unterricht unter den meisten Bedingungen die Chancenungleichheit nicht verschlechtert und die Abschluss- und die Exzellenzquoten erhöht – sowohl den eher konservativen Standpunkten Argumente,
x
wie auch – mit dem Nachweis, dass die Förderung für die Unterschichten nicht nur die Chancenungleichheit reduziert, sondern unter häufigen Bedingungen sogar die Abschlussquote mehr erhöht als die Begabtenförderung – den eher reformerischen Standpunkten Argumente.
So kann man die Erfahrungen mit diesem Simulationsmodell dahin gehend zusammenfassen, dass es den Blick schärft für die komplexen Wechselwirkungen im Bildungssystem und verdeutlicht, dass man, um optimale Lösungen zu erhalten, eher nach individuellen Lösungen suchen sollte als nach der einen großen politischen Richtung. Es zeigt aber auch, dass es im Einzelfall um Entscheidungen zwischen politischen Werten gehen kann, wenn die Bedingungen gerade so sind, dass die Ziele der Chancengleichheit und der Exzellenz nicht gleichzeitig verwirklichbar sind. Eindeutig lassen sich allerdings aus dem Modell strukturelle Maßnahmen folgern: Der – im internationalen Vergleich – deutsche „Sonderweg“ eines früh selektierenden Systems, einer späten Einschulung und einer besseren Ausstattung auf den späteren Stufen ist offenbar nicht geeignet, insgesamt höhere Abgängerzahlen aus den höheren Stufen des Systems zu erzielen, wenn er auch der Exzellenz nicht schadet (siehe die ersten beiden Abschnitte im vierten Abschnitt). Gerade in diesem eindeutigen Punkt hat sich aber seit PISA bis heute fast nichts bewegt und wird sich wohl mit dem aktuellen Vorhaben der Föderalismusreform auch weiterhin erst recht nichts ändern.
Intendierte und nicht intendierte Folgen von Bildungspolitik
409
Mathematischer Anhang M0: Berechnung der ersten Zelle (mit Wert 5500) oben links in der Tabelle: Von den 5000 in S1 eingeschulten niedrig begabten Unterschichtkindern erreichen p11 · 5000 = 1500 die nächste Stufe S2, und von den 5000 in S1 eingeschulten hoch begabten Unterschichtkindern erreichen p12 · 5000 = 3000 die nächste Stufe S2. Es verbleiben damit 3500 + 2000 = 5500 Kinder aus der Unterschicht insgesamt in S1, d h. erreichen nur die unterste Stufe. Alle anderen Tabellenzellen errechnen sich analog. M1: Sei CjRk die Anzahl der Schülerpopulation mit sozialer Herkunft Cj und Begabung Rk und sei pjk ihre Übergangsquote. Dann gelangt davon genau die Anzahl CjRk pjkpjk = CjRkpjkn-1 bzw. der Anteil pjkn-1 auf die letzte Stufe Sn des Systems. Wenn pjk auf Stufe m (1 <= m < n) auf qjk erhöht wird, wird der Anteil zu pjkmqjkn-m-1. Für 0 < h < m und 0 < pjk < qjk gilt pjkm-h < qjkm-h und deshalb auch pjkhqjkn-h-1 > pjkmqjkn-m-1. Deshalb wird der Anteil umso größer, je kleiner m ist, also maximal, wenngleich auf der ersten Stufe von p auf q erhöht wird. M2: Die Anzahl der einzelnen Begabungen auf der letzten Stufe Sn ist Ri · pin-1 (i=1,2). Daraus ergibt sich für den egalitären Unterricht (Suffix e) die Gesamtsumme Sne = (R1 + R2)pn-1 und für den differenzierenden Unterricht (Suffix d) mit x = x1 = x2: Snd = R1 (p-x)n-1 + R2 (p+x)n-1. a) Gleiche Begabungsverteilung und kein Plafond-Effekt: Für n > 2 ist dann Snd = Sne + die je (n-1) letzten Terme aus der Binomialentwicklung von (p-x)n-1 und (p+x)n-1. Diese Terme heben sich für R1 = R2 und x1 = x2 und n > 2 entweder auf oder sind doppelt positiv vorhanden. Für n = 1 oder 2, d h. auf den Stufen S1 und S2 gilt jedoch: S1d = S1e und S2d < S2e, d.h. der differenzierende Unterricht erbringt auf den ersten beiden Schulstufen gleich viel bzw. weniger Abgänger:
410
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n = 1: sei R1 = R2 = A S1e (R1) = A(1-p) = S1e (R2), S1e = 2A(1-p). S1d (R1) = A (1- (p + x)), S1d (R2) = A (1 – (p-x)) => S1d = 2A(1-p + x – x)) = S1e. Die Abgänger auf Stufe 1 bleiben gleich groß. n = 2: S2e (R1) = A(1-p)p = S2 (R2), S2e = 2A(1-p)p S2d (R1) = A (1- (p + x)) (p+x) = (A(1- p) - Ax)) (p+x) = A(1-p)p - Axp + A(1-p)x - Ax2 , S2d (R2) = A (1- (p - x)) (p-x) = (A(1- p) +Ax)) (p-x) = A(1-p)p + Axp -A(1-p)x - Ax2 , S2d = S2e – 2Ax2 Die Abgänger auf Stufe 2 werden weniger. Das bedeutet, dass irgendwo zwischen Stufe 3 und n-1 der differenzierende Unterricht in seinen Resultaten „umschlägt“, weil die Gesamtzahl der Abgänger ja konstant bleibt (die Zahl aller Kinder dieser Kohorte). Er erhöht also insgesamt die Zahl der Abgänger auf den oberen Stufen und vermindert sie in den unteren Stufen. Nach Fararo und Kosaka (1976: 2.5) ist der „critical point“ j von p die Stufe j = [1/(1-p)] = kleinste integer 1/(1-p). Wenn p etwas steigt, erhöhen sich alle Abgänge aus den Stufen größer als j und verkleinern sich alle Abgänge aus den Stufen kleiner als j. b) Ungleiche Begabungsverteilung: Ist R1 z R2, so muss die Voraussetzung bedacht werden, dass die „Gesamtaufmerksamkeit” des Lehrers nicht gesteigert werden kann und deshalb die Zuwächse x2 in p2 für R2-Schüler genau den Verlusten x1 in p1 für R1-Schüler entsprechen müssen. Deshalb ist x1R1 = x2R2; und so haben sich auch hier die entsprechenden Terme auf. c) Plafond-Effekt: Für Änderungen mit Plafond-Effekt gilt, dass x1 (die Verminderung in p des weniger begabten Teils R1) kleiner ist als x2 (die Erhöhung in p des höher begabten Teils R2). Deshalb heben sich die Teile mit gegensätzlichem Vorzeichen nicht auf, sondern ihre Summe ist sogar ebenfalls positiv.
Intendierte und nicht intendierte Folgen von Bildungspolitik
411
Deshalb ist Snd > Sne auch für R1 z R2 und eine Differenzierung mit PlafondEffekt. Da Sn (R1) < Sn (R2) wegen p – x < p + x, steigt auch generell die Exzellenz. d) Einbeziehung von Schichten: Da die bisherigen Resultate bzgl. der Begabungsverteilung für jede Schicht gelten, gelten sie auch für die Summe aller Schichten. M3: Sei a = C2R1p21n-1, b = C2R2p22n-1, c = C1R1p11n-1, d = C1R2p12n-1. Dann ist die Chancenungleichheit auf der letzten Stufe O(Sn) = (a+b)/(c+d). Wegen us s u s ! ! vt t v t
u , v, s, t ! 0
gilt, mit Oe(Sn) = die Chancenungleichheit nach Förderung mit Plafond-Effekt e, dann auch (2) a (1 x)b a b ! c (1 y)d c d
Oe (Sn )
O(Sn )
xb a b x ad bd ! ! yd c d y cb bd
z (cb bd) ! ad bd zcb ad ! (1 z)bd z
M4: In diesem Beispiel ist x y
z
0.393
und a = b, sodass die Bedingung z
c a ! 1 z d b
bedeutet, dass c = C1R1 um den Faktor (2
z) z
1.61 0.39
4.12
c a !1 z. d b
412
Müller-Benedict
größer sein muss als d = C1R2. In Tabelle 7 ist c/d = 9000/1000 = 9 und in Tabelle 8 ist c/d = 8000/2000 = 4. y (und x) berechnen sich wie folgt: (1 x) C1 R 2 p12
n -1
C1 R 2 (p12 a(1 - p12 )) n -1
x (p12 a(1 - p 12 )) n -1 /p 12
n -1
-1
Im Beispiel: p 12
0.4, p 12
n -1
p 12
4
0.0256, p 12 a(1 - p 12 ) 0.46, 0.46 4
0.0448 1 0.0256
x
0.0448
0.294
Entsprechend y: 4
0.1296, p22 0.1(1- p22 )) 0.64, (p22 0.1(1- p22 )4
p22 0.6, p22
0.1678 1 0.1296
y
0.1678
0.75
Daraus folgt x y
z
0.294 0.75
0.393 .
