WILLIAM WHARTON
BIRDY
ROMAN
GOLDMANN VERLAG
Titel der Originalausgabe »Birdy«, erschienen bei Alfred A. Knopf, Inc...
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WILLIAM WHARTON
BIRDY
ROMAN
GOLDMANN VERLAG
Titel der Originalausgabe »Birdy«, erschienen bei Alfred A. Knopf, Inc. New York Aus dem Amerikanischen von Hans Hermann
Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann Made in Germany • 4/88 • 7. Auflage Genehmigte Taschenbuchausgabe Alle deutschsprachigen Rechte bei C. Bertelsmann Verlag GmbH © Edition Steinhausen, München 1981 Umschlagentwurf: Atelier Adolf & Angelika Bachmann, München Umschlagfoto: Studio Schmatz, München Druck: Elsnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 6611 Au/Herstellung: Peter Papenbrok/Voi ISBN 3-442-06611-5
Autor William Wharton ist das Pseudonym eines amerikanischen Malers, der in den zwanziger Jahren in Philadelphia geboren wurde und lange in Frankreich auf einem Hausboot auf der Seine gelebt hat. Whartons erster Roman »Birdy« wurde zu einem internationalen Erfolg und bei den Filmfestspielen von Cannes mit dem Großen Spezialpreis ausgezeichnet. Buch »In der Hand einiger weniger Künstler können Dinge entstehen, von denen der logische Verstand weiß, daß sie unmöglich sind. Der Maler Magritte hat beispielsweise ein surrealistisches Studio entworfen, wo die Welt der Wirklichkeit sich auf der Leinwand befindet, oder ein andermal ein riesiges menschliches Auge, das einen wolkengetüpfelten Himmel umfaßt. In der Romanliteratur ist solche Art von Illusion selten; wenn sie aber zustande kommt, ist der ästhetische Genuß immens. Birdy hat diese Art von Qualität«, schreibt ein Kritiker im People Magazine, »wer Birdy liest, glaubt selbst zu fliegen.« Theodore M. O’Leary hält Birdy für »so eigenständig und neuartig, daß man beinahe eine neue Vorstellung davon gewinnt, was ein Roman sein kann und zu leisten vermag«. Toni Morrison spricht von »einem schriftstellerischen Triumph, den zu lesen Freude macht«.
Meiner ganzen Familie
Am Boden sind Vogelspuren, Und der Himmel ist leer; Etwas lebte, verschwand Und ließ etwas zurück
– Nun komm schon, Birdy! Ich bin’s, Al. Ich bin extra von Dix hergefahren. Also laß endlich den Quatsch!
Ich lehne mich zurück und stecke den Kopf durch die Tür. Am anderen Ende des Ganges sitzt immer noch dieser komisch aussehende Wärter-Sanitäter im weißen Mantel. Ich linse durch die Käfigtür. Birdy kauert genau in der Mitte am Boden und blickt nicht mal in meine Richtung. Er hockt in der gleichen Stellung wie damals immer im Taubenschlag, wenn er neue Federn an sein gruseliges Taubenkostüm nähte. Falls dieser Doktor-Major-Psychiater je was von dem Taubenkostüm erfährt, Mann, dann kettet er Birdy bestimmt am Boden fest. Es war manchmal richtig zum Fürchten. Ich ging nach oben in den Taubenschlag und erwartete dort nur Tauben, doch hinten im Dunkeln hockte Birdy und nähte Federn an diese langen Unterhosen. Birdy kam oft auf die merkwürdigsten Ideen. Und jetzt hab ich ihn wieder vor mir, da kauert er mitten in diesem weißen Raum und will mich nicht kennen. Ich werfe noch einen verstohlenen Blick auf den Gang hinaus.
– Komm schon, Birdy. Hör endlich auf damit! Ich weiß, daß du kein richtiger Vogel bist! Hör schon auf mit dem Theater, das bringt nichts mehr. Himmel Herrgott, dieser beschissene Krieg ist vorbei! Hitler, Mussolini, Tojo, die ganze Bande hat ausgeschissen!
Nichts. Vielleicht ist er übergeschnappt. Ob dieser Psychiater weiß, daß wir ihn Birdy nennen? Birdys alte Dame sagt’s ihm bestimmt nicht; ich glaube, die weiß es selber nicht. Birdy kehrt mir den Rücken zu. Er dreht sich einfach auf der Stelle, zusammengekauert, die Hände seitlich an den Körper gepreßt. Durch ein kleines, hohes Fenster in der gegenüberliegenden Wand starrt er nach oben in den Himmel. Der Doktor-Major will, daß ich von Dingen rede, die wir zwei, Birdy und ich, zusammen erlebt haben. Sie haben mich aus dem Lazarett in Dix oben rausgelassen und hierher geschickt. Mein Gesicht steckt immer noch in einem Verband, und ich muß mich noch mal operieren lassen. Wenn ich esse oder rede, tut es weh, und jetzt rede ich schon seit neun heute morgen wie ein Verrückter. Ich weiß bald nicht mehr, was ich sagen soll.
– He, Birdy! Weißt du noch, wie wir drunten im Wald das Taubenhaus in den Baum gebaut haben?
Vielleicht kann ich ihn damit packen. Birdys alte Dame verlangte, daß wir den ersten Taubenschlag – gleich neben seinem Haus – wieder einrissen. Birdys Haus gehört zur alten Cosgrove-Farm; war mal das Pförtnerhaus. Das Haupthaus und die Scheune sind schon vor Jahren abgebrannt. Birdys Haus liegt gleich hinter dem Zaun des Baseballplatzes, zwischen dem Links- und dem Mittelfeld. Den Baseballplatz haben sie in den alten Cosgrove-Weiden angelegt; das letzte offene Gelände in der Gegend.
– He, Birdy! Was zum Teufel hat eigentlich deine alte Dame mit all den Bällen gemacht?
Birdys alte Dame behielt damals jeden Baseball, der über den Zaun ging und auf ihrem Grundstück landete. Die Spieler bemühten sich schon gar nicht mehr darum. Die Halbprofis gaben sich ebenso geschlagen wie alle anderen. Ein Homerun über den Zaun und in Birdys Garten – und der Ball war weg. Da war nichts zu machen, ein neuer Ball mußte her. Für einen Rechtshänder, der lange Bälle schlug, wurde das Baseballspielen dort zu einem teuren Spaß. Was zum Teufel kann sie nur mit all diesen Bällen gemacht haben? Birdy und ich suchten oft im ganzen Haus danach. Vielleicht hat sie sie irgendwo eingegraben, oder sie hätte sie auch verkaufen können; begehrter Nachschub für den Schwarzhandel mit gebrauchten Basebällen.
– He, Birdy! Kannst du dich noch an diese fiesen Greenwood-Typen erinnern? Aber unser Baumhaus haben sie nie gefunden. Himmel Arsch, was gab es damals bloß für Schwachköpfe in unserer Gegend!
Diese Greenwood-Bürschchen demolierten alles, was sie nur in die Finger bekamen. Sie klauten Fahrräder, Tauben, alles was nicht niet- und nagelfest war. Dieses Baumhaus war für Tauben ein idealer Anflugplatz, und niemand hätte es da oben vermutet. In einem Loch unter ein paar Büschen hatten wir immer eine Strickleiter. An einem Ende hatte sie einen Haken, und so konnten wir sie über einen Ast werfen und dann hochklettern.
– Kannst du dich an die Strickleiter erinnern, mit der wir immer auf unseren Baum geklettert sind, Birdy? Herr Gott, wir haben ganz schön gesponnen, wenn man sich’s recht überlegt!
Ich rede immer weiter und behalte Birdy dabei im Auge, um zu sehen, ob er mir zuhört. Er starrt immer noch aus diesem hohen Fenster an der Rückwand. Es ist wirklich ein erbärmlicher Anblick, wie er da im dünnen, weißen klinikeigenen Schlafanzug am Boden hockt. Die Fußsohlen liegen flach am Boden, die Knie sind zusammengedrückt, der Kopf ist nach vorn geschoben, die Arme an die Seiten gepreßt, die Finger auf dem Rücken verschränkt. So wie er dahockt, könnte man meinen, er würde jeden Moment aufspringen, ein paarmal die Arme auf und ab bewegen und dann aus diesem Fenster fliegen, von dem er kein Auge läßt. Es war ein fantastisches Taubenhaus, das wir unten im Wald bauten. Es war kleiner als unser erstes, bei ihm auf dem Hof. Unser erster Taubenbestand auf Birdys Hof war groß. Es waren zehn Pärchen und zwei zusätzliche Männchen. Wir hatten einen guten Bestand, keinen Ausschuß, alles rassereine Tiere. Ich finde, wenn man schon Geld für Futter ausgibt, dann lieber für gute Vögel. Birdy will dauernd irgendeinen schäbigen Vogel dabeihaben, nur weil er ihm gefällt. Darüber haben wir uns oft heftig gezankt. Wir hatten drei Pärchen Blaubinder, vier Pärchen Blauschecken, ein Paar Rotschecken und zwei Pärchen Weiße Kings. Nichts Ausgefallenes, keine Tümmler, keine Pfautauben; nichts von diesem Schwachsinn.
Jetzt denke ich. Ich weiß. Weiß. Denke. Nichts.
Als wir den alten Bestand verkauften, bestand Birdys Mutter darauf, daß wir auf der vorderen Veranda, wo die Vögel immer saßen, überall die Taubenscheiße wegkratzten. Dann ließ sie mit unserem Taubengeld die ganze Veranda neu streichen. Birdys Mutter ist ein übler Drachen. Jedenfalls hatten wir kein Geld mehr, um Tauben für das neue Baumhaus anzuschaffen. Birdy durfte ja eigentlich gar keine Tauben halten, egal wo. Die ersten zwei Vögel holten wir uns drunten in der Dreiundsechzigsten Straße, unter der Hochbahn. Dort gibt es einen großen Schwarm Straßentauben, die meisten allerdings reiner Schrott. Nach der Schule gucken wir ihnen oft zu. Wir fahren dann mit dem Bus, der nichts kostet, vom Bahnhof zum Kaufhaus Sears. Wir sind da vielleicht dreizehn oder vierzehn. Wir gucken den Tauben zu, wie sie umherstolzieren, fressen, ficken; so geht das bei denen den ganzen Tag, was anderes interessiert sie kaum. Die Hochbahn fährt vorbei, und sie steigen auf und beschreiben einen großen Bogen, als passiere das nicht alle fünf Minuten, seit vielleicht fünfzig Jahren. Birdy zeigt mir, wie sie gewöhnlich an die gleiche Stelle zurückkommen und die gleichen Dinge tun wie vorher. Wir gucken ihnen zu und suchen nach den Leittieren des Schwarms und nach den Nestern oben im Gitterwerk der Hochbahn. Wir versuchen auch herauszukriegen, welche Paare zusammengehören. Tauben sind wie Menschen; ficken praktisch das ganze Jahr und bleiben in den gleichen Paaren zusammen. Gewöhnlich haben wir eine Tüte mit Futter dabei. Birdy kann fast jede Taube anlocken, und es dauert höchstens zwei Minu-
ten, bis sie auf seiner Hand sitzt. Er sagt mir, ich soll ihm irgendeine aus dem Schwarm zeigen, und dann konzentriert er sich auf diese eine Taube und fängt an, Taubenlaute von sich zu geben. Und tatsächlich kommt genau diese Taube mit zögernden Bewegungen auf ihn zu und hüpft ihm schließlich auf die Hand. Er sagt, er ruft sie einfach zu sich her. Aber wie zum Teufel kann man eine Taube aus einem ganzen Schwarm heraus zu sich rufen? Birdy lügt wie gedruckt.
– Nun komm schon, Birdy. Laß mal gut sein. Ich bin’s, Al. Hör endlich auf, mich zu verscheißern!
Nichts. Also jedenfalls ist da dieses Pärchen Blaubinder, und die gehen auf Birdy ein. Es sind wirklich schöne Tiere, und sie sind nicht beringt. Birdy schafft es, daß sie sich ihm auf den Kopf oder auf die Schultern setzen, und sie lassen zu, daß er sie an den Flügeln festhält. Er breitet erst den einen, dann den anderen Flügel aus und zerzaust die Schwungfedern. Diese Tauben tun so, als sei das die natürlichste Sache der Welt; es scheint ihnen zu gefallen. Wenn Birdy sie freigibt und zu den anderen in die Luft wirft, kommen sie gleich wieder zurück. Normalerweise fliegen Tauben immer zu ihrem Schwarm. Als Birdy und ich einmal nicht den Bus nehmen, sondern zu Fuß nach Hause gehen, bleibt dieses Pärchen die ganze Zeit bei Birdy, bis wir bei unserem Baumhaus sind. Für diese irren Vögel ist Birdy so was wie der heimische Taubenschlag.
Darf nicht horchen. Um etwas zu hören, darf ich nicht horchen. Um etwas zu sehen, darf ich nicht hinschauen. Um etwas zu wissen, darf ich nicht denken. Um etwas zu erzählen, darf ich nicht horchen.
Wir mußten das Taubenhaus zuschließen, weil diese Blaubinder sonst nicht von Birdy gewichen wären. Seine alte Dame hätte sie glatt vergiftet, wenn sie sie gefunden hätte.
– He, Birdy. Erinnerst du dich an das Blaubinderpärchen, das dir überallhin gefolgt ist? Mann, das war direkt unheimlich!
Er hört immer noch nicht zu. Ist mir ja gleich, wenn er übergeschnappt ist, aber er sollte mich nicht einfach ignorieren.
– Birdy, hörst du mich? Wenn du mich hörst und nicht antwortest, dann bist du wirklich übergeschnappt; verstehst du, total übergeschnappt.
Herr Gott, ich verschwende nur meine Zeit. Er tut so, als sei er taub, oder was weiß ich. Der Major-Doktor sagt, er könne hören, er höre alles was ich sage. Diese Klugscheißer wissen auch nicht alles. Vielleicht hat Birdy einfach Angst und will nichts hören. Was zum Teufel kann da bloß geschehen sein? Als wir noch den alten Taubenbestand auf Birdys Hof hatten, machten wir uns einen Spaß daraus, einen oder zwei der Vögel auf dem Fahrrad mitzunehmen. Wir bauten extra eine Kiste
dafür. Diese Vögel waren bereits an den heimischen Schlag gewöhnt. Birdy hatte an der Klappe des Taubenschlags eine Schnur befestigt und diese mit einem alten Wecker verbunden, so daß wir immer genau wußten, wann sie zum Schlag zurückkamen. Wir fuhren irgendwohin, nach Springfield oder so, und ließen sie von dort – mit einem Briefchen an uns selbst – wieder zurückfliegen. Als ich wieder einmal mit meinen Eltern zum Strand fahre, nehme ich zwei Vögel mit. Ich wate ein Stück durch die Brandung und lasse sie dann fliegen; nach weniger als zwei Stunden sind sie zurück im Taubenschlag. Das sind fast hundertfünfzig Kilometer. In das Briefchen für Birdy habe ich die Zeit geschrieben und ihm mitgeteilt, daß ich die Vögel über dem Atlantik aussetze. Birdy konnte stundenlang in unserem Taubenschlag sitzen und zugucken. Herr Gott noch mal, ich hab ja auch was für Tauben übrig, aber ich sitze doch nicht den geschlagenen Tag im Dunkeln und gucke ihnen zu. Und die Sache mit dem Taubenkostüm, das er immer anhatte, Er begann daran zu arbeiten, als wir noch das Taubenhaus in seinem Hof hatten. Das erste war, daß er ein altes Paar langer Unterhosen dunkelblau einfärbte. Dann sammelte er alle Taubenfedern, die er nur bekommen konnte, und bewahrte sie in einer Zigarrenkiste auf. Dann hockte er, wie gesagt, hinten in unserem Taubenschlag und nähte Federn an diese langen Unterhosen. Er fing oben an und arbeitete sich nach unten, immer rundherum und so, daß eine Feder die andere überlappte, so wie das halt bei einem Vogel ist. Als er dann das fertige Kostüm anzog, glich er irgendwie einem riesigen zottigen Blauscheck. Von da an ging er nur noch in diesem verrückten Aufzug in den Taubenschlag. Es war etwas, was seine Mutter unheimlich irritierte.
Als wir das Baumhaus bauten, wurde er noch schlimmer. Er trug nun Handschuhe, die mit Federn bedeckt waren, und zog lange rötlich-gelbe Socken über die Schuhe und bis zu den Knien hoch. Den letzten Schliff gab dem ganzen eine mit Federn besetzte Haube und ein gelber Schnabel aus Pappkarton. Wenn er dann zusammengekauert hinten im Taubenschlag saß, wo es ziemlich dunkel war, sah er aus wie eine echte Taube, nur daß er die Größe eines stattlichen Hundes hatte. Ein ahnungsloser Spaziergänger, der ihn auf dem Baum herumkraxeln sah, mußte glatt den Verstand verlieren.
– Was dir noch fehlt hier, Birdy, das ist dein altes Taubenkostüm. Dieser Fettsack von einem Doktor würde glatt ausflippen.
Birdy hatte bei einem Vogel überhaupt kein Gefühl für Qualität. Ich bin nie draufgekommen, worauf es ihm eigentlich bei einer Taube ankam. Wenn ich nur an die nächste Taube denke, die wir für das Baumhaus anschaffen: was Häßlicheres kann man sich kaum vorstellen. Sie stellt einen so fürchterlichen Mischmasch dar, daß vermutlich nicht einmal die anderen Mischlinge etwas mit ihr zu tun haben wollen. Birdy findet sie schön. Wir haben die Blaubinder vielleicht einen Monat, als Birdy an einem Regentag diese Taube in den Schlag bringt; er sagt, er habe sie unten bei der Müllkippe gefunden, sie habe dort mit einer Ratte gekämpft. Und so was soll man glauben? Birdys Lügen sind so weit hergeholt, daß sie ihm keiner abnimmt. Noch etwas ist typisch für Birdy: er glaubt die Lügen anderer Leute. Birdy glaubt fast alles, was man ihm erzählt.
Die Erde dreht sich, und wir sind gefangen. Die Schwere dringt ein, und wir zappeln in einem Käfig aus Tonnen, die sich bewegen.
Dieser Mischling ist vollkommen schwarz; es ist kein glänzendes, sondern ein stumpfes rauchiges Schwarz. Wenn nicht ihr Schnabel wäre und wenn sie sich nicht wie eine Taube bewegen würde, müßte man sie glatt für eine geschrumpfte Krähe halten. Sie ist so klein, daß sie mir jetzt, wo ich sie endgültig als Taube ansehe, wie ein Jungvogel vorkommt. Ich will sie nicht im Schlag haben. Ein überzähliges Weibchen im Schlag bringt nur Ärger, aber Birdy ist stur und schwärmt dauernd von ihrer Schönheit und ihren Flugkünsten. Als erstes macht sie dem Blaubinderweibchen den Tauber abspenstig. Der weiß gar nicht, was ihn erwischt hat. Er bringt sich mit seinem ewigen Umherstolzieren und Jagen und Ficken fast um; nicht mal mehr zum Fressen hat er Zeit. Und das arme Blaubinderweibchen sitzt apathisch im Nest. Ich bin sauer und will die verdammte Schlampe rausschmeißen. Eine richtige Taubenhexe ist das. Birdy gibt schweren Herzens nach. Am nächsten Morgen werfen wir sie aus dem Schlag. Für mich ist sie eine Streunerin, und ich rechne nicht damit, daß wir sie noch einmal sehen. Als ich am Nachmittag in den Schlag komme, ist Birdy schon da – und die Hexe auch. Sie hat einen herrlichen RotscheckTauber mitgebracht. Pausenlos stolzieren sie durch den Taubenschlag, und der Rotscheck besorgt es ihr, während der Blaubinder versucht, auch mal ranzukommen, aber für ihn läuft da nichts mehr. Wir schauen ihnen den ganzen Nachmittag zu. Schließlich geht der Blaubinder zu seiner Täubin zurück. Ich sage, meinetwegen, die Hexe kann bleiben, jetzt wo
sie ihren eigenen Tauber hat. Sie muß den Schlag innerhalb von zwei Tagen angenommen haben.
Keiner weiß mehr, als er wissen muß. Wir alle in den Gräbern der Schwerkraft eingeschlossen.
Also diese Hexe ist unglaublich. Von ihrem nächsten Ausflug bringt sie ein prächtiges Pärchen reinrassiger, beringter Grauköpfe mit. Für so was zahlt man ein Vermögen, acht, neun Dollar für das Paar. Es sind echte Schautauben. Wir haben keine Ahnung, wo sie herkommen könnten. Der Tauber ist hinter der Hexe her, und die Täubin folgt ihnen in den Schlag. Sie sind so schön, daß auch ihre Umgebung auflebt. Jetzt ist es also der Graukopf, der die Hexe fickt, der Rotscheck ist abgemeldet. Das ist schon nicht mehr normal. Und so geht es immer weiter. Die Hexe fliegt raus und kommt mit einem Tauber oder manchmal auch mit einem Paar zurück. Meistens sind es Klassetauben. Offenbar hat diese Hexe einen Sex-Appeal, auf den gute Tauben ansprechen. Sie treibt’s immer mit dem neuesten Tauber, bis der nächste kommt, dann läßt sie ihn nie mehr an sich ran. In den drei Monaten, die sie in unserem Schlag ist, macht sie nie Anstalten zu nisten. Birdy meint, vielleicht ist sie eine Taubenhure, aber ich bin sicher, sie ist eine Hexe.
Ich zerbreche in meinem Alleinsein am erlernten Wissen, dem Ende des Verstehens; ein Anschwellen eines Luftstroms; eine Bewegung hin zur Notwendigkeit.
Ruck zuck geht das, und wir haben mehr Tauben, als wir in dem Schlag halten können. Kein Mensch weiß, daß wir Tauben haben, deshalb verdächtigt uns auch niemand. Mit unserer Hexe sind wir die größten Taubenräuber westlich der Dreiundsechzigsten Straße. Wir fahren jetzt öfter mal mit der Bahn nach Cheltenham oder Media und verkaufen dort unsere überzähligen Tauben. Daß sie dort draußen jemand erkennt, ist kaum zu erwarten. Auf die Weise machen wir am Wochenende immer unsere drei, vier Dollar. Das schaffst du nicht mal, wenn du jeden Tag im ganzen Bezirk die Zeitungen austrägst. Und wir haben wirklich phantastische Tauben im Schlag. Unser altes Taubenhaus gleicht langsam einem Schweinestall. Birdy will die alten Blaubinder unbedingt behalten, und wir behalten natürlich auch die Grauköpfe. Daneben haben wir ein wunderschönes Blauscheckpärchen. Die Flügelzeichnung so klar und deutlich wie ein Schachbrett, kräftig gebaute Tiere, dabei aber schlank und mit edlen Köpfen. Ihre Füße sind rot wie Klatschmohn und absolut sauber. Und dann auch noch beringt, alle beide – es ist ein Genuß. Ich könnte ihnen den ganzen Tag zugucken, ich steh nun mal auf Klassetauben. Wir haben auch noch zwei Rotbinderpärchen, die sind fast genausogut; bei der Klasse können wir für jedes von ihnen ohne weiteres drei Pärchen Rassetauben bekommen. Die Hexe ist dauernd unterwegs. Manchmal bleibt sie drei oder vier Tage fort. Sicher, sie bringt uns eine Menge Geld, aber manchmal wäre es mir lieber, sie käme nicht wieder. Sie ist mir irgendwie unheimlich. Ich mag auch nicht, wie Birdy mit ihr umgeht. Wenn man die beiden zusammen sieht, bekommt man eine Gänsehaut, vor allem, wenn er dieses idiotische Taubenkostüm anhat. Ich werfe noch mal einen Blick nach draußen, den Gang rauf und runter. Für eine Klapsmühle geht es hier verdammt ruhig
zu. Die meisten Räume haben eine Doppeltür. Die Außentür hat ein kleines Fenster, damit man die Verrückten beobachten kann; die Innentür ist vergittert. Ich sitze in der Lücke, die zwischen den Türen bleibt. Ich glaube, das ist hier eine viel bessere Klinik als die im Fort Dix. Ich bin da in der plastischen Chirurgie, und bei uns sind die Leute dauernd am Kommen und Gehen. Zwischen den Operationen lassen sie uns zwei, drei Wochen warten, manchmal auch einen ganzen Monat. Wir sind nicht krank, deshalb dürfen wir auch raus und die Wartezeit draußen verbringen. Ich geh zwischen den Operationen heim, der große Held in der kleinen Kneipe. Noch einmal, dann sei ich wiederhergestellt, sagen sie; aber ein Bart wird an der Stelle nicht mehr wachsen. Wer zum Teufel will sich schon einen Bart zulegen?
– He, Birdy-Boy! Kannst du dich an die alte Hexe erinnern, die wir im Taubenschlag hatten? Mann, die war wirklich scharf auf dich. Jetzt mit ’ner kleinen Taube auf die Matratze, das wär’ was, oder?
Einen Moment lang glaube ich, ich bin zu ihm durchgedrungen; es ist einfach die Art, wie sich seine Finger spreizen und dann wieder zusammenziehen. Vielleicht zieht er hier nur eine Schau ab. Dabei bringt es überhaupt nichts, den Verrückten zu spielen; die lassen sowieso jeden raus. Diese Hexe promenierte immer vor Birdy auf und ab und dabei gurrte sie leise und wackelte mit dem Schwanz, genau wie eine Täubin, die möchte, daß ein Tauber sie packt. Dieses Miststück flirtet mit ihm. Wenn Birdy Futter hinstreut, dann macht sie sich nicht darüber her wie die anderen; o nein, sie läßt sich auf Birdys Hand nieder, und er muß sie füttern. Dabei
macht sie alle die Bewegungen, die eine Täubin macht, wenn ein Tauber sie füttert. Birdy steckt sogar einige Körner zwischen seine Lippen, und sie pickt sie heraus. Himmel Herrgott, manchmal glaube ich schon, daß sich Birdy tatsächlich für eine Taube hielt.
Den Baum zu biegen oder das Segel zu füllen, ist gar nichts. Alles nur erlernt, nichts verstanden. Ein Vogel versteht die Luft, ohne etwas gelernt zu haben.
Ich will mal sehen, ob ich Birdy daran erinnern kann, wie wir auf Schatzsuche gingen. Das war nach der Geschichte mit dem Gaskessel, und nachdem sie uns gezwungen hatten, den Taubenschlag abzubrechen. Die Volksschule hatten wir hinter uns; Birdy ging auf eine katholische Schule, während ich die normale Oberschule in Upper Merion besuchte. Meine Eltern sind zwar auch katholisch, aber als italienische Katholiken gehen sie nicht oft in die Kirche. Birdys alter Herr und seine alte Dame haben nichts anderes im Kopf als die Messe und all den Krampf. Ich muß also für den Englisch-Unterricht eine Geschichte schreiben, und da ich so gut wie gar keine Phantasie habe, will ich mir mit Birdy einen Jux machen und dann genau aufschreiben, was passiert. Wir lesen im Unterricht gerade den Goldkäfer, und vielleicht hat mich das auf diese Idee draufgebracht.
– He, Birdy! Weißt du noch, wie wir gesucht haben, wo der alte Cosgrove seinen Schatz vergraben hat? Herr Gott, war das eine Schau!
Ich ging mit der Karte zu Birdys Haus rüber. Fast eine Woche hatte ich gebraucht, um sie zu zeichnen und alles andere vorzubereiten. Zum Schluß hab ich sie über dem Feuer angebräunt und an den Ecken versengt. Es ist ein Meisterwerk, bei Gott. Alles ist verschlüsselt, und in Birdys Zimmer machen wir uns ans Entziffern. Wir nehmen ein Modell für einen von Birdys verrückten Vögeln vom Schreibtisch, damit wir die Karte ausbreiten können. Draußen regnet es. Birdy baut dauernd Vogelmodelle. Er bastelt sie aus Balsaholz und Papier, wie Modellflugzeuge, nur daß es bei ihm Vogelentwürfe sind, bei denen ein Gummibandantrieb die Flügel auf und ab bewegt. Das ist manchmal recht kompliziert, beispielsweise mit rotierenden Flügeln, die sich bei der Aufwärtsbewegung um eine vertikale und bei der Abwärtsbewegung um eine horizontale Achse drehen. Einige hat er tatsächlich zum Fliegen gebracht. Das Dumme ist nur, daß keines von ihnen so weit fliegt wie ein normales Modellflugzeug; die Flügelschläge verbrauchen zuviel Gummibandenergie, ein längerer Flug ist da nicht möglich.
– Mann, du hast dich mit dieser beschissenen Karte ganz schön reinlegen lassen, Birdy.
Das Ding enthält alle möglichen komplizierten Anweisungen, wie man etwa von diesem Baum zu jenem Fels kommt, eben all das, was auf solchen Karten von vergrabenen Schätzen üblich ist. Die Hinweise führen uns zu einer Mauer, wo wir angeblich eine weitere Botschaft finden werden. Birdy ist ganz weg; Herr Gott, der glaubt einfach alles. Er redet von einem riesigen Vogelhaus, das er mit seinem Anteil des Geldes bauen
will. Ich bin fast soweit, daß ich die ganze Sache auffliegen lasse; ich will doch Birdy nicht weh tun, es ist alles nur Spaß, und ich mach es als Hausaufgabe für die Schule. An diesem Abend gehen wir ins Gelände. Es regnet wie verrückt. Ich versuche Birdy zu einer Verschiebung zu überreden, aber ihn kann nichts mehr aufhalten. Er kann so fest an etwas glauben, daß er auch mich davon überzeugt; fast rechne ich nun selbst damit, tatsächlich einen Schatz zu finden. Wir stapfen durch die Nacht, naß bis auf die Haut, keine Taschenlampen. Birdy führt mich zu einem Schatz, den ich nicht versteckt habe. Wir finden jedoch die alte Tabaksdose, in der ich die zweite Botschaft versteckt habe; sie steckt zwischen Steinen in der alten Cosgrove-Ruine, neben der Stelle, wo einmal der offene Kamin war. Birdy steckt sie in die Tasche und wir hauen schnellstens ab und laufen die ganze Strecke zurück zu seinem Haus. Wir gehen durch den Keller, damit uns niemand sieht. Birdy ist nur eine halbe Portion, aber er kann laufen wie ein Hase. Wir schleichen uns wieder nach oben in sein Zimmer und breiten die neue Karte aus. Ich habe denselben Code verwendet und einen Teil der Anweisungen weggebrannt, dabei aber so viel stehenlassen, daß wir überzeugt sind, einem vergrabenen Schatz auf der Spur zu sein. Die genaue Stelle ist mit einem X markiert. Birdy will sofort wieder hinaus, aber ich kann ihn überreden, bis zum nächsten Abend zu warten. Wir brauchen die richtigen Werkzeuge und Geräte. Ich wollte, ich hätte die verdammte Geschichte nie angestiftet. Ich bedaure, daß ich nicht irgendeinen Schatz habe, den ich für Birdy vergraben kann. Der Schatz soll in der Nordostecke der alten verfallenen Scheune vergraben sein. Das ist wieder alles in der Schatzgräbersprache ausgedrückt, und wir müssen es erst entziffern.
Ich helfe Birdy über ein paar Hürden, aber das meiste schafft er allein. Er hätte wirklich einen Schatz verdient. Wir machen aus, daß wir uns nach dem Abendessen treffen wollen, sobald es dunkel ist. Ich komme ohne Schwierigkeiten aus dem Haus, aber Birdy hat sich einen raffinierten Plan ausgedacht, einschließlich einer Attrappe in seinem Bett und einer Methode, seine Tür von innen zu verschließen. Er bräuchte wahrscheinlich nur zu sagen, er gehe zu mir rüber, aber er geht inzwischen ganz in seiner Rolle als Schatzgräber auf. Der Tom Sawyer aus Upper Merion. Wir haben eine Schaufel, und er hat einen Kompaß und eine Schnur, und ich nehme sicherheitshalber meine Zweiundzwanziger mit. Natürlich hat es wieder angefangen zu regnen. Den ganzen Tag fiel kein Tropfen, aber jetzt gießt es. Es ist eine stockfinstere Nacht. Wir gehen mitten über das Baseballfeld, den Abhang hinter dem Fahnenmasten hinunter und dann den schmalen Weg entlang, der zur Cosgrove-Scheune führt. Wir haben schon Spätherbst, mein Geburtstag liegt hinter mir, und so ist von Gras oder Gebüsch nicht mehr viel zu sehen. Im Sommer kommt man hier kaum durch, da würde man nicht mal sehen, daß die alten Mauern noch stehen. Ich war nicht hier unten, bevor ich die Karte zeichnete. Die »Nordostecke der Scheune« schrieb ich einfach so hin. Jetzt stellt sich, mit dem Kompaß, heraus, daß es tatsächlich eine Nordostecke gibt. Und es ist direkt unheimlich, daß der Boden genau an der Stelle, wo das X sein müßte, eine kleine Mulde aufweist. Jetzt bin ich bald selber bereit, nach Gold zu graben. Vielleicht empfange ich Botschaften aus dem Jenseits. Vielleicht hat der alte Cosgrove Verbindung mit mir aufgenommen. Hier sagt ohnehin jeder, der alte Cosgrove habe sein Geld vergraben. Jahrelang haben die Leute hier Löcher gegraben, weil sie hofften, etwas davon zu finden.
Wir fangen an zu graben, jeder abwechselnd fünf Minuten lang. Ich weiß nicht, ob ich mir einen Ast lachen oder die Hose vollmachen soll. Birdy geht todernst zur Sache und überwacht mit meiner Uhr, daß ich nicht mehr als meinen Anteil an den Grabarbeiten bekomme. Als er gerade wieder dran ist, stößt er auf etwas. »Das ist es!« sagt er. Mein Gesicht verfärbt sich grün. Wenn da nun tatsächlich ein Schatz ist? Es wird immer gruseliger. Er gräbt wie verrückt, legt schließlich die Ecke irgendeines metallenen Gegenstandes frei. Dann bin ich wieder an der Reihe, und ich grabe es vollends aus. Es ist eine alte Dose, in der mal Motorenöl war. Ich lache; ich finde, jetzt ist die Zeit gekommen, es ihm zu sagen. Meine Hosen sind dreckverschmiert bis obenhin, und ich bin klatschnaß. Wir sind auf eine Lehmschicht gestoßen, alles ist glitschig. Wenn es so dunkel ist, daß man nicht mal die Steine sieht, auf die man stößt, dann macht das Graben keinen Spaß. »Es gibt keinen Schatz, Birdy, ich hab das alles erfunden.« Er packt die Schaufel und fängt wieder an zu graben. »Herr Gott, Birdy, das Graben bringt nichts mehr, hier gibt’s keinen Schatz! Ich hab mir das einfach so ausgedacht, die Karte und alles. Ich wollte das für die Schule machen.« Birdy gräbt weiter. »Nun komm schon Birdy. Laß uns heimgehen und unsere Kleider trocknen.« Birdy hört auf, sieht zu mir herüber. Dann sagt er, er weiß, daß der Schatz da ist, und wir dürfen nicht aufgeben; der Schatz muß da sein, und ich bilde mir nur ein, ich hätte die Karte erfunden. Das ist mir zuviel. Ich sage ihm, daß er verrückt ist und daß ich jetzt gehe. Er gräbt weiter. Ich seh mir das noch fünf Minuten an, dann verdrücke ich mich. Wortlos gräbt er weiter wie ein Verrückter. Die nächsten zwei, drei Tage sehe ich Birdy nicht. Ich beschließe, aus der Schatzsuche keine Schularbeit zu machen. Ich
gehe hinunter zu der Stelle, an der wir gegraben haben, und da ist ein gut und gern zwei Meter tiefes Loch. Es ist so tief wie ein Grab. Es würde mich verdammt interessieren, wie Birdy aus dem Loch gekommen ist, als er fertig war. Als wir uns das nächstemal sehen, reden wir zunächst nicht über die Schatzsuche. Ein paar Tage später sagt Birdy, er glaube, da sei uns jemand zuvorgekommen, deshalb sei der Boden an der Stelle etwas eingesunken. Er will immer noch nicht wahrhaben, daß ich alles erfunden habe, auch dann nicht, als ich ihm erzähle, wie ich es gemacht habe. Er verdreht nur die Augen und schenkt mir einen seiner irren Blicke.
Ich will denken, will wirklich machen, was ich weiß und nicht festhalten kann. Ich werde herabgezogen. Die Erde in mir ist stark; der Flugstaub ist in meinen Knochen.
Wir kommen mit dem Verkauf von Tauben so gut ins Geschäft, daß wir beschließen, loszuziehen und uns selber ein paar Vögel einzufangen. Das war es auch, was wir an jenem Abend oben auf dem Gaskessel machten. Es ist ein großer Vorratsbehälter an der Ecke Marshall Road und Long Lane. Mehrere Taubenschwärme haben da ihren Schlaf- und Nistplatz.
– Das war auch so was, du und ich oben auf dem Gaskessel. Mann, das war irre. An dem Abend hast du mich fast über zeugt, daß du vielleicht doch etwas von einem Vogel an dir hast.
Verdammter Mist; der nimmt mich überhaupt nicht zur Kenntnis.
– Jetzt hör mir mal gut zu, du Spatzenhirn! Ich hab es satt, auf deine Kehrseite einzureden; so verrückt kannst du gar nicht sein! Ich versetz dir gleich ein paar Schwinger, dann hörst du mir vielleicht zu!
Was sag ich denn da, ich Idiot; wenn das einer hört, dann sperren sie mich auch noch ein. Jedenfalls hat Birdy vor nichts Angst. Wenn er etwas nicht tun will, ist es unmöglich, ihn dazu zu zwingen. Unmöglich, ihm weh zu tun; ich glaube, wenn er etwas nicht spüren will, dann spürt er es auch nicht. Typisch für das, was ich sagen will, ist auch, wie ich Birdy kennengelernt habe. Mario, mein kleiner Bruder, kommt rein und erzählt mir, dieser Spinner von der alten Cosgrove-Farm habe ihm sein Messer weggenommen. Ich frage ihn, wo er das Messer her hat; er sagt, er habe es gefunden. Ich nehme an, er hat es gestohlen, aber ich suche sowieso jemand, mit dem ich mich schlagen kann. Ich bin von Natur aus stark, und ich habe bereits angefangen, mit Gewichten zu arbeiten; ich habe meinen eigenen kleinen Kraftraum im Keller. Beim Spazierengehen habe ich oft in jeder Hand so ein Federding, das ich dauernd zusammendrücke, um stärkere Finger zu bekommen. Ich lese Strength and Health. York in Pennsylvania ist für mich eine Art Mekka. Schon mit elf mach ich all diesen Kram – wahrscheinlich, weil mich mein alter Herr so oft verprügelt hat. Jedenfalls bin ich ganz schön stark und suche immer wieder Streit, um das zu testen.
Ich fange mit diesen verrückten Ideen gerade erst richtig an, als Mario mir von der Sache mit Birdy und dem Messer erzählt. Ich bin dreizehn, Birdy ist gerade zwölf Jahre alt. In der Erinnerung sehe ich uns allerdings älter, da sind wir nicht mehr diese kleinen Rotznasen. Ich gehe runter und mache mich auf den Weg quer durch das Baseballfeld. Ich trage meine neue braune Lederjacke. Mario ist dicht hinter mir. Er zeigt mir das Haus. Ich beuge mich über die niedere Gartentür in der Mauer, und Birdy sitzt auf den Verandastufen hinter dem Haus und putzt das Messer. Ich fordere ihn auf, herzukommen. Er tut es und macht dabei ein Gesicht, als freue er sich darauf, mich kennenzulernen.
Lebende Dinge wachsen nach oben, sind aber nicht hei. Die höchsten Äste fangen Luft und Licht ein, doch sie nähren nur den endlosen Kreislauf der Erde. Das Wachstum an sich ist ohne Bedeutung.
Ich sage ihm, er soll mir das Messer geben. Er sagt, es gehört ihm; er behauptet, er hat es einem Burschen namens Zigenfus abgekauft. Ich soll Zigenfus fragen, wenn ich es nicht glaube. Ich will das Messer sehen. Er gibt es mir. Wir unterhalten uns durch die hölzerne Gartentür in der Mauer, die zwischen seinem Haus und dem Baseballplatz verläuft. Ich sehe auf den ersten Blick, daß es ein wirklich gutes Messer ist, ein Springmesser. Ich will den Mechanismus ausprobieren. Da muß irgendein Trick dabei sein, vielleicht sind Sperre und Sprungfeder kaputt. Birdy greift nach dem Messer, um mir den Trick zu zeigen. Ich ziehe es schnell weg und sage ihm, er soll seine dreckigen Finger von meinem Messer lassen. Er verdreht seine irren Augen und guckt mich an, als wäre ich
verrückt. Ich drehe mich um und gehe mit Mario langsam davon. Er macht die Tür auf und folgt uns. Wir gehen weiter. Er überholt uns, geht rückwärts vor uns her und fragt nach seinem Messer. Ich bleibe stehen. Ich halte es hoch. »Das Messer?« sage ich. »Hol es dir doch.« Er greift nach dem Messer. Ich halte es in der linken Hand, damit ich ihm mit der Rechten eine verpassen kann. Irgendwie verfehle ich ihn, und er bekommt das Messer zu fassen. Ich reiße ihm das Messer aus der Hand. Ich halte es hoch und er greift wieder danach. Ich hole aus und verfehle ihn wieder. Ich hab seinen Kopf direkt vor mir, aber bis meine Faust an der Stelle ist, ist der Kopf nicht mehr da. Ich schwöre, er bewegt sich erst, wenn meine Faust schon unterwegs ist. Ich stecke das Messer in die Tasche, um beide Hände frei zu haben. Ich sage mir, den Trottel nimmst du gründlich auseinander. Er greift dauernd nach meiner Tasche. Jedesmal schlage ich nach ihm, aber ich kann ihn einfach nicht treffen. Ich versuche es mit einer Körpertäuschung – nichts zu machen. Es ist, als bewegte ich mich in Zeitlupe und er im normalen Tempo. Er tänzelt nicht, pendelt meine Schläge nicht aus; wenn meine Faust angeflogen kommt, ist er einfach weg, so wie jemand, der einem Auto ausweicht. Ich beschließe, ihn zu packen. Wenn es sein muß, werfe ich ihn auf den Boden, wo er mir nicht mehr entkommen kann, und schlage ihn dann zusammen. Mario sagt kein Wort. Als Birdy wieder nach dem Messer greift, mache ich einen Schritt nach vorn und nehme ihn in den Schwitzkasten. Ich schiebe ein Bein vor, um ihn ins Straucheln zu bringen, und er ist weg. Es ist genau das gleiche Gefühl, wie wenn einem eine Schlange aus der Hand gleitet. Er hat sich irgendwie herausgewunden.
Ich versuche alles. Ich versuche ihn umzurennen. Ich versuche ihn auszuheben. Ich versuche es noch einmal mit dem Schwitzkasten. Er ist nicht in den Griff zu bekommen. Später, als Birdy auf unsere Schule überwechselt, will ich ihn dazu bringen, daß er als Ringkämpfer für die Schule startet, aber er will nichts davon wissen. Nur einmal macht er eine Ausnahme, als bei einem schulinternen Wettkampf niemand da ist, der im Federgewicht gegen Vogel antritt. Vogel ist die Nummer eins im Schulbezirk; Birdy sagt, dieses eine Mal werde er einspringen. Die ganze Schule ist versammelt, um sich den Kampf anzusehen; an der U.-M.-Oberschule sind solche Vergleichskämpfe ganz groß. Zu Beginn der ersten Runde versucht Vogel ein paarmal vergeblich, Birdy auszuheben. Als er sich auf seinen Gegner werfen will, macht Birdy einen Schritt zur Seite, fällt auf Vogel und ist in der Oberlage. Birdy fehlen, selbst wenn er klatschnaß ist, mindestens fünf Kilo zum Federgewichtler. Vogel wird wütend. Er versucht, sich zur Seite zu werfen. Birdy läßt los, und Vogel rollt ins Leere und liegt auf dem Rücken. Birdy braucht sich nur auf ihn zu werfen und ihn an den Boden zu drücken; dann hat er ihn glatt auf den Schultern oder zumindest eindeutig in der Unterlage. Doch Birdy steht auf und grinst auf Vogel herab. Vogel rappelt sich hastig auf. Birdy erhält zwei Punkte, weil er Vogel auf die Matte zwang, Vogel einen Punkt, weil er sich befreien konnte. Das Ganze wiederholt sich, und wieder bekommt Birdy zwei Punkte. Und Vogel kann sich gegen Ende der Runde wieder aus der Unterlage befreien. Nun hat also Birdy vier Punkte und Vogel zwei. Die Zuschauer fangen an zu lachen; alle stehen hinter Birdy. Der guckt so doof in die Gegend wie eh und je, während der viel zu große Ringeranzug schlotterig an ihm herunterhängt.
Zum Auftakt der zweiten Runde muß Birdy in die Bank, und Vogel ist über ihm. Vogel legt sich jetzt mächtig ins Zeug. Birdys Blick geht ins Leere, er lächelt still vor sich hin. Ich denke mir, er wird gleich auf der Schulter liegen. Vogel ist stark wie ein Bulle, einer dieser germanischen Typen. Sein Gesicht ist knallrot vor Wut. Der Kampfleiter schlägt mit der flachen Hand auf die Matte und gibt damit den Kampf frei. Vogel zerrt an Birdys Arm und will die Bank eindrücken, und irgendwie, ich weiß nicht, wie er das gemacht hat, mit einer Art Rolle vorwärts, jedenfalls steht Birdy plötzlich da, und Vogel kniet allein auf der Matte. Herr Gott, die Zuschauer toben. Vogel kauert auf Händen und Knien, wie ein alter Bär, während Birdy danebensteht und auf ihn herunterblickt. Vogel stürmt über die Matte, greift Birdy an. Er täuscht einen Hüftgriff an und geht blitzschnell nach unten, um ihm die Beine wegzuziehen. Birdy macht eine rasche Drehung und sitzt plötzlich auf Vogels Kopf. Es ist nicht zu fassen. Vor lauter Aufregung ramme ich meinem Vordermann das Knie ins Kreuz. Der hat in der Gesäßtasche einen frisch gespitzten Bleistift. Die Spitze bohrt sich mir ins Knie und bleibt stecken. Die Narbe habe ich heute noch, ein Andenken an den Tag, an dem Birdy den Bezirksmeister im Federgewicht schlug. Zwölf zu sechs Punkte sind es schließlich, und Birdy hat noch nicht mal geschwitzt. Vogel ist so sauer, daß er sich die ganze Saison lang um Wiedergutmachung bemüht. Um ein Haar wird er Landesmeister; mit einem Rückstand von zwei Punkten unterliegt er im Finale in Harrisburg.
Wenn man nach dem Sinn fragt, wird alles Wichtige unwichtig, wie im Tod, das ganze Leben scheint ein Nichts. Das Verstehen wird durch das Denken zerstört, nicht zerstört, son-
dern steril gemacht; zum bloßen Wissen destilliert. Durch den Denkprozeß wird alles Verstehen zum bloßen Wissen verwässert.
Alle Anstrengungen, Birdy zu erwischen, sind schließlich umsonst; außer Atem richte ich mich auf und sehe ihn an. Für ihn ist das immer noch ein Spiel. Er will zwar sein Messer wiederhaben, aber er ist nicht wütend auf mich. Ich bin für ihn einfach der verlängerte Arm des Schicksals. Ich hole das Messer heraus. Langsam klappe ich es auf, um ihm Angst einzujagen. In geduckter Haltung stehe ich ihm gegenüber, so als würde ich ihn jetzt umbringen. Er steht nur da und beobachtet mich. Allmählich hab ich den Verdacht, daß ich ihm auch mit dem Messer nichts anhaben könnte, selbst wenn ich das wollte. Wenn ich es werfe, greift er womöglich danach und fängt es in der Luft. Ich fange an zu begreifen, wie komisch die ganze Situation ist. Mario steht immer noch da. Ich werfe das Messer Birdy vor die Füße. Er zieht es aus der Erde, wischt es ab, klappt es zu und geht dann hinüber zu Mario und gibt es ihm. Er sagt, wenn es wirklich sein Messer ist, kann er es behalten. Er sagt, vielleicht hat es Zigenfus gefunden oder gestohlen, und vielleicht hat es schon die ganze Zeit Mario gehört. Ich sage Mario, er soll das Scheißmesser nicht anrühren. Ich nehme es Birdy aus der Hand und gebe es ihm dann wieder. Ich komme mir vor wie General Lee, der seinen Degen aushändigt. Das ist der Moment, in dem mich Birdy fragt, ob ich Tauben mag und mich auffordert, mit ihm in seinen Hof zu kommen und das Taubenhaus anzusehen, das er gerade baut. Mario verdrückt sich und geht nach Hause, Birdy und ich werden Freunde.
– Mann, Birdy, du hättest es zum Landesmeister bringen können, wenn du nur gewollt hättest. Die Knirpse, im Bantamgewicht hättest du spielend aufs Kreuz gelegt. Auch in der Leichtathletik hättest du alle möglichen Rekorde brechen können.
Wir saßen samstags immer auf der gegenüberliegenden Seite der Straße und schauten den Tauben auf dem Gaskessel zu. Birdy hatte sich in einem Pfandhaus ein tolles Fernglas besorgt, und das war für unsere Beobachtungen ideal. Den ganzen Tag saßen wir da, wechselten uns am Fernglas ab und aßen Jumbo-Sandwiches, die wir vorher in der Long Lane kauften. Birdy macht Zeichnungen von Tauben. Birdy zeichnet dauernd Tauben oder irgendwelche anderen Vögel, so wie andere Rennwagen oder Motorräder oder Mädchen zeichnen. Er zeichnet einzelne Federn oder Füße, und er macht Vogelzeichnungen, die wie Baupläne aussehen, voller Pfeile und Draufsichten und Seitenansichten. Wenn er sich vornimmt, eine Taube zu zeichnen, die wie eine Taube aussieht, dann schafft er auch das. Das ist Birdy nämlich auch, ein Künstler. Einmal stehen plötzlich ein paar Bullen vor uns. Sie behaupten, wir guckten mit unserem Fernglas Leuten in die Wohnung, es seien Klagen eingegangen. Die Leute spinnen. Zum Glück hat Birdy eine ganze Ladung von seinen Vogelzeichnungen dabei, und wir sagen, wir arbeiten an einem Projekt für die Schule. Das kann sogar ein Bulle verstehen. Es wird nicht leicht für ihn sein, irgendeiner Dame klarzumachen, weshalb wir lieber Tauben beobachten, anstatt in ihr Fenster zu spähen und ihr beim Pinkeln zuzugucken. In den Taubenschwärmen auf dem Gaskessel sind etliche gute Streuner, und wir wollen uns ein paar holen. Birdy hätte sie höchstwahrscheinlich herbeireden können, aber wir sind
beide ganz scharf darauf, auf den Kessel zu klettern. Es muß bei Nacht passieren, wenn die Tauben schlafen. Es gibt zwar einen Zaun und einen Nachtwächter, aber wir haben uns umgesehen und wissen, wo wir rüber müssen.
Es ist schwer für mich, aber ich muß es tun. Ich muß jeden Vogel umbringen, rupfen und ausweiden, um an den einen Bissen zu kommen. Ich muß es tun. Ich bin hungrig, hungrig nach Erkenntnissen. Das Wissen wirbelt mein Gehirn durcheinander. Für eine Erkenntnis geben wir alles her.
Wir gehen mit unserer Strickleiter auf die Rückseite des Kessels und werfen das Ende mit dem Haken nach oben; dann ziehen wir den unteren Teil der Leiter herab. Ich gehe als erster; jeder von uns hat einen Jutesack für die Vögel. Auch Taschenlampen haben wir dabei, damit wir die Tauben sehen und die auswählen können, die wir haben wollen. Wir klettern ohne Schwierigkeiten nach oben. Die Sicht von dort ist phantastisch; wir erkennen das Turmkino und Lichterketten, die bis nach Philadelphia hineinreichen. Wir sitzen da oben und versprechen uns, daß wir wieder einmal heraufkommen wollen, um den Sternenhimmel anzusehen. Es kommt dann allerdings nie dazu. Scheißgefährlich, auf die Art Vögel zu fangen. Wir müssen uns über den Rand des Kessels beugen und in die Schlitze greifen, wo die Tauben schlafen. Ich versuche es zuerst, während Birdy meine Beine festhält, aber ich schaffe es nicht. Der Kessel fällt zur Kante hin ab, und man muß sich so weit vorschieben, daß beide Schultern über den Kesselrand hängen. Ich kann mich nicht dazu durchringen. Ganz gleich, für wie stark
man sich hält, es gibt einfach Dinge, zu denen man sich nicht zwingen kann. Birdy hat da überhaupt keine Bedenken. Er langt nach unten und gibt mir die Vögel herauf. Wenn es Schrott ist, geb ich sie zurück; die guten stecke ich in den Sack. Wir arbeiten uns um den Kessel herum, und sobald wir Tauben hören, sehen wir nach. Bei der ersten Runde kommen wir auf die Weise zu ungefähr zehn annehmbaren Vögeln. Birdy sagt, in der darunterliegenden Reihe von Schlitzen seien noch gute Vögel zu holen. Er robbt sich nach vorn, bis er praktisch mit dem ganzen Oberkörper über die Kante hängt. Ich setze den Sack mit den Vögeln ab und setze mich auf seine Beine, damit er nicht kopfüber abstürzt. Eigentlich reicht es mir. Es macht mir schon Angst, so nahe am Rand des Kessels auf Birdys Füßen zu sitzen. Er lehnt sich jetzt so weit hinaus, daß er die Vögel nicht mehr nach oben reichen kann; er nimmt deshalb den anderen Sack und steckt die Vögel selber hinein. Wenn Birdy die Wahl trifft, bekommen wir bestimmt eine Menge Ausschuß zusammen, aber wir können sie später ja immer noch freilassen. Während ich mir das überlege, höre ich hinter mir Geräusche, und ein paar Tauben flattern herum. Ich drehe mich um und sehe, wie zwei der Vögel aus dem Sack kommen. Ohne mir dabei etwas zu denken, lehne ich mich zurück, um den Sack wieder zuzumachen. Birdys Beine fliegen vor mir in die Luft und über den Rand des Kessels! Man hört ein aufgeregtes Flattern; Tauben fliegen heraus und verschwinden in der Dunkelheit. Mir ist ganz schlecht vor Angst. Ich warte, vor Schreck wie gelähmt. Ich habe das Gefühl, der ganze Gaskessel schwankt. Nichts tut sich. Auf dem Bauch liegend, krieche ich schließlich nach vorn. Birdy hält sich mit den Händen an den Schlitzen fest. Er hat immer noch den Jutesack über dem Arm. Er blickt zu mir herauf, streckt
mit seinem irren Lächeln die Hand nach mir aus und sägt: »Zieh mich mal rauf, Al.« Ich strecke meine Hand aus, aber ich trau mich nicht weit genug vor, um ihn packen zu können. Ich mache die Augen zu, aber dann wird mir schwindlig, und ich glaube schon, ich stürze ab. Er zieht seine Hand zurück und sucht einen neuen Halt. Er versucht, sich etwas hochzuziehen und ein Bein über den Rand des Kessels zu schwingen, aber es gelingt nicht. Ich fange an, am ganzen Leib zu zittern. »Ich geh und hol jemand, Birdy!« »So lange kann ich mich nicht festhalten. Laß nur, ich schaff das schon.« Er zieht seine Füße bis zur nächsten Querleiste hoch und versucht, eine Hand bis zum Rand des Kessels vorzuschieben. Ich will ihm eine Hand entgegenstrecken, aber ich bin völlig gelähmt. Ich bringe es nicht über mich, noch näher an den Abgrund heranzugehen. Birdy hängt da draußen und streckt seinen Arsch in die Nacht. Ich lege mich flach auf den Bauch und versuche, ihm mit einer Hand so weit wie möglich entgegenzukommen. Wenn er mit einer Hand losläßt, müßte er mich jetzt erreichen können. Birdy sagt: »Wenn ich drei sage, laß ich los, und du packst meine Hand.« Birdy zählt, läßt los und ich schnappe ihn. Jetzt sitzen wir erst recht in der Scheiße. Ich kann nicht ziehen, ohne selbst über den Rand zu rutschen. Wir halten so gerade das Gleichgewicht; sobald er sich bewegt, rutsche ich ein Stückchen weiter auf den Rand zu. Da ist es auch schon passiert, ich hab mir in die Hosen gepinkelt. Gott im Himmel, hab ich Angst. Birdy blickt über die Schulter nach unten. »Ich probier’s einfach mit dem Kohlehaufen.« Ich weiß nicht, was er meint; vielleicht will ich es auch gar nicht wissen.
Mit seiner freien Hand hält er sich den Jutesack vor die Brust, dann läßt er mich los. Für einen kurzen Augenblick hängt er in der Luft, dreht sich um, so daß er dem Kessel den Rücken zukehrt, und dann legt er den Oberkörper nach vorn und stößt sich ab. Ich verfolge seinen ganzen Weg. Er bleibt flach ausgestreckt in der Luft liegen und strampelt mit den Füßen wie ein Schwimmer. Zwischen den ausgestreckten Armen hält er den Jutesack.
Als ich das erstemal flog, spürte ich, daß ich lebte. Nichts drückte sich von unten gegen mich. Ich lebte in der Fülle der Luft; rings um mich nur Luft, kein fester Halt konnte die Lufträume unterbrechen. Es ist jeden Einsatz wert, allein in der Luft zu sein, zu leben.
Birdy kommt tatsächlich bis zu dem Kohlehaufen rüber, und kurz vor der Landung krümmt er sich zu einer Kugel zusammen, wirft sich herum und landet auf dem Rücken. Er bleibt liegen. Ich kann ihn kaum noch sehen, einen weißen Fleck in den schwarzen Kohlen. Es geht tief hinunter. Ich rechne nicht damit, daß er tot ist. Das ist idiotisch, denn bis zu dem Kohlehaufen sind es mindestens dreißig Meter. Ich denke sogar daran, die Tauben mitzunehmen. Ich steige die Leiter hinunter, ohne viel zu denken, ich hab einfach Angst. Ich laufe hinüber zu dem Kohlehaufen. Der Nachtwächter muß geschlafen haben. Birdy hat sich aufgesetzt. Gegen die Kohlen sieht er leichenblaß aus; Blut tropft ihm aus der Nase und in die Mundwinkel. Ich setze mich neben ihn auf den Kohlehaufen. Wir sitzen einfach da; ich weiß nicht, was ich tun soll; ich kann
einfach nicht glauben, daß es passiert ist. Von hier unten wirkt der Kessel noch höher als von oben. Birdy versucht ein paarmal, etwas zu sagen, aber er ist noch zu benommen. Als er schließlich den Mund aufbringt, klingt seine Stimme wie ein Rasseln. »Ich hab’s geschafft. Ich bin geflogen. Es war herrlich.« Es steht jedenfalls fest, daß er von dem Kessel nicht nur heruntergefallen ist. Wäre er nur gefallen, läge er jetzt zerschmettert unten. »Klar Mann, du bist geflogen; soll ich jemand holen?« »Nein, es geht schon wieder.« Birdy will aufstehen. Er wird noch blasser im Gesicht; dann fängt er an sich zu übergeben, und da ist eine Menge Blut. Er sinkt wieder auf den Kohlehaufen und fällt in Ohnmacht. Ich halt es nicht mehr aus vor Angst! Ich renne hinüber zur Hütte des Nachtwächters! Er glaubt mir nicht! Ich muß ihn richtig zu Birdy hinüberschleppen. Er ruft den Notarztwagen. Sie kommen und nehmen Birdy mit in die Klinik. Ich stehe da, mit den Vögeln im Sack. Niemand achtet auf mich. Selbst die Leute vom Krankenwagen glauben nicht, daß er von dem Kessel gestürzt ist; die denken, ich lüge. Auf meinem Heimweg bringe ich unsere Vögel ins Taubenhaus. Ich drücke mich da noch eine Weile rum, hab keine Lust, nach Haus zu gehen. Da passiert so was, und alles, was dir sonst so wichtig vorkommt, zählt nicht mehr viel. Birdy schlurft hinüber in die Ecke, um zu kacken. Ein Klo ohne Deckel, ohne alles. Nicht mal eine Tür davor. Gott im Himmel, was für ein Dreckloch für einen Mann wie Birdy. Ich drehe mich um. Als ich auf den Gang hinausblicke, sieht mich dieser Pfleger oder Wärter oder was immer er ist. Muß ein lausiger Job sein, einen Gang auf- und abzugehen und Verrückte zu überwachen. »Wie geht’s ihm?«
»Er kackt gerade.« Dieser Typ guckt rein. Vielleicht macht es ihm Spaß, anderen beim Kacken zuzugucken. Vielleicht ein Teilzeit-Irrer. Ich frage ihn, ob er Zivilist ist. Man sieht es ihnen nicht an, wenn sie alle diese weißen Kittel anhaben. Er könnte sogar ein beknackter Offizier sein. In einem Lazarett weiß man das nie. Er sagt mir, er sei ein CO. Erst denke ich, er will mich auf den Arm nehmen und mir weismachen, er sei der Chef hier, der »Commanding Officer«. Stellt sich heraus, ein CO ist ein Kriegsdienstverweigerer. Er hat fast den ganzen Krieg in diesem Lazarett gearbeitet. »Wollen wir nicht Mittagspause machen? Ich muß ihn jetzt sowieso füttern.« »Was soll’n das heißen, ›ihn füttern‹; kann er sich denn nicht selber füttern?« »Nichts zu machen. Er ißt nie was, will gefüttert werden. Ich muß ihn mit dem Löffel füttern. Überhaupt kein Problem, da gibt es ganz andere hier. Ich brauch’s nur reinzuschieben. Er hockt am Boden und ich schieb ihm den Löffel rein.« »Heiliger Strohsack! Er ist wirklich übergeschnappt! Er ißt nicht mal was?« »Das ist noch gar nichts. Der Typ überm Gang da zieht keine Kleider an. Hockt mitten in der Zelle wie Ihr Freund hier; aber wenn einer zu ihm rein will, scheißt er sich in die Hand und wirft damit. Mann, da macht das Füttern Spaß. Diese Station hier hat mehr von einem Zoo als von einer Klinik.« Er wirft einen Blick in die Zelle; ich sehe auch rein. Birdy ist fertig. Er kauert wieder an der alten Stelle am Boden, so wie die Tauben, wenn die Hochbahn vorbeigefahren ist. Der Pfleger bringt das Essen auf einem Tablett. Er nimmt den Schlüssel, schließt die Tür auf und geht hinein. Er sagt mir, ich soll draußen bleiben. Er hockt sich neben Birdy und fängt an, ihn zu füttern. Ich kann es nicht glauben! Birdy schlägt tatsächlich
mit den Armen, wie ein Küken bei der Fütterung! Der Pfleger wirft mir einen Blick zu und zuckt mit den Schultern. »Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, daß Doktor Weiss nach dem Mittagessen mit Ihnen sprechen möchte.« »Danke.« Weiss ist der Doktor-Major. Ich seh mir noch einmal Birdy an und gehe dann den Gang hinunter. Ich weiß, wo die Kantine ist; ich hab dort bereits gefrühstückt. Es ist eine richtige Cafeteria, keine übliche Messe; Ärzte und Schwestern essen hier; das Zeug ist gut. Während ich esse, muß ich an Birdy denken, der sich wie ein Taubenjunges füttern läßt. Was zum Teufel kann da bloß passiert sein? Als ich Weiss aufsuche, frage ich ihn, was los ist, aber er ist ein Fuchs und drückt sich um die Antwort. Plötzlich kehrt er den Major heraus, der zum Sergeanten spricht. Dieser Dreckfresser grinst mich an, als sei ich selber nicht ganz richtig im Kopf. Als erstes fragt er mich, was die in Dix oben mit mir machen. Ich erzähle ihm, daß der Kiefer zerschmettert ist und daß sie ein Stück Metall einbauen. Als sie mir das zum erstenmal sagten, dachte ich, ich kriege einen stählernen Kiefer wie Tony Zale. Tatsächlich sagt mir dann der Doktor dort, ich müsse unheimlich aufpassen, bei einem Kinnhaken könnten die Nägel rausgehen, und das könnte mein Gehirn lähmen. Genaugenommen habe ich jetzt also einen Kiefer aus Glas. Ich erzähle Weiss all das Zeug, und dann sehe ich ihn. Er grinst, macht »hmm« und »aha«, nur damit ich weitererzähle. Es kümmert ihn einen Dreck. Ich beschließe bei mir, daß ich ihm nicht zuviel über Birdy erzählen will. Er fragt, wie lange Birdy und ich schon eng befreundet sind. Ich sage ihm, daß wir mit dreizehn Freunde geworden sind. Er fragt das in einer Weise, daß man gleich merkt, er will wirklich wissen, ob wir als Schwule miteinander verkehren; ob wir uns
gegenseitig öfter einen runterholen oder einen blasen. Ich muß ehrlich sagen, von diesen Scheißtypen gibt’s in der Infanterie jede Menge. Wenn du mit dem falschen Kerl vier Stunden im Schützenloch hockst, kannst du ganz schön ins Schwitzen kommen. Ich kann mich tatsächlich nicht erinnern, daß Birdy überhaupt an Sex interessiert war. Ich brauche nur an die ganze Geschichte mit Doris Robinson denken. Wenn er es bei der nicht schaffte, dann ist er ein hoffnungsloser Fall. Vielleicht war er nur auf Vogel scharf. Dieser Quacksalber hier würde glatt ausflippen, wenn ich ihm das sagte. Der Doktor-Major will mich hartnäckig über Birdy ausquetschen. Bei mir ist absolute Funkstille. Wenn er mich wenigstens offen ansehen würde. Er weiß, daß ich mich zurückhalte. Er ist nicht blöd. Ich muß auf der Hut sein. In dem weißen Mantel steckt ein knallharter Offizier. Er kann diesem mickrigen Sergeanten jeden Moment eins aufs Dach geben. Bis jetzt hat er wie ein Doktor geredet, aber ich warte nur darauf, daß er mir wieder mit der alten Militärmasche kommt. Alle Ärzte in der Armee müßten einfache Soldaten sein. Gerade als mir das durch den Kopf geht, rückt er damit heraus: »Okay, Sergeant, Sie gehen heute nachmittag wieder zu ihm und versuchen, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Das ist wahrscheinlich unsere beste Chance. Morgen früh um neun kommen Sie dann wieder hierher.« Er steht auf, um mich wegtreten zu lassen. Ich salutiere vor dem Arschloch und bleibe so lange stehen, bis er den Gruß erwidert. Dreckskerl. Auf dem Weg zurück zu Birdy unterhalte ich mich ein bißchen mit dem Pfleger. Netter Kerl, wahrscheinlich nicht schwul. Ich bringe ihn dazu, über seine Erfahrungen als Kriegsdienstverweigerer zu reden. Er sagt, er hat einige Zeit damit verbracht, beinahe zu verhungern, als man experimentell festzustellen versuchte, mit wie wenig Nahrung ein Mensch
überhaupt existieren kann; dann hat er in einem Wald im Norden Bäume gepflanzt, und seit achtzehn Monaten ist er hier in der Klinik. Er erzählt mir das alles, als ob es einfach so sein müßte. Er ist ein bißchen wie Birdy; man kann ihm kaum weh tun. Die echten Verlierer verlieren nie. Er fragt mich, was mit meinem Gesicht ist, und ich erzähle es ihm. Sein Mitgefühl ist wirklich aufrichtig, nicht wie bei Weiss. Man sieht es seinem Gesicht an und auch an der Art, wie er nach seinem eigenen Kinn tastet, um zu sehen, ob es noch da ist. Er macht Birdys Tür für mich auf, und ich nehme meinen Stuhl, der auf dem Gang steht, und gehe hinein. Birdy kauert immer noch an derselben Stelle und läßt das Fenster nicht aus den Augen.
– He, Birdy! Hab mich grade ausgiebig mit Weiss unterhalten. Der kann einen vielleicht nerven! Wenn ich verrückt wäre, würde ich so tun, als war ich normal, nur um seiner fetten Klaue zu entkommen. Was hältst du denn davon?
Birdy dreht tatsächlich den Kopf in meine Richtung. Er dreht ihn nicht weit genug, um mich sehen zu können; es ist eine halbe Drehung, so wie bei einem Vogel, der mit einem Auge auf etwas blicken will. Natürlich sieht mich Birdy nicht an, er sieht nach wie vor nur die gegenüberliegende Wand.
– Birdy! Weißt du noch, wie wir einfach abgehauen sind, runter nach Wildwood? Ich werd mein Lebtag nicht vergessen, wie du da in den Wellen rumgetobt hast.
Ich habe das Gefühl, Birdy hört zu. Er hat die Schultern gesenkt, so als wolle er einschlafen und nicht etwa gleich losfliegen. Vielleicht ist es auch nur Einbildung, aber ich fühle mich nicht mehr allein. Ich rede weiter. Nach der Sache mit dem Gaskessel war Birdy über einen Monat im Krankenhaus. Es stand überall in den Zeitungen, daß da einer vom Gaskessel gestürzt war und überlebte. Es gab ein Bild, auf dem eine gestrichelte Linie zeigte, wo er abgesprungen war, und ein X, wo er landete. Reporter fragten mich, was eigentlich geschehen sei, und ich hätte nie vom Fliegen reden dürfen. Natürlich kommt die ganze Geschichte mit den Tauben heraus. Birdys Vater reißt das Taubenhaus ein und verbrennt das Holz. Eine Woche lang fliegen die Tauben in der Gegend herum und suchen den Schlag. Sie sind dort heimisch gewesen. Diese ersten Blaubinder fliegen zu Birdys Haus und bleiben dann dauernd in der Nähe, bis seine Mutter sie vergiftet. Ich weiß nicht, was aus der Taubenhexe wird. In der Schule stellen sie mir die gleichen Fragen nach Birdy und seinem Flugversuch. Noch bevor er aus dem Krankenhaus kommt, nennen sie ihn Birdy, den Vogeljungen. Schwester Agnes läßt uns alle Briefe an Birdy schreiben, und wir sammeln Geld, damit wir ihm Blumen schicken können. Ich sage eigentlich nicht viel in meinem Brief; ich erzähle ihm nicht, was mit dem Taubenschlag und den Blaubindern passiert ist. Als Birdy aus dem Krankenhaus kommt, sieht er noch mickriger aus als sonst, und er hat lange Haare. Er ist so blaß wie ein Mädchen. Ich erzähle ihm das mit dem Taubenschlag, sage aber kein Wort von den vergifteten Blaubindern. Er fragt auch nicht danach. Wir sind im achten Schuljahr; Birdy holt das Versäumte auf und schafft den Abschluß mit uns.
Nach dem Gaskessel wußte ich, ich mußte fliegen. Ohne große Überlegungen schiebt ein Vogel in einem Augenblick alles beiseite, allein mit einem kurzen mühelosen Flügelschlag. Ich hätte alles dafür hergegeben, um das zu lernen. Ich sagte mir, wenn ich Vögeln nahekommen und an ihrem Vergnügen teilhaben konnte, dann wäre das fast genug. Wenn ich Vögel so genau verfolgen könnte, wie man einen Film verfolgt, und mich in sie hineinversetzen könnte, dann würde ich etwas davon lernen. Wenn ich einem Vogel als Freund nahekommen und dabeisein könnte, wenn er fliegt, und spüren könnte, was er denkt, dann würde ich in gewissem Sinne fliegen. Ich wollte alles über Vögel wissen. Ich wollte wie ein Vogel sein, und ich wollte immer noch fliegen; richtig fliegen.
In dem Sommer hauen Birdy und ich ab. Einfach so, ohne daß wir es vorher planen. Wir fahren immer nach Philadelphia und zum Parkway runter. Wir fahren da mit dem Fahrrad hin und gucken uns im Kunstmuseum, im Aquarium und im FranklinInstitut um. In einem Haus an der Cherry Street haben sie einen Raum voller Vogelbilder. Die sehen wir uns oft an. Birdys Bilder sind besser. Birdy sagt, Künstler wissen nicht viel von lebenden Vögeln. Er sagt, ein toter Vogel ist kein Vogel mehr; es ist so, wie wenn einer die Asche anschaut und ein Feuer zeichnen will. Wir fahren auch zur South Street und zur Front Street runter, wo es Pfandhäuser und Feinkostläden gibt, die lebende Hühner und Tauben verkaufen. Einmal kaufen wir ein paar fette Tauben. Wir verbringen den ganzen Tag in diesen Läden, bis wir sie schließlich haben. Wir gehen mit ihnen hinüber zum Rathaus, wo es ein paar mächtige Taubenschwärme gibt. Wir ziehen aus jedem Flügel eine Feder, stecken die Federn in unsere Hemdentaschen und werfen die Vögel in die Luft zu
den anderen. Den ganzen Nachmittag verfolgen wir ihre Versuche, sich dem Schwarm anzuschließen. Ich zeige Birdy, wie man sich hinstellen muß, damit das große Standbild Billy Penns oben auf dem Rathaus so aussieht, als habe er einen gewaltigen Steifen. Wir amüsieren uns herrlich mit den Tauben auf dem Rathausplatz; jedesmal wenn irgendwelche Frauen vorbeikommen, zeigen wir nach oben zu Billy Penn, und sie schauen hinauf und sehen den alten Billy mit seinem strammen Pimmel. Eines Tages nehmen wir uns vor, mit unseren Fahrrädern über die Brücke und nach New Jersey hineinzufahren. Wir fahren also rüber und gucken uns in Camden um. Eigentlich wollen wir noch am selben Nachmittag zurück, aber dann sehen wir ein Schild, auf dem Atlantic City steht. Wir haben unsere ganze Barschaft dabei, Geld, das wir mit dem Verkauf von Tauben verdient haben: dreiundzwanzig Dollar. Normalerweise haben wir es in dem Loch, in dem auch unsere Strickleiter versteckt ist, aber diesmal haben wir es dabei. Auf irgendwelchen Nebenstraßen machen wir uns auf den Weg nach Atlantic City. Wir wissen jetzt, was wir vorhaben, und halten nach Bullen Ausschau. Wir wollen uns aufs Ohr hauen, bevor es dunkel wird. In dieser Nacht schlafen wir in einem Tomatenfeld. Es ist Sommer, aber es ist kalt. Wir essen jeder etwa zehn Tomaten; dazu gibt es Brot und Coca Cola, die wir in einem Laden in Camden eingekauft haben. Beim Aufwachen am nächsten Morgen sind wir starr vor Kälte. Ich spiele mit dem Gedanken, umzukehren. Birdy will weiter ans Meer; er hat es noch nie gesehen. Seine Leute sind noch ärmer als meine, und sie haben kein Auto. Mich schlagen sie sowieso schon halbtot, weil ich über Nacht weggeblieben bin, also was soll’s. Was können sie
mir schon tun? Der alte Vittorio kann mich höchstens verprügeln; totschlagen kann er mich nicht. Noch am Nachmittag sind wir in Atlantic City. Wie Birdy das Meer sieht, dreht er völlig durch. Ihm gefällt einfach alles: das Rauschen und der Geruch und die Seemöwen. Direkt am Wasser rennt er hin und her, und seine Arme bewegen sich auf und ab wie Flügel. Zum Glück ist es spät am Nachmittag, da gucken nicht viele Leute zu. Dann legt Birdy richtig los, rennt, fliegt, springt ins Wasser. Er ist voll angezogen. Gleich die erste Welle haut ihn um. Er wird vom Sog erfaßt und abgetrieben. Ich denke noch, jetzt ertrinkt er, doch da steht er schon wieder, klatschnaß, lacht wie ein Verrückter und wird gleich wieder von einer Welle umgerissen und überspült. Ein normaler Mensch hätte das nicht überlebt. Er rollt und wirbelt durch das Wasser und stürzt sich immer wieder in die Wellen. Ein paar Mädchen schauen nun zu und lachen. Birdy kümmert sich nicht darum. Als er herauskommt, läßt er sich in den Sand fallen und fängt an zu rollen. Er rollt und rollt, bis er wie ein lebloser Sack wieder unter Wasser und tief in die Wellen gerät. Er wird wie ein Baumstamm oder eine Leiche in der Brandung hin- und hergeworfen. Schließlich muß ich ihn herausziehen. Himmel noch mal, es wird allmählich spät, und jetzt sind seine Kleider triefend naß. Birdy kümmert sich nicht darum. Wir schieben unsere Räder die Uferpromenade entlang zum Steel-Pier. Es macht uns einen Riesenspaß, so viele Hot dogs zu kaufen, wie wir wollen, und alles auszuprobieren, was es da an Karussells und ähnlichem gibt. Zum Abendessen kaufen wir uns eine Einkilopackung Salzwasserbonbons und suchen uns ein verlassenes Plätzchen am Strand. Wir finden eine gute Stelle mit warmem Sand und graben uns ein.
Ich erzähle Birdy, daß seine Mutter die Blaubinder vergiftet hat. Wir beschließen, nicht nach Hause zu gehen und auch nicht zu schreiben, wo wir sind. Wozu auch, die alte Dame beklagt sich sowieso immer, weil ich ihr zuviel esse; die Sorge hat sie jetzt nicht mehr. Ich hab’s auch satt, daß mich mein Alter dauernd anscheißt. Birdy sagt, nach dem Sturz vom Gaskessel kommt das Schwimmen im Meer wahrscheinlich dem Fliegen am nächsten. Er sagt, er will schwimmen lernen. So wie Birdy hat noch keiner schwimmen gelernt. Er will nicht an der Wasseroberfläche schwimmen, so wie andere Leute. Er watet hinaus und taucht unter die Wellen, um »im Wasser zu fliegen«, wie er es nennt. Er hält die Luft an, bis man glaubt, er sei ertrunken, und taucht dann, als wäre er ein verdammter Delphin oder so was, an irgendeiner Stelle auf, wo man ihn überhaupt nicht erwartet. Möglichst lange die Luft anzuhalten, das ist jetzt sein neuer Tick.
Im Wasser war ich frei. Mit einer kleinen Bewegung konnte ich aufsteigen und mich ohne Anstrengung in alle Richtungen bewegen. Aber es war langsamer, dichter, dunkler. Ich konnte nicht bleiben. Wenn ich mich auch noch so sehr anstrengte, ich konnte nicht länger als fünf Minuten bleiben. Wir haben das Wasser hinter uns gelassen. Die Luft ist die natürliche Umgebung des Menschen. Auch wenn wir gezwungen sind, in ihren untersten Schichten zu leben, so leben wir doch in der Luft. Wir können nicht zurück. Dies ist das Zeitalter der Säugetiere und Vögel. Einhundert Milliarden Vögel, fünfzigmal soviel wie Menschen, doch niemand scheint davon Notiz zu nehmen. Wir leben im Schlamm einer Grenzenlosigkeit, und niemand wehrt sich dagegen. Wie muß unsere Versklavung den Vögeln in der Größe ihrer Umgebung vorkommen?
Wir entschließen uns, die Küste hinunter nach Wildwood zu fahren. Das ist der Ort, den meine Familie gewöhnlich jeden Sommer aufsucht. Atlantic City ist größer, aber Wildwood ist offener, natürlicher. Wir fahren also die Küste entlang, immer noch auf der Hut vor Bullen. Es ist ein tolles, befreiendes Gefühl, wenn du nicht in irgendein Haus zurück mußt, wenn dich niemand zum Essen erwartet, wenn du nichts tun mußt; du läßt einfach dein Rad laufen und guckst dir die Gegend an. Ich hab gar nicht gewußt, wie sehr ich mich bisher von allem habe einschnüren lassen. Unterwegs wollen wir nachts am Strand schlafen und die Tage in der Sonne verbringen. Was wir unbedingt brauchen, wollen wir uns in den Läden zusammenklauen. Und hinter den Restaurants gibt es genügend Mülltonnen; da werden wir schon was zu essen finden. Bei der Heilsarmee wollen wir uns zwei alte Decken kaufen und außerdem einen Kochtopf, damit wir uns unter dem Plankenweg am Ufer etwas kochen können. Es läuft alles genau nach Plan, das erlebt man nicht oft. Als wir erst mal die Decken und den Kochtopf haben, geben wir nur noch für die Karussellfahrten und die Salzwasserbonbons am Abend Geld aus. Wir werden richtig süchtig nach diesen Bonbons. Wir mögen beide die Sorte mit roten oder schwarzen Streifen und einem ausgeprägten Geschmack. Wir haben keine Probleme mit Bullen. Alle möglichen Leute verbringen da ihre Ferien, zwei fremde Jungs fallen da gar nicht auf. Wir haben uns unten, wo der Plankenweg nur etwa einen Meter über dem Sand verläuft, ein Versteck eingerichtet. Da schlafen wir bei Nacht, in unsere Decken eingewickelt, und tagsüber ist unser Kochtopf im Sand vergraben. Birdy dreht fast durch mit seinen Schwimmversuchen. Den ganzen Tag übt er sich im Luftanhalten, auch wenn er nicht im
Wasser ist. Wir sitzen einfach so da, und während ich noch mit ihm rede, sehe ich, wie seine Augen hervortreten, und dann stößt er die Luft aus und sagt: »Zwei Minuten und fünfundvierzig Sekunden.« Manchmal bittet er mich, für ihn zu zählen. Ich muß dann sagen: »Mississippi eins, Mississippi zwei«, und so weiter; echt bescheuert. Den ganzen Tag ist er im Wasser, um zu »fliegen«, und er taucht nur in großen Zeitabständen auf und holt tief Luft. Er hat die örtliche Bücherei entdeckt und liest alles über Wale und Tümmler und Delphine. Er ist wie besessen. Wenn Birdy mit so was anfängt, ist alles zu spät. Am schlimmsten ist dieses Monstrum auf dem Rummelplatz, genannt »Zimmy, der menschliche Fisch«. Birdy gibt ein Vermögen aus, um diesem Typ zusehen zu können. Es ist wirklich eine gruselige Schau. Zimmy haben sie die Beine ganz oben abgehackt, so daß er aussieht wie ein Ei mit einem Kopf und mit Armen. Er ist fett und hat gewaltige Lungen. Er sitzt in einer Art Schwimmbecken mit Glasfront, wie in einem Aquarium, und die Leute stehen vor der Glasscheibe und sehen zu, wie er seine Tricks vorführt. Dieser Typ ist Birdys großer Held. Zimmy kann nämlich bis zu sechs Minuten unter Wasser bleiben, ohne zu atmen, und dabei zeigt er seine Tricks, Zigarettenrauchen und so. Ich hab das Zusehen bald satt und geh deshalb in die Bude gleich neben Zimmy. Zwei Verrückte fahren mit dem Motorrad in einem Kessel aus Holz herum. Es ist ein richtiges Rennen. Irre. Dann gibt es auch eine Frau, die in ein Motorrad mit Seitenwagen steigt, und dann bekommt sie noch einen großen zotteligen Löwen mit auf die Fahrt. Sie bringt das Motorrad auf Touren und rast dann in dem Kessel herum, wobei sie sich weit hinauslehnt, und der Löwe brüllt pausenlos. Schon erstaunlich, was die Leute alles tun. Sie haben in der Schau auch einen jungen Burschen, der auf seinem Motorrad herumturnt – er macht auf dem Lenker einen Handstand, so daß er bei der
Fahrt um den hölzernen Kessel waagrecht in der Luft hängt. Er hat gewaltige Deltamuskeln, und seine Unterarme sind voller Tätowierungen. Ein verdammt harter Brocken, den so leicht keiner aufs Kreuz legt. Abends fahren Birdy und ich immer Karussell und Achterbahn und so weiter. Birdy fährt überall da mit, wo man in die Luft geschleudert wird. Es gibt da eine Art Karussell, wo man erst langsam und dann immer schneller herumgewirbelt wird, bis man kopfüber in der Luft hängt, ohne daß einen irgend etwas auf dem Sitz festhält. Dabei kreischen alle, nur Birdy nicht. Er sitzt einfach da und grinst still in die Gegend. Ich fahre einmal mit, das reicht mir. Ein anderes Mal messe ich meine Kraft an einem dieser Apparate, wo man einen Vorschlaghammer schwingt und versucht, ein Glöckchen zum Läuten zu bringen. Bei mir läutet es dreimal nacheinander, und ich gewinne einen kleinen Teddybär. Dabei schauen uns zwei nette Mädchen zu, und ich gebe einer von ihnen meinen Preis. Wir kommen ins Gespräch, sie sind aus Lansdowne. Birdy steht herum und langweilt sich. Ich überrede sie dazu, mit uns Achterbahn zu fahren. Die eine ist rothaarig und hat bereits hübsche kleine Titten unter dem Pullover. Die andere ist ruhiger, eher der Typ für Birdy, falls es für Birdy überhaupt einen Mädchentyp gibt. Auf der Achterbahn halte ich ihre Hand, die in ihrem Schoß liegt, irgendwie zwischen die Beine geklemmt. Ich spüre das weiche Fleisch unter ihrem Kleid. Ich lege ihr den Arm um die Schulter, und sie lehnt sich mit dem Kopf an mich. Während es rumpeldirumpel steil nach oben geht, damit die große Talfahrt folgen kann, schaue ich mich nach Birdy und seinem Mädchen um. Er beugt sich über den Rand hinaus und blickt nach unten, und sie blickt geradeaus und umklammert die eigene Hand in ihrem Schoß. Sie lächelt mir zu; Birdy merkt nichts davon.
Vielleicht denkt er sogar daran, aus dem Wagen zu klettern und zu springen. Birdy würde ich alles zutrauen. Hinterher lassen sie sich zu einem Strandspaziergang überreden, und wir gehen mit ihnen zu unserem Versteck. Wir holen die Decken heraus und breiten sie aus. Die Mädchen werden nervös. Sie sind mit ihren Eltern hier und müssen um zehn Uhr zurück sein. Ich frage Birdy, wieviel Uhr es ist; er blickt nach oben und sagt, es ist Viertel nach neun. Ich hab noch nie erlebt, daß sich Birdy in der Zeit irrt. Birdys Mädchen ist nervöser als meines. Sie will sofort aufbrechen. Mein Mädchen, sie heißt Shirley, sagt, vielleicht sollten Birdy und Claire – das ist das andere Mädchen – zu der Uhr am Parkplatz hinuntergehen und nachsehen, wie spät es denn wirklich ist. Dabei sieht sie mich an, und jetzt bin ich es, der langsam nervös wird. Ich hab einen Ständer, und ich sehe große Dinge auf mich zukommen. Sobald sie gegangen sind, legen wir uns auf die Decke und machen uns gleich ans Knutschen. Sie öffnet den Mund und schiebt mir ihre Zunge zwischen die Lippen. Ich fange gerade an, mich unter ihrem Kleid hochzutasten, bäng, da ist es mir auch schon gekommen. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen, aber sie weiß es bestimmt. Wir küssen uns zwar immer noch, aber es ist nicht mehr wie vorher. Sie nimmt meine Hand und schiebt sie unter ihren Pullover. Ich berühre ihren BH und spüre die kleine Brustwarze darunter, ganz hart. Sie sieht sich rasch um, greift nach hinten und macht ihren BH auf. Ich hab auf einmal die ganze Titte in der Hand. Himmel Arsch, ich krieg schon wieder einen Ständer. Genau in dem Augenblick hören wir Birdy und Claire. Shirley fährt zurück und hakt den Verschluß wieder zu. Sie fährt sich durch die Haare und steht auf. Auch ich stehe auf. »Es ist fast halb zehn, Shirley. Wir müssen heim.« Claire bleibt am Plankenweg stehen, während sich Birdy auf der Decke ausstreckt, auf der eben Shirley und ich lagen.
»Meinetwegen, du Spielverderberin. Wiedersehn, Al. Bis dann, Birdy. Vielleicht morgen abend gegen acht, beim Karussell, okay?« Ich sage: »Okay«, und sie gehen. Ich zittere immer noch, und meine Unterhosen sind voll klebriger Schmiere. Ich geh zum Wasser runter, als müsse ich pinkeln. Ich wische mich ab. Ein solches Mädchen hab ich noch nie gekannt. Wir treffen uns noch ein paarmal, bevor sie abreisen. Birdy findet das alles langweilig, und Claire findet Birdy langweilig, aber Shirley und ich, wir steigen voll ein. Einmal, als wir wieder auf der Decke liegen, stoße ich mit einem Finger unter ihr Höschen vor. Ich spüre ihren kleinen Schlitz und lasse meinen Finger hineingleiten. So weit war ich noch nie, aber sie stößt mich weg, und damit hat sich’s. Als die Mädchen fort sind, hält mich eigentlich auch nichts mehr, aber Birdy ist immer noch aufs Schwimmen versessen. Ich schwimme zwar auch ein bißchen, aber Birdy ist den ganzen Tag im Wasser. Er macht so lange, bis er völlig erschöpft ist, und blau vor Kälte. Dann kommt er heraus und legt sich mit dem Gesicht nach unten in den Sand; sobald er zu Atem gekommen ist, geht er zurück ins Wasser. Es sieht mir nicht so aus, als ob ihm das alles Spaß macht, aber er grinst pausenlos übers ganze Gesicht. Obwohl er ganz normal schwimmt, redet er vom »Fliegen«. Typisch Birdy. Nun, nach ein paar Wochen geht uns das Geld aus, und wir entschließen uns, die Fahrräder zu verkaufen. Und da machen wir unseren großen Fehler. Wir gehen in eine Fahrradhandlung, und während wir noch verhandeln, sehe ich, wie die Frau nach hinten geht und telefoniert, aber ich denke mir nichts dabei. Der Mann feilscht mit uns vorne im Laden um den Preis, und als wir gerade aufgeben und wieder gehen wollen, kommen zwei Bullen zur Tür herein.
Sie nehmen uns mit auf die Wache; die Fahrräder bleiben in dem Laden zurück. Zuerst sagen sie, wir hätten die Räder gestohlen, und wir sollen mit irgendwelchen Papieren beweisen, daß sie tatsächlich uns gehören. Wer zum Teufel hat schon mal von Fahrradpapieren gehört? Dann finden sie uns auf der Liste der Ausreißer. Birdys alte Dame hat uns verpfiffen. Dabei hatten wir beide nach Hause geschrieben und gesagt, daß es uns gut geht und daß wir rechtzeitig zum Schulbeginn wieder zu Hause sind. So eine Beißzange. Nun, es endet damit, daß sie uns mit der Bahn nach Hause schicken, erster Klasse und in Begleitung eines doofen glatzköpfigen Bullen. Er genießt das alles, geht zum Essen in den Speisewagen und so weiter. Unsere Eltern lassen sie zweiundneunzig Dollar blechen, die Fahrräder sehen wir nie wieder. Mein Alter schlägt mich krumm und lahm. Mit seinem großen Ledergürtel jagt er mich kreuz und quer durch den Keller; er verprügelt mich mit dem Gürtel, versetzt mir Fausthiebe, tritt mit den Füßen nach mir – er will mich nur treffen, egal wie. Die alte Dame steht oben auf der Kellertreppe und schreit: »Vittorio, VITTORIO! BASTA VITTORIO!« Der alte Vittorio wird sich erst zufriedengeben, wenn er mich umgebracht hat. Schließlich bleibt mir nichts anderes mehr übrig, als mich auf dem Boden zusammenzurollen und so zu tun, als sei ich tot. Viel fehlt da ohnehin nicht mehr. Am Boden liegend schwöre ich, in meinem ganzen Leben werde ich nie wieder zulassen, daß mich jemand so verprügelt. Irgendwie werde ich es schaffen, eines Tages auch Vittorio so zu vermöbeln. Ich tu das noch, bevor er zu alt ist, es zu kapieren, und wenn es mich umbringt. Ich liege zusammengekrümmt am Boden, die Hände über Augen und Ohren, und er drischt auf mich ein, und dabei denke ich so was. Himmel Arsch, ist das vielleicht beschissen!!
Acht Tage liege ich im Bett. Ich sehe aus, als sei ich von drei Gaskesseln gestürzt. Ich bin am ganzen Leib blau und grün, und alles tut weh. Am meisten tut’s im Innern weh. Die alte Dame läßt mich nicht aus dem Haus, bis mein Gesicht wieder einigermaßen abgeschwollen ist. Vittorio, der Drecksack, ist verdammt stark. Ist ja auch kein Wunder, wenn man den ganzen Tag große Nähte lötet und Sechszollrohre zuschneidet. An meinem sechzehnten Geburtstag lege ich das Schwein aufs Kreuz.
Sie ist so schön; sie ist alles, was ich mir vorgestellt habe, alles, was ich sein möchte. Sie kann unmöglich mir gehören, sie gehört mir eigentlich nicht, sie ist nur bei mir. Wenn sie keine Lust hat, hierzubleiben, lasse ich sie gehen. Ich möchte, daß sie mich liebt. Ich möchte, daß wir uns ganz nahe sind, so nahe, wie zwei Lebewesen einander nur sein können. Wie nahe können wir uns kommen? Als Al und ich das Geld endlich zurückgezahlt hatten, sagte mein Vater, ich darf einen Vogel in meinem Zimmer halten, solange ich meine Schulaufgaben mache und im Haushalt mithelfe. Eine Taube kann ich im Haus nicht halten, also entscheide ich mich für einen Kanarienvogel. Zuerst lese ich über Kanarienvögel alles, was ich nur finden kann. Ich erfahre, daß die Kanarienvögel ursprünglich aus Afrika gekommen und auf den Kanarischen Inseln gestrandet sind. Sie waren dunkelgrün. Man schätzt den Kanarienvogel, weil er singen kann. Allerdings singt nur das Männchen. Das Weibchen sieht zwar genau so aus wie das Männchen, kann aber nicht singen. Es wird nur zu Zuchtzwecken im Käfig gehalten. Das scheint den Weibchen gegenüber nicht fair. Ich mag Kanarienvögel wegen ihrer Art zu fliegen. Die Flugbewegungen des Kanarienvogels sind wellenförmig. Er steigt auf, bleibt einen Augenblick fast stehen, schwingt dann ab, steigt wieder auf bis zum Beinahe-Stillstand, und wieder geht’s nach unten. Es ist, als schwinge sich Tarzan von Baum zu Baum, nur daß die Lianen fehlen. So möchte ich auch fliegen können. Unten bei der Cosgrove-Scheune finden sich immer ein paar Finken. Mit meinem Fernglas habe ich beobachtet, daß sie auch auf diese Weise fliegen. Ich könnte nie einen wilden Vogel in einem Käfig halten. Wenn ein Vogel erst mal weiß, wie es sich unter freiem Himmel fliegt, könnte ich ihn nicht mehr einsperren. Ich weiß, ich muß
einen in einem Käfig zur Welt gekommenen Vogel kaufen, einen Vogel, dessen Eltern, Großeltern, Vorfahren nur in Käfigen gelebt haben. Es gibt viele Arten von Kanarienvögel. Da sind zum Beispiel die »Schmetterer«, die einen sehr lauten Gesang haben; dabei ist ihr Schnabel offen, und sie beenden jeden Ton dadurch, daß sie den Schnabel zumachen. Andere nennt man »Roller«. Sie singen mit geschlossenem Schnabel, tief im Hals. Es gibt verschiedene Arten von Schmetterern und Rollern, und es gibt Gesangswettbewerbe. Man kennt auch verschiedene Formen und Größen von Kanarienvögeln; manche haben eine so eigenartige Gestalt, daß sie kaum fliegen können. Ich entscheide mich für den Kauf eines jungen Weibchens, denn die sind nicht so teuer. Mich interessiert das Fliegen und nicht das Singen. Ich kaufe mir eine Vogelzeitschrift, die jeden Monat erscheint; darin stehen die Anschriften von Leuten, die Vögel verkaufen. Ich fange an, mir die Vogelhäuser aller Kanarienzüchter anzusehen, die ich finden und per Fahrrad erreichen kann. Ich brauche zwei Monate, bis ich sie gefunden habe. Sie lebt in einem großen Vogelhaus auf dem Grundstück einer Frau namens Mrs. Prevost. Mrs. Prevost ist dick und hat kleine Füße. Hinter ihrem Haus stehen mehrere Vogelhäuser, und auf der Sonnenterrasse hat sie Käfige für die Aufzucht. Sie macht sich kaum etwas aus dem Gesang oder der Färbung ihrer Vögel oder aus der Art und Weise, wie sie fliegen. Ich glaube auch nicht, daß sie sie in erster Linie zum Geldverdienen züchtet. Sie mag einfach Kanarienvögel. Sie betritt das Vogelhaus und all die Vögel kommen heruntergeflogen und landen auf ihren Armen oder auf ihrem Kopf. Sie hat die Vögel dressiert und hat einige, die kleine Leitern rauf- und runterhüpfen oder Glöckchen läuten, wenn sie gefüttert werden wollen. Einige kann sie auch auf einer Sitzstange
aus dem Käfig herausnehmen. Sie fliegen nicht weg, selbst wenn sie die Stange hin- und herschwingt. Mrs. Prevost sieht sich erst sorgfältig nach Katzen und Falken um, bevor sie einen Vogel herausholt. Sie ist großartig, sie könnte im Zirkus auftreten. Mrs. Prevost läßt mich im Vogelhaus sitzen und ihren Vögeln zusehen, solange ich will. Und dort in ihrem Vogelhaus komme ich zu dem Schluß, daß mir Kanarienvögel besser gefallen als Tauben. Es liegt vor allem am Geräusch der Flügel. Taubenflügel pfeifen und hören sich irgendwie knisternd und steif an. Die Flügel von Kanarienvögeln sind praktisch lautlos; man hört höchstens ein Geräusch, das auch entsteht, wenn man einen Fächer ruckartig durch die Luft zieht, wenn also plötzlich die Luft zusammengedrückt wird. Über einen Monat lang sitze ich jeden Samstag bei den Weibchen im Vogelhaus. Mr. Prevost sehe ich nie. Wenn es kalt ist, bringt mir Mrs. Prevost eine Thermosflasche voll Tee. Manchmal zieht sie einen Mantel an und setzt sich zu mir. Sie macht mich auf verschiedene Vögel aufmerksam und erzählt mir, welches die Eltern sind und wie viele im Nest waren und welche sich im Drahtgitter verfingen oder so krank waren, daß sie sie retten mußte. Sie sagt mir, welche sie brüten lassen will und warum sie gerade diese auswählt. Sie will im kommenden Jahr dreißig Weibchen brüten lassen. Sie verwendet sie in der Zucht, weil sie einfach gute Mütter sind oder von guten Müttern abstammen. Sie versucht nicht, etwas Besonderes heranzuzüchten, sie will nur mehr Kanarienvögel. Mrs. Prevost würde bestimmt eine gute Mutter abgeben, aber sie hat keine Kinder. Ich habe sie nicht gefragt, sie hat es mir gesagt. Sie zeigt mir eines ihrer Weibchen, das sechs Jahre alt ist und über sechzig Vögel ausgebrütet hat. Dieses Weibchen kommt und setzt sich auf Mrs. Prevosts Finger. Mrs. Prevost setzt sie eines Tages mir auf den Finger. Dort sitzt sie ein paar
Minuten, während sich Mrs. Prevost herunterbeugt und mit ihr redet. Mrs. Prevost redet mit ihren Vögeln. Sie piept nicht, und sie pfeift nicht; sie redet einfach leise auf sie ein, so wie man mit einem Kleinkind reden würde. Mrs. Prevost haßt Katzen und Raubvögel. Sie liegt ewig im Krieg mit ihnen. Immer wieder kommen streunende Katzen, die sich leichte Beute erhoffen. Sie hat es mit einer Umzäunung versucht, aber Katzen lassen sich davon nicht abhalten. Sie sagt, sie bringt es nicht übers Herz, sie zu vergiften. Ein paarmal sitzen Katzen vor dem Vogelhaus; sie beobachten, wie die Vögel umherfliegen, und ihre Köpfe bewegen sich ständig mit. Dann kommt Mrs. Prevost auf ihren winzigen Füßen aus dem Haus gestürzt, um sie zu verscheuchen. Ich sage ihr, sie sollte sich einen Hund anschaffen. Einmal kommt eine der Katzen ans Vogelhaus und merkt nicht, daß ich drinsitze. Ein Vogel hat bestimmt fürchterlich Angst, wenn ihn eine Katze mit dem schmalen Schlitz in ihren grünen Augen beobachtet und dazu ständig ihren Schwanz hinund herbewegt. Diese hier verliert nach einer Weile die Geduld und wirft sich gegen das Drahtgeflecht. Mit aufgerissenem Maul hängt sie in den Maschen, und spitzige Zähne ragen aus dem schmalen rosaroten Gaumen. Die scharfen Klauen umkrallen den Draht. Ich bin fast froh darüber, kein Vogel zu sein. Ich sah Birdie gleich am ersten Tag, als ich in dem Vogelhaus saß. Ich geh tatsächlich immer wieder hin, nur um sie zu beobachten, aber das sage ich Mrs. Prevost nicht. Die Höhe des Vogelhauses übertrifft sowohl seine Breite als auch seine Länge. Birdie ist der einzige Vogel, der im oberen Teil des Vogelhauses umherfliegt. Die anderen fliegen von Stange zu Stange oder hinunter auf den Boden, um zu fressen, aber Birdie liegt schräg in der Luft und fliegt Kreis um Kreis. So ähn-
lich würde ich mich auch verhalten, wenn ich ein Vogel wäre und in diesem Käfig lebte. Birdie ist sehr neugierig. Oben im Vogelhaus hängt eine Schnur, nicht länger als fünf Zentimeter. Birdie muß sich auf den Rücken drehen, um daran ziehen zu können, und da hängt sie oft minutenlang und zieht und zerrt und gibt sich alle Mühe, dranzubleiben und mit ausgebreiteten Flügeln das Gleichgewicht zu halten und die Schnur loszumachen. Das ist noch etwas, was mir bei Kanarienvögeln besser gefällt als bei Tauben. Tauben sind viel am Boden und gehen hin und her. Sie schwingen ihre kurzen Leiber vor und zurück, wie Enten, und machen mit ihren kurzen Beinen Schritt um Schritt, und in der Balz richten sie sich manchmal auf und machen kurze Stechschritte wie ein marschierender Soldat. Kanarienvögel gehen nie. Wenn sie sich auf dem Boden bewegen, hüpfen sie. Meistens begleiten sie den Hüpfer mit einem kurzen Flügelflattern. Dadurch wirken sie so unabhängig. Sie hüpfen erst hierhin, dann dorthin. Ich habe beobachtet, daß Wanderdrosseln sowohl laufen als auch hüpfen, aber Kanarienvögel gehen nie. Manchmal hüpft Birdie kreuz und quer durch den Käfig. An einer Stelle liest sie ein kleines Steinchen auf und trägt es an eine andere Stelle. Mit dem Schnabel gräbt sie im Sand. Nicht daß sie etwas herausholt, sie gräbt einfach. Es ist, als habe sie eine Art Vogelhaushalt zu versorgen. Manchmal duckt sie sich und peilt dann mit einer einzigen Bewegung die höchste Sitzstange an. Das erfordert ein sorgfältiges Zielen, denn es gibt dort jede Menge Stangen. Mrs. Prevost bringt überall Sitzstangen an; daß Vögel viel Platz und freie Bahn zum Fliegen haben, ist ihr nicht so wichtig. Birdie fliegt zwischen den Stangen durch, als wären die gar nicht da. Sie ist wunderbar.
Ich gehe in die Stadt und stöbere so lange in Trödelläden, bis ich einen Vogelbauer finde. Er kostet fünfundzwanzig Cents. Zu Hause richte ich ihn her. Zuerst kratze ich die ganze Farbe und den Rost ab. Zwei Gitterstäbe sind abgebrochen; ich repariere sie. Ich glätte und putze den Bodenteil. Die Futterund Wasserbehälter koche ich aus. Es ist kein großer Vogelbauer, vierzig Zentimeter breit, achtzig lang und fünfzig hoch. Die Vorstellung, daß die arme Birdie den großen Käfig und ihre Freunde verlassen und in diesen kleinen Bauer ziehen soll, gefällt mir gar nicht. Irgendwie werde ich das wiedergutmachen, das weiß ich. Als alles sauber ist, streiche ich den Käfig weiß an. Nach dem zweiten Anstrich sieht er wieder aus wie neu. Unten lege ich eine Zeitung rein, und darauf kommt etwas Vogelsand. Ich kaufe Roller-Mischfutter und fülle die eine Schale damit und schütte frisches Wasser in die andere. Es ist so weit, Birdie kann kommen. Ich transportiere sie auf meinem Fahrrad, in einer Schuhschachtel, in die ich seitlich Löcher gebohrt habe. Ich höre, wie sie da drin umherrutscht, weil sie auf dem glatten Boden der Schachtel keinen Halt findet. Ich frage mich, was ein Vogel wohl denkt, wenn sich plötzlich sein ganzes Leben so drastisch verändert. Birdie ist kein Jahr alt, und sie hat ihr ganzes Leben entweder im Nest oder im Zuchtkäfig oder im Vogelhaus mit anderen Vögeln zugebracht. Jetzt findet sie sich in einer dunklen Schachtel ohne Sitzstangen, sie kann nichts sehen und nicht fliegen. Ich rase nach Hause, so schnell es geht. Zu Hause gehe ich durch den hinteren Eingang und über die hintere Treppe direkt auf mein Zimmer. Ich möchte sie keinem zeigen. Ich schneide vorsichtig ein Loch in die Breitseite der Schachtel und halte dann das Loch gegen die Käfigtür. Schon nach ein paar Sekunden hüpft sie in den Käfig. Sie landet auf dem
Boden und bleibt breitbeinig stehen. Sie sieht sich um. Sie kommt mir noch schöner vor als im Vogelhaus. Ich will ihr keine Angst machen und gehe deshalb rückwärts auf die andere Seite des Zimmers, wo ich mein Fernglas habe. Ich drehe den Stuhl herum und benutze die Stuhllehne als Auflage für das Fernglas, damit meine Arme nicht ermüden, während ich sie beobachte. Nach ein paar kleinen Hopsern, bei denen der Sand auf dem Papier knirscht, hüpft sie auf die mittlere Stange und piept. Es ist ein einziger Ton, der tief beginnt und dann hoch und dünn wird. Es ist das erstemal, daß ich ihre Stimme höre. Im Vogelhaus geht es so laut zu, daß man keinen einzelnen Vogel heraushören kann. Sie verdreht den Kopf und blickt von einer Seite zur anderen. Sie weiß, daß ich im Zimmer bin, und sie sieht mich erst mit einem, dann mit dem anderen Auge an. Kanarienvögel schauen nie etwas mit beiden Augen zugleich an. Die meisten Vögel tun das nicht. Sie sehen nur mit beiden Augen, wenn sie nichts Bestimmtes anschauen. Wenn sie etwas Bestimmtes sehen wollen, schauen sie mit einem Auge hin und machen das andere blind. Sie schließen es nicht, sie machen es einfach blind. Birdie bewegt sich leicht und flink, die schwere Luft bedeutet überhaupt nichts. Sie hüpft auf die oberste Stange und wischt den Schnabel ab, wetzt ihn, untersucht ihre Umgebung, so wie ein Hund, der an einem Baum schnuppert. Sie ist gelb, zitronengelb. Ihre Schwanzfedern und Flügelspitzen sind heller, fast weiß. Auch oben an ihren Beinen sind die Federn heller. Ihre Beine sind orange-blaßrot, heller als Taubenbeine, zierlich und dünn. Drei Zehen weisen nach vorn und eine nach hinten, wie bei allen Baumvögeln, und ihre Krallen sind lang und dünn, durchscheinend und mit einer feinen Ader in der Mitte. Sie ist für einen Kanarienvogel mittelgroß und hat einen gerundeten, sehr weiblichen Kopf; ihre Augen sind
glänzend schwarz, ihr Schnabel hat exakt die Farbe ihrer Beine. Kleine blaßrote Nasenlöcher stecken unter den Stirnfedern gleich über dem Schnabel. Sie piept wieder und dreht sich auf der Stange, um in die entgegengesetzte Richtung zu sehen. Dabei scheint sie ihre Flügel nicht einzusetzen. Sie stößt sich behend von der Stange ab, macht mit dem Körper eine Drehung, und schon schaut sie in die entgegengesetzte Richtung. Es ist die gleiche Bewegung, mit der eine Eiskunstläuferin die Richtung ändert, nur sehr viel müheloser. Birdie läßt mich dabei nicht aus den Augen, sie mustert mich von links und von rechts, so daß ihr Kopfschütteln aussieht wie ein Vogel-Nein. Ihre Augen sind jetzt nicht mehr auf einen Fixpunkt gerichtet, und ihr Blick geht ins Weite. Sie sieht mich nicht mehr an. Sie hüpft auf die untere Stange herab und sieht den Wassernapf. Sie streckt den Kopf vor, taucht den Schnabel ins Wasser und legt den Köpf zurück. Das macht sie dreimal. Es geht ihr wie den Tauben: sie kann mit dem Kopf nach unten nichts schlucken. Sie läßt das Wasser einfach in den Hals laufen. Offenbar schließt sie den Schnabel um eine bestimmte Menge Wasser, es ist nicht mehr als ein Tropfen, und behält es da, bis sie den Kopf zurücklegt, damit es ihr in den Hals laufen kann. Nach dem Trinken hüpft sie auf den Boden des Käfigs herunter. Ein Vogel braucht grobkörnigen Sand, damit die aufgenommene Nahrung im Kropf zermahlen wird. Sie hüpft umher, so daß es auf dem Zeitungspapier wieder knirscht, pickt ein paar der Sandkörnchen auf und springt dann auf die untere Stange, um sich etwas Vogelfutter zu holen. Das Futter, das ich gekauft habe, enthält Raps – ein winziges schwarzes rundes Samenkorn –, Kanariensamen – ein dünnes gelbbraunes glänzendes Korn mit einer weißen Frucht, Haferkörner und Leinsamen. Sie fährt in den Futternapf und wirft mit Samenkörnern um sich, bis sie eines der Haferkörner
findet. Sie nimmt es in den Schnabel, schält die Hülse ab und frißt die Frucht. Das geht flink. Während sie frißt, blickt sie zweimal zu mir herüber. Vögel sind beim Fressen sehr argwöhnisch. Sie frißt etwa fünf Samenkörner: das Haferkorn, zwei Rapssamenkörner und mindestens ein Korn von dem Kanariensamen. Jede Sorte schält sie wieder mit einer anderen Technik. Sie frißt nichts von dem Leinsamen. Der Leinsamen soll den guten Zustand des Gefieders erhalten. Es ist erstaunlich, wie gut Vögel allein mit ihren Schnäbeln die Samenkörner aus ihren Schalen holen können; sie brauchen dazu keine Arme und keine Hände. Später versuche ich auch einmal, Vogelfutter zu essen, um zu sehen, wie das ist. Ich verbringe Stunden damit, Samenkörner mit meinen Zähnen aufzuknacken. Für einen Mundvoll braucht man eine volle Stunde. Die Hülsen kann man nicht essen, sie sind bitter. Als Birdie gefressen hat, springt sie mit einem leichten, kaum wahrnehmbaren Flügelschlag von der unteren Stange ab, dreht sich mitten in der Luft und landet auf der oberen Stange, in einer Höhe, die mindestens viermal ihrer Körpergröße entspricht. Das ist so, als würde ich von der Veranda aus direkt aufs Dach springen. Von ihrem neuen Platz piept sie mir zu. Ich versuche, zurückzupiepen. Sie prüft die Gitterstäbe mit ihrem Schnabel und knabbert ein wenig an dem Schulp. Der Schulp stammt von einem Fisch; er enthält Kalk und andere Minerale für Vögel. Sie will dauernd mit mir reden, oder vielleicht will sie auch nur feststellen, ob noch andere Vögel in der Nähe sind, ihr Piepen hat etwas Trauriges an sich, es klingt fragend und steigt am Ende an – pieIEP? Sie macht ihren Schnabel halb auf, wenn sie es sagt, und sie sagt es oft in dem Moment, wo sie von einer Stange zur anderen hüpft. Vielleicht ist es ein Signal, das andere Vögel
wissen läßt, daß sie den Platz wechselt. Ich weiß im Grunde nicht genug über Kanarienvögel. Als es dunkel wird, decke ich ihren Käfig mit einem Tuch zu, um sie vor Zugluft zu schützen. Am nächsten Tag ist Sonntag. Ich sehe, wie sie in dem Wassernapf zu baden versucht, und so stelle ich eine Untertasse mit Wasser in den Käfig. Sie hüpft sofort herunter, und diesmal klingt ihr Piepen anders als sonst, kürzer, eher wie Plip? Sie steht am Rand des Tellers, taucht den Schnabel hinein, prüft, drückt die Brust ins Wasser und schwänzelt. Sie springt heraus und hüpft auf den Rand des Tellers, schüttelt ihre Federn unmöglich schnell, breitet die Flügel aus, um ihre Federn einzeln zu zeigen, und wirft sich dann mit einem weiteren kurzen Plip? ins Wasser. Sie geht jetzt rein und raus und spritzt und schwänzelt. Das geschieht mit einer großen Konzentration, mit totaler Hingabe; da ist nichts Passives. Ich habe Hunderte von Tauben im Wasser oder im Staub baden sehen, aber gemessen an Birdie war das alles Zeitlupe. Als sie das ganze Wasser aus der Untertasse verspritzt und die Zeitungen am Käfigboden völlig durchnäßt hat, fliegt sie wie wild umher und knallt fast gegen die Gitterstäbe. Die Flugfedern sind so naß, daß sie seitlich an ihr herunterhängen und auf der Stange aufliegen. Die Federn um ihr Gesicht herum sind zu Klümpchen zusammengeballt. Sie rast hin und her, von Stange zu Stange, und schüttelt sich so heftig, daß der ganze Leib vibriert. Wassertropfen fliegen durchs Zimmer und landen sogar auf den Linsen des Fernglases. Sie sind wie Kometen, die in meine Miniaturwelt eindringen. Schließlich hat Birdie das meiste Wasser abgeschüttelt und fängt an, sich zu putzen. Sie nimmt jede Feder in den Schnabel und kämmt sie in ihrer ganzen Länge. Sie biegt immer wieder den Kopf zurück, um aus der Bürzeldrüse am Schwanzansatz Öl zu holen, das sie dann in einer dünnen Schicht auf die frisch
gewaschenen Federn streicht, immer schön eine Feder nach der anderen. Das ganze Bad, das mit einem kurzen Aufplustern endet, dauert fast zwei Stunden. Ich bin jetzt wirklich in Birdie verliebt. Sie ist so zierlich, so flink, so geschickt, und sie fliegt so elegant. Ich möchte, daß sie frei in meinem Zimmer umherfliegt, aber ich fürchte, ich werde sie verletzen oder erschrecken, wenn ich sie dann wieder in den Käfig sperre. Es fällt mir sehr schwer, zu warten. An diesem Nachmittag gebe ich Birdie eine erste Kostprobe von dem feinen Spezialfutter. Dabei versuche ich zu piepen, dieses fragende pieIEP? nachzuahmen. Das Spezialfutter kommt in ein besonderes Schälchen, das zwischen die Gitterstäbe paßt und auf die mittlere Sitzstange gestellt wird. Ich bleibe mit meiner Hand möglichst nahe dran, wenn sie zum Fressen kommt. Das Futter riecht nach Anis und ist süß. Ich gebe nur ein paar Körnchen davon in die Schale. Birdie sieht mich an, sieht die Hand in der Nähe des Futters. Sie hält den Kopf schräg und versucht, mich aus verschiedenen Winkeln zu sehen. Sie kommt näher und fliegt dann wieder weg. Sie tut so, als interessiere sie das alles nicht, und macht sich daran, die normalen Samenkörner am Käfigboden zu fressen. Ich weiß, daß sie neugierig ist. Endlich kommt sie herauf und stiehlt rasch ein Samenkorn aus dem Schälchen. Sie geht ans andere Ende der Sitzstange, um es dort zu fressen. Sie schickt ein quieIEP? in meine Richtung, und ich versuche, mit einem quieIEP? zu antworten. Sie kommt wieder und holt sich noch ein Körnchen. Während sie es frißt, sieht sie mir in die Augen. Ich rühre mich nicht. Sie stellt einen Fuß auf das kleine Schälchen, um es festzuhalten, und frißt den Rest der Körner. Ihr Fuß ist nur ein paar Zentimeter von meiner Hand entfernt. Ich sehe deutlich die winzigen rosaroten Schuppen und die hellen Adern in ihren Beinen neben meinen eigenen klobigen Fingerkuppen mit
ihrem spiraligen Relief. Ich kann sie riechen; es ist der Geruch von Eiern, die noch in der Schale sind, wahrscheinlich auch der Geruch von Federn. Diesen speziellen Geruch kenne ich von den Tauben her nicht. Tauben riechen moschusartig und ein wenig nach altem Staub; das hier ist ein feines Parfüm. Als sie fertig ist, läßt sie das Schälchen los und wischt sich den Schnabel an der Sitzstange ab, geht aber nicht weg. Ich mache quieIEP?, aber sie sieht mich nur an. Ich versuche es noch einmal. Sie sieht mich; sie fragt sich, was ich wirklich bin. Das dauert vielleicht zehn Sekunden, eine lange Zeit für einen Vogel. Dann geht sie hinunter auf den Käfigboden und frißt ein paar Sandkörnchen. Ich bin sehr glücklich. Am nächsten Tag denke ich in der Schule die ganze Zeit an Birdie. Am liebsten würde ich keinen Menschen ansehen. Menschen können so grob sein, besonders die Erwachsenen. Sie grunzen und stöhnen, und dauernd kann man hören, wie sie schlucken und atmen. Sie riechen wie verwestes Fleisch. Sie kriechen mit schwerfälligen Bewegungen umher und stehen da, als seien sie am Boden festgenagelt. In der Mittagspause gehe ich über die Aschenbahn und übe den Drehsprung. Es ist schwer, hochzuspringen und sich in der Luft zu drehen. Aus dem Lauf heraus geht es viel besser. Es ist fast unmöglich, aus dem Stand hochzuspringen. Man muß sich so schnell drehen, daß man in der kurzen Zeit, die man in der Luft ist, auch herumkommt. Man darf es aber nicht übertreiben, weil man sich sonst immer noch dreht, wenn man wieder auf den Boden kommt. Man muß sich, mit den Schultern in der Luft, einwärts gegen den eigenen Körper drehen. Einmal schaffe ich es fast: ich gehe tief in die Hocke, springe federleicht ab und drehe mich in aller Ruhe. Einen kurzen Moment scheint alles zu stimmen, ich fühle mich ein klein wenig frei, aber dann komme ich falsch auf dem Boden auf und falle hin.
Ich darf mich nicht gleich gehenlassen, wenn ich in der Luft bin. Ich muß irgendwie mehr mit dem Körper denken. Als ich nach der Schule in mein Zimmer komme, quiept mir Birdie zu. Während ich mich umziehe, quiepen wir uns gegenseitig an. Ich muß noch mal hinunter und die hintere Veranda fegen. Wenn meine Mutter auf die Idee kommt, daß ich zuviel Zeit mit einem Vogel verbringe, dann geht es wieder so wie vorher mit den Tauben. Nach dem Gaskessel versteckte ich mein Taubenkostüm im Sparrenwerk unter dem Garagendach. Ich weiß, sie sucht immer noch danach, sie will es verbrennen – zu meinem eigenen Vorteil, sagt sie. Ich begreife nicht, warum es ungesund sein soll, sich mit Vögeln zu beschäftigen. Will sie denn, daß ich meine ganze Zeit damit verbringe, in der Schule Mädchen nachzusteigen oder mich zum stärksten Mann der Welt zu machen, wie Al; oder daß ich Autos frisiere und zu Schrott fahre. Was ist daran schon gesund? Ich will jedenfalls keinen Ärger. Ich gebe mir Mühe mit der Veranda und gieße die Blumen auf dem Fensterbrett. Ich lese hinten im Hof einige Zeitungen und ein paar alte rostige Büchsen auf. Kinder werfen dauernd Blechbüchsen über den Zaun. Wenn meine Mutter nicht jedesmal aus dem Haus laufen und ihnen mit dem Mop oder dem Besen drohen würde, hätten sie schon längst damit aufgehört. Ich habe immer noch nicht herausbekommen, wo sie diese Basebälle aufbewahrt. Die müssen ein Vermögen wert sein. Als ich wieder auf meinem Zimmer bin, hole ich ein wenig Spezialfutter und gehe ruhig zu dem Käfig hinüber. Birdy quiept mir zu. Ich horche genau hin, um festzustellen, ob sie irgend etwas anderes zu sagen hat; ich kann keine Unterschiede hören. Es ist für mich immer noch eine Fremdsprache! Bei den Tauben hatte ich es geschafft, das meiste von dem zu ver-
stehen, was sie einander zu sagen haben. Sie reden eigentlich nicht richtig, sie verständigen sich mit Signalen. Ich schiebe das Schälchen zwischen die Gitterstäbe auf die Stange. Sie hüpft auf die Stange und bleibt am entfernten Ende stehen. Nun klingt ihre Stimme eindeutig verändert. Sie quiept zwar immer noch, aber viel lauter, wie jemand, der sagt: »Tatsächlich?« Es kommt von weiter unten in ihrem Hals, quieIEPP? Ich höre zwar den Unterschied, aber ich kann ihn nicht nachmachen; ich antworte mit einem gewöhnlichen quieIEP? Ein halbes dutzendmal gibt sie mir dieses laute quieIEPP? und hüpft dann, sich abwechselnd nach links und nach rechts drehend, die Stange entlang auf mich zu. Mit jedem Hüpf er dreht sie sich genau in die entgegengesetzte Richtung, doch ihr Kopf ist dabei immer auf mich gerichtet. Der Hüpf er bringt jedesmal das andere Auge nach vorn und in Sichtverbindung mit meinen Augen. So sieht sie mich abwechselnd mal mit dem einen, dann mit dem anderen Auge an. Unglaublich, fast unmöglich zu beschreiben, aber sie scheint selbst gar nicht zu merken, was sie da tut. Als Birdie das Schälchen erreicht hat, stellt sie wie beim erstenmal den Fuß auf den Rand und holt ihr erstes Samenkorn heraus, und diesmal schält sie es gleich, ohne erst ans andere Ende der Stange zu gehen. Sie hat ihre Flügel- und Beinmuskeln angespannt, um zurückspringen zu können, falls ich mich bewege. Ich habe das Verlangen, meinen Finger durch das Gitter zu schieben und ihren Fuß zu berühren. Aus ihrem Käfig ausgesperrt komme ich mir eingesperrt vor. Auch als sie das Spezialfutter gefressen hat, bleibe ich am Käfig stehen; ich lasse meine Hand an dem Schälchen und bringe mein Gesicht so nahe heran, daß meine Augen vielleicht noch dreißig Zentimeter von ihr entfernt sind. Birdie steht da und sieht mich an und neigt dabei den Kopf mal zur einen, dann zur anderen Seite. Sie gibt mir ein querIEPP? und hüpft
dann zur tieferen Stange. Ich sehe ihr zu, wie sie einige Samenkörner und dann ein wenig Sand frißt. So nahe dran zu sein, ist sogar noch besser als der Blick durchs Fernglas. Wenn Birdie scheißt, ist das eine eingedickte Masse, viel kleiner als Taubenscheiße. Meistens genügt ihr dazu ein kurzer Schlenker des Hinterteils, aber manchmal setzt sie auch zweioder dreimal an. Sie scheißt etwa alle fünf Minuten. Die Scheiße selbst setzt sich, soweit ich sehen kann, aus drei Teilen zusammen. Die Oberfläche ist so klar wie Wasser, es ist einfach Nässe. Dann kommt die weiße Masse, die etwas fester ist, so ähnlich wie Sahne, und dann der bräunlich-schwarze Kern, schwärzer als die Scheiße beim Menschen und wie diese ein wenig geformt, so daß sie den After gut passieren kann. Zu riechen ist praktisch nichts. In dieser Woche gehe ich jeden Tag, wenn ich von der Schule zurück bin und meine Arbeiten im Haushalt erledigt habe, auf mein Zimmer und Bobachte Birdie. Als erstes gebe ich ihr frisches Futter und Wasser; wenn sie dann in dem neuen Wasser zu baden versucht – und gewöhnlich tut sie das –, stelle ich ihr eine Untertasse mit Wasser hin. Nachdem ich ihr beim Baden zugesehen und mit ihr geredet habe, gebe ich ihr von dem Spezialfutter. Sie hat jetzt überhaupt keine Angst mehr vor mir, sofern man das von einem Vogel überhaupt sagen kann. Der einzige Vorteil, den ein Vogel hat, ist, daß er wegfliegen kann. Wenn Birdie weiß, daß das Leben in einem Käfig sie so verletzlich macht, dann muß das furchtbar sein. Trotzdem ist sie ständig fluchtbereit, obschon sie nirgendwohin entkommen kann. Ich versuche mir vorzustellen, wie das wohl wäre, wenn irgendein riesiger Vogel kommen und seine Klauen durch das Fenster meines Zimmers strecken würde, um mir Kartoffelchips oder ein Sandwich hinzuhalten. Was würde ich tun? Würde ich hingehen und mir etwas holen, selbst wenn ich anderswo im Zimmer mein übliches Essen stehen hätte? Wenn
ich jetzt, nach den ersten paar Tagen, ins Zimmer komme, läuft Birdie immer auf dem Käfigboden hin und her und schaut über die Leiste, die den Sand zusammenhalten soll, nach draußen. Ich glaube, sie freut sich, wenn ich komme, nicht nur, weil ich ihr Spezialfutter gebe, sondern weil sie einsam ist. Ich bin jetzt ihr einziger Freund, das einzige Lebewesen, das sie zu Gesicht bekommt. Am Ende der Woche befestige ich das Schälchen für das Spezialfutter mit einem Gummiband an einer zusätzlichen Stange und halte es durch die Tür in den Käfig. Eine Büroklammer hält die Tür auf. Anfänglich ist Birdie scheu, aber dann springt sie auf die Stange, die ich ihr halte, und hüpft seitwärts auf das Futterschälchen zu. Es ist phantastisch, sie so zu sehen, ohne die Gitterstäbe zwischen uns. Während sie dasitzt und das Spezialfutter frißt, sieht sie mich durch die offene Tür an. Wie kommt sie nur darauf, mir in die Augen zu sehen und nicht auf den riesigen Finger dicht neben ihr? Als sie fertig ist, zieht sie sich bis zur Mitte der Stange zurück. Ich hebe die Stange sachte an, um Birdie zu unterhalten und ihr das Gefühl zu vermitteln, daß die Stange ein Teil von mir und nicht vom Käfig ist. Sie verlagert ihr Gewicht und flattert mit den Flügeln, um das Gleichgewicht zu halten; dann sieht sie mich an und gibt einen neuen Ton von sich, der sehr spitz klingt: pieIP. Sie springt von der Stange herunter, auf den Boden des Käfigs. Ich nehme die Stange heraus und versuche mit ihr zu reden, aber sie ignoriert mich. Sie trinkt etwas Wasser. Sie blickt mich erst wieder an, nachdem sie den Schnabel abgewischt und nacheinander die beiden Flügel gestreckt hat. Zum Strecken der Flügel nimmt sie die Füße zu Hilfe. Danach gibt sie mir ein kleines quieIEP?. Im allgemeinen sieht mich Birdie mehr mit ihrem rechten als mit ihrem linken Auge an. Es spielt dabei keine Rolle, auf welcher Seite des Käfigs ich stehe. Sie dreht sich immer so,
daß sie mich mit dem rechten Auge ansehen kann. Und wenn sie das Schälchen mit dem Spezialfutter oder auch ihren gewöhnlichen Futternapf mit einem Fuß festhält, dann nimmt sie auch dazu den rechten Fuß. Sie wäre rechtshändig, wenn sie Hände hätte; sie ist rechtsfüßig und rechtsseitig. Sie geht fast alles von rechts an. Selbst wenn sie die Flügel streckt, kommt der rechte Flügel immer zuerst dran. Die einzige Ausnahme ist, daß sie auf dem linken Fuß schläft. Ich glaube, wenn ein Vogel schläft, sieht man ganz gut, was Vögel vom Erdboden halten. Ein Vogel sucht zum Schlafen gewöhnlich den höchsten Punkt, den er finden kann, und dann macht er sich noch weiter von der Erde frei, indem er sich auf einen Fuß stellt; und in Birdies Fall ist es der unbedeutendere Fuß. Ein Vogel, der mit seinen aufgebauschten Federn wie eine kleine Kugel erscheint und auf einem Fuß steht, sieht alles andere als flugtüchtig aus. Einer Eidechse würde man eher das Fliegen zutrauen als einem schlafenden Vogel. Wegen der Art und Weise, wie Birdie schläft, möchte ich mein Bett nach oben unter die Zimmerdecke verlegen. Meine Mutter tobt gleich los und regt sich auf, aber mein Vater sagt, er hat nichts dagegen, wenn ich das Holz selber kaufe und keine Löcher in die Wände oder den Boden mache. Wir sind in dem Haus nur Mieter. Ich klaue das Holz nachts auf dem Holzplatz. Ich gehe genau so vor wie Al und ich damals, als wir das Holz für das Taubenhaus besorgten. Ich schleiche mich bei Nacht hinein und schiebe das Holz hinten unter dem Zaun durch; dann gehe ich wieder nach draußen und hole es. Ich kaufe Schrauben und benutze das Werkzeug von meinem Vater. Da ich nichts an den Wänden und an der Decke befestigen kann, muß es frei stehen. Ich arbeite zwei Wochen daran. Ganz zuletzt schaffe ich den Lattenrost und die Matratze nach oben und lege sie in den Rahmen. Das alte Bettgestell stelle ich hinaus in die Garage.
Ich sehe nach, ob mein Taubenkostüm noch da ist, und suche ein bißchen nach den Basebällen. Ich baue eine Leiter, indem ich Löcher bohre und Sprossen einpasse. Wie eine Schiffsleiter sieht das aus, als ich fertig bin. Ich lege sogar eine elektrische Leitung bis nach oben und hänge Vorhangstangen an die Decke. Bei Sears klaue ich etwas Stoff und mache Vorhänge. Es ist ein tolles Nest, besser noch als damals das Baumhaus. Ich kann da raufsteigen, die Vorhänge zuziehen und das Licht anmachen. Dann bin ich ganz für mich allein. Birdie ist inzwischen so weit, daß sie sofort auf die Stange springt, wenn ich sie in den Käfig schiebe; sogar ohne Spezialfutter. Sie frißt das Spezialfutter auch von meinem Finger. Ich mache meinen Finger naß, stecke ihn in die Futtertüte, und ein bißchen bleibt daran hängen. Ich halte meinen Finger an die gleiche Stelle auf der Sitzstange, wo ich normalerweise das Futterschälchen hinstelle, und sie kommt herüber, um die Körnchen von meinem Finger zu picken. Ihr kleiner Schnabel bewegt sich schnell, und er ist sicher und sanft. Sie macht alles sauber, bis hin zu den kleinen Stückchen, die unter meinen Fingernägeln hängen. Am nächsten Tag ziehe ich die Stange, sobald Birdie draufspringt, langsam aus dem Käfig. Ich habe viel geübt und die Stange im Käfig auf und ab und vor und zurück bewegt, damit Birdie weiß, wie sie sich festhalten muß, und um ihr die Angst zu nehmen. Als ich sie jetzt durch die Tür ziehe, blickt sie nach oben zum Türrahmen, der sich über ihrem Kopf bewegt, und hüpft zurück, um im Käfig zu bleiben. Als sie das Ende der Stange erreicht, springt sie ab und bleibt im Käfig. Ich fange wieder von vorne an, aber es läuft wieder so. Nach drei, vier Versuchen kommt mir die Idee, ich könnte etwas Spezialfutter auf meinen Finger legen, damit das Fressen sie beschäftigt, während ich sie durch die Tür nach draußen ziehe.
Damit klappt es, und als Birdie aufblickt, ist sie bereits außerhalb des Käfigs. Sie gibt mir ein kräftiges querIEPP?, als sie sieht, wo sie ist. Ich halte die Stange so ruhig, wie ich nur kann, und sie steht da und blickt mich an. Dann verändert sich ihr Blick, und sie holt das Zimmer zu sich her. Sie muß sich so vorkommen wie einer, der eine Rakete besteigt und die Erdatmosphäre verläßt. Vielleicht eine Minute lang halte ich sie so und führe dann die Stange langsam zum Käfig zurück. Als ich sie durch die Tür schiebe, springt sie von der Stange auf den Käfigboden. Sie geht hinüber und frißt ein Samenkorn, hüpft dann auf die andere Seite und trinkt einen Schluck. Sie scheint zu überprüfen, ob ihre Welt noch dieselbe ist wie vorher. Danach fängt sie an zu quiepen, und ich quiepe zurück, und das geht vielleicht eine halbe Stunde. Sie ist ebenso aufgeregt wie ich. Es ist wunderbar, sie so frei vor mir zu haben, zu wissen, sie kann mit einem kurzen Flügelschlag den Käfig verlassen und im Zimmer umherfliegen. Es verändert alles, und mein Zimmer ist dadurch so weit wie der Himmel. Ich werde im Quiepen allmählich besser. Man muß es mit der Kehle machen, angespannt, weit hinten, und dann mit den Lippen. Mit Pfeifen schafft man es nicht. Am nächsten Tag nehme ich Birdie wieder aus dem Käfig. Diesmal duckt sie sich nur unter dem Türrahmen. Ich habe etwas Spezialfutter auf dem Finger, und sie hüpft herüber, um es zu fressen. Sie berührt mich zum erstenmal, als sie zum Fressen einen Fuß auf meinen Finger stellt, Ich lasse sie fast fünf Minuten draußen auf der Stange und wiege sie ein bißchen, indem ich die Stange langsam auf und ab bewege. Jedesmal quiept sie mich an und beobachtet meine Augen. Ich gehe mit ihr wieder zum Käfig, schiebe aber die Stange nicht durch die Tür, sondern setze sie oben auf dem Käfig ab, und Birdie hüpft herunter. Dann halte ich die Stange so, daß
sie gerade noch in die Türöffnung hineinragt. Sie quiept ein paarmal, macht ein paarmal piIEP und springt auf die Stange und von dort in den Käfig. Danach fällt es wirklich schwer, die Tür zuzumachen. Sie weiß, sie ist clever und tapfer gewesen. Sie geht hinüber zu der Stange, wo sie immer ihr Spezialfutter bekommt, und gibt mir zwei gute laute QUERIEP?. Tatsächlich sagt sie mir etwas Neues, es klingt wie QUERIEP-A-RIEP?. Ich lege mir ein paar Körner auf den Finger, und sie frißt sie. In wenigen Wochen habe ich Birdie so weit, daß sie aus dem Käfig fliegt, wenn ich die Tür öffne; wenn ich ihr dann die Sitzstange hinhalte, landet sie prompt darauf. Von der Stange aus fliegt sie zu anderen Plätzen im Zimmer, nach oben auf mein Bett oder auf den Fenstersims oder auf die Kommode. Dann kommt sie zu der Stange zurück. Sie fliegt so schön, mit vorgerecktem Kopf, die Beine hinten an den Leib gedrückt. Die Flügel erzeugen im Zimmer ein wisperndes Geräusch. Wenn ich möchte, daß sie zu mir kommt, brauche ich nur die Stange hinzuhalten und sie mit einem PiepQUIEP locken. Das ist ein Ton, den sie kennt. Wahrscheinlich ist das ihr richtiger Name, und nicht Birdie. Wenn ich »Birdie« sage, bedeutet ihr das überhaupt nichts. In meinem Gedanken nenne ich sie Birdie, aber PiepQUIEP ist der Name, mit dem ich sie rufe und auf den sie hört. Am Anfang gebe ich ihr ein, zwei Körner von dem Spezialfutter, wenn sie zu mir kommt, aber nachher nicht mehr. Ich weiß, und sie weiß, daß wir miteinander spielen. Manchmal foppt sie mich dadurch, daß sie auf die Stange zufliegt und erst im letzten Moment abschwingt und anderswo landet. Einmal landet sie dabei auch auf meinem Kopf. Ich kann ihr den ganzen Tag beim Fliegen zusehen, und ich sehe ihr auch gern zu, wenn sie nur umherhüpft. Sie sucht den ganzen Boden ab und findet kleine Dinge, die ich nicht mal
sehen kann. Ich beobachte sie sehr sorgfältig, damit es mir nicht entgeht, wenn sie etwas fallen läßt. Wenn meine Mutter irgendwo im Zimmer Vogeldreck findet, ist das ganze Spiel aus. Es dauert lange, bis Birdie zuläßt, daß ich ihren Kopf oder ihre Brust streichle. So sind Vögel einfach; sie streicheln sich nicht einmal gegenseitig. Doch Birdie findet mit der Zeit Gefallen daran. Sie setzt sich auf meine Hand und plustert sich auf, wenn ich ihr mit dem Finger über den Kopf oder die Flügel entlangstreiche. Ihre Krallen müssen geschnitten werden, aber immer wenn ich versuche, meine Hand um sie zu legen, gerät sie in Panik. Gewöhnlich ziehe ich vor dem Fenster das Rouleau herunter, bevor ich Birdie aus dem Käfig lasse, aber einmal denke ich nicht dran. Als ich die Käfigtür aufmache, fliegt sie heraus und geradewegs auf das Fenster zu. In vollem Flug knallt sie gegen die Scheibe und stürzt flatternd zu Boden! Ich stürze hinüber und hebe sie sorgfältig auf. Sie ist bewußtlos, liegt schlaff in meiner Hand. Nichts ist so tot wie ein toter Vogel. Bewegung macht fast den ganzen Vogel aus. Wenn sie leblos sind, sind sie nur noch Federn und Luft. Einer ihrer Flügel scheint ausgerenkt. Behutsam falte ich ihn nach hinten und halte sie in meinen zwei Händen, um sie zu wärmen. Sie atmet noch, ganz schwach und schnell. Ihr Herz pocht gegen meine Hand. Ich sehe nach, ob etwas gebrochen ist oder blutet. Ihr Hals hängt schlaff über meine Fingerspitzen hinunter, und ich bin überzeugt, daß sie sich das Genick gebrochen hat. So wie sie fliegt, den Kopf so weit vor dem Körper, voller Vertrauen in ihre Flugkünste, da muß das einfach passieren. Ihre Augen sind mit einem blassen, bläulichen, fast durchsichtigen Lid verschlossen. Es gibt nichts, was ich tun könnte. Ich streiche ihr behutsam über den Kopf. Ich gebe ihr ein
PiepQUIEP und versuche, sie mit warmer Atemluft anzuhauchen. Ich bin sicher, daß sie tot ist. Ihr erstes Lebenszeichen besteht darin, daß sie den Kopf anhebt, so daß er nicht mehr über meine Finger hinunterhängt. Sie macht die Augen auf und sieht mich an. Sie wehrt sich nicht. Sie blinzelt einmal zögernd und macht die Augen wieder zu. Ich sage noch ein paarmal PiepQUIEP zu ihr. Ich streichle ihren Kopf. Da macht sie die Augen auf und hebt den Kopf. Das könnte sie nicht, wenn das Genick gebrochen wäre. Ich fange wieder an zu hoffen. Ich ziehe ihre Beine zwischen meinen Fingern hervor und glätte ihre Zehen, so daß sie nun auf meinem Oberschenkel steht, während ich sie halte. Sie macht wieder die Augen zu, aber sie behält den Kopf oben. Sie hält sich mit den Füßen nicht auf meinem Schenkel fest. Die Zehen sind schlaff und eingerollt. Ich halte sie einfach in aller Ruhe auf meinem Schenkel, streichle ihren Kopf und quiepe ihr immer wieder zu. Und endlich quiept sie zurück; es ist ein müdes, schwaches quieIEP?. Ich quiepe, und sie quiept wieder zurück. Ich lockere meinen Griff, und sie schafft es, frei auf meinem Oberschenkel zu stehen. Sie sieht aufgebläht aus, rund wie eine Kugel, und ihre Federn sind durch die Berührung mit meinen verschwitzten Händen ziemlich zerzaust. Ich wölbe meine Hände wie ein Dach über sie, so daß sie nicht umkippen kann. Ich hebe sie wieder auf und versuche ihre Federn glattzustreichen. Ich breite erst den einen, dann den anderen Flügel aus. Sie scheinen in Ordnung. Ich lasse sie los, und sie steht frei auf meinem Schenkel. Sie plustert sich auf, um ihre zerzausten Federn in Ordnung zu bringen. Sie lehnt den Kopf zurück und zieht die Flugfedern einzeln durch ihren Schnabel. Sie scheißt. Dann richtet sie sich auf und hüpft nach vorn zu meinem Knie und quiept, und sie scheint wieder ganz die alte zu sein. Ich quiepe zurück und halte ihr meinen Finger hin. Sie hüpft hinauf und
dreht sich um. Sie wischt ihren Schnabel an meinem Finger ab. Das hatte sie noch nie getan. Es ist herrlich, sie wieder in Bewegung zu sehen. Ich wußte nicht, daß ich weinte, aber mein Gesicht ist naß. Ich trage sie zum Käfig hinüber, und sie hüpft von meinem Finger in den Käfig. Sie ist froh, wieder in ihrer sicheren Umgebung zu sein. Sie frißt und trinkt. Ich beobachte sie noch eine Stunde lang, aber es geht ihr wieder gut. Ich kann mein Glück kaum fassen. Es wäre entsetzlich geworden ohne sie. Von diesem Tag an kann ich sie immer aufheben und in der Hand halten. Wenige Tage später schneide ich ihr die Krallen. In mir wächst das Bedürfnis, jemandem von Birdie zu erzählen und von all den Dingen, die sie tun kann. Ich versuche mit Al darüber zu reden, aber er interessiert sich kaum noch für Vögel. Ich habe so viel Spaß mit ihr. Manchmal lasse ich sie nachts draußen und bringe ihr bei, oben auf dem Käfig zu schlafen, denn wenn sie dann etwas fallen läßt, landet es im Käfig und nicht irgendwo im Zimmer. Ich stelle ihren Käfig auf das Bord hinter meinem Bett, damit sie sich wohl fühlt. Es ist der höchste Platz im Zimmer. Morgens hüpft sie dann auf meinen Kopf und pickt mich in die Nase oder in die Mundwinkel, bis ich aufwache. Sie pickt nie nach meinen Augen. Ich lerne eine ganze Reihe von Kanarienwörtern und kann sie auffordern, zu bleiben oder zu kommen, und ich lerne einen Laut für »essen« und »Guten Tag« und »Auf Wiedersehen«. Ich fange an, bei dem, was sie von sich gibt, Unterschiede herauszuhören.