M5: Sei Qn die Abschlussquote auf Stufe Sn. Mit der Definition von a, b, c, d, wie in M3 gilt: Qn
abc d . C1 C2
Sei a ein Plafond-Effektfaktor, sei x wie im Satz zuvor und y definiert durch p12(1+y) = p12 +a(1-p12), und sei QnU die durch Unterschichtförderung mit diesem Faktor erhöhte Quote. Dann ist n 1
Qn
U
Qn
n 1
C1R1p11 (1 x)n 1 C1R2p12 (1 y)n 1 c d C1 C2
abc d C1 C2
Intendierte und nicht intendierte Folgen von Bildungspolitik
n 1
C1R1p11 ((1 x)n
1
n 1
1) C1R2p12 ((1 y)n C1 C2
413
1
1)
Seien y wie eben und z wie im Satz die entsprechenden Erhöhungen der Begabtenerfolgsquoten und QnR die durch Begabungsförderung erhöhte Abschlussquote. Dann gilt ebenso: n 1 n1 C1R2p12 ((1 y)n1 1) C2R2p22 ((1 z)n1 1) R Qn Qn C1 C2 Deshalb ist U
n 1
n 1
Q n Qn CRp ((1 x)n 1 1) CRp ! 1 1 1 11 n 1 ! 1 2 2 22n R Q n Qn C2R2p22 ((1 z)n 1 1) C1R1p11
1
((1 x)n 1 1) ((1 z)n 1 1)
M6: Im Beispiel a) der asymmetrische Fall: Hier ist p11 = 0.3 und nach der Erhöhung um den Plafond-Faktor 10 Prozent ist
p 11 ' p 11 0.1(1 - p 11 ) 0.3 0.1 0.7
0.37 .
Daraus folgt, dass x = 0.07/0.3 = 0.233 ist, ebenso für p22 = 0.7 ergibt sich z = 0.03/0.7 = 0.043. Dann ist (1+x)3 –1 = 0.875 und (1+z)3 –1 = 0.134, sodass die rechte Seite zu 0.875/0.134 = 6.49 wird.
Von C1R1 = 10000 ist auf Stufe 4 ein Anteil von 0.33 = 0.027, das sind 270, ebenso für C2R2 = 5000 auf Stufe 4 ein Anteil von 0.73 = 0.343, das sind 1715. Die linke Seite ist dann 1715/270 = 6,35 und damit ein wenig kleiner als die rechte. b) der symmetrische Fall: Für den symmetrischen Fall muss nur die linke Seite für C1R1 neu berechnet werden. Der Anteil auf Stufe 4 ist dann 5000 · 0.27 = 135, sodass sie zu 1715/135 = 12,7 wird, also wesentlich größer als die rechte Seite.
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Die immerwährende Frage der Bildungsungleichheit im neuen Gewand – abschließende Gedanken Wolfgang Lauterbach und Rolf Becker
1.
Hat sich in den letzten Jahrzehnten zu wenig getan in der soziologischen Bildungsforschung und Bildungspolitik?
Die Ungleichheit von Bildungschancen ist ein Dauerthema in der empirischen Bildungsforschung, dem in den vergangenen Jahren auch in der Bildungspolitik wieder besondere Aufmerksamkeit beigemessen wird. Abgesehen davon, dass nach den kontroversen Debatten über Bildungsungleichheiten in den 1960er Jahren (siehe dazu Müller 1998) in den letzten 40 Jahren mehr oder weniger kontinuierlich geforscht und publiziert wurde, hat – nachdem das fachliche und öffentliche Interesse an Bildungsungleichheit in den 1970er und 1980er Jahren deutlich erlahmte – in den 1990er Jahr die Produktivität der sozialstrukturell orientierten und lebensverlaufstheoretisch fundierten Bildungssoziologie und auch die Aufmerksamkeit an ihren Befunde zugenommen. Ihre Ergebnisse lassen sich nicht alleine an den methodischen Entwicklungen (Schimpl-Neimanns 2000; Becker 2000; Henz und Maas 1995), der Auswertung von neueren Massen- und Längsschnittdaten mit ausgefeilten statistischen Verfahren (Müller und Haun 1994; Mayer und Blossfeld 1990; Blossfeld 1988) und der groß angelegten internationalen Vergleiche (Shavit und Blossfeld 1993) ablesen, sondern auch in der Weiterentwicklung theoretischer Ansätze, die den Anspruch vertreten, Ursachen sowie Mechanismen und Prozesse von Bildungsungleichheiten präziser zu benennen als dies bislang der Fall war (siehe Einleitung von Becker und Lauterbach in diesem Band). In der universitären Forschung selbst sind seitdem eine Vielzahl unterschiedlicher Projektvorhaben in Gang gesetzt worden, die sich zum Ziel gesetzt haben, diese Theorieansätze empirisch anzuwenden, um Entstehung und Reproduktion von Bildungsungleichheiten umfassend zu beschreiben und zu erklären (siehe Becker in diesem Band sowie Becker 2006). Zudem hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Jahre 2002 mit dem erklärten Ziel, einen Beitrag zur Verbesserung der Situation der empirischen Bildungsforschung zu leisten, die Förderinitiative „Forschergruppen in der Empirischen Bildungsforschung“ beschlossen (DFG 2005). Aus dieser Perspektive betrachtet, hat sich – auch wenn sich die Fragestellung in Bezug auf die Bildungsungleichheit aus nahe liegenden Gründen kaum geändert hat – in der soziologischen Bildungsforschung viel getan. Dies dokumentieren auch die Autorinnen und Autoren im vorliegenden Werk; aber sie verweisen auch darauf, dass in der Zukunft noch vieles getan werden muss. So decken sie scho-
418
Lauterbach und Becker
nungslos Lücken in der Kenntnis über die hohe Bildungsselektivität des deutschen Bildungssystems auf. Kontinuitäten und Wandlungen im Bildungsverlauf und Erwerb von Bildungszertifikaten werden in den einzelnen Beiträgen fokussiert. So blicken die Aufsätze dieses Bandes, geschrieben auf der Basis von Beobachtungen, Befragungen und Auswertungen verschiedenartiger Informationsquellen, zwar nach vorn ins 21. Jahrhundert, aber sie sind auch vor dem Hintergrund der Entwicklungen der letzten 40 Jahre geschrieben. Zwar gibt es in der Bildungssoziologie eine lange Tradition, die sich mit dem Erwerb von Bildung auseinandersetzt; jedoch erfolgt die hier vorgenommene Betrachtung einer systematischen Auseinandersetzung mit den Bildungsprozessen im Lebenslauf – also von der Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter – auf der Basis empirischer Daten und Analysen. Trotz einer im Verlauf der letzten Jahrzehnte gewachsenen Forschungskapazität, zu der die hier versammelten Autorinnen und Autoren selbst beigetragen haben, bleiben noch viele Fragen über Verteilung von Bildungschancen und über das Zusammenspiel von Bildungssystem, Bildungsstruktur und dem Prozess des Erwerbes von Qualifikationen bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen offen. Generell ist das für die Wissenschaft – insbesondere für die Bildungssoziologie – Normalzustand und im Grunde gar nicht erwähnenswert. Allerdings demonstrieren die Beiträge dieses Bandes, dass die unvollständige Kenntnis nicht nur darauf beruht, dass auf bekannte Fragen bislang Antworten fehlen, nicht nur weil die Forschung sie noch nicht bewältigt hat, sondern im lückenhaften Forschungsstand offenbart sich auch die in der Bildungssoziologie vorherrschende mangelnde Datenlage. Um diese zu schließen, sind in den vergangenen Jahren ebenfalls enorme Anstrengungen erfolgt. Zu nennen wären – um nur eine kleine Auswahl zu treffen – (1) die international vergleichenden Studien, (2) die vereinzelten DFG-geförderten Projekte, deren Ziel es ist, informationsreiche Daten über Entstehung von Bildungsungleichheiten zu sammeln, (3) die von der DFG initiierte „Föderinitiative Empirische Bildungsforschung“, (4) die systematische Dokumentation und Evaluation vorliegender Daten (z.B. das im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung von der Universität Erfurt unter der Leitung von Horst Weishaupt durchgeführte Projekt „Dokumentation der Längsschnittforschung im Bildungsbereich“) oder (5) die Bemühungen des Rates für Sozial- und Wirtschaftsdaten, die Dateninfrastruktur in Deutschland für die empirisch arbeitenden Sozial- und Wirtschaftswissenschaften beratend zu gestalten und vor allem im Bildungsbereich den Zugang zu und die Qualität von Mikrodaten nachhaltig zu verbessern. 2.
Was wissen wir, und was wissen wir noch nicht?
Beide Aspekte – die unvollständige Aufarbeitung offener Fragen und die mangelnde Datenlage, insbesondere das Defizit an informationsreichen Längsschnittdaten über Bildungsprozesse – weisen darauf hin, dass die Bildungssoziologie in
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den letzten Jahrzehnten nicht mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Realität Schritt gehalten hat. Insbesondere die weiterhin bestehende starke Abhängigkeit der erreichten Qualifikation von der sozialen Herkunft charakterisiert den Erwerbsprozess zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Anzumerken ist insbesondere, dass diejenigen, die die Wunschvorstellungen über den Abbau der sozialen Ungleichheit einfach in die Zukunft verlängerten, oft die eingetretene Entwicklung nicht zutreffend vorhergesagt haben. So kann der allgemeine Rückgang der Hauptschüler eben nicht nur als eine quantitative Verringerung der Schülerzahl interpretiert werden und der Anstieg der Schülerzahlen in der Realschule und auf dem Gymnasium als ein Erfolg. Vielmehr wird sichtbar, dass durch den Rückgang der Zahl von Schülern in Hauptschulen ein eigentümlicher Selektionsmechanismus entsteht, der dazu führt, dass mittlerweile nur bestimmte Gruppen von Schülern vornehmlich auf der Hauptschule zu finden sind. Heike Solga und Sandra Wagner zeigen wiederholt und auch in ihrem Buchbeitrag wieder eindrücklich, dass es durch die Bildungsexpansion zu einer Homogenisierung der Schülerschaft auf der Hauptschule gekommen ist. Offensichtlich wird durch die Dreiteilung des Schulsystems und der relativen Entwertung des Hauptschulabschlusses die Abwanderung aus der niedrigsten Schullaufbahn forciert, sodass es zu einer Entmischung der Hauptschüler nach der sozialen Herkunft kommt. Die gesellschaftlich sehr gering ausgeprägte Akzeptanz der Hauptschule führt eben gerade dazu, dass die Hauptschule zur ungeliebten „Restschule“ verkommt. Dies ist vor allem in den Bundesländern der Fall, in denen die Hauptschulquoten ohnehin schon immer niedrig sind. Die Hauptschule ist daher seit Jahrzehnten schon keine Schule für breite Bevölkerungsgruppen mehr. Als Folge dieser Entwicklung ist daher festzustellen, dass die Distanz zwischen den Hauptschülern und den mittleren und höheren Bildungsgruppen größer geworden ist. Besonders deutlich zeigt sich dies auch daran, dass die Hauptschüler oftmals aus Elternhäusern kommen, in denen die Eltern in sehr instabilen Erwerbstätigkeiten beschäftigt sind, und selbst nur einen sehr niedrigen oder gar keinen Bildungsabschluss haben. Offensichtlich trägt die Organisation des dreigliedrigen Schulsystems selbst zur Generierung sozialer Ungleichheit bei. Mit dieser Dreigliedrigkeit des Schulsystems ist eine Konstanz bestimmter familialer Handlungsoptionen und -zwänge verbunden. Matthias Grundmann und Mitautoren zeigen, dass deswegen Kinder aus bildungsfernen Milieus in ihren Startchancen und beim Erwerb eines höheren Bildungsabschlusses nach wie vor besonders benachteiligt sind. Die mangelnde Übereinstimmung der lebensweltlichen Alltagserfahrungen von Familien aus bildungsfernen Milieus mit den Anforderungen zum Erwerb eines höheren Bildungsabschlusses ist ihrer Ansicht nach eine zentrale Ursache für die Entstehung von Ungleichheit beim Bildungszugang und Erwerb von Bildungszertifikaten. Beispielsweise gelten die lebensweltlichen Erfahrungen von Kindern aus den Arbeiterschichten nach wie vor als wenig förderlich für die Anforderungen auf dem Gymnasium. Die starke Orientierung an
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einer eher praktischen Handlungsrationalität im Unterschied zu einer abstrakten in der Ferne liegenden Bildungsrentabilität ist hierfür verantwortlich. Diese starke Differenz in alltagspraktischen Orientierungen führt letztlich auch dazu, dass sich der Erwerb eines höheren Abschlusses als „Fluch“ für das Kind darstellt, da sich Handlungsrationalitäten ändern und nicht mehr mit den lebensweltlichen Erfahrungen der Herkunftsfamilie deckungsgleich sind. Daher „entfremden“ sich diese Kinder von den Elternhäusern, was aus Sicht der Autoren mit der „Gefahr“ verbunden ist, dass die Kinder als Jugendliche und Erwachsene den Kontakt zur sozialen Herkunft verlieren. Diese sich in der Familie zeigenden Probleme werden durch gesellschaftliche Entwicklungen noch verschärft. Der Wandel von der „Industriegesellschaft“ zur „Dienstleistungsgesellschaft“ und schließlich zur „Wissensgesellschaft“ bewirkt, dass die angebotenen Arbeitsplätze zu einem immer größeren Teil im Dienstleistungs- und Wissensbereich liegen, die relativ hohe Qualifikationsanforderungen stellen. So hat sich in den letzten Jahrzehnten der Anteil an den wissensbasierten Tätigkeiten, vorwiegend im öffentlichen Dienst und bei den Selbstständigen, stetig erhöht. Die herkömmlichen produktionsorientierten Tätigkeiten und damit verbundenen Qualifikationen verlieren durch die Höherstufung von Produkten und Dienstleistungen zu wissensbasierten professionellen Gütern an Bedeutung (Willke 2001). Daher führt auch die Expansion staatlicher und privater Forschungstätigkeiten zu einer langfristigen Umstrukturierung der Arbeitsplätze: Wissensbasierte Tätigkeiten nehmen zu und reproduktive Tätigkeiten im Industrie- und im Dienstleistungsbereich nehmen hingegen ab (Heidenreich 2000). Für die Berufsstruktur hat dies zur Konsequenz, dass einfache reproduktive Tätigkeiten, die als angelernte oder als ungelernte Arbeitnehmer ausgeführt werden können, immer seltener werden. Jugendliche, die keinen oder nur einen einfachen Bildungsabschluss erwerben, haben daher kaum eine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Die hohen Armutsquoten und Arbeitslosenquoten gerade dieser Teile der Bevölkerung sind ein Zeugnis davon. Ein weiteres Beispiel für die nach wie vor bestehende Ungleichheit von Bildungschancen lässt sich daran ablesen, dass der Zugang zum Gymnasium seit Jahrzehnten selektiv nach der sozialen Herkunft verteilt ist. Rolf Becker zeigt in seinem Beitrag zum ersten Mal mit empirischen Daten für den Zeitraum von 1960 bis 1980, dass primäre Herkunftseffekte weiterhin die eingeschlagene Schullaufbahn der Kinder beeinflussen. Die langfristigen Wirkungen der außerschulischen Anregungen und Förderungen im Sozialisationsprozess, die sich in den schulischen Leistungen und Kompetenzen des Kindes niederschlagen, haben nach wie vor eine bedeutende Wirkung auf den ungleichen Erwerb von schulischer Bildung. In Verbindung mit den Bildungsaspirationen der Eltern zum Statuserhalt wird eine völlig ungleiche Situation nach der vierten Klasse beim Übergang auf das Gymnasium geschaffen. Er vermutet sogar, dass der im Zeitverlauf gestiegene Einfluss des Statuserhaltsmotivs bei rückgängigen Einflüssen subjektiv erwarteter Bildungskosten zu einem Anstieg der Bildungsbeteiligung geführt hat. Sehr deutlich