Für die Nacht bringen sie mich bei den Pflegern unter. Dieser CO-Typ von Birdys Station führt mich herum. Ich frage ihn wegen Birdy aus. Er erzählt mir, daß Birdy schon fast drei Monate hier ist. Er sagt, sie hätten lange Zeit gar nicht gewußt, wer Birdy ist; mußten erst die ganzen Vermißtenmeldungen von Waiheke durchgehen, wo es Birdy erwischt hat. Das ist eine Insel in der Nähe von Neuguinea, sagt er. Er erzählt mir, daß Birdy zu allem Überfluß auch noch schwer malariakrank ist. In dieser Nacht hab ich einen meiner Schreiträume. Ich wache auf und bin fürchterlich am Brüllen. In Dix, in der Abteilung für plastische Chirurgie, da geht es nachts zu wie in einer verdammten Klapsmühle, schlimmer noch als hier; jeder will irgendwie mit sich ins reine kommen. Der CO kommt zu mir rüber, aber ich sage ihm, es ist alles okay. Ich hab mal wieder meine Schweißausbrüche, das ganze Bett klatschnaß. Ich lege mich in ein anderes, leerstehendes Bett. Hoffentlich erzählt das der CO nicht weiter; Herr Gott, die sind imstande und sperren mich auch noch ein. Am nächsten Morgen gehe ich zu Weiss. Er ist noch nicht da, aber dafür sitzt ein fetter T-4 an einer Schreibmaschine, einer alten Underwood. Er sagt, er will nur ein paar Informationen für den Doktor. Ich versuche ihm klarzumachen, daß ich nicht zu den Verrückten hier gehöre, aber er hat ein blaues Formular herausgeholt und spannt es in die Maschine. Er sitzt da und grinst mich an. Für den bin ich ein Irrer, ganz klar. Herrliche Fragen stellt der, zum Beispiel: Wieviele Mitglieder meiner Familie haben sich umgebracht? Oder: Habe ich beim Scheißen Lustgefühle? Echt bescheuert, diese Fragen! Aber etwas anderes ist noch viel sonderbarer. Zuerst fragt er mich nach meinem Namen. Er tippt ihn in das Formular, Vierfingersuchsystem, dann guckt er sich’s an und spuckt drauf!
Spuckt direkt auf meinen Namen auf dem Papier! Großer Gott! Ich denke mir, vielleicht hatte er etwas an der Lippe kleben; tu so, als wär nichts gewesen. Dann fragt er mich nach meiner Nummer und meiner Einheit. Er tippt es, starrt darauf und spuckt wieder! Vielleicht ein Irrer, der sich hier eingeschlichen hat, solange der Doktor weg ist. Vielleicht passiert das in Wirklichkeit gar nicht, und ich bin selber übergeschnappt. Ich versuche, den T-4 zu mustern, ohne daß er es merkt. Er grinst mich an, und an seiner fetten Lippe hängt noch ein wenig Spucke. Vielleicht ist es irgendein neuer psychologischer Test, der Spucke-Test. Wer weiß? Er stellt mir weitere Fragen. Und jedesmal die gleiche Prozedur. Keine großen Batzen oder etwas Ekliges, eher eine Art feiner Sprühregen. Die ganze Schreibmaschine muß innen rostig sein. Er stellt die nächste Frage, tippt, guckt hin und spuckt. Ich werfe einen Blick zur Tür und prüfe die Abstände. Dieses hellblaue Formular, das er ausfüllt, wird langsam dunkelblau. Es ist fast fertig, als der Doktor-Major auf dem Weg zu seinem Zimmer vorbeikommt. Er gibt mir sein Psychiaterlächeln; gibt sich nicht sehr militärisch heute morgen. Wir sind fertig. Der T-4 zieht behutsam das Formular aus der Schreibmaschine. Er macht das ganz geschickt; zieht offensichtlich nicht zum erstenmal ein nasses Formular aus dieser Maschine. Er hält es an einer Ecke und trägt es in das Büro des Doktors. Dann kommt er raus, reibt sich mit einem blödsinnigen Grinsen die Hände – wahrscheinlich, um die Spucke abzuwischen – und sagt mir, ich soll reingehen. Der DoktorMajor starrt auf das nasse Papier und liest es. Er fordert mich mit einer Handbewegung zum Sitzen auf. Das Papier liegt flach auf seinem Schreibtisch; er faßt es nicht an. Ich warte darauf, daß er wegen der Spucke eine Bemerkung macht. Vielleicht beglückwünscht er mich zum Bestehen des Spucke-Tests oder gibt mir die Schuld oder was weiß ich. Aber
nein, nichts! Er ist bespuckte Papiere gewöhnt. Womöglich ist er selbst der Irre, liest nichts, was nicht bespuckt ist; hat diesen T-4 nur dazu eingestellt, daß er seine Papiere vollspuckt. Alles ist denkbar. Er blickt auf; sehr ernst, sehr würdevoll für einen Dickwanst. Seine Augen funkeln hinter den Brillengläsern; ganz und gar der tüchtige Psychiater heute morgen. »Sie sagen hier, man hat Sie vor ein Kriegsgericht gestellt?« »Das ist richtig, Sir.« Das »Sir« ist gut genug für ihn; »Herr Doktor« läuft bei mir nicht. Ich muß aufpassen, daß ich hier mit heiler Haut rauskomme. Scheiß-Kriegsgericht, davon hätt ich nichts sagen sollen. »Was war das für ein Kriegsgericht, Sergeant?« Da haben wir’s; Sergeant; alles klar. »Einfaches Militärgericht, Sir.« »Und was war die strafbare Handlung?« »Tätlicher Angriff auf einen Unteroffizier, Sir.« Ich kriege das übliche hmmmm zu hören und zweimal ahhha. Dann wirft er einen Blick zur Tür, um zu sehen, ob sie zu ist. Sie ist zu. Würde mich nicht wundern, wenn er rübergehen und sie aufmachen würde. Er sitzt in der Falle, in einem geschlossenen Raum mit dem tollwütigen Offizierskiller. Ich fixiere ihn mit meinem Killerblick unter einer Augenbraue hervor; Sizilianer, Mafioso, Berufskiller – alles in einem einzigen Blick. Ich habe das immer vor dem Spiegel geübt; zu irgendwas muß meine italienische Abstammung doch gut sein. Ich gebe keinen Zentimeter nach. Vielleicht sollte ich langsam aufstehen, auf ihn zugehen und ihn kurz auf die Schultern legen. Er räuspert sich und faltet die Hände unmittelbar hinter dem Spuckblatt. »Haben Sie diese gewalttätigen Anwandlungen öfter, Alfonso?«
Aha, jetzt spricht also wieder der Psychiater. Er grinst wie ein Weihnachtsmann. Himmel Arsch, sogar ich wäre ein besserer Psychiater als dieser Schwachkopf. Er weiß nicht recht, was er tun soll. Ich bin mir auch nicht ganz sicher, wie ich es anpacken soll. Ich wollte nur, so etwas wäre mitten im Krieg passiert und nicht jetzt, wo alles vorbei ist. Vielleicht hätte ich eine fette Rente als mordgieriger Irrer herausschlagen können. Jawohl, so ist es: durch schreckliche Kriegserlebnisse haben sie diesen braven Kleinstadt jungen zum wahnwitzigen Mörder gemacht. Ich würde den Rest meines Lebens im Fett schwimmen, nur gelegentlich mal knurren oder einen alten Mann zusammenschlagen. Er grinst mich immer noch an; da ist nicht das geringste Zucken; er beherrscht das Psychiatergrinsen aus dem Effeff. Er will mich aus dem Gleichgewicht bringen. Ich bin versucht, ihm zu erzählen, mit welcher Freude ich die Schaufel in dieses Schlawackengesicht gerammt habe. Und die Nigger in dem Kohlenlaster hatten die Hosen voll vor Angst. »Nein, Sir. Nicht oft, Sir.« »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu erzählen, wie das damals passiert ist?« Klar macht es mir was aus, aber ich erkenne schließlich einen Befehl, wenn ich einen bekomme. »Gerade vier Tage in der Armee, Sir. Unteroffizier im Fort Cumberland hat mich am Arm gepackt, und ich habe instinktiv reagiert, Sir.« »Aha, ich verstehe.« Er versteht nichts, und er weiß, daß er nichts versteht. Ich erwidere sein Lächeln. Wir lächeln um die Wette. Fabelhafte Sache, Italiener zu sein; all die Filme sorgen dafür, daß jeder Angst vor dir hat. Wenn die Leute an einen Bösewicht denken, sehen sie einen Italiener vor sich. Ich setze wieder meinen
Mafiablick auf. Er studiert das nasse Formular, und wieder geht es hmmm und ahhhaa; wir machen keine Fortschritte. »Sir, soll ich heute vormittag wieder auf die Station gehen?« »Ganz recht, Sergeant. Ich glaube, das ist unsere beste Chance.« Ich warte. Ich kann nicht einfach aufstehen und gehen, solange er sich nicht rührt. Wenn du in der Armee bist, haben sie dich die ganze Zeit an der Leine. Ich versteh bloß nicht, warum er mich nicht fragt, ob ich irgendwann mal Birdy zusammengeschlagen habe. Das ist die erste Frage, die ich stellen würde. Schließlich steht er dann doch auf, und ich mit ihm. Ich salutiere und habe das Gefühl, er ist sauer auf mich und sauer auf sich selbst, weil es ihn ärgert; daß er auf mich sauer ist. Ich mache ihm Angst, und das gefällt mir. Ich hoffe immer wieder, daß ich den ganzen Scheißdreck hinter mir habe, aber sobald mir einer auf die Pelle rückt, ist alles wieder da. »Gut, Sergeant, wir sehen uns morgen wieder, um die gleiche Zeit.« »Jawohl, Sir.« Der Dreckskerl läßt sich bestimmt meine Unterlagen aus Dix kommen. Herr im Himmel, laß mich endlich aus dieser gottverdammten Armee raus! Ich komme wieder zu Birdy, und obwohl er immer noch am Boden kauert, merke ich, daß sich etwas geändert hat. Ich weiß, daß er weiß, daß ich da bin. Ich weiß, daß es Birdy ist und nicht irgendein gespielter, grotesker Vogel.
– Hatte grade wieder eine Sitzung mit deinem Doktor, Birdy. Du wirst deinen Spaß mit ihm haben, wenn du erst mal anfängst, mit ihm zu reden. Du kannst alles tun, aber sag ihm bloß nichts von den Tauben und den Kanarienvögeln und
dem ganzen Vogelquatsch. Der spießt dich auf wie einen Käfer, und du kommst als Ausstellungsstück in eine Vitrine.
Ich weiß, diesmal hat er mich gehört. Ich will dranbleiben, den Faden nicht abreißen lassen.
– He, Birdy, weißt du noch, wie wir die Zeitschriften verkauft haben? Herr Gott, war das ein Ding!
Als wir von Wildwood zurück sind und ich mich endlich von der Rache des alten Vittorio wieder erholt habe, müssen wir uns irgendwas einfallen lassen, um das Geld zurückzahlen zu können. Wir schulden unseren Eltern zweiundneunzig Dollar für die Eisenbahnfahrkarten. Wir haben die Idee, in Mietshäusern von Tür zu Tür zu gehen und Zeitschriften zu verkaufen. Wir entwickeln ein sauberes System. Die Hausverwalter wollen uns nicht im Haus haben, aber wir drücken auf alle Klingelknöpfe, und irgend jemand ist immer faul genug, ohne Rückfrage einfach den Türöffner zu betätigen. Wenn wir drin sind, hält einer von uns den Aufzug in Gang, während der andere von Wohnung zu Wohnung geht und die Zeitschriften verkauft. Wir haben Liberty, Saturday Evening Post, Collier’s und Cosmopolitan. Die beste Verkaufszeit ist zwischen Schulschluß und etwa halb sechs, wenn die Männer nach und nach von der Arbeit kommen. Viele Frauen sind allein, weil ihre Männer im Krieg sind. Wir haben bald einen Stamm von Frauen, die uns die Zeitschriften abkaufen. Ich bin gewöhnlich fürs Verkaufen zuständig; Birdy kümmert sich um die Aufzüge und läßt sich vom Hausverwalter jagen. Der hat gegen Birdy natürlich nicht die Spur einer Chance.
Die meisten dieser Frauen langweilen sich zu Tode, und so werde ich dauernd zu einer Tasse Tee oder Kaffee eingeladen. Wenn ich älter wäre und besser Bescheid wüßte, könnte ich es wahrscheinlich mit den meisten treiben. Birdy übt dauernd dieses blöde Luftanhalten. Er wird immer mehr zum Spinner. Er zeigt mir einmal, wie er fünf Minuten lang die Luft anhalten kann. In meinem Keller steckt er den Kopf in einen Eimer voll Wasser. Er sagt mir, er schaltet einfach ab und denkt nicht mehr ans Atmen. Das ist doch behämmert! Und dauernd redet er vom Fliegen. Einmal erzählt er mir: »Die Menschen können nicht fliegen, weil sie nicht glauben, daß sie es können. Wenn ihnen niemand gezeigt hätte, daß sie schwimmen können, würde jeder, der ins Wasser fällt, sofort ertrinken.« So sagt er. Wirklich ausgefallene Ideen. Er geht jetzt auf eine katholische Oberschule, drunten an der 49. Straße in Philadelphia. Wenn er mir so erzählt, wie’s in dieser Schule zugeht, wundert’s mich nicht, daß er immer verrückter wird. Es muß das reinste Gefängnis sein. Er fängt jetzt auch mit seinem Kanarientick an. Dauernd redet er über diesen Kanarienvogel und macht verschiedene idiotische Übungen. Ich möchte ihn dazu bringen, daß er mit Gewichten arbeitet und sich Muskeln zulegt, aber er macht nur seine Flügelschläge mit den Armen und seine Luftsprünge. Manchmal redet er von seinem Kanarienvogel, und ich glaube, er redet von einem richtigen Menschen. Ich denke mir, vielleicht hat er endlich entdeckt, daß es auch Mädchen auf der Welt gibt, aber es ist nur der Kanarienvogel. Es ist ein Weibchen, und er nennt sie Birdie; er hat ihr seinen eigenen Namen gegeben, nehm ich an. Seine mickrige Schule setzt nicht mal eigene Busse ein, und so muß er immer mit dem Fahrrad hinfahren. Einmal schwänze ich und begleite ihn. Was für eine erbärmliche Schule. Die
beiden jüngsten Jahrgänge benutzen außenliegende Treppen, die wie Feuerleitern aussehen, und jeder bricht in den Spind des anderen ein. Als Lehrer haben sie welche vom Orden der »Schulbrüder«. Die tragen lange schwarze Röcke wie Priester, nur daß bei ihnen ein kleiner steifer Latz unterm Kinn vorragt; echt fiese Typen sind das, die eigentlich Priester sein möchten, aber zu dumm oder zu feig dazu sind. Die ganze Schule riecht muffig, grad als ob sich hier alle ständig einen abwichsen. Große Gebäude, in denen es überhaupt keine Mädchen gibt, muffen immer so. Birdy sagt, an Regentagen stinkt es dermaßen, daß man eine Gasmaske tragen muß. Das Mittagsbrot ißt man in dieser Schule im Gehen; man dreht auf der Aschenbahn seine Runden. Und die frommen Brüder stehen wie Löwenbändiger in der Mitte. Wenn man pissen will oder so, muß man sich einen dieser Passierscheine aus Holz geben lassen. Sie haben fünf Passierscheine für über dreihundert Leute. Die gehen alle mit der Lunchtüte in der Hand im Kreis herum und essen und versuchen, nicht daran zu denken, daß sie pinkeln müssen. Birdy fängt an, Passierscheine für die Bibliothek zu fälschen, damit er die Mittagspause in der Bibliothek verbringen kann. Er hat das Innere eines Buches herausgeschnitten, und daraus ißt er nun seine Sandwiches. Das geht fast drei Monate lang, doch kurz vor den Osterferien erwischen sie ihn. Einer der Brüder überrascht Birdy in der Bibliothek und versetzt ihm einen Schlag auf den Hinterkopf. Birdy wirft ihm die Bücher und die Sandwiches und alles ins Gesicht und flitzt eine der Feuerleitern hinunter und entkommt. Doch dafür werfen sie ihn von der Schule. Er wechselt zu uns an die alte Highschool von Upper Merion und verbringt den Rest des Schuljahres unter Menschen. Vielleicht daß er jetzt mit all den Mädchen und so auf den Geschmack kommt, aber nein, es wird nur noch
schlimmer mit ihm. An der U. M. nennen sie ihn jetzt auch Birdy. Weiß der Teufel, er beginnt tatsächlich wie ein Vogel auszusehen. Er magert noch mehr ab, und seine Brust steht immer weiter heraus, wie wenn sich einer die Rippen gebrochen hat. Der Kopf schnellt zwischen den Schultern hervor, und die locker in ihren Höhlen sitzenden Augen sind ständig in Bewegung, so daß man das Gefühl hat, daß er sich nie auf irgend etwas Bestimmtes konzentriert. Und doch sieht Birdy alles. Er sieht alles, aber man kann nicht sagen, daß er irgend etwas richtig »ansieht«. Es ist wie mit dem Wetter: irgendwie weiß Birdy immer über das Wetter Bescheid. Wenn sie in der Zeitung Regen bringen und Birdy sagt, es wird nicht regnen, dann behält Birdy recht. Den nächsten Sommer haben Birdy und ich einen Job als Hundefänger; Birdy hat nur noch seine dämlichen Kanarienvögel im Kopf. Wir stehen mit diesen riesigen Fangnetzen hinten im Lastwagen, und Birdy redet nur davon, wie viele Eier in irgendeinem Nest liegen oder welcher Vogel schon Samenkörner knacken kann. Er ist völlig weggetreten. Im darauffolgenden Jahr sehen wir uns dann nicht oft. Ich qualifiziere mich für das Leichtathletikteam, werfe den Diskus, Im Football spiele ich Außenläufer in der Schulauswahl, und ich ringe. Birdy hat am Sport kein Interesse. Er ist zu Hause bei seinen Vögeln. In meinem vorletzten Schuljahr melde ich mich, sobald ich siebzehn bin, zur Nationalgarde; ich will lernen, wie man mit Gewehren und Pistolen und all dem Zeug umgeht. Jeden Donnerstagabend geh ich runter in die Ausbildungshalle. Manchmal kommt Birdy mit. Er setzt sich dann rauf in die Galerie und guckt uns zu. Ich bekomme eine alte Springfield 06 und lerne, wie man sie zerlegt. Ich bin ein verrückter Hund, will
unbedingt Soldat sein. Ein paar Japse erwisch ich schon, bevor das alles vorbei ist. In der Zeit fang ich auch an, mit Lucy zu gehen. Sie ist eine der Einpeitscherinnen, die bei unseren Spielen die Zuschauer bei Laune halten, und sie ist strohdumm; macht die Ausbildung zum Kaufmann. Eines Nachmittags sitze ich draußen auf dem Schulparkplatz in Higgs Auto und hab grade Lucy in der Mache, als Birdy auf seinem Fahrrad dahergefahren kommt. Wir sind beide im vorletzten Schuljahr, und er gondelt immer noch auf diesem Schrotthaufen von einem Fahrrad herum. Den alten Bock hat er sich damals zugelegt, als wir unsere Räder in Wildwood verkaufen wollten und dann zurücklassen mußten. Wenn er mehr als fünf Stundenkilometer fährt, fällt’s auseinander. Birdy ist der einzige, der damit fahren kann. Er schließt es nie ab; er stellt es einfach hin, das stiehlt sowieso keiner. Es ist sowieso das einzige Rad im Fahrradständer in der Schule; diese Ständer haben sie in den zwanziger Jahren gebaut, als die Leute noch mit dem Fahrrad in die Schule gefahren sind. Birdy kutschiert mit seinem Rad jeden Tag in die Schule, bei jedem Wetter; er fährt nie mit dem Schulbus. Himmel Arsch, was willst du mit so einem schon anfangen? Birdy kommt ans Auto, und wir reden über irgendwelche Klassenarbeiten. Birdy und ich haben viele Klassen gemeinsam; wir neigen beide zur sprachlichen Richtung, sind beide guter Durchschnitt. Lucy guckt Birdy an. Es ist ihr wohl neu, daß wir Freunde sind. Für sie bin ich der starke Killertyp Al, Ringer und Footballspieler, einer, dem man zujubelt. Birdy fängt an von seinen Kanarienvögeln zu erzählen. Jeder in der Schule weiß, daß er inzwischen mindestens tausend Vögel hat. Einmal brachte er ein paar davon in die Chemiestunde mit, um ihr Blut zu untersuchen, und in der Physik baute er ein Flugmodell, das tatsächlich funktionierte, seinen verrückten Ornithopter. Selbst in seinen Aufsätzen schreibt er
über Vögel. Birdy, der Vogelnarr. Ich interessiere mich immer noch ein bißchen für Tauben, aber Birdy spinnt wirklich. Ich hab mir zwar seine Vogelhäuser angesehen, aber es ist etwa so, wie wenn er mit mir in die Exerzierhalle geht: wir sind aus alter Gewohnheit öfter zusammen, mehr ist da nicht. Birdy erzählt mir von einem Vogel, den er zum Fliegen gebracht hat, nachdem er ihm zusätzlich Gewichte an die Beine gebunden hat. Dieser Vogel kann noch fliegen, wenn er fast das Dreifache seines normalen Körpergewichts mit sich herumträgt. Der Gewichtheber-Champion der Vogelwelt. Dieser Dummkopf von einem Vogel war noch im Nest, als Birdy das Training mit ihm aufnahm. Lucy sagt, daß sie das grausam findet, und Birdy streift sie mit einem seiner fahrigen Blicke, nur um zu zeigen, daß er sie wahrgenommen hat, und einen Moment lang scheint er beinahe zu lächeln. Lucy ist dafür viel zu langsam; was sich so schnell abspielt, sieht sie nicht. Birdy ist so dürr, daß man fast durch ihn hindurchsehen kann. Es ist Ende Mai, und er trägt ein ärmelloses Hemd, unter dem sich sein spitziges Brustbein deutlich abzeichnet. Er sieht immer gespenstischer aus. Er hat von allen Jungs in der Schule die längsten Haare; sie reichen ihm bis über die Augen, und er schiebt sie nie aus dem Gesicht. Er redet durch seine Haare. Er dreht mit dem Fahrrad kleine Kreise, während er auf uns einredet. Drinnen im Auto habe ich meine Hand zwischen Lucys Beinen. Mit ihrem Muskel preßt sie meine Finger zusammen und läßt dann wieder los. Lucy hat tolle, kräftige Beine; sie kann in die Luft springen und im vollen Spagat landen. Damit heizt sie dem Publikum immer ganz schön ein: Es greift einem echt ans Herz. Schließlich radelt Birdy davon. Sobald er weg ist, will Lucy alles über ihn wissen. Ich erzähle ihr, daß wir zusammen in die Grundschule gegangen sind. Sie öffnet ihre Beine ein wenig, so daß ich meinen Finger reingleiten lassen kann; sie ist schon
feucht. Ich werde mit ihr hinter das Schulhaus fahren, in den Park. Ich kenne da einen guten Platz unter einer Brücke. Das ganze Ufer ist da praktisch mit Gummis gepflastert. Lucy gibt mir einen vollen, starken Zungenkuß und lehnt sich zurück. »Ist der schwul oder was?« sagt sie. »Er kommt mir irgendwie homisexuell vor.« Großer Gott, sie sagt tatsächlich »homisexuell«, ehrlich wahr.
Ich bekam Birdie kurz vor Weihnachten, und schon im Februar zeigt sie erste Anzeichen einer Paarungsbereitschaft. Sie steht an einer Stelle und schlägt mit den Flügeln, ohne wegzufliegen, es ist eine Art nervöses Flattern. Sie fängt auch an, Papierschnitzel oder Fadenreste herumzutragen. Sie hat ein neues kurzes Pijip entwickelt, und manchmal ist es ein Trillern, das sich aus vielen kleinen Piep zusammensetzt. Wenn sie von meinem Finger frißt, macht sie Pijip und geht mit zitternden Flügeln in eine geduckte Paarungshaltung und möchte, daß ich sie füttere. Wenn ich ihr auf meiner nassen Fingerkuppe Samenkörner hinhalte, macht sie den Schnabel auf und möchte, daß ich sie ihr in den Hals stopfe, so wie man das bei einem Küken macht. Ein Weibchen, das sich paaren will, verhält sich in mancher Hinsicht wie ein Küken. Etwa zu der Zeit findet meine Mutter heraus, daß ich Birdie oft aus dem Käfig lasse, und es kommt zu einer großen Szene. Nach allen möglichen hysterischen Anfällen sagt mein Vater, ich dürfe an der Stelle, wo ich mir mein Hochbett gebaut habe, unten ein Vogelhaus hinbauen. Meine Mutter kriegt noch einen Anfall, muß sich aber fügen. Mein Vater versteht manchmal, worauf es ankommt. Ich möchte, daß das Vogelhaus so unauffällig wie möglich ist, deshalb nehme ich einen dünnen Stahldraht. Ich befestige Krampen im Fußboden und in den Fügen unter meinem Bett. Dann spanne ich Klaviersaiten von unten nach oben und von oben nach unten zwischen die Krampen, und zwar im gleichen Abstand, den auch die Gitterstäbe an einem Kanarienkäfig haben. Die Tür mache ich eben noch groß genug, daß ich mich durchzwängen kann. Ich hänge sie am Bettrahmen ein. Als alles fertig ist, kann man die Drähte kaum sehen. Im Innern kleide ich die Wände mit einem hellblauen Wachstuch aus und hänge an die Unterseite des Betts eine Lampe. Auf den
Boden kommt ebenfalls ein Wachstuch, und darauf weißer Sand, Mit Hilfe von Dübeln bringe ich verschiedene Sitzstangen an und schneide eine dicht verästelte Hecke so zurecht, daß ich sie als ein natürliches Bäumchen in die hintere Ecke stellen kann. Sieht großartig aus. Ich hole Birdie aus ihrem Käfig und trage sie auf meinem Finger durch die Tür in ihr neues Haus. Sie fliegt von meinem Finger auf eine der Sitzstangen und dann kreuz und quer durch den ganzen Käfig. Sie probiert den Baum aus und frißt von den neuen Näpfen auf dem Boden. Sie badet. Noch während sie naß ist, kommt sie herüber und setzt sich auf mein Knie, und als sie sich schüttelt, bekomme ich einen Sprühregen ab. Es ist ein phantastisches Zuhause für einen Vogel. Ich habe immer noch zwanzig Dollar von dem Zeitschriftenverkauf. Der Rest ging als mein Anteil an den zweiundneunzig Dollar an meine Eltern. Ich will für Birdie ein Männchen kaufen, und ich will einen erstklassigen Vogel, einen echten Flieger. Samstags fahre ich immer mit dem Fahrrad los und suche die verschiedenen Vogelleute auf. Birdie habe ich in einem kleinen Reisekäfig dabei. Ich könnte sie auch auf meine Schulter setzen, aber man weiß nie, ob man nicht einer Katze oder einem Sperber begegnet. Außer Mrs. Prevost gibt es noch andere Leute, die Vögel verkaufen und in der Nähe wohnen. Der größte ist Mr. Tate. Er hat sechs- oder siebenhundert Vögel. Er ist klein und so gut wie taub, obwohl er nicht sehr alt ist. Er trägt einen Hörapparat und ist verheiratet, aber Kinder sehe ich dort nie. Es ist schon eigenartig, daß jemand, der nicht hören kann, Gesangskanarien züchtet. Wie Beethoven. Vögel sind Mr. Tates Geschäft, und außer der Produktion und den Preisen versteht er nichts und interessiert ihn nichts. Er hat große Volieren voller Vögel und ganze Batterien von
Zuchtkäfigen. Er läßt immer zwei Weibchen von einem Männchen versorgen, um Futter zu sparen. Er wundert sich über mich, weil ich Birdie mitbringe, aber es ist ihm egal. Ich stehe vor dem Käfig mit den Männchen und lasse Birdie heraus, damit sie sich umsehen kann. Sie fliegt an das Gitter, und ein paar Männchen kommen und besuchen sie. Einige balzen sie an oder versuchen, sie zu füttern. Ich gucke genau zu, aber ich sehe kein Männchen, das mir besonders zusagt. Was ich suche, ist ein grünes Männchen, denn in den Büchern steht, man soll einen gelben Vogel mit einem dunklen Vogel paaren, damit das Gefieder der Jungen schön wird. Bei zwei gelben Vögeln haben die Jungen nachher dünne, ausgefranste, unterentwickelte Federn, und wenn beide Eltern dunkel sind, gibt es dicke, kurze, buschige Federn. Ich habe das Gefühl, ich erkenne den richtigen Vogel, wenn ich ihn sehe, und Birdie ebenso. Ein anderer Züchter in der Nähe ist eine Dame, die nur etwa fünfzig Zuchtvögel hat, Mrs. Cox. Während Mr. Tate seine Vögel hinterm Haus unter offenem Himmel hält, hat Mrs. Cox ihre in einem überdachten Anbau. Sie mag ihre Vögel und kennt jeden einzelnen. Sie ist wie Mrs. Prevost; sie erzählt mir, welche ihrer Weibchen gute Mütter und welche Männchen gute Väter sind. Sie weiß genau, welches die Väter und Mütter aller ihrer Vögel sind. Wenn man ihr zuhört, dann ist das, als höre man jemanden über die Leute in einer kleinen Stadt erzählen. Manchmal flüstert sie sogar, wenn sie mir von einem Vogel berichtet, der ihrer Meinung nach etwas Unrechtes getan hat. Sie hat für jeden Vogel einen eigenen Namen. Sie ist froh, daß ich Birdie mitgebracht habe, um bei der Suche nach einem Männchen Hilfe zu haben. Sie sagt, in dem Käfig mit den Weibchen darf Birdie frei herumfliegen. Die Männchen sind in der einen Hälfte der Voliere, die Weibchen in der anderen. Dazwischen ist ein Drahtgitter. Mrs.
Cox sagt, sie beobachtet die Vögel, und wenn zwei Vögel zeigen, daß sie sich lieben, bringt sie sie in den Zuchtkäfig. Wenn man ihr zuhört, dann ist das wie wenn man Vom Winde verweht oder so was liest. Sie macht mich auf all die augenblicklichen Flirts aufmerksam und zeigt mir, wer hinter wem her ist. Wenn man ihr eine Weile zuhört, fängt man an ihr zu glauben. Mrs. Cox züchtet nicht nach irgendeinem System. Ihre einzige Regel besagt, daß sich Brüder und Schwestern aus demselben Nest nicht paaren dürfen; das steht so in der Bibel, sagt sie. In ihren Zuchtkäfigen hat sie immer ein Männchen und ein Weibchen. Sie findet das gar nicht schön, was Mr. Tate macht. Allein darüber redet sie einen halben Nachmittag lang. Mrs. Cox und Mrs. Prevost sind befreundet. Mrs. Cox erkennt in Birdie sofort einen von Mrs. Prevosts Vögeln. Manchmal tauschen die zwei Frauen Vögel aus, um neues Blut in ihr Vogelhaus zu bekommen. Sie sind sich in vielem ähnlich, nur daß Mrs. Cox mager ist. Mrs. Cox sagt, ich kann Birdie im Käfig mit den Weibchen lassen und sie jederzeit besuchen kommen. Wenn Birdie an einem ihrer jungen Männchen Gefallen findet, verkauft sie mir den Vogel. Das ist sehr nett von ihr, aber ich will Birdie nicht allein hierlassen. Ich komme jeden Samstag und lasse Birdie mit den anderen Weibchen herumfliegen. Von den Männchen kommen viele an das Trenngitter und balzen sie an, aber sie scheint an keinem sonderlich interessiert. Ich selbst habe einen Bewerber gefunden, der mir gefällt; er hat einen grünen Rücken und eine gelbgrüne Brust mit weißen Flügeldecken. Sein Kopf ist flach, und die Beine sind lang. Die Wölbung unterhalb der Kehle ist deutlich zu sehen, aber er scheint nie zu singen. Er fliegt sehr elegant und würdevoll. Mrs. Cox sagt, er sei ein Schmetterer; er singe sehr kräftig, habe aber einige schlechte Töne in seinem Gesang; diese Töne kennzeichneten die ganze Familie.
Sein Urgroßvater sei ein Roller gewesen, aber sonst gebe es in der Familie nur Schmetterer. Mrs. Cox erzählt mir von einem anderen Vogelzüchter, einem Mr. Lincoln. Er ist schwarz und wohnt einen Block von der Dreiundsechzigsten Straße weg, auf der anderen Seite des Parks. Sie sagt, er habe alle seine Vögel in einem Schlafzimmer im Obergeschoß eines Reihenhauses. Er ist verheiratet und hat fünf Kinder. Die Vogelzucht ist seine einzige Beschäftigung, und die ganze Familie lebt von der Fürsorge. Mrs. Cox erzählt mir das alles in dem gleichen Tonfall, in dem sie mir von den Vögeln erzählt und vor allem, was sie getan oder nicht getan haben. Als ich Mr. Lincoln das erstemal aufsuche, tut er so, als habe er gar keine Vögel. Erst nachdem wir uns ein bißchen über Vögel unterhalten haben und nachdem er Birdie gesehen hat, zeigt er mir drei, vier Vögel, die er in einem Käfig im Erdgeschoß hat. Wir reden eine Weile über sie; und dann zwinkert er und sagt, ich solle mit nach oben kommen. Er hat sich da ein phantastisches Vogelhaus gebaut. Das Problem ist nur, daß das Ganze im Haus ist und stark nach Vögeln riecht. Er hält es zwar sauber, aber bei ein paar hundert Vögeln in einem geschlossenen Raum riecht es eben. Am besten wären natürlich vergitterte Fenster, die offenbleiben können, aber er sagt, das gehe wegen der Nachbarn nicht. Er hat Angst, sie könnten den Leuten von der Fürsorge melden, daß er Vögel hat. Die Vögel sind alle in einem Raum. Auf der einen Seite sind die Zuchtkäfige, auf der anderen Seite die Volieren. Die Tür dieses Raumes führt auf einen Gang hinaus. Er bastelt die Zuchtkäfige alle selber und streicht sie mit verschiedenen Farben an, die auf seine Zuchtpläne abgestimmt sind. Die Farben sind es, die Mr. Lincoln vor allem interessieren. Er zeigt mir die verschiedenen Projekte, die er laufen hat. Er
versucht, Kanarienvögel mit verschiedenen anderen Vogelarten zusammenzubringen, um neue Farben zu bekommen. Er hat einige Kanaris, die aus der Kreuzung mit Hänflingen hervorgegangen sind; sie sind von einem schönen lederfarbenen Orangerot mit hellen Streifen. Andere Kanaris verpaart er mit einem kleinen nordafrikanischen Zeisig; das gibt dunkle Vögel mit einer leuchtenden orangeroten Brust. Er kreuzt auch mit einem Vogel, den er einen australischen Feuerweber nennt; das gibt Nachkömmlinge mit roten Köpfen und dunklen Leibern. Mr. Lincoln redet von Erstkreuzungen und Zweitkreuzungen und zeigt mir Vögel, die er Halbschläger nennt. Er muß mir erklären, daß ein Halbschläger ein Vogel ist, der unfruchtbar ist. Ich sage ihm lieber nicht, daß ich dachte, Halbschläger habe etwas mit Tennis zu tun. Er erzählt mir, daß die meisten seiner Erstkreuzungen Halbschläger sind. Er sagt, er müsse oft bis zu zehnmal kreuzen, ehe er einen fruchtbaren Vogel bekomme. Und ob ein Vogel fruchtbar ist, läßt sich nur durch die Weiterzucht feststellen. Mr. Lincoln hat riesige Bücher voller Diagramme und Zeichnungen, die seine Zuchttabellen darstellen. Er erklärt mir das Reinzüchten. Er hat verschiedene Sorten von Spezialfutter, die er entwickelt hat und die dazu führen sollen, daß sich die Vögel paaren. Er sagt, wenn ein Mensch von dem Zeug essen würde, könnte er sich wahrscheinlich selber mit einem Vogel paaren. Mr. Lincoln sagt nie »ticken« oder »scheißen« oder ähnliche Dinge. Es heißt bei ihm immer nur »Zucht« oder »Paarung« und »Exkremente«. Vielleicht liegt es daran, daß ich jung bin oder weiß, aber ich glaube das eigentlich nicht. Mr. Lincoln scheint meine Hautfarbe ziemlich gleichgültig zu sein. Das Hauptziel, das er vor Augen hat, ist die Züchtung eines absolut schwarzen Kanarienvogels. Er sagt, der müsse so
schwarz sein, daß er wie Purpur wirke. Er sagt, in grünen Vögeln stecke eine Menge Schwarz, und er versucht, es herauszuholen. Zu dem Zweck paart er die Vögel, die möglichst viel Grün und möglichst wenig Gelb an sich haben, mit weißen Vögeln. Das erstemal sind die Jungen weiß oder grau oder gefleckt. Er nimmt die dunkelsten ohne Flecken und paart sie erneut mit dem dunkelgrünen Vater- oder Muttervogel. Seit neun Jahren betreibt er nun schon diese Art von Reinzucht, und einige seiner Vögel sind schwärzer als Haussperlinge. Sie haben nicht eine gelbe Feder an sich; die schwarzen Teile sind von einem tiefen, stumpfen Schwarz, und die helleren Federn sind dunkelgrau. Mrs. Lincoln zeigt mir eine Feder, die er in seiner Brieftasche stecken hat. Er sagt, wenn er einen ganzen Vogel habe, der so schwarz sei, könne er glücklich sterben. Diese Feder muß von einer Krähe oder einer Amsel stammen, so schwarz ist sie. Das Interessante ist, daß seine dunklen Vögel so gute Sänger sind. Mr. Lincoln interessiert das zwar nicht im geringsten, aber die meisten der jungen Hähne in den schwarzen Käfigen singen munter drauflos; es sind Roller mit prächtigen tiefen Tönen. Mr. Lincoln sagt, das sei deshalb so, »weil was’n rechter Nigger ist, der kann auch singen.« So redet Mr. Lincoln sonst nie. Er lächelt und sieht mich prüfend an, während er es sagt. Er erlaubt, daß ich Birdie zu den anderen Weibchen in die Voliere lasse. Ich merke schon, daß er von Birdie als Vogel nicht viel hält; sie ist für ihn nur eine blöde Blondine, aber wie sie sich von mir in die Hand nehmen und anfassen läßt, das beeindruckt ihn. Er sagt, er habe noch nie einen so zahmen Vogel gesehen, und ich müsse im Umgang mit Vögeln sehr gut sein. Er läßt mich jederzeit in seinem Vogelhaus sitzen und den Vögeln zusehen. Ich gehe da oft hin, und genauso gern wie den Vögeln sehe ich Mr. Lincoln bei der Säuberung und Pflege der
Käfige zu. Seine Hände bewegen sich so sicher und flink wie die Vögel selbst. Nach einiger Zeit lädt mich seine Frau öfter mal ein, mit ihnen zu Mittag zu essen. Es ist leicht zu sehen, daß Mr. Lincolns Kinder ihn großartig finden. Wahrscheinlich ist er es. Während ich in Wirklichkeit bei Mr. Lincoln bin, sage ich meiner Mutter, ich sei bei Al. Al sagt, er werde mich decken. Er möchte wissen, ob ich mir endlich eine Freundin zugelegt habe, aber ich erzähle ihm, daß ich immer nach Philadelphia gehe, um mir Vögel anzusehen. Ich erzähle ihm von Mr. Lincoln. Al meint, meine Mutter werde mich umbringen, wenn sie dahinterkommt. Er hat recht. Mr. Lincoln sagt, er könne mir keinen von den Vögeln verkaufen, die in seinen Zuchttabellen stehen, aber von den anderen könne ich jeden haben. Es gibt da einen Vogel, der mir wirklich gefällt. Ich könnte ihm den ganzen Tag beim Fliegen zusehen, und er weiß, daß ich ihn beobachte. Er ist von allen Kanarienvögeln, denen ich begegnet bin, der einzige, der ans Drahtgitter kommt und versucht, mich in den Finger zu beißen. Dieser Vogel legt sich fortwährend mit all den anderen Hähnen an. Das heißt, er sucht immer Streit. Er setzt sich auf eine Stange und verjagt alle anderen, erst die zu seiner Linken, dann die zu seiner Rechten. Daraufhin fliegt er zu einer anderen Stange und räumt wieder ab. Wenn er einen Vogel länger als ein paar Sekunden am Futternapf sitzen sieht, stürzt er sich wie ein Habicht auf ihn. Ich spreche Mr. Lincoln darauf an, und er sagt kopfschüttelnd: »Das ist einer von denen, die böses Blut haben.« Es stellt sich heraus, daß im Rahmen seiner Versuche, einen schwarzen Kanarienvogel heranzuzüchten, eine Variante entstanden ist, die zwar eine Menge Schwarz enthält, aber auch sehr viel Gelb, so daß schließlich eine satte grüne Farbe herauskam. Er sagt, er habe alles versucht, dieses Schwarz zu
isolieren, aber er habe schließlich aufgeben müssen. Das hier ist der letzte Vertreter dieser Variante. Alle anderen hat er verkauft. Es gehört zu ihren Besonderheiten, sagt er, daß sie so bösartig sind wie Hummeln. Sie bekämpfen sich dermaßen, daß sie sich praktisch gegenseitig umbringen. Die streiten schon miteinander, noch bevor sie aus dem Nest sind. Sie gehen auch auf andere Vögel los und sind erst zufrieden, wenn sie entweder gewonnen haben oder selber halb tot sind. Mr. Lincoln sagt, sie stammten ursprünglich alle von einem Harzer-Roller-Weibchen ab, der Tochter eines preisgekrönten Sängers. Mr. Lincoln kaufte sie, weil sie so dunkel war; das war vor fünf Jahren, und er mußte zehn Dollar für sie bezahlen. Das ist eine Menge Geld für ein Weibchen, vor allem für eines, das sechs Jahre alt ist, krank, fast ohne Federn und ständig in der Mauser. Mr. Lincoln päppelte sie wieder auf, gab ihr etwas von seinem Sexfutter und brachte sie noch zweimal zum Brüten, bevor sie einging. Mr. Lincoln ist überzeugt, daß das böse Blut von ihr stammt. Er sagt, so widerspenstig und bösartig sind nur die Deutschen. In dem Zusammenhang sagt er mir auch, daß er ein Rassist ist. Mr. Lincoln glaubt, verschiedene Rassen und Menschen hätten unterschiedliches Blut, und das sei ganz natürlich. Er sagt, jedes Volk sollte versuchen, sein eigenes natürliches Leben zu führen, und die Menschen sollten einander in Ruhe lassen. Ich frage ihn, wie das dazu paßt, daß er Kanarienvögel mit Hänflingen und Zeisigen kreuzt. Mr. Lincoln gibt mir wieder einen seiner prüfenden Blicke. Er sagt, er sei ein Rassist in bezug auf Menschen und nicht auf Vögel; dann lacht er. Er erzählt mir, die meisten Menschen seien unglücklich, wenn sie versuchten, ein für sie unnatürliches Leben zu führen. Er wollte, er könnte mit seiner Familie nach Afrika zurückgehen. Ich hatte mir nie klargemacht, daß die amerikanischen Schwarzen aus Afrika stammen. Manchmal stelle ich über-
rascht fest, daß es ganz offenkundige Dinge gibt, von denen ich nichts weiß. Ich nenne diesen Vogel Alfonso, weil er dauernd Streit sucht, genau wie Al. Man hat den Eindruck, daß er glaubt, er könne es mit jedem aufnehmen und Sieger bleiben, und wenn er nicht gewinnen kann, würde er lieber sterben. Ich hätte gern, daß sich Birdie für ihn interessiert, aber sie beachtet ihn kaum. Aber einmal muß sie zwangsläufig Notiz von ihm nehmen. Zwei oder drei Männchen sind hinter Birdie her. Sie ist an das Gitter herangeflogen, das die Männchen von den Weibchen trennt, und diese Männchen kommen herüber und beginnen sie anzubalzen. Meistens schwirrt sie in solchen Fällen von Stange zu Stange, als höre sie gar nicht zu, aber sie kommt immer wieder auf diese eine Stange zurück und bewegt die Flügel rasch auf und ab. Diesmal nun beschließt Alfonso, dem Gesindel einen Denkzettel zu geben. Er kommt herüber und hackt auf den Hahn, der ihm am nächsten ist, so lange ein, bis der seinen Gesang abbricht und zu der untersten Sitzstange herabflattert. Der nächste Vogel wendet sich dem Angreifer zu und hebt – so wie das kampfbereite Vögel tun – mit ausgebreiteten Flügeln und offenem Schnabel ein wenig von der Stange ab, doch der gute Alfonso trifft ihn mit zwei raschen Schnabelhieben in der Nähe der Augen, und er hat genug. Der dritte Vogel ergreift die Flucht, noch während dies geschieht. Die arme Birdie muß mit ansehen, wie ihr Fanklub aufgerieben wird. Alfonso wirft ihr nur einen Blick zu, fliegt dann an das Gitter heran und reißt seinen Schnabel auf, was in der Kanarisprache einem Siegesschrei entspricht. Birdie fällt fast von der Stange. Auf jeden Fall weiß ich jetzt, diesen Vogel will ich haben. Birdie wird lernen müssen, ihn zu lieben. Er ist dunkel und hat einen flachen Kopf wie ein Raubvogel, einen langgestreckten Körper mit nur geringen Unterschieden zwischen dem Grasgrün der Brust und dem Moosgrün der Rückenfedern. Nir-
gends an ihm ist eine winzige weiße oder auch nur gelbe Feder zu sehen. Seine Beine sind lang und schwarz, und unter dem festen, schlanken Bauch schauen die befiederten Schenkel hervor. Er sieht wirklich furchterregend aus. Seine Augen scheinen einen festzunageln, glänzend schwarz und ungewöhnlich eng zusammen. Es ist schwer zu glauben, daß er nur ein körnerfressender Kanarienvogel ist. Als ich Mr. Lincoln sage, daß das der Vogel ist, den ich haben möchte, will er es mir ausreden. Er sagt, in der Zucht sei diese Sorte schwer einzusetzen, weil sie die Weibchen ganz übel traktierten und manchmal sogar die Küken angriffen, wenn die sich aus dem Nest wagten. Er sagt, man habe mit ihnen nur Ärger. Die Weibchen seien gute Mütter, aber die Männchen könnten einen verzweifeln lassen. Alle Versuche, mich umzustimmen, sind zwecklos. Ich bin ganz aus dem Häuschen, wenn ich ihn fliegen sehe. Er fliegt so, als sei die Luft überhaupt nicht vorhanden. Wenn er vom Käfigboden abfliegt, ist er bereits einen halben Meter in der Luft, bevor er die Flügel ausbreitet. Wenn er sich von der obersten Stange fallen läßt, legt er die Flügel an und spreizt sie nur einmal, kurz bevor er am Boden ist. Ich habe das Gefühl, man könnte ihm alle Federn aus den Flügeln ziehen, und er würde immer noch fliegen. Er fliegt, weil er keine Angst hat, und nicht einfach, weil das Vögel nun mal tun. Sein Fliegen ist ein schöpferischer Akt, ein Ausdruck des Trotzes. Mr. Lincoln verkauft ihn mir für fünf Dollar. Er ist mindestens fünfzehn wert. Mr. Lincoln sagt, ich solle es mit ihm probieren und wieder zu ihm kommen und berichten. Wenn ich nicht mit ihm zurechtkomme, könne ich ihn zurückbringen, und er werde mir dann einen anderen Vogel geben. Mr. Lincoln ist phantastisch. Ich wollte, es gäbe mehr Leute wie ihn. Zu Hause bekommt Alfonso den Käfig, in dem ich Birdie hatte, bevor ich ihr das Vogelhaus baute. Den Käfig mit Alfonso
hänge ich in das Vogelhaus, in dem Birdie lebt. Ich traue mich nicht, die beiden sofort zusammenzubringen. Mr. Lincoln sagt, ich müsse vorsichtig sein, er könnte sie vielleicht umbringen. Ihn einzufangen, war allein schon ein Kapitel für sich. Er war wie wahnsinnig herumgeflogen, und als Mr. Lincoln ihn endlich in die Enge getrieben hatte, kreischte er und verdrehte den Kopf und wollte die Hand beißen, die ihn festhielt. Er war völlig hilflos, von der Hand umklammert, aber als ich einen Finger ausstreckte, um ihn zu streicheln, drehte er den Kopf nach hinten und pickte mich kräftig in den Finger. Birdie saß derweil auf meiner Schulter und schaute zu. Ich überlegte mir, was sie wohl dachte, denn sie gab ein paar ernste fragende QuieIEP, als ich sie in ihren Reisekäfig steckte. Alfonso beförderte ich in einer Pappschachtel nach Hause; halb befürchtete ich, er könnte ein Loch hineinpicken, um zu entkommen. Nun, es macht Spaß, zuzusehen. Birdie ist natürlich aufgeregt. Sie fliegt an seinen Käfig und versucht sich festzuhalten und hineinzusehen. Wie sie so da hängt, hackt er ihr ein paarmal kräftig in die Füße und in die Brust. Einmal reißt er ihr ein paar Brustfedern aus. Er scheint sich in dem neuen Käfig ganz wohl zu fühlen; er frißt und trinkt vom ersten Tag an, benimmt sich wie zu Hause. Es ist, als wolle er vor allen Dingen seine Ruhe haben. Ich warte darauf, daß er singt. Bei Mr. Lincoln habe ich ihn nie singen hören. Mr. Lincoln hatte die Unterfedern zur Seite gepustet, um den kleinen Pimmel zu zeigen, als ob an seiner Männlichkeit überhaupt zu zweifeln sein könnte; aber ich weiß immer noch nicht, ob er singen kann. Mr. Lincoln konnte sich nicht erinnern, ihn schon mal gehört zu haben, aber er horcht auch nicht darauf. Ob ein Kanarienvogel singt, ist ihm egal. So sehr interessiert es mich, glaube ich, auch nicht, aber ich kann es kaum erwarten, ihn in dem großen Käfig fliegen zu sehen.
Am Nachmittag geh ich wieder zu Birdy. Allmählich denke ich, es hat wenig Sinn. Das Dumme ist, ich bin mir gar nicht sicher, ob ich wirklich will, daß Birdy zurückkommt. Wir leben in einer so beschissenen Welt, und je mehr ich davon sehe, desto schlimmer kommt es mir vor. Birdy weiß wahrscheinlich, was er tut. Er braucht sich um nichts Sorgen zu machen, irgend jemand wird sich immer um ihn kümmern, ihn füttern. Er kann sein ganzes Leben so tun, als sei er ein verdammter Kanari. Was ist daran so schlimm? Himmel Arsch, ich wollte, ich könnte mir selber irgendwas Verrücktes ausdenken. Vielleicht spiel ich Gorilla wie der Typ überm Gang; ich scheiße hin und wieder in meine Hände und werf es jemand ins Gesicht. Dann sperren sie mich ein, und ich bin versorgt, so wie damals im Lazarett in Metz. Ich könnte das ohne weiteres. Vielleicht heißt das, daß ich verrückt bin. Ich weiß bloß, es ist gar nicht so übel, wenn du die Entscheidungen anderen überläßt. Mann, wär das Spitze, wieder Football zu spielen; ich spür wieder den Dreck zwischen meinen Stollen, rieche den Schimmel in den Schulterpolstern neben meinen Ohren, höre meinen eigenen Atem in dem Helm. Alles war so einfach, du rennst jeden über den Haufen, der die falsche Farbe am Dreß hat, denkst nur an den Sieg. Wer zum Teufel will schon wissen, wie ein echter Verrückter aussieht? Für mich ist dieser Weiss verrückt, und sein spuckender T-4 dazu. Die wissen, Birdy ist verrückt, und wahrscheinlich denken sie, ich bin es auch. Ich sollte mit diesem CO reden. Der hat schon so lange mit Spinnern zu tun, weiß wahrscheinlich mehr als jeder Doktor. Eins hab ich gelernt: wenn du wissen willst, wo ein OP ist, frag bloß keinen Offizier. Der ist imstande und schickt dich zur Oberpostdirektion.
Ich mache mir sogar schon Gedanken, ob es nicht ein bißchen verdächtig war, wie eng wir all die Jahre befreundet waren, Birdy und ich. Ich hab noch keinen gekannt, der einen so engen Freund hatte; wir waren ja fast wie zwei Verheiratete. Wir hatten einen Privatklub für zwei. Zwischen dreizehn und siebzehn hab ich mehr Zeit mit Birdy verbracht als mit allen anderen zusammen. Sicher, ich bin den Mädchen nachgestiegen, und Birdy hat mit seinen Vögeln rumgemacht, aber er war wirklich der einzige Mensch, dem ich je nahe gewesen bin. Die Leute sagten oft, daß wir uns gleich anhören, also unsere Stimmen, meine ich; uns fielen auch immer gleichzeitig die gleichen Sätze ein. Birdy fehlt mir; ich muß ihn wiederhaben, mit ihm kann ich reden. Über eine Stunde lang sitze ich zwischen den beiden Türen und sage kein Wort. Ich habe Birdy auch nicht ständig im Auge. Es ist wie ein langer Wachdienst, ich hab mich nach innen gewendet, bin nur noch halb da. Ich weiß nicht, weshalb ich auf einmal an unsere Zeit als Hundefänger zurückdenke; vielleicht ist mir eingefallen, was für ein Schock das alles für uns war, besonders das ewige Herumhängen auf der Polizeiwache und dann die Unterhaltung mit den Bullen. Da haben wir schnell kapiert, was für ein Scheißleben das ist.
– He, Birdy!
Er richtet sich auf; er hört mir zu. Was soll’s eigentlich. Ich hab keine Lust, mit ihm darüber zu reden. Was soll dabei schon rauskommen. Es ist sowieso nicht das, was ich mit ihm bereden will. Mit einem Hopser dreht sich Birdy um und sieht mich an. Er neigt den Kopf nach rechts und nach links und
guckt mich, wie eine Taube, erst mit dem einen und dann mit dem anderen Auge an.
– Nun hör schon auf damit, Birdy. Laß endlich diesen Vogelquatsch!
In den Sommerferien vor unseren zwei letzten Schuljahren bekamen Birdy und ich den Job als Hundefänger. Genaugenommen haben wir den Job erfunden. In Upper Merion hatte es noch nie Hundefänger gegeben, und so liefen die Hunde rudelweise frei herum. Besonders schlimm war es in unserer Gegend, dem Armenviertel der Stadt. Zu so einem Rudel zählten zehn bis zwanzig Hunde, und sie gehörten niemand. Oft kauften die Leute ihren Kindern zu Weihnachten oder zum Geburtstag einen jungen Hund, und wenn sie dann merkten, wieviel die fraßen, warfen sie sie raus, und die Hunde fanden einander. Es war wie ein Dschungel. Meistens waren es räudig aussehende Köter, kurzbeinig und mit langem Schwanz, oder mit spitzer Schnauze und dickem Fell; alle möglichen merkwürdigen Mischungen. Sie streiften immer frühmorgens durch die Gegend, schmissen Mülleimer um und verstreuten die Abfälle. Am Tag gingen sie den Menschen meistens aus dem Weg; da zogen sie auf eigene Faust los oder schliefen. Manchmal gingen sie sogar zu ihren alten Besitzern zurück; aber nachts taten sie sich zu richtigen Wolfsrudeln zusammen. Gelegentlich fielen sie über ein Kind oder eine Katze oder die Männer von der Müllabfuhr her, und dann machten die Zeitungen ein Mordstheater. So ein Fall passierte dann kurz vor unseren Sommerferien. Ich hatte die Idee, ich könnte versuchen, sie mit meiner 22er abzuknallen. Ich bin inzwischen ein
richtiger Waffennarr. Ich weiß nicht, ob ich es tatsächlich getan hätte, aber ich erzählte Birdy davon. Er meinte, wir sollten zur Polizei gehen und als Hundefänger über den Sommer zu arbeiten. Er hat inzwischen das Haus voller Kanarienvögel und all die hohen Futterrechnungen. Überraschenderweise gehen die auf unsere Idee ein; der Polizeichef unterschreibt die Bewilligungspapiere, und zwei Wochen später ist alles bereit. Aus einem der alten Mannschaftswagen reißen sie die Rückseite heraus, errichten auf der Pritsche einen großen Käfig, bauen auf die hintere Stoßstange eine Plattform aus Holz und mit Haltegriffen, damit wir dort einen festen Stand haben. Sie teilen einen Wachtmeister namens Joe Sagessa als Fahrer ein, und die Sache läuft. Joe Sagessa hatte vorher einen Schreibtischjob; er ist nicht gerade begeistert, aber er hat keine Wahl. Er besitzt draußen in Secane ein Rudel Jagdhunde, da ist er der richtige Mann für diesen Job. Laut Abmachung bekommen wir einen Dollar die Stunde und zusätzlich einen Dollar für jeden Hund. Das war zu der Zeit eine Menge Geld. Mein alter Herr brachte es als Klempner nur auf fünfunddreißig die Woche. Bis die Karre hergerichtet ist, schicken sie uns zur Ausbildung nach Philadelphia runter. Dafür gibt’s zwar nur den Stundenlohn und nichts extra, aber wir haben auch nicht die Bohne zu tun, wir sollen nur zugucken. Die Gemeinde kaufte uns gewaltige Spezialnetze zum Einfangen der Hunde. Die Griffe sind kurz, so lang wie ein Hammerstiel vielleicht, aber das Netz selbst mißt über einen Meter im Durchmesser. Es wiegt schätzungsweise dreißig Pfund. An den Seitenwänden haben sie Ständer angebracht, wo die Netze hängen, solange wir hinten auf der Plattform stehen. In Philadelphia drunten sind die Hundefänger alles Schwarze. Es sind echte Profis, und einer von ihnen ist schon sieben Jahre
Hundefänger. Diese Burschen fangen im gleichen Stil Hunde ein, in dem die Globetrotters Basketball spielen. Sie machen ein richtiges Vergnügen daraus. Sie haben ein extra für diesen Job gebautes Hundeauto. Sie können um den Kotflügel herum nach vorn klettern und so jederzeit den Platz hinter dem Fahrer einnehmen. Immer nur einer von ihnen fährt draußen auf der Pritsche mit. Sobald er einen streunenden Hund sieht, stößt er einen Schrei aus. Zuerst bringen sie uns den Umgang mit dem Netz bei. Sie haben verschiedene Würfe entwickelt, linkshändige Hakenwürfe, rechtshändige Hakenwürfe und geradlinige Sprungwürfe. Diesen letzten, sagen sie, braucht man, wenn einem der Hund an die Kehle springt. Sie wollen uns veralbern. Es geht zu wie bei einer Großwildjagd. Sie reden von verschiedenen Hunden, die sie gefangen haben, und von den großen »Hurenböcken«, die sie erst niederringen mußten, bevor sie sie in den Lastwagen zerren konnten, und sie zeigen uns all die Stellen, wo sie gebissen worden sind. Sie kriegen stur einen Dollar fünfzig die Stunde, ganz gleich, wie viele Hunde sie fangen. Eine Woche lang fahren wir bei ihnen hinten auf den Lastwagen mit. Nun sind in Philadelphia unten die meisten Häuser zu Blocks zusammengebaut, und deshalb haben sie ein System entwickelt, mit dem sie die Hunde zwischen den Häuserblocks in die Enge treiben. Sobald sie einen Hund entdecken, springt sofort ein Netzmann ab. Der Wagen fährt weiter auf den Hund zu. Sie setzen einen weiteren Netzmann direkt neben dem Hund ab, und der Lastwagen fährt weiter bis zum Ende des Blocks und dreht um. Und hier steigt der dritte Mann aus, der, der den Wagen gefahren hat. Sie haben alle ihre Netze bei sich. Der in der Mitte, der dem Hund am nächsten ist, schleicht sich heran und versucht einen direkten Fangwurf, wirft einfach das Netz über den Hund. Damit hat er selten Glück. Irgendwie
merken die Hunde was und nehmen Reißaus. Nun sind die Netzmänner an den zwei Enden des Blocks dran. Der Mann in der Mitte hetzt hinter dem Hund her, damit der in Bewegung bleibt. Sobald der Hund an dem Burschen, der den Ausgang versperrt, vorbeirennen will, versucht dieser, ihn mit einem rechten oder linken Hakenwurf ins Netz zu bekommen. Dreht der Hund um, muß er an zwei Netzen vorbei. Es ist wie ein gelungener Spielzug im Baseball, bei dem ein Spieler zwischen zwei Malen erwischt und abgefangen wird. Zuletzt entscheidet sich der Hund für die eine oder die andere Richtung, und meistens bleibt er bei seinem Fluchtversuch in einem der Netze hängen. Dann heben sie unter großem Hallo und Gelächter den Hund auf die Ladefläche. Inzwischen drängen sich die Leute um den Wagen, und es wird geflucht, und wenn der Besitzer des Hundes dabei ist, geht oft eine richtige Streiterei los. Sie haben eine ganz bestimmte Art, den Hund im Netz hochzuheben und in den Käfig zu werfen. Sie erzählen uns, einmal kam ein Typ auf den Lastwagen und schnitt das Netz auf, um seinen Hund herauszuholen. Beim Erzählen kommen sie so sehr ins Lachen, daß ihnen die Puste ausgeht. Sobald sie einen Hund im Käfig haben, geben sie Vollgas und brausen davon. Es hat in Philadelphia schon immer Hundefänger gegeben, und daher trifft man keine eigentlichen Rudel mehr an. Was die da unten brauchen, ist ein Katzenfänger. Überall streifen heruntergekommene Katzen durch die Straßen. Einen Vogel sieht man dort nie. Diese Hundefänger haben überall ihre Freundinnen sitzen. Wenn sie sieben oder acht Hunde gefangen haben, verdrücken sie sich abwechselnd für ein, zwei Stunden und besuchen ihre Weiber. Wir anderen fahren solange durch die Gegend. Wenn zufällig ein Hund aussieht, als wolle er aufgelesen werden, springen wir ab und versuchen, ein Netz über ihn zu werfen. In
der Regel sind die Freundinnen verheiratet, und diese Burschen kommen lachend und kichernd und sprücheklopfend zurück, aber man spürt auch, daß sie Angst haben. Alle möglichen Witze drehen sich darum, wer wohl am müdesten ist. Tatsächlich sind sie etwa drei Stunden am Tag mit dem Einfangen von Hunden beschäftigt. In der übrigen Zeit sind sie zweifellos die älteste mobile Gigolo-Truppe in Philadelphia. Sie flirten auch vom Lastwagen aus. Frauen hängen, auf Kissen gestützt, aus den Fenstern und warten schon auf sie. Mit Zurufen wollen sie uns überreden, anzuhalten. Die Jungs streiten sich dauernd darüber, wer mit welcher Frau wie viele Kinder hat. Meistens unterhalten sie sich gar nicht mit richtigen Worten, sondern mit einem Lächeln, mit Blicken und mit tiefen Kehllauten. Jedenfalls geht es ihnen verdammt gut, wenn ich daran denke, wie unsere Väter so leben. Am Abend fahren wir zurück zum Hundezwinger. Dort gibt es Käfige und eine Vorrichtung zum Einschläfern all der Hunde, die niemand abholt. Und das trifft auf fast alle Hunde zu, die gefangen werden. Kein Mensch zahlt zwei Dollar Hundesteuer und die fällige Geldstrafe von fünf Dollar, um einen Hund rauszuholen. Sie laden den Lastwagen ab, bringen dann die überfälligen Hunde in die Gaskammer, verschließen die Tür – eine Tür wie an einem Safe, mit einem Drehgriff –, drehen das Gas auf und säubern die Käfige, in denen die Hunde zuletzt waren. Dieses Vergasen fasziniert Birdy und mich. Nach einer halben Stunde schalten sie die Ventilatoren ein, die das Gas absaugen, öffnen die Türen und ziehen die toten Hunde an den Schwänzen heraus. Wir haben beide noch kaum mit etwas Totem zu tun gehabt. Es ist schon hart, mitanzusehen, wie sie lebend hineingehen, herumspringen und bellen und versuchen, auf sich aufmerksam zu machen, und wie sie dann tot herauskommen, mit offenen Augen. Für die toten Hunde gibt es dann
einen besonderen Verbrennungsofen. An ihm ist ein langer, beweglicher Gitterrost befestigt, den sie rein- und rausziehen können, um die Hunde in die Flammen zu kippen. Sie säubern noch die Gaskammer, und der Arbeitstag ist zu Ende. Sie lachen und machen Witze, während sie all das tun, aber wir merken, daß sie auch keinen Spaß daran haben. Am ersten Morgen, an dem wir allein und mit unserem eigenen Wagen losfahren, jagen wir vielleicht fünfzig Hunde und erwischen keinen einzigen. Die Häuser sind dort nicht zu Blocks zusammengebaut, und so laufen die Hunde einfach zwischen den Häusern hindurch in die Parallelstraße. Joe Sagessa lacht sich beim Zugucken halb krank. Wir hätten wahrscheinlich in den meisten Fällen einfach auf den Hund zugehen und ihn aufheben können; aber wir sind beide der Meinung, daß das Betrug wäre. Wir müssen unsere Hunde mit dem Netz fangen, um richtige Hundefänger zu sein. An diesem Nachmittag kehren wir in unsere eigene Wohngegend zurück, wo es große Wohnblocks gibt. Es gelingt uns, vier Hunde einzufangen, darunter auch den Hund von Mr. Kohler, dem Tapezierer; er wohnt drei Häuser von uns weg. Die Gemeinde hat es so eingerichtet, daß die Hunde achtundvierzig Stunden lang in den Zwingern eines Tierarztes namens Doc Owens bleiben. Dort fahren wir mit den Hunden hin und machen Feierabend für diesen Tag. Als ich heimkomme, ist Mr. Kohler bei uns im Wohnzimmer. Er brüllt mit meiner Mutter herum. Als er mich sieht, geht’s gegen mich. Er will wissen, wo sein Hund ist. Er sagt, wenn er tot ist, bringt er mich um. Er nennt mich einen italienischen Faschisten. Ich schiebe ihn zur Tür raus, über die Veranda und die Treppe hinunter. Ich hoffe auf einen Schwinger von ihm. Ich habe noch nie einen Erwachsenen zusammengeschlagen. Er steht auf dem Rasen und sagt mir, er wird die Polizei holen. Ich sage ihm, daß ich für die Polizei arbeite. Ich sage ihm, er
muß fünf Dollar zahlen, wenn er seinen Hund wiederhaben will, weil der nämlich keine Steuermarke trägt; so ein Hund ist kriminell, und der Besitzer auch. Wenn er morgen nicht gleich hingeht, schneide ich dem verdammten Köter persönlich die Kehle durch. Er nennt mich wieder einen Faschisten. Ich schimpfe ihn einen jüdischen Scheißkopf. Ich bin drauf und dran, hinter ihm herzujagen; ich wollte, ich hätte mein Netz bei mir. Meine Mutter ruft mich ins Haus. Ich gehe hinein, und sie sagt mir, ich soll den Hundefängerjob aufgeben. Ich sage ihr, das tu ich nicht; mir fängt’s gerade erst an Spaß zu machen. Am nächsten Tag schaffen wir zwölf Hunde. Wir haben unser eigenes System entwickelt. Wir fangen die Hunde im Cowboystil, wir treiben sie praktisch zusammen wie eine Rinderherde. Wenn wir auf ein Rudel stoßen, fahren wir nicht an sie heran; wir folgen ihnen und manövrieren sie von Straße zu Straße, bis wir sie in einer Sackgasse oder an einem Ort haben, wo wir sie umzingeln können. Wir beobachten sie eine Weile, um herauszufinden, wer der Anführer des Rudels ist. Jedes Rudel hat seinen Leithund. Wir halten nach ihm Ausschau, während wir das Rudel zusammentreiben. Er ist leicht zu entdecken, denn er läuft an der Spitze des Rudels, und die anderen schauen nach ihm, damit sie wissen, wie sie sich verhalten sollen. Wir konzentrieren uns darauf, den Anführer des Rudels einzufangen, der Rest ist dann leicht. Wir machen das so, daß wir einen von uns – meistens mich – direkt vor diesem Hund absetzen. Ich steh also vor ihm, das Netz gesenkt wie das Cape eines Stierkämpfers, und knurre ihn an. Gewöhnlich muß er seine Ehre und das Rudel verteidigen, und so nimmt er eine drohende Haltung an und knurrt zurück. Inzwischen ist Birdy hinter ihm ausgestiegen, in zwanzig oder dreißig Meter Entfernung, und bahnt sich vorsichtig einen Weg durch das Rudel. Bis der Hund begriffen hat, was da geschieht, ist es zu spät, und einer von uns hat ihn im Netz.