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wird in den Analysen von Becker auch, dass der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Chance, eine Gymnasialempfehlung zu bekommen, zwischen den 1960er und den 1980er Jahren keinem grundlegenden Wandel unterlag. Nach wie vor bekommen Kinder von Beamten und leitenden Angestellten einfacher eine Gymnasialempfehlung ausgesprochen, gerade auch unter Berücksichtigung der Schulnoten. Somit kommt Becker zu dem Schluss, dass weiterhin eine kumulative Bildungsbenachteiligung besteht, die bereits im Alter von 10 Jahren der Kinder hochwirksam ist. Schon im Deutschen Bildungsrat wurde darüber diskutiert, ob die Ungleichheit der Bildungschancen und vor allem die der Arbeiterkinder bereits vor der Einschulung in die Primarstufe beginnt. Zwei Beiträge sind der Bedeutung der vorschulischen Versorgung der Kinder nachgegangen. Michaela Kreyenfeld widmet sich der vorschulischen Betreuung der Kinder in Kindertagesstätten. Sie geht der Frage nach, in welchem Ausmaß verschiedene Bevölkerungsgruppen Kindertageseinrichtungen nutzen. Obwohl 80 bis 90 Prozent der Kinder im Alter von 4 bis 7 Jahren diese Einrichtung besuchen, zeigen sich sozialstrukturelle Unterschiede: Vor allem besuchen Kinder ausländischer Eltern auffallend seltener den Kindergarten, ebenso Kinder von Eltern ohne Hochschulabschluss. Dieser Befund ist in Westdeutschland im Unterschied zu Ostdeutschland unabhängig von der Erwerbstätigkeit der Mütter. In Ostdeutschland nehmen Mütter mit einem höheren Bildungsabschluss eher eine Tageseinrichtung für ihre Kinder in Anspruch. So nutzen fast 50 Prozent der Mütter mit Hochschulabschluss einen Krippen- oder einen Hortplatz, aber nur 40 Prozent der Mütter mit einem Ausbildungsabschluss und sogar nur 30 Prozent der Mütter ohne einen Ausbildungsabschluss. Allerdings hat die Bildung keinen Einfluss mehr, wenn Mütter erwerbstätig sind. Insgesamt zeigt sich in Ostdeutschland, dass vornehmlich Kinder von gut ausgebildeten Erwerbstätigen oder Alleinerziehenden in Kinderkrippen oder Kinderhorten untergebracht sind. Frauen, die hingegen keine hohe Qualifikation erreicht haben und teilweise nicht erwerbstätig sind, entscheiden sich häufiger für eine längere häusliche Betreuung. In einem weiteren Beitrag gehen Rolf Becker und Wolfgang Lauterbach der Frage nach, ob Kinder, die bereits im Vorschulalter gefördert werden, bessere Chancen beim Erwerb von Bildungsqualifikationen haben, als Kinder, die nicht gefördert wurden. Verglichen wurden Kinder, die eine vorschulische Betreuung hatten, mit denjenigen, die keinen Kindergarten besuchten. Insgesamt ergeben die empirischen Analysen, dass vorschulische Erziehung, Betreuung und Bildung zwar förderlich für Bildungschancen sind, aber bislang keinen entscheidenden Einfluss auf den Übergang auf eine weiterführende Schule in dem Sinne haben, dass sich Bildungsungleichheiten nach sozialer Herkunft vollständig auflösen. Dieser Befund ist sicherlich ernüchternd, aber auch angesichts unzureichenden Daten mit Vorsicht zu bewerten. Die vorgelegten Befunde stellen daher nur einen ersten Schritt zur Analyse des kurz- und langfristigen Einflusses vorschulischer
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Betreuung auf den Bildungserwerb dar. Um diese zu erhärten, bedarf es weiterführender Forschung mit informationsreichen Daten. So fehlen bei den hier herangezogenen Paneldaten notwendige Kontextinformationen zu den vorschulischen Kinderbetreuungen, insbesondere über Art und Weise der Erziehung in den Kindergärten und Vorschulen, über die Ausstattungen dieser Institutionen und andere Dimensionen, die die Inhalte und Qualität der vorschulischen Erziehung und Bildung ausmachen könnten. Nicht berücksichtigt wurden beispielsweise auch die Größe der Gruppen in Kindergärten bzw. die Relation von Kinder- und Betreuerzahl, Zeitpunkt des Beginns einer vorschulischen Betreuung und ihre Dauer. Weiterhin können die modifizierenden Einflüsse im Elternhaus und in der Schule bis zum Übergang auf die weiterführenden Schullaufbahnen in der Sekundarstufe I nicht kontrolliert werden. Hier besteht also noch weiterer Forschungsbedarf, um ein empirisch fundiertes Urteil über die Effektivität der frühkindlichen Förderung von sozial benachteiligten Kindern fällen zu können. Obwohl in Deutschland im Jahre 2003 nahezu 7,3 Millionen Ausländer leben, sind die Prozesse des Bildungserwerbs bei ausländischen Kindern trotz einiger vorliegender empirischer Studien noch weitgehend ungeklärt. Die in den 1960er Jahren von der Bundesrepublik Deutschland angeworbenen „ausländischen Arbeitskräfte“ sind vielfach in Deutschland geblieben, und die Familien folgten nach. Mittlerweile lebt die zweite, oftmals auch bereits die dritte Generation in Deutschland. Trotzdem wurde – wie von Heike Diefenbach in ihrem Beitrag betont wird – bisher in der Bildungsforschung der schulischen und beruflichen Qualifikation ausländischer Jugendlicher wenig Beachtung beigemessen (Alba et al. 1994). Betrachtet man die erworbenen Bildungsabschlüsse deutscher und ausländischer Jugendlicher, so zeigen sich markante Unterschiede: Ausländische Jugendliche erreichen durchschnittlich niedrigere Bildungsabschlüsse, sie zeigen eine erheblich geringere Ausbildungsbeteiligung und finden sich tendenziell in nachteiligen beruflichen Positionen. Ebenso zeigt sich, dass Jugendliche nichtdeutscher Herkunft eine „signifikante Teilpopulation der gering qualifizierten Jugendlichen darstellen. So verlassen beispielsweise 20 Prozent der Jugendlichen ohne deutsche Staatsangehörigkeit die Schule ohne Hauptschulabschluss. Zudem befinden sich unter den jungen Erwachsenen ohne anerkannten Ausbildungsabschluss 50 Prozent nichtdeutscher Herkunft“ (Solga 2003: 20). Heike Diefenbach fasst in ihrem Artikel die bisherigen Befunde über Bildungschancen von Kindern ausländischer Eltern zusammen und widmet sich abschließend der Frage nach den politischen Konsequenzen. Sie argumentiert sehr deutlich, dass kulturalistische Erklärungen zwar oftmals herangezogen werden, um die Unterschiede im Bildungserwerb zwischen Migrantenkindern und Kindern aus Deutschland zu erklären, diese aber entweder nicht empirisch überprüft oder empirisch falsch sind. Sie dienen vielmehr dazu, partikularistische politische Forderungen abzuleiten, dass pädagogische Maßnahmen und Gelder für Kinder aus Migrantenfamilien bereitgestellt werden. Sie weist darauf hin, dass die Erklärungskraft individueller Merkmale von
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Migranten und ihrer Familien (einschließlich ihrer sozioökonomischen Situation), der kulturelle Hintergrund und die mangelhaften Deutschkenntnisse merklich überschätzt werden (Nauck et al. 1998). Es mehren sich Hinweise, dass für die Bildungsbeteiligung und den Prozess des Bildungserwerbes von Migrantenkindern die Folgen institutioneller Handlungslogiken wichtig und Merkmale zukünftiger Migrationsentscheidungen in der Familie sowie Kontextbedingungen (etwa die Zusammensetzung der Schülerschaft in einer Klasse) von erheblicher Bedeutung sind (Steinbach und Nauck 2004; Kristen 2002, 2005). Neben den bisherigen Befunden zum vorschulischen und schulischen Bildungserwerb entwickelt Steffen Hillmert konzeptuelle Überlegungen zum gesamten Prozess des Bildungserwerbes von der Einschulung bis zum Übergang in den Arbeitsmarkt. In einem programmatisch geschriebenen Beitrag deckt er auf, dass das Bildungssystem selbst einen großen Beitrag zur Generierung sozialer Ungleichheit liefert. Dabei geht er von der Vorstellung aus, dass die Entstehung von Bildungsungleichheiten einem kumulativen Prozess von mehreren Entscheidungen über Bildungswege entspricht, jedoch keinem additiven Muster folgt. Die Dreigliedrigkeit des Schulsystems macht manche Entscheidung irreversibel. Deswegen fordert Hillmert in seinem Beitrag in Zukunft die Genese und Reproduktion von Bildungsungleichheiten auf zwei Ebenen im Längsschnitt zu untersuchen: In einem institutionsbezogenen Rahmen geht es um die detaillierte Untersuchung der individuellen Leistungs- und Kompetenzentwicklung und auf der anderen Ebene um die empirische Rekonstruktion individueller Entscheidungen im Lebensverlauf, wobei die Messung von individuellen Bildungsentscheidungen und seiner inhärenten Mechanismen weitaus präziser vorgenommen werden muss als bislang geschehen. Dadurch wird es möglicherweise gelingen, unterschiedliche Modelle des (zweckrationalen, wertrationalen und traditionalen) Bildungsverhaltens zu testen, und Wechselwirkungen von institutionellen Strukturen und Regeln des Bildungssystems mit dem individuellen Bildungsverhalten aufzudecken, die zu mehr oder weniger gerechtfertigten Bildungsungleichheiten führen. Hillmert verdeutlicht hierbei, dass der Einfluss des Bildungssystems als strukturelle und institutionelle Randbedingung vornehmlich in einem handlungstheoretischen „Setting“ modelliert werden solle.1 Formal argumentiert Hillmert, dass im Lebensverlauf 1
Scheinbar vernachlässigen dabei neuere Rational-Choice-Theorien die institutionellen Voraussetzungen von Bildungsentscheidungen, aber eben nur scheinbar (vgl. dazu die Debatte zwischen Haller und Becker (2001)). Denn diese werden zum einen in das Handlungsset von Individuen im Sinne unmittelbarer Vorgaben aufgenommen und zum anderen als Chance in der Interaktion mit anderen Bedingungsfaktoren (Gelegenheitsstruktur als Indikator für institutionelle Einflüsse auf das individuelle Bildungsverhalten) gesehen, die dann die individuellen oder familialen Entscheidungsspielräume bestimmen. Schließlich erfolgen Entscheidungen durch andere (z.B. durch das Bildungssystem selbst in Form von Bildungsempfehlungen beim Übergang in die Sekundarstufe I oder Festlegung eines Numerus clausus beim Zugang zum Studium oder erworbene Anrechte im Berufsverlauf für den Zugang zur beruflichen Weiterbildung). Hierbei bestimmen Konkurrenzbedingungen und der Grad der Standardisierung von institutionellen Vorgaben in einer Gesellschaft
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wiederholt Bildungsentscheidungen zu treffen sind, die Entscheidungen jedoch an den verschiedenen Stellen im Bildungssystem unterschiedliche Konsequenzen haben. Allerdings lässt sich der Einfluss der Struktur des Bildungssystems nur sehr schwer messen, da dieser mit anderen Faktoren konfundiert wird. Daraus folgert er, dass das Zusammenspiel von Leistungs- und Kompetenzentwicklung der Kinder und Jugendlichen mit den institutionellen Rahmenbedingungen und den elterlichen sowie individuellen Bildungsentscheidungen nur durch geeignete Längsschnittdaten in ihrer Konsequenz für die Bildungsbenachteiligung zu erfassen ist. Nur so wäre es möglich Wechselwirkungen zwischen Bildungsstrukturen und individuellen wie schichtspezifischen Entscheidungen nachzuweisen. Mit den bisher vorliegenden Studien ist es jedoch ausgesprochen schwierig, darauf verweist Hartmut Ditton in seinem Beitrag, den eigenständigen Einfluss des schulischen Systems auf Bildungschancen zu isolieren. In dem Artikel wird zwar aufgeführt, welche schulischen Faktoren (früher Zeitpunkt des Wechsels von der Primarstufe in die Sekundarstufe I, Ausleseverhalten von Lehrkräften, Vergabe von sozial selektiven Bildungsempfehlungen, Selektion durch Wiederholung der Klassenstufe, fehlende Angebote individueller Förderung) einen Einfluss haben könnten. Der Nachweis des Einflusses dieser Faktoren gelingt jedoch nur bedingt, da das Zusammenwirken relevanter Faktoren weiterhin unklar und das Separieren schulischer Faktoren bisher nicht gelungen ist. So fehlen bislang Aussagesysteme zu den Wechselwirkungen zwischen schulischen, familialen und individuellen Merkmalen völlig. Zusätzlich zur schulischen kommt in Deutschland der beruflichen Ausbildung eine besondere Bedeutung bei der Platzierung auf dem Arbeitsmarkt zu. Das duale Berufssystem verschafft Möglichkeiten, sich im Jugendalter oder im jungen Erwachsenenalter beruflich zu qualifizieren. Der Frage nach dem Zusammenhang zwischen beruflicher Qualifikation und dem Übergang in den Arbeitsmarkt an der zweiten Schwelle geht Dirk Konietzka nach. Er betrachtet die Mechanismen des Zuganges zum Ausbildungssystem und des Abganges in den Arbeitsmarkt: Inwieweit reproduziert das Ausbildungssystem soziale Ungleichheit und inwieweit generiert es Mechanismen, die soziale Ungleichheit schaffen? In seiner Analyse hebt Konietzka hervor, dass gerade das Ausbildungssystem beim Zugang zu internen Arbeitsmärkten kanalisierend und selektiv wirkt. Nur wer eine Ausbildung absolviert, hat auch eine Chance in diesen Arbeitsmarkt einzutreten. Das Ausbildungssystem wirkt für den internen Arbeitsmarkt als „gatekeeper“. Personen können daher nicht nur durch eine Ausbildung in diese Arbeitsmärkte eintreten, sondern Aufstiege im Erwerbsverlauf sind auch nur über eine qualifizierte Ausbildung möglich. Mit der Absolvierung einer Ausbildung gehen daher Schließungsprozesse einher. Junge Erwachsene, die keine berufliche Qualifizierung erhalten, beginnen ihre Erwerbstätigkeit in externen Arbeitsmärkten als Un- oder Angelerndie Struktur und das Ausmaß von Ungleichheiten der Bildungschancen auf unterschiedlichen Stufen des Bildungswesens.