Der Rest ist dann kein Problem mehr. Sie stehen ruhig da, wenn wir auf sie zugehen, oder sie wedeln gar mit dem Schwanz und sind zutraulich. Die meisten Hunde sind feige. Wir werfen das Netz über sie oder heben sie einfach hoch. Wir meinen, daß wir das Rudel verdient haben, wenn wir den Anführer eingefangen haben. Wir fangen alle zwölf Hunde morgens zwischen elf und halb zwölf. Mehr als zwölf Hunde bringen wir auf dem Lastwagen nicht unter. Mit dem Auto ist man in einer halben Stunde draußen bei Doc Owens, und Joe Sagessa meint, wir sollten uns ein paar Sandwiches und Bier besorgen und uns oben hinter dem Golfplatz ein bißchen ins Gras legen. Das tun wir dann auch; wir liegen herum und erzählen uns Witze, und gegen drei fahren wir mit den Hunden raus zu Doc Owens. Mr. Kohler ist bereits dagewesen und hat bezahlt, um seinen Köter wiederzubekommen. An dem Abend ist der Käfig fürchterlich verdreckt. Zum Glück gibt es einen Schlauch, mit dem sie sonst immer die Streifenwagen abspritzen; damit spülen wir dann alles aus dem Käfig, Hundescheiße, Hundepisse, Hundekotze, Hundehaare. Joe gibt uns im Mannschaftsraum einen Spind, wo wir unsere Arbeitskleidung aufbewahren können. Wir duschen uns im Mannschaftsduschraum und haben auch dort in einem Kleiderschrank immer etwas Sauberes zum Anziehen. Es ist fast, als gehörten wir selbst zur Polizei. Es ist phantastisch, mit diesen blankpolierten 38ern und 45ern umgehen zu können. Diese Bullen sorgen dafür, daß sie immer in perfektem Zustand sind. Einige der Gürtel und Halfter sehen toll aus, die ideale Mischung aus Schweiß und Öl, genau der Hüfte oder Schulter angepaßt. Ständig laufen irgendwelche Kartenspiele. Joe macht uns bei allen bekannt, und die scheinen nichts dagegen zu haben, daß wir da sind. Immer öfter denke ich, ich wär eigentlich auch
ganz gern ein Bulle. So ein Typ wie Joe Sagessa ist noch jung, und doch wartet bereits eine gute Pension auf ihn. Die Leute hassen dich vielleicht, aber sie schreien nach dir, wenn sie dich brauchen, und sie haben eine Menge Respekt vor dir. Noch so ein Traum, den ich mir abschminken kann. Am nächsten Tag machen wir es wieder so. Schon um zehn haben wir zehn Hunde, darunter einen riesigen Deutschen Schäferhund. Diesmal fahren wir gleich zu Doc Owens, decken uns auf dem Rückweg mit Sandwiches und Bier ein und legen uns dann für zwei Stunden ins Gras. Auf die Weise sind die Hunde nicht die ganze Zeit eingesperrt, und sie können nicht dauernd bellen und heulen und alles vollkacken. Am Nachmittag machen wir eine zweite Tour, und die bringt uns acht weitere Hunde. Joe macht das Hundefangen genau so viel Spaß wie uns. Er bezieht sein normales Gehalt, aber Birdy und ich können uns an dem Tag achtzehn Dollar Hundegeld teilen, und dazu kommt noch das Gehalt für acht Stunden. Die reinste Goldader. Doc Owens fängt an, einen Rückzieher zu machen. Er weiß nicht mehr, wo er all die Hunde unterbringen soll. Seine vornehmen Kunden kriegen Zustände, wenn sie die vielen räudigen Köter sehen. Bei der ersten Ladung ist inzwischen auch die Frist von achtundvierzig Stunden abgelaufen, und bisher hat sich außer Mr. Kohler kein Besitzer blicken lassen. Doc Owens besteht darauf, daß wir sie wieder mitnehmen. Joe sagt, er weiß, wo er sie aussetzen kann; die Stelle liegt an der Schnellstraße nach Baltimore, etwa dreißig Kilometer weit weg und jenseits der Gemeindegrenzen. Am nächsten Vormittag fangen wir elf Hunde ein. Als wir zu Doc Owens kommen, erlaubt er nicht, daß wir sie abladen. Joe grinst wie ein Verrückter. Auf dem Platz hinter dem Haus sind überall Pflöcke eingeschlagen, und an jeden haben sie einen Köter gebunden. Es sieht aus wie eine sehr miese Hundeaus-
stellung. Doc Owens will, daß wir erst die zwölf Hunde vom zweiten Tag wegschaffen, bevor wir noch mehr anbringen. Wir packen also die zwölf Hunde auf die Ladefläche und fahren wieder los. Wir fahren zurück zur Polizeiwache, die im Rathaus untergebracht ist, und Joe setzt Captain Lutz die Lage auseinander. Lutz telefoniert mit Philadelphia, und die sind bereit, die Hunde zu vergasen; allerdings wollen sie pro Hund einen Dollar. Es bleibt uns nichts anderes übrig, und so machen wir uns auf die lange Fahrt in die Stadt, liefern die Hunde ab und kommen uns dabei richtig gemein vor, und fahren wieder zurück. Für einen neuen Beutezug ist es inzwischen zu spät; wir können nur noch den Lastwagen säubern und abspritzen. Birdy und ich überlegen in dieser Nacht, ob wir nicht einen anderen Job finden können. Am nächsten Morgen haben wir in weniger als einer halben Stunde zehn Hunde eingefangen. Das Fangen selbst ist noch das einfachste an diesem Job. Wir fahren zu Doc Owens raus, und der kommt mit einem sorgenvollen Gesichtsausdruck zu uns herüber. Er wird erst richtig wütend, als er ins Wageninnere blickt und die kunterbunt zusammengewürfelte Hundemeute sieht, darunter einen gefährlich aussehenden Spitz. Joe springt mit zwei Drähten in der Hand und einem Lächeln im Gesicht aus dem Wagen. Joes System ist einfach, aber furchtbar. Er sagt, es ist die beste Methode, und der Hund spürt überhaupt nichts. Er tötet die Hunde durch elektrischen Strom. Er macht das so, daß er den Hund in Doc Owens’ Keller an einer nassen Stelle auf den Betonboden stellt. Dann rasiert er ein Stückchen Fell hinten im Genick des Hundes und an einer zweiten Stelle, gleich über dem Schwanzansatz. An diesen Stellen befestigt er zwei Klemmen. Diese Klemmen sind mit Drähten verbunden, die in einem Stecker zusammenlaufen.
Nachdem er einen der Hunde präpariert hat, macht er einen Schritt zurück und schiebt den Stecker in eine 220-VoltSteckdose. Der Hund macht eine Art Luftsprung, mit steifen Beinen und die Augen weit aufgerissen; dann landet er wieder auf den Beinen und steht da wie ein Spielzeughund, mit senkrecht abstehenden Haaren. Nach ungefähr einer Minute zieht Joe den Stecker heraus, und der Hund klappt zusammen. Es ist schlimm mit anzusehen, aber es kann auch nicht schlimmer sein als das Vergasen. Das Problem ist, daß man direkt danebensteht. Ich hab erlebt, wie Katzen überfahren wurden, das war unabsichtlich. Das hier ist schlimm. Wir greifen uns einen der Hunde aus dem Rudel, machen die Klemmen fest, der Hund ist völlig ahnungslos, und dann ZACK, das Ende. Birdy und ich spritzen nach jedem Hund den Boden ab. Es gibt irgendwelche Gerüchte über Konzentrationslager der Nazis; wir unterhalten eins für Hunde. Wir machen es mit allen zwölf Hunden. Nach den ersten paar steht mein Entschluß fest, ich werde aufhören. Irgendwer muß es wahrscheinlich tun, aber ich möchte es nicht sein. Birdy ist trotz der Dunkelheit im Keller ganz grün im Gesicht, und wir sehen uns immer wieder an. Ich weiß, wir sind hin- und hergerissen; wir möchten entweder davonlaufen oder in Gelächter oder Tränen ausbrechen. Ich weiß auch, daß Doc Owens und Joe uns beobachten. Doc Owens fragt Joe, was aus den toten Hunden werden soll. Joe sagt, er hat auch das schon geregelt. Birdy und ich tragen die toten Hunde hinaus und laden sie hinten auf den Lastwagen. Sie kommen mir verflucht schwer vor, viel schwerer als die lebendigen Hunde. Wir ziehen die großen schweren Hunde am Schwanz aus dem Haus, heben sie zusammen hoch und schieben sie durch die Tür. Erstaunlich, dieser Unterschied zwischen etwas Totem und etwas Lebendigem.
Wir springen auf die Ladefläche, und Joe fährt uns hinüber in die Nachbargemeinde. Birdy und ich stehen vor der Gittertür. Wir wollen nicht, daß jemand – etwa wenn wir vor einer Ampel stehen – hineinguckt und die toten Hunde sieht. Wir fahren zu dem großen Verbrennungsofen in Haverford. Es ist einer dieser hohen, turmartigen Öfen, die immer am Brennen sind. Der Rauch und der Gestank sollen senkrecht nach oben abziehen, damit niemand belästigt wird. Wir holen die Hunde heraus, jeder zwei, werfen sie über die Schultern und steigen über die Wendeltreppe nach oben. Die Hunde werden allmählich kalt und steif. Der Ofen ist mit einer Art Schachtdeckel verschlossen. Joe schiebt ihn zur Seite und wir können geradewegs in die Flammen sehen. Wir werfen die Hunde durch dieses Loch. So etwas könnte einen glatt zu einem frommen Menschen machen. Als wir die restlichen Hunde nach oben geschleppt haben, stinkt es bereits. Wir werfen sie hinein, machen den Deckel wieder zu, und Joe sagt: »Machen wir, daß wir hier wegkommen.« Es ist etwa halb zwei; wir kaufen also Sandwiches und Bier und fahren wie immer hinter den Golfplatz. Birdy kommt gleich damit heraus und sagt Joe, er ist nicht sicher, ob er das durchsteht. Die Hunde totzumachen, das verkraftet er nicht. Joe fängt an uns zu erzählen, was er als Polizist schon alles erlebt hat. Er sagt, wenn uns wirklich danach ist, sollen wir den Job aufgeben, aber ob wir hier oder anderswo konfirmiert werden, ist eigentlich egal. Wahrscheinlich wird man uns im Krieg als Kanonenfutter brauchen, und es ist besser, wenn wir uns schon jetzt daran gewöhnen. Er sagt, wenn wir zugucken, wie die Hunde sterben, und wenn wir damit fertig werden, dann könnte uns das später vielleicht einmal das Leben retten. In seinen zwanzig Jahren bei der Polizei hat er die beschissensten Dinge gesehen, und das Leben ist bestimmt kein Honigschlecken.
Joe ist mittelgroß und dick, nicht fett, und er sieht stark aus. Er hat einen dichten, kurzgeschnittenen grauen Haarschopf. Er sieht in jeder Hinsicht wie ein Mann aus, so daß selbst die anderen Polizisten neben ihm wie Schuljungen wirken. Er hat eine tiefe Stimme und ein tiefes Lachen; er lacht viel. Er erzählt uns von all den dreckigen Dingen, die es allein in unserer Gemeinde gibt, und wir wissen, daß er nicht lügt. Es ist das erstemal, daß Birdy und ich wirklich zu begreifen lernen, in was für einer beschissenen Welt wir leben. Was alles noch schlimmer macht, ist, daß Joe über einige seiner übelsten Geschichten lacht und erwartet, daß wir mitlachen. Wir haben auch nicht den Mumm, unseren Job aufzugeben. Ich glaube, wir könnten nicht ertragen, daß Joe uns auslacht. Es erweist sich bald, daß der Gestank von dem Verbrennungsofen nicht nach oben abzieht. Es kommt zu einem regelrechten Krieg zwischen den Gemeinden von Upper Merion und Haverford. Joe wird vor den Polizeichef zitiert und kriegt eine aufs Dach. Der Chef bekommt sowieso sehr unterschiedliche Reaktionen auf die ganze Hundefängeraktion. Gärtner und Mütter mit kleinen Kindern schicken freundliche Briefe, aber unter Hundeliebhabern herrscht helle Aufregung. Sie drohen uns mit dem Tierschutzverein. Es sieht so aus, als brauchten wir gar nicht erst zu kündigen. Die Hundefängeraktion wird für drei Tage eingestellt. Birdy ist froh; er hat viel Arbeit mit seinen Vögeln. Er fängt Hunde, damit er dieses Traumhaus für seine Vögel bauen kann; aus demselben Grund hat er ja seinerzeit nach dem Schatz gebuddelt. Ich gehe zu ihm und helfe ihm ein bißchen. Er hat so irrsinnig viele Kanarienvögel, es ist nicht zu glauben. Birdy wird ganz aufgeregt, als er mir einige seiner Experimente vorführt; er bindet den Vögeln Gewichte an die Beine und reißt ihnen Federn aus den Flügeln, um zu sehen, wie wenig ein Vogel braucht, um ein schweres Gewicht zu schleppen. Er hat auch
einige wunderschöne Modelle gebaut. Er braucht Hilfe, wenn er eines davon in einem so großen Maßstab baut, daß er selbst damit fliegen kann. Ich soll ihm beim Start helfen. Ich sage ihm, ich mache mit, wenn sie uns als Hundefänger freigeben. Ich bin selber dabei, eine Taucherglocke zu bauen und werde Hilfe brauchen, wenn ich sie das erstemal ausprobiere. Wir einigen uns darauf, daß wir beide Projekte durchziehen wollen, sobald die Hundefängeraktion auffliegt. Am kommenden Montag fahren wir wieder los. Joe erzählt uns, er weiß eine neue Möglichkeit, die Hunde loszuwerden. Birdy möchte, daß wir nachmittags freimachen und zur Main Line rausfahren, wo all die Millionäre wohnen, und die Hunde dort aussetzen. Wenn wir das tun könnten, das wäre schon ein Spaß. Mit den Französischen Pudeln und Pekinesen dort könnten wir alle möglichen neuen Rassen züchten. Mittags haben wir den Lastwagen voll. Die Hunde werden allmählich schlauer; sie fangen an zu begreifen, daß nur der Tüchtigste überlebt. Wir fahren raus zu Doc Owens. Der springt uns fast ins Gesicht, nachdem wir ihn fünf Tage lang mit all den Hunden allein gelassen haben. Er tobt herum und beschimpft Joe. Joe grinst, schüttelt den Kopf und verspricht, daß wir heute alle mitnehmen. Joe genießt Doc Owens’ Wut. Trotz aller Proteste der Hundeliebhaber tut sich überhaupt nichts. So ziemlich alle Hunde, die wir gefangen haben, sind noch da und warten darauf, daß man sie umbringt. Ehrlich gesagt ist es doch so, daß die meisten Leute froh sind, ihre Köter los zu sein. Was sich an diesem Nachmittag bei Doc Owens abspielt, ist eine Mischung aus Sing-Sing und einem Schlachthaus. Wir stapeln die toten Hunde doppelt und dreifach übereinander. Es stinkt abscheulich nach verbranntem Fleisch und angesengten Haaren. Die armen Hunde fangen an zu begreifen, was mit ihnen geschieht, und sträuben sich gegen die Klemmen. Einer,
eine Mischung aus Setter, Schäferhund und Wolf, wird so rabiat, daß wir die Klemmen nicht anbringen können, und Doc Owens verpaßt ihm eine Portion Strychnin. Er geht genau so ein wie die anderen mit dem elektrischen Strom. Es gibt aber immer noch Hunde, die arglos und schwanzwedelnd auf uns zukommen und uns erwartungsvoll ansehen, als würden wir sie gleich an die Leine nehmen und mit ihnen Spazierengehen. Nur daß der Spaziergang direkt ins Nichts führt. Birdy und ich müssen immer wieder nach draußen gehen, um Luft zu schnappen und uns wieder in die Gewalt zu bekommen. Als wir fertig sind, laden wir alle Hunde auf den Lastwagen. Dicht an dicht packen wir sie rein, und ein paar werfen wir sogar vorne ins Führerhaus neben Joe. Bis wir alle drinhaben, ist es halb vier. Joe fährt aufs flache Land hinaus, nach Secane. Joe sagt einem nie irgendwas, wenn er nicht will, und so stellen wir erst gar keine Fragen. Ich denke mir, er hat einen anderen Verbrennungsofen gefunden, oder er will sie auf eine Müllhalde werfen. Während wir uns immer weiter von den Häusern entfernen, steigt uns nach und nach der fürchterlichste Gestank in die Nase, den ich je auszuhalten hatte. Es ist überhaupt nicht zu beschreiben. Wir biegen in einen kleinen Feldweg ein und stehen kurz danach vor einem großen Stall. An den Wänden sind Pferde festgemacht, die ziemlich spatig aussehen. Überall schwirren dicke blaue Fliegen herum. Wo Pferde sind, gibt es meistens auch Fliegen, aber nicht in dieser Zahl, und es riecht auch so eigenartig; das ist nicht der Geruch von Pferden. Und doch sind es Pferde, die so riechen: Pferde, die kleingehackt werden. Wir sind in einem Schlachthof für alte Gäule. Ich blicke zu Birdy hinüber, und er ist richtig grün im Gesicht. Joe springt aus dem Wagen, er scheint hier jeden zu kennen. Joe kennt immer alle Leute. Wahrscheinlich ist das normal,
wenn man Bulle ist; wahrscheinlich kauft er hier draußen auch das Fleisch für seine Hunde. Wir steigen aus dem Wagen, und sofort fallen die Fliegen über uns her. Es ist ein heißer Tag, und sie saugen unseren Schweiß auf; danach wollen sie unser Blut. Es sind große Fliegen mit glänzenden blau-violetten Leibern und dunkelroten Köpfen. Unmöglich, den Biestern zu entkommen; sie fliegen einem in Nase, Augen und Ohren. Joe kommt zurück und sagt, wir sollen wieder aufsitzen. Er fährt mit uns nach hinten zu langgezogenen Schuppen. Im Innern stehen Männer im Blut und zerhacken riesige Klumpen Pferdefleisch. Hinter dem einen Schuppen steht etwas, das wie ein überdimensionaler Fleischwolf aussieht; er wird von einem Benzinmotor angetrieben. Joe springt heraus, geht darauf zu und zieht an einer Kordel, wie einer, der einen Außenbordmotor oder einen Rasenmäher startet, und das Ding fängt an zu knattern, erst langsam, dann schneller, ein Einzylinder. Blaue Rauchwolken kommen heraus. Joe betätigt den Schalthebel, und das Mahlwerk fängt fürchterlich an zu knirschen. Zerhacktes Fleisch quillt aus kleinen Löchern am Boden. Oben hat das Ganze ein riesiges trichterähnliches Loch, fast groß genug, um einen ganzen Menschen zu schlucken. Joe sagt, wir sollen die Hunde aus dem Wagen holen. Wir schleppen sie hinüber, und er fängt an sie in den Trichter zu werfen. Himmel Arsch, er grinst immer noch! Er hält sich die Hunde weit vom Leib, um sich nicht mit Blut und Scheiße und Speichel zu beschmieren, und läßt sie dann ins Loch fallen. Er trägt das zur Uniform gehörende Hemd mit der Dienstmarke und Uniformhosen. Um die Hüfte hat er den Gürtel mit der Pistole, und er trägt keine Mütze. Im gleißenden Sonnenlicht wirft er die Hunde in die Maschine. In dünnen Schlangen kommt das Hundefleisch, vermischt mit Haaren, am unteren Ende der Maschine heraus. Birdy und ich schleppen taumelnd die Hunde
an; wir versuchen uns einzureden, daß wir Männer sind, und geben uns Mühe, nicht alles vollzukotzen. Der Gestank, die Fliegen, und jetzt noch das Zermalmen der Hunde; der Dollar pro Stunde ist sauer verdient. Joe gibt uns ein Zeichen; wir sollen ihm beim Hineinwerfen der Hunde helfen. Er macht einen Schritt zurück und reibt sich die Hände. Wir greifen uns die Hunde. Am besten geht es, wenn man sie am Schwanz hochhält und dann in das Loch gleiten läßt. Das mahlende Geräusch ist gräßlich. Irgendwie bringen wir alles hinter uns. Birdy und ich sind froh, daß wir uns ins Führerhaus des Lastwagens setzen können, während sich Joe noch mit einigen der Männer unterhält. Wir werden es in dieser Welt nie zu richtigen Männern bringen. Die Kunststoffsitze sind heiß. Birdy sagt, wenn wir uns an das hier gewöhnen, können wir uns an alles gewöhnen. Er erzählt mir das, nachdem ich ihm sage, wir werden uns schon daran gewöhnen. Gerade als unsere Mägen sich halbwegs beruhigt haben, kommt Joe herüber und fragt, ob wir uns im Schuppen nicht ansehen wollen, wie das alles gemacht wird. Er sieht unsere Gesichter und fängt an zu lachen. Er setzt sich in den Fahrersitz; wir klettern nach hinten auf die Pritsche, und ab geht die Post. Als wir am Nachmittag den Wagen säubern, frage ich Joe, was die mit all dem Fleisch machen, das sie dort durch den Wolf drehen. Joe sagt, sie machen Hundefutter daraus.
Die Tage verstreichen; Birdie und ich versuchen alles. Stundenlang sitze ich vor dem Schälchen mit dem Spezialfutter. Solange ich in der Nähe bin, kauert Alfonso ganz hinten im Käfig; er hebt die Vorderkanten seiner Flügel an und öffnet seinen Schnabel in einer drohenden Gebärde. Sobald ich weggehe, kommt er herüber und frißt. Es ist schwer zu glauben, daß er von derselben Art ist wie Birdie. Birdie ist ganz fasziniert von ihm, und das wird immer stärker, je länger er seine feindselige Haltung gegen uns beibehält. Sie setzt sich oben auf seinen Käfig, um ihn zu beobachten, und quiept und piept und trillert; sie holt alles aus sich heraus. Die einzige Antwort ist ein plötzlicher Angriff, wenn er glaubt, daß sie nicht aufpaßt. Ich überlege mir, ob er nicht umgänglicher wird, wenn ich ihn einen Tag hungern lasse und ihm dann etwas zu fressen anbiete. Aber nein – er gibt sich noch bösartiger als sonst. Ich lasse ihn zwei Tage fasten. Nichts. Drei Tage kann man einen Kanarienvogel nicht hungern lassen. Ich versuche es mit besonderen Leckerbissen, etwa mit einem Apfelstückchen oder Selleriespitzen oder einem Löwenzahnblatt, aber es ändert sich nichts. Er frißt auch daß erst, nachdem ich mich ein gutes Stück von ihm entfernt habe. Beim Fressen hat er ständig ein Auge auf mich gerichtet, als rechne er damit, daß ich attackiere und es ihm wegnehme. Er ist eindeutig der verrückte Vogel. Der Valentinstag ist da, traditionell der Tag, an dem man Vögel, die auch weiterhin im Käfig leben sollen, zur Paarung zusammenbringt; doch Alfonso bleibt bösartig und hält sich von uns fern. Ich gebe an dem Tag sowohl Birdie als auch Alfonso ein großes Löwenzahnblatt. Es soll sie ganz scharf darauf machen, sich zu paaren. Mr. Lincoln hat mir das erzählt. Er hat mir auch gesagt, ich selbst solle keine Löwenzahnblätter oder -blüten essen; ich könnte davon ganz hitzig
und unruhig werden und vielleicht ins Bett machen. Er sagte, die Franzosen nennen den Löwenzahn auch »pissenlit«, und das heißt »piß ins Bett«. Mr. Lincoln sagte dafür »urinieren«. Er ist bestimmt der gescheiteste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Ich bin ganz verrückt danach, Alfonso aus dem kleinen Käfig zu lassen, um ihm beim Fliegen zusehen zu können. Eines Nachmittags kann ich nicht mehr länger warten. Ich öffne die Tür an seinem Käfig und ziehe mich in meine Ecke im Vogelhaus zurück. Er kapiert schnell, daß die Tür offen ist. In vielleicht fünf Sekunden sitzt er in der Türöffnung und guckt sich um. Er ist furchtbar argwöhnisch und sieht sich nach mir um. Sicherheitshalber halte ich Birdie in meiner Hand. Schließlich ist er bereit, das Risiko einzugehen, und fliegt pfeilschnell quer durch das Vogelhaus zur höchsten Sitzstange. Er geht hin und her und wetzt seinen Schnabel, um zu zeigen, daß es seine Stange ist, und vielleicht auch, um Spuren von Birdie ausfindig zu machen. Er blickt zu mir herunter. So wie er das macht, mit seinem spitz zulaufenden Kopf, seinem schlanken Leib und den langen Beinen, werde ich ein bißchen nervös. Dann zeigt er einen seiner Sturzflüge mit angelegten Flügeln und ist unten beim Freßnapf und der Wasserschale. Dort stapft er umher, sucht wahrscheinlich nach irgendwelchen Fallen, und dann frißt und trinkt er. Es ist kaum zu glauben, welche Schweinerei er dabei anrichtet; er schleudert das ganze Futter durch die Gegend, bis er auch nur ein Korn findet, das ihm paßt. Als er gefressen hat, fängt er an, in unsere Richtung zu hüpfen, als bereite er einen Angriff vor. Birdie quiept ein paarmal, und ich quiepe mit. Er verdreht den Kopf und versucht, einen guten Blick auf uns zu werfen. Bis dahin hat er uns eigentlich nur immer direkt von vorn angesehen, mehr oder weniger nur, um sicherzugehen, daß wir nicht irgendeine schnelle Bewegung machen oder versuchen, in seinen Rücken zu gelangen. Als
Individuen interessieren wir ihn nicht; wir sind nur eine vage Gefahr, gegen die er gewappnet sein will. So ist das: wenn man nur auf sich selber aufpaßt, lebt es sich viel sicherer. Verwundbar wird man in dem Moment, wo man auf andere eingeht. Zum erstenmal nimmt uns nun also Alfonso gründlich ins Visier. Er will herausbekommen, was zum Teufel wir eigentlich sind. Fünf Minuten geht das so, und dann fliegt er zu einer Stange in der Nähe und mustert uns aus einem neuen Blickwinkel. Wir rühren uns nicht. Schließlich gibt er ein rostiges »Piep« von sich. Es hört sich an wie eine Stimme, die nach zwanzig Jahren auf einer verlassenen Insel einem Schiff zuruft. Es ist das zaghafteste Piepen, das ich je gehört habe. Man hat das Gefühl, er möchte es am liebsten in seinen Schnabel zurückholen, noch bevor es richtig raus ist. Birdie und ich piepen voller Begeisterung zurück. So geht es ein paarmal hin und her, aber er hat auch das bald satt. Er fliegt auf das Dach seines Käfigs, hüpft herunter in die Türöffnung, und dann hinein in den Käfig. Wir warten ab. Ich weiß, daß er mich auf die Probe stellt; er will sehen, ob ich aufspringe und die Tür zumache, während er da drin ist. Ich kann von meinem Platz aus nicht in den Käfig sehen, aber ich bin sicher, er sitzt ganz hinten und wartet nur darauf, bei der ersten Bewegung von mir herauszuschießen. Er kommt wieder heraus. Ich überlege mir, ob ich Birdie fliegen lassen soll, aber ich habe Angst. Mr. Lincoln hat vermutlich recht. Ich will mit Birdie nichts riskieren. Ich warte, bis Alfonso auf einer Stange sitzt, die vom Käfig etwas weiter entfernt ist; dann gehe ich behutsam hin und setze Birdie in den kleinen Käfig. Sie piept so unflätig, wie sie nur kann, aber ich drehe mich um und gehe aus dem Vogelhaus. Ich will sehen, was Alfonso macht, wenn er glaubt, ich sei nicht da.
Zunächst genießt er ganz einfach die Größe des Vogelhauses. Er fliegt von einem Ende zum anderen, wobei er sich mitten im Flug dreht und am Ende des Geradeausflugs jedesmal kurz einhält. Er fliegt senkrecht nach oben und versucht eine hochgelegene Stelle unter den Bettfedern anzusteuern. Und immer wieder geht er im Sturzflug nach unten. Er kann wirklich fliegen. Er ist wie ein Testpilot, der ein Flugzeug, das längere Zeit nicht mehr in der Luft war, auf die Funktionstüchtigkeit aller Systeme überprüft. Er geht nach unten und schleudert wieder das Futter durch die Gegend und frißt ein paar Körner. Er putzt sich das Gesicht in dem Wasserschälchen, aber er nimmt kein Bad. Er plustert sich auf und streicht die Federn wieder glatt; aber es geht schnell bei ihm, es ist nicht die ausgiebige Prozedur wie bei Birdie. Währenddessen hängt Birdie praktisch aus ihrem Käfig heraus; sie möchte genau sehen, was er treibt. Ich glaube, sie hat meine Strategie begriffen. Auf die Weise können wir ihm wenigstens in Ruhe zuschauen. Nachdem er noch eine Weile herumturnt und seine Umgebung erforscht, landet er schließlich auf Birdies Käfig. Sie quiept wie verrückt. Er hüpft über ihr herum, und als er dann scheißt, verfehlt er ihren Kopf nur knapp. Dann springt er über den Rand des Käfigs und gleitet vorne die Gitterstäbe hinunter, bis er in das leere Schälchen auf ihrer Stange hineinsehen kann, wo sonst das Spezialfutter zu finden ist. Birdie kommt etwas näher und quiept ihn freundlich an; er antwortet ihr mit einer Art Knurren, aber es klingt nicht sehr bedrohlich. Sie hält die Stellung, und beide bleiben, wo sie sind, dicht beieinander. Birdie quiept immer wieder, und er schaut sie an, als sei sie in einem Zoo. Er turnt mühsam um den Käfig herum zu der Stelle, wo der normale Futternapf ist, und Birdie hüpft zu ihm hinunter. Sie will ihm nur Gesellschaft leisten und steckt
den Kopf in den Futternapf, um sich ein Samenkorn zu holen. Alfonso bekommt einen regelrechten Wutanfall. Er geht flügelschlagend auf sie los und kreischt. Er attackiert die Gitterstäbe, Birdy fährt zurück. Sie erholt sich von dem Schreck und kauert sich am anderen Ende des Käfigs nieder. Fünf Minuten lang greift Alfonso in seiner Dummheit immer wieder an. Er kehrt zum Boden des Vogelhauses zurück und greift dann wieder an. Er hängt sich an die Tür, als wolle er versuchen, sie aufzureißen. Einen Augenblick lang denke ich tatsächlich, er könnte es schaffen. Es ist nur ein Schnappscharnier, und ich bin allmählich so weit, daß ich alles für möglich halte. Ich frage mich allmählich auch, ob ich nicht doch einen Fehler gemacht habe. Der Fall scheint hoffnungslos. Eine Woche lang tut sich nichts Neues. Birdie versucht nett zu sein, und Alfonso benimmt sich unmöglich. Damit Birdie nicht aus der Übung kommt, lasse ich sie abends, wenn ich meine Schularbeiten mache oder an meinen Modellen arbeite, aus dem Vogelhaus, so daß sie frei herumfliegen kann. Sie fliegt immer wieder an die Gitterstäbe und versucht, Alfonsos Aufmerksamkeit zu erregen. Mein Flugmodell macht gute Fortschritte. Das hier fliegt bereits, wenn auch in einem langen Gleitflug nach unten. Der Gummiband-Motor ist zu schwach; ich brauche stärkere Flügelbewegungen, um den nötigen Auftrieb zu erhalten. Ich weiß nicht, wieviel Gewicht es haben darf; viel bestimmt nicht. Ich muß erst das spezifische Gewicht von Vögeln genau berechnen. Wenn ich sie abends fliegen lasse, mache ich im Vogelhaus das Licht an. Birdie fliegt dann hinüber und hängt sich an die Gitterstäbe. Sie piept und quiept, daß es fast schon peinlich ist, aber Alfonso ignoriert sie einfach. Man könnte meinen, er macht sich nichts aus Vögeln. Was es heißt, allein zu sein, scheint er nicht zu wissen, ja, es scheint ihn gar nicht zu interessieren.
Als ich schon halb entschlossen bin, aufzugeben und ihn Mr. Lincoln zurückzubringen, geschieht etwas. Es ist an einem Freitagabend. Ich liege im Bett und lese. Das Licht an meinem Bett ist das einzige Licht im Zimmer. Zuerst glaube ich, irgendwo läuft das Wasser. Ich höre ganz genau hin und merke, es kommt von unter meinem Bett. Der Ton wird stärker, bis er sich unverkennbar zu einem langen Rollen entwickelt. Alfonso hat sich endlich entschlossen, zu singen. Er singt, als sei er bemüht, uns nicht aufzuwecken, als wolle er nicht, daß ihn jemand hört; es klingt, als probe ein Posaunist vor dem Konzert noch einmal ein schwieriges Musikstück, für sich allein, mit einem Dämpfer. Nach dem langen Rollen, einem in Lautstärke und Tonhöhe wellenförmigen Auf und Ab, das etwa eine halbe Minute ungebrochen anhält, läßt er drei Töne folgen, die fast wie Seufzer klingen, weich, langgezogen, voller Wohlklang. Allein diese drei Töne könnten einem das Herz brechen. Dann schwingt er sich mit einem raschen Crescendo zu einem weiteren Rollen auf und kommt dann langsam und quälend von der Höhe herunter zu einem Ton, der eher wie ein Schnalzen als wie ein Pfeifen klingt; es ist der Ton, der mich überhaupt erst auf ihn aufmerksam gemacht hat. Er ist still. Ich halte den Atem an. Ich wollte, ich könnte ihn sehen; ich versuche, der Richtung der Töne nachzugehen und auszurechnen, wo er sein könnte, aber es gelingt mir nicht. Er fängt wieder an, mit den gleichen tiefen Schnalzern, die gleichzeitig lauter und voller und höher werden und Klang annehmen; sie bewegen sich über mindestens eine Oktave, aber diesmal in einer anderen Stimmlage. Und diesmal ist es oben auf dem Gipfel ein einziger langgezogener Ton, und direkt dagegen setzt er eine weitere, sehr rund klingende Rolle, die dann plötzlich abbricht; drei abgerissene, fast unmusikalische Pieptöne, dann der Abstieg. Er ist still. Ich warte, aber es
kommt nichts mehr. Ich mache das Licht aus; irgendwie weiß ich, ich muß ihn behalten. Ihm so zuzuhören, wie er im Dunkeln gesungen hat, das war für mich schon fast so wie Fliegen. Ich fühle mich irgendwie ungebunden, befreit.
Ich sitze den ganzen Nachmittag da, bis es dunkel ist. Keiner stört mich. Ich beobachte Birdy. Er tut nicht viel, höchstens daß er mal kackt oder pinkelt. Dabei hockt er sich auf die Toilette und hat die Füße auf der Brille. Ein Vogel weiß nicht mal, wenn er kackt, also kann Birdy gar kein richtiger Vogel sein. Ein paarmal dreht er sich in meine Richtung und guckt mich an. Er verdreht dabei den Kopf von einer Seite zur anderen und verlagert jedesmal das Gewicht. Das Waschbecken in der Ecke ist mit Wasser gefüllt, und einmal geht er hinüber und trinkt wie ein Vogel; er legt den Kopf nach hinten und läßt sich das Wasser den Hals runterlaufen. Was zum Teufel will er eigentlich damit beweisen? Wenn er sich irgendwohin bewegt, hüpft er. Bei jedem Hüpf er geht er kurz aus der Hockstellung; er hüpft, hockt, bewegt seine abgewinkelten Arme wie Flügel, genau wie irgendein plumper Riesenvogel; wie ein Falke oder ein Adler, der sich am Boden fortbewegt, langsame Hüpfer. Mit der Zeit macht es mir nicht mehr so viel aus. Wenn er mich anguckt, versuche ich zu lächeln, aber das registriert er gar nicht. Er ist zwar neugierig, aber daß er mich erkennt, davon kann keine Rede sein. Ich kann nicht anders, ich frage mich immer wieder, was kann bloß mit ihm passiert sein. Weiss will ich nicht noch mal danach fragen, er will mir offensichtlich nichts sagen; wahrscheinlich weiß er es nicht. Ich vermute stark, Birdy ist der einzige, der es weiß. Ich gucke den Gang rauf und runter, keiner in Sicht. Der CO hat Birdy bereits gefüttert. Diesmal bin ich dageblieben und habe es mir angesehen. Es ist wirklich das gruseligste von allem. Ich weiß nicht, ob es dem CO oder Weiss oder irgend jemand klar ist, daß Birdy da einen Jungvogel beim Füttern
nachmacht, wenn er seine abgewinkelten Arme so auf- und abbewegt. Ich sag keinem was, das steht jedenfalls fest. Was tun die mit so einem wie Birdy? Bleibt er sein ganzes Leben so eingesperrt? Gibt es im ganzen Land Krankenhäuser voll übergeschnappter Kriegsteilnehmer? Birdy tut keinem weh. Das Dumme ist nur, wenn sie ihn rauslassen, springt er wahrscheinlich von irgendeinem hohen Haus runter oder versucht, sonst irgendwo zu fliegen, eine Treppe runter oder aus einem Fenster oder so. Ach Scheiße, wenn er das tun will, dann sollen sie ihn auch lassen. Birdy war noch nie blöd; wenn er etwas macht, hat es meistens schon einen Sinn, auf eine ganz besondere Art. Ich seh sowieso noch nicht klar, ob er nun verrückt ist oder nicht. Was ist schon verrückt? Kriege sind verrückt, so viel steht fest. Weil wir gerade von verrückten Dingen sprechen: Birdy und ich haben manch irres Ding gedreht. Beispielsweise im Frühjahr unseres zehnten Schuljahrs. Ich hatte den ganzen Winter an einem Taucherhelm gebastelt. Mein alter Herr hatte mir beigebracht, wie man mit Schneidbrenner, Lötkolben und Schweißgerät umgeht, und so machte ich mir aus einer Zwanzigliter-Öldose, einigen Bleirohren und Messingarmaturen einen Taucherhelm. Bei Tests hatte sich herausgestellt, daß er absolut luftdicht war. Mit zwei Autopumpen, die ich zu einer Art Wippe zusammenbaute, pumpte ich Luft in einen Schlauch, der zu dem Helm führte. Der Luftdruck sollte verhindern, daß Wasser in den Helm eindrang, und die überschüssige Luft kam unten in Blasen raus. Ich hatte auch aus alten Rohren eine Harpune mit Federabzug gebaut. Ich hatte vor, im Stausee von Springfield auf Unterwasserjagd zu gehen. Niemand darf dort angeln, und so wimmelt es von Fischen. Mario sagte, er würde helfen, aber wenn ich ins Wasser ging, bräuchte ich zwei Leute für die Pumpen
und den Luftschlauch. Birdy sagte, er würde aushelfen. Dafür sollte ich ihm mit seiner bescheuerten Flugmaschine helfen. Birdy hatte sich eins von seinen Modellen, das halbwegs funktionierte, hergenommen und davon eine Version gebaut, die für ihn selbst groß genug war. Es hatte gewaltige Flügel mit Schlaufen dran, in die man die Arme zu stecken hatte. Man mußte dann mit den eigenen Armen die Flügel auf und ab bewegen. Jeder Flügel war zweieinhalb Meter lang, und es gab Schaufeln, die sich bei der Aufwärtsbewegung senkrecht und bei der Abwärtsbewegung waagrecht stellten. Das Ganze war so konstruiert, daß die Flügelbewegungen über einen Kurbelwellenantrieb für eine Vorwärtsrotation sorgten. Birdy sagte, um überhaupt einen Auftrieb zu erhalten, müsse man Luft unter die Flügel bekommen. Birdy hatte mit einem Aluminiumgestell, einer dünnen Aluverkleidung und mit Fahrradteilen gearbeitet. Er hatte Hunderte von Stunden im Werkraum in der Schule verbracht. Ich weiß nicht, woher er das Aluminium hatte; das Zeug war rationiert, weil sie damit Flugzeuge für den gottverdammten Krieg bauten. Birdy hatte auch ein Stück Seide zwischen die Beine einer Hose genäht, die er anzog, wenn er dieses Ding flog. Wenn er die Beine spreizte, hatte er einen Schwanz wie eine Taube. Ich probierte die Flügel aus, und ich konnte die Monster kaum bewegen. Birdy hat hinter seinem Haus ein Brett auf zwei Sägeböcken liegen. Da legte er sich immer drauf, um das Flügelschlagen zu üben. Das einjährige Training im Armschwingen und Auf- und Abhüpfen zahlte sich wirklich aus. Er konnte die Flügel sauber bewegen und hielt fünf Minuten durch. Manchmal befestigte er auch Fünfpfundgewichte an den Spitzen dieser Flügel und bewegte sie, auf dem Rücken liegend, auf und ab. Er hatte ausgerechnet, daß die fünf Pfund an den Flügelenden dem Druck von zwanzig Pfund unter jedem Flügel in der Mitte entsprach. Er sagte, das gebe ihm vierzig
Pfund Schwingkraft, was immer das bedeutete. Er nennt diesen Apparat einen Ornithopter. Ich dachte, er hätte das Wort erfunden, aber dann fand ich es in einem Wörterbuch. Da stand, ein Ornithopter sei ein Fluggerät, das seinen Auftrieb und Vortrieb hauptsächlich durch Auf- und Abbewegungen beweglicher Flügel erzeuge. Nicht zu glauben; die haben für alles ein Wort. Ich bestehe darauf, daß ich mit meinem Projekt zuerst drankomme. Ich denke mir, vielleicht kommt es wieder so wie damals bei der Geschichte mit dem Gaskessel, und er muß hinterher in die Klinik. Ich versuche sogar, ihm die bescheuerte Idee auszureden, aber es ist verdammt schwer, Birdy etwas auszureden. Er sagt, er hat daran gedacht, vom Gaskessel zu springen, aber er braucht erst ein bißchen Tempo, bevor er abheben kann. Zu seinem Plan gehört ein Fahrrad: ich soll in die Pedale treten, während er auf einer Art Plattform steht, die er vor der Lenkstange angebracht hat. Auf ein Signal hin bremse ich ruckartig, und er hebt ab. Das alles soll sich unten auf dem Schuttabladeplatz abspielen, im alten Teil, der stillgelegt ist. Der Müll türmt sich dort zehn, zwölf Meter hoch auf, direkt bis zum Bachufer hin. Birdy will über den Rand dieser Müllhalde hinaus und über den Bach fliegen. Ich sage mir, dann fällt er wenigstens nur ins Wasser. Er sagt, er kann aus den Flügeln schlüpfen, wenn er zwei Schnallen aufmacht. Ich weiß, er kann unter Wasser ewig die Luft anhalten; da sollte es mir möglich sein, runterzugehen und ihn rauszuziehen. Wie gesagt, mein Projekt ist zuerst dran. Eines Abends laden wir den Helm, die Pumpen und das Pumpengestell auf unsere Fahrräder und fahren raus zum Stausee. Es fängt gerade an dunkel zu werden, als wir den elektrischen Zaun mit einem Stück Draht kurzschließen und drüberklettern. Ich habe unter meinen Kleidern eine Badehose an, und um die
Knöchel habe ich mir mit Seilen Rohrnippel gebunden, die mich durch ihr Gewicht nach unten ziehen sollen. Da der Zaun oben mit Stacheldraht abgesichert ist, werfen wir Leinensäcke darüber. Birdy klettert zuerst rauf, dann schiebe ich Mario hoch, und er springt auf der anderen Seite runter. Ich gebe Birdy das Zeug rauf und er gibt es weiter an Mario. Wir machen uns vorsichtig auf den Weg zum Stausee. Hinter ein paar Bäumen können wir die Pumpe so aufbauen, daß sie vom Wachhaus am Damm nicht zu sehen ist. Ich werde einfach das schräge Ufer hinunter ins Wasser rutschen, und keiner wird mich sehen. Wir machen die Pumpe einsatzbereit und legen den Luftschlauch aus. Ich ziehe mich aus und stülpe den Helm über. Fast wünsche ich, ich hätte das verdammte Ding nie gebaut. Mario und Birdy probieren die Pumpen aus; die Luftzufuhr klappt. Um die Hüfte habe ich ein Seil; wenn ich in Schwierigkeiten bin, kann ich damit ein Zeichen geben, und sie ziehen mich hoch. Ich habe außerdem eine Taschenlampe dabei, die ich wasserdicht gemacht habe; die soll mir da unten ein bißchen leuchten. Ich taste mich ins Wasser vor, und es ist eiskalt. Ich pinkle in das vielleicht sauberste Trinkwasser in der Umgebung von Philadelphia. Der schräge Beckenrand ist voll glitschigem grünem Moos, und ich hab keine Ahnung, wie tief das verdammte Wasser ist. Ich rutsche immer weiter und habe das Gefühl, daß nicht genug Luft in den Helm strömt. Mir bleibt die Luft weg, weil das Wasser so kalt ist. Die Glasscheibe im Helm ist bereits angelaufen, und ich kann nichts mehr sehen. Die Taschenlampe will ich erst anmachen, wenn ich völlig untergetaucht bin. Wenn der Wärter das Licht sieht, ist die Hölle los. Das Wasser steigt schnell an dem Glas vor meinen Augen hoch. Ich frage mich, wie ich bloß wieder das glitschige Ufer
hochkommen soll. Ich spüre, wie mich Panik erfaßt. Wie bin ich Arschloch bloß auf die blöde Idee gekommen; wer zum Teufel will schon unter Wasser Spazierengehen und hinter Fischen herjagen. Wenn mir nicht Mario und Birdy zugucken würden, würde ich auf der Stelle umkehren. Ich versuche ein paarmal langsam und tief einzuatmen. Dazu muß ich aber wenigstens mit dem ganzen Helm unter Wasser. Ich rutsche noch ein paar Schritt tiefer. Meine Füße beginnen, im weichen kalten Schlamm zu versinken; er reicht mir schon bis über die Knöchel. Ich mache die Lampe an, aber ich sehe nur einen verschwommenen Lichtfleck. Das Fischejagen kann ich vergessen, das steht schon mal fest. Es gelingt mir nur mit Mühe, die aufkommende Panik zu unterdrücken. Ich mache noch ein paar Schritte, und der Schlamm reicht mir bis an die Knie. Und dann, ich weiß nicht, wie es dazu kommt; der Helm funktioniert einwandfrei, die Luftblasen sprudeln unten raus, ich habe genug Luft, alles ist in bester Ordnung; aber ich muß aus diesem Helm raus. Ich reiße ihn herunter und ziehe an dem Seil. Ich hab mir den Helm abgerissen, bevor ich mir klarmachte, daß ich wirklich unter Wasser bin, und wer weiß wie tief. Und draußen zieht auch keiner am Seil. Ich bin mir nicht sicher, in welcher Richtung das Ufer ist. Ich denk nicht mal dran, mich am Seil zurückzutasten. Ich bin völlig weggetreten. Ich lasse die Taschenlampe fallen und versuche an die Oberfläche zu schwimmen. Es geht nicht, der Schlamm hält mich fest, und die Gewichte um meine Knöchel. Ich schlucke einen ganzen Mundvoll Wasser; ich würge, ertrinke, und da fangen Mario und Birdy an, mich herauszuziehen. Sie ziehen mich seitlich das Ufer hoch, wie einen Fisch, der am Angelhaken hängt. Ich empfinde die Luft als herrlich warm und dünn. Mario und Birdy beugen sich über mich. Ich liege ausgestreckt da, zit-
ternd, würgend. Himmel Arsch, bin ich froh, daß ich noch lebe. Birdy beugt sich noch weiter vor. »Was war denn, Al? Ein Leck?« Ich nicke. Ich gucke ihn nicht an. Mario zieht nach. »Alles okay, Al?« Ich nicke wieder. Mario zieht den Helm aus dem Wasser. Birdy macht das Seil los, das um meine Hüfte geschlungen ist; als sie mich das steile Ufer hochhievten, hat sich der Knoten zugezogen, und ich kann kaum noch atmen. Mario beugt sich über das Wasser. »Die Lampe brennt immer noch da unten. Seht euch das an.« »Vergiß die verdammte Lampe. Die geht schon von selber aus.« Birdy baut die Pumpen auseinander. »Was war denn, Al?« Ich sehe zu ihm hinüber. Er wird alles glauben. Weil er es glauben will. »Auf einmal ist Wasser reingelaufen. Es ist immer weiter gestiegen, über meine Lippen, dann über meine Nase. Ich hab das Ding runtergerissen, ich will nach oben schwimmen, aber ich kann mich nicht bewegen; diese Hurengewichte halten mich fest, und der Schlamm da unten ist so dick wie Kuhscheiße.« Ich setze mich auf und versuche, die Gewichte von meinen Beinen loszubinden; ich fange an zu frieren. Birdy hilft mir. Dann ziehe ich mich an, wir nehmen das ganze Zeug und verziehen uns. Später nehme ich den Taucherhelm noch einmal her, als ich ein Projekt für die Naturlehre brauche, und bekomme eine Eins dafür; ich beschreibe ihn so, als hätte er richtig funktioniert. Eigentlich hat er das ja auch. Wir können Birdys verrückte Flügel erst ausprobieren, wenn der Wind aus der richtigen Richtung bläst, und das muß an einem Samstag oder Sonntag sein, wenn wir keine Schule
haben. Birdy hat einen genauen schriftlichen Plan ausgearbeitet, so daß wir es zu zweit schaffen können. Er war bereits unten und hat einen Weg von etwa hundert Meter Länge freigemacht, damit wir mit dem Fahrrad auf Touren kommen können. Er hat all die Dosen weggeräumt und mit einer Schaufel Löcher zugemacht und kleine Buckel eingeebnet. Hoffentlich hat ihn keiner dabei beobachtet; einer, der die Müllhalde planiert, wird mit Sicherheit für verrückt erklärt. Ich geh runter und sehe es mir an; es sieht aus wie eine kurze schmale Rollbahn für ein Flugzeug; Birdy hat sogar aus einem gestärkten alten Seidenstrumpf einen kleinen Windsack konstruiert. Birdy will nicht, daß irgend jemand seine Maschine sieht, und so schaffen wir sie bei Dunkelheit aus dem Haus und verstecken sie oben in dem Baum, wo wir einmal unser Taubenhaus hatten. Wir haben immer noch die Strickleiter; Birdys alter Herr hat sie nie gefunden. Alles ist startklar. Nach drei Wochen weht schließlich an einem Freitagabend genau der richtige Wind. Wir machen aus, daß wir uns am nächsten Morgen um sieben auf dem Baseballplatz treffen. Als ich hinkomme, ist Birdy schon da, mitsamt seinem verrückten Fahrrad und der Plattform vor dem Lenker. Wir haben oft geprobt und sind um den Block gefahren, während er oben auf der Plattform stand. Schon das allein ist für Birdy und für mich ein tolles Kunststück. Die Jungs in der Nachbarschaft lachen sich immer halb tot, wenn sie uns zugucken. Das juckt uns nicht, es sind sowieso lauter Schwachköpfe. Ich verpasse Dan McClusky eine kräftige Kopfnuß, einfach so. Man kann einem Iren nicht weh tun, wenn man ihm eins an den Schädel gibt. Sobald wir die Müllhalde erreicht haben, schnallt sich Birdy die Flügel an und läuft ein bißchen rum und bewegt sie auf und ab. Er rennt mit aller Macht gegen den Wind, springt hoch und schlägt wie wild mit den Flügeln. Es sieht tatsächlich so aus, als ob er Auftrieb bekommt. Er sagt, er spürt es deutlich. Er
erzählt mir auch, daß er gestern abend und heute morgen nichts gegessen hat. Seit einem Monat ist er auf Diät, er ist dünn wie eine Bohnenstange. Ich versuche noch mal, ihm die Idee auszureden, aber da ist nichts zu machen. Er ist unheimlich scharf drauf, über diesen Bach zu fliegen. Er glaubt bestimmt, er wird abheben und in den blauen Himmel aufsteigen. Ich bin bloß froh, daß niemand in der Nähe ist; die Klapsmühle wäre uns sicher. Birdy hat alles ausgeknobelt. Er hat eine besondere Art, sich hinzustellen und das Fahrrad so zu halten, daß er auf die Plattform klettern und sich von mir die Flügel raufgeben lassen kann. Dann halte ich das Fahrrad, möglichst ruhig, damit er die Flügel anschnallen kann. Er sieht superkomisch aus, wie er da mit diesen Flügeln vorne auf dem Fahrrad steht. Wie die gigantische Kühlerfigur eines Rolls Royce sieht er aus, echt. Er hat vorne, kurz bevor es runtergeht, eine Markierung angebracht. Dort soll ich eine Vollbremsung machen, und er springt von der Plattform. Er geht noch mal alles mit mir durch. Eigentlich sollte er nervös sein. Gleich wird er mit fünfzig Stundenkilometern und all dem Zeug auf dem Rücken ins Leere springen, in einen zwölf Meter tiefen Abgrund. Aber Birdy ist keine Spur von nervös. Ich seh nur, daß er den Start kaum mehr erwarten kann. Ich trete in die Pedale wie ein Wahnsinniger und versuche, auf dem Weg zu bleiben. Sobald ich in Schwung bin, fahre ich schnurgerade. Ich habe viel Kraft in den Beinen, und ich gebe alles her. So etwas kann man nicht mit halber Kraft machen. Birdy kauert vor mir auf der Plattform, die Flügel ausgebreitet, bereit zum Absprung. Wir sind wirklich schnell, als wir zu der Markierungslinie kommen und ich auf die Bremse steige. Birdy springt ab und schießt über das Ende des Weges hinaus. Er schlägt mit diesen Flügeln wie eine mechanische Möwe. Ein paar Sekunden lang fliegt er waagrecht hinaus, gleitet
mit gespreizten Beinen dahin wie ein riesiger Vogel mit silbernen Flügeln. Er beginnt sogar zu steigen, doch dann verliert sich der Vorwärtsschwung, und er bleibt in der Luft stehen. Dort draußen, weit weg von dem Müllberg, fängt er an zu fallen, mit den Füßen nach unten, die Flügel ausgebreitet und immer noch flatternd, aber nicht mehr auf und ab sondern vor und zurück. Birdy kann sie nur auf- und abbewegen, wenn er waagrecht in der Luft liegt, und nun bekommt er die Beine nicht mehr hoch. Alles Flügelschlagen nützt nichts, er stürzt in den Bach. Ich renne los. Ich rutsche die Müllhalde hinunter und habe sofort Schuhe und Kleider voller Asche. Eine Ratte ergreift panikartig die Flucht. Als ich unten bin, steht Birdy mitten im Bach und schnallt die Flügel ab. »Alles okay, Birdy?« »Klar, mir fehlt nichts.« »Das hast du schon mal gesagt, damals nach dem Gaskessel. Bist du sicher, daß dir nichts fehlt?« »Sicher bin ich sicher. Bei zweiundvierzig Kilo Körpergewicht fällst du nicht sehr schnell, schon gar nicht, wenn du der Luft eine ordentliche Angriffsfläche bietest. Das war nicht besonders schnell, wie ich da runtergekommen bin.« So was wie Birdy, das gibt’s überhaupt nicht. Er steigt aus dem Wasser, rückt ein paar Schaufeln zurecht, die sich verbogen haben, und will einen neuen Anlauf nehmen. Ich sage ihm, daß er sich das Genick brechen wird und daß ich damit nichts zu tun haben will. Mit den Flügeln im Schlepptau krabbeln wir die Müllhalde hoch, und noch mehr Asche rieselt in die Schuhe. Als wir oben sind, kritzelt Birdy mit einem Stecken alles mögliche in die Asche auf seiner Rollbahn, um mir zu zeigen, daß bei seinem geringen Körpergewicht die Fallgeschwindigkeit, die nach etwa sechs Metern neun Komma vier Meter pro Sekunde
beträgt, nicht mehr weiter zunimmt. Er erzählt mir, daß er aus sechs Meter Höhe abspringen kann, wenn er nur die Beine anzieht und sich zusammenrollt. Bei der Landung verschlägt es ihm nur den Atem, sonst passiert nichts. Er redet sich tatsächlich ein, daß er aus jeder Höhe springen kann, ohne sich dabei zu verletzen. Wenn das nicht verrückt ist! Er sagt, ich soll mir mal Wochenschauberichte ansehen, in denen Leute von hohen Gebäuden stürzen oder ins Sprungtuch der Feuerwehr springen. Erst kommt es zu einer schnellen Beschleunigung, aber dann erreichen sie eine bestimmte Geschwindigkeit und scheinen zu schweben. Er sagt, man kann eine Katze aus dem dritten oder vierten Stock werfen, und sie landet unbeschadet, und das entspricht zwanzig oder dreißig Stockwerken bei einem Menschen. Es hängt alles vom Gewicht und vom Luftwiderstand und der Dichte ab, sagt er, und noch wichtiger ist, daß man weiß, man kann es schaffen. Ich frage ihn, wie es dann kommt, daß sie sterben, wenn sie unten aufschlagen; die Menschen, meine ich. Er sagt, man kann vom Gehweg auf die Straße fallen und sich das Genick brechen, wenn man sich nicht richtig verhält. Während wir uns so rumstreiten, schleppen wir die Flügel und das Fahrrad zu Birdys Haus zurück und verstauen sie in der Garage. Wir verwenden ein bißchen Zeit darauf, nach den Basebällen zu suchen, finden aber nichts. Die verkauft sie bestimmt weiter. Birdy zeigt mir, wo er sein gruseliges Taubenkostüm versteckt hat. Ich frage ihn, ob er es, wenn er mal fliegen kann, immer anziehen wird, so wie Clark Kent immer sein Supermankostüm anzieht. Birdy besteht nicht mehr darauf, sofort einen weiteren Flug zu versuchen. Er ist jetzt überzeugt, daß er an den Flügeln einiges verändern und seine Armmuskeln stärken muß. Er will erst das Gleiten üben, bevor er einen neuen Flugversuch startet. Er sagt, er muß das Kreuz durchdrücken, während er mit
den Flügeln schlägt. Er hatte ständig an dem Sägebock geübt und dabei vergessen, daß sein Körper starr in der Luft liegen muß. Ich versuche noch einmal, ihm den ganzen Blödsinn auszureden, aber er hört nicht auf mich. Er plant jetzt eine Art Stütze für seinen Bauch, damit er besser das Kreuz durchdrücken kann. Er schwärmt jetzt schon dermaßen von den drei, vier Sekunden, in denen er zu fliegen schien, daß man meinen könnte, er sei ein paarmal um die Welt geflogen. Als wir bei ihm zu Hause sind, zeigt er mir, wie er vom Dach seiner hinteren Veranda springen kann, ohne sich zu verletzen. Man würde es nicht für möglich halten. Aus einer geduckten Haltung heraus stößt er sich ab und breitet die Arme aus wie ein Kunstspringer, zieht sich dann mitten im Sprung zusammen, reißt kurz vor dem Boden die Füße nach vorn und klappt dann sowohl gegen die Sprungrichtung als auch gegen die Senkrechte zusammen. Er sagt, man muß möglichst viel Schwung in die waagrechte Richtung entwickeln, weil es dann leichter ist, den vertikalen Schwung aufzufangen. Er nimmt mich mit auf sein Zimmer, um mir seine Zeichnungen und Berechnungen zu zeigen, die er dazu gemacht hat. Er redet über Vektoren und Angriffspunkte und will mir das alles verständlich machen. Ich kann nicht glauben, daß das derselbe Birdy ist, der mit mir in Algebra sitzt und dort kaum eine Zwei schafft. Wir sitzen eine Weile in seinem Zimmer rum, und ich muß seine Vögel durch das Fernglas beobachten. Er hat da wirklich ein tolles Vogelhaus unter sein Bett gebaut. Ich möchte bloß wissen, wie er seine alte Dame rumgekriegt hat. Meine Mutter würde mich fürchterlich zur Schnecke machen. Birdy will, daß ich genau hinsehe, wie die Vögel abheben und wieder landen. Er ist überzeugt, daß die Vögel in der Luft sind, bevor sie auch nur ihre Flügel einsetzen. Ich kann das nicht sehen. Birdy hat
einen scharfen Blick, und er guckt den Vögeln oft zu. Ich krieg nicht mal mit, wovon er redet. Diesen einen schmächtigen Vogel hat er Alfonso getauft, nach mir. Er sieht aus wie ein tollwütiger hungriger Spatz. Ich sage Birdy, wenn er den Namen mit »ph« schreibt, habe ich nichts dagegen. Ich bin hier in der Gegend der einzige Alfonso mit einem »f«. Birdy sagt, das spielt keine Rolle, weil das sowieso nicht sein richtiger Name ist; er nennt ihn nur so. Ich frage ihn: »Was ist sein Geheimname?« Birdy sagt, er weiß es nicht. Er erzählt mir, er kann die Kanarisprache noch nicht gut genug, er kann ihn noch nicht fragen. Noch nicht! sagt er und zwinkert nicht mal dabei, er rollt nur seine verrückte Augen. Er grinst nicht, und ich weiß, er meint es nicht als Witz. Es ist schwer zu beurteilen, ob so einer wie Birdy verrückt ist oder nicht.
Am nächsten Morgen bin ich entschlossen, das Risiko einzugehen. Ich mache die Tür an Birdies Käfig auf. Dann gehe ich aus dem Vogelhaus und setze mich hinter mein Fernglas. Ich kann jederzeit reingehen und sie retten, falls es zu schlimm wird. Birdie hüpft sofort heraus. Alfonso ist auf der höchsten Stange. Birdie sieht, daß ich neues Wasser zum Baden hingestellt habe, und so geht sie nach ein paar fragenden Quieptönen nach unten, um ihr Bad zu nehmen. Sie ignoriert ihn völlig. Er steht da oben auf seiner Sitzstange und macht drohende Gebärden. Ich rechne damit, daß er jeden Augenblick nach unten stößt. Birdie absolviert ihr ganzes Baderitual, doch er bewegt sich nicht; er läßt sie aber auch nicht aus den Augen. Das hätte ich zuletzt erwartet. Birdie fliegt auf das Dach ihres kleinen Käfigs und fängt an, ihre Federn glattzustreichen. Nachdem er ihr einige Minuten zugeschaut hat, schießt er wie ein Stuka nach unten, frißt ein paar Samenkörner und trinkt einen Schluck. Er hüpft und flattert um die nassen Stellen herum, die Birdie mit ihrem Bad hinterlassen hat. Er hüpft auf den Rand des Badeschälchens und taucht ein paarmal sein Gesicht hinein, als ob er selbst ein Bad nehmen wolle, doch dann entscheidet er sich anders. Er geht hinüber und genehmigt sich noch ein paar Körner. Ich habe auch etwas von dem Spezialfutter drin, und er putzt einiges davon weg. Dann ist er mit seinem Senkrechtstart in der Luft und nach ein paar kurzen Flügelschlägen hat er wieder seinen Platz ganz oben im Vogelhaus eingenommen. Dort sitzt er nun, streckt ein paarmal die Flügel und versucht, gelangweilt auszusehen. Vielleicht zehnmal wetzt er seinen Schnabel an der Sitzstange, um zu zeigen, was für ein toller Hecht er ist, und dann
kommt dieses eigenartige Vogelgurgeln, bei dem sie den Schnabel weit aufreißen und die Zunge hin- und herbewegen. Er stellt seinen Schwanz auf und pickt rasch ein paarmal an seinem Arschloch herum. Auch ich langweile mich allmählich, zumal ich mindestens mit einem Mordversuch gerechnet habe. Dann fängt er ohne erkennbaren Grund an zu singen. Er beginnt ganz leise, läßt ein paar Takte folgen, die nur geringfügig lauter sind, doch dann steigert er allmählich die Lautstärke und legt mehr Gefühl hinein. Eine gewisse Härte gewinnt langsam die Oberhand. Inzwischen hat er angefangen, sich auf seinen dünnen Beinen hin- und herzuwiegen und erregt die Sitzstange entlangzutrippeln. Er beugt sich beim Singen weit vor und hat den Hals ganz ausgestreckt. Die Flügel sind leicht vom Körper abgehoben, und der Bauch ist straff angespannt. Alles in allem sieht er verdammt eindrucksvoll aus. Das heißt, er beeindruckt mich, nicht aber Birdie, wie es scheint. Sie hat damit zu tun, die letzten Flaumfederchen auf dem Rücken zu kämmen. Nun beginnt Alfonso die Töne auszuhalten. Er hält ein- und denselben Ton so lange, daß ich glaube, gleich fällt er von der Stange. Es sieht so aus, als ob er gar nicht atmet. Er ist aufs äußerste erregt. Plötzlich stürzt er nach unten, wo sich Birdie friedlich das Gefieder trocknet. Ohne sein Lied zu unterbrechen, landet er keinen halben Meter von ihr entfernt und bleibt stehen. Birdie sieht zu ihm hinüber. Sofort nimmt er die Verfolgung auf, Birdie springt hoch und fliegt zu der Stange, die er gerade erst verlassen hat. Er ist dicht hinter ihr und singt lauthals. Er zittert am ganzen Leib. Es kommt zu einem richtigen Luftkampf, wie im Ersten Weltkrieg. Birdie kann nirgends landen, ohne daß er sofort über sie herfällt. Es gelingt ihm sogar, sie mitten im Flug zu attackieren. Es ist offensichtlich, daß er sich paaren will, aber ebenso offensichtlich ist Birdie auf seine steinzeitlichen Annähe-
rungsmethoden überhaupt nicht vorbereitet. Zuletzt macht sie den Fehler, in ihren Käfig zu fliegen. Er folgt ihr sofort, und schon geht die Balgerei los. Ich gehe schnell ins Vogelhaus und greife in den Käfig, um Birdie zu retten. Er hat sie so in die Enge getrieben, daß sie nicht mehr entkommen kann. Sie wehrt sich nicht, aber der Tiger versetzt mir ein paar kräftige Schnabelhiebe auf den Handrücken. Ich will die Tür zumachen und ihn drinlassen, aber bevor ich dazukomme, ist er bereits herausgeflogen und sitzt drohend auf der höchsten Stange, mit gespreizten Flügeln und offenem Schnabel. Ich gehe mit Birdie aus dem Vogelhaus und mache die Tür zu, damit er wenigstens da drin bleibt. Birdie lasse ich fliegen. Sie plustert sich auf, gibt mir ein Quiep, ein QUERiep und ein paar Piep und fliegt dann an die Gitterstäbe des Vogelhauses. Jetzt fängt sie an zu flirten. Sie weiß, sie ist in Sicherheit, und so will sie ihn necken. Sie fliegt an eine Stelle, und Alfonso schießt wild singend zu ihr hin; sie weicht ein Stück vom Drahtgitter zurück und fliegt an eine andere Stelle. Er ist sofort bei ihr. Das geht etwa fünf Minuten so. Dann fliegt er wieder nach oben zu seiner Sitzstange. Ich nehme an, er ist ausgepumpt, oder er hat es satt, daß sie sich über ihn lustig macht. Birdie hängt am Gitter und quiept ihn an; sie beklagt sich, fordert ihn heraus. Nach ein paar Minuten fängt er in einem normalen Ton an zu singen. Wir hören ihm zu. Er kann wirklich singen. Dann steigert er sich nach und nach wieder hinein; es ist als beflügle ihn sein eigenes Singen. Diesmal fliegt er hinunter auf den Boden. Da steht er und singt nach oben, dorthin, wo Birdie hängt. Er sieht aus wie ein Opernsänger, steht im Licht in dem weißen Sand, dreht sich nach links und nach rechts und macht beim Singen kurze Schritte vor und zurück. Es ist eine Art Gehen – das erstemal, daß ich das bei einem Kanarienvogel sehe.
Birdie fliegt auf den Boden vor das Vogelhaus und sieht ihn durch das Gitter an. Er singt immer weiter und stolziert langsam zu ihr herüber, spielt sich so richtig als Heldentenor auf. Sie rührt sich nicht. Er kommt dicht ans Gitter, und sie sind nur noch ein paar Zentimeter voneinander entfernt. Er singt wie ein Wilder. Birdie guckt und horcht und fängt dann mit ihren zarten winselnden »Füttere-mich«-Lauten an. Sie kauert sich an den Boden und flattert rasch mit den Flügeln, macht den Schnabel auf und drückt ihn durch die Gitterstäbe. Alfonso hört auf zu singen und sieht sie an. Er scheint nicht zu begreifen, was das alles soll. Er legt den Kopf zur Seite und späht in ihren Schnabel, hört ihr zu und fängt wieder an zu singen. Arme Birdie. Er beginnt sich hin- und herzuwiegen, beugt sich zu ihr vor, bis sein Hals den Boden berührt. Die Kraft seiner Leidenschaft läßt ihn den Kopf auf- und ab bewegen. Als er es schließlich nicht mehr aushält, wirft er sich gegen das Gitter des Vogelhauses. Das erschreckt Birdie, und sie fliegt weg. Er klettert die Gitterstangen hoch und versucht, sie im Auge zu behalten. Sie fliegt zum Spiegel hinüber, der auf der Kommode steht, und betrachtet sich. Er hängt eine Weile am Gitter, dann fliegt er wieder nach unten und trinkt einen Schluck. Die ganze Erregung muß ihn durstig gemacht haben. Dieses Ritual läuft nun immer und immer wieder ab, den ganzen Tag lang. Im kritischen Moment will Birdie gefüttert werden, und Alfonso kann sich nicht dazu überwinden oder weiß nicht, wie er es anstellen soll. Enttäuscht setze ich Birdie in ihren Käfig zurück und verlasse das Zimmer. Am Abend lasse ich Birdie raus, bevor ich mich an meinen Schreibtisch setze, um einen neuen Entwurf für meinen Flügel zu zeichnen. Die Schreibtischlampe ist die einzige Lichtquelle, und im Vogelhaus ist es praktisch dunkel. Es ist aber noch hell genug, daß ich sehen kann, wie Alfonso seitlich am Käfig
hängt. Er fängt an zu singen, leise, sanfte Töne. Als er aufhört, beginnt Birdie wieder zu winseln und ihre Flügel auszubreiten. Und endlich tut er’s. Er füttert sie durch die Gitterstäbe hindurch. Es ist ein so befriedigendes Geräusch. Er wirft den Kopf zurück, um Nahrung aus seinem Kropf heraufzuholen, und schiebt es ihr dann behutsam in den offenen Schnabel. Jedesmal gibt Birdie eine Reihe feinster Pieptöne von sich, die sie nur kurz unterbricht, um zu schlucken. Er macht so lange weiter, bis er ihr alles gegeben hat, was er hat. Birdie hört nicht auf, beharrlich zu piepen und umherzutänzeln, und so fliegt er nach unten, um neues Futter zu holen. Er kommt zurück, und die ganze Prozedur wiederholt sich. Danach setzt er sich oben auf ihren Käfig und singt. Er singt, als versuche er, ihr etwas zu sagen. Es ist ein einziges Bitten und nicht mehr das gebieterische »Komm schon her, Baby«, das er uns bisher immer hat hören lassen. Birdie sitzt vollkommen still da und horcht. Ich auch. In seinem Gesang ist eine ungeheure Vielfalt. Es gibt bestimmte Nuancen, die er sehr gut beherrscht, und die wiederholt er immer wieder, aber in unterschiedlicher Lautstärke oder Tonhöhe und mit allen möglichen Variationen. Die Weite des Himmels ist in seinem Gesang, die Kraft von Flügeln und die Weichheit von Federn. Er erzählt ihr, wie es sein wird, wenn sie erst zuläßt, daß er seinen kleinen Pimmel in ihr Löchlein schiebt. Es ist so leicht verständlich wie jedes Liebeslied. Er singt von Dingen, die er im Vogelhaus bei Mr. Lincoln nie gesehen oder erfahren haben kann. Diese Dinge müssen als Erinnerung in seinem Blut stecken, so daß sie in seinen Gesang einfließen können. Da ist das Lied von den Flüssen und vom Rauschen des Wassers und das Lied von den Feldern und den Samenkörnern in ihrer natürlichen Umgebung. Es ist ein Lied, das ich nie vergessen werde. Mit diesem Lied begann ich, etwas von der Kanarisprache zu verstehen.
Es ist keine Sprache wie unsere, mit einzelnen Wörtern oder Wörtern, die zu Sätzen aneinandergereiht werden. Beim Singen schaltet man das Denken aus, überläßt sich ganz seiner Phantasie, und dann fliegt es einem zu, klarer als Worte. Es kommt zu einem, als hätte man es selbst erdacht. Die Kanarisprache ist viel emotionaler, abstrakter als jede andere Sprache. Als ich an diesem Abend Alfonso zuhörte, fand ich Dinge heraus, von denen ich zwar wußte, daß es sie geben mußte, aber ich hatte sie noch nie erfahren. Es war das Lied eines Wesens, das sich aufs Fliegen versteht. Am nächsten Tag ist Sonntag, und nach der Messe lasse ich Birdie ins Vogelhaus. Sie gleitet an den Stangen herunter und hüpft hinüber zum Futternapf. Alfonso sieht sie und schießt sofort nach unten. Ich denke schon, es geht alles wieder von vorne los, aber er stellt sich auf die andere Seite des Napfes und frißt ein paar Körner. Birdie hüpft zum Vogelbad und beginnt mit ihrer Morgentoilette. Alfonso sieht ihr aus der Nähe zu, und als sie mit Wasser um sich spritzt, bekommt auch er eine Dusche ab. Er fliegt zur untersten Sitzstange, dann wieder herunter. Er hüpft zum Wasserschälchen und springt hinein. Er fängt richtig an zu planschen, so daß das Wasser durchs ganze Vogelhaus spritzt; er schleudert sich das Wasser mit dem Schnabel auf den Rücken, wie ich das bei Birdie nie gesehen habe. Dann gehen sie zusammen ins Wasser, rein und raus, bis kein Tropfen mehr in dem Schälchen ist. Sie fliegen beide wild durch das Vogelhaus, um zu trocknen. Birdie hat an diesem ungestümen Badestil Spaß gefunden. Die Federn um Alfonsos Schnabel sind zerzaust, und man sieht kaum noch seine Augen. Er hat sich dermaßen naß gemacht, daß seine Federn schwer herabhängen. Er sieht wirklich erbarmungswürdig aus. Er fliegt immer noch hin und her, als Birdie längst damit aufgehört hat und sich putzt. Er reibt sein nasses Gesicht an der Sitzstange und an den Gitterstäben. Er fliegt nach
unten und reibt sein Gesicht jetzt sogar an der Wand. Es ist offensichtlich, daß er nicht oft badet und daß es ihm keine Freude macht. Endlich ist er dann trocken und sauber. Beide fressen wieder, und sie gibt ihm ihr Winseln und ihren »Füttere-mich«-Laut. Er fängt tatsächlich an, sie zu füttern, aber das erregt ihn so sehr, daß er zu singen beginnt und einen kleinen Tanz aufführt. Er tanzt neben ihr im Kreis herum und singt dabei einen einzigen Ton, den er lange aushält. Er hebt und senkt den Kopf und stampft mit den Füßen zu irgendeinem geheimnisvollen Rhythmus. Und ich denke mir, jetzt geht’s wieder los. Inzwischen hat Birdie mit ihrem eigenen kleinen Tanz begonnen. Sie duckt sich, winselt und dreht sich immer so, daß sie ihn bei seinem Tanz verfolgen kann. Mit einer einzigen Bewegung ist er plötzlich in der Luft und hängt über ihr, während er seinen Pimmel unter ihren aufgerichteten Schwanz in ihr Loch gleiten läßt. Es geht nur ein paar Sekunden, und die ganze Zeit hängt er über ihr in der Luft. Er hat nur an der einen Stelle wirklichen Kontakt mit ihr. Als er fertig ist, landet er neben ihr, duckt sich hin und gibt nun seinerseits das »Füttere-mich«-Zeichen. Eine halbe Minute lang wirbeln sie umeinander herum und wechseln sich im Füttern ab. Dann tut er es wieder. Diesmal singt er nicht, und zu hören ist nur das zufriedene Winseln Birdies und das Geräusch seiner Flügel, die er heftig bewegt, um sich über ihr in der Luft zu halten. Ihre Flügel bewegen sich kontrapunktisch zu seinen, so daß die ganze Luft vibriert. Man muß sich das einmal überlegen, daß ein Vogel heftig mit den Flügeln schlagen kann, ohne sich auch nur einen Zentimeter von der Stelle zu bewegen, und daß er andererseits, wenn er fliegen will, schon mit dem kürzesten, einfachsten Flügelschlag senkrecht aufsteigen kann, zwanzig, dreißig Körperlängen hoch. Zum Fliegen gehört sehr viel mehr als nur das Flügelschlagen.
Nun fängt Birdie an durchzudrehen. Sie fliegt im Käfig herum, gibt kleine Pieptöne von sich und schlägt mit den Flügeln, als könne sie nicht stillhalten. Sie ist offenbar so erregt, daß sie nicht einmal richtig fressen kann. Sie fliegt nach unten, frißt ein Korn, und fliegt dann wieder, als habe sie etwas vergessen, wie verrückt im Käfig herum. Sie macht etwa alle fünf Minuten einen kurzen Besuch im alten Käfig, zur Inspektion und um sicher zu gehen. Dann fängt sie an, das Papier am Boden des Käfigs zu zerreißen und Stückchen davon herumzutragen. Sie beginnt, diese Papierschnitzel in den Ecken des Vogelhauses und in ihrem Käfig zu lagern. Alle halbe Stunde oder so fühlt sich Alfonso wieder so weit erholt, daß er hinter Birdie herjagt, sie füttert, und dann tun sie es wieder. Es ist ein hektischer Sonntagnachmittag. Tags darauf, am Montag, kaufe ich ein Drahtsieb ohne Griff, oben etwa zehn Zentimeter im Durchmesser. Ich befestige es mit Draht in dem kleinen Käfig. All die Bücher sagen, daß sich so ein Seiher am besten für den Nestbau eignet, weil sich darin keine Läuse festsetzen. Dann schneide ich oben von einem Leinensack ein Stück weg und mache daraus etwa fünf Zentimeter große quadratische Stücke und ziehe die fünf Zentimeter langen Fäden heraus. Ich lege ein kleines Häufchen davon in die verschiedenen Ecken des Vogelhauses. Birdie geht energisch an diese neue Aufgabe heran. Sie beginnt damit, daß sie das Zeug erst mal im ganzen Vogelhaus verstreut. Dann holt sie einen einzelnen Faden und fliegt damit hin und her, bis sie vergessen hat, daß sie ihn im Schnabel hält, und ihn fallenläßt. Sie scheint das Ganze für irgendein neues Spiel zu halten. Sie ist zwar interessiert, hat aber keine Vorstellung, welchen praktischen Nutzen das haben soll. Zwei Tage verstreichen, und ich mache mir langsam Sorgen. Gewöhnlich ist innerhalb von vier Tagen nach der Befruchtung das Ei gelegt. Ich hatte von Vögeln gelesen, die ihre Eier auf
den Boden legen und was weiß ich für verrückte Dinge tun. Vögel leben – wie Menschen – schon so lange in Käfigen, daß sie viele Dinge vergessen haben, die sie eigentlich ganz natürlich tun sollten. Am dritten Tag übernimmt Alfonso das Kommando. Zum erstenmal nimmt er einen Faden aus dem Leinensack in den Schnabel. Er fliegt geradewegs zum Nest und läßt ihn hineinfallen. Birdie sieht ihm mit offenkundigem Unverständnis zu. Dann springt Alfonso in das Sieb-Nest und schwänzelt darin herum, als nehme er ein Bad. Er springt heraus. Birdie ist ihm in den Käfig gefolgt. Sie hat einen Faden im Schnabel. Alfonso springt ins Nest und macht es ihr noch einmal vor. Birdie springt ins Nest und behält dabei den Faden im Schnabel. Sie springt wieder heraus. Alfonso zieht ihr den Faden aus dem Schnabel und läßt ihn ins Nest fallen. Birdie guckt ihn an, als sei er nicht ganz bei Trost, und fliegt aus dem kleinen Käfig, um wieder mit den Fäden zu spielen. Alfonso hüpft ins Nest und wartet auf sie. Birdie kommt mit zwei Fäden im Schnabel zurück. Alfonso verläßt das Nest und Birdie springt hinein. Alfonso springt auf Birdie und fängt an zu singen, zu pumpen und sie ins Genick zu picken. Birdie reagiert abwechselnd mit Winseln und mit Fluchtversuchen. Alfonso springt herunter, duckt sich hin und füttert Birdie im Nest. Dann singt er für sie. Birdie versucht, auf den Rand des Nestes zu steigen, aber Alfonso drängt sie zurück und wiederholt die ganze Prozedur, singt, pumpt, pickt. Dann fliegt er nach unten, um weitere Fäden zu holen. Birdie fängt endlich an zu begreifen. Sie springt auf den Rand des Nestes, dann wieder hinein. Sie setzt sich bequem hin. Sie springt wieder heraus, dann wieder hinein. Inzwischen ist Alfonso wieder da. Sie nimmt die Fäden aus seinem Schnabel und wirft sie ins Nest. Sie springt mit den Füßen drauf und
windet sich hin und her. Ich hoffe, daß wir nun endlich auf dem richtigen Weg sind.
An dem Abend treffe ich mich nach dem Essen mit dem CO, der auf Birdys Stockwerk als Pfleger arbeitet. Wir kommen ins Reden. Er erzählt mir, daß er Phil Renaldi heißt und Italiener ist, aber kein Sizilianer. Seine Großeltern sind aus der Gegend von Napoli rübergekommen. Ich soll zu ihm auf die Bude kommen und das Früchtebrot probieren, das sie ihm gerade von zu Hause geschickt haben. Ich bin immer noch nicht sicher, ob er schwul ist, aber ich geh mit. Juckt mich doch nicht, ob er schwul ist; ich blick ja bei mir selber nicht recht durch. Vielleicht ergibt sich eine Gelegenheit, ihn zu fragen, wie das ist, wenn man verrückt ist. Er hat eine klasse Bude. Es ist ein kleiner Mannschaftsraum, aber ganz abgeschlossen und für sich, so ähnlich wie das Zimmer unseres Zugführers in Jackson. Er hat es ganz für sich allein. Renaldi hat diese Bude so eingerichtet, daß es fast ist wie zu Hause. Er hat einen Plattenspieler auf einem Tisch am Ende seines Bettes stehen, und ein anderer Tisch steht mitten im Zimmer. An der Glühbirne über diesem Tisch hat er einen Lampenschirm montiert, der von der Decke herabhängt. Er hat sogar eine kleine Kochplatte und einen Teekessel. Eins von den Dingen, an die ich mich beim Militär nie gewöhnt habe, sind nackte Glühbirnen. Daheim hat meine Mutter an allen Lampen bunte Lampenschirme. Das gibt unserem Haus ein gutes italienisches Aussehen, die Atmosphäre, in der man Fettucini oder Zeppoli essen kann. Die Armee hat nackte Glühbirnen ganz oben an der Decke hängen. Die ebnen alles ein und machen es noch deprimierender, als es sowieso schon ist. Renaldi hat seinen Lampenschirm aus einem orangefarbenen Papier gemacht. Das schafft eine warme, zivile Atmosphäre. Er holt das Früchtebrot herunter, und es stellt sich heraus, daß es ihm seine Freundin und nicht seine Mutter geschickt hat. Er
kommt aus einem Ort in Ohio, der sich Steubenville nennt. Sein Mädchen wohnt da und schreibt ihm jeden Tag. Er zeigt mir ganze Bündel von Briefen, genug, um einen Postbeutel damit zu füllen. Er hat sie in Schachteln unter seinem Bett verstaut. Er zeigt mir ein paar Bilder von ihr; italienisches Mädchen, wird mit dem ersten Kind in die Breite gehen. Ich weiß nicht recht, wie ich das Thema anschneiden und ihn fragen soll, was eigentlich einen Menschen verrückt macht. Ich rede drum herum, und irgendwie bleiben wir bei der Frage der Kriegsdienstverweigerung hängen. Ich bin bereit, ihm zuzuhören. Ich erzähle ihm, daß ich erst zur Nationalgarde gegangen bin und mich dann zum Militärdienst gemeldet habe. Ich kann es hinterher selbst kaum glauben. Er möchte wissen, warum ich das getan habe. Er spielt nicht irgendwie den Klugscheißer, er will es echt wissen, es interessiert ihn einfach. Wie gesagt, ich bin bereit zuzuhören, aber dieser Bursche, der ist der größte Zuhörer aller Zeiten. Ihn interessiert einfach alles. Nicht viele Leute interessieren sich für das, was ein anderer denkt oder zu sagen hat. Sie hören einem allenfalls zu, damit sie hinterher einen haben, der auch ihnen zuhört. Jeder sucht einen, bei dem er seine Scheiße abladen kann. Manchmal tun sie so, als ob sie zuhören, aber sie warten nur darauf, daß du was sagst, wo sie einhaken und selber loslegen können. Für mich sind Gespräche meistens stinkfad. Renaldi hört wirklich zu. Er will zuhören. Man hat das Gefühl, daß man ihm einen Gefallen tut, wenn man ihm etwas erzählt. Er hört zu, als interessiere ihn das wirklich, was man sagt, und er stellt genau die Fragen, die man hören möchte, und genau im richtigen Augenblick. Dieser Renaldi ist eine Art Klistier für das Hirn. Ich bin fast so weit, daß ich alles ausplaudere. Ich kann mich gerade noch beherrschen. Vielleicht wirkt er so auf mich, weil ich jemand brauche, mit dem ich reden kann.
Renaldi fängt damit an, daß er mir erzählt, wie schwer es seine Eltern haben. Er ist der einzige Sohn und weit und breit der einzige, der aus Gewissensgründen den Kriegsdienst verweigert. Seine Mutter darf keinen blauen Stern ins Fenster hängen. Ein paar Nachbarinnen schickten ihr eine blaue Fahne mit einem gelben Stern darauf. Nicht golden, sondern gelb, die Farbe der Feigheit. Wer das Glück hat, daß sein Sohn oder Mann oder Bruder im Krieg fällt, darf sich einen goldenen Stern ins Fenster hängen und gilt dann als »GoldsternMutter/Schwester/Vater/Frau«. Diese Damen nennen Renaldis Mutter die »Gelbstern-Mutter«. Sie schreibt Renaldi von solchen Dingen oder auch davon, daß man ihr Scheiße auf die Veranda gekippt oder an den Türgriff geschmiert hat. Renaldi erzählt, daß er ein paarmal drauf und dran war, nachzugeben. Seine Freundin sagt niemand, daß sie ihm schreibt, und er schreibt ihr immer nur postlagernd. Wir sind uns einig, daß das einzige Verrückte in der Welt die Kriege sind. An der Stelle hätte ich einhaken und ihn nach dem Verrücktsein fragen sollen, aber ich verpasse die Gelegenheit. Renaldi stellt die Kochplatte an und gießt aus einem Kanister Wasser in den Teekessel. Wir unterhalten uns weiter. Renaldi war fünfundzwanzig und machte gerade seinen Magister in Philosophie, als sie ihn von der Columbia-Universität weg einziehen wollten. Nach seiner Vorstellung kann man Dinge wie Kriege immer nur als Einzelperson bekämpfen. Er sagt, niemand wird sie gesetzlich verbieten. Er fragt mich, ob die meisten Männer in meiner Einheit wirklich kämpfen wollten. Ich kann mich an keinen einzigen erinnern, der sich noch nach dem ersten Artilleriebeschuß mit Begeisterung in den Krieg gestürzt hätte. Er will wissen, wie es zu Hause in den Staaten war, bevor wir nach Übersee gegangen sind. Wenn ich ganz ehrlich bin, muß ich zugeben, daß es nur einen gegeben hat, der unbedingt an die Front wollte, und das war ich selbst.
Dann kommen wir irgendwie auf die Atombombe, die sie gerade abgeworfen haben. Das ist etwas, von dem Renaldi überhaupt nicht mehr loskommt, es ist wie ein Tick. Für mich ist die Atombombe einfach das, was den Krieg mit Japan beendet hat; wahrscheinlich mit das Beste, was je passiert ist. Es ist mir scheißegal, wie viele Japse dabei draufgegangen sind oder ob es einen nach dem andern oder ein paar Tausend gleichzeitig erwischt hat. Für mich war es die beste und einfachste Lösung. »Nun gut, aber man darf doch nicht vergessen, Al, daß sie Frauen und Kinder bombardiert haben, die mit dem Krieg überhaupt nichts zu tun hatten!« »Wo ist denn da der Unterschied, es sind alles Japse. Wenn wir gegen Japse kämpfen, töten wir Japse.« »Schon richtig, Al, aber Soldaten haben sich fürs Kämpfen entschieden; hier hat es unschuldige Opfer getroffen.« Ich sage ihm, daß ich ihm das nicht abnehmen kann. Sicher, Spinner wie mich kann man töten, aggressive und streitsüchtige Arschlöcher, aber die meisten Soldaten wollen nicht in den Krieg; sie sind Opfer wie alle anderen auch. Sie stehen an der Front und hantieren mit Waffen, weil sie alt genug sind und einen Pimmel zwischen den Beinen haben. Frauen, alte Männer und sogar Kinder sind genauso schuld, daß es Kriege gibt. Nicht jeder ist wie Renaldi und Birdy; und selbst Birdy haben sie erwischt. Man kann auch keine eigene Welt um sie herumbauen, es gibt zu wenige von ihnen. Renaldi glotzt mich immer noch verständnislos an, und so mache ich mich daran, ihm die Sache mit Birdy und meinem alten Herrn zu erzählen. Das ist eine Geschichte, die hoffentlich ein bißchen verdeutlichen kann, wovon ich rede. Wahrscheinlich könnte ich auch das kleine Einmaleins runterbeten, und Renaldi würde es genauso verschlingen.
Er schneidet jedem ein Stück Früchtebrot herunter und gießt noch etwas Tee ein. Ist das nicht das Größte? Tee! Noch vor einem halben Jahr hätte mich keiner überzeugt, daß dieser Typ nicht schwul ist. Wenn man die Long Lane zur Neunundsechzigsten Straße hochging, kam man an einem Gebrauchtwagenhändler vorbei. Jeden Freitagabend gingen Birdy und ich diesen Weg, um unsere Bücher in die Bücherei zurückzutragen, und dann blieben wir immer stehen und guckten uns die Autos an. Wir waren beide ganz scharf auf Motoren. Die Autos selbst interessierten uns kaum – ja, Birdy schwor sogar, er werde nie ein Auto fahren –, aber wie die Motoren funktionierten, das interessierte uns um so mehr. Wir hatten bereits an Motoren von Modellflugzeugen herumgebastelt und an einem Motor aus einem ausgebombten Motorroller, und wir reparierten immer Mr. Hardings Rasenmäher. Mein alter Herr kaufte jedes Jahr einen neuen Wagen und ließ ihn immer vor dem Haus stehen, um zu zeigen, was für ein toller Hecht er war. Ich mußte das Monster jede Woche einmal waschen und polieren; Birdy half mir dabei. Wir lasen die ganzen Bedienungsanleitungen, die in diesen Autos lagen. Mein Vater kaufte immer einen De Soto, weil der Mob in Philly unten eine Vertretung hatte, so daß er ihn, wenn er seinen alten in Zahlung gab, fast umsonst bekam. Der Bruder meiner Mutter ist einer der großen Bosse des Mobs in Philly, und er hat dieses Geschäft arrangiert. Wir waren die einzigen in unserer Straße, die so was wie einen neuen Wagen hatten. Birdys Mutter und Vater hatten nicht mal den Führerschein. Birdys Vater fuhr mit dem Schulbus in die Schule. Regelmäßig säuberten wir die Zündkerzen, überprüften die Zündsteuerung, rieben die Kontakte blank, stellten den Vergaser ein und taten so viel mehr, als nötig gewesen wäre. Der
Motor sah durch unsere Pflege so aus, als hätte er den Ausstellungsraum des Händlers nie verlassen. Birdy und ich sahen uns dauernd nach Autos um. Wir wußten genau über PS-Zahlen und Übersetzungen, Bohrung und Hub Bescheid. Wir konnten beide fast jeden Wagen, noch bevor wir ihn sahen, an seinem Motorengeräusch erkennen. An einem Freitagabend waren wir wieder auf dem Gelände des Gebrauchtwagenhändlers und sahen uns die neuen in Zahlung gegebenen Wagen an, und da stand ein phantastisches Auto. Es war ein Stutz Bearcat, Baujahr 1915. Wir konnten uns nicht erklären, wie es da hingekommen war. Es lief überhaupt nicht mehr, und die Reifen waren platt. Schwartz, der Inhaber des Ladens, sagte, er habe diesen Wagen abschleppen müssen. Er gab dem Besitzer, der einen 1938er Dodge kaufte, fünfundzwanzig Dollar dafür. Dieser Wagen ließ Birdy und mich nicht mehr los. Er hatte einen Achtzylindermotor, und der Rahmen war in tadellosem Zustand. Zwei Wochen lang verhandelten wir und bekamen ihn schließlich für dreißig Dollar; es kostete zusätzliche drei Dollar, ihn in unsere Garage abschleppen zu lassen. Mein alter Herr sagte, wir könnten die Garage benützen, bis es Winter würde und er wegen der Kälte seinen Wagen nicht mehr draußen stehenlassen könne. Wir arbeiteten wie besessen an dieser Maschine. Wir nahmen den ganzen Motor auseinander. Die Kolben hatten sich in den Zylindern festgefressen. Wir machten sie los und frästen die Zylinder aus. Wir bauten neue Kolbenringe und Schwinghebel ein. Birdy fertigte in Handarbeit die Ersatzteile an, die wir nicht kaufen konnten. Er machte das im Werkraum in der Schule, wo er auch seine Flügel baute. Wir entfernten den ganzen Lack, beulten die Dellen aus und reinigten die Chromteile. Es war massives Chrom und nicht nur verchromtes Blech. Wir besorgten neue Schläuche und pumpten Luft in die Reifen; die Räder hatten Speichen aus echtem Holz.
Nach tausend vergeblichen Versuchen sprang schließlich der Motor an. Die Kupplung, das Getriebe und alles andere waren in hervorragendem Zustand, und nun war auch der Motor wieder glänzend in Schuß. Wir flickten und putzten und ölten die ganzen Polster und bearbeiteten das aus Holz gefertigte Armaturenbrett mit Sandpapier und farblosem Lack, so daß es wieder wie neu aussah. Mein Gott, war das ein Anblick. Wir schmirgelten die ganze Karosserie, bis nur noch Metall zu sehen war, und lackierten sie dann silbergrau. Drei Monate dauerten diese Arbeiten. Als wir den Motor anwarfen, erfüllte ein unheimlich volles und tiefes Dröhnen die Garage, und alles vibrierte. Wir schoben den Wagen, ins Freie und fuhren das schmale Gäßchen hinter den Häusern auf und ab. Keiner von uns hatte den Führerschein. Das Auto war nicht zugelassen, und außerdem fehlte die Plakette des Technischen Überwachungsdienstes. Die ganze Sache war absolut illegal. Wir wußten, wir hatten da etwas Wertvolles, aber wir wollten es nicht verkaufen; wir liebten dieses Auto. Ich träume oft davon und hab auch heute noch manchmal diesen Traum, wo wir durch eine schöne warme Gegend kutschieren, irgendwo im Ausland, vielleicht in Frankreich. Nirgends sind Reklametafeln zu sehen, nur Bäume links und rechts, und die Wiesen sind voller Blumen. Wir sind uns einig, daß wir den Wagen beim Überwachungsdienst vorführen und anmelden sollten, damit wir die Zulassung bekommen. Mein alter Herr sagt, er fährt runter und erledigt das für uns. Wir sind noch nicht alt genug, um einen Wagen zu besitzen. Der Wagen kommt durch und ist jetzt auf den Namen meines alten Herrn zugelassen. Ich kann mich noch an das Nummernschild erinnern: QRT 645. Während Birdy in diesem Frühjahr bei sich zu Hause ist und sich um die Vögel kümmert, bin ich entweder in der Garage
bei dem Auto oder unten im Keller, um mit meinen Gewichten zu trainieren. Im Drücken schaffe ich jetzt schon über siebzig Kilo. Ich mache auch Übungen zur Verbesserung der Muskelkontrolle. Ich kann mit meinen Bauchmuskeln ein Seil machen und es von einer Seite zur anderen verdrehen. Ich fordere Birdy immer wieder auf, mich hart in den Magen zu boxen und mich zu testen, aber er tut es einfach nicht. Etwa zwei Monate nach der amtlichen Zulassung unseres Wagens gehe ich nach der Schule mit einer neuen Schutzhülle für das Lenkrad in die Garage runter. Der Wagen ist weg! Ich bin sicher, er ist gestohlen worden! Ich renne die Treppen rauf, und mein alter Herr sitzt im Wohnzimmer und liest die Zeitung. Er hat die Beine übereinandergeschlagen. Sie sind so kurz und überm Knie so dick, daß das obere Bein waagrecht hinaussteht. Er hat schwarze flache Schuhe an und weiße Seidensocken. Er hat was gegen farbige oder wollene Socken. »Jemand hat den Wagen gestohlen!« »Niemand hat ihn gestohlen. Ich hab ihn verkauft.« Er blickt nicht mal von der Zeitung auf. »Hör schon auf! Mach keine Witze! Du hast ihn nicht verkauft! Wem könntest du ihn schon verkaufen?« »Dein Onkel Nicky ist mit einem seiner ›Freunde‹ rübergekommen, und der Freund wollte den Wagen; er fand ihn irgendwie witzig und hat mir einen Hunderter dafür geboten. Was stellst du dir eigentlich vor? Glaubst du, ich will Ärger wegen so ’nem alten Schrotthaufen?« Bei der letzten Frage guckt er mich an, blättert die Zeitung um, schlägt mit dem Handrücken drauf, um sie zu glätten und guckt wieder weg. Onkel Nicky ist dieser Gangsterboß, der Bruder meiner Mutter. Ich wende mich an sie. »Ist das wirklich wahr? Hat er tatsächlich unser Auto an einen von Onkel Nickys Gangsterfreunden verkauft?«
Meine Mutter steht am Bügelbrett im Durchgang von der Küche zum Eßzimmer. Ich weiß nicht, warum sie immer da bügelt. Nirgends würde sie mehr stören als gerade da. Aber ich weiß schon, warum. Sie will die Kochtöpfe im Auge behalten und sich gleichzeitig mit dem Alten unterhalten können. Sie redet italienisch; genauer gesagt ist es Credenzia, der sizilianische Dialekt. Sie tut das immer, wenn sie ihm etwas Vertrauliches sagen will. Es ist idiotisch, denn ich verstehe alles, was sie sagt. Nachmachen kann ich das Geschwafel zwar nicht, aber ich versteh’s. Die wissen das auch. Sie sagt meinem Vater, er soll mir das Geld geben. »Was soll’n der mit hundert Dollar anfangen, wo er nichts als Dummheiten im Kopf hat. Ich bring’s auf die Bank. Wenn er Geld will, kann er mich ja fragen. Der reißt mir nicht noch mal aus.« Er schlägt die Beine andersherum übereinander und faltet gleichzeitig die Zeitung auseinander und zusammen. Wenn er Zeitung liest, faltet er sie immer zu einem Viertel ihrer Größe zusammen, wie einer, der in der U-Bahn sitzt und nicht zuviel Platz wegnehmen will. »Die Hälfte von dem Geld gehört nicht mal mir. Das halbe Auto gehört Birdy.« »Gib ihm das Geld, Vittorio. Einem anderen das Geld wegnehmen, das ist Diebstahl.« Das sagt sie wieder auf Credenzia. Der alte Herr blickt zu meiner Mutter auf. Es macht ihm richtig Spaß, so als Drecksack dazustehen. »Ich muß niemand nichts geben. Das Auto gehört mir, es läuft auf meinen Namen. Wenn ich’s verkaufe, dann ist das mein Bier.« Er macht eine Pause, damit das richtig wirken kann. Dann verlagert er wieder das Gewicht und holt seine Geldrolle heraus. So bewahrt er sein Geld auf, in einer festen Rolle in seiner
Seitentasche, die großen Scheine oben. Er zieht fünf Zehndollarscheine heraus. Diesen Hundertdollarschein hat er außen drauf, aber die Zehner zieht er unten raus. Mit einem Stück Gummi, nicht mit einem normalen Gummiband, hält er seine Geldrolle zusammen. Es ist der gleiche Gummi, aus dem meine Mutter ihre Strumpfbänder macht. Er hält mir die fünfzig Dollar hin. »Hier, das kannst du deinem Freund mit den Wackelaugen geben. Paß bloß auf, der reitet dich noch mal in was rein. Das Bürschchen hat doch nicht alle Tassen im Schrank.« Ich beherrsche mich. Wie kann man bloß so gemein sein. Er rollt seine Scheine wieder zusammen, streift das Gummiband drüber, neigt sich ein wenig zur Seite und steckt die Rolle wieder ein. Er hält mir die Hand mit den zusammengerollten Scheinen hin. Ich will sie nicht annehmen. Ich steh einfach da. Meine Mutter wendet sich ab; sie hat getan, was möglich war, und sie weiß es. Mein alter Herr haut jeden um, wenn er gerade dazu aufgelegt ist. Er sieht mich scharf an. Eine richtige Wut hat er noch nicht, aber er fühlt sich belästigt. »Du willst es nicht? Auch gut, aber soll keiner sagen, ich hätte nicht versucht, deinem Freund etwas für seinen Anteil an dem Schrotthaufen zu geben.« Er verlagert sein Gewicht wieder zur Seite, um an seine Tasche ranzukommen. Ich weiß, wenn er die Scheine erst wieder in der Rolle hat, dann seh ich sie nie wieder. Ich strecke die Hand aus und nehme die fünfzig Dollar. Er guckt nicht mal hin, grunzt nur, als ob ich ihm etwas klaue, und fängt wieder an zu lesen. Ich geh gleich rüber zu Birdy. Ich erzähle ihm alles, aber er will es ein zweites Mal hören. Er verlangt immer wieder, daß ich bestimmte Dinge wiederhole. Seine Augen wackeln wie verrückt. Ich will ihm das Geld geben, aber er nimmt nur die Hälfte. Tatsächlich nimmt er nur zwanzig; er sagt, ich soll ihm
die restlichen fünf geben, wenn ich einen der Zehndollarscheine gewechselt habe. Er denkt an etwas ganz anderes. Dann fragt er mich, ob ich herausfinden kann, wer eigentlich unseren Wagen gekauft hat. Ich sage ihm, das ist unmöglich; wenn dieser Kerl zum Mob gehört, finden wir ihn nie. Birdy sagt, er kommt rüber und redet mit meinem Vater. Das ist glatter Selbstmord; ich will es ihm ausreden. Er kann sowieso nichts ausrichten. Mein Vater wird ihn umbringen; er kann Birdy sowieso nicht leiden. Aber man kann Birdy nichts ausreden. Ich sage ihm, daß er da allein hingeht, ich will mich nicht mit seinem Blut vollspritzen lassen. Birdy hört mir nicht zu, er ist bereits unterwegs. Meine Mutter öffnet die Haustür. Von ihrem Gesicht kann man nie viel ablesen, aber sie lächelt nicht. Ich bleibe auf dem Absatz vor der Veranda stehen. Birdy fragt, ob er mit meinem Vater reden kann. Meine Mutter läßt ihn rein. Ich laufe um den Block und komme von hinten durch den Keller ins Haus in die Küche. Meine Mutter steht immer noch in der Tür und bügelt. Ich kann die Stimmen aus dem Wohnzimmer hören. »Was soll’n das heißen, du willst dein Auto zurück?« »Sie hatten kein Recht, das Auto zu verkaufen, Mr. Columbato. Es gehört Al und mir. Wir wollten es nicht verkaufen. Es ist viel mehr wert als nur hundert Dollar.« »Verpiß dich, Kleiner; der Wagen war auf meinen Namen zugelassen, ich kann damit tun, was ich will. Nun hau schon ab. Ich will endlich meine Zeitung lesen.« Birdy rührt sich nicht von der Stelle. Ich sehe, daß mein alter Herr wütend wird. Er hat immer noch die Beine übereinandergeschlagen und wippt jetzt mit dem oberen Bein. Das ist ein schlechtes Zeichen, so wie wenn eine Katze mit dem Schwanz zuckt. Meine Mutter stellt das Bügeleisen hochkant und beobachtet die Szene.
»Mr. Columbato, würden Sie mir jetzt den Namen des Mannes nennen, der glaubt, er hätte unser Auto gekauft?« Mein alter Herr ignoriert ihn einfach. Sein Bein wippt pausenlos. Birdy steht da. Ich rechne damit, daß gleich die Fetzen fliegen. Meine Mutter dreht sich zu mir um und sagt, ich soll Birdy da rausholen, bevor mein Vater auf ihn losgeht. Ich kann mich nicht bewegen. Birdy bleibt einfach stehen. Mein alter Herr sagt ohne ihn anzusehen: »Hör mal, Kleiner, jetzt hau endlich ab, sonst hol ich die Bullen!« »Vielen Dank, Mr. Columbato. Das wollte ich sowieso tun, ich habe einen Autodiebstahl anzuzeigen.« Volltreffer! Der alte Herr wirft die Zeitung hin und springt auf! Birdy weicht keinen Zentimeter zurück. Mein alter Herr ist nicht sehr groß, kaum größer als Birdy, aber er ist mindestens doppelt so dick. Er fuchtelt mit der Faust vor Birdys Gesicht herum. Er tut das so heftig, daß seine mit WildrootPomade geglätteten Haare am Hinterkopf auf- und abwippen. »Soll das heißen, ich bin ein Betrüger? Willst du damit sagen, ich hab diesen Schrotthaufen gestohlen?« Birdy blickt ihm voll in die Augen, durch diese Faust hindurch. Ich frage mich, ob mein Vater ihn schlagen kann. Birdy bewegt sich nicht mal. Er steht da wie die Feder auf einem Hut. »Ich finde, Sie haben einen Fehler gemacht, Mr. Columbato. Sie haben einen Wagen verkauft, der Ihnen nicht gehörte. Sie haben mich nicht richtig verstanden. Wenn Sie mir den Namen des Mannes nennen, dem Sie ihn verkauft haben, dann kann ich dem die Sache erklären und ihm sein Geld zurückgeben.« Eine ganze Weile kann mein alter Herr überhaupt nichts sagen. Seine Augen treten aus den Höhlen. Ich weiß, er möchte Birdy hochheben und zur Tür rauswerfen, aber er wird langsam argwöhnisch.
»Glaub mir, Kleiner, der Typ rückt den Wagen nie mehr raus. Wenn du dem Schwierigkeiten machst, liegst du bald in einem Maßanzug aus Beton bei den Fischen in irgendeinem Fluß.« Birdy tut so, als hört er ihn gar nicht. »Wenn Sie mir nur sagen würden, wie er heißt, Mr. Columbato, dann kann ich mich selbst mit ihm in Verbindung setzen und brauche nicht erst zur Polizei zu gehen.« Mein Vater geht jetzt mit dem ausgestreckten Finger auf Birdy los. Er kann einen mit der Spitze des Mittelfingers genau in der weichen Stelle unter dem Schlüsselbein so hart treffen, daß man glaubt, eine Gewehrkugel schlage ein. Birdy steht da, als wäre nichts. Er bewegt sich nicht. Ich kann nicht glauben, daß der alte Herr seine ganze Kraft einsetzt. Er hört auf und glotzt Birdy an; ich sehe, daß er seine Hand jetzt heruntergenommen hat; er brennt darauf, Birdy von den Beinen zu holen. Ich vermute langsam, es wird auf die alte Geschichte vom unbeweglichen Objekt und dem unwiderstehlichen Zwang hinauslaufen. »Sie müssen nämlich wissen, Mr. Columbato, daß Al und ich für dieses Auto eine Empfangsbescheinigung haben, die Mr. Schwartz unterschrieben hat. Wir sind ganz offiziell die Besitzer.« Das ist der reinste Blödsinn. Wir haben überhaupt nichts von Schwartz. »Sie haben sich bereit erklärt, dieses Automobil beim Überwachungsdienst vorzuführen und offiziell anzumelden, deshalb ist es auf Ihren Namen zugelassen; aber Sie sind nicht der offizielle Eigentümer. Sie haben keinen Kaufnachweis. Wir sind nach wie vor die Eigentümer. Sie brauchen mir nur den Namen des Mannes zu sagen, der den Wagen gekauft hat, dann kann ich ihm das erklären.« Der alte Herr setzt sich hin. Ich kann es nicht glauben. Birdy steht immer noch da.
»Der Mann, der den Wagen gekauft hat, ist sicher nicht daran interessiert, daß die Polizei Nachforschungen anstellt. Es könnte für alle Seiten peinlich werden.« Meinem alten Herrn bricht tatsächlich der Schweiß aus. Auf seiner Stirn und auf der Oberlippe bilden sich dicke Perlen. »Warum bist du bloß so stur, Kleiner? Also gut, ich bin ja nicht so.« Er neigt sich zur Seite, greift in die Tasche und zieht die Geldrolle heraus. Er zieht noch einmal fünfzig Dollar heraus und hält sie Birdy hin. Birdy rührt sich nicht. Der alte Herr fuchtelt mit den Scheinen. »Mehr hab ich dafür nicht kassiert, Kleiner. Nimm’s und verpiß dich. Laß mich in Ruhe, okay?« Meine Mutter steht jetzt daneben. Sie nimmt das Geld von meinem Vater und packt Birdy am Arm. Er folgt ihr und sie geht mit ihm in die Küche. Birdy ist kreidebleich, seine Lippen sind blau, und er zittert am ganzen Leib. Meine Mutter redet englisch mit Birdy. »Junge, du nimmst das Geld. Ich hole mehr von Als Onkel, meinem Bruder. Mach keinen Ärger. Wieviel Geld willst du?« Birdy sieht sie an. Tränen füllen seine Augen. Er nimmt das Geld von ihr und gibt es an mich weiter. Er schüttelt den Kopf und geht die Kellertreppen hinunter und dann durch die Hintertür ins Freie. Ich will ihm nachgehen, aber meine Mutter hält mich zurück. Als ich die Geschichte zu Ende erzähle, sitzt Renaldi da und sieht mich unverwandt an und hört genau zu. Die ganze Zeit hat er genickt oder mich sonstwie spüren lassen, daß er zuhört und daß ihn die Geschichte interessiert. Manchmal fällt es mir schwer weiterzureden, weil es mir hochkommt. Meine Nerven sind noch nicht wieder in Ordnung. Jedenfalls gibt mir meine Mutter etwa eine Woche danach noch einmal hundert Dollar. Sie zwingt mich richtig, das Geld zu nehmen und schwört, daß sie’s von ihrem Bruder bekom-
men hat. Ihr Bruder gibt ihr auch zehntausend Dollar, wenn sie ihn darum bittet, und er fragt noch nicht mal, wozu sie es will. Ich gebe die hundert Dollar an Birdy weiter und sage ihm, Nicky hat noch mal zweihundert ausgespuckt. Birdy ist nämlich immer noch sauer. Er schätzt, das Auto ist mindestens dreihundert wert, und er hat herumgeschnüffelt, um rauszukriegen, wer es gekauft hat, und er will immer noch die Bullen einschalten. Er hat sogar an die Zulassungsstelle für Kraftfahrzeuge geschrieben, um herauszufinden, unter welchem Namen der Wagen jetzt zugelassen ist. Ich sage ihm, sie werden ihn kaltmachen, aber das ist ihm völlig gleich. Wenn Birdy sich was in den Kopf gesetzt hat und dazu noch so sauer ist wie jetzt, dann läßt er sich nur schwer davon abbringen. Es müssen fast drei Wochen vergangen sein, als ich wieder mal zu ihm rübergehe und ihn hinter seinem Haus antreffe, wo er seine Flügel ausprobiert und die Bewegungen übt. Ich sehe gewaltige schwarze und blaue Flecken auf seiner Brust. Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich kapiere, daß das die Stellen sind, in die mein alter Herr seinen Finger gerammt hat. Der hat das keineswegs mit halber Kraft getan; Birdy hat sich nur bei jedem Stoß nach vorn bewegt. Er war wahrscheinlich nahe dran, dem alten Herrn den Finger zu brechen. Ich rede nicht weiter. Ich hab keine Lust mehr. Ich glaube, Renaldi begreift sowieso nicht, wovon ich rede. Ich bin ja selber schon unsicher. »Mann, Al. Diese Dinge sollten Sie unbedingt Weiss erzählen. Vielleicht kann er damit was anfangen und dann Birdy helfen. Ich glaube, man hat Weiss noch nicht einmal gesagt, daß er Birdy genannt wird. Das müßte ihm weiterhelfen. Sie müssen es ihm sagen. Das sind Sie Birdy schuldig.« »Nichts werd ich sagen. Und Sie tun es auch nicht! Lieber soll Birdy verrückt bleiben, als daß so ein Scheißer wie Weiss ihn zurückholt. Wenn ich aus so einem verrückten Zustand
zurückkommen und dann gleich so einen Typ wie Weiss vor mir sehen würde, könnte ich wahrscheinlich für den Rest meines Lebens bloß noch heulen.« An der Stelle hätte ich ihn nach dem »Verrücktsein« fragen sollen, aber ich hab’s nicht getan. Vermutlich weiß Renaldi auch nicht mehr als ich. Wir sind alle auf unsere ganz persönliche Art verrückt. Wenn sich genügend Leute daran stören, nennen sie dich verrückt. Manchmal kannst du’s selbst nicht mehr ertragen und sagst zu irgendwelchen Leuten, daß du verrückt bist, und die kümmern sich dann um alles weitere.
Seit der Paarung ist Alfonso nicht mehr so feindselig gegen mich. Ich würde nicht sagen, daß er freundlich ist, aber es herrscht eine Art Waffenstillstand. Ehrlich gesagt, er läßt mich mehr oder weniger links liegen. Ich weiß nicht, was Birdie ihm erzählt hat oder in welchem Maße Kanarienvögel solche Gedanken austauschen können, aber er akzeptiert die Vorstellung, daß ich ihm nicht weh tun werde. Der Nestbau macht jetzt rasche Fortschritte. Den ganzen Tag fliegen sie rauf und runter, rein und raus. Alfonso darf beim Transport helfen, aber es steht ihm nicht zu, irgend etwas ins Nest zu legen. Birdie hat ganz bestimmte Vorstellungen, wie alles gemacht werden muß. Er kommt mit ein paar Fäden angeflogen, und sie nimmt sie ihm aus dem Schnabel. Offenbar hat Alfonso nur das Konzept; vom Bauen selbst versteht er nichts. Wenn ich ins Vogelhaus gehe, um in das Nest zu spähen, regt sich Birdie nicht auf; sie scheint stolz auf sich zu sein. Man kann zwar nicht sagen, daß sie die kleinen Fäden richtig webt, aber sie fügt sie sorgfältig so zusammen, daß sie einander überlappen und ein kompaktes, modelliertes Ganzes ergeben. Alfonso ist nicht so begeistert, daß ich meine Nase da reinstecke. Während ich einen Blick in das Nest werfe, steht er oben auf dem Käfig und fixiert mich so drohend, wie er nur kann. Birdie baut das Nest als ein tiefes Loch, das etwas kleiner ist als ihr Brustumfang, und am oberen Rand biegt sie es etwas nach innen, um die Öffnung klein zu halten. Das Innere ist so geformt wie die Höhlung einer kleinen Vase. Dienstagabend kann ich sehen, daß es fertig ist. Als ich am Mittwoch von der Schule heimkomme, trifft mich fast der Schlag: das ganze Nest ist zerfetzt und über den Boden des Vogelhauses zerstreut. Heiliger Himmel, was soll denn das! Es ist zum Verrücktwerden. Das neue Nest ist aber bereits
im Bau. Sie ist richtig besessen diesmal. Ich glaube, wenn Alfonso sie nicht von Zeit zu Zeit füttern würde, würde sie verhungern. Es geht rauf und runter, hin und her. Sorgfältig pickt sie die richtigen Teile aus den Trümmern, fliegt nach oben und legt sie noch sorgfältiger in das Nest Jedesmal setzt sie sich einen Augenblick rein, um die Ausmaße zu überprüfen, und ist schon wieder draußen. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was am ersten Nest falsch gewesen sein könnte. Der arme Alfonso muß arbeiten wie ein Sklave. Eine schöpferische Genugtuung bringt ihm das alles nicht, aber sie zwingt ihn. Er spielt den Ziegelträger, während sie mauert. Zweimal sehe ich ihn zu seiner Lieblingsstange ganz oben fliegen, wo er ein bißchen singen und sich ausruhen will. Birdie jagt hinter ihm her und zwingt ihn zum Weiterschuften. Diesmal fängt sie zum Abschluß des Nestbaus an, die einzelnen Fäden zu feinem braunem Flaum zu zerzausen. Damit bedeckt sie den Boden des Nestes und die oberen Partien. Es ist wunderschön. Dann ist ihr offenbar auch das noch nicht weich genug, und sie jagt Alfonso durch den ganzen Käfig, um ihm Federn aus der Brust zu stibitzen. Ein paarmal läßt er sie gewähren, aber dann hat er genug. Als sie sich wieder eine Feder klauen will, gibt er ihr ein paar kräftige Schnabelhiebe auf den Kopf und scheucht sie durchs ganze Vogelhaus, bis sie in den kleinen Käfig zurückfliegt und sich im Nest niederläßt. Er fliegt hinter ihr her, geht zu ihr hin und füttert sie im Nest. Sie bleibt dort sitzen, während er dieses leise, zarte Lied singt, das er auch an jenem Abend sang, als ich ihn das erste Mal hörte. Jetzt weiß ich, daß das Nest fertig ist. Kanarienvögel, die im Käfig leben, sind insofern wie Menschen, als sie kein völlig natürliches Leben führen. Ihr Leben ist sicherer, als ein natürliches Leben sein würde. Deshalb werden sie nicht oft genug gefordert, sie haben zuwenig Erfahrung im Kampf ums Überleben. Außerdem werden Vögel, die
in der Natur umkommen würden, vom Vogelzüchter am Leben gehalten, da er nicht in erster Linie an einem lebensfähigen Vogel interessiert ist, sondern beispielsweise an der Farbe oder am Gesang oder einer bestimmten Gestalt und so weiter. Ganz allmählich büßt der Käfigvogel viel von seiner Vitalität ein, von seiner Fähigkeit, zu überleben. Wenn zum Beispiel bei natürlich lebenden Vögeln das Weibchen ihr erstes Ei legt, ist sie so sehr damit beschäftigt, Nahrung zu besorgen und ihr Territorium zu verteidigen, daß sie sich gewöhnlich nicht sofort auf dieses erste Ei setzt. Sie wartet, bis sie ein ganzes Gelege beisammen hat, ehe sie sich wirklich drauf setzt und zu brüten beginnt. Ein Käfigvogel ist dagegen in einer anderen Situation. Da ist das Weibchen so unruhig und ihre Bewegungsfreiheit ist so sehr auf die unmittelbare Umgebung des Nestes eingeschränkt, daß sie sofort mit dem Brüten beginnt, wenn sie ein Ei gelegt hat. Das hat zur Folge, daß beispielsweise bei vier Eiern der erste Vogel vier Tage vor dem letzten ausschlüpft. Vier Tage sind bei Küken ein gewaltiger Unterschied, und das erste bekommt die ganze Nahrung und trampelt auf den kleinen herum, so daß die kaum eine Überlebenschance haben. Aus dem Grund nimmt der Vogelzüchter die Eier aus dem Nest, sobald sie gelegt sind. Er legt sie erst zurück, wenn das Gelege vollständig ist. Er ersetzt jedes Ei, das er herausnimmt, durch ein künstliches Ei oder eine Murmel, damit der Vogel nicht entmutigt wird und das Nest preisgibt. Ich halte meine künstlichen Eier Donnerstag früh bereit. Birdie hat die letzten zwei Nächte im Nest geschlafen, und das ist angeblich ein sicheres Zeichen. Ich habe Speiseöl und einen Wattebausch bereitgelegt, für den Fall, daß sie in Legenot kommt. In den Büchern steht, daß junge Weibchen manchmal das Ei nicht leicht auspressen können und verkrampfen, so daß das Ei steckenbleibt. Das kann den Vogel das Leben kosten.
Wenn das passiert, streicht man warmes Olivenöl auf die Kloake und massiert sie sanft mit einem Wattebausch, bis sich die Muskeln entspannen und das Ei freigeben. Ah diesem Morgen streue ich frische Sämereien und Eifutter auf den Boden des Vogelhauses. Eifutter bekommen sie schon seit der Paarung. Es besteht aus hartgekochten Eiern, vermanscht mit Haferbrei. Birdie und Alfonso fressen das beide sehr gern. Sobald Birdie es riecht, fliegt sie nach unten. Ich gehe ins Vogelhaus und sehe im Nest nach. Da ist ein Ei. Ich bin so nervös, daß ich mich kaum traue, es herauszunehmen. Ich atme tief durch, um mich zu beruhigen. Ich habe einen Kaffeelöffel mitgebracht, und ich schiebe ihn nun behutsam unter das Ei. Das Ei wackelt in dem Löffel, als ich es heraushebe und mit zitternder Hand in ein Wattenest lege, das ich vorher in einer kleinen Schale hergerichtet habe. Ich beeile mich, das Kunstei in das Nest zu legen. Ich habe es vorher in meiner Hand gewärmt. Ich weiß, daß Birdie zu schlau ist, sich von einer kalten Murmel überlisten zu lassen. Birdie ist inzwischen wieder zum Nest heraufgeflogen und verfolgt diese Handgriffe argwöhnisch. Sie quiept, und es ist ein so klagender Ton, daß mir die Nerven noch mehr flattern. Als ich das Kunstei hineingelegt habe, hüpft sie auf den Rand des Nestes, scheint zufrieden und läßt sich darauf nieder. Meine Stirn und meine Hände sind schweißnaß. Vorsichtig trage ich das Schälchen mit dem Ei aus dem Vogelhaus. Es ist ein prächtiges Ei. Ich stelle es auf das Fensterbrett und sehe es mir an. Die Schale ist von einem blassen Blaugrün mit winzigen rötlich-braunen Punkten. Es sind nicht etwa Blutflecken, sondern richtige Punkte, nicht sehr dunkel, sondern eher wie blasse Sommersprossen. Im Gegenlicht kann ich durch die Schale sehen und die Umrisse des Dotters ausmachen. Es ist eine erstaunliche Vorstellung, daß da ein künftiger Vogel drinsteckt, daß in diesem Ei die Federn und der Schnabel und
das Fliegen stecken. Ich wollte, ich könnte selbst da drin sein und als Vogel wiedergeboren werden. Ich wollte, ich könnte in diesem Nest leben und mich von Birdies Federn wärmen und mich von ihr füttern lassen und mich an meine Brüder und Schwestern schmiegen und spüren, wie meine Flügel kräftiger werden und meine Federn wachsen. Birdie bleibt auf dem ersten Ei nicht konsequent sitzen, aber sie hält sich immer in der Nähe des Nestes auf, und Alfonso verbringt einen großen Teil seiner Zeit bei ihr im Käfig. Am nächsten Morgen ist ein zweites Ei da. Es hat etwas stärkere Blautöne als das erste. Jetzt macht Birdie ernst. Den ganzen nächsten Nachmittag verläßt sie das Nest nur ein einziges Mal. Alfonso bringt ihr Nahrung, aber ihr Körper braucht Kalk für die neuen Eier, und so fliegt sie nach unten und knappert an der Sepiaschale. Alfonso füttert sie nicht nur, er stellt sich auch neben das Nest und singt für sie. Von Zeit zu Zeit fickt er sie auf dem Nest. Ich weiß nicht recht, ob das den Eiern schadet, die sie noch in sich hat, oder nicht. Ich überlege mir, ob ich die Käfigtür zumachen soll, um Alfonso von ihr fernzuhalten, tu es dann aber nicht. Am nächsten Morgen ist ein drittes Ei da. Es sieht mehr wie das erste aus, hat aber weniger Punkte. Es ist auch länger und dünner. Jedesmal tausche ich es gegen ein Kunstei aus. Das Buch sagt zwar, ein Ei genügt, um das Weibchen im Nest zu halten, aber ich bin sicher, daß entweder Birdie oder Alfonso bis vier zählen kann. Wenn Birdie jetzt nach unten fliegt, um zu fressen oder sich zu bewegen, setzt sich Alfonso auf die Eier. Erst sehe ich ihn am Rande des Nestes stehen und hineinblicken, als Birdie weg ist, und ich fürchte, er könnte versuchen, die Eier zu fressen. Das ist bei Kanarienvögeln gar nicht so ungewöhnlich. Ich füttere sie mit Hühnereiern, und so groß ist der Unterschied gar nicht. In dem Buch steht, wenn ein Ei aus irgendeinem Grund zerbricht, muß es sofort entfernt werden,
damit die Vögel keine Gelegenheit haben, es zu fressen. Wenn ein Vogel erst mal anfängt, Eier zu fressen, ist er für die Zucht nicht mehr zu gebrauchen. Nach dem vierten Ei lege ich das ganze Gelege ins Nest zurück und notiere mir das Datum auf dem Kalender. Dreizehn Tage soll es nun dauern, bis die Jungen schlüpfen. Am nächsten Morgen stelle ich überrascht fest, daß Birdie ein fünftes Ei gelegt hat. Normalerweise legt ein Kanari nur zwei bis vier Eier, besonders ein so junges Weibchen wie Birdie. Jetzt beginnt die lange Wartezeit. Ich habe das Gefühl, die zwei Wochen gehen nie vorbei. Geräusche machen mich jetzt kribbelig und nervös. Das Buch sagt, unverhoffte Geräusche oder Schocks können die Entwicklung des Embryos stoppen oder das Weibchen so erschrecken, daß sie das Nest sich selbst überläßt. Ich befestige kleine Gummipuffer an meiner Zimmertür, um zu verhindern, daß sie plötzlich zuknallt. Ich mache ein Schild und hänge es an die Tür: BITTE RUHE. Meine Mutter steigert sich langsam in eine Wut hinein und steht kurz vor einem Tobsuchtsanfall. Zum Glück bringe ich genau zur rechten Zeit gute Zeugnisse heim, jedenfalls gut für mich; trotzdem nörgelt sie weiter und brummt etwas von Gestank und von Mäusen. Ich habe Angst, sie könnte mal in mein Zimmer gehen und das Fenster oder die Tür zum Vogelhaus aufmachen, oder gar beides. Ich weiß nicht, warum sie so ist. Alfonso darf sich unmittelbar neben Birdie aufs Nest setzen. Er füttert sie, und sie füttert ihn. Es ist kaum zu glauben, daß das noch derselbe Vogel ist. Er ist jetzt fast freundlich zu mir, aber nur, solange ich dem Nest nicht zu nahe komme. An einem Samstag gehe ich zu Mr. Lincoln, um seine Familie zu besuchen und mir ein paar Ratschläge geben zu lassen. Ich erzähle Mr. Lincoln von Alfonso, und er schüttelt den Kopf und sagt, ich müsse ein besonderes Geschick im Umgang mit Vögeln haben. Er sagt, ich solle darauf achten, daß Birdie nicht
zu fest auf den Eiern sitzt und Schweißausbrüche bekommt. Manchmal wird ein junges Weibchen auf ihren Eiern so nervös und ängstlich, daß sie zuviel Hitze erzeugt und zu schwitzen beginnt. Dadurch wird ihre Energie aufgebraucht, und sie wird noch nervöser, und dann kann es leicht passieren, daß sie versehentlich mit der Klaue ein Ei aufschlägt oder gar das Nest aufgibt. Er sagt, ich solle ihnen ab sofort kein Eifutter, kein Spezialfutter und nichts Grünes mehr geben, vor allem keinen Löwenzahn, und zwar bis zu dem Tag, an dem voraussichtlich die Jungen schlüpfen. Auf die Weise wird ihr Blut nicht allzu sehr angereichert. Mr. Lincoln sollte sein eigenes Buch über Vögel schreiben. Er ist besser als jedes Buch. Am zwölften Tag geht Birdie aus dem Nest, um in der Trinkwasserschale ein Bad zu nehmen. Mir kommt das dermaßen verrückt vor, daß ich überzeugt bin, sie verläßt noch im letzten Augenblick das Nest. Obwohl ich anderntags Schule habe, radle ich noch am Abend zu Mr. Lincoln rüber. Er lacht und sagt, Birdie sei ein schlauer Vogel. Er sagt, manchmal ist ein Weibchen so, und irgendwie weiß sie – entweder hat sie mitgezählt oder gespürt, daß sich im Ei etwas bewegt –, daß das Ausschlüpfen kurz bevorsteht; also nimmt sie ein Bad und setzt sich wieder auf die Eier, solange sie noch feucht ist. Das Wasser macht die Schalen ein bißchen weicher, und dann haben es die Küken beim Ausschlüpfen etwas leichter. Ich komme erst nach sieben Uhr wieder nach Hause, und ich habe das Abendessen verpaßt. Meine Mutter ist wütend, und mein Vater ist still. Meine Eltern achten streng darauf, daß ich an Schultagen nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr draußen bin. Ich sage, daß ich bei Mr. Lincoln war, um ihn wegen der Vögel etwas zu fragen. Es gäbe eine böse Szene, wenn sie je herausfänden, daß Mr. Lincoln schwarz ist. Da sind meine Eltern ganz komisch.
Der vierzehnte Morgen ist ein Samstag, so daß ich den ganzen Tag zuhören und zusehen kann. Ich bin noch im Bett und gerade erst wach geworden, da höre ich das dünne Piep-piep des ersten Kükens, das ausgeschlüpft ist. Das Eifutter ist schon im Käfig. Ich steige vorsichtig vom Bett herunter und blicke in das Vogelhaus. Alfonso holt sich etwas Eifutter. Birdie sitzt fest auf dem Nest. Ich kann den Boden des kleinen Käfigs sehen, und da liegt eine Eierschale. In etwa einer Stunde ist ein zweiter Vogel auf der Welt. Ich sehe zu, wie Birdie den Schnabel unter ihre Brust steckt und nachhilft. Sie zieht die Schale heraus und wirft sie aus dem Nest. Ich kann nicht sagen, ob sie die Kleinen füttert oder nicht. Ich muß runter zum Frühstück, und als ich zurückkomme, ist wieder eins ausgeschlüpft. Ich weiß nicht, ob nur noch eins aussteht, oder ob es noch zwei sind. Die dünnen Piep-piep-piep-piep-Töne überschneiden sich, deshalb bin ich mir nicht sicher. Ich sehe den ganzen Tag zu, und Birdie füttert die Jungen nicht. Ich fange an, mir Sorgen zu machen. Wie gesagt, Kanarienvögel sind wie Menschen; sie leben kein natürliches Leben, und deshalb tun sie manchmal idiotische Dinge. Es kommt nicht nur vor, daß sie die Eier fressen; manchmal brüten sie sie nicht aus, oder sie füttern die Küken nicht, wenn sie ausgeschlüpft sind. Oder das Weibchen erschrickt sich so, wenn die Kleinen ausschlüpfen, daß sie aus dem Nest springt und nicht mehr in die Nähe geht. Saubere glatte Eier gehen ja noch, aber wuselige Küken verkraftet sie nicht mehr. Ein solcher Vogel ist nicht etwa bösartig oder so, er weiß einfach nicht oder hat vergessen, wie er sich verhalten soll. Es gibt auch beim Menschen Mütter und Väter, die das Nest verlassen, und es sind ähnliche Gründe. Gegen drei Uhr am Nachmittag geht Birdie aus dem Nest und fliegt nach unten, um zu fressen. Alfonso fliegt hinauf. Er steht über dem Nest und sieht hinein; dann beugt er sich vor und
steckt den Kopf ins Nest. Ich fürchte, er könnte die Küken rauswerfen; auch das kommt manchmal vor. Doch dann sehe ich, wie er den Kopf nach hinten legt, um mehr Nahrung aus seinem Kropf zu holen, und ich weiß, er füttert sie. Ich bin so aufgeregt, daß ich am liebsten im Zimmer herumlaufen würde. Als Birdie zurückkommt, ist er immer noch nicht fertig. Ich höre, wie die Pieptöne jedesmal zunehmen, wenn er den Kopf ins Nest senkt. Ich gebe mir die größte Mühe, so hoch raufzukommen, daß ich die Küken sehen kann. Ich lege mich sogar oben in mein Bett und hänge den Kopf weit über die Kante vor, aber es ist unmöglich. Birdie schaut eine Weile zu, gleitet dann wieder über ihre Küken und beendet das Zwischenspiel. Ich fange wieder an, mir Sorgen zu machen. Kann Alfonso die Fütterung allein bewältigen? Wird Birdie denn nie kapieren, worauf es ankommt? Ich muß bis zum späten Sonntagnachmittag warten, bis ich endlich Birdie ihre Küken füttern sehe. Ich glaube, sie hätte nie damit angefangen, wenn nicht Alfonso gewesen wäre. Er hat sie zweimal aus dem Nest gedrängt, um die Kleinen selbst zu füttern. Sie ist ganz durcheinander und weiß nicht, was tun; sie kann nur dasitzen und hoffen, daß sich alles klären wird. Auch das letzte Küken schlüpft an diesem Tag aus. Ich sehe wieder eine Eierschale am Boden, sonst hätte ich es nicht mitbekommen. Die Küken lassen ununterbrochen ihr piep-piep-pieppiep-piep hören; es sind ungleichmäßige, sich ständig verändernde Töne, die einander überschneiden und überholen, da die Vögel in geringfügig verschiedenen Intervallen piepen. Ich kann sie nicht voneinander unterscheiden. Am nächsten Tag bin ich in der Schule völlig abwesend. Ich ertappe mich immer wieder dabei, wie ich still dasitze und mich ganz darauf konzentriere, Eier auszubrüten. Ich muß immer daran denken, wie die Vögel wohl aussehen werden. Sind sie dunkel oder hell, wird ein zweiter Alfonso darunter
sein, sind es Männchen oder Weibchen? Wird Birdie sie auch weiterhin füttern? Was wird Alfonso tun, wenn sie aus dem Nest kriechen? Sind es wohl bösartige Vögel, die einander im Nest angreifen werden? Ich kann es nicht erwarten, nach Hause zu kommen. An diesem Abend riskiere ich es, als Birdie zum Freßnapf runterfliegt. Ich gehe rasch ins Vogelhaus und bin schneller am Nest als Alfonso. Es liegt immer noch ein Ei drin. Das bedeutet, daß es vier Vögel sind. Man sieht nur von leichtem Flaum bedeckte Fleischklümpchen unten im Nest. Dann wird Alfonso frech und landet auf dem Rand des Nestes. Sowie seine Füße das Nest berühren, schieben sich zitternd vier winzige Köpfe aus dem nackten Fleisch. Weich aussehende Schnäbel, geöffnet und suchend, zwischen geschlossenen Augen. Er füttert sie, als sei ihm gar nicht bewußt, daß ich so aus der Nähe zuschaue. Es ist eines darunter, das eine vollkommen dunkle Haut hat; wahrscheinlich wird es so dunkel werden wie Alfonso. Dann sind da zwei helle und eines, das gefleckt aussieht. Ich beschließe, noch einen Tag abzuwarten, bevor ich das Ei herausnehme. Die Vögel sehen alle gleich groß aus, so daß ich nicht sagen kann, welcher einen Tag nach den anderen ausgeschlüpft ist oder ob das übriggebliebene Ei der Nachzügler ist. Birdie kommt zum Nest zurück und hilft Alfonso beim Füttern. Die kleinen Köpfe sind gierig ausgestreckt, und die Alten nehmen die kleineren Köpfe fast ganz in den Schnabel, um die Nahrung in die Hälse zu stopfen. Alfonso fliegt nach unten, um neues Futter zu holen, aber noch bevor er zurück ist, hat Birdie beschlossen, daß es reicht, und sie setzt sich wieder auf das Nest. Am nächsten Morgen greife ich zwischen die warmen, sich windenden Leiber und hole das Ei heraus. Ich halte es gegen das Licht und sehe, daß es klar ist. Ich halte es direkt vor eine
Glühbirne, und es ist völlig durchsichtig. Irgendwie ist es nicht befruchtet worden; es ist unfruchtbar. Das ist schon erstaunlich, so wie die dauernd gefickt haben. Ich kann es nicht wegwerfen, und so packe ich es in Watte in eine kleine Schachtel und lege es zu meinen Socken in die Schublade. Es ist wahrscheinlich ganz gut, daß kein fünfter Vogel ausgeschlüpft ist; schon bei vieren herrscht ein ganz schönes Gedränge in einem Nest.
Am nächsten Morgen hab’ ich meine übliche Sitzung mit Weiss. Ich möchte wissen, ob ihm Renaldi was gesagt hat. Ich glaube nicht, daß er das täte, aber man kann nie wissen. Er könnte ein Spitzel sein, den Weiss auf mich angesetzt hat. Er kehrt heute morgen eindeutig den Psychiater raus. Sein Mantel ist schneeweiß und gestärkt, seine Brillengläser sind so spiegelblank, daß man nur mit Mühe seine Augen sehen kann. Er hat die Hände vor sich auf dem Schreibtisch gefaltet, die Finger nach innen gebogen. Er hat sein bestes Lächeln aufgesetzt, ein ruhiges, liebendes »Alle-Menschen-sind-Brüder-undist-das-Leben-nicht-schrecklich-aber-gemeinsam-schaffen-wirdas-schon«-Lächeln. Seine dicken Daumen verraten ihn; sie klettern abwechselnd übereinander weg. Der Druck ist so groß, daß man fast hören kann, wie die Rillen der Fingerkuppen aneinander reiben. Ich steh salutierend da, und er lächelt mir zu. Dann gibt er auf und führt den Gruß nachlässig zu Ende, indem er mit einer seiner fetten Hände eine auffordernde Geste macht; mit gestreckten Fingern und einem leicht nach innen gebogenen Daumen deutet er auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. »Nehmen Sie Platz, Alfonso.« Alfonso! Leck mich am Arsch! Niemand, nicht mal meine Mutter, nennt mich Alfonso. Wenn ich bloß seinen beschissenen Vornamen wüßte. Auf dem schwarzen Namensschild in der Ecke seines Schreibtischs steht nur Maj. S. O. Weiss. Am liebsten würde ich ihn ja fragen, wofür das »S.« noch steht außer Scheißkopf, aber warum soll ich ihn reizen. Er macht nur seine Arbeit. Ich wünsch mir bloß, daß er sie besser macht. Scheiße, Mensch, ein guter Psychiater würde doch nie für die lahmarschige Armee arbeiten. Wenn er auch nur Durchschnitt wäre, hätte er seinen Platz im Fliegerkorps. Ich wette, daß noch der dusseligste Psychiater im Fliegerkorps für Birdy
besser wäre. Das war wirklich mal was anderes. Den ganzen Tag haben sie mit Typen zu tun, die nicht fliegen wollen, und hier ist einer, der will. Und das ohne Flugzeug. Er lächelt mir immer noch zu. Ich frage mich, ob er das vor dem Spiegel übt. Na schön, das Spielchen kann ich auch spielen. Er hat noch nicht viel Erfahrung mit Sizilianern. Sizilianer können einander den ganzen Tag gegenübersitzen und lächeln; sie reden dabei über das Wetter, und einer sagt dem anderen, was für ein toller Bursche er ist. Dabei wissen sie, daß Gift in dem Weinglas ist, das der andere vor sich stehen hat; unter dem Tisch haben sie das aufgeklappte Messer in der Hand; und drei Freunde haben ihre Gewehre auf den Kopf des anderen gerichtet. Sie können all das tun, solange sie wissen, daß der andere genau dieselben Vorkehrungen getroffen hat. Die meisten Sizilianer haben etwas Verrücktes an sich, kein Wunder, wenn man an all die Generationen denkt, die in der Sonne gelebt haben, und dann die Mischung aus Phöniziern, Griechen und Römern. Das ist eine üble Kombination. Wir haben die heimtückischen Wesenszüge der Phönizier, die Schlauheit der Griechen und die Niedertracht der Römer geerbt. Ich spiele also mit und grinse bis über beide Ohren; aber bei meinem Kopfverband kriegt er wohl nicht die volle Wirkung mit. Kann nicht schaden, wenn ich die erste Karte ausspiele. »Was hat Sie dazu gebracht, Psychiater zu werden, Sir?« Keine Reaktion. Womöglich ist er ein jüdischer Sizilianer. »Ich meine, Sir, war Ihnen das schon auf der Schule klar, oder hat es sich dann einfach so ergeben, wie so oft im Leben, Sir?« Weiss grunzt tief in seiner Kehle. Es sind faire Fragen. Er beugt sich über den Schreibtisch vor und hält sich dabei immer noch mit den Händen fest.
»Na ja, Alfonso, genau genommen war es während des Medizinstudiums. Sie kennen doch die alte Scherzfrage: ›Wie wird man Psychiater?‹« Kenne ich, aber er soll es ruhig sagen. Ich lächle zurück. »Nein, Sir.« »Na ja, es heißt, ein Psychiater sei ein jüdischer Arzt, der kein Blut sehen kann.« Toll, Mann. Ich weiß nicht, was er von mir erwartet, aber ich lache. Ich lache eine Idee zu lange. Die meisten Sizilianer haben ein eingebautes falsches Lachen, das sie bei jeder Gelegenheit bringen können. Sie können bei ihrer eigenen Beerdigung lachen, wenn es ihnen einen Vorteil bringt. Es ist ein Lachen, das ihnen jeder abnimmt, nur nicht ein anderer Sizilianer. »Der ist gut, Sir.« So einfach werd’ ich’s ihm nicht machen. »Aber im Ernst, Sir. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, sich beruflich mit Spinnern und Irren zu beschäftigen?« »Na ja, Alfonso, ich beschäftige mich in meiner Arbeit nicht nur mit Abnormalen, wie Sie wissen. Bei vielen Leuten ist es irgendeine Kleinigkeit, die sie stört, und mit meiner Hilfe können sie das überwinden und zu einem besseren Leben finden.« »Und die Armee bezahlt dafür, Sir?« Er sieht seine Chance und schlägt sofort zu. Der Dreckskerl ist aalglatt, keine Frage. Er kann’s nicht erwarten, will irgendwie in meinen Kopf rein. »Die Armee hat nicht nur schlechte Seiten, Sergeant. An der Front zu kämpfen, ist nie angenehm, das war schon immer so, aber die Armee kümmert sich um ihre Leute.« »Und wie sie sich um mich gekümmert hat, Sir.« Ich knall ihm das einfach so vor den Latz. Der Typ ist gut. Er lächelt immer nur zurück. »Alfonso, sagen Sie mal, wie war eigentlich Ihr Vater?«
»Mein Vater lebt noch, Sir.« Er blickt auf den Schreibtisch, auf den Stoß Papiere unter seinen Händen. Da kann nichts dabei sein, jedenfalls nicht über meinen alten Herrn. Er spielt wieder den Psychiater. »Ach so, ja. Ich wollte sagen, wie ist eigentlich Ihr Vater, wie kommen Sie mit ihm aus?« »Oh, er ist ein prima Kerl, Sir. Wir waren immer wie Kumpel. Er hat mich immer zum Zelten mitgenommen, und wir haben zusammen Flugzeugmodelle gebaut; solche Dinge eben. Er ist wirklich ein prima Kerl, und so liebenswürdig zu meiner Mutter. Sie ist bestimmt die beste Mutter auf der ganzen Welt.« Jetzt fehlen nur noch ein paar Sprüche von »Jack Armstrong, dem amerikanischen Musterknaben«, den sie immer im Radio bringen. »Aah ja. Und was macht Ihr Vater beruflich, Alfonso?« »Er ist Kanalarbeiter bei der Stadt, Sir. Er nennt sich zwar einen Klempner, aber in Wirklichkeit muß er den ganzen Tag Scheiße schaufeln. Abends kommt er durch die Hintertür ins Haus, duscht sich unten im Keller und schrubbt sich mit einer großen Scheuerbürste. Er schneidet sich die Fingernägel immer so kurz, daß man glaubt, sie sind abgenagt. Das macht er, damit sich keine Scheiße drunter festsetzt, Sir. Wenn er sich dann zum Essen an den Tisch setzt, würde man ihm nie ansehen, daß er den ganzen Tag in der Scheiße gestanden hat. Er ist einfach ein prima Kerl, Sir. Ich habe ihn noch nicht einmal klagen hören, und er gibt alles, was er verdient, meiner Mutter ab. Wir sind zwar arm, aber wir sind sauber und anständig, Sir. Wir sind froh darüber, daß wir in diesem großartigen Land leben, in dem jeder eine Chance hat.« Eine kurze Anspielung auf »Little Orphan Annie« und ihre Kohlenaugen würde jetzt gut passen. Soll ich ihm sagen, daß
ich einen merkwürdigen Hund habe, der anstelle von Augen nur Löcher hat? Ich verziehe bei alldem keine Miene. Das ist der Sizilianer in mir. Onkel Nicky wäre stolz auf mich. Onkel Nicky verdient ein Vermögen am Krieg. Er verkauft Allergie-Atteste, die von unbescholtenen Ärzten ausgestellt sind, das Stück zu fünfzehnhundert Dollar. Ihm selbst bleibt davon ein Riese. Mit einem solchen Attest wird man garantiert wehruntauglich geschrieben. Er arbeitet auch noch mit einer anderen Masche. Er hat »Kliniken« eröffnet, wo man hingehen und sich den Arm brechen lassen kann. Soldaten kommen am Ende ihres Urlaubs zu ihm, und er bricht ihnen gegen Bezahlung einen Arm. Dann müssen sie sich nicht mit ihrer Einheit nach Übersee einschiffen. Man geht zu ihm, er gibt einem ein Betäubungsmittel, und dann kommt er mit seiner kleinen Maschine, die wie eine Guillotine aussieht, nur daß da anstelle des Fallbeils ein schwerer Bleiklumpen heruntersaust. Plotz! Wenn man aufwacht, hat man bereits den Arm im Gips und in einer Schlinge. Man bekommt Röntgenaufnahmen und die Unterschrift eines Arztes, alles, was dazugehört. Er bricht auch Beine, aber das ist komplizierter und gefährlicher. Auf Arme versteht er sich besser. Wenn sie mich heimgelassen hätten, bevor der Scheißkrieg vorbei war, hätt’ ich mir’s auch machen lassen. Nicky hätte es umsonst getan. Die deutschen Krautfresser sind ihm zuvorgekommen; und Geld haben sie auch nicht dafür verlangt, und es bringt mir sogar noch eine Rente ein. Ich weiß nicht, ob Weiss mir das alles abnehmen würde. Er blättert wieder in den Papieren. »Sergeant, können Sie irgendwelche Auskünfte über den Patienten geben? Sie standen ihm nahe. Haben Sie jemals irgend etwas beobachtet, was uns einen Hinweis geben und möglicherweise erklären könnte, warum er plötzlich in diese voll-
kommene Katatonie verfällt und solche bizarren geduckten Haltungen bevorzugt?« Jetzt heißt’s also wieder Sergeant. Ich kann es nicht glauben! Weiss hat immer noch nicht mitgekriegt, daß sich Birdy einbildet, er sei ein Kanarienvogel! Soviel Dummheit auf einmal! »Er war immer vollkommen normal, Sir. Wie ich auch: arm, aber aus einer anständigen Familie. Er wohnte in einem großen dreistöckigen Haus mit einem ausgedehnten Grundstück drum herum. In der Schule war er gut, kein Genie, Sir, aber er war im geisteswissenschaftlichen Zug und schaffte seinen Zweierdurchschnitt. Können Sie mir nicht sagen, Sir, was mit ihm passiert ist? Da muß etwas Schreckliches vorgefallen sein, sonst wäre er nicht so geworden.« Mal sehen, wie er sich diesmal rauswindet. Er nimmt die Papiere in die Hand, ein Blatt nach dem anderen. Ich glaube nicht, daß er sie anguckt, zumindest liest er sie nicht; er will nur Zeit gewinnen. Vielleicht hofft er, daß sich meine Frage in Wohlgefallen auflöst. Möglich, daß er etwas weiß und es mir nicht sagen will; aber ich nehme eher an, daß er genauso wenig weiß wie Renaldi. »Ich habe mit seiner Mutter und seinem Vater geredet. Sie sind hergefahren, um seine Identität zu bestätigen. Er galt über einen Monat lang als vermißt. Sie erkannten ihn, aber der Patient gab kein Zeichen, daß er sie erkannte. Wenn zu der Zeit irgend jemand in seine Nähe kam, reagierte er mit hektischen Sprüngen und Drehbewegungen und stürzte zu Boden. Es war fast, als versuche er zu entkommen.« »Das ist eigentlich überhaupt nicht seine Art, Sir.« So blöd kann man doch gar nicht sein. Er wird bald hinter die ganzen Vogelgeschichten kommen. Ob Birdys alte Dame und alter Herr ihm von Birdys Kanarienzucht erzählt haben? Wahrscheinlich glauben sie nicht, daß das etwas zu bedeuten hat.
Aber sie haben ganz bestimmt erzählt, daß Birdy und ich damals ausgerissen sind. »Sir, vielleicht sollte ich Ihnen etwas sagen, es könnte wichtig sein: der Patient und ich sind einmal ausgerissen. Wir waren damals dreizehn; wir gingen nach Atlantic City und von dort nach Wildwood in New Jersey.« »Ja.« Ja, ja, ja. Ja, du Hohlkopf, wir sind wirklich ausgerissen. Es fängt an ihn zu interessieren. Ich werd’ es ihm häppchenweise servieren. Er blickt in die Papiere. Er liest etwas auf einem gelben Blatt. »Ja, Sergeant, ich habe das gerade hier. Es gibt da außerdem ein Polizeiprotokoll. Hier steht, sie wurden beschuldigt, irgendwelche Fahrräder gestohlen zu haben.« Ist das vielleicht ein Scheißspiel! Es hat keinen Sinn, dazu etwas zu sagen. Fettwanst Weiss glaubt, was ich ihm sage. Schließlich hat er alles schwarz auf gelb vor sich liegen. Er lehnt sich jetzt über den Schreibtisch vor. Das Lächeln ist aus seinem Gesicht verschwunden; jetzt übt er den sorgenvollen Blick. Ich beuge mich auch vor und bemühe mich, so auszusehen, als bereute ich, am Leben zu sein. Das kommt im übrigen der Wahrheit ziemlich nahe. »Sagen Sie mal, Alfonso, ganz unter uns: Haben Sie oft das Gefühl, daß man Sie nicht fair behandelt? Glauben Sie, daß man Sie fertigmachen will?« Was ist dieser fiese Typ eigentlich, ein ScheißGedankenleser? Er guckt wieder nach unten in seine Papiere und blickt mich dann fest an, ernst, aber voller Verständnis. »Aus diesem Bericht über den Zwischenfall in New Cumberland geht hervor, daß Sie damals fünf Tage in der Armee waren. Stimmt das?« »Jawohl, Sir.«
»Hier steht, daß Sie dem Unteroffizier acht Zähne ausgeschlagen und die Nase gebrochen haben.« Ich sage nichts. Was zum Teufel hat das mit Birdy zu tun? »Hat er Sie unfair behandelt, Alfonso? Sie sind inzwischen selber im Unteroffiziersrang. Halten Sie es rückblickend für möglich, daß Sie überreagiert haben? Würden Sie heute unter denselben Voraussetzungen wieder so handeln?« Ich bleibe bei meiner Rolle und spiele weiter das »unartige kleine Hündchen«. »Wir machen alle unsre Fehler, Sir. Er hat wahrscheinlich nur seine Pflicht getan, so wie wir alle.« Ich wußte gar nicht, daß ich mich so gut verstellen kann. Vielleicht sollte ich gebrauchte Autos verkaufen. Es macht mir richtig Spaß, dieses Arschloch an der Nase rumzuführen. Es ist wie wenn du irgendeinem Kraftprotz so weh tust, daß er aufheult, nur daß das hier nicht so körperlich anstrengend ist. So langsam begreift er. Seine Augen verschwinden hinter den blankpolierten Brillengläsern. Er nimmt die Papiere, stößt den ganzen Stapel ein paarmal im rechten Winkel gegen die Schreibtischfläche und schiebt dann alles in die Aktenmappe. Er lehnt sich zurück. »Nun, Sergeant, ich glaube, es kann nicht schaden, wenn Sie noch einen Tag mit dem Patienten verbringen. Es könnte ja ganz unverhofft eine Änderung eintreten. Fällt Ihnen sonst noch irgend etwas ein, wenn Sie zurückdenken? Wenn ja, dann lassen Sie es mich wissen.« Da komme ich auf die Sache mit den Basebällen. Ich kann die Dinge nie auf sich beruhen lassen. »Sir, es gibt da tatsächlich etwas. Vielleicht hört es sich verrückt an, aber es ist eine Sache, die den Patienten immer sehr beschäftigt hat. Es war ja so, daß er gleich neben dem Baseballplatz unseres Ortes wohnte, unmittelbar hinter dem Zaun ums linke Außenfeld. Jedesmal wenn einer gut traf und den Ball über diesen Zaun schlug, kassierte seine Mutter den Ball
und rückte ihn nicht mehr raus. Alle haßten sie deswegen. Der Patient litt sehr darunter. Er entschuldigte sich immer bei allen und versprach hoch und heilig, er werde die Bälle schon wiederbekommen. Er führte Listen von all den Leuten, denen seine Mutter einen Ball weggenommen hatte. Er versprach, sie eines Tages allen zurückzubringen. Er suchte in seinem Haus stundenlang danach, auf dem Dachboden, in der Garage, überall. Vielleicht, wenn Sie seine Mutter dazu überreden könnten, diese Bälle hierherzuschicken, vielleicht würde das helfen. Ich weiß nur, daß das sein Gewissen unheimlich erleichtern würde, und es ist vielleicht genau das Richtige, um seinem Gedächtnis nachzuhelfen.« Weiss sieht mich an, als sei ich total übergeschnappt. Dann sagt er sich, daß ich so etwas nicht erfinden könnte. Sergeanten sind für ihre Phantasielosigkeit bekannt. Er holt die Aktenmappe noch mal her. Er fängt an, etwas aufzuschreiben. Er blickt auf. »Wie lange ist das her, Sergeant?« »Ach, das ging jahrelang, Sir. Mindestens sieben Jahre. Da müssen sich unheimlich viele Bälle angesammelt haben, Sir.« Er schreibt weiter und brummt dabei vor sich hin. Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht laut hinauszulachen. »Gut, Sergeant. Wenn Ihnen noch mehr solche Dinge einfallen, berichten Sie mir unbedingt davon. Falls Ihnen an seinem Verhalten hier im Lazarett irgend etwas auffällt, das für mich interessant sein könnte, berichten Sie mir das auch. Im übrigen reden Sie mit ihm einfach über die Vergangenheit. Sie könnten ja doch an irgend etwas rühren, was bei ihm alles zurückbringt.« Diesmal schenkt er sich den Psychiaterquatsch und steht gleich auf. Ich stehe auch auf und salutiere. Er grüßt halbwegs ordentlich zurück, ich dreh mich auf der Stelle und gehe aus
dem Zimmer, vorbei an dem irren Spucker und hinaus in die Sonne. Mir liegt tatsächlich viel daran, zu Birdy zurückzukommen. Ich hab allmählich das Gefühl, er weiß, daß ich da bin. Wenn ich über all das Zeug mit ihm rede, bringt das mehr als alles andere. Wenn Birdy bloß zurückkäme; wir hätten einen Riesenspaß daran, Weiss zu zweit fertigzumachen. Weiss gehört zu den Typen, die das Schlimmste aus mir herausholen. Ich sollte öfter um ihn herum sein, dann könnte ich meine Selbstbeherrschung verbessern. Entweder das, oder aber ich werde selbst zum gemeinsten Fiesling weit und breit. Ich gehe durch die zum Lazarett gehörenden Anlagen und betrete das Gebäude, in dem Birdy ist. Ich muß immer noch lachen, wenn ich an die Baseballgeschichte denke. Ich mach mir in die Hosen, wenn die immer noch diese Bälle hat und sie hierherschickt. Ich kann mir Weiss’ Telegramm gut vorstellen:
BITTE DIE BASEBAELLE SCHICKEN. STOP. BENOETIGE SIE FUER DIE BEHANDLUNG IHRES SOHNES. STOP. MAJOR WEISS.
Ich seh es direkt vor mir, zweihundert gebrauchte Basebälle in einer großen Kiste, als Luftpost unterwegs, vielleicht sogar in einer Militärmaschine, als Sonderflug. Mann, würde Birdy das Spaß machen. Ich treffe Renaldi und erzähle ihm von der Sitzung mit Weiss. Er lacht, als ich ihm von den Basebällen erzähle. Ich muß es jemand erzählen. Er sagt, Weiss wird sie bestimmt kommen lassen. Renaldi öffnet mir die Außentür. Als Birdy das Geräusch hört, fährt er herum und guckt mich an. Ich hole mir den Stuhl
aus dem Gang und gehe auf meinen Platz. Renaldi sagt, er sieht mich dann beim Mittagessen. Ich sitze eine Weile da und überlege mir, was ich sagen soll. Dann fällt es mir ein.
– He, Birdy! War das nicht ’n Ding, als wir zum Schlittschuhlaufen auf den Bach gegangen sind? Weißt du noch? Als sie die Schule zumachten, weil alle Leitungen eingefroren sind. Weißt du noch?
Ich weiß, daß er mir jetzt zuhört. Er guckt mich manchmal an und gibt mir einmal sogar das alte irre Birdy-Lächeln. Ich rede weiter. Es hatte etwa achtzehn Grad unterm Strich, und als wir in die Schule kamen, schickten sie uns wieder heim. Sogar das Wasser in den Toiletten war eingefroren. Fünf von uns hatten denselben Heimweg, und da kam uns die Idee, wir könnten Schlittschuh laufen. Wir machten aus, daß wir uns unten am Rand des Auffüllplatzes treffen würden, dort wo das Bahngleis über die Straße läuft. Es handelt sich um Jim Maloney, Bill Prentice, Ray Connors, Birdy und mich selbst. Es sind alle da bis auf Prentice, als Birdy sagt, wenn man bei der Kälte seine Zunge auf die Eisenbahnschiene legt, klebt sie fest, und man kriegt sie nicht mehr los. Jim Maloney sagt, Birdy hat sie nicht alle. Wir fangen an zu streiten, hin und her. Maloney sagt, er legt jederzeit seine Zunge auf die Schienen. Birdy will es ihm ausreden, aber Maloney ist ein irischer Dickschädel, und ein Klugscheißer dazu. Er kniet sich hin und legt seine warme Zunge flach auf die Schiene. Natürlich bleibt sie hängen. Er will sie wieder wegziehen, aber sie klebt wirklich fest. Wir lachen alle, und
Maloney macht rum und fängt an zu heulen. Es ist wirklich saukalt an dem Tag. Connors schreit auf einmal, er höre einen Zug näher kommen. Wir fangen alle an, am Gleis auf- und abzulaufen, und schreien und tun so, als ob ein Zug kommt. Connors rast los, oder tut jedenfalls so, und sagt, er wird versuchen, dem Zugführer Zeichen zu geben und den Zug anzuhalten. Er nimmt einen Stecken und fängt an auf die Schiene zu hämmern, an der Maloney klebt, und es hört sich an wie ein Zug, der über Weichen rattert. Maloney heult wie ein Schloßhund. Er schreit: »Heh ii! Heh ii!« Birdy sagt, das einzige, was da hilft, ist warmes Wasser. Wir sind bestimmt einen Kilometer oder so vom nächsten Haus entfernt. Connors kommt angerannt und schreit, er kann den Zug nicht aufhalten. Wir sagen Maloney, daß wir kein anderes warmes Wasser haben als unsere Pisse, und so holen wir alle unser Ding raus und fangen an auf seine Zunge zu pinkeln. Was für ein verrückter Anblick. Connors pinkelt Maloney genau ins Ohr. Ich muß so fürchterlich lachen, daß kaum was rauskommt. Birdy tut nur so, als ob er pinkelt. Ob es nun die Pisse ist, oder ob es daran liegt, daß Maloney inzwischen eine gewaltige Wut hat, jedenfalls reißt er seine Zunge los. Sie blutet und ist steif gefroren und flach wie ein Brett. Er bringt sie nicht mehr in seinem Mund unter. Er beginnt hinter uns allen herzujagen. Wir stieben in alle Richtungen auseinander; meine Füße sind vor Kälte so starr, daß das Laufen weh tut. Wir können Maloney nicht verstehen, aber er heult und flucht und versucht, einen Blick auf seine Zunge zu werfen. Er will mit Steinen nach uns werfen, aber er zerrt immer wieder vergeblich dran – sie sind alle festgefroren. Schließlich sinkt er auf die Knie und heult. Connors sagt, er bringt ihn nach Hause; sie wohnen nicht weit voneinander an
der Clinton Road. Er sagt, es ist sowieso zu kalt zum Schlittschuhlaufen. Birdy und ich warten noch ein paar Minuten, aber Prentice kommt nicht. Wir gehen auf dem Bahngleis in Richtung der Marshall Road, wo die alte Mühle und der Damm liegen. An manchen Stellen hat sich Glatteis auf den Schienen gebildet. Birdy versucht darauf zu balancieren. Als wir zum Müllteich kommen, machen wir erst mal ein Feuer. Mit Fußtritten lockern wir ein paar verfaulte Balken in der Mühle, und wir finden eine alte Dose mit Motoröl, das praktisch eingefroren ist. Wir schütten das Öl über das Holz, um ein Feuer in Gang zu bringen. Als dann unsere Füße warm genug sind, schnallen wir uns die Schlittschuhe an. Das Eis ist so schnell gefroren, daß es vollkommen durchsichtig ist; wir nennen das »schwarzes Eis«. Es ist so durchsichtig, daß man glaubt, man geht direkt auf dem Wasser. Wir sehen die Welse unten am Grund. Sie springen, wenn wir direkt über ihnen sind, und verursachen kleine Schlammexplosionen. Wir kurven rum und spielen ein bißchen Eishockey, mit zwei Stecken und einem Stein. Dann kommt uns die Idee, wir könnten mit den Schlittschuhen bachaufwärts laufen, bis es nicht mehr weitergeht. Vorher werfen wir noch ein paar große Holzklötze auf das Feuer, damit es nicht so schnell ausgeht, verstecken in der Nähe unsere Schuhe und machen uns auf den Weg. Es macht unheimlich Spaß, um die Steine in dem Bach herumzukurven. Manche sind über einen Meter breit. Oft bleibt uns nur eine schmale Eisbahn zwischen Sandbänken, und dann wird der Bach wieder breiter, manchmal so breit wie der Teich. Birdy ist auf Schlittschuhen wirklich Spitze. Er kann springen und dann auf dem linken oder rechten Fuß landen. Das kommt von all den Übungen, mit denen er sich aufs Fliegen vorbereitet. Wir beschleunigen auf eine gute Geschwindigkeit und
springen über einige Felsbrocken. Birdy springt natürlich noch über Felsen, die ich nicht mal angehen würde, wenn sie nur halb so hoch wären. Ich messe die Entfernung, die er bei seinen Sprüngen zurücklegt, und es sind über sechs Meter! Man muß sich mal vorstellen, was er im Weitsprung schaffen könnte! Auf Schlittschuhen folgen wir dem Bach quer durch den Golfplatz, unter den kleinen Brücken hindurch, dann geht’s hinter einer Fabrik vorbei und ein Stück weit parallel zur Dreiundsechzigsten Straße. Einmal hören wir die Hochbahn vorbeifahren. Es macht uns dermaßen Spaß, daß wir nicht mal frieren. Die anderen hätten wirklich mitkommen sollen, aber wir vermissen sie nicht. Birdy und ich wissen schon, daß wir ein bißchen an unserer eigenen, ganz persönlichen Geschichte weiterschreiben. Wir werden mit Genuß davon erzählen, wenn wir wieder in der Schule sind. Wir werden ein bißchen was dazu erfinden, damit es sich besser anhört, und es wird immer wieder was Neues dazukommen, wenn wir davon erzählen. Das geht bei Birdy und mir ganz automatisch so, ohne daß wir uns vorher absprechen. Birdy erfindet die Lügen, und ich liefere dann die Einzelheiten, damit alles echt wirkt. Mann, was für ein Team. Nach etwa fünf Kilometern bachaufwärts kommen wir an einen vereisten Wasserfall, der durch eine steil aufragende Mauer gebildet wird. Im Sommer rinnt das Wasser an der Mauer herab, und sie ist überall mit Moos bedeckt. Am Fuß des Wasserfalls ist eine gute Stelle zum Angeln. Die ganze Mauer herunter haben sich große gerundete weiße Ballen aus Eis gebildet. Diese Eisballen sind spiegelglatt, und manche sind durchsichtig. Wir wollen ausprobieren, ob wir hinaufklettern können. Da oben ist ein ziemlich großer Tümpel, da müßte man gut Schlittschuh laufen können. Wir hätten mit unseren Schlitt-
schuhen auch einfach um den Wasserfall herumgehen können, aber eine Kletterpartie über einen vereisten Wasserfall kommt uns wie eines von Richard Halliburtons Abenteuern vor. Birdy und ich sind große Halliburton-Fans. Von ihm stammt unserer Meinung nach die größte Botschaft, die je geschickt worden ist. Sie kam von einer chinesischen Dschunke, auf der er das Chinesische Meer überqueren wollte: »Es ist herrlich hier, schade daß ihr nicht hier seid – statt mir.« Es sind die letzten Worte, die man je von ihm gehört hat. Die Mauer des Wasserfalls muß ungefähr fünf oder sechs Meter hoch sein. Mit den Spitzen unserer Schlittschuhe krallen wir uns fest und strecken unseren Hintern raus, um das Gleichgewicht zu halten, während wir Hände und Gesicht an das Eis drücken. Birdy ist als erster oben.
Ich bin oben, und Al, der direkt neben mir geklettert ist, hat auch fast die Kante erreicht. Das Eis über der Kante ist so glatt wie Glas. Man kann sich nirgends festhalten. Als ich mich über das Eis vorbeuge, habe ich mit den Schlittschuhen keinen Halt mehr. Al sagt, er schiebt mich wieder hoch. Er greift unter die Sohle und schiebt mich über die Kante zurück. Ich höre, wie er ins Rutschen kommt und die Mauer hinunterpurzelt Ich blicke über die Schulter zurück und sehe, wie er sich im Fallen dreht und herumgewirbelt wird und immer wieder auf den Eishallen aufschlägt. Schließlich ist er unten und gleitet noch ein Stück über das Eis. Der Tümpel da oben ist schön, größer als der Müllteich, und nirgends wächst Schilfrohr durch das Eis. Ich stehe auf und blicke zu Al hinunter. Er steht da und bürstet sich ab. Er sagt, es ist nichts passiert. Er wird noch einmal versuchen, heraufzuklettern. Ich lege mich flach auf den Bauch und lehne mich hinaus, um ihm die Hand entgegenstrecken zu können. Al
arbeitet sich bis zur Kante vor und ich ergreife seine Hand. Ich fange an, langsam zu ziehen; meine Kleider sind gerade noch warm genug, um am Eis festzukleben. Wir haben es fast geschafft, doch da zieht Al etwas zu heftig und reißt mich vom Eis los. Wir beginnen beide über die Kante zu rutschen. Wir können nichts dagegen tun, und wir fangen an zu lachen. Ein paar Sekunden lang hängen wir an der Kante, und dann geht’s abwärts. Ich fliege mit dem Kopf voraus, und Al dreht sich auf den Rücken. Die Schläge gegen das Eis sind nicht so schlimm wie sie aussehen, denn wir haben dicke Überjacken an. Als wir unten aufprallen, ist das Gewicht zu groß, und wir brechen durch die Eisdecke. Ich tauche völlig unter, mit dem Kopf voraus, und komme unter der Eisdecke nach oben. Ich ramme meinen Kopf dagegen und kann das Eis nicht durchbrechen. Über dem Wasser ist noch etwas Luft und ich kann durch das Eis nach oben sehen, aber das Wasser ist eiskalt. Al bricht eine Schneise ins Eis, bis er bei mir ist, und zieht mich dann heraus. Direkt am Wasserfall muß das Wasser mindestens zwei Meter tief sein. Ich habe eine gute Ladung davon geschluckt und bekomme keine Luft mehr. Al legt mich ans Ufer und pumpt Wasser aus mir heraus. Als ich mich aufsetze, stelle ich überrascht fest, daß ich nicht friere; ich fühle mich nur schlapp und müde. Al springt auf und ab und zieht sich die nassen Kleider aus. Er sagt, wir müssen sie ausziehen und auswringen, damit wir auf unseren Schlittschuhen zum Feuer zurücklaufen können, ehe wir erfrieren. Ich beginne mich auszuziehen und versuche, dabei auf der Stelle zu laufen, aber meine Beine sind ganz starr. Al wringt die Kleider aus, und dann ziehen wir sie wieder an. Sie fangen bereits an, zu gefrieren. Und dann machen wir den Fehler, daß wir unsere Schlittschuhstiefel ausziehen, um die Socken auswringen zu können. Wir kommen nicht mehr in die Stiefel rein, weil unsere Füße geschwollen und unsere
Hände zu kalt sind. Die Streichhölzer sind durchnäßt, so daß wir kein Feuer machen können. Al bindet sich die Stiefel mit den Schlittschuhen irgendwie um den Hals und sagt, wir müßten im Bachbett zurücklaufen. Wir laufen los, und da merke ich, daß ich nicht richtig atmen kann. Ich sehe Flecken vor den Augen, schwarze Flecken im Schnee. Ich will anhalten und mich ausruhen. Die Kälte stört mich nicht so sehr wie diese Müdigkeit, und ich bekomme keine Luft. Ich bleibe stehen und setze mich aufs Eis. Al kommt zurück, und ich kann nicht mal reden. Ich habe keine Luft dazu. Meine Ohren fühlen sich an, als seien sie mit Schnee gefüllt. Al hebt mich hoch und wirft mich wie ein Feuerwehrmann über seine Schultern. Ich habe nicht die Energie, mich zu wehren. Al trabt los und hält sich dabei an die Mitte des Bachbetts. Er kann nicht schnell laufen, dazu ist es zu glatt. Einmal setzt er mich ab und wirft die Schlittschuhstiefel unter einen Baum, der aus dem Eis ragt. Danach kann ich mich an nichts mehr erinnern.
Es sind gut fünf Kilometer, die wir mit den Schlittschuhen den Bach raufgelaufen sind. Jetzt beim Zurückrennen halte ich die Augen auf und hoffe, oben in der alten Fabrik oder auf dem Golfplatz jemand zu sehen, der uns helfen könnte. Birdy ist ohnmächtig. Ich könnte versuchen, den Hang rauf zur Dreiundsechzigsten Straße zu klettern, entscheide mich dann aber dagegen. Ich würde es nie schaffen. Ich bin schon soweit, daß ich nur noch automatisch weiterlaufe. Wenn ich wegen irgendwas stehenbleibe, bin ich erledigt. Als wir zum Feuer kommen, ist es fast runtergebrannt. Ich setze Birdy am Feuer ab und lege mehr Holz auf. Birdy ist wirklich hinüber. Ich geb ihm ein paar Ohrfeigen, um ihn zu
sich zu bringen. Er ist wie im Tiefschlaf. Er atmet ganz flach und röchelnd. Mir ist überhaupt nicht kalt, ich schwitze sogar, aber ich bin todmüde. Ich stelle Birdy auf die Beine und geh ein wenig mit ihm herum, damit seine Beine ein bißchen durchblutet werden. Das Feuer brennt zwar recht gut, aber es gibt nicht genug Hitze ab. Ich weiß, ich muß Birdy nach Hause schaffen. Die Schuhe kann ich weder ihm noch mir anziehen, und so binde ich sie mir um den Hals und hebe Birdy wieder hoch. Diesmal trage ich ihn huckepack. Ich hab nicht die geringste Lust, seiner ewig schimpfenden alten Dame zu begegnen. Ich trabe aus dem Wald raus und über die Felder, das Bahngleis entlang. Ich nehme den Weg, der an der Cosgrove-Villa vorbei zur Rückseite von Birdys Haus führt. Das letzte Stück geht bergauf, und ich bin ganz schön kaputt. An seinem Gartentor nehme ich ihn herunter und stelle ihn auf die Beine, damit es nicht ganz so schlimm aussieht. Er kann jetzt auch wieder ein paar Schritte machen. Zum Glück ist niemand zu Hause. Birdy hat einen Schlüssel. Ich bringe ihn nach oben und lasse Wasser in die Badewanne laufen. Birdy bekommt seine Knöpfe nicht auf, und so ziehe ich ihn aus und setze ihn in die Badewanne. Ich selbst setze mich auf den Klodeckel und warte erst mal ab, ob er jetzt klarkommt. Mir wird langsam kalt; meine Kleider fangen in dem warmen Haus an aufzutauen, und ich bin tropfnaß. Auch der Schweiß wird kalt. Das Bad möbelt Birdy rasch wieder auf. Nach einer Viertelstunde ist er wieder fast so gut wie neu. Ich mache mich auf den Heimweg. Zu Hause steige ich sofort in die Wanne. Meine nassen Kleider werfe ich in den Wäschekorb. Mindestens eine halbe Stunde bleibe ich in dem heißen Wasser liegen. Meine Füße sind aufgeschürft und zerschunden. Als das heiße Wasser sie nach
und nach auftaut, fangen sie an weh zu tun. Vorher beim Laufen hab’ ich überhaupt nichts gespürt. Am nächsten Tag ist die Schule immer noch dicht. Birdy und ich gehen den Bach rauf, um unsere Schlittschuhstiefel zu holen, und wir finden sie auch. Bei diesem Wetter schleicht niemand rum und klaut Schlittschuhe. Wir gehen weiter rauf bis zu der Stelle, wo wir eingebrochen sind. Es ist bereits wieder zugefroren. Wir untersuchen das Eis, und es ist schon sieben, acht Zentimeter dick. Wenn Birdy allein gewesen wäre, hätte er von unten unmöglich ein Loch ins Eis gekriegt. Auf dem Rückweg zählen wir unsere Schritte, und es sind gut und gern fünf Kilometer vom Wasserfall bis zur Feuerstelle. Und dann noch einmal eineinhalb Kilometer bis zu seinem Haus. Birdy hat sich bei der ganzen Sache nicht mal eine Erkältung geholt, doch ich bekomme praktisch eine Lungenentzündung. Ich muß drei Wochen zu Hause bleiben und nehme fast zehn Pfund ab. Birdy erzählt niemand etwas davon, bis ich wieder auf dem Damm bin, weil es uns mehr Spaß macht, solche Geschichten gemeinsam zu erzählen.
Sie wachsen erstaunlich schnell. Nach der ersten Woche sind ihre Augen offen, und sie fangen an, ihre Köpfe auf den Nestrand zu legen. Birdie setzt sich lange nicht mehr so häufig auf sie und ist die meiste Zeit damit beschäftigt, Futter herbeizuschaffen. Am Ende der zweiten Woche sind ihnen schon Stoppelfedern gewachsen, und Federn auf dem Rücken. Ihre Augen glänzen und sind weit offen, und wenn ich hingehe, um sie mir anzusehen, ducken sie sich tief ins Nest. Kleine Schwanzfedern haben sich entwickelt und sind schon einen Zentimeter lang. Sie fangen an wie Vögel auszusehen. Ich bilde mir sogar ein, Männchen und Weibchen unterscheiden zu können. Ich komme zu dem Schluß, daß es drei Männchen und ein Weibchen sind. Das dunkle ist bestimmt ein Männchen, ebenso eines der gelben. Und das gefleckte ist wahrscheinlich auch ein Männchen. Ich schließe das teilweise aus der Kopfform und dem Ausdruck ihrer Augen, aber mehr noch aus der Art und Weise, wie sie sich im Nest verhalten. Die Männchen halten sich alle von der Tür und den Gitterstäben des Käfigs fern, während das kleine gelbe Küken, das ich für ein Weibchen halte, nicht so furchtsam ist. Diese Unerschrockenheit wird ihr beinahe zum Verhängnis. Das Nest verdreckt jetzt immer mehr. Am Anfang hat Birdie den Mist in ihren Schnabel genommen; als sie dann eine Woche alt sind, haben sie gelernt, ihr Hinterteil über den Rand des Nestes zu schieben. Trotzdem bleibt manches hängen, und das Nest ist auf seiner Außenseite voller Vogeldreck. Sie lassen so viel fallen, daß ich jeden Tag das Papier unter dem Nest austauschen muß. Um die Mitte der dritten Woche fängt dieses kleine gelbe Weibchen an, öfter mal auf den Rand des Nestes zu klettern, um ein bißchen frische Luft zu schnappen und sich umzusehen.
Ich sehe schon, daß sie ein ähnlich neugieriger Typ wie Birdie werden wird. Sie ist nur wenig älter als zwei Wochen, als sie zum erstenmal herausfällt. Die Entfernung bis zum Boden des Käfigs entspricht dem Achtfachen ihrer Körpergröße. Sie hat praktisch noch keine Federn an den Flügeln, es ist ein freier Fall. Es ist so, wie wenn ich vom Dachfirst unseres Hauses stürzte. Die Schwere oder Dichte hat viel mit dem freien Fall zu tun. Jungvögel überleben sogar Stürze aus Bäumen. Ich sehe sie nicht herunterfallen, aber ich blicke in den Käfig, und da ist sie und versucht, auf dem flachen Käfigboden auf die Beine zu kommen. Alfonso hüpft völlig verwirrt um sie herum. Er füttert sie, und darüber hinaus gibt es nichts, was er tun kann. Birdie späht über den Rand des Nestes nach unten. Dieses junge Weibchen wird erfrieren, wenn sie die ganze Nacht da draußen bleiben muß. Sie hat noch nicht genug Federn. Ich hebe sie vom Boden auf und setze sie zurück ins Nest. An der Brust und an den Schenkeln hat sie so gut wie gar keine Federn. Auch der Kopf ist nur sehr dünn befiedert. Sie kuschelt sich wieder ins Nest zu den anderen, und ich denke, damit ist alles ausgestanden. Als ich am nächsten Tag von der Schule heimkomme, hockt sie wieder am Boden. Alfonso und Birdie sind außer sich. Ich habe das Gefühl, sie ist schon eine ganze Weile draußen. Als ich sie auflese, fühlt sie sich kühl an. Ich halte sie eine Zeitlang zum Wärmen in der Hand, und setze sie dann wieder ins Nest und hoffe das Beste. Birdie füttert sie alle, und als ich zum Abendessen hinuntergehe, scheint alles in Ordnung. Nach dem Essen ist sie schon wieder draußen. Ich setze sie ins Nest und überlege mir, was ich tun könnte. Ich schaue zu, um festzustellen, wie es eigentlich dazu kommt. Vielleicht hat Birdie eine Abneigung gegen sie und wirft sie raus, oder möglicherweise denkt sie sich, da sie ja nun mal das Nest freiwillig
verlassen habe, brauche sie nicht mehr zurückzukommen. Wer will wissen, was in einem Kanarihirn vor sich geht? Nach etwa einer Stunde ist die Gelbe wieder auf dem Nestrand. Sie blickt ins Vogelhaus hinaus, wo Alfonso umherfliegt. Sie stellt sich auf ihre dünnen, unbefiederten Beine und schlägt mit den Flügelstummeln, an denen noch nicht viele Federn zu sehen sind. Sie fällt auf den Bauch und beinahe aus dem Nest. Nach etwa zwei Minuten versucht sie’s erneut, und diesmal fällt sie herunter. Ich kann nichts anderes tun, als mich zu vergewissern, daß sie im Nest ist, wenn ich die Lichter ausmache. Im Laufe der nächsten Woche fangen sie alle an, auf den Nestrand zu klettern. Es wird zur wichtigsten Beschäftigung. Man erkennt, daß sie sich aufs Fliegen vorbereiten: Immer wieder spreizen sie die Flügel; sie stellen sich aufrecht hin, strecken den Kopf weit vor und bewegen die Stummelflügel schneller auf und ab, als sie’s im Flug tun würden. Ich frage mich, ob sie dabei einen Auftrieb spüren. Ich versuche es selber und schlage mit den Armen so schnell ich nur kann, aber ich spüre nichts. Man braucht einfach Federn. Ich habe das Gefühl, wenn ich immer nur die Abwärtsbewegung ohne die anschließende Aufwärtsbewegung machen könnte, dann würde ich mit Sicherheit Auftrieb bekommen. Als ich damals vom Gaskessel sprang, war das weitgehend ein Fallen. Am Ende der dritten Woche stehen sie alle auf dem Nestrand, selbst bei Nacht, und Birdie hat aufgehört, sie zu wärmen. Sie trägt jetzt wieder Fäden aus dem Leinensack herum, und so bringe ich an der anderen Seite des Käfigs ein neues Nest an. Zwischen den Fütterungen fängt sie jetzt wieder an zu bauen. Alfonso wird immer mehr zum Hauptversorger der Jungen. Sie haben auch wieder angefangen sich zu paaren, und es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis Birdie wieder Eier legt. Zweimal kommt Birdie herüber und zieht dem einen oder anderen der Nestlinge Flaumfedern heraus. Ich habe gelesen,
daß ein Weibchen unter Umständen sämtliche Jungen im Nest nackt rupft, um ihr neues Nest ausstaffieren zu können. Das kann dazu führen, daß alle Nestlinge eingehen. Das ist auch eine jener Verhaltensweisen, die damit zu tun haben, daß Kanarienvögel schon so lange in Käfigen leben. Ich möchte wissen, ob das auch bei Vögeln in freier Natur vorkommt. Als Birdie das dritte Mal auf eines der Jungen losgeht, um Flaumfedern für ihr neues Nest zu stibitzen, stürzt sich Alfonso auf sie und jagt sie hinaus ins Vogelhaus. Sie versucht es noch zweimal, und jedesmal kommt Alfonso zu Hilfe. Die nächsten paar Tage sitzt er neben dem Nest und hält Wache: Es gibt so viele Dinge, die schiefgehen können. Schließlich hat Birdie ihr neues Nest fertig. Inzwischen habe ich mit großem Vergnügen die ersten Flugversuche der Jungen verfolgt. Das gelbe Weibchen fällt so lange aus dem Nest, bis sie durch ständiges Herumprobieren den Dreh heraus hat. Ich glaube langsam, daß ihr das Fallen Spaß macht. Es fängt an, mir selber Spaß zu machen: zu springen und dann möglichst lange den freien Fall zu genießen. Ich kann bereits aus zweieinhalb Metern Höhe springen, ohne mich zu verletzen. Das erste Männchen, das aus dem Nest fliegt, tut das ohne Frage mit voller Absicht. Es ist der Gelbe. Er ist zu vorsichtig, sich einfach fallen zu lassen, und er ist fast zu vorsichtig, zu fliegen. Er verbringt eine Menge Zeit damit, schwankend auf dem Nestrand zu stehen. Aufrecht steht er da und schlägt wie wild mit den Flügeln, und nichts passiert. Er bekommt offenbar nicht mehr Auftrieb als ich mit meinen Armen. Es ist so, wie wenn einer, der nicht schwimmen kann, mit Armen und Beinen im Wasser zappelt. Man muß erst spüren, daß die Luft Substanz hat und einen halten kann. Es kommt in erster Linie darauf an, daß man Vertrauen hat. Diesem gelben Männchen fällt es sichtlich schwer, der Luft das nötige Vertrauen entgegenzubringen. Ich beobachte ihn stundenlang, tagelang; ich
werde eins mit diesem Vogel. Ich weiß, ich spüre, wie ihm zumute ist, wenn er sich beinahe dazu durchringt, wenn er sich wieder davor drückt. Inzwischen sieht jeder von ihnen beinahe wie ein richtiger Kanarienvogel aus. Ihr Schwanz ist noch kurz, und das weiche Fleisch gleich hinter dem Schnabel ist noch nicht fest geworden; sie haben über den Augen immer noch die flaumigen, wie Fühler vorstehenden Härchen. Doch sonst sehen sie wie richtige Kanarienvögel aus, nur eben halb so groß. Dieses gelbe Männchen faßt endlich den Entschluß. Zwar versucht er auch jetzt noch, wo er sich bereits festgelegt hat, zurückzutreten, aber es ist zu spät; er flattert in einer Art Gleitflug hinunter in die entfernte Ecke des Zuchtkäfigs. Er rutscht weg und hat große Mühe, sich auf dem sandbestreuten Zeitungspapier am Boden des Käfigs auf den Beinen zu halten. Er beginnt in Alfonsos Richtung zu hüpfen, um sich füttern zu lassen. Nun kommt es manchmal vor, daß ein Männchen die Jungen nur füttert, wenn sie im Nest sind, aber Alfonso scheint bereit, das Unvermeidliche zu akzeptieren. In nächster Zeit wird er für die kleinen Vögel der wichtigere Elternteil sein. Er füttert die beiden Ausreißer, das neue gelbe Männchen und das gelbe Weibchen, das schon einen ganzen Tag draußen ist. Während er diese beiden füttert, kommt das dunkle Männchen – aus nackter Gier, ihm geht es nicht ums Fliegen oder um Nestflucht – herabgeflogen, plumpst neben Alfonso auf den Boden und bettelt sofort darum, gefüttert zu werden. Da hat dieser Vogel nun einen der wichtigsten Schritte seines Lebens getan, hat seinen ersten Flug hinter sich gebracht, und er kann an nichts anderes denken als ans Fressen. Er konnte es nicht ertragen, oben im Nest zu sein, während die anderen unten am Boden gefüttert wurden. Es ist leicht, die wichtigsten Dinge im Leben zu verpassen.
Auch der letzte, der Gefleckte, springt noch an diesem Tag. Er ist ausgesprochen ängstlich. Er klettert auf den Rand des Nestes und von da auf die Stange und landet schließlich nur deshalb am Boden, weil er das Gleichgewicht nicht halten kann. Sie kauern alle am Boden in einer Ecke und versuchen, die Wärme und den Schutz des Nestes wiederzuerlangen. Sobald Alfonso in den Käfig kommt, jagen sie hinter ihm her und hetzen ihn mit ihrem unaufhörlichen Betteln fast zu Tode. Alfonso macht seine Sache sehr gut und transportiert Futter hin und her. Er tut mir leid, und ich gebe ihm einen ordentlichen Vorrat an Eifutter in den Zuchtkäfig. Nun ist die Zeit da, auf die ich gewartet habe. Ich will die Jungen genau beobachten, um zu sehen, wie sie fliegen lernen. Bis jetzt sind sie noch nicht viel mehr geflogen als ich. Ich sehe, wie sie mit allen möglichen Methoden ihr Gefieder putzen und die Flügel spreizen. Sie sind immer noch so unsicher auf den Beinen, daß sie fast umkippen, wenn sie versuchen, einen Flügel mit Hilfe eines Fußes zu spreizen. Sie können auch noch nicht auf einem Fuß schlafen. Sie haben während der Fütterungsprozedur viel Gelegenheit, sich im Flügelschlagen zu üben. Das Flügelschlagen bei der Fütterung ist wahrscheinlich – ohne daß ihnen das bewußt ist – eine Vorbereitung auf das Fliegen. Ich wüßte nicht, welche Funktion es sonst haben sollte, außer daß sich damit die Aufmerksamkeit eines der Eltern erregen läßt. Sie flattern mit diesen Stummeln schon lange bevor irgendwelche Federn dran sind. Ich beschließe, ab sofort jeden Tag mindestens eine Stunde lang mit den Armen zu schlagen. Das scheint mir kein schlechter Einstieg; schließlich fangen auch Vögel so an. An diesem ersten Abend, an dem die Jungen außerhalb des Nestes sind, schwinge ich meine Arme für zehn Minuten und kann dann nicht mehr. Am nächsten Morgen habe ich einen solchen
Muskelkater in den Schultern, daß ich kaum noch die Arme anheben kann. Schon bei der kleinsten Berührung tun mir die Muskeln in der Brust weh. Ihre ersten Flüge machen sie zu der untersten Sitzstange neben dem Futternapf und dem Wasserschälchen. Es ist etwa ein Sprung, wie ich ihn machen müßte, wenn ich auf einen Tisch springen wollte. Schon diese jungen Vögel versuchen, sich von der Erde abzusetzen. Sie scheinen zu wissen, daß die Luft ihr Revier ist. Abends mühen sie sich ab, um auf diese erste kleine Stange zu kommen und dort irgendwie das Gleichgewicht zu halten. Wenn man ihren Mut und ihre Entschlossenheit sieht, kann man leicht verstehen, warum Menschen nicht fliegen können: sie wollen es nicht leidenschaftlich genug. Wenn die Jungen ihren ersten Sprung auf diese unterste Stange machen, fliegen sie in den meisten Fällen drüber weg und auf der anderen Seite wieder runter; mit der Sprungkraft ihrer Beine und heftigem Flügelschlagen schaffen sie zwar die Höhe, aber sie haben noch nicht gelernt, mit ihrem Schwanz zu bremsen und zu balancieren. Wenn diese jungen Vögel mit ansehen, wie Alfonso und Birdie mühelos, ohne nachzudenken und ohne sich anzustrengen von Stange zu Stange fliegen, sich um die eigene Achse drehen und herumhüpfen, dann muß das sehr entmutigend sein. Etwas wie das Fliegen ist nicht mal für Vögel leicht; sie müssen üben und sich Mühe geben. Nichts läßt erkennen, daß Alfonso oder Birdie den Jungen etwas beizubringen versuchen; sie müssen sich allein zurechtfinden. Wenn jedoch eines der Jungen etwas kapiert hat, dann fällt auf, daß auch die anderen rasch nachziehen. Sie scheinen voneinander zu lernen. Am nächsten Tag stelle ich mir hinter dem Haus die alten Sägeböcke auf und lege einen zehn Zentimeter starken Balken darüber, um an meiner eigenen »Sitzstange« üben zu können. Sie liegt knapp einen Meter hoch, und ich laufe mit schwin-
genden Armen an, um hinaufzuspringen. Mir wird klar, wieviel Sprungkraft diese kleinen Vögel bereits in den Beinen haben. Wenn diese Sprungkraft in einem dem Wachstum der Flügel vergleichbaren Maß zunimmt, dann muß ein ausgewachsener Vogel in der Lage sein, selbst ohne Flügel fast so gut zu springen wie ein Frosch. Es wäre interessant zu beobachten, wie sich ein Vogel, der ohne Flügel aufwächst, verhalten würde. Ich meine jetzt nicht etwa einen Pinguin, der das Fliegen zugunsten des Schwimmens aufgegeben hat, sondern einen Vogel, der von Natur aus fliegen würde, aber keine Flügel hat. An diesem Abend sind meine Arme von dem ständigen Auf und Ab fürchterlich müde, aber ich mache weiter. Was diese kleinen Vögel schaffen, das schaffe ich auch. Ich bin jetzt so weit, daß ich auf die Stange springen und mich dort halten kann. Ich habe mit der gleichen Schwierigkeit zu kämpfen wie sie, nämlich den Vorwärtsschwung so abzubremsen, daß ich nicht auf der anderen Seite der Stange herunterfalle. Ich schwinge meine Arme auf und ab, um das Gleichgewicht zu halten. Was ich brauche, ist ein Schwanz. Ich könnte zwischen die Hosenbeine ein Stück Stoff nähen, aber das würde mir nicht helfen. Der Schwanz muß von den Beinen völlig unabhängig sein, und ich muß ihn steuern können. Schon diese jungen Vögel können ihren Schwanz auf und ab bewegen und die Federn spreizen. Beim Scheißen aus dem Nest haben sie damit die ersten Erfahrungen gesammelt. Ich kann immer noch mit ihnen mithalten, aber es wird bereits deutlich, daß ich ohne eine mechanische Hilfe keine Chance habe. Fest steht nur, daß ich keinen Motor oder so was haben will. Wenn ich nicht aus eigener Kraft fliegen kann, dann laß ich es lieber. Dem dunklen Männchen gelingt der erste Flug nach oben. Alfonso hatte sich auf eine höhere Stange zurückgezogen, um nach dem Füttern von ihnen wegzukommen, und der Dunkle
fliegt einfach hinter ihm her. Ich glaube, auch bei diesem Flug hat er sich überhaupt nichts gedacht. Vielleicht ist das ein Teil des Fliegens: man darf nicht zu sehr daran denken. Ich weiß nicht, wie ich mich dazu bringen soll, nicht daran zu denken. Dieses dunkle Männchen landet also neben Alfonso auf der Stange, und wie er dann heftig mit den Flügeln flattert, um Alfonso zum Füttern aufzufordern, verliert er das Gleichgewicht und purzelt von der Stange. In der Luft fängt er sich wieder, und gleitet dann mehr als daß er fällt und landet schließlich in dem Futternapf auf der anderen Seite des Käfigs. Die Jungvögel scheinen bei all ihren Stürzen und ihrem Durcheinanderpurzeln eine Menge unbeschadet wegstecken zu können. Mit diesem Sprung legte das junge Männchen eine Entfernung zurück, die mindestens das Vierfache seiner Körpergröße beträgt; für mich wäre das gleichbedeutend mit einem Sprung auf das Dach unseres Hauses. Ich kann nicht einmal nach unten so weit springen, ohne mich zu verletzen, und der ist noch nicht mal einen Monat alt. Es ist entmutigend, aber ich werde noch genauer hinsehen und viel üben. Ich weiß, ich will wenigstens so viel wie jeder Kanarienvogel fliegen, aber ich muß nicht annähernd so gut fliegen wie sie. Wenn ich von hohen Punkten mit den entsprechenden Armbewegungen heruntergleiten kann, dann genügt das vielleicht schon. Birdie hat ein neues Ei gelegt, der Anfang zum zweiten Nest ist gemacht. Ich nehme es, wie beim letztenmal, heraus und ersetze es durch eine Murmel. Sie sitzt nicht zu ausdauernd auf diesem ersten Ei, aber sie bleibt immer im Nest, um es vor den Jungvögeln zu schützen. Sie gibt einem das Gefühl, daß sie mit ihnen fertig ist und sie am liebsten aus dem Zuchtkäfig draußen hätte. Es ist ein bißchen wie bei manchen Eltern und ihren halbwüchsigen Kindern: sie duldet sie und füttert sie auch, wenn sie hartnäckig genug darauf bestehen, aber mit den Gedanken ist sie anderswo.
Noch ein paar tage, und sie sind alle imstande, zu jeder Stange und zum Nest zu fliegen, und es macht ihnen zunehmend Spaß, ihre Flügel auszuprobieren. Als Birdie das dritte Ei gelegt hat, geht sie kaum noch vom Nest herunter. Ich glaube, mehr als alles andere fürchtet sie, die Jungen könnten den Eiern Schaden zufügen. Sie haben inzwischen alle angefangen, an dem Eifutter herumzupicken, das ich unten in den Käfig reingestellt habe. Es beginnt damit, daß sie sich beiläufig damit beschmieren, während sie um den fressenden Alfonso herumspringen. Sie hüpfen in den mit Eifutter gefüllten Freßnapf und wieder raus und entdecken dabei irgendwann, ganz durch Zufall, daß sie auch direkt zur Quelle gehen können. Es ist ein kritischer Moment. Ich beschließe, die Tür des Zuchtkäfigs offen zu lassen und abzuwarten, was geschieht. Sobald die Tür offen ist, fliegt natürlich Alfonso sofort hinaus ins Vogelhaus. Fünf Tage lang war er jetzt mit den Jungvögeln eingesperrt, und zuletzt merkte man, daß er bald durchdrehen würde. Jetzt fliegt er wild durchs Vogelhaus, vergewissert sich, daß alles an ihm noch in Ordnung ist, und holt aus seinen Flügeln alles heraus, was sie nur hergeben. Ich beobachte ihn durchs Fernglas, und das macht mir fast soviel Spaß wie ihm sicherlich das Fliegen. Es dauert nicht lange, bis das kleine gelbe Weibchen, das immer aus dem Nest gefallen ist, in der offenen Käfigtür sitzt und ins Vogelhaus hinausblickt. Ich spüre förmlich, wie es in ihrem Kopf arbeitet, wie sie angespannt nach einem Weg sucht. Sie hat eine Sitzstange vor sich, etwas nach unten versetzt und ungefähr zweimal so weit von ihr entfernt wie ihr bisher weitester Sprung. Sie neigt den Kopf zur einen und dann zur anderen Seite und versucht, den Abstand zu schätzen. Vögel können nicht dreidimensional sehen, und es bereitet ihnen Schwierigkeiten, Entfernungen abzuschätzen. Nachdem sie etwa drei Minuten nachgedacht hat,
wagt sie es und schafft eine perfekte Landung. Jetzt fällt es erst richtig auf, wie klein sie ist. Alfonso kommt, wie um sie zu belohnen, zu ihr herüber und füttert sie. Es ist aufregend für mich als Zuschauer, wie die jungen Vögel nacheinander in das Vogelhaus herauskommen. Zuerst ist jeder Flug von einer Stange zu einer anderen ein größeres Abenteuer; immer wieder fällt oder flattert einer zu Boden. Wenn sie einmal unten sind, ist es ein größeres Projekt, wieder zur untersten Stange hinaufzufliegen. Diese Stange ist einen guten halben Meter über dem Boden. Doch sie schaffen es alle, und schon ein paar Tage später machen sie richtige Testflüge. Es scheint ihnen mehr Spaß zu machen, zur nächsten Stange hinunterzuflattern als sich nach oben zu arbeiten. Es vergehen zwei Wochen, bis sie die ersten Gleitversuche machen. Ich selber muß den umgekehrten Weg gehen. Nach allem, was ich weiß, muß ich mich wohl zunächst mit Gleitflügen zufriedengeben und dann nach und nach eine Art Flügelschlag einbauen. Mehrere Tage nachdem die Nestlinge den Zuchtkäfig verlassen haben, findet der erste von ihnen, es ist der dunkle, dorthin zurück. Birdie hat wieder fünf Eier gelegt, und ich habe sie alle ins Nest zurückgebracht. In diesen Tagen hat Alfonso die Möglichkeit gehabt, vom Vogelhaus in den Käfig zu fliegen und Birdie zu füttern oder auf den Eiern zu sitzen, wenn sie raus will, um zu fressen oder sich etwas Bewegung zu verschaffen. Nun kommt dieser junge Vogel an das Nest und fängt an, ihr das »Füttere-mich«-Signal zu geben. Birdie kauert sich noch tiefer ins Nest und ignoriert ihn. Ich frage mich, ob ich Birdie allein in den Zuchtkäfig sperren muß; doch dann würde ich auch Alfonso aussperren, und das würde ich höchst ungern tun. Dann nimmt Alfonso die Sache selber in die Hand. Es ist fast, als habe er sich das zusammengereimt.
Er fliegt in den Zuchtkäfig und jagt diesen Jungvogel raus. Kaum ist der Junge draußen, ganz verwirrt durch diesen feindseligen Akt des alliebenden Vaters, fängt Alfonso an, ihn zu füttern. Auf diese Weise bringt er all den Jungvögeln bei, sich von Birdie und dem Nest fernzuhalten: Aber es ist kein großes Problem. Sie haben allmählich alle so viel Spaß am Fliegen, daß sie den ganzen Tag kaum etwas anderes tun als zu fressen und zu fliegen. Dabei üben sie allerlei Tricks. Nun bin ich sicher, daß sie Alfonso beobachten, um verschiedene Dinge von ihm zu lernen. Es wäre interessant, herauszufinden, wie schnell ein Vogel das Fliegen erlernen würde, wenn er nie einen anderen Vogel dabei beobachten könnte. Ich nehme mir vor, das einmal auszuprobieren, wenn ich genügend Vögel habe. Ich halte alles, was ich sehe, in einem Notizbuch fest. Ich mache viele Zeichnungen und schreibe meine Beobachtungen und Gedanken auf. Ich notiere mir auch die ganzen Experimente, die ich machen will, um herauszufinden, was das Fliegen eigentlich ist und wie die Vögel es lernen. Ich fülle allein zehn Seiten mit Notizen darüber, wie ein Vogel lernt, sich auf der Sitzstange um seine eigene Achse zu drehen. Es gehört eindeutig zu den Dingen, die sie üben müssen; sie schaffen es erst etwa eine Woche nachdem sie das Nest verlassen haben. Hinter dem Haus arbeite ich selbst an diesem Trick, und es ist alles andere als einfach. Birdie scheint glücklich und wohlauf. Sie ist ein außergewöhnlicher Vogel, sonst hätte sie nicht noch einmal fünf Eier gelegt. In dem Buch steht, ein Weibchen kann dreimal im Jahr brüten, ohne Schaden zu nehmen – wenn sie bei guter Gesundheit ist. Für mich sieht Birdie gesund und munter aus, und seit die Jungvögel immer weniger darauf bestehen, gefüttert zu werden, gibt Alfonso ihr mehr Unterstützung. Er bringt ihr Futter von unten, um sie zu füttern, und setzt sich aufs Nest,
wenn sie zum Fressen rausfliegen will. Sie fliegt oft lange im Vogelhaus herum, um sich Bewegung zu verschaffen; die Jungvögel ignoriert sie dabei völlig und wird umgekehrt auch von ihnen ignoriert. Es scheint, daß eine Mutter ihre Jungen einfach vergißt, wenn sie einmal das Nest verlassen haben. Jedenfalls ist das bei Birdie so. Wir haben jetzt wärmeres Wetter, und da sitzt Birdie nicht mehr mit dergleichen Hingabe auf den Eiern wie beim ersten Mal. Bis zu fünfzehn Minuten bleibt sie manchmal dem Nest fern, um sich das Gefieder zu putzen. Solange Alfonso da oben ist und auf dem Nest sitzt, besteht ohnehin keine echte Gefahr. Ich glaube nicht, daß sich Alfonso richtig auf die Eier setzt, so wie Birdie. Er spreizt die Beine und steht mehr oder weniger über den Eiern; es scheint ihm wichtiger, sie zu beschützen als sie auszubrüten. Wenn Birdie das Nest aufgeben oder gar eingehen würde, dann könnte Alfonso, glaube ich, die Eier nicht ausbrüten. Die Kleinen wachsen schnell. Das Wachstum ihrer Schwänze scheint durch das Fliegen angeregt zu werden, oder vielleicht ist es auch umgekehrt. Als sie fünf Wochen alt sind, kann ich sie kaum noch von ausgewachsenen Vögeln unterscheiden. Einige haben schon angefangen, Samenkörner zu knacken. Solange sie das nicht alle können, sind sie noch nicht ganz selbständig. Nach dem Buch ist der entscheidende Augenblick gekommen, wenn sie in der Mauser ihre Kükenfedern abwerfen, so daß die ersten Erwachsenenfedern nachwachsen. Ich bin nicht sonderlich besorgt; sie sehen so gesund aus. Eines Abends muß ich beim Füttern der Vögel daran denken, daß ich nicht mehr getan habe, als zwei Vögel in das Vogelhaus zu sperren und ihnen etwas Futter und Wasser zu geben, sonst nichts – und jetzt sind sie schon zu sechst. Ich weiß, das ist vollkommen natürlich, es ist eins der zentralen Dinge des Lebens, aber daß es in meinem Zimmer geschieht, direkt vor meinen Augen, das ist wie ein Zauber.
Wenn ich mir das so ansehe und anhöre, dann ist mein Vogelhaus jetzt wirklich Spitze. Man hört ständig das Flattern von Flügeln, die Laute von Vögeln, die einander zurufen, das Geräusch von Schnäbeln, die an Sitzstangen gewetzt werden. Meine Mutter, die nicht so genau aufgepaßt hat, beschuldigt mich eines Abends beim Essen, ich hätte Vögel dazugekauft. Ich erkläre ihr, daß es die Jungen von meinem ersten Pärchen sind. Sie macht Harrampf, blickt verstohlen zu meinem Vater hinüber, der sich gerade eine halbe Kartoffel in den Mund schiebt, und sagt dann, das ganze Haus stinke schon nach den Vögeln. Ich bekomme Angst, wenn sie so etwas sagt. Sie hat soviel Macht über mein Leben und die Vogelwelt in meinem Zimmer. Am nächsten Tag kaufe ich so ein Zeug in einer Flasche, das alles nach Fichten riechen läßt. Ich versprühe es in allen Ecken meines Zimmers, nur nicht in dem Käfig. In meinem Zimmer riecht es nun wie in einem künstlichen Wald. Vögel zu haben ist so phantastisch, daß ich alles tun würde, um sie behalten zu können.
Auch an diesem Nachmittag möchte ich zugucken, wie Birdy gefüttert wird. Ich frage Renaldi, ob ich reinkommen kann. Er sagt, es ist gegen die Vorschrift, aber er hat nichts dagegen. Er schließt mit seinen Schlüsseln auf, und ich schiebe den Servierwagen hinter ihm her. Birdy hockt am Boden und beobachtet uns; mich beobachtet er mehr als alles andere. Ich bin jetzt ganz sicher, daß er mich verarscht. Vielleicht hat er das bisher nicht getan, aber jetzt verarscht er mich ganz klar. Ich schiebe den Servierwagen zur Seite und stelle mich vor Birdy hin. Renaldi geht um den Wagen herum und nimmt die Deckel vom Essen. »So, Birdy, ich bin hier. Ich bin Al, und das weißt du genau, du Hund. Willst du wirklich dahocken und wie ein junger Kanari mit den Armen schlagen, während dich der Typ hier füttert?« Ich sage ihm das mit ruhiger Stimme, während Renaldi mit dem Essen rummacht. Birdy sieht mich mit voll zugewandtem Gesicht an, nicht wie irgendein komischer Vogel erst mit dem einen und dann mit dem anderen Auge. Er sieht mich an; seine Augen wackeln nicht einmal. Es gibt kein sicheres Zeichen dafür, daß er mich erkennt, aber er mustert mich jedenfalls sehr sorgfältig, will feststellen, ob er mir trauen kann. Es ist zwar Birdy, klar, aber er hat sich verändert. Es ist nicht mehr der alte Birdy, der immer alles glaubte; er sieht eher aus, als könne er überhaupt nichts mehr glauben. Er sieht aus, als könne er nicht einmal mehr an sich selber glauben. Renaldi hält mir einen Brei und einen Löffel hin und gibt mir zu verstehen, daß ich ihn füttern kann, wenn ich will. Ich übernehme den Teller und den Löffel von Renaldi. Er kontrolliert die Türen, um sicherzugehen, daß niemand zuschaut. Was können sie ihm schon tun, ihn rausschmeißen? Sie zahlen ihn ja nicht mal; sie haben versucht, ihn in die Armee zu stecken, und das ging
daneben. Sie können ihn nicht umbringen. Es ist wirklich blöd, daß sich die meisten von uns angewöhnen, dauernd nachzugucken, ob uns jemand beobachtet, als könnten sie uns dabei erwischen, wie wir irgend etwas Unrechtes tun. Irgendwie werden wir als Kinder von unseren Eltern und von den beschissenen Paukern dazu gebracht, daß wir uns wegen fast allem schuldig fühlen. Ich halte den Brei und den Löffel Birdy vors Gesicht. Er blickt nur in meine Augen, nicht auf das Essen. »Also dann, Birdy. Es ist Zeit für dich, deine Flügel zu schwingen und zu piepen. Aber ich glaub es nicht.« Er macht keine Bewegung. »Na gut. Ich füttere dich trotzdem. Das ist alles so lächerlich. Wenn du dich sehen könntest, wie du da am Boden hockst, während ich dir diesen Fraß in den Hals stopfe, würdest du dich wahrscheinlich totlachen.« Ich will ihm den Löffel in den Mund schieben. Er preßt die Lippen aufeinander und dreht den Kopf zur Seite. »Komm schon, Birdy, mach auf! Iß brav einen Löffel für Mami. Es ist gut für dich.« Er dreht den Kopf auf die andere Seite. Renaldi will hinter dem Servierwagen hervorkommen. Ich werfe ihm einen bösen Blick zu, um ihn fernzuhalten. »Sieh mal, Birdy. Dieser Typ hier gibt mir extra die Chance, dich zu füttern. Mach schon auf! Ich weiß ja, die ganze Sache ist verdammt würdelos, aber was soll’s? Entweder er füttert dich, oder ich tu es. Wenn du schon so tust, als wärst du ein blöder Vogel, dann sei wenigstens konsequent. Du kannst nicht mal kacken wie ein Vogel. Und wenn du noch soviel hier rumhüpfst, du wirst hier nie rausfliegen! Sie werden dich dein ganzes Leben lang in diesen Käfig sperren!« Birdy starrt mich an. Er ist sauer. Es ist schwer, Birdy so weit zu bringen, weil ihn die meisten Dinge normalerweise gleich-
gültig lassen. Nichts hab ich ihn so oft sagen hören wie: »Das macht nichts.« Für ihn gilt das immer und überall. Ich konnte mich noch so sehr über irgend etwas in der Schule oder über seine Mutter oder meinen Vater ärgern, doch er sagte nur: »Das macht nichts.« Dann bemerke ich, wie sich seine Flügel, ich meine Arme, etwas vom Körper abheben. Einen Moment lang denke ich, er will über mich herfallen wie eine verrückte Fledermaus, aber er bewegt sie langsam nach vorn vor sein Gesicht und blickt auf sie hinunter. Er dreht sie um, macht die Fäuste auf und bewegt kraftlos die Finger. Er sieht mich an und streckt die Hände nach Teller und Löffel aus. Ich gebe sie ihm in die Hände. Er guckt nicht hinunter, sein Blick bohrt sich immer noch in meine Augen. Wahnsinnig! Ich bin mir nicht sicher, ob er mir nicht die ganze Schweinerei ins Gesicht schleudert, aber ich lasse meinen Blick nicht von seinen Augen. Irgendwas geht vor sich, und ich weiß nicht recht, was es ist. Nachdem er mich vielleicht zwei Minuten mit seinem Blick durchbohrt hat, guckt er auf den Teller in seiner Hand und dann auf den Löffel. Er dreht den Löffel ein paarmal in der Hand, als versuche er sich zu erinnern, wie man ihn hält. Ich möchte seine Hand nehmen und ihm helfen, aber ich tu’s nicht. Mir wird zum erstenmal klar, wie weit Birdy tatsächlich weggewesen ist. Der Weg zurück ist lang, er hat noch eine lange Strecke vor sich. Er hält den Löffel jetzt fast richtig und fängt an, ihn gleichzeitig mit dem Teller zu bewegen. Zweimal greift er daneben, dann hat er den Löffel im Brei und rührt ihn um. Mindestens drei Minuten lang rührt der um. Mir tun von dem langen Hocken langsam die Muskeln in den Beinen weh. Ich wollte, ich hätte den Verband nicht um meinen Kopf, dann wäre es für Birdy leichter, mich zu sehen und zu erkennen. Schließlich nimmt er den Löffel mit etwas Brei drauf aus dem Teller und steckt ihn in den Mund. Er hat große Mühe,
den Löffel wieder aus dem Mund zu bekommen, weil er mit den Zähnen draufbeißt. Es ist so, wie wenn man einem Baby zuguckt, das selbständig essen lernt; er hat den Ellbogen hoch in die Luft gereckt. Wahrscheinlich denkt er jetzt, er ist ein Vogel, der einen Menschen nachmacht. Vielleicht hat er recht. Es dauert über eine Stunde, aber Birdy bekommt eine ganz ordentliche Portion davon runter. Er schafft es sogar, einige der Fleischstückchen mit einer Gabel aufzuspießen. Er läßt es zu, daß ich ihm Teller und Gabel und so weiter wegnehme, aber er zeigt keine Reaktion. Sein Gesicht könnte ebensogut ein Vogelschnabel sein, so wenig Bewegung zeigt es. Er sieht aus, als habe er eine Maske auf, hinter der seine Augen funkeln. Wir gehen nach draußen, und Renaldi ist ganz aufgeregt. Er sagt, das ist ein großer Durchbruch; wir müssen Weiss davon berichten. Ich frage ihn, was zum Teufel Weiss schon anderes tun wird, als es in seine Papiere zu schreiben oder es seinem T4 zu diktieren, damit der es tippen und anschließend drauf spucken kann; warum können wir es nicht für uns behalten? Renaldi hört mir zu. Er will es zwar nicht, aber schließlich ist er bereit, mitzuspielen. Ich frage ihn, was es bringen soll, wenn Weiss herkommt und zuguckt, wie Birdy sich selbst füttert, Wem soll das was bringen? Renaldi geht, und ich beziehe meinen Platz auf dem Stuhl zwischen den Türen. Renaldi sagt, es ist ganz unmöglich, daß er mich bei Birdy im Käfig läßt. Ich sitze lange da und beobachte Birdy. Ich glaube, er findet es allmählich albern, die ganze Zeit am Boden zu hocken. Zweimal streckt er das eine oder andere Bein. Das hat er bisher nie getan. Er geht rüber zur Toilette, um zu pinkeln. Anstatt sich auf die Brille zu hocken, so wie sonst, richtet er sich halb auf, so daß er schräg über der Toilette lehnt, macht mit der einen Hand seinen Schlafanzug auf und stützt sich mit der
anderen Hand an der Wand ab. Wahrscheinlich hat er sich seit Monaten nicht mehr so weit aufgerichtet. Ich glaube nicht, daß er noch aufrecht stehen kann. Renaldi erzählt mir, daß Birdy auch im Hocken schläft; das Bett benutzt er nicht. Er sagt, manchmal lehnt sich Birdy an eine Wand und schläft im Stehen, auf einem Bein! Typisch Birdy, er muß immer übertreiben. Als er zu Ende gepißt hat, geht er tief vornübergebeugt die paar Schritte zur Mitte des Raumes, wie eine abgemagerte Ausgabe des Glöckners von Notre Dame oder was weiß ich, und dann kauert er sich wieder hin, wie gehabt. »Keiner guckt dir jetzt zu, Birdy. Steh auf wie ein normaler Mensch. Ich sag keinem was davon. Ich bin’s doch, Al, mir kannst du vertrauen.« Er blickt mir direkt in die Augen. Ich habe immer noch das Gefühl, daß er eine Wut auf mich hat, und das ist wirklich selten. Wie ich schon sagte, man macht Birdy nicht so leicht wütend. Selbst die Geschichte mit meinem alten Herrn und dem Auto machte Birdy nicht in erster Linie wütend, sondern einfach fassungslos. Er konnte beim besten Willen nicht glauben, daß jemand so fies sein würde. Er war überzeugt, daß es da irgendein Mißverständnis gegeben hatte; er brauchte nur mit dem Käufer des Wagens zu reden, dann würde alles wieder in Ordnung kommen. Ich kann mich nur an einen einzigen Vorfall erinnern, der Birdy wirklich wütend machte. Damals wurde mir zum erstenmal klar, wie das ist, wenn ein verrückter, sich immer wieder selbst ein Bein stellender Typ wie Birdy wütend wird. Ich wußte nun auch, daß ich noch nie in meinem Leben richtig wütend gewesen war; sauer oder verärgert vielleicht, aber nicht wütend; wütend, das ist wie verrückt. »Birdy, weißt du noch, wie der kleine O’Neill dein Fahrrad gestohlen hat? Ich glaube wirklich, du hättest ihn umgebracht.«
Es war nicht sehr lange nachdem Birdy und ich uns kennengelernt hatten. Wir gingen noch in die Saint-AliceVolksschule. Wir wurden von Schwestern unterrichtet, und die waren imstande, einen fürs ganze Leben zu versauen. Ich saß in der letzten Bank und dachte daran, wie die Nonnen unter diesen langen schwarzen warmen Kostümen drauflos menstruierten. Trachten nannten sie sie, die Kostüme meine ich. Vorne im Klassenzimmer stand immer eine Gipsstatue der »Heiligen Mutter«, gekleidet in hellblaue, fließende Gipsgewänder und mit einer zertretenen Schlange und Blumen unter den Fußsohlen. Ich überlegte mir oft, ob sie wohl Titten hatte unter all dem Zeug. In unseren Klassen gab’s auch Mädchen, aber die Jungen saßen auf der einen und die Mädchen auf der anderen Seite. Die Mädchen trugen alle diese beschissenen dunkelblauen Uniformen. Ich war wirklich froh, als ich endlich auf die Oberschule kam. Die Sache mit Birdys Wutanfall passiert in der Zeit, als wir gerade das neue Taubenhaus in den Bäumen unten im Wald bauen, also noch vor dem Gaskessel. Wir stehlen das ganze Holz, aber für das Drahtgitter und Scharniere und so weiter brauchen wir Geld. Im zweiten Obergeschoß der Saint-Alice-Schule liegt der große Saal. Dort bekommen wir immer unser Mittagessen, und jeden Freitagnachmittag zeigen sie einen Film, für zehn Cents pro Kopf. Sie sagen, wer sich diesen Film nicht anguckt, gehört ins Armenhaus und liebt den Herrgott nicht. Diese Kirche findet immer wieder einen verdammten Dreh, um armen Leuten den letzten Pfennig aus der Tasche zu ziehen. Jedenfalls haben sie oben im zweiten Stock auch ein vergammeltes altes Klavier stehen. Von den Tasten geht nur noch die Hälfte, und es ist praktisch kein Elfenbein mehr drauf; es sieht grad aus, als seien dem Klavier die meisten seiner Zähne ausgeschlagen worden.
Die Kirche hat ein neues Klavier bekommen, eine »Schenkung«, und sie wollen das alte raushaben. Die Männer, die das neue Klavier herauf gebracht haben, sagen, für fünf Dollar schleppen sie das Wrack runter, aber das ist Father O’Leary, dem Pfarrer, zuviel. Deshalb steht es immer noch da oben. Im Vorbeigehen gibt jeder dem Klavier einen Schlag oder hämmert drauf rum. Das andere Klavier hat an den Tasten ein Schloß, und die Musikschwester sorgt dafür, daß es immer abgeschlossen ist. Sie gibt – für weitere zwanzig Cents pro Kopf – Klavierstunden auf dem neuen Klavier. Birdy sagt Father O’Leary, daß er das alte Klavier für zwei Dollar aus dem Haus schafft. O’Leary will Birdy dazu überreden, aus seiner Arbeit eine »Schenkung« für die Kirche zu machen, »um der Liebe Gottes willen«, aber Birdy bleibt stur und will Bargeld. Er erzählt mir von dem Projekt, und wir werden es zusammen in Angriff nehmen. Birdy hat es sich so gedacht, daß wir nach der Schule, wenn alle weg sind, das Klavier zertrümmern und aus dem Fenster in den Schulhof werfen. Eines Tages holt also Birdy nach der Schule die Axt und den Vorschlaghammer aus seiner Garage, und wir fangen an, damit das Klavier zu bearbeiten. Der eigentliche Grund, weshalb wir das machen, ist, daß wir das Metall wollen. Der Rahmen ist aus Gußeisen und bringt beim Alteisenhändler in Greenwood mindestens fünf Dollar. Wir sind im Jahr 1939, und alle verkaufen Alteisen an die Japse, um ihre Kriegsbemühungen zu unterstützen. Die Arbeit geht schnell voran. Während ich das Ding zertrümmere, wirft Birdy die großen Stücke zum Fenster raus. Wir haben unseren Spaß dabei. Das verdammte Klavier gibt tolle Töne von sich und plinkt und klonkt unter meinen Schlägen. Ich kann so richtig meine Kraft dran auslassen. Wenn ich mit dem Vorschlaghammer zuschlage, bringe ich alle Saiten
zum Schwingen, und es klingt wie im Himmel. Einen klasse Ton gibt es auch, wenn ich die Saiten mit der Axt durchschlage. Wir haben die Erlaubnis, das Holz im Verbrennungsofen zu verheizen, und die Eisenteile werden wir abtransportieren. Auch zu der Zeit fuhr Birdy noch mit dem Fahrrad zur Schule. Es ist das Fahrrad, das uns die Bullen später in Wildwood abnahmen. Er machte es immer mit einer Kette am Zaun fest, neben dem Hintereingang zum Schulhof. Wir können es vom zweiten Stock aus sehen. Birdy hatte die Axt und den Vorschlaghammer gleich nach der Schule geholt und dann sein Fahrrad an dem üblichen Platz abgestellt. Ich wußte es zwar nicht, aber diesmal schloß er es nicht ab. Wir sind mit dem Klavier so gut wie fertig und sind eben dabei, zu zweit ein gewaltiges Stück Gußeisen auf die Fensterbank zu hieven, als wir nach unten blicken und gerade noch sehen, wie ein Junge auf Birdys Fahrrad steigt. Birdy sagt kein Wort, er läuft durch den Saal und die Treppen hinunter. Ich halte den Eisenbrocken fest und schreie nach unten: »Laß bloß das Fahrrad stehen, du Dreckskerl!« Ich erkenne den Burschen. Es ist einer der Dümmsten in der ganzen Schule, Jimmy O’Neill. Sechs von den O’Neill-Kindern sind an der Schule, eins dümmer als das andere. Wenn man sie alle zusammentut, hat man immer noch kein komplettes Gehirn. Dieser Jimmy O’Neill ist in der siebten Klasse, aber er ist schon sechzehn. Er ist klein und hat richtige Muskelpäckchen. Er hält sich für einen ziemlich harten Burschen. Ich seh’ ihn immer nur vor mir, wie ihm der Rotz runterläuft, und der Ärmel seines Pullovers ist ausgefranst und zerrissen und ganz steif vor Rotz. Zu seinen Hauptbeschäftigungen gehört es, in der Pause die Sechst- und Siebtkläßler zu vermöbeln. Ich habe ihn schon zweimal grün und blau geschlagen, aber der ist bestimmt zu blöd, sich daran zu erinnern. Beim letztenmal warf er mit Pferdeäpfeln nach mir. Man sollte nicht glauben,
daß sie einen solchen Idioten frei rumlaufen lassen. Was er in der Schule soll, weiß sowieso keiner. Er kann immer noch nicht lesen. Er weiß, daß ich ihn sehe, aber er fährt mit dem Fahrrad davon. Er ist so blöd, daß er kaum damit zurechtkommt. Im Zickzack fährt er über den Gehweg und dann die Clarke Avenue hinauf. Jetzt läuft das Fahrrad geradeaus, und er tritt in die Pedale. Etwa eine halbe Minute später kommt Birdy herausgerannt. Ich rufe: »Er ist Clarke raufgefahren! Es ist Jimmy O’Neill!« Birdy rast los. Ich möchte gern, daß er weiß, was ihn erwartet, wenn er das Fahrrad einholt, falls er überhaupt eine Chance hat, zu Fuß ein Fahrrad einzuholen. Ich lasse den großen Brocken Gußeisen auf den Boden gleiten und laufe ebenfalls die Treppen runter. Ich rechne damit, daß Birdy den Schädel eingeschlagen bekommt, falls er O’Neill einholt. Ich freu mich schon darauf, O’Neill die Zähne einzuschlagen. Diesmal hab ich allen Grund dazu, und keine dieser stinkigen Schwestern und kein Priester kann sich einmischen und seine fiese irische Haut retten. Ich laufe die Clarke Avenue rauf, und als ich zum Franklin Boulevard komme, gucke ich in beide Richtungen. Ganz am Ende der Franklin Avenue liegt tatsächlich das Fahrrad am Boden, und Birdy und O’Neill gehen aufeinander los. Ich laufe in die Richtung und bin überrascht, als sich O’Neill losreißt und auf mich zugelaufen kommt. Birdy ist ihm dicht auf den Fersen. O’Neill blickt auf, sieht mich und macht kehrt. Ich würde es nicht glauben, wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde. Birdy springt in die Luft, gut und gern anderthalb bis zwei Meter, und landet auf O’Neills Schultern. Der läuft weiter, und Birdy tritt mit den Füßen nach ihm und schlägt ihm die Fäuste ins Gesicht und in die Schläfen. O’Neill geht in die Knie. Er schüttelt Birdy ab und steht auf. Sein
Gesicht ist blutverschmiert. Er läuft quer durch einen Vorgarten und schlägt die Richtung zur Kirche ein. Die Kirche steht neben der Schule. Birdy ist dicht hinter ihm. Ich werde langsamer. Das Laufen schlaucht mich, und jetzt will ich sehen, was Birdy tun wird. Er hat das Fahrrad mitten auf der Straße liegenlassen, oben auf dem Franklin Boulevard. Das kommt sehr überraschend, wenn man weiß, wie Birdy zu seinem Fahrrad steht. Er hat es mit seinem eigenen Geld gekauft, als er erst etwa zehn Jahre alt war. Es ist eines dieser alten Modelle mit übergroßen Rädern und den schmalen schlauchlosen Reifen. Jeder will heute Ballonreifen und Rücktrittbremsen, doch Birdy denkt nicht dran, sich mit Ballonreifen und mickrigen 28-Zoll-Rädern abzugeben. Er pumpt seine Reifen auf, bis sie kurz vorm Platzen sind, und kurvt mit einem unheimlichen Tempo durch die Gegend. Er kann sich aber auch im Sattel halten, wenn er auf der Stelle steht; er verdreht dann nur von Zeit zu Zeit das Vorderrad. Ich habe erlebt, daß er fünf oder zehn Minuten so dasteht und irgendwas oder irgendwen beobachtet und dann davonsaust, ohne auch nur einmal einen Fuß auf den Boden gesetzt zu haben. Wenn er wendet, dann reißt er das Vorderrad hoch und schwenkt es in die andere Richtung, wie ein Pferd beim Rodeo. Er hält das Rad so spiegelblank, Speichen und Felgen glänzen immer wie neu. Birdy lebt praktisch auf seinem Fahrrad. Nachdem wir uns kennengelernt haben, benutzte auch ich mein Fahrrad wieder mehr. Samstags machen wir alle möglichen Ausflüge. Es gibt im Umkreis von achtzig Kilometern nicht einen Ort, den Birdy nicht irgendwann einmal mit dem Rad besucht hat. An der Wand in seinem Zimmer hat er eine große Karte hängen, und in die hat er alle seine Touren eingetragen. Birdy brauchte nur zu sagen: »Fahren wir nach Abington«, und schon waren wir unterwegs.
Einmal sagte Birdy, wenn man auf einem Fahrrad sitzt, ist man fast völlig von der Erde losgelöst und hat sich praktisch über Schwerkraft und Reibung hinweggesetzt. Birdy macht dauernd dran rum, daß er von der Erde festgehalten wird. Ich bin also wirklich überrascht, daß er das Fahrrad liegenläßt und hinter O’Neill herrennt. Vielleicht hat er mich kommen sehen und weiß, daß ich das Fahrrad aufheben werde, aber ich glaube, er war so wütend, daß er überhaupt nichts mehr sehen konnte und daß ihm alles gleichgültig war. Ich gehe mit seinem Fahrrad an den Straßenrand und lehne es an einen Baum. Ich setze Birdy und O’Neill nach; Ich bin schon bereit zu glauben, daß sie geradewegs in die Hölle gerannt sind oder daß sie der Erdboden irgendwie verschluckt hat, als ich dieses fürchterliche Gebrüll höre, das aus der Kirche kommt. Ich stürze durch den Hintereingang, und vorne beim Altar hat Birdy O’Neill am Boden, zwischen seinen Beinen, und er schlägt ihn ins Gesicht, während O’Neill zappelnd versucht, sich loszureißen. Birdy setzt ihm mächtig zu, prügelt wortlos auf ihn ein, links, rechts, links. Ich laufe den Mittelgang nach vorn. O’Neill brüllt wie am Spieß. Irgend jemand wird ihn bestimmt hören und gleich angelaufen kommen. Das Pfarrhaus und das Klostergebäude sind gleich nebenan. Ich muß Birdy mit Gewalt losreißen. Er sieht mich genauso an, wie er mich vorhin hier angesehen hat, als ich ihm seinen Brei gab; als ob er mich gar nicht kennt und drauf und dran ist, mir eine zu verpassen. Seine Augen sind schwarz, und die Iris steht weit offen. Er sieht aus, als sei er verrückt vor Wut. »Laß ihn jetzt, Birdy! Wir müssen hier raus, Himmel Herrgott, bevor jemand kommt!« Birdy blickt O’Neill an, als ob er ihn noch nie gesehen hat und nicht weiß, wie er hierherkommt. Er sagt nichts, wendet sich dann ab und geht den Mittelgang hinunter auf den Ausgang zu. Ich beuge mich über O’Neill. Seine Augen sind dick
geschwollen, und es fehlen ihm etliche Zähne. Kein großer Verlust, seine Zähne waren sowieso alle schief und krumm. »Hör zu, Scheißkopf! Wenn du bloß einem Menschen sagst, wer dich zusammengeschlagen hat, dann bring ich dich um. Glauben würde dir sowieso keiner.« Er blickt vom Boden zu mir auf. Er tastet mit der Hand nach den Zahnlücken und den ausgeschlagenen Zähnen in seinem Mund. Sein Mund ist ein blutiges Loch. Dann wälzt er sich auf die Knie, den Kopf zum Altar gewandt. Da liegt er nun auf Händen und Knien und heult und blutet. Ich sage mir, das ist immer noch besser, als von Löwen gefressen zu werden; vielleicht bringt es ihm was, wenn er ein bißchen betet. Ich gehe zum Franklin Boulevard zurück, und Birdy ist schon dabei, sein Fahrrad zu überprüfen. Er findet ein paar verbogene Speichen und ein paar Kratzer oben auf dem Lenker. Außerdem ist das Vorderrad verdreht, aber das kriegen wir rasch wieder hin. Ich seh mir Birdy an; er hat nicht das geringste abbekommen, nicht mal einen roten Fleck oder einen Kratzer. O’Neill hat offenbar mit seinen großen Fäusten nur Luftlöcher geschlagen. Er hatte wahrscheinlich das Gefühl, mit einem Gespenst zu kämpfen, oder vielleicht mit einem kleinen Gnom. Birdy macht eine kleine Testfahrt und sagt, das Fahrrad ist okay, aber im Grunde wird es nie mehr das alte sein. Er ist wie ein altmodischer Sizilianer, dessen Frau vergewaltigt worden ist. Selbst wenn er weiß, daß es nicht ihre Schuld ist, selbst wenn deutliche Spuren zeigen, daß sie sich gewehrt hat, so kann er doch nie wieder so zu ihr sein wie vorher. So ist auch Birdy mit seinem Fahrrad. Es ist einer der Gründe, weshalb er dann in Wildwood bereit ist, es zu verkaufen, und weshalb er nie wieder ein anständiges Fahrrad kauft. Er liebte dieses Rad, und nachdem es geschändet worden war, wollte er kein anderes mehr. Mit einem Menschen, der so empfindet, kommt man nur schwer zurecht.
Ich gucke zu Birdy hinüber, wie er da hockt, mich beobachtet, offen, sanft, mit leeren Augen. Ich fange an zu begreifen, daß er sich irgendwie selbst geschändet hat. Und jetzt will er sich selbst nicht mehr.
Alfonso ist zu beschäftigt gewesen, als daß er viel hätte singen können, aber jetzt, wo Birdie auf den neuen Eiern sitzt und die Jungen sich selbst füttern, fängt er wieder an. Das erstemal singt er ganz leicht, oben auf der obersten Stange. Ich mache meine Schularbeiten, und es ist dunkel im Zimmer. Es ist wunderbar, ihn wieder zu hören. Er singt ohne Leidenschaft, in einer Art Erzählton, so als versuche er seinen Kindern von der Welt außerhalb des Käfigs zu erzählen. Als ich am nächsten Morgen aufwache, singt er wieder. Ich liege über ihm in meinem Bett und versuche zu verstehen, was er sagt. Ich weiß, wenn ich mich ihm nur öffnen kann, werde ich verstehen; was Kanarienvögel mir erzählen können. Ich liege mit geschlossenen Augen da und versuche Alfonso zu sein, mir das Gefühl anzueignen, als sei ich es, der da singt. Es geht voran, mein Wissen wird größer, aber ich kann es nicht in Gedanken oder Worte fassen. Der kleine Dunkle und der Gelbe, den ich für ein Weibchen gehalten hatte, beginnen Alfonso mit zwitschernden, gurgelnden Tönen zu begleiten. Das ist ein ganz gutes Zeichen dafür, daß es Männchen sind. Nachdem sie noch ein paar Tage lang Alfonsos Liedern zugehört haben, singen sie von Zeit zu Zeit alle. Ich kann kaum glauben, daß das möglich ist, aber es sieht tatsächlich so aus, als ob aus der ersten Brut nur Männchen hervorgegangen seien. In der Schule trage ich innerlich die Lieder und Töne mit mir herum, die Alfonso immer singt. Ich kann sie mit meiner großen Kehle und meinem weichen Mund unmöglich nachahmen, aber ich kenne sie alle auswendig, so wie man auf Instrumenten gespielte Musik kennt, wenn man sie oft gehört hat. Man behält nicht nur die Melodie, sondern auch den Klang der Instrumente und ihren Zusammenklang. So habe ich auch Alfonsos Musik in meinem Kopf.
Ich fange an, den Jungvögeln beizubringen, daß sie sich vor mir nicht zu fürchten brauchen. Ich gehe mit Spezialfutter oder Löwenzahn oder Apfelstückchen ins Vogelhaus, mit Dingen also, die sie mögen. Ich lege sie auf mein Knie oder vorne auf meinen Schuh, während ich am Boden sitze und warte. Birdie kommt gewöhnlich herunter, um mich zu begrüßen und etwas zu fressen. Die Kleinen sind am Anfang scheu, aber nach und nach kommen sie herüber und fangen vorsichtig an zu fressen. Den Dunklen und den Gefleckten habe ich nach einer Woche so weit, daß sie sich auf meinen Finger setzen. Sogar Alfonso frißt von meinem Schuh und einmal von meinem Knie. Er ist weiß Gott ein argwöhnischer Vogel. Birdie mag es nicht mehr, wenn ich sie in die Hand nehme. Sie wird nervös und springt weg, wenn ich die Hand über sie legen will. Wahrscheinlich hat es mit dem Brüten zu tun. Sie hat dort soviel Verantwortung, daß sie keinerlei Risiko eingehen kann. Die Bösartigkeit, wie ich sie von Alfonso her kenne, scheint direkt mit der dunklen Färbung zusammenzuhängen. Der dunkle Jungvogel tyrannisiert bereits seine Geschwister. Der einzige, der sich überhaupt wehrt, ist der gefleckte. Die zwei gelben gehen einfach gutmütig aus dem Weg oder warten, bis sie drankommen. Einmal vergißt sich der Dunkle und versucht, Alfonso von der Stange zu vertreiben. Das erste Mal fliegt Alfonso weg, doch der Kleine folgt ihm. Als Alfonso begreift, was da gespielt wird, richtet er sich auf und gibt dem jungen Vogel einen harten Schnabelhieb auf den Schädel. Das arme Ding stürzt ab und geht am Boden des Vogelhauses benommen im Kreis herum. Alfonso braucht nicht nachzusetzen, der Fall ist ein für allemal geregelt. Die neuen Jungen schlüpfen alle an einem Vormittag aus. Es sind vier. Sie sehen alle dunkel aus, es ist kein rein gelbes
dabei. Alfonso und Birdie beginnen die Jungen zu versorgen. Sie scheinen angeordnet zu haben, daß die Jungen aus dem ersten Nest nicht mehr in den Zuchtkäfig dürfen. Alfonso überwacht das auch. Einige Schnabelhiebe auf den Kopf und das typische Alfonso-Knurren genügen, und alle haben kapiert. Ich habe die alte Nestunterlage mitsamt dem Nest herausgenommen. Außerdem habe ich die Ecke des Käfigs geputzt, in der sich der verkrustete Vogeldreck angesammelt hatte. Die neuen Küken wachsen schnell. Schon in kürzester Zeit stehen sie schwankend auf dem Nestrand. Ich habe jeden Versuch aufgegeben, ihr Geschlecht zu erraten. Zwei sind völlig dunkel wie Alfonso, und zwei haben einen hellen Bauch und dunkle Flügel. Von diesen hat der eine einen dunklen Kopf, der andere einen Fleck über dem linken Auge. Sie sind fast drei Wochen alt, als es passiert. Einer der Gefleckten, der mit dem dunklen Kopf, ist bereits einige Male aus dem Nest gefallen. Bevor ich abends das Licht ausmache, setze ich ihn immer zurück ins Nest. Eines Morgens muß ich feststellen, daß er in der Nacht herausgefallen ist. Ich nehme ihn in die Hand, und er ist starr und eiskalt und streckt die Beine von sich. Ich behalte ihn in der Hand und hoffe, daß ihn die Wärme wieder munter macht, aber er rührt sich nicht. Ich setze ihn in warmes Wasser und halte ihn so, daß der Kopf herausschaut, aber es ist nichts mehr zu machen. Der arme Kerl ist in der Nacht erfroren, er ist tot. Es tut mir leid für Birdie und Alfonso. Ich beobachte sie, aber sie füttern die anderen Vögel weiter und scheinen gar nicht zu bemerken, daß einer fehlt. Ich weiß nicht, was ich von ihnen erwartet habe. Vögel können nicht weinen. Die Menschen sind schätzungsweise die einzigen Tiere, die weinen, lachen und lügen können. Wir sind wahrscheinlich auch die einzigen, die eine gewisse Vorstellung vom Tod haben. Die meisten Tiere versuchen, dem
Tod zu entgehen, aber ich glaube, sie machen nicht viel Aufhebens davon. Es gibt etwas, was ich gerne wissen möchte und was ich in keinem Buch finden kann: die Dichte eines Vogels, wie viel er im Verhältnis zu seinem Volumen wiegt. Ich kann das mit diesem toten Jungvogel errechnen. Ich möchte es nicht mit einem lebenden Vogel probieren. Zuerst fülle ich ein Glas mit Wasser, bis es gestrichen voll ist, stelle das Glas auf eine Untertasse und lege den toten Vogel in das Glas. Ich drücke den ganzen Vogel unter Wasser. Das Wasser läuft über und wird in der Untertasse aufgefangen. Dieses von dem Vogel verdrängte Wasser fülle ich in ein leeres Marmeladenglas, um es mit in die Schule zu nehmen, wo ich die Menge genau bestimmen kann. Ich wickle den Vogel in ein Tuch und stecke das Marmeladenglas und den Vogel in meinen Vesperbeutel. Mein Klassenzimmer ist der Physiksaal, und da stehen all die Geräte, die ich zum Messen und Wiegen brauche. Ich wiege also den Vogel und teile das Gewicht durch das Volumen des verdrängten Wassers. Ich kann nur staunen, wie leicht ein Vogel ist. Am nächsten Tag mache ich etwas ganz ähnliches mit mir selbst. Ich fülle die Badewanne bis zur Hälfte, markiere die Wasserlinie, steige dann hinein, tauche völlig unter und markiere nun, wie hoch das Wasser gestiegen ist. Ich messe diesen Unterschied und die ganzen Ausmaße der Badewanne. Daraus errechne ich mein Volumen. Ich wiege mich sorgfältig und dividiere. Mann, bei mir ist die Dichte viel, viel höher als bei einem Vogel. Diese Sache muß ich irgendwie umgehen. An dem Abend lege ich das Küken in ein Fläschchen voll Alkohol, das ich in der Schule geklaut habe, und stecke es zu dem unfruchtbaren Ei unter meine Socken. Später möchte ich den Vogel aufschneiden und mir die Knochen ansehen. Ich habe
gelesen, daß die Knochen hohl sind, und das will ich mir genauer anschauen. Es soll in einem Vogel auch Luftsäcke geben, ähnlich wie in einem Fisch. Ich will sehen, ob ich die nicht finden kann. Im Augenblick geht das noch nicht, ich könnte Birdie nicht mehr gegenübertreten. Die übrigen Vögel verlassen das Nest ohne Schwierigkeiten und lernen nach und nach fliegen, genau wie vorher die anderen. Ich sehe ihnen stundenlang zu. Ich sitze meistens vor dem Vogelhaus und beobachte sie durch das Fernglas. Das Fernglas habe ich an eine Stuhllehne gebunden, und ich knie mich hinter den Stuhl, um keinen krummen Rücken zu kriegen. Ich muß wie einer dieser Superfrommen aussehen, die den ganzen Tag beten. Mit Hilfe des Fernglases kann ich mich auf einen Vogel konzentrieren und ihn verfolgen. Ich versuche herauszufinden, was er denkt. Nach einer Weile spüre ich, daß ich selbst ein Vogel bin. Wenn ich mich dann nach zwei oder drei Stunden in meinem Zimmer umsehe, kommt mir alles fremd vor. Alles ist riesengroß, übertrieben und droht umzukippen. Ich brauche mehrere Minuten, bis ich wieder in mir drin bin. Die Jungen sind leicht zu beobachten, da sie nicht so flink sind. Ich versuche immer noch, den Unterschied in ihrem Flügelschlag zu sehen, der beim Fliegen anders ist als wenn sie gefüttert werden. Zum einen kauern sie sich hin, wenn sie gefüttert werden; sie drängen sich an den Boden und drücken dabei den Rücken durch. Die Flügel bewegen sich ohne jeden Einsatz der Brustmuskeln. Wenn sie zu fliegen versuchen, ist es genau umgekehrt. Sie drängen mit vorgereckten Schultern nach vorn und erheben sich mit einem raschen und kraftvollen Schub nach unten und hinten. Es ist, als zögen sie sich an einer Wand hoch. Ich übe diese Bewegung immer wieder hinter meinem Haus. Es macht das Springen auf die Stange um einiges leichter. Ich schaffe das inzwischen, ohne herunterzufallen.
Ich kann raufspringen, mich in der Luft drehen und mit dem Rücken zur Sprungrichtung landen. Ich kann auch auf der Stange in Hockstellung gehen und die Arme seitlich wie Flügel herabhängen lassen. Im Hocken bekomme ich das Gefühl, ein Vogel zu sein. Hinterm Haus übe ich diese Dinge jeden Abend etwa eine Stunde lang, und das Flügelschlagen übe ich eine halbe Stunde am Morgen und eine weitere halbe Stunde abends, bevor ich ins Bett gehe. Dabei mache ich die Augen zu und versuche mir einzubilden, daß ich fliege. Ich versuche, den Rhythmus in meine Schultern zu bekommen. Wenn es mir nur gelingt, das Schulterblatt zu lockern und den ganzen Schultergürtel zu stärken und dann Trapez-, Delta- und Trizepsmuskeln weiterzuentwickeln, dann könnte ich meine Schwingkraft erheblich verbessern. Mit jedem Flügelschlag springe ich hoch, um zu einem flüssigen Bewegungsablauf zu kommen. Wenn ich in meinem Zimmer übe, ziehe ich die Schuhe aus und verdopple den Teppich, damit meine Mutter mich nicht hört Meine Übungen an der Stange haben sie bereits mißtrauisch gemacht, aber ich habe ihr gesagt, wir machten das im Schulsport. Ich habe das Gefühl, sie sucht irgendwas. Ich muß mir was einfallen lassen, um sie für meine Vogelpläne zu gewinnen. Kaum daß die zweite Brut aus dem Nest ist, baut Birdie auch schon am dritten Nest. Ich hänge wieder das Sieb vom ersten Nest in den Käfig und bringe ihr zusätzliche Leinen fetzen. Alfonso muß hin- und herflitzen und verhindern, daß sie den ganzen Jungvögeln die Flaumfedern klaut. Die aus dem ersten Nest sind inzwischen schnell genug, um zu entkommen, aber in den Kleinen findet sie leichte Opfer. Ich möchte nur wissen, wie viele Federn sie wirklich rausziehen würde, wenn Alfonso nicht immer wieder eingreifen würde. Mich stört die Vorstellung, sie könnte sie völlig kahl rupfen. Das scheint so verrückt.
Sobald das neue Nest fertig ist, fängt sie an, Eier zu legen. Wieder legt sie fünf. Die ganze Prozedur beginnt von neuem. Es ist jetzt Mai, und sie wird mit der dritten Brut gerade fertig sein, ehe der heiße Sommer beginnt. Die Vögel aus dem zweiten Nest haben sich ins große Vogelhaus vorgearbeitet. Sie lassen sich immer noch gerne füttern, und sie jagen ihre älteren Brüder und Schwestern durch den Käfig. Diese fliegen immer weg, nur einer nicht, den ich Alfonso II nenne; es ist der dunkle Vogel. Er versetzt ihnen gewöhnlich einen kurzen Schnabelhieb auf den Kopf oder an den Hals. Alfonso wird von den Jungen gnadenlos herumgehetzt. Er zieht sich, so oft es nur geht, auf die oberste Stange zurück. Nach und nach schaffen sie es alle, Eifutter zu fressen, und einige experimentieren sogar mit Samenkörnern herum. Die ersten vier sind hinter das System gekommen, mit dem sich die Körner knacken lassen; sie verbringen ihre ganze Zeit damit, hintereinander herzujagen oder sich im Singen zu üben. Am Anfang machen sie dabei einen ganz schönen Krach. Einer der dunklen Vögel aus dem zweiten Nest hat bereits zaghafte Singversuche unternommen; es könnte also ein Männchen sein. Ich habe nun neun Vögel in dem Vogelhaus. Wenn ich ins Zimmer komme, gibt es ein plötzliches Flügelflattern, da sie alle zu den höherliegenden Stangen fliegen. Ich verbringe viel Zeit mit ihnen, und sie sind alle zahm. Ich mache das Vogelhaus jeden Tag sauber. Die Vögel stört meine Anwesenheit überhaupt nicht, und sie landen auf meinem Kopf oder meinen Schultern. Nur wenn ich eine hastige Bewegung mache, ängstigen sie sich und fliegen weg. Die Futterrechnungen steigen. Ich suche in der Innenstadt herum, bis ich eine große Samenhandlung finde, wo ich das Vogelfutter – ein Mischfutter für Roller – zentnerweise kaufen kann. Der Zentnersack kostet achtzehn Dollar, aber das ist
nicht mal ein Drittel von dem, was ich bisher zahle. Sie sagen, sie liefern frei Haus. Als der Sack kommt, stelle ich ihn in die Garage in eine alte Öltonne, die ich unten auf der Müllhalde gefunden und ausgewaschen habe. Bei Vogelfutter muß man wirklich auf die Mäuse aufpassen. In der Abenddämmerung oder am frühen Morgen ist es für einen Vogel schwer, zwischen Mausdreck und Samenkörnern zu unterscheiden. Mausdreck ist für Vögel. Meine Mutter redet auch immer von Mäusen; sie ist überzeugt, daß Vögel Mäuse ins Haus locken. Sie hat eine leidenschaftliche Abneigung gegen Mäuse. Eines Morgens erwische ich eine am Boden des Vogelhauses. Wahrscheinlich war sie sowieso schon im Haus, aber davon könnte ich meine Mutter nie überzeugen. Ich sperre die Maus also in eine kleine Schachtel und lasse sie in der Nähe der Schule frei. Wenn meine Mutter je dahinterkommt, ist alles zu spät. Vögel, Käfige, restlos alles wird aus dem Fenster fliegen. Ich muß sowieso schon täglich darauf gefaßt sein. So ein bißchen rechne ich jedesmal damit, wenn ich von der Schule komme und auf mein Zimmer gehe. Im dritten Nest schlüpft aus jedem Ei ein Vogel aus, insgesamt also fünf. Als ich sie mir ansehe, stelle ich fest, daß diesmal die meisten eine helle Färbung haben. Es ist ein solches Gewühl unten im Nest, daß man gar nichts mit Sicherheit sagen kann. Es ist jetzt wärmer, so daß Birdie nicht mehr so fest auf den Kleinen sitzt. Mit gespreizten Beinen steht sie fast über dem Nest. Die jungen Vögel, die bereits flügge sind, werden dermaßen lästig, daß ich die Tür am Zuchtkäfig zumache, um sie draußen zu halten. Ich gebe ihr Futter in den Käfig, damit sie tagsüber etwas hat, wenn ich fort bin. Sobald ich nach Hause komme, öffne ich die Käfigtür, und Alfonso flitzt nach oben, um bei der Abendfütterung zu helfen. Birdie hat sich zu einer wunderbaren Mutter entwickelt.
Bei dem warmen Wetter und der wachsenden Zahl von Vögeln muß selbst ich zugeben, daß in meinem Zimmer ein eindeutiger Vogelgeruch herrscht. Jede Woche brauche ich ein Dutzend Eier und ein Paket Haferflocken, um genügend Eifutter herzustellen. Außerdem weiche ich normales Vogelfutter auf und vermische es mit dem Eifutter, um die Jungen zum Knacken der Samenkörner zu ermutigen. Ich füttere sie morgens gleich nach dem Aufwachen, dann kurz bevor ich zur Schule gehe, wenn ich von der Schule heimkomme und dann noch einmal vor dem Schlafengehen. Sie fressen gewaltige Mengen. Für die Sämereien und Eier ist fast mein ganzes Geld draufgegangen. Ich muß irgendeine Möglichkeit finden, wie ich während der Sommerferien zu Geld kommen kann. Wie im Flug vergeht die Zeit, bis auch die dritte Brut bereit ist, aus dem Nest zu springen. Drei davon sind so gelb wie Birdie. Von diesen sind zwei am Kopf gezeichnet, der eine mit einem dunklen Spritzer über dem linken Auge, der andere mit einer leicht nach rechts verrutschten schwarzen Haube. Einer ist dunkel wie Alfonso, und einer hat dunkle Flügel und eine helle Brust und einen rein gelben Kopf. Es herrscht wirklich ein Gedränge in dem Nest. Birdie ist die reinste Heldin, wie sie Futter herbeischafft, das Nest sauber hält und die ganze Mannschaft bemuttert. Der Platz auf dem Nestrand reicht einfach nicht für alle aus, und sie fangen an, einander runterzustoßen. Zum Glück ist es jetzt so warm, daß sie nicht Gefahr laufen, zu erfrieren. Nach drei Wochen haben alle fünf das Nest verlassen und sitzen am Boden. Genau zu diesem Zeitpunkt begehe ich meinen Fehler. Ich hätte Alfonso aus dem Vogelhaus nehmen und in einen eigenen Käfig sperren sollen. Bevor ich noch richtig weiß, was los ist, baut Birdie schon wieder ein Nest. Ich hab ihr kein neues Sieb angeboten, aber sie baut in einer Ecke ganz hinten im Käfig, eingeklemmt zwischen einer Sitzstange und den Gitterstäben
des Käfigs. Alfonso hat seinen Zauberstab geschwungen, und sie will ihre Eier legen und weiß nicht wohin. Ich mache das Nest kaputt, aber sie repariert es in größter Eile. Ich nehme das ganze Nistmaterial aus dem Käfig, aber sie greift die Jungen an und zieht ihnen Federn raus, bis man glaubt, es schneit gelbe Flocken im Käfig. Mehrere der Jungen sehen an den Schenkeln und am Bauch immer kahler aus. Ich gebe schließlich nach. Sie scheint in guter Verfassung, und so säubere ich das Sieb, wasche es aus und gebe es ihr mit einigem Nistmaterial zurück. Sie hat das Nest in einem Tag fertig gebaut und legt noch am selben Abend das erste Ei. Es werden wieder fünf Eier. Sie bleibt diesmal nicht so konsequent im Nest, und ich habe die leise Hoffnung, daß keine Jungen schlüpfen werden. Ich beobachte Birdie sorgfältig, suche nach Zeichen der Erschöpfung, aber sie piept mich freundlich an und erscheint – trotz einer gewissen Unruhe – mit ihrem Schicksal glücklich. Ich frage mich, ob ihr klar ist, daß das ganze Vogelhaus voll singender, kreischender, sich balgender Vögel, mit Ausnahme Alfonsos, irgendwie aus ihr herausgekommen ist. Es ist, als sei das alles aus dem Nichts gekommen. Ich kann es immer noch nicht glauben. Sie brütet auch diesmal wieder das ganze Gelege aus. Ich muß die Türen ständig offen lassen, damit Alfonso mit dem Füttern helfen kann. Ich glaube nicht, daß Birdie es ohne ihn schaffen würde. Alfonso hält die anderen Jungen vom Zuchtkäfig fern und bleibt den größten Teil des Tages und die ganze Nacht bei Birdie im Käfig. Ich bin inzwischen so weit, daß ich morgens nur widerwillig die hartgekochten Eier schäle und zerquetsche, um sie unter den Haferbrei zu mischen. Der Geruch der Eier und des Breis, vermischt mit dem Geruch der Gabel, mit der ich die Eier zerquetsche, ist einfach zuviel. Diesmal sind die Jungen sehr dunkel. Drei haben Alfonsos dunkle Färbung, und zwei sind hell und haben Zeichnungen
am Kopf. Es herrscht das gleiche Gedränge im Nest, und es ist noch heißer. Sobald der erste Vogel auf den Nestrand klettert, nehme ich Alfonso heraus. Auf der Müllhalde finde ich einen alten Käfig und richte ihn wieder her. Ich will ihn nicht dadurch erschrecken, daß ich ihn einfange. Falls ich überhaupt Pluspunkte bei ihm habe, würde ich sie rasch verlieren, wenn ich ihn durchs Vogelhaus scheuchte und mit den Händen zupackte. Er würde mich sicher beißen und mir eine Blutvergiftung anhängen. Ich stelle also den Käfig, in dem etwas Eifutter liegt, in das Vogelhaus und warte, bis er von selbst hineingeht; dann bin ich sofort da und mache die Tür zu. Ich nehme den Käfig aus dem Vogelhaus und hänge ihn über meinen Schreibtisch am Fenster. Es kommt zu einem regen Piepen und Quiepen im Zimmer. Alfonso ist überzeugt, daß ich jetzt endlich mein wahres Gesicht gezeigt habe. Ich möchte wissen, was er Birdie über die neue Situation erzählt. Sie ist hin- und hergerissen, möchte einerseits Alfonso zuliebe das Nest verlassen, andererseits die Jungen versorgen. Sie fliegt an das Gitter des Vogelhauses und blickt zu ihm hinüber. Alfonso singt ihr ein prachtvolles Lied. Ich fühle mich schrecklich. Ich kann es nicht ausstehen, wenn man mir etwas antut und sagt, es sei nur zu meinem Guten; doch genau das mache ich jetzt mit Birdie und Alfonso. Die Versuchung ist groß, Alfonso wieder ins Vogelhaus zu lassen und das Risiko einzugehen. Aber ich weiß auch, dann wäre das nächste Nest fällig, und das würde Birdie wahrscheinlich nicht überleben. Für sie beide kommt jetzt die Zeit der jährlichen Mauser, und solange die dauert, sollten sie nicht mit einer Brut beschäftigt sein. Die Vögel sind unheimlich anfällig, wenn sie sich mausern und ihr ganzes Federkleid austauschen. Birdie findet sich schließlich mit ihrem Schicksal ab, und das bin in dem Fall ich. Sie übernimmt wieder die Fütterung der Jungen, bis sie den Käfig verlassen. Sobald sie alle unten am
Boden sind, nehme ich das Nest heraus. Diesmal macht Birdie keine Anstalten, ein neues Nest zu bauen. Sie geht hinaus ins Vogelhaus und fliegt herum. Als die Vögel so weit sind, daß sie sich selber füttern können, nehme ich Birdie aus dem Vogelhaus und hole den Zuchtkäfig heraus. Ich lasse Alfonso wieder zu den Jungen. Ich möchte, daß Birdie sich gründlich ausruhen kann. Immer wenn ich in meinem Zimmer bin, lasse ich sie frei fliegen. Es ist wie in alten Zeiten. Sie schläft in dem Käfig, der wieder – wie damals – auf dem Bord bei meinem Bett steht. Al und ich bekommen den Job als Hundefänger, und ich verdiene genug, um meine Futterrechnungen zahlen zu können. Meine ganze Freizeit verbringe ich damit, die Vögel zu beobachten. Ich überlege mir, wie der nächste Schritt aussehen soll.
Als ich zu meiner nächsten Sitzung zu Weiss komme, spüre ich sofort, daß er mir zusetzen wird. Ich weiß aber, daß ich ihm nichts sagen werde, ich werde ihm ganz bestimmt nichts über Birdy erzählen. Er soll nicht herausfinden, daß Birdy sich selbst füttert oder aufsteht und umhergeht. Ich bin überzeugt, Weiss kann Birdy nicht weiterbringen. Wenn ich nur noch ein bißchen länger hierbleiben kann, vielleicht packt’s Birdy dann. Wir salutieren, und er lehnt sich zurück, faltet die Hände über dem fetten Bauch und lächelt mich an. Er hat die Akte aufgeschlagen vor sich liegen. Er hat da auch noch eine zweite Akte liegen. Ich könnte wetten, es sind meine Unterlagen aus Dix. Der führt irgendwas im Schilde, keine Frage. Ich hab gar keine Wahl, ich werd’s einfach nehmen wie’s kommt. Ich versuche, mich in eine gute sizilianische Stimmung zu versetzen. Ich rede mir ein, wir sitzen in einem Café in Cambria, und die Sonne brennt auf uns herab. Weiss ist ein Stammeshäuptling von der anderen Seite der Berge. »Also, Sergeant. Wie ist es gestern gelaufen?« »Gut, Sir. Ich habe von früher geredet, wie wir im Winter manchmal Schlittschuh gelaufen sind. Ich halte es für möglich, Sir, daß mir der Patient zugehört hat.« »Was hat Sie glauben lassen, daß er zuhörte, Sergeant?« »Einfach die Art, wie er dasaß, Sir. Er schien mich zu beobachten.« Ich muß hier vorsichtig sein. Egal was kommt, ich will auf keinen Fall, daß Weiss auf die Station gelaufen kommt. Birdy würde bestimmt annehmen, daß ich gegen ihn arbeite. Ich weiche ein wenig zurück. »Wie macht sich denn Ihr Kiefer, Sergeant? Ich habe Ihre Unterlagen hier, und Sie scheinen da ziemlich ernsthaft verwundet worden zu sein. Wie lange haben Sie denn noch bis zur nächsten Operation?«
Er ist heute morgen wieder Psychiater, ganz klar. Meine Gesundheit interessiert ihn nicht im geringsten. Er will da auf irgend etwas hinaus. »Keine Probleme, Sir. Nächste Woche geht’s in die letzte Runde. Da legen sie mir die letzten Schichten auf und machen alles fertig.« Weiss beugt sich vor und zieht meine Akte zu sich her. Er schlägt den Deckel auf. Es ist meine Akte, ganz klar. Ich kann meinen Namen erkennen. »Sergeant, erzählen Sie mir doch mal etwas mehr über diese Geschichte, die Sie vor’s Kriegsgericht in Fort Cumberland gebracht hat. Was ist denn nun wirklich passiert?« »Ich wüßte nicht, was das mit dem Patienten zu tun hat, Sir. Das ist alles schon so lange her.« »Lassen Sie das mich entscheiden, Sergeant.« Dieser Drecksack! »Nun, Sir, wenn Sie glauben, daß es hilft, erzähl ich Ihnen gerne, was ich noch weiß.« Irgendwie muß ich diesen Mist von Birdy fernhalten. Er sitzt da und grinst mich über seinen gefalteten Händen an. Ich grinse zurück, ein sizilianisches Grinsen, das Grinsen der Südländer, und das heißt: »Wir wissen beide, daß das alles Blödsinn ist, kommen wir endlich zur Sache.« Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück, gibt einen tiefen Seufzer von sich und macht hinter den Brillengläsern die Augen zu, während er einen gelben Bleistift vom Schreibtisch nimmt. Er stellt den Bleistift auf seine Spitze, fährt mit den Fingern daran herunter, dreht dann den Bleistift herum, so daß der kleine Radiergummi unten ist, und gleitet wieder mit den Fingern daran herunter. Es sieht irgendwie aus, als ob er dem Bleistift auf die sanfte Tour einen abwichst. Ich überlege mir, ob ich mich davonschleichen soll; ich will nicht über Cumberland
reden. Mann, Birdy, was ich deinetwegen alles mit mir machen lasse. »Nun ja, Sir, ich war bei der Nationalgarde in Pennsylvania, und im Dezember schickten die mich nach Fort Cumberland, ich sollte dort bei der regulären Armee meinen Wehrdienst ableisten.« Ich muß diesen Arschlöchern in Cumberland erst zeigen, wie man eine Bajonettscheide am Gurt festmacht. Der Diensthabende ist ein T-5, sieht aus wie ein Schlawack, aber er sitzt den ganzen Tag bloß im Mannschaftsraum rum und läßt sich vollaufen. Scheiße, Mann, ich übernehm den Laden, in einem halben Jahr bin ich General. Am dritten Morgen müssen wir auf der Straße vor der Kaserne antreten. Es ist so kalt, daß meine Spucke am Boden schon gefroren ist, bevor ich den Fuß draufstellen kann. Ein Lieutenant und ein Sergeant kommen aus einem Schuppen auf der anderen Straßenseite. Der Sergeant läßt uns stillstehen, um die Post zu verteilen. Meine Füße sind am Erfrieren, meine Nase ist kurz vor dem Abfallen, meine Finger sind in den Handschuhen steif gefroren. Keiner von uns bekommt Post. Dann schreit der Sergeant wieder Achtung!, und jetzt ist der Lieutenant dran. »Okay, Männer. Nachher könnt ihr wegtreten und zurück ins Quartier. Essen um zwölf. Vorher stellt aber Unteroffizier Lumbowski Sonderkommandos zusammen.« Der T-5, der wie ein Schlawack aussieht, schreitet die Linie ab. Von Zeit zu Zeit bleibt er stehen und zeigt auf einen der Männer. Er kommt zu mir, zeigt auf mich und sagt: »Kohle.« Ist es zu fassen, ich bin auch noch stolz darauf, daß er mich ausgewählt hat. Die anderen können wegtreten, und etwa fünfzehn von uns bleiben da. Weiss sitzt immer noch weit zurückgelehnt auf seinem Stuhl, ein Grinsen im Gesicht, die Augen hinter der Brille geschlos-
sen. Fast erwarte ich, daß er zu schnarchen anfängt, aber er schläft keineswegs. Ich überlege mir, wie sehr ich diese Geschichte verdrehen kann, ohne daß er die Augen aufmacht. Der T-5 ruft uns zusammen. Der Hund ist ganz schön stämmig, nicht groß, aber breit, ein typischer Schlawack, erinnert mich an einen Polacken aus Cheltenham, den ich bei den Bezirksmeisterschaften auf die Schultern legte. Noch in der ersten Runde hab ich den gepackt – stark, aber strohdumm. Wie ich den Blödmann auf den Schultern habe, heult der, die Tränen laufen ihm übers rote Gesicht, während ich ihn in einen HalbNelson zwinge und einen Untergriff ansetze. Der T-5 weist das Kohlenkommando an, sich am nächsten Morgen um fünf bei ihm am Schuppen zu melden. Wir sind zu viert. In der Kaserne sieht’s aus wie nach einem mittleren Erdbeben. Alle haben ihr Zeug einfach auf den Boden geworfen und drängen sich um den Ofen. Ich nütze die Gelegenheit zu einem Hindernislauf kreuz und quer durch die Kaserne; mal weich ich dem Gerümpel aus, mal setz ich drüber weg. Mir graust’s bei dem Gedanken, mit solchen Arschgeigen in den Kampf ziehen zu müssen. Am nächsten Morgen weckt mich so ein Arschkriecher von einem Gefreiten, und ich geh runter in die Küche zum Essenfassen. Ich bin der erste, und dabei hab ich sogar schon mein Bett gebaut. Die Küche ist warm und voller Dampf. Ich bin schon am Essen, als der Rest des Kommandos anzuckelt. Danach stehen wir draußen vor der Kaserne zehn Minuten im Dunkeln und warten. Ich hab zwei Paar Socken an, aber meine Füße sind schon kalt. Meine Arme sind vom Impfen her noch ganz steif. Ich laufe auf der Stelle und bewege meine Arme wie eine Windmühle. Die anderen drei Trottel hocken zusammengekrümmt da und rauchen. Endlich kommt der T-5 raus. Er blickt nicht auf und zählt uns auch nicht. Vielleicht kann er nicht bis vier zählen. Wir folgen
ihm zur Fahrbereitschaft, wo schon ein Lastwagen auf uns wartet. Im Führerhaus sitzen zwei Nigger. Ich lächle ihnen zu, aber sie ignorieren mich. Der T-5 klappt die hintere Wagenklappe herunter. »Okay, rauf mit euch, ihr Scheißköpfe.« Mit einem kräftigen Schwung bin ich als erster auf der Ladefläche. Zwei der Typen schaffen es nicht allein, also helfe ich ihnen. Die Pritsche ist mit Blech ausgelegt, und der feuchte schwarze Kohlenstaub macht alles naß und glitschig. Vorne am Führerhaus lehnen ein paar Schaufeln. Es gibt keine Sitze. Der verdammte Kohlenstaub wird die ganzen neuen Mäntel versauen. Ich hocke mich vorn neben die Schaufeln. Die anderen Nullen nehmen links und rechts von mir Platz. Keiner sagt ein Wort. Wir gucken einander nicht mal an. Der Lastwagen fährt mit einem Ruck an und geht mit soviel Schwung in die erste Kurve, daß wir alle auf dem Arsch landen und über die Pritsche schlittern. Wir hören, wie diese Hunde vorne im Führerhaus lachen. Der T-5 guckt durch das kleine Fenster; er läßt sich den Spaß nicht entgehen. Wir rasen über eine Art Feldweg und werden pausenlos durcheinandergewirbelt, bis wir auf die Hauptstraße einbiegen, die nach Harrisburg führt. Unsere Knie sind von den Rutschpartien schwarz verschmiert, und Herr Gott, ist das kalt! Wir sind dem Wind schutzlos ausgeliefert. Gesicht und Ohren sind wie abgestorben. Nach einer halben Stunde kommen wir zu einigen Kohlehalden in der Nähe des Flusses. Der Lastwagen hält, und der T-5 kommt nach hinten, um die Wagenklappe zu öffnen. Ich hab wohl aufgehört zu reden und mich meinen Gedanken überlassen, denn Weiss macht die Augen auf und sagt: »Nur weiter, Sergeant, erzählen Sie von dem Zwischenfall, der Sie vors Kriegsgericht gebracht hat. Erzählen Sie mir alles, was Ihnen im Gedächtnis geblieben ist.«
»Nun ja, Sir, sie brachten uns mit einem Militärtransport nach Harrisburg. Verantwortlich für den Transport war Corporal Lumbowski, jener Unteroffizier also, auf den ich losgegangen bin und der mich vors Kriegsgericht brachte. Außerdem waren da noch die zwei Gefreiten, die den Lastwagen fuhren, und wir vier vom Kohlenkommando.« Ich überlege mir fieberhaft, wie ich es anstellen soll, Weiss bei Laune zu halten und doch nicht zuviel zu erzählen. Ich hoffe, ich kann so davon berichten, daß ich nicht wie ein wildgewordener Totschläger dastehe. Ich springe als erster vom Lastwagen, und meine Beine knicken ein. Ich spüre schon gar nichts mehr. Einer der Typen macht einen Kopfsprung und reißt sich im Kies die Hand auf. Der T-5 steht da und zeigt auf den Lastwagen. Er trägt dicke Fausthandschuhe aus Leder. »He, ihr verdammten Schwachköpfe, was issen mit den Schaufeln? Ich sollt euch grad mit den Händen schippen lassen. Du da!« Er zeigt auf mich. »Ja, dich mein ich, du Blödmann. Spring da rauf und hol die gottverdammten Schaufeln, aber bißchen plötzlich! Wir ham nicht den ganzen Tag!« Ich stütze mich mit einer Hand ab und bin mit einer blitzschnellen Flanke auf der Pritsche. Damit hat dieser Trottel nicht gerechnet. Ich packe die Schaufeln, und deute mit dem Kopf auf einen der Burschen im Kommando. »Hier, fang!« Ich werfe ihm eine Schaufel zu. Dieses Arschloch verpaßt sie nicht nur, er duckt sich! »Laß den Quatsch, du blöder Ficker! Gib sie einfach runter. Das ist Staatseigentum. Willst mir wohl die ScheißKostenrechnung verhunzen, was?«
Ich springe runter und gebe die Schaufeln aus. Die Nigger fahren den Lastwagen rückwärts an eine riesige Kohlenhalde ran. Der T-5 nimmt meine Schaufel. »Also, das da ist ne Schaufel und das da der Teil, mit dem geschafft wird. Das da ist der Stiel. Ihr packt die Schaufel am Stiel und schiebt den flachen Teil unter die Kohlen da und werft die Kohlen auf den Laster. Kapiert? Alles klar?« Also doofer geht’s nicht. Wir fangen alle an zu schaufeln. Die Kohlen sind so hartgefroren, daß wir die ersten paar Mal kaum die Schaufel reinkriegen; wir müssen mit Fußtritten nachhelfen. Wir kommen uns dauernd in die Quere. Der T-5 setzt sich zu den Niggern ins Führerhaus. Damit es dort schön warm bleibt, lassen sie den Motor laufen. Für uns hinterm Lastwagen bleibt nur das Kohlenmonoxyd übrig. Keiner redet; wir sind im Schaufeln alle nicht besonders gut; von der Impfung tun uns immer noch die Arme weh, und die neuen Mäntel engen uns ein. Das wird ein langer Vormittag werden, bis die Kohlen auf dem Lastwagen sind. »Nun, Sir, etwa zwei Stunden lang schaufelten wir Kohlen auf den Lastwagen. Keiner von uns hatte auf diesem Gebiet viel Erfahrung, und der Unteroffizier vom Dienst, Corporal Lumbowski, wurde ungeduldig. Er mußte seinen Auftrag erledigen, und wir waren weit hinter dem Zeitplan zurück.« Weiss nickt und gibt mit ein paar »hmm« zu verstehen, daß er zuhört. Ich glaube, es macht ihm richtig Spaß, diesen alten Kram anzuhören. Vielleicht werden Leute deshalb Psychiater, weil sie verrückte Geschichten mögen. Gerade als ich anfange zu schwitzen, springt dieser vertrottelte T-5 aus dem Führerhaus, macht seine Zigarette aus und kommt zu uns nach hinten. Ich sehe, wie über dem Kohlenhaufen, den wir bereits raufgeschaufelt haben, die Nigger aus dem kleinen Fenster gucken. Der T-5 hat ihnen eine kleine Schau versprochen. Ich rechne mit dem Schlimmsten. Der T-5 guckt
eine halbe Minute zu und kommt dann zu mir rüber. Er nimmt mir die Schaufel aus der Hand und schiebt mich weg. »Vom Schaufeln hast du keine Ahnung, Blödmann. Hier, so geht das!« Er stößt die Schaufel in die Kohlen, und mit einer einzigen Bewegung kippt er sie und schwingt sie über seine Schulter. Und gleich noch einmal. Sie haben diesem Miststück nicht umsonst das Kohlenkommando überlassen, der ist bestimmt Grubenarbeiter oder so was. Die anderen Typen haben aufgehört und gucken zu. Er stößt die Schaufel wieder in meine Richtung. »Und jetzt mal ’n bißchen Tempo! Nixtuer haben bei mir ausgeschissen!« Er geht zurück. Die Tür geht auf und sie lachen, ein tiefes sattes Niggerlachen. Das Lachen hört sich richtig warm an. Ich bin so steif gefroren, da würde nicht mal mein sizilianisches Lachen funktionieren. Ich fang wieder an zu schaufeln. Fünf Minuten später steht er wieder da. Er guckt einfach zu und schlägt seine Fausthandschuhe gegeneinander und stampft mit den Füßen auf. Ich will es dem Dreckskerl zeigen, stoße die Schaufel rein, lade sie richtig voll und schwinge sie mit aller Kraft über die Schulter, um alles in den Lastwagen zu bringen. Von einem verblödeten Schlawacken läßt sich Al Columbato noch lange nichts vormachen. Er kommt zu mir rüber. »Himmel Herrgott, Blödmann, du sollst das Zeug auf und nicht unter den verfickten Laster werfen. Los, geh da runter und kratz alles zusammen. Und dann ziel mal ’n bißchen besser und schmeiß nicht alles durch die Gegend.« Fünf Tage in der Armee und schon hab ich einen gefunden, den ich umbringen will. Ich geh in die Knie und kratze die Kohlen unterm Lastwagen hervor. Es ist keine halbe Schaufel voll. Ich fange wieder an zu schaufeln. Schon nach der zweiten
Schaufel packt er mich am Arm und will mir die Schaufel entreißen. Ich ziehe sie weg. »Laß deine dreckigen Schlawackenhände von meiner Schaufel, du Scheißkopf.« Alles kommt zum Stillstand, keiner rührt sich. Der T-5 glotzt; ich kann nicht mehr zurück. Ich laß mich von so einem blöden Arschloch nicht begrapschen, und wenn er noch so viele Streifen am Ärmel hat. Weiss hat aufgehört, seinem Bleistift einen runterzuholen. Ich sehe die verkniffenen Augen hinter den Brillengläsern. Er hält praktisch die Luft an, wartet auf den blutigen Höhepunkt. Das Dumme ist, ich möchte den Kerl mal so richtig schockieren. Sei’s drum, der Krieg ist vorbei. Die können mich nicht mehr einsperren. Ich steh vor meiner Entlassung. Ich hab mehr als genug Punkte gesammelt, mit dem Verwundetenabzeichen und allem. Der T-5 kommt einen Schritt auf mich zu und streckt sein häßliches Gesicht vor. »Wie war das, Soldat?« »Arschloch, du hast mich gut verstanden. Laß die dreckigen Hände von meiner Schaufel. Ich hab zu arbeiten.« Ich fange wieder an zu schaufeln. »Ach ja? Ach ja?! Da ham Sie sich was Böses eingebrockt, Soldat. Her mit der Schaufel. Sie sind hier fertig, ich werde Meldung machen.« Er greift nach der Schaufel. Ich geh vielleicht zwei Schritte zurück, bis zum Rand der Kohlenhalde und dann schlag ich zu, aus der Hüfte heraus. Herrgott, ich muß schon sagen, das tut gut! Ich erwische ihn voll im Gesicht, frontal, und er fällt!!! Weiss atmet schwer; vielleicht hat er gleich einen Orgasmus. Dem T-5 rutschen die Füße weg, und er liegt flach auf dem Rücken auf dem Kohlenhaufen. Er will sich aufrappeln, fällt
aber wieder hin. Sein Gesicht wirkt irgendwie unscharf, als habe ihm jemand einen Seidenstrumpf drübergezogen. Erst ist es weiß, dann kommt das Blut. Die zwei Nigger sind aus dem Lastwagen gesprungen. Das Blut fließt jetzt immer stärker. Der T-5 fängt an, Zähne auszuspucken. Der Nigger hält den Kopf des Schlawacken hoch, damit das Blut abfließen kann. Es ist dunkel und zähflüssig, und vorne im Mund ist ihm nicht ein einziger Zahn geblieben. Der andere Nigger hat eine Pistole auf mich gerichtet, die er mit beiden Händen umklammert. Er zittert, und er hat den Finger am Abzug. Ich kann nicht sagen, ob sie entsichert ist. Er nimmt mich mit wildem Blick ins Visier. »Mann, das’n dicker Hund. Dafür machen se dich ’n Kopf kürzer, Mann!« Ich versuche seinem wilden Blick standzuhalten. Was bleibt mir schon anderes übrig? Die Wahrscheinlichkeit, daß er schießt, ist so groß wie die, daß er es nicht tut. »Nimm die Kanone weg, Nigger. Ich bring dich nicht um, noch nicht!« Mir wird von innen heraus kalt. Der Nigger senkt die Pistole, behält sie aber in der Hand. Der Schlawack setzt sich auf. Er weiß immer noch nicht, was passiert ist. Weiss beugt sich vor, hat die Augen jetzt weit offen. Sein Kiefer hängt herab, aber er sabbert noch nicht. »Danach, Sir, bekam ich Stubenarrest, und drei Tage später wurde ich vor ein einfaches Militärgericht zitiert. Ich bekam einen Verweis, der in mein Führungszeugnis eingetragen wurde, und sie versetzten mich nach Benning zur Grundausbildung bei der Infanterie. Es war nicht der ideale Einstieg zu einer Karriere in der Armee, Sir.« General Columbato wurde also vom Kriegsgericht verurteilt und nach nur fünf Tagen in der Armee zum gemeinen Soldaten degradiert. Das Ganze war ein Witz. Die restliche Zeit, die ich
noch in Cumberland bin, darf ich die Kaserne nicht verlassen; das heißt: keine Arbeitskommandos, kein Herumstehen in der Kälte. Außerdem behalten sie die ersten sechs Monate die Hälfte von meinem Sold ein. Lachhaft, die Hälfte von vierundfünfzig Dollar im Monat. Als das Urteil gesprochen ist, sieht der verantwortliche Captain, daß es mir nichts ausmacht. Ich gebe mir mächtig Mühe, über die ganze Geschichte zu grinsen. Er lehnt sich zu mir vor. »Soldat, ich gebe Ihnen zusätzlich den Befehl, Corporal Lumbowski im Lazarett zu besuchen!« »Das kann ich nicht, Sir.« Er steht auf und lehnt sich noch weiter vor, und vor lauter Machtbefugnis gehen ihm die Augen über. »Und warum nicht, Soldat. Das ist ein Befehl!« »Ich darf die Kaserne nicht verlassen, Sir.« Ich verziehe keine Miene, und er ist sauer. Vielleicht muß ich noch einmal vors Kriegsgericht, wegen Beleidigung eines Offiziers. Ich arbeite mich langsam hoch. Der Captain läßt mich nicht aus dem Auge, während er eine Schublade an seinem Schreibtisch rauszieht. Er schreibt etwas auf ein Blatt Papier und gibt es mir. Ich nehme es, ohne einen Blick drauf zu werfen. »Damit kommen Sie ins Lazarett, Soldat.« »Vielen Dank, Sir.« Ich nutze die Gelegenheit, salutiere zackig, und er erwidert den Gruß. Ich dreh mich auf dem Absatz und bin draußen. Ich geh durch die Schreibstube, die Stufen hinunter, über die Straße und in die Kaserne. Ich werf mich auf meine Falle, so wie das all die anderen Blindgänger hier rings um mich tun. Ich borge mir ein Comic-Heft von der Falle nebenan, »Captain Marvel«. Die Falle ist mit Comic-Heften übersät. Fünf Tage und vielleicht hundert Comic-Hefte später kommt die Überweisung nach Benning. Diesen T-5 seh ich nie wieder.
Ich bin fertig, und Weiss will mehr. Wir sitzen ein paar Minuten schweigend da. »Und das ist die ganze Geschichte, Sergeant?« »Jawohl, Sir.« »Und Sie meinen nicht, so was könnte wieder mal vorkommen?« »Nein, Sir. Mir war das eine Lehre.« »Sind Sie je gegen den Patienten handgreiflich geworden?« Endlich kommt er mit der großen Preisfrage! »Nein, Sir. Wir waren Freunde.« Er fährt wieder ein paarmal am Bleistift rauf und runter. »Haben Sie eine Ahnung, Alfonso, warum Sie diesen aggressiven, feindseligen Impulsen zum Opfer gefallen sind? Hat Ihr Vater Sie einmal schlimm verprügelt? Haben Sie tief drin das Gefühl, verletzt worden zu sein?« Himmel Arsch!! Der hat mir mit all dem Fett und dem Lächeln und den Brillengläsern was vorgemacht. Er weiß Bescheid. Ich komm langsam auch dahinter. Mich plagen ein paar verrückte Dinge, wie Popeye.
Man ist was man ißt, Nur damit ihr es wißt, Ich bin Popeye, der tolle Matrose: Tuut!!! Tuut!!! Ich eß meinen Spinat Und bin stark wie’n Pirat, Ich bin Popeye, der tolle Matrose: Tuut!!! Tuut!!! Scheiße mit Ei!!!!
Diesen ganzen Sommer verbringe ich – wenn ich nicht gerade als Hundefänger unterwegs bin – damit, die Vögel zu beobachten. Es sind achtzehn junge Vögel, und dazu Birdie und Alfonso. Wir bringen die Mauser hinter uns, ohne einen einzigen Jungvogel zu verlieren. Es macht mir richtig Spaß, ihre verschiedenen Flugstile kennenzulernen. Jeder Vogel hat seine Besonderheiten. Das Fliegen ist das, was mich am meisten interessiert. So wie sich Mr. Lincoln für die Färbung interessiert, interessiere ich mich fürs Fliegen. Ich könnte pausenlos zusehen; es ist fast, als ob ich selber fliege. Mit der Sommerhitze nimmt auch der Vogelgeruch in meinem Zimmer eindeutig zu. Meine Mutter steckt immer wieder den Kopf durch die Tür und rümpft die Nase. Ich muß etwas unternehmen, bevor sie durchdreht. In der Zwischenzeit experimentiere ich mit den jungen Vögeln. Ich will herausfinden, wieviel Gewicht ein Kanari beim Fliegen mit sich herumtragen kann. Ich will außerdem wissen, wie wichtig Flügel für das Fliegen sind. Würde ein Vogel ohne Flügel immer noch versuchen zu fliegen? Ich nehme einen der jungen Vögel aus dem letzten Nest und zupfe ihm die Flugfedern raus, sobald sie durch die Haut brechen. Er macht alles, was auch die anderen Vögel machen, nur daß er beim Verlassen des Nestes nicht fliegen kann. Er hüpft am Boden des Käfigs herum. Die anderen wachsen und fliegen bereits im Vogelhaus herum, während er immer noch an den Käfigboden gefesselt ist. Sobald jedoch seine Flugfedern durchgebrochen und gewachsen sind, hat er die anderen bald eingeholt und fliegt so gut wie sie. Ich suche mir einige der besten Flieger unter den jungen Vögeln aus und befestige Gewichte an ihren Beinen. Als Gewichte verwende ich kleine Ringe aus Kitt. Nach und nach steigere ich das Gewicht, indem ich ihnen immer mehr Ringe an die Beine
hänge. Meine Berechnungen zeigen, daß ich unter fünfundvierzig Pfund kommen müßte, um bei meinem Volumen die Dichte eines Vogels zu erreichen. Das schaffe ich nie. Und nun hoffe ich, daß Vögel auch bei einer höheren Dichte noch fliegen können. Zum Wiegen der Vögel stelle ich unsere Küchenwaage in das Vogelhaus. Ich streue ein wenig Futter in die Waagschale und warte. Wenn einer der Vögel auf der Waagschale landet, um zu fressen, lese ich sein Gewicht ab. Auf die Weise bekomme ich das Gewicht aller Vögel. Sie sind fast alle gleich schwer; es sind kaum ein paar Gramm, die den schwersten vom leichtesten trennen. Es ist kaum zu glauben, daß sie so leicht sind. Alfonso oder Birdie hänge ich keine Gewichte an; ich finde, sie haben bereits genug gearbeitet. Ich erhöhe die Gewichte so lange, bis sich ein Vogel weigert, zu fliegen. In ihrer Widerstandskraft zeigen die Vögel erhebliche Unterschiede. Manche geben schon auf, wenn ich zwei Ringe an jedes Bein hänge. Sie sitzen dann aufgeplustert am Käfigboden und tun so, als schliefen sie. Offenbar gibt ein Vogel in dem Moment auf, wo er glaubt, er könne nicht mehr fliegen. Ich muß diesen Vögeln die Gewichte abnehmen, denn sie hören auch auf zu fressen. Am Ende sind es zwei der jungen Männchen, die auch dann noch nicht aufgeben und weiterfliegen, wenn ich ihr Gewicht mehr als verdopple. Sie können sich immer noch zu den obersten Sitzstangen im Vogelhaus hocharbeiten. Diese zwei Jungen stürzen ein paarmal unsanft ab, bevor ich ihnen die Gewichte abnehme. Aber ich weiß jetzt, wenn ich unter neunzig Pfund komme und kräftig bleibe, dann hab ich eine Chance. Eines Abends fängt meine Mutter nach dem Essen an, über die Vögel herzuziehen. In so einem Fall gibt es nur eins: Man muß sie reden lassen. Mein Vater und ich sitzen nur da und
warten darauf, daß ihr die Luft ausgeht. Mein Vater wirft mir einmal einen Blick zu, aber ich kann ihn nicht deuten. Meine Mutter beklagt sich über den Gestank, den Dreck, den Lärm, die Mäuse, die Tatsache, daß ich meine ganze Zeit mit den Vögeln verbringe und nicht einmal Freunde habe, außer diesem Itaker aus der Radburn Road. Damit meint sie Alfonso. Ich weiß wirklich nicht, was ich mit meinem Leben anfangen müßte, um sie zufriedenzustellen. Als ich das Gefühl habe, daß sie fertig ist, warte ich ein paar Sekunden, lange genug, um sicher sein zu können, daß sie tatsächlich fertig ist, aber nicht so lange, daß mein Vater in die Pause hinein etwas sagen muß. Ich weiß, daß er solche Szenen haßt. Es ist ein Jammer, daß meine Eltern nicht mehr Kinder hatten. Meine Mutter sagt, es liege daran, daß mein Vater das falsche Handwerk ergriffen habe und daß die Depression im falschen Augenblick gekommen sei, so daß mein Vater vier Jahre lang ohne Arbeit gewesen sei. Als Lehrling machte er Korbstühle von der Art, wie Leute sie gern auf ihrer Veranda stehen haben. Es galt früher als etwas Besonderes, solche Sessel zu haben, die in Handarbeit hergestellt wurden. Unsere Veranda läuft um das halbe Haus herum, und mein Vater hat alle Stühle gemacht. Es sind ganz verschiedene Modelle, teils Schaukelstühle, teils Stühle mit hohen reichverzierten Lehnen. Es macht Spaß, ihm zuzusehen. Er hat die Weidenruten im Wasser liegen und flicht sie mit den Händen und ein paar einfachen Werkzeugen so zusammen, daß Stühle entstehen. Es ist so ähnlich, wie wenn ich Birdie beim Nestbau zusehe. Seine Hände bewegen sich flink und automatisch. Er hat das Handwerk sechs Jahre gelernt und hat seinen Meisterbrief. Es ist schwer, etwas so gut zu können, das kein Mensch mehr haben will. Ich fange an, ihm von meiner Idee zu erzählen. Ich erkläre, wie ich allein in diesem Jahr mit nur zwei Vögeln achtzehn
Junge gezüchtet habe. Ein Männchen ist im Großhandel acht Dollar wert. Ich kann auch die Weibchen nach und nach verkaufen und vom Erlös meine Futterrechnungen bezahlen. Das bedeutet einen Gewinn von fast neunzig Dollar. Das ist ein Monatsgehalt für meinen Vater, der an der Schule arbeitet. Ich verweise darauf, daß die meisten Kanarienvögel in den Vereinigten Staaten aus Deutschland und Japan eingeführt werden. Jetzt, wo wir im Krieg sind, versiegen diese Quellen. Eine Kanarienzucht könnte zu einem guten Geschäft werden. Ich rede schnell. Ich muß ihn überzeugen. Ich zeige ihm anhand meiner Berechnungen, wieviel Geld ich machen könnte, wenn ich fünfzehn Zuchtpärchen hätte. Wenn sie alle im Durchschnitt nur zehn Junge hätten, die Hälfte davon Männchen, würde mir jedes Zuchtpärchen fünfzig Dollar bringen, insgesamt also siebenhundertundfünfzig Dollar. Wahrscheinlich werden die Preise für Kanarienvögel sogar noch anziehen. Meine Mutter sagt, sie lasse nicht zu, daß Hunderte von Vögeln das Haus verpesten, ganz gleich, wieviel Geld ich damit behaupte, verdienen zu können. Ich sage meinem Vater, daß ich hinter der Garage ein Vogelhaus bauen möchte, dort, wo ich früher mein Taubenhaus hatte. Ich sage ihm, daß ich genug Geld gespart habe, um das ganze Ding zu bauen. Mein Vater hat die Ellbogen auf den Tisch gestützt und die Hände vor dem Mund zu einer Doppelfaust geballt. Er drückt den Daumennagel zwischen die Zähne, während ich rede. Meine Mutter steht auf und fängt an, den Tisch abzuräumen. Dabei macht sie ziemlich viel Lärm. Mein Vater blickt sie nicht an. »Du sagst, du glaubst, mit dem Züchten von Kanarienvögeln kannst du siebenhundertfünfzig Dollar im Jahr verdienen?« »Das stimmt.« »Das ist fast soviel, wie ich verdiene, und ich arbeite das ganze Jahr dafür, Tag für Tag. Bist du ganz sicher?«
»Ja, ganz sicher. Ich weiß, daß ich das schaffe.« Er sitzt da und hat immer noch den Daumennagel zwischen den Zähnen. Nur zum Reden nimmt er ihn raus. Mir fällt plötzlich auf, wie dünn und dünnhäutig er aussieht. Wenn man es nicht wüßte, würde man meinen, er sei krank. An seinen Händen und an den Schläfen sieht man die Adern. Er wirkt wie tot neben meiner Mutter, die so dick und rund und rosarot ist. Mein Vater ist zehn Jahre älter als meine Mutter. »Was würdest du mit all dem Geld anfangen?« »Ich werde alles tun, was du sagst.« Er blickt mir voll ins Gesicht. Und ich habe den Eindruck, daß er mich sieht. Ich bin froh, daß meine Mutter in der Küche ist. »Also gut. Aber das Geld gibst du mir. Ich werde es auf die Bank legen, damit du später studieren kannst. Ich will nicht, daß du dein ganzes Leben für lumpige zwanzig Dollar die Woche arbeiten mußt.« Damit ist also die Sache geregelt. Meine Mutter redet nicht mehr mit mir, aber sie kann nichts mehr dagegen tun. Ich fange an, mein Vogelhaus an die Rückwand der Garage zu bauen. Es liegt auf der dem Baseballplatz abgekehrten Seite des Hauses, so daß es von außen nicht zu sehen ist; man muß dazu erst unser Grundstück betreten. Andererseits ist es auch vom Haus aus nicht ohne weiteres zu sehen. Der Platz ist perfekt. Ich beschaffe den größten Teil des Holzes so wie beim letztenmal. Ich kaufe den Maschendraht, Nägel Scharniere, Farbe und ähnliche Dinge. Ich habe noch über hundert Dollar von dem Job als Hundefänger. Ich habe meinen Eltern nur von dem Dollar pro Stunde erzählt; die Fangprämie habe ich nie erwähnt. Ich habe ihnen den ganzen Stundenlohn abgegeben, aber die Fangprämie habe ich selber behalten und zusammen mit meinem Taubenkostüm versteckt.
Für den Rahmen nehme ich die üblichen, fünf auf zehn Zentimeter starken Balken. Außen ist der ganze Bau drei Meter sechzig breit und einen Meter achtzig tief. Vorne ist er eins achtzig hoch, und hinten, wo er an die Garagenwand anschließt, sind es zwei Meter zehn. Ich decke das Dach mit kleinen, dunkelblauen Kunststoffschindeln. Innen unterteile ich das Vogelhaus in drei Abschnitte. In den Mittelteil kommt die Tür, die nach innen aufgeht. Dort werde ich die Zuchtkäfige aufstellen. Es ist genau eins achtzig auf eins achtzig. Zu beiden Seiten und jeweils durch eine Tür mit dem Mittelteil verbunden liegen die Volieren. Diese sind neunzig auf eins achtzig und so hoch wie das ganze Vogelhaus. Ich spanne den Maschendraht über den Rahmen und nagle ihn fest. Die Gitteröffnungen sind quadratisch und sechs Millimeter groß. Ich bedecke den Boden der Volieren mit Sand und hole dann sämtliche Vögel bis auf Birdie herunter. Die Weibchen kommen in den linken Käfig, die Männchen in den rechten. Sie schießen wie verrückt durch die Gegend und prüfen alles. Sie hängen sich an das Drahtgitter, um nach außen zu sehen. Für die Jungen ist es das erste Mal, daß sie den Himmel sehen. Ihre Welt hat sich millionenfach vergrößert. Dabei ist der tatsächliche Raum, den sie zum Fliegen haben, etwa gleich geblieben. Manchmal kommen wildlebende Vögel von außen an den Käfig geflogen, um hineinzusehen. Alfonso verjagt sie mit Hilfe einiger junger Vögel. Ich wollte, ich könnte irgendeinen Weg finden, der es mir möglich machen würde, meine Vögel wie Tauben frei fliegen zu lassen. Es wäre schon toll, wenn sie überall herumkurven und herumfliegen und auf den Bäumen singen und schlafen könnten; und auf meinen Lockruf hin würden sie in den Käfig und zu mir zurückkommen.
Die Außenseite streiche ich grau und weiß. Als ich fertig bin, sieht es wie ein richtiges kleines Haus aus. Während die Vögel in den Volieren sind, fange ich an, die Zuchtkäfige zu bauen. Ich habe mich entschlossen, immer nur ein Männchen und ein Weibchen zusammenzubringen. Es ist für mich nicht ausschließlich ein Geschäft. Die Männchen können am Anfang mit den Jungen helfen, und bei zwei Weibchen wird das zu kompliziert. Ich baue fünf Reihen mit jeweils drei Käfigen nebeneinander; ich staple sie einfach übereinander, so daß sie an der Rückwand des Mittelteiles vom Boden bis zum Dach reichen. Jeder Käfig läßt sich mit einer Schiebetür in zwei Hälften teilen. Auf die Weise kann ich das Männchen oder die Jungen oder beide vom Weibchen trennen, sobald sie ein neues Nest baut. Ich konstruiere automatische Futterschütten und Trinkröhrchen und baue herausziehbare Käfigböden, die sich leicht säubern lassen. Es macht wirklich Spaß, die Käfige zu bauen; als baute ich mir mein eigenes Nest. Ich bekomme hervorragende Ratschläge von Mr. Lincoln. Er baut sich seine Käfige selbst und hat prima Ideen, die ich verwenden kann. Er ist wirklich ein Genie im Umgang mit Vögeln. Ich erzähle ihm von meiner Idee, Kanarienvögel mit besonders guten Flugeigenschaften zu züchten. Er lacht so sehr, daß er dabei durch sein ganzes Vogelhaus torkelt. Ihm kommen vor lauter Lachen die Tränen. Als er schließlich aufhört, sagt er mir, niemand werde meine Kanarienvögel kaufen. Er sagt, wenn es mir gelänge, einen Kanari zu züchten, der überhaupt nicht fliegen kann, dann hätte ich wirklich einen Schlager. Dann bräuchten die Leute keinen Käfig mehr, nur noch einen Stock wie für einen Papagei. Er sagt, Katzen hätten auch ihre Freude an meinen nichtfliegenden Kanaris. Ich werde mit den Zuchtkäfigen noch vor Weihnachten fertig. Die Männchen in den Volieren singen aus vollem Hals. Für
einen Kanarienvogel ist fast alles Musik. Sie singen, wenn ich hämmere oder säge oder wenn ich den Wasserhahn aufdrehe. Das Rauschen des Windes ist für einen Kanari ein Sinfoniekonzert. Während ich arbeite, schaue ich ihnen beim Fliegen zu. Alfonso ist nach wie vor der Star, aber es gibt noch zwei oder drei, die alle seine Tricks beherrschen: den Sturzflug, den Senkrechtstart, die scharfe Wende in der Luft. Einer von ihnen hat sogar einen neuen Trick. Er geht im Sturzflug nach unten, landet dann aber nicht, sondern macht knapp über dem Boden eine scharfe Wende und schießt senkrecht nach oben. Irgendwie nützt er seine Sturzgeschwindigkeit für den anschließenden Senkrechtflug. Ich sehe seinen Trick hundertmal, aber ich komme nicht dahinter, wie er es macht. Ich kann sehen, daß er in dem Sekundenbruchteil, in dem er seinen Sturzflug abfängt, seinen Körper so kippt, daß er praktisch auf dem Schwanz steht, die Flügel weit gespreizt, und daß er dann die Schultern nach vorn holt, so daß die zusammengepreßte Luft unter seine Flügel kommt und ihm den nötigen Auftrieb gibt. Dieser Vogel ist gelb wie Birdie, aber er hat ganz das Raubvogelprofil Alfonsos. Er ist nicht so bösartig wie einige der dunklen Vögel, aber er wehrt sich durchaus, wenn ihm einer zu sehr zusetzt. Meistens weicht er allerdings auf eine andere Sitzstange aus. Er ist einer der beiden, die noch mit all den Gewichten flogen. Alfonso II aus dem ersten Nest ist fast so bösartig wie der alte Alfonso selbst. Die beiden tragen oft wilde Kämpfe aus. Alfonso hat alle Mühe, irgendein Plätzchen im Vogelhaus zu finden, wo er nicht ins Territorium seines Sohnes Nummer eins eindringt. Ich habe immer noch keinen einzigen Vogel verloren. Mr. Lincoln gibt mir hervorragende Tips für das Mischen von Stärkungsmitteln. Ich weiche Körner ein und mische sie mit
Eifutter und Haferflocken. Ich gebe ihnen Äpfel, Kopfsalat und Löwenzahnblätter. Wenn ich Alfonso und Birdie mitzähle, sind es zwanzig Vögel – zwölf Männchen und acht Weibchen. Alfonso und Birdie machen das einzige sichere Zuchtpärchen aus, das ich habe. Ich könnte es mit Reinzucht versuchen und Alfonso mit einem der Weibchen zusammenbringen, aber mit ihm und Birdie klappt es so gut, daß ich da höchst ungern dazwischenfunken würde. Es fällt mir zwar schwer, aber ich entschließe mich, sämtliche Weibchen zu verkaufen oder zu tauschen. Ich brauche neues Blut, ich kann nicht Bruder und Schwester zur Paarung zusammenbringen. Einige dieser Weibchen sind wunderschön, und ich verkaufe sie furchtbar ungern. Ich komme mir vor wie ein Sklavenhändler. Ich will mit fünfzehn Zuchtpärchen arbeiten, also brauche ich außer den Weibchen auch noch drei zusätzliche Männchen. Zwei Monate dauert die Suche, bis ich die Männchen gefunden habe, die ich will. Das Problem ist, daß selbst in Volieren nur schwer zu beurteilen ist, wie gut sie fliegen können, da hohe Geschwindigkeiten nicht möglich sind. Eines der Männchen, die ich kaufe, ist das, was sie einen »Zimtbraunen Kanari« nennen. Er hat eine goldbraune Färbung und ist lang und schlank wie Alfonso, aber sein Gesang ist anders. Er singt eine Art Halbrolle, die man als »sächsisch« bezeichnet. Ein anderes Männchen ist gelb mit einem schwarzen Kopf und einem Schopf. Ein geschöpfter Vogel hat eine Art Mittelscheitel. Er sieht aus, als trage er einen Hut. Dieser hier wirkt fast wie ein Clown. Wenn sich zwei Geschöpfte paaren, bekommt man einen glattköpfigen Vogel. Mr. Lincoln findet es unmöglich, daß ich einen geschöpften Vogel kaufen will. Er mag keine Gestaltkanarien. Aber der Geschöpfte, den ich haben will, ist ein hervorragender Flieger. Außerdem versteht
er es unglaublich gut, zu rütteln. Kanarienvögel tun das kaum, aber dieser Geschöpfte hängt oft oben im Vogelhaus in der Luft und rüttelt wie ein Raubvogel auf Mäusejagd. Er ist auch ein ganz guter Gleiter. Finken halten meistens nicht viel vom Gleiten, deshalb muß ich ihn unbedingt haben. Mein letztes Männchen bekomme ich von Mr. Lincoln. Mr. Lincoln gibt ihn mir umsonst. Er ist überzeugt, daß dieser Vogel verrückt ist. Er fliegt immer wieder in das Drahtgitter des Käfigs. Die meisten Vögel lernen rasch, was ein Käfig ist und wie sich das Drahtgitter auswirkt. Sie haben es schnell heraus, wie man auf das Gitter zufliegt und dann die Beine hochschwingt und sich festhält. Nur ein junger Vogel wird tatsächlich mit dem Kopf gegen das Käfiggitter stoßen. Doch dieser Vogel nimmt von dem Käfig keine Notiz. Er fliegt auch noch als ausgewachsener Vogel frontal in das Drahtgeflecht, als sei es überhaupt nicht da. Als Folge davon verbringt er ganz schön viel Zeit, am Boden des Käfigs, um sich von den Kollisionen zu erholen. Mr. Lincoln sagt, er sei schon hoffnungslos dumm aus dem Ei gekrochen. Ich versuche, eines meiner dunklen Weibchen gegen ihn einzutauschen, aber Mr. Lincoln will auch das nicht haben; Er sagt, als er auf diesen einfältigen Vogel aufmerksam geworden sei, habe er gleich an mich gedacht. Für jedes Weibchen tausche ich mir ein neues ein. Mrs. Prevost nimmt die meisten und läßt mich dafür unter ihren Weibchen frei auswählen. Sie ist froh, daß ich pärchenweise züchten will. Zwei Wochen bringe ich in ihren Käfigen zu und versuche, die besten Flieger unter ihren Weibchen zu finden. Ich gehe systematisch vor. In der Schule borge ich mir eine Stoppuhr und verfolge einen Vogel fünf Minuten lang. Ich nehme nur die Zeit, die er tatsächlich in der Luft ist. Ich möchte, daß meine Vögel gerne fliegen. Jeden Vogel nehme ich dreimal dran und vergebe dann noch Punkte für Flugeleganz
und -geschwindigkeit. Auf diese Weise komme ich schließlich zu einer Rangliste aller Vögel. Ich versuche, auch alle Vögel auszuklammern, die ganz einfach schwerfällig sind. Wenn so ein Typ zur Landung ansetzt, strauchelt er oder stößt mit anderen Vögeln zusammen. Und es gibt ein langes aufgeregtes Geflatter, wenn so ein Vogel auf einem schmalen Plätzchen zwischen anderen Vögeln auf einer Stange landen will. Ich meide auch jedes Weibchen, das singt oder rauft. In all den Büchern steht, daß das für einen Zuchtvogel schlechte Zeichen sind. Singende Weibchen neigen dazu, das Nest aufzugeben. Als meine Listen komplett sind, gebe ich sie Mrs. Prevost. Ich habe ein paar ihrer besten Brüterinnen auf meiner Liste und die gibt sie nicht her, aber im großen und ganzen bekomme ich, was ich haben will. Als ich alle diese Vögel in meinen Volieren habe, ist das ein herrlicher Anblick. So einen Käfig voller Vögel zu sehen, die allesamt gute Flieger sind, ist eine Freude. Diese Weibchen fliegen viel mehr als die Männchen. Es sind immer noch zwei Monate bis zur Brutzeit, und so gehe ich wieder an meine Flugexperimente. Draußen im Vogelhaus ist es jetzt kalt, und darum ziehe ich alle meine warmen Kleider an, wenn ich rausgehe, um die Vögel zu beobachten. Meine Mutter hat sich überzeugen lassen, daß das alles zu den Aufgaben eines Kanarienzüchters gehört. Da die Vögel nun ausgewachsen sind, experimentiere ich mit Flugfedern. Eine Feder ist, aus der Nähe betrachtet, etwas Unglaubliches. Sie ist so gebaut, daß sie in dem Moment, wo der Druck von unten erhöht wird, keine Luft durchläßt. Zugleich kann aber Luft von oben ohne weiteres durchströmen. Die Feder hat einen hohlen Schaft mit Blutgefäßen zum Transport der Aufbaumittel. Beiderseits des Schaftes wachsen Äste heraus, die sogenannten Federäste. Von diesen zweigen noch feinere Ästchen, genannt Strahlen, ab, und an denen sitzen
kleine Häkchen. Sie alle greifen ineinander und lassen sich wie ein komplizierter delikater Reißverschluß aufreißen und wieder zuziehen. Die Feder kann vom Vogel mit dem Schnabel aufgerissen und zugemacht werden. Genau das tun Vögel, wenn sie die Federn durch ihren Schnabel ziehen: Sie machen gleichsam einen Reißverschluß zu, der aufgegangen ist. Außerdem rotieren die Federn um eine Achse; so daß sie beim Aufwärtsflug vertikal und beim Abwärtsflug horizontal stehen können. Diese ganzen komplizierten Einrichtungen sind in etwas eingebaut, das praktisch nichts wiegt; so leicht wie eine Feder. Die Feder ist mein größtes Problem. Entweder muß ich etwas Ähnliches konstruieren oder lernen, ohne sie auszukommen. Ich fange an, Flugfedern aus meinen Heldenvögeln zu zupfen, den Vögeln also, die noch flogen, als sie das eigene Gewicht an den Beinen hängen hatten. Ich hänge ihnen die Gewichte wieder an und ziehe aus jedem Flügel eine Flugfeder. Einer gibt sofort auf. Erst das ganze Gewicht, und jetzt auch noch das. Er sitzt am Käfigboden und versucht zu schlafen. Ich mache die Gewichte ab und lasse ihn frei. Nach ein paar Minuten fliegt er wieder ohne Probleme. Offenbar kann ein Kanari zwei Flugfedern leicht verschmerzen, wenn er nicht noch zusätzlich mit Gewichten beschwert ist. Dem anderen gelingt sogar eine Art Flug. Es ist ein verzweifeltes hektisches Fliegen, aber er kommt vom Boden weg und schafft es zu einer der unteren Stangen. Ich beschließe, die Gewichte dranzulassen und abzuwarten, wie er damit fertig wird. Nach einer Woche gibt es eindeutige Fortschritte. Er ist so weit, daß er sich zur obersten Stange des Vogelhauses hochkämpfen kann. Meistens bleibt er da oben, und die Abwärtsflüge sind fürchterlich. Es ist kaum mehr ein Fliegen, es sind ungebremste Sturzflüge. Er trudelt mit hektischen Flügelschlägen herab und verfehlt alle Sitzstangen. Doch er überlebt und
schafft erneut den mühsamen Flug nach oben. Ich sage mir, daß er nun genug im Dienste der Wissenschaft gelitten hat und nehme ihm die Gewichte ab. Inzwischen arbeite ich jeden Abend an Entwürfen für mechanische Federn. Ich halte mich an das Modell von Jalousien, die sich um Zapfen drehen. Sie schließen sich bei der Abwärtsbewegung und öffnen sich, wenn die Bewegung nach oben geht. Ich verwende eine abgebogene Antriebswelle mit einem Gummibandmotor, der die Auf- und Abbewegungen erzeugen soll. Ich stelle Modelle sowohl aus Balsaholz als auch aus dünnem Aluminium her. Es wird ein gewaltiger Kraftaufwand erforderlich sein, um genügend Schwingkraft für Flügel zu erzeugen, die groß genug sind, daß sie mich tragen. Ein großes Problem besteht darin, daß Vögel ihre Flügel bei der Aufwärtsbewegung nach vorne ziehen und sie bei der Abwärtsbewegung gleichzeitig nach hinten stoßen. Der Bewegungsablauf ist fast wie beim Schmetterlingsstil im Schwimmen. Sie holen sich Luft unter die Flügel und drücken dagegen. Das Gelenk eines Vogelflügels bewegt sich im Kreis, im Uhrzeigersinn und in die Flugrichtung. Das mit einem Gummibandmotor nachzuahmen, ist nicht leicht. Einige meiner Modelle fliegen zwar, aber sie starten nicht vom Boden; sie fliegen nur, wenn ich sie von Hand starte. Wenn ich diese kleinen Modelle nicht zum Fliegen bringen kann, habe ich keine Chance. Ich mache immer noch meine Übungen. Morgens und abends trainiere ich je eine Stunde Flügelschlagen. Ich versuche dabei, meine Schultern kreisen zu lassen und mit den Achselhöhlen Luft einzufangen. So scheinen es die Vögel zu machen. Ich übe jetzt mit Gewichten in den Händen. Meine Schultern und mein Hals werden langsam immer dicker. Wenn ich nicht achtgebe, halte ich beim Gehen den Kopf weit vorgestreckt. Nachmittags arbeite ich an den Käfigen. Es ist wirklich eine Freude, sie anzusehen, alle gestrichen, die Futternäpfe an
ihren Plätzen. Innen habe ich die Käfige hellblau angestrichen. Ich habe alles bereit; unten in jedem Käfig liegt Zeitungspapier und darauf Sand. Ich werde das alles etwa einmal pro Woche austauschen müssen. Die Nestkörbchen sind an ihrem Platz, und in jedem Käfig hängt eine Sepiaschale. Ich habe Futter in den Näpfen und Wasser im automatischen Wasserspender. Die Zuchttabellen sind ausgearbeitet, und ich habe meine Wunschpärchen zusammengestellt. Es hat Spaß gemacht, die geeigneten Partner herauszufinden. Es kommt vor, daß ich in der Schule mitten im Unterricht die Paare neu zusammenstelle. Ich habe die Vögel solange beobachtet, bis ich jeden einzelnen von ihnen kenne und bis sie alle auch mich kennen. Ich habe Zuchtbücher angelegt, um die Entwicklung der Jungen genau verfolgen zu können und ich habe Ringe gekauft, die ich ihnen zur besseren Identifizierung an die Beine machen kann. Mit ein bißchen Glück könnte ich es auf hundertfünfzig Jungvögel bringen. Ich bin bereit.
Großer Gott, am nächsten Tag erzählt mir Renaldi, daß die Basebälle tatsächlich angekommen sind. Sie sind mit einem Militärflugzeug eingeflogen worden. Dieser T-4-Trottel hat die Kiste aufgemacht. Von ihm hat es dann Renaldi erfahren. Wahrscheinlich denkt der, man hat sie ihm geschickt, damit er seine gefährlichste Waffe, den Spuckball, verbessern kann. Renaldi erzählt mir, der T-4 heißt Ronsky, und er spuckt dauernd aus, weil er einen üblen Geschmack im Mund hat. Er war bei der Invasion in der Normandie dabei, und drei Tage später ist er ausgeflippt. Sie hatten ihn hier monatelang unter Beobachtung und dabei spuckte er so ausgiebig, daß sein Zimmer immer völlig durchnäßt war. Sie hatten Angst, daß er austrocknen würde. Wenn du nicht aufpaßt, tun dir bald alle leid und dann gibt es keinen mehr, den du hassen kannst. Ich habe eigentlich nie geglaubt, daß die Bälle tatsächlich kommen würden. Ich frage mich bloß, ob Birdys alte Dame diese Basebälle die ganzen Jahre gehortet hat oder ob sie rasch in die Stadt gegangen ist und einen Haufen alter Basebälle gekauft hat, um sie hierherschicken zu können. »Guten Tag, ich hätte gern zweihundert gebrauchte Basebälle. Ich muß sie in die Klapsmühle runterschicken, um meinem verrückten kleinen Jungen zu helfen, weil, der hält sich nämlich für einen Kanarienvogel.« Renaldi sagt, es ist eine kunterbunte Mischung aus Bällen. Es ist alles dabei; einige sind fast neu, und andere werden nur noch von einem schwarzen Isolierband zusammengehalten. Er sagt, sie sind verschimmelt. Es sind tatsächlich die alten Bälle, und sie hat sie die ganze Zeit aufbewahrt. Was zum Teufel kann sie sich dabei gedacht haben? Hat sie geglaubt, der ganze Sportplatz verschwindet, wenn sie die Bälle hortet? Es hat ihr überhaupt nichts gebracht, daß sie die
Bälle geklaut hat, höchstens einen Haufen Feinde. Es ist irgendwie sinnlos. Mir kommt langsam alles sinnlos vor. Warum zum Teufel will sich Birdy da drin Federn wachsen lassen, und warum verstecke ich mich hinter meinem Kopfverband? Mir wird immer klarer, daß ich gar nicht mehr raus will, daß ich nicht mehr mit nacktem Gesicht unter die Leute will. Und das hat nichts mit meinem Aussehen zu tun. Die Ärzte in Dix sagen, alles ist bestens. Ich werde ganz normal aussehen, sogar die Narben werden fast weg sein. Aber ich habe irgendwo im Hinterkopf diese verrückte Vorstellung, daß ich mich wie ein Schmetterling aus den Bandagen schälen werde, wo ich doch immer eine Raupe war. Mein Raupendasein ist noch nicht zu Ende. Ich weiß, ich bin jetzt wirklich ein Schmetterling und die Raupenrolle ist ausgespielt, aber ich bin noch nicht bereit, rauszukommen. Ich habe noch diese eine Operation, dann noch einen Monat lang in Bandagen, und danach werde ich entlassen. Ich muß dann in meine alte Straße zurück. Alle werden mich sehen. Es heißt, ich werde zu dreißig oder vierzig Prozent erwerbsunfähig geschrieben. Ich kann dann den Paragraph sechzehn in Anspruch nehmen, und das heißt, die Kohlen stimmen, solange ich mich nur weiterbilde. Ich habe keine Ahnung, was ich studieren soll. Das einzige Fach, in dem ich je gute Zeugnisse hatte, war Sport. Vielleicht werde ich Sportlehrer, auch wenn sich das so beschissen anhört wie alles andere, was ich mit dem Rest meines Lebens noch anfangen kann. Oder vielleicht trage ich eine Maske und ein Cape wie Zorro und mache die Straßen unsicher. Dann fordere ich alle Kinder unter zwölf zum Duell mit Plastikschwertern heraus. Auf die Weise kann ich meine Invalidität auf neunzig oder hundert Prozent steigern. Das mit der Maske hört sich jedenfalls gut an. Nach dem Frühstück geh ich wieder zu Birdy. Ich stelle den Stuhl wieder zwischen die Türen und mache es mir bequem.
Birdy dreht sich nach mir um, als ich mich setze. Er hockt immer noch am Boden, aber anstatt die Arme seitlich runterhängen zu lassen, hat er sie jetzt auf der Brust verschränkt. Er ißt jetzt auch ganz selbständig. Da gibt es überhaupt keine Schwierigkeiten mehr. Er greift zu und schaufelt sich das Essen in den Mund. Ich versuche, ihm in die Augen zu sehen. Er ist kaum zwei Schritte von mir entfernt. Es ist, wie wenn man einem Hund oder einem Säugling in die Augen guckt. Nach einer Weile kann man es nicht mehr tun, weil man weiß, daß man ihnen weh tut, daß man ihnen Löcher in die Seele brennt. Sie wissen nicht genug, um sich abzuwenden, aber sie haben Angst. Ich gucke weg. »Mann, Birdy, das ist vielleicht eine Scheißsituation! Wer zum Kuckuck hätte geglaubt, daß es mal so weit mit uns kommt? Was ist bloß schiefgelaufen? Mir kommt’s so vor, als hätten wir überhaupt keinen Einfluß darauf gehabt, wie unser eigenes Leben läuft. Wir sind auch nur so, wie man uns haben will. Sicher, ein bißchen anders sind wir schon, aber letztlich kann man über uns genauso verfügen wie über all die anderen. Du bist vielleicht die Mutter und ich die Schraube, aber wir sind alle Teile des Plans und es ist alles schon festgelegt, bevor wir etwas dazu sagen können.« Ich war immer so verdammt sicher, daß ich mein eigener Herr bin und daß mich keiner zwingen kann, etwas zu sein oder etwas zu machen, was ich nicht will; und jetzt ist es so gekommen. Ich bin gar nicht viel anders als mein alter Herr, wenn ich es mir recht überlege. Keiner ist einmalig, und es ist nicht mal etwas übriggeblieben, mit dem wir uns was vormachen könnten. »Weißt du, Birdy, es wäre ja egal, wenn ich es nicht so glänzend geschafft hätte, mir all die Jahre etwas vorzuspielen. Es wäre mir ja egal, aber jetzt komm ich mir wie der größte Trot-
tel vor. Und du bist der gleiche, glaub mir. Es ist schlimm, mit anzusehen, wie leicht es für sie ist, uns mit all den anderen gleichzuschalten. Sie stecken uns in irgendwelche Kleider, geben uns ein Gewehr in die Hand, bringen uns ein paar Tricks bei, und dann sind wir nur noch Namen in einer Dienstliste, Leute, die man zum Küchendienst oder zum Wachdienst oder für eine Patrouille einteilt. Am Schluß fertigen sie uns mit einer Dienstentlassung ab oder setzen uns auf eine Verlustliste, und es kümmert keinen, wer wir sind oder waren.« Ich werde ewig brauchen, bis ich überzeugt bin, daß Alfonso Columbato etwas anderes ist als ein mobiler Fleischklumpen mit einem raffinierten elektronischen Kontrollsystem. Es wird mir sehr schwerfallen, wieder an mich selbst als ein von den anderen losgelöstes Einzelwesen zu glauben. »Und was zum Teufel bringt das alles? Wo führt es denn hin? Sieh dich an! Entweder du bleibst in diesem Zustand und sie füttern und versorgen dich dein Leben lang, oder du machst Fortschritte und reihst dich wieder unter die Menschen ein. Wenn du dich weiterhin in deiner vorgetäuschten Vogelwelt verkriechst, dann haben sie das alles schon geregelt, und du wirst in irgendeinem Etat als Verlust abgebucht. Wenn du wieder zu dir kommst, fängst du vielleicht an zu studieren oder gehst einem Job nach oder züchtest wieder Kanarienvögel – es ist gleich, was du machst. Es ist alles vorbereitet. Bevor du noch darüber nachdenkst, bist du schon angepaßt. Selbst wenn es dir gelingen würde, die eigene Halsschlagader durchzubeißen, dann haben sie auch dafür ihr System und ihre Formulare zum Ausfüllen und was weiß ich; es gehört einfach zu den Dingen, mit denen sie rechnen. Ich weiß nicht einmal, wer sie sind, abgesehen von allen anderen Menschen einschließlich dir und mir.« Ich bin still. Was nützt es schon, darüber zu reden. Ich möchte ja nur, daß Birdy weiß, er ist nicht der einzige, der die Welt
für beschissen hält. Wenn er weiß, daß ich genauso denke wie er, daß er nicht der einzige ist, der Bescheid weiß, dann hilft ihm das vielleicht. »Hör mal zu, Birdy. Ich werde nächste Woche noch einmal am Gesicht operiert. Das heißt, daß ich von hier weg muß. Ich bin nur noch ein, zwei Tage da. Wenn ich länger bleibe, sperren sie mich wahrscheinlich in einen dieser Räume hier. Dieser verdammte Weiss rückt mir langsam auf die Pelle. Wer weiß, auf welche Gedanken der kommt, wenn er erst mal richtig mitkriegt, wie es in meinem Kopf aussieht. Nimm dich vor dem in acht, Birdy, der Hund ist clever. Er ist plötzlich in dir drin, wenn du nicht auf der Hut bist. Du lieferst ihm das Material für mindestens einen Vortrag auf dem nächsten psychiatrischen Kongreß. Er will dich nicht heilen, er möchte, daß du genauso bleibst. Dein Vorsprung besteht darin, daß er nicht weiß, daß du ein Vogel bist. Wenn er das erst mal raus hat, dann sitzt du in der Tinte. Wahrscheinlich läßt er dann einen riesigen Vogelkäfig für dich bauen, mit Sitzstangen, Futternäpfen und allem Drum und Dran. Er wird sich dein altes Taubenkostüm kommen lassen und dich per Luftfracht auf Kosten der Armee zu dem großen Kongreß befördern. Er wird den Käfig neben sich haben und über den ›Vogeljungen‹ dozieren. Wenn er mit dir fertig ist, wird er dich wahrscheinlich an einen Zirkus verkaufen. Ich seh’ es deutlich vor mir. Zum Trompetengeschmetter erscheint ein Elefant, über und über mit Ziermünzen behängt, und er zieht einen kleinen Wagen hinter sich her. Der Wagen ist rot und schwarz gestrichen, und oben drauf sitzt ein goldener Vogelkäfig. Die Zirkuskapelle spielt ›Er ist nur ein Vogel in einem goldenen Bauer‹, und da bist du, prächtig herausgeputzt in einem Vogelkostüm, nur daß es diesmal ein Kanarienkostüm ist. Zehntausend Kanaris mußten dafür ihr Leben lassen. Du hüpfst von Stange zu Stange, gibst einige Pieptöne
von dir und singst den Leuten vielleicht ein paar Kanarilieder vor. Sie haben ein Riesennest für dich hingebaut, und du springst hinein und versuchst ein paar Eier auszubrüten, die so groß sind wie Medizinbälle. Zum Finale springt ein als Vögel verkleideter Liliputanerclown aus einem dieser Bälle und schlägt dich mit einem Gummiwurm auf den Kopf. Du wirst zu einem Weltstar, Birdy. Du bekommst soviel Vogelfutter, wie du nur willst.« Ich lege eine Pause ein, aber Birdy lächelt; er lächelt ganz deutlich. »Stell dir vor, Birdy, deine alte Dame hat tatsächlich all die alten Basebälle hergeschickt. Es war ja meine Idee; ich hoffe, es macht dir nichts aus. Ich sagte Weiss, es würde dir vielleicht helfen, zu dir zu kommen. Was zum Teufel soll ich ihm jetzt bloß sagen. Womöglich bringt er diese Basebälle und dich zusammen und denkt sich irgendwas aus. Das muß man sich mal vorstellen: sie hat die Bälle tatsächlich aufbewahrt. Renaldi sagt, sie sind verschimmelt; die müssen irgendwo vergraben gewesen sein. Vielleicht hat sie sie da unten vergraben, wo wir nach dem Schatz suchten. Vielleicht ist sie kurz vor uns runtergelaufen und hat sie ausgegraben. Das würde auch die leichte Vertiefung im Boden erklären.« Birdy beobachtet mich. Er gibt mir seinen »Du-mußtverrückt-sein«-Blick. So langsam glaube ich, er hatte damit von Anfang an recht. Ich stelle mir schon vor, wie sie in etwa zwei Wochen Birdy nach Dix raufschicken. Und da hocke ich zusammengekauert am Boden, splitternackt, und wenn einer zu nahe rankommt, werfe ich mit meiner eigenen Scheiße nach ihm. Hinter einem Mülleimerdeckel, den er als Schild benutzt, sitzt er da und erzählt mir von dem Taubenstall und von dem Ausflug nach Wildwood und vom Schlittschuhlaufen und der ganzen Kacke.
Herr Gott, wär das klasse; einfach alles laufenzulassen und das Theater nicht mehr mitzuspielen; ich könnte einfach alles rauslassen, brüllen, schreien, Tarzanschreie loslassen, die Wände hochgehen oder mit den Fäusten traktieren; jeden, der in die Nähe kommt, anspucken oder anpissen oder anscheißen! Herr Gott, würde das guttun! Was hält mich eigentlich davon ab? Ich hab genügend einstecken müssen; ich könnte es tun, wenn ich wirklich wollte. Kein Mensch könnte mir einen Vorwurf machen.
Ich weiß nicht, wie lange ich den Traum schon hatte, als er anfing, mir bewußt zu werden. Man weiß eigentlich nicht, daß man träumt, solange man sich nicht dabei ertappt. Ich arbeitete gerade in einer der Volieren, als es mir zum erstenmal bewußt wurde. Ich hatte alle Vögel in den Zuchtkäfigen und es waren bereits elf Nester gebaut, und die Weibchen hatten über dreißig Eier gelegt. Vier von ihnen saßen schon auf Eiern. Alles lief prächtig. Ich war darauf gekommen, daß Sand für den Boden der Volieren nicht die ideale Lösung war. Der Vogeldreck versank darin und fing an zu riechen. Auch Samenkörner und Hülsen fielen in den Sand und verfaulten. Ich entschied mich für einen Betonboden mit einer leichten Neigung nach vorn, so daß ich ihn leicht durch das Drahtgitter mit dem Schlauch abspritzen konnte. Da saß ich nun also am Boden des Käfigs und strich den Beton glatt, als es plötzlich da war. Mir wurde klar, daß ich nicht zum erstenmal in diesem Käfig war. Das allein wäre noch keine Überraschung gewesen, aber da war außerdem das Gefühl, daß der Käfig sonst größer war, viel größer. Ich sah den Käfig ganz anders – mit den Augen eines Vogels. Ich zerbrach mir den Kopf. Ich konnte mir nichts anderes vorstellen, als daß ich davon geträumt hatte, im Innern dieses Käfigs zu sein, und daß ich mich nun daran erinnerte. Die nächsten zwei Tage konzentrierte ich mich darauf, mich an den Traum zu erinnern. Ich wurde mir immer sicherer, daß ich es geträumt hatte und irgendwie daran gehindert wurde, mich zu erinnern. Es ist schwer, einen Traum einzufangen. Zuerst stellte ich einen Wecker und legte ihn unter mein Kopfkissen, um mitten in einem Traum geweckt zu werden. Drei Nächte nacheinander ließ ich mich jeweils zu einer anderen Zeit wecken. Ich wachte jedesmal auf, doch wenn ich den
Wecker abgestellt hatte, war der Traum immer weg. Ich lag dann im Dunkeln da und versuchte, mich wieder hineinzudenken. Ein paarmal gelang es mir fast, aber dann war es endgültig weg. Ich begann mich zu fragen, ob ich nicht dabei war, einen Traum zu erfinden, den es gar nicht gegeben hatte. An einem Nachmittag dann – ich strich gerade den neuen Betonboden im Flugkäfig mit einer wasserdichten grünen Farbe – war es ganz plötzlich wieder da. Ich erinnerte mich, daß ich auch schon als Vogel in diesem Käfig war. Ich mußte das geträumt haben. Und nun kam der Traum zu mir, als ich in jenem wachen Zustand des Nicht-Denkens war, in den man manchmal gerät, wenn man konzentriert einer leichten Arbeit nachgeht. Erst sagte ich mir, ich erfinde das nur, ich träume einfach so vor mich hin, doch dann wußte ich, es war die Erinnerung an den Traum. Ich malte weiter und versuchte, den Traum am Leben zu erhalten. Ich hatte das Gefühl, der Traum würde verfliegen, wenn ich mich zu sehr darauf konzentrierte. Ich erinnerte mich an viele durchträumte Nächte; es schien weit in der Zeit zurückzureichen. Das konnte daran liegen, daß es ein Traum war. Die Traumzeit ist ganz anders. In meinem Traum lebte ich mit den anderen Männchen in diesem Flugkäfig. Alfonso, der Vogel und alle seine männlichen Nachkommen waren da, aber auch der Zimtbraune, der Geschöpfte und der Verrückte, der immer wieder ungestüm in das Käfiggitter flog. Ich konnte mit ihnen reden. Sie hörten sich zwar an wie Vögel, aber ich verstand sie, als redeten sie wie Menschen, als redeten sie englisch. Ich war selber ein Vogel; ich gab Vogellaute von mir. Ich konnte mich in dem Traum nicht erinnern, wie ich aussah. Ich blickte nicht an mir hinunter, aber die anderen Vögel behandelten mich wie einen Vogel oder fast wie einen Vogel. Ich pickte Körner auf; ich beobachtete sie beim Fressen und ahmte sie nach. Ich war wie ein kleines Küken, das alles lernt,
und sie halfen mir. Ich spürte, wie ich mit meinen Füßen auf einer Stange stand. Ich blickte nicht zu meinen Füßen hinunter, aber es waren Vogelfüße, nicht Menschenfüße, und sie umklammerten die Stange. Ich flog mit den anderen Vögeln! Das Fliegen war wunderbar. Ich schwang meine Flügel und schwebte von Stange zu Stange. Es war nicht ganz einfach. Die anderen Vögel flogen neben mir her und brachten es mir bei. Ich sammelte Erfahrungen mit dem Fliegen. Alfonso flog mit mir ganz nach oben und forderte mich auf, nach unten zu blicken. Ich hatte überhaupt keine Angst vor dem Fliegen. Ich kam mir vor wie ein Vogel. Ich hatte das Gefühl, bei einem Sturz könnte mir nichts passieren. Nach oben zu fliegen war schwerer als nach unten zu fliegen; es war ein bißchen anstrengender. Aber das war auch schon alles. Ich blickte durch das Gitter nach draußen. Ich sah die Häuser und wußte, was das war. Ich sah die Mauer und das Gartentor und wußte, wozu sie dienten und was hinter ihnen lag. Ich erinnerte mich auch an all die Räume in der Umgebung, die ich nicht sehen konnte. Ich wußte alles mögliche, was ein Vogel nicht wissen kann. Ich blickte hinaus auf die Bäume neben dem Haus und wünschte mir, ich könnte dort fliegen. In meinem Traum in dem Käfig lernte ich so zu fliegen, wie ich schon immer hatte fliegen wollen.
An diesem Abend zwinge ich mich beim Einschlafen, an nichts anderes als an den Traum zu denken. Ich gehe alle Einzelheiten durch, an die ich mich erinnern kann. Ich will zwischen dem Wachsein und dem Einschlafen an nichts anderes denken. Ich schlafe ein und träume. Beim Aufwachen am nächsten Morgen kann ich mich an alles erinnern. Ich habe den Traum »behalten«.
Nach dem Frühstück füttere und versorge ich die Vögel. Da es ein Schultag ist, muß alles schnell gehen. Es sind acht neue Eier da. Ich nehme sie aus den Nestern und lege Eier in drei andere Nester. Zehn Vögel sind inzwischen am Brüten. Die ersten Jungen sollten in etwa einer Woche ausschlüpfen. Ich werfe einen Blick in den Flugkäfig, in dem ich nachts fliege. Ich wollte, ich könnte in dem Traum sein und dort fliegen, anstatt hier draußen zu stehen und mich auf den Schulweg machen zu müssen. Den ganzen Tag warte ich nur darauf, zu meinen Vögeln zurückzukommen, mehr noch, in den Traum zurückzukehren. Der Tag in der Schule hat mehr von einem Traum als der Traum. Ich bin wie umgedreht. Am wirklichsten ist für mich der Traum, und dem am nächsten fühle ich mich, wenn ich meinen Vögeln zusehe. In die Schule gehen, Aufsätze schreiben, geometrische Probleme lösen, Biologie lernen oder mit Leuten reden – das ist überhaupt nicht wirklich. Die Dinge, die Tag für Tag in meinem Leben ablaufen, sind jetzt so, wie früher der Traum war. Ich weiß, daß sie geschehen, aber sie kümmern mich zu wenig, als daß ich sie behalten würde. Die Tage und Nächte vergehen. In den Nestern schlüpfen Junge aus. Weitere Eier werden gelegt. Die Pärchen sind alle auf dem richtigen Weg. Im Durchschnitt kommen mehr als vier Eier auf jedes Nest. Alle Vögel sehen gesund aus. Weil ich mit ihnen in meinen Träumen rede, fühle ich mich ihnen sehr nahe, besonders den Männchen, weil ich immer noch in ihrem Käfig fliege. Ich frage mich, was geschehen wird, wenn der Traum den Tag einholt und ich allein im Flugkäfig zurückbleibe. Oder vielleicht werde ich mit einem der Weibchen in einem Zuchtkäfig sein; aber ich habe ja keine zusätzlichen Weibchen. Ich habe nicht den geringsten Einfluß auf den Traum; ich kann nur warten und sehen, was passieren wird.
Während des Tages versuche ich, so wie im Traum mit den Männchen zu reden, vor allem mit Alfonso; aber sie ignorieren mich. Sie erkennen mich nicht; ich bin für sie nur Birdy, der Junge. Ich fühle mich zurückgewiesen, allein. Ich verbringe meine Tage damit, verschiedene Vögel mit dem Fernglas zu beobachten, weil es mich nahe heranbringt und alles andere aussperrt; die Vögel füllen mein ganzes Blickfeld aus. Sie sind so, wie sie in meinen Träumen erscheinen, real, gleich groß wie ich. Ich fühle mich ihnen körperlich nahe, sie sind mehr als kleine gefiederte Wesen. Es widerstrebt mir immer mehr, die Augen vom Fernglas zu nehmen und mich und die Dinge um mich herum zu sehen. Meine Hände, meine Füße sind grotesk. Ich werde zu einem Fremden in mir selbst, in meinen eigenen Käfigen, bei meinen eigenen Vögeln. Meine Flugübungen stelle ich ein. Wenn ich in meinen Träumen fliegen kann, brauche ich nicht in der wirklichen Welt zu fliegen. Ich bin ohnehin bereit, die Tatsache zu akzeptieren, daß es höchstwahrscheinlich keine Möglichkeit für mich gibt, vom Boden abzuheben. Ich könnte allenfalls ein ausgedehntes Gleiten schaffen, aber ich würde nicht fliegen. Ich komme auch dahinter, daß ich nicht in erster Linie fliegen will, jedenfalls nicht als ein Junge, der schwere Flügel auf und ab bewegt; ich will ein Vogel sein. In meinen Träumen bin ich ein Vogel, und nur darauf kommt es an. Ich stelle dreimal am Tag Eifutter her. Ich brauche jetzt täglich fast ein Dutzend Eier. In sämtlichen Nestern sind Junge. Es ist nicht annähernd so schön, so viele Vögel zu haben. Wenn man sich von einer Sache zu weit entfernt und wenn es davon zu viel gibt, dann sieht man alles nur noch von außen, und es wird zu einer Arbeit wie alles andere. Es fällt mir auch schwer, die Vögel anzufassen. Ich komme mir vor wie ein plumper Riese; der Vogel ist nur ein kleiner Federball, der in
meiner Hand zappelt und sich wehrt. Das hat nichts Wunderbares mehr an sich. Dann geschieht in meinem Traum etwas Neues. Ich befinde mich wie üblich im Flugkäfig; die anderen Männchen sind noch bei mir. Ich steige auf und fliege über eine Stange weg, ohne auf ihr zu landen. Es ist ein Trick, den mir Alfonso beigebracht hat. Alfonso guckt eine Weile zu und schlägt dann vor, daß wir runterfliegen und uns ein paar Körner holen. Ich fliege mit ihm nach unten und lande auf der Stange neben dem Futternapf. Es ist später Nachmittag, und der neue Betonboden liegt in der Sonne. Ich blicke in den Teil des Vogelhauses hinüber, in dem die Zuchtkäfige stehen. Ich sehe mich selbst mit dem Fernglas in den Händen auf einem Stuhl sitzen! Mein Gesicht kann ich nicht sehen, nur die Jacke und die Hose, die ich an dem Tag getragen hatte. Ich fliege an das Gitter und schaue noch einmal genau hin. Ich piepe zu mir hinüber, aber ich drehe mich nicht um. Ich kann mich ansehen, solange ich will – ich bin’s. Ich habe sogar meine rote Wollmütze auf. Ich kann auf der Stuhllehne meine eigene Hand sehen, die das Fernglas hält. Es ist, als blickte ich auf meinen eigenen Leichnam. Ich da draußen scheine nichts von mir da drinnen im Käfig zu wissen. Ich traue mich nicht, nach unten zu blicken, um festzustellen, ob ich einen Vogelleib habe. Ich fürchte, das würde den Traum beenden. Wie kann ich mich gleichzeitig an zwei Orten sehen? Das geht sogar für einen Traum zu weit. Wenn ich da draußen bin, riesengroß, und durch ein Fernglas schaue, wo bin ich dann eigentlich, was bin ich? Ich sehe nicht nach unten. Ich fliege zu Alfonso hinüber. »Al, wer ist das da draußen vor dem Käfig?« Alfonso blickt beiläufig durch den Maschendraht. Er knackt ein weiteres Samenkorn und schluckt es.
»Er ist derjenige, der uns hier hält, er füttert uns, er trägt uns von Käfig zu Käfig. Er hat mich einst hergebracht. Er hat auch Birdie hergebracht. Jeder kennt ihn.« »Ja schon, aber was ist er?« Ich will herausbekommen, was Alfonso weiß. Ich will wissen, in welchem Maß Alfonso nur mich im Traum verkörpert. »Ich weiß nicht. Es ist besser, nicht zu fragen. Er ist einfach da. Ohne ihn gäbe es nichts.« Ich fliege wieder nach oben auf die Sitzstange. In meinem Traum weiß Alfonso nichts, nur ich weiß Bescheid. Ich bin verwirrt, und diesmal bin ich nicht sicher, daß ich träume. Der Traum verändert sich. Es ist das erste Mal, daß ich zwei getrennte Wesen bin. Auch die Zeit holt langsam den Traum ein. Am Morgen bleibe ich lange im Bett; es ist Samstag. Ich muß die ganzen Zuchtkäfige säubern. Ich muß frisches Futter nachfüllen, Wasserröhrchen putzen, Eifutter mischen und all die Schälchen für das Eifutter auswaschen. Denken Vögel je darüber nach, wo das Futter herkommt? Man müßte Hunderte von Kilometern weit gehen, um eines dieser Körner in der Natur zu finden. Es ist alles so künstlich, so unecht. Ihr Leben geht weiter, weil ich es so haben will. Wahrscheinlich ist unsere Welt nicht anders. Zum Frühstück streiche ich Butter auf meinen Toast. Ich weiß nicht, wie man Butter oder Brot herstellt. Ich weiß nicht, wie man eine Kuh großzieht oder melkt. Ich weiß nicht, wie man Weizen anpflanzt, erntet, drischt, mahlt, bäckt. »Little Red Hen« ist da viel gescheiter als ich.
Wer gewinnt? Was heißt das, gewinnen? Am sichersten verlierst du, wenn du unbedingt gewinnen mußt. Eins steht fest. Du kannst dieses Scheißleben nie auf die Schultern zwingen.
Ich komme langsam dahin, daß der Traum nicht mehr auseinanderfällt. Tagsüber ruht er zwar, aber ich kann mich nicht daran erinnern, daß er ruht. Ich kann mich auch beim besten Willen nicht daran erinnern, wann das, was ich den Traum nenne, angefangen hat. In meinem Traum bin ich überzeugt, daß ich schon immer dagewesen bin, und der Traum hat keinen Anfang. Wenn ich zum Vogelhaus rausgehe, komme ich mir nicht merkwürdig vor. Ich weiß, im Traum in diesem Vogelhaus existiere ich als »ich«. Ich weiß, ich habe meine Aufgaben zu erledigen und die Vögel erwarten, daß ich sie erledige. Ich bin Birdy, der Junge, der alles erst möglich macht. Ohne mich gäbe es nichts. Ich gehöre hierher; ich bin ein Teil davon. Ich sitze da und beobachte die Vögel, und ich denke nach. Ein Teil von mir möchte verstehen, und ein anderer Teil möchte alles einfach weiterlaufen lassen. Ich hole einen Bleistift und ein Stück Papier. Ich schreibe mir eine Botschaft und lege sie auf den Boden des Vogelhauses. Wieviel von dem, was während des Tages geschieht, hat irgend etwas mit dem Traum zu tun? Kann ich auf diese Weise Verbindung mit mir selbst aufnehmen? In dieser Nacht bin ich allein im Vogelhaus. Es ist so leer wie am Tage. Der Traum hat weiter aufgeholt. Ich kann die Männchen in den Zuchtkäfigen hören, genau wie in der wirklichen Welt. Ich fliege nach unten, um mir Eifutter und Löwenzahnblätter zu holen. Der Zettel mit der Botschaft liegt am Boden. »Birdy ist ein Vogel ist Birdie.« Es sind die Worte, die ich aufgeschrieben habe. Ich fliege zu einer der höchsten Stangen. Ich fühle mich schrecklich abgeschnitten; ich bin selbst von den anderen Vögeln abgeschnitten. Ich piepe und rufe nach ihnen, aber sie antworten mir
nicht. Ich rufe nach Alfonso. Nichts! Ich bin allein, aber ich kann fliegen. Ich übe mich im Fliegen und versuche, genau zu empfinden, wie es eigentlich ist. Ich hatte die falschen Vorstellungen, als ich meine Modelle baute. Fliegen ist nicht wie schwimmen. Es geht nicht nur darum, nach unten zu drücken, Luft unter die Flügel zu bekommen und dagegen zu drücken. Man hat das Gefühl, daß man von oben angezogen wird, daß man nach oben in eine Leere fliegt. Außerdem drehen sich meine Flugfedern und zerren an der Luft, ziehen nach hinten, so daß ich mich vorwärts bewege. Ich hatte nichts an meinen Modellen, was mich nach vorn bewegte. Mit den Flügeln nach vorn zu greifen und sie dann nach hinten zu bewegen, das reicht allein nicht. Die Flugfedern arbeiten wie der Propeller eines Flugzeugs. Ich habe den Mut, an mir hinunterzublicken. Ich bin ein Vogel. Ich sehe genau wie ein Kanarienvogel aus. Ich sehe aus wie Birdie. Ich fliege kreuz und quer durch den Käfig und versuche mich beim Fliegen zu beobachten. Es ist ein großartiges Gefühl, herrlicher als ich das je hätte erwarten können. Ich blicke nach draußen und wünsche mir wieder, ich könnte frei umherfliegen. Es gibt so viele Orte, zu denen ich fliegen möchte. Es ist so natürlich zu fliegen und so unnatürlich, nirgendwo hinfliegen zu können. Am nächsten Tag denke ich über die Sache mit meiner Botschaft nach. Eigentlich beweist es überhaupt nichts, weil ich bereits wußte, was auf dem Zettel stand. Ich bin mit diesem Wissen in den Traum gegangen und deshalb sah ich etwas, was ich schon vorher wußte. Nach dem Füttern und einem Blick in die Nester nehme ich fünf Zettel und schreibe fünf verschiedene Botschaften drauf. Ich drehe sie um und mische sie gründlich. Ich ziehe einen aufs Geratewohl heraus und lege ihn mit der Schrift nach oben auf
den Boden des Vogelhauses, ohne ihn noch einmal anzusehen. Ich bringe außerdem Körner, Eifutter und Wasser in den leeren Käfig. Das ergibt überhaupt keinen Sinn, denn als die anderen Männchen da waren, gab es immer etwas zu fressen, obwohl der Käfig seit zwei Wochen leer gewesen war und ich kein Futter nachgefüllt hatte. Aber inzwischen hat der Traum aufgeholt und ich will nicht riskieren, im Traum zu verhungern. Ich habe den Verdacht, daß ich möglicherweise mehrere Tage lang in dem Traum gefangen sein könnte, selbst in einer einzigen Nacht. In dieser Nacht bin ich in meinem Traum wieder allein. Am Boden liegt das Stück Papier. Ich fliege hinunter, um es zu lesen. Alle fünf Botschaften stehen auf dem einen Stück Papier. Ich gehe hinüber, um etwas Eifutter zu fressen und einen Tropfen Wasser zu trinken. Ich sehe mir wieder das Papier an. Diesmal steht überhaupt nichts drauf. Ich verstehe langsam, was ich da mache. Ich bin an dem Punkt, wo einem Dinge zustoßen oder wo man selbst bestimmt, was einem zustößt. Keine Frage, es ist mein Traum, und er ist so wirklich wie nur irgendwas, aber er richtet sich weitgehend nach dem, was ich will. Gewöhnlich weiß ich nicht, was ich will und deshalb ist es schwer, den Traum zu steuern. Außerdem kommen Dinge, die sich außerhalb des Traums abspielen, von sich aus in den Traum. Ich kann in dem Traum nichts geschehen lassen, was nicht in ähnlicher Form während des Tages geschieht. Ich verstehe das alles immer noch nicht, aber ich habe keine Angst.
Danach schaffe ich es sogar, mit den anderen Vögeln in den Zuchtkäfigen zu reden. Bis dahin habe ich noch nie von der großen Voliere im Vogelhaus aus mit ihnen geredet oder zu ihnen hinübergeschaut, und deshalb muß ich es mir ausdrück-
lich wünschen, bevor es geschehen kann. Ich kenne die Vögel, ich weiß, wo sie sind, und ich habe schon mit ihnen geredet. Ich bringe all diese Dinge zusammen, damit es geschieht. Ich rede zuerst mit Alfonso und dann mit Birdie. Es ist schön, mit ihr zu reden. Ich kenne sie so gut, aber wir haben noch nie miteinander reden können. Sie ist ganz ausgelassen, weil sie wieder ein Nest voll Junge hat, und freut sich, daß ich in dem Traum bin. Sie sagt nicht »in dem Traum«, sie sagt »bei uns«. Ich rede fast mit allen Vögeln in den Zuchtkäfigen. Aufgrund meiner Beobachtungen mit dem Fernglas weiß ich, wie jeder Käfig von innen aussieht und welcher Vogel in welchem Käfig ist. Ohne einen der Vögel zu sehen, weiß ich, mit wem ich rede. Ich fühle mich nicht mehr ganz so allein. Es gibt noch einen Punkt, in dem ich mich von einem Vogel unterscheide: Ich blicke die Dinge mit beiden Augen an, direkt von vorn. Ich kann mich nicht auf die Sehweise eines Vogels umstellen. Wenn ich nicht an mir hinunterblicke, fühle ich mich in jeder Hinsicht als ich selbst, als Birdy der Junge. Bevor ich mich am nächsten Morgen auf den Schulweg mache, gehe ich hinaus, um Eifutter nachzufüllen und generell nach dem Rechten zu sehen. Ich schaue nach dem Zettel am Boden, und er ist noch da, aber nur mit einer Botschaft. Das Eifutter ist unberührt. Den ganzen Tag denke ich in der Schule darüber nach. Ich träume die Dinge, die ich weiß. Deshalb bin ich auch Birdie; ich kenne Birdie am besten. Ich frage mich, ob ich ein Weibchen bin. Birdie ist ein Weibchen, aber ich war im Käfig der Männchen. Ich würde gerne herausbekommen, was ich nun bin. Ich will mich nicht zu dem einen oder zu dem anderen machen, ich will nur wissen, was ich bin.
Geschlecht, Alter, Rassen, all dieser blöde Quatsch bringt die Leute auseinander. Der Wettbewerb ist noch das einzige, was
uns verbindet. Aber wenn du jemand »schlagen« mußt, bist du erst recht allein. Wir haben Spiele erfunden, die uns helfen sollen, zu vergessen, daß wir das richtige Spielen verlernt haben. Man spielt einfach um des Spielens willen; Birdy und ich spielten viel. Birdy hat mich eben richtig angegrinst, mit seinem alten echten »Es-macht-nichts«-Grinsen. Es könnte tatsächlich sein, daß er das alles nur vortäuscht. Meinetwegen; ich finde das ganz in Ordnung.
In meinem Traum heute nacht werde ich versuchen zu singen; das müßte mir eigentlich die Antwort bringen. An diesem Nachmittag habe ich mit dem Geometrielehrer, Mr. Shull, eine Auseinandersetzung über Parallelen. Ich behaupte, sie müßten sich irgendwo überschneiden. Ich fange an zu denken, daß alles irgendwo aufeinander zuläuft. Im Traum singe ich. Ich kann mich nicht erinnern, als Junge gesungen zu haben, aber als ein Vogel zu singen, das ist etwas völlig anderes; es gibt für mich nichts Vergleichbares. Es ist ganz anders, als ich mir das vorgestellt habe. Mein Gesang hört sich an wie der Gesang eines Harzer Rollers, aber die Worte, die ich höre, sind englisch und klingen fast wie ein Gedicht. Ich höre mich gleichzeitig als Vogel und als Junge, der Worte spricht. Ich singe von den Gedanken, die ich mir über das Fliegen gemacht habe, vermischt mit den Empfindungen, die ich als Vogel habe. Eines der ersten Lieder, die ich singe, klingt so: Furcht ist dem fremd, der frei umherfliegt. Er spürt nur die Weite der Luft, ist von allem gelöst. Ich sehe die Erde unter mir, und sie ist so unten wie der Himmel oben ist, wenn man von der Erde hinaufblickt. Alles ist weit weg oder nicht mehr da, und das Spiel der Schwerkraft ist wie Sand.
Nun weiß ich, daß ich nicht in jeder Hinsicht Birdie bin. Ich kann Birdie drüben im Zuchtkäfig hören. Sie möchte, daß ich noch mehr singe, aber das Singen fällt mir immer noch schwer. Alfonso fängt an, für Birdie zu singen. Zum erstenmal kann ich sein ganzes Lied verstehen. Er singt folgendes: Komm flieg mit mir; trockene Disteln, die durch einen kristallenen Himmel schweben, du und ich. Da unten erheben sich buckelartig die Berge, und Wolken segeln dahin, und Kühe schlummern sieben Mägen tief im Klee. Wir gleiten zusammen im wirbelnden Strom der Lüfte und kümmern uns um nichts. Wir sind jeder der andere, und wir fliegen dahin, um fruchtbare Felder und stille Küsten zu finden. Ich höre zu und weiß, Alfonso könnte dieses Lied nicht singen. Ein Vogel kann nichts von Kuhmägen wissen. Ich habe gerade eben im Biologieunterricht etwas über sie gelernt. Alfonso ist nie über Berge oder Wolken geflogen; es sind meine Vorstellungen. Alfonso singt, und ich höre sein Lied mit meiner Vorstellungskraft in meinem Traum. Kann Alfonso wirklich reden oder bin das immer nur ich? Ich kann das nicht glauben. Alfonso hat mir Dinge über das Fliegen beigebracht, die ich selber gar nicht wissen könnte. Ich kann das in meinem Traum nicht auf einen Nenner bringen. In dieser Nacht weiß ich während des ganzen Traumes, daß ich träume. Eins weiß ich sicher: Singen ist wie fliegen. Wenn ich singe, mache ich die Augen zu und sehe mich durch und über Bäume fliegen. Ich bin sicher, das ist der Grund, weshalb Kanarienvögel singen. Man hat sie in Käfige gesperrt, weil sie sangen und nun singen sie, weil sie in Käfigen leben. Kanarienvögel leben seit über vierhundert Jahren in Käfigen. Eine Kanariengeneration, die Zeit vom Ausschlüpfen bis zum Brüten, beträgt weniger als ein Jahr. Eine Menschengeneration beträgt etwa zwanzig Jahre. Deshalb entspricht die Zeit, die Vögel in Käfigen verbracht haben, achttausend Menschenjah-
ren. Tatsächlich haben gleich viele Generationen von Kanarienvögeln und Menschen in Käfigen gelebt. Ich überlege mir manchmal, welche menschliche Tätigkeit wohl dem Singen der Kanarienvögel gleichkommt. Wahrscheinlich ist es das Denken. Wir haben den Käfig der Zivilisation gebaut, weil wir denken konnten, und jetzt müssen wir denken, weil wir in unserem Käfig gefangen sind. Ich bin sicher, daß es immer noch eine wirkliche Welt gibt, wenn ich nur aus dem Käfig rauskomme. Würden aber meine Kanarien so viel singen, wenn sie außerhalb des Käfigs leben und frei herumfliegen könnten? Ich weiß es nicht. Ich hoffe nur, eines Tages werde ich dahinterkommen. In den Zuchtkäfigen läuft alles bestens. Die ersten Vögel haben bereits das Nest verlassen. Bald werden einige so weit sein, daß ich sie in die Flugkäfige bringen kann. Ich weiß nicht, ob ich sie in den einen Käfig tun soll, in dem ich im Traum bin, oder in den anderen. Ich bin mir immer noch unschlüssig, als ich das erstemal von Perta träume. Perta ist kleiner als die meisten Kanariweibchen. Ihr Kopf ist von einem feinen Hellgrün, das zur Brust hin an Farbe gewinnt und in ein zartes Gelbgrün übergeht und auf den Flügeln zu einem dunkleren Grün wird. Auf den Flügeln verändern sich die Farben von Federschicht zu Federschicht. Das ergibt eine buntscheckige Fläche wie bei einer Blauscheck-Taube, nur eben in Grünschattierungen. Sie hat außen an den Flügeln weiße Binden, da die letzten zwei Flugfedern an jedem Flügel weiß sind. Ihre Gestalt ist rundlich, und sie fliegt mit kleinen Bewegungen, mit raschen Flügelschlägen, aber mit viel Eleganz und hoher Geschwindigkeit. Sie hat Zeichnungen über den Augen, die fast wie Augenbrauen aussehen. Schnabel und Beine sind bei ihr nicht so dunkel wie bei Alfonso, aber auch nicht so blaßrot wie bei Birdie.
In meinem Traum schlafe ich auf der obersten Stange des Vogelhauses und träume. Ich bin einsam und müde; ich bin schläfrig und schlafe in meinem eigenen Traum. Soviel weiß ich jedenfalls. Es dauert mehrere Nächte, bis mir klar wird, daß ich im Traum von Perta träume. In dem Traum-Traum sitze ich allein in dem Flugkäfig, und als ich nach unten blicke, sehe ich einen Vogel am Futternapf. Ich weiß sofort, daß es ein Weibchen ist. Entweder weiß sie nicht, daß ich auf der obersten Stange sitze, oder aber sie ignoriert mich. Ich verhalte mich still, beobachte sie und genieße ihre Bewegungen. Ich sehe genau hin, so wie ich als Junge die Vögel mit dem Fernglas beobachte. Ihr Fliegen ist, was die reine Kraft oder den Schub betrifft, nicht außergewöhnlich, aber sie ist sehr leicht in der Luft. Ich spüre, daß sie das Fliegen liebt und zum Vergnügen fliegt. Ich sehe zu, wie sie verschiedene Landungen und Kurventechniken übt. Sie stimmt die Bewegung des Schwanzes, das Kippen der Flügel und die Richtungsänderung des Körpers so aufeinander ab, als tanze sie in der Luft. Ich verliebe mich in sie im Traum, so wie ich mich vorher in Birdie verliebt habe, aber diesmal ist es viel, viel realer. In meinem Traum singe ich ihr die Lieder, die ich kenne, und einige, von denen ich nicht wußte, daß ich sie kenne. Als ich in meinem Bett aufwache, kann ich mich nicht an die Lieder erinnern, die ich gesungen habe. Es sitzt zu tief im Innern. Als Junge beschließe ich, Wasser in den Flugkäfig zu stellen, damit Perta baden kann. Es soll etwas Besonderes sein. Als meine Mutter gerade nicht in der Küche ist, hole ich die Butterdose aus geschliffenem Glas, die sie bekam, als ihre Mutter starb. Wir verwenden sie nur, wenn Besuch da ist, und deshalb bin ich sicher, daß sie nichts merkt, wenn sie eine Nacht fehlt. An diesem Nachmittag stelle ich die Dose auf den Käfigboden, nachdem ich alle Vögel gefüttert habe.
Ich bringe die Jungvögel aus zwei Nestern in den anderen Flugkäfig; sie fressen Eifutter und knacken bereits ihre ersten Samenkörner. Den für die Männchen vorgesehenen Flugkäfig halte ich für Perta und mich frei. Ich nenne sie Perta, weil das Wort dem Geräusch ähnelt, an dem ich sie erkenne. Nun ist es also so, daß ich zu träumen beginne und mich dann in dem Traum zwinge, wieder einzuschlafen, um träumen zu können. Perta erscheint in dem Traum-Traum. Das Wasser steht am Boden, in der späten Nachmittagssonne, genau so, wie ich es an dem Nachmittag zurückgelassen hatte. Das Licht wird von dem geschliffenen Glas gebrochen und wirft Regenbogen auf den Boden und an die Rückwand. Ich warte geduldig auf meiner Sitzstange im oberen, dunklen Teil des Vogelhauses. Ich weiß, ich veranlasse das alles, ich kontrolliere den Traum im Traum, aber ich weiß auch, daß ich Gefühle und Ahnungen habe, die über mich hinausgehen und von denen ich nicht weiß, wie sie sich entwickeln werden. Ich bin in die hintersten Winkel meiner Seele vorgedrungen. Perta hüpft auf den Rand der Schale und steckt ihren Schnabel in das klare, kalte Wasser. Sie läßt es sich in die Kehle rinnen und neigt dazu den Kopf nach hinten und schiebt die Brust vor und reckt sich auf den dünnen Beinen in die Höhe. Sie wiederholt das Ganze. Ich beobachte sie. Dann hält sie den ganzen Kopf ins Wasser und spritzt es nach hinten unter die Flügel. Sie flattert mit den Flügeln, um das kalte Wasser an die wärmsten Stellen unter den Flügeln zu bringen, ganz innen, wo die weichsten Daunenfedern sind. Sie macht das zwei- oder dreimal, bevor sie spielerisch leicht ins Wasser läuft, den Rücken krümmt, den Kopf zur Seite neigt und anfängt, sich das saubere Wasser auf den Rücken zu werfen, auf die Federn zwischen den Flügeln.
Ich sehe das alles mit einer unnatürlichen Deutlichkeit. Es ist, als stünde ich neben ihr. Ich sehe, wie jeder Tropfen unversehrt bleibt und von den weichen Federn rollt. Ich kann die raschen Bewegungen ihres Bades verlangsamen, so daß sie sich vor meinen Augen langsam abspielen und eine unendliche Anmut offenbaren. Dann fange ich an zu singen. Ich habe mich nicht bewußt dazu entschieden, aber ich singe. Perta ist zu einer Stange geflogen und putzt sich. Sie scheint mich nicht zu hören. Ich bin erregt. Ich spüre, wie mich heißes Blut durchströmt. Meine ganzen Muskeln sind angespannt, und meine Flügel sind leicht vom Körper abgehoben. Ich habe mich auf meinen Beinen hoch aufgerichtet und wiege mich beim Singen hin und her; ich tanze zu meinem eigenen Rhythmus und konzentriere mich mit allem, was ich habe, auf Perta. Ich empfinde ein Drängen, ein Bedürfnis, ein Begehren nach Vollendung. Perta ist damit beschäftigt, sich zu putzen. Ich fliege zu ihr hinunter. Ich lande neben ihr auf der Sitzstange und lege noch mehr Kraft und Verlangen in meinen Gesang. Perta beachtet mich nicht. Sie dreht den Kopf nicht nach mir um und rührt sich nicht von der Stelle. Ich rücke ihr etwas näher. Sie weicht nicht zurück. Ich rechne damit, daß sie davonfliegt; ich will hinter ihr herjagen, im Flug zu ihr singen Ich rücke noch näher. Sie hat den Kopf nach hinten gedreht und zieht die Federn auf dem Rücken