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te und haben daher kaum eine Chance, im Erwerbsverlauf eine statushöhere oder eine sichere Berufsposition zu erreichen. Somit wirkt das Ausbildungssystem in doppelter Hinsicht selektiv: Durch die Absolvierung einer Berufsausbildung wird erstens der Zugang zu internen und externen Arbeitsmärkten geregelt. Zweitens wird durch die strenge Berufsorientierung der Wechsel zwischen Berufen im Erwerbsverlauf ausgesprochen erschwert. Es zeigt sich beim Zugang zum Ausbildungssystem aber auch, dass die Kopplung zwischen erfolgreichem schulischem Ausbildungsabschluss und dem Zugang zu einer Berufsausbildung im Zeitverlauf enger geworden ist. Nur wer eine erfolgreiche Schulbildung absolviert hat, wird auch zur beruflichen Ausbildung zugelassen. Hier haben insbesondere Hauptschüler und Migranten Schwierigkeiten eine berufliche Ausbildung zu absolvieren. So erfahren gerade die Hauptschüler eine doppelte Benachteiligung durch die Schulbildung und den merklich schlechteren Zugang zu einer beruflichen Ausbildung. In dieser Hinsicht ist zu befürchten, dass Hauptschüler zunehmend aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden und dass bereits recht früh im Lebenslauf die Grundlagen für den drohenden Beginn einer Karriere fern vom Arbeitsmarkt gelegt werden. Neben der selektiven Wirkung des dualen Ausbildungssystems zeigt sich aber auch bei der universitären Ausbildung, dass junge Erwachsene aus bildungsfernen Sozialschichten dort weniger stark vertreten sind als junge Erwachsene aus bildungsnahen Sozialschichten. Der Frage, warum an deutschen Universitäten vor allem Arbeiterkinder unterrepräsentiert sind, gehen Walter Müller und Reinhard Pollak nach. Sie kommen zu dem Schluss, dass die zu treffenden Entscheidungen und die große Anzahl verschiedener berufsbezogener Ausbildungsgänge kumulativ dazu beitragen, und dass die Universitätsausbildung keine große Attraktivität auf Kinder von Arbeitern ausübt. Ein sehr gewichtiger Grund für den geringen Anteil an Arbeiterkindern an der Universität stellt sicher die frühe Entscheidung der Eltern dar, welche Schulausbildung das Kind anstreben soll. Allerdings muss hinzugefügt werden, dass die in Deutschland vorhandene große Vielfalt berufliche Ausbildungen zu erwerben und durch eine derartige Ausbildung den Zugang zu internen oder fachspezifischen Arbeitsmärkten zu erlangen den Anreiz schmälert eine universitäre Ausbildung anzustreben. In Deutschland besteht die Möglichkeit durch die Absolvierung einer beruflichen Ausbildung leicht einer mittleren Statusund Einkommensgruppe anzugehören. In Verbindung mit der frühen Schullaufbahnentscheidung werden berufliche Anreize gesetzt, die den von bildungsfernen Gruppen als unsicher eingeschätzten Weg der universitären Ausbildung eher in das Hintertreffen geraten lassen. So zeigen die Autoren mit einem kumulativen Datensatz, dass zwar die soziale Ungleichheit, das Abitur zu erwerben, in der Kohortenabfolge geringer geworden ist, aber dafür der weitere Bildungsweg, insbesondere der Übergang in die Universität, immer enger an die soziale Herkunft gekoppelt ist (siehe auch den Beitrag von Becker in diesem Band). Sie schließen daraus, dass die Vielzahl institutionalisierter Bildungsübergänge im
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deutschen Bildungswesen, insbesondere die berufsbildenden Alternativen, sowohl eine geringe Studierquote als auch eine ausgeprägte soziale Selektivität nach sozialer Herkunft beim Zugang zum Studium zur Folge haben. In ihrem Beitrag über lebenslanges Lernen und soziale Inklusion konstatieren Klaus Schömann und Janine Leschke, dass man in Deutschland noch weit entfernt sei von einem systematischen Ansatz des lebenslangen Lernens, und vertreten die provokante These, dass allzu großes Vertrauen in die Marktmechanismen beim Zugang zur beruflichen Weiterbildung tendenziell zur Fortschreibung bzw. Verstärkung sozialer Ungleichheiten geführt habe. Zunehmende Tendenzen, rasche Bildungserträge über berufliche Weiterbildung realisieren zu wollen, haben in Phasen gesamtwirtschaftlicher Stagnationen und Rezessionen verstärkt zur sozialen Selektivität von Weiterbildungschancen geführt. Neben der Selbstselektion ist die Fremdselektion ein weiterer Mechanismus, über den Arbeitgeber den Zugang ihrer Beschäftigten zu Weiterbildungsmaßnahmen steuern. Vor allem partizipieren langfristig diejenigen Beschäftigtengruppen an beruflicher Weiterbildung, die bereits aufgrund ihrer höheren Bildung und Platzierung in internen Arbeitsmärkten ohnehin schon privilegiert sind. Selektive Vorteile beim Zugang zur institutionalisierten und daher allgemein anerkannten beruflichen Weiterbildung führen über sozial ungleiche Bildungschancen zu verschärften Ungleichheiten auf den Arbeitsmärkten und in den Berufsverläufen. Hierbei vergrößern sich – verstärkt durch die institutionellen Barrieren im Weiterbildungssektor – die Disparitäten in Bezug auf Bildung, Einkommen, Sozialstatus und Lebenschancen zwischen den besser gebildeten und den un- und angelernten Erwerbspersonen. Bildungsprozesse finden aber nie in einem leeren gesellschaftlichen Raume statt. Fragen nach der möglichen Einflussnahme der Bildungspolitik auf individuelle Lernprozesse stellt Volker Müller-Benedict. In einer Simulationsstudie über die Grenzen politischer Einflussnahme untersucht er die intendierten und nicht intendierten Folgen staatlicher Bildungspolitik. Müller-Benedict kommt insgesamt zu einer eher pessimistischen Einschätzung: Sowohl Simulationen als auch konkrete Bildungspolitik stellen ein unsicheres Unternehmen dar, weil sie langfristig angelegt sind und nicht deutlich ist, ob die avisierten Ziele tatsächlich auch erreicht werden können. Grund für diese Skepsis ist die Tatsache, dass langfristige Bildungsprogramme an den sich im Zeitverlauf ändernden Randbedingungen scheitern können. Sehr interessant ist daher der aus dem einfachen Modell vorgestellte Befund, dass Bildungspolitik keine einheitlichen Ergebnisse liefern kann. Das bildungspolitische Programm kann je nach der sozialstrukturellen Zusammensetzung der Schülerschaft förderlich oder wenig förderlich sein. So leitet der Autor daraus die Erkenntnis ab, dass kleinräumige schulnahe Programme zur Erreichung einer besseren „Exzellenz“ besser geeignet seien als großräumige bildungspolitische Programme. Über das deutsche Bildungssystem schreibt der Autor sehr deutlich, dass der deutsche „Sonderweg“ einer späten Einschulung, eines im frühen Alter des Kinder selektierenden Systems und einer besseren schulischen Ausstat-
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tung erst am Ende der Sekundarstufe I und in der Sekundarstufe II offenbar nicht geeignet seien, hohe Absolventenzahlen aus den höheren Stufen des Systems zu erzielen, wenngleich das System der „Exzellenz“ nicht schadet. 3.
Welche Schlussfolgerungen können wir daraus ziehen?
Fasst man zentrale Befunde der einzelnen Beiträge des vorliegenden Bandes zusammen, dann werden auf allen gesellschaftlichen Ebenen mehr oder weniger bedeutsame Ursachenfaktoren für dauerhafte Bildungsungleichheiten angeführt. Auf der Mikroebene von Individuen werden primäre und sekundäre Herkunftseffekte, also Sozialisationsbedingungen des Elternhauses sowie elterliche Bildungsentscheidungen mit weit reichenden Konsequenzen für den Bildungsverlauf ihrer Kinder, hervorgehoben. Auf der Mesoebene des Bildungssystems werden Strukturen und institutionelle Regelungen wie etwa vielfältige Verzweigung der möglichen Bildungswege zwischen denen entschieden werden muss oder frühe Bildungsentscheidungen nach der Grundschule sowie Selektions- und Sortierungsprozesse seitens der Bildungseinrichtungen genannt. Schließlich sind auf der Makroebene der Gesellschaft die Bildungsungleichheit verstärkende oder abschwächende Entwicklungen von Bedeutung wie etwa die Nachfrage nach Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt, die gesamtwirtschaftliche Entwicklung oder Bildungsreformen oder unerwartete Folgen von Eigendynamiken der Bildungsexpansion. Die Trennung dieser Ursachefaktoren erfolgt hier nur analytisch in idealtypischer Weise, aber es ist offensichtlich, dass sie in einer komplexen Gemengelage miteinander interagieren. Wie diese Interaktionen vonstatten gehen, und wie groß der Beitrag der einzelnen Ursachenkomplexe auf den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen, konnten wir mit dem vorliegenden Band nur teilweise theoretisch fassen und empirisch klären. Viele der sozialen Mechanismen und ihre Gewichte bedürfen einer weitergehenden intensiven Erforschung im Längsschnitt des Lebensverlaufs unterschiedlicher Geburtskohorten, erweitert um dynamische Mehrebenenanalysen, die es erlauben, die einzelnen gesellschaftlichen Ebenen in einen systematischen Bezug zu bringen (Huinink 1992). Aus all den Beiträgen der Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes über Ursachen und soziale Mechanismen von Bildungsungleichheiten dürfte deutlich geworden sein, dass es in der bildungssoziologischen Forschung zahlreiche Bereiche gibt, in denen die theoretischen Grundlagen wie die empirisch fundierten Wissensbestände immer noch als unzureichend zu bezeichnen sind. Zu diesen zählen die komplexen Prozesse der Entscheidungsfindung über Bildungswege in Familien, die Verschränkung von schulinternen Bildungsstrategien und familialen Entscheidungsprozessen, die Kenntnisse über Migrantengruppen und deren Entscheidungsfindung in Familien sowie die Mechanismen der Kumulation von Bildungsungleichheiten im Lebensverlauf und im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung. Nehmen wir Bezug zu unseren Ausführungen in der Einleitung, so kann diese Feststellung zunächst als eine Forderung nach intensiver Forschung über die
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Entstehung von primären und sekundären Effekten der sozialen Herkunft – also Bildungsungleichheiten, die vornehmlich außerhalb des Bildungssystems bzw. innerhalb des Familienkontextes entstehen – und als Plädoyer für die präzise Erfassung von sozialen Mechanismen im Elternhaus in Bezug auf die Bildungsgeschichte ihrer Kinder interpretiert werden. Diese Forderung ist nicht furchtbar neu, aber bislang wenig systematisch in der empirischen Bildungsforschung umgesetzt. 4.
Was sollte eine zukünftige Bildungsforschung leisten, um diesen Anforderungen gerecht zu werden?
Eine erschöpfende Antwort auf die Frage, was eine zukünftige Bildungsforschung leisten solle, um den von uns angemahnten Anforderungen gerecht zu werden, können wir nicht liefern, sondern eher versuchen, Richtungen zu weisen. (1) Zunächst bedarf es weiterer Investitionen in die Theorie- und Modellbildung. Die neueren Rational-Choice-Ansätze, auf die in den einzelnen Beiträgen immer wieder verwiesen wurde, weisen sicherlich in die richtige Richtung, aber sie sind immer noch in mehreren Hinsichten unvollständig. Zum Beispiel stellen Elternhaus und familiale Umwelt immer noch eine „black box“ dar. Um diese zu erhellen, hat die wegen konträrer Befunde gescheiterte schichtspezifische Sozialisationsforschung wenig beigetragen. Aber wir haben empirische Belege dafür, dass entscheidende Grundlagen für dauerhafte Bildungsungleichheiten im Elternhaus und der familialen Umwelt gelegt werden, über die wir noch zu wenig wissen. Wie wird die „zweite Ausbildung zu Hause“ betrieben und worin unterscheiden sich dabei die einzelnen Sozialschichten? Wie entwickeln sich (elterliche) Bildungsaspirationen und wie kommen Bildungsentscheidungen im Familien- und Haushaltskontext tatsächlich zustande? Wie erfolgen Bildungsentscheidungen in späteren Phasen des Lebensverlaufs? Es gibt noch eine große Zahl offener Fragen zur Genese und Reproduktion von Bildungsungleichheiten. (2) Gleichzeitig müssen wir in Zukunft mehr in die Datenerhebung und statistische Modellierung investieren, um Mechanismen und Prozesse der Bildungsungleichheit aufzudecken. Komparativ-statische Querschnittsdaten und retrospektive Längsschnittdaten reichen nicht mehr aus, um mehr als die deskriptive Rekonstruktion von Bildungsbeteiligungen zu leisten. Sinnvoll erscheinen prospektive Erfassungen von Bildungsverläufen unterschiedlicher Geburtskohorten in einem Mehrebenendesign, die Entwicklungsprozesse von Individuen vor ihrer Einschulung bis hin zu unterschiedlichen Bildungsabschlüssen im Lebensverlauf abdecken. Da psychologische Informationen (etwa Betrachtung der kindlichen Entwicklung vor und nach der Einschulung in Bezug auf Leistung, Kompetenzen und Sozialverhalten; Bildungsaspirationen), Austauschprozesse (etwa die Dynamik der Aushandlungen und Entscheidungen zwischen Eltern und Kindern und Lehrern; Einflüsse der Peers) und weitere Kontextinformationen (etwa Unterricht in der Schule; Teilhabe des Elternhauses am Schulgeschehen) zu erfassen sind, die in dieser Form noch nicht als Datensätze vorliegen, müssen entsprechende Längsschnittstudien initiiert
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werden, um eine dauerhafte Beobachtung von Bildungsprozessen zu gewährleisten. Die Dateninfrastruktur der amtlichen Statistik und universitären Bildungsforschung sind in dieser Hinsicht defizitär. (3) Es bedarf einer kumulativen Bildungsforschung mit einer klaren theoretischen und methodischen Stoßrichtung. Weiterführende Forschung über Entstehung von Bildungsungleichheiten und ihre Dauerhaftigkeit ist auch deshalb notwendig, um gänzlich gesicherte Kenntnisse für bildungspolitische Maßnahmen zu erarbeiten. Erst aus empirisch eindeutig belegten Kausalzusammenhängen lassen sich sinnvolle Prognosen und Sozialtechnologien ableiten. So lange kann und will sicherlich die Bildungspolitik nicht warten. Aber eine Ungeduld kann ihr teuer zu stehen kommen, wenn die falschen Schlussfolgerungen für die Initiierung von bildungspolitischen Maßnahmen gezogen werden. Auch muss in die Erforschung von nicht beabsichtigten Konsequenzen rationaler Bildungspolitik investiert werden. So erscheinen viele Empfehlungen des von Bundesbildungsministerin Bulmahn einberufenen „Forums Bildung“ sehr plausibel. Jedoch ist Plausibilität kein Wahrheitskriterium und es mangelt an Grundlagenforschung über die Tragfähigkeit dieser bildungspolitischen Empfehlungen (siehe den Beitrag von Becker oder von Müller-Benedict in diesem Band). 5.
Was könnte die Bildungspolitik aufgrund bildungssoziologischer Ergebnisse tun?
Welche bildungspolitischen Empfehlungen scheinen – abgesehen von ihrer politischen Zielsetzung und Erwünschtheit – zum gegenwärtigen Zeitpunkt angesichts vorliegender Forschungsergebnisse plausibel? Nahe liegend scheinen zum einen Maßnahmen zu sein, die Sozialisationseffekte des Elternhauses und elterlichen Bildungsentscheidung so beeinflussen, dass primäre und sekundäre Effekte der sozialen Herkunft minimiert werden. Zum anderen müssen institutionelle Reformen des Schulwesens bei der Herstellung gleicher Startchancen ansetzen, womit institutionelle Vorkehrungen ins Auge gefasst werden, die zunächst auf Prozesse vor der Einschulung zu etablieren sind. Auch muss die längst überfällige Schulstrukturfrage gestellt werden, wenn bislang frühe Bildungsentscheidungen am Ende der Grundschulzeit zu späteren Zeitpunkten (etwa nach dem neunten oder zehnten Schuljahr) erfolgen sollen. Der nunmehr folgende Kanon ist weder vollständig noch unumstritten hinsichtlich ihrer gesellschaftspolitischen Ausrichtung und ihrer empirischen Absicherung. Aber er gehört zu den meist diskutierten Vorschlägen in der Bildungspolitik. 1.
So muss die Hauptschule ihr Stigma als Restschule verlieren und zu einer aussichtsreichen Alternative bei den Bildungswegen werden. Dazu ist es notwendig, die soziale und ethnische Heterogenität unter den Hauptschülern und das Unterrichtsniveau in der Hauptschule substantiell zu erhöhen. Begonnen werden muss damit bereits im Kindergarten und in der Vorschule. Dieser Weg wird wegen der zu erwartenden Widerstände bei
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den Eltern schwierig sein und wird dann kaum von Erfolg gekrönt werden, wenn die qualifikatorischen Anforderungen bei der Vergabe von Lehrstellen weiterhin mindestens die mittlere Reife als Zugangsberechtigung verlangen, und die Realschule ohnehin eine kostengünstige und Nutzen bringende Alternative zur Hauptschule darstellt. 2.
Die Schule muss für den Ausgleich der herkunftsbedingten Startnachteile gestärkt werden, und zwar sowohl durch die Unterstützung seitens der Kindergärten, Kindertagesstätten und Vorschulen als auch durch die soziale Durchmischung in der Grundschule. Sie muss das Leistungsprinzip und den Leistungswillen durch frühzeitige Förderung und Forderung von Kindern stärken, aber gleichzeitig durch die frühzeitige Förderung sozial benachteiligter Kinder vor der Einschulung und in den ersten Jahren der Grundschule gleiche Startchancen gewähren. Sie muss eine Gratwanderung zwischen Spitzen- und Breitenförderung vornehmen.
3.
Eine weitere Reform des Schulwesens sollte darin bestehen, die frühen, dann de facto kaum zu revidierenden Bildungsentscheidungen da sie wie im deutschen Fall kontinuierlich aufeinander bauend gefällt werden müssen und daher kumulative Konsequenzen haben auf spätere Zeitpunkte zu verschieben. Allerdings dürfen diese Veränderungen nicht auf Kosten der Leistungen und Leistungsfähigkeiten von Schülern und der leistungsbezogenen Selektion seitens des Bildungssystems vorgenommen werden.
4.
Die relativen Bildungskosten für sozial schwächere Sozialschichten sind zu senken. Eine Strategie wie etwa die Erhöhung des BAföGs oder die Einführung von Stipendien für Begabte aus unteren Sozialschichten ist wie mehrfach empirisch belegt wenig aussichtsreich. Vielmehr müssen die subjektiv erwarten Kosten gesenkt werden, die durchaus mit objektiv verfügbaren Finanzmitteln korrelieren. Eltern müssen in die Lage versetzt werden, eigenständig die für die Bildung notwendigen Mittel aufbringen zu können. Hilfreich dabei kann der Ausbau von vorschulischer Betreuung und von Ganztagsschulen sein, wodurch Mütter die berechtigte Chance haben, Familie und Beruf in Einklang zu bringen und einer außerhäuslichen Erwerbsarbeit nachzugehen.
5.
Darüber hinaus bieten Leistungen fordernde und fördernde Ganztagsschulen die Chance für den Abbau von Bildungsbarrieren, indem der Einfluss des Elternhauses durch einen langen Schultag verringert wird, und die Verhinderung von sozialer Ausgrenzung. Sie können zur Erhöhung der Sprach- und Lesekompetenzen und zur Vereinfachung elterlicher Bildungsentscheidung bei den unteren Sozialschichten beitragen. Früh-
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zeitig sind die Vorteile des lebenslangen Lernens und die Kompetenzen für lebenslanges Lernen zu vermitteln. 6.
Die Eigeninitiative und Selbstverantwortung der Schulen müssen sichergestellt werden und regelmäßige Evaluationen bei gleichzeitiger Verbesserung der Ausstattung von Schulen selbstverständlich sein. Investitionen in Pädagogik und Didaktik zur Verbesserung des Schulunterrichts verstehen sich von selbst, aber sie müssen durch regelmäßige Weiterbildung von Lehrern, stärkere Leistungsbezogenheit der Lehrtätigkeit und ihrer Entlohnung sichergestellt werden. Voraussetzung ist aber eine Reform der gegenwärtigen Lehrerausbildung in allen Bereichen (einschließlich der Professionalisierung der vorschulischen Kinderbetreuung).
7.
Der ethnischen Homogenisierung in der Hauptschule muss entgegengewirkt werden. Was die Kinder von Migranten betrifft, so muss stärker darauf geachtet werden, dass der Anteil an Migrantenkindern in den Schulklassen nicht zu hoch ist. Befunde zeigen, dass der Anteil nicht über 25 Prozent liegen sollte, ansonsten würde die Leistung in einem Klassenverbund – und vor allem zu Lasten der Migrantenkinder – sinken. Gleichzeitig muss ein Unterrichtsstil eingesetzt werden, der eine weitere ethnische Segregation im Klassenverband und in der Schule verhindert.
Aktive Bildungspolitik wird sicherlich nötig sein. Es wird Illusion bleiben, wenn man mit viel Geduld hoffen würde, dass die Bildungsexpansion ungerechtfertige Bildungsungleichheiten mit ihren Folgekosten selbst auflösen würde (vgl. Becker 2003). Etwa dadurch, dass durch die sukzessive Höherqualifizierung in der Generationenabfolge primäre und sekundäre Herkunftseffekte verschwinden würden. Solange soziale Ungleichheiten bestehen, die mit Klassenstruktur und sozialer Schichtung beschrieben werden können, bedarf es sowohl institutioneller Eingriffe in das Bildungssystem als auch die Schaffung selektiver Anreize für langfristige Bildungsinvestitionen (Becker 2006).
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Lauterbach und Becker
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Die immerwährende Frage der Bildungsungleichheit
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Lauterbach, Wolfgang, 1960, Prof. Dr., Universität Münster, Institut für Soziologie. Forschungsschwerpunkte: Familien- und Bevölkerungssoziologie, Lebensverlauf- und Sozialstrukturanalyse, Bildungs- und Arbeitsmarktforschung. Neuere Veröffentlichungen: Erwerbseinstieg und erste Erwerbsjahre. Ein Vergleich von vier westdeutschen Geburtskohorten. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 53, 2001 (zus. mit Matthias Sacher); Kinder in Familie und Gesellschaft zu Beginn des 21sten Jahrhunderts. Stuttgart: Lucius & Lucius, 2000 (zus. mit Andreas Lange); Die mulitlokale Mehrgenerationenfamilie. Zum Wandel der Familienstruktur in der zweiten Lebenshälfte. Würzburg: Ergon, 2004; The Change of Generational Relations Based on Demographic Developments – The Case of Germany. Journal of Population Studies, 2003; Armut und Bildungschancen: Auswirkungen von Niedrigeinkommen auf den Schulerfolg am Beispiel des Überganges von der Grundschule auf eine weiterführende Schule. S. 153-173 in: Christoph Butterwegge und Michael Klundt (Hg.): Kinderarmut und Gerechtigkeit. Familien- und Sozialpolitik im demografischen Wandel. Opladen: Leske+Budrich, 2002 (zus. mit Andreas Lange und Rolf Becker). Leschke, Janine, 1976, Diplom-Politologin (Freie Universität Berlin und Université Laval, Quebec), Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Forschungsschwerpunkte: Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, insbesondere Sozialversicherungsschutz bei Arbeitslosigkeit, Nichtstandardbeschäftigungsverhältnisse, Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Neuere Veröffentlichung: Activation policies need careful policy design and monitoring: lessons from Canada and Germany in: Serrano Pascual: Are activation models converging in Europe? The European Employment Strategy for young people. ETUI, Brussels, 2004 (zus. mit Isabelle und Klaus Schömann). Müller, Walter, 1942, Prof. Dr. em., Universität Mannheim, Lehrstuhl für Methoden der empirischen Sozialforschung und angewandte Soziologie. Forschungsschwerpunkte: vergleichende Analyse der Sozialstruktur fortgeschrittener Industriegesellschaften, u. a. Erwerbs-, Bildungs- und Klassenstruktur, Bildungssysteme, soziale Ungleichheit und Mobilität. Neuere Veröffentlichungen: The Reemergence of Self-employment. A Comparative Study of Self-employment Dynamics and Social Inequality. Princeton und Oxford: Princeton University Press, 2004 (Hg. mit Richard Arum); Mehr Risiken – mehr Ungleichheit? Abbau von Wohlfahrtsstaat, Flexibilisierung von Arbeit und die Folgen, Frankfurt am Main: Campus, 2003 (Hg. mit Stefani Scherer); Transitions from Education to Work in Europe. The Integration of Youth into EU Labour Markets. Oxford: Oxford University Press, 2003 (Hg. mit Markus Gangl); School-to-Work Transitions in Europe. Analyses of the EULFS 2000 Ad hoc Module. Mannheim: Mannheimer Zentrum für europäische Sozialforschung, 2003 (Hg. mit Irena Kogan); Expansion und Erträge tertiärer Bildung in Deutschland, Frankreich und im Vereinigten Königreich. Berliner Journal für Soziologie 12, 2002 (zus. mit Hildegard Brauns und Susanne Steinmann).
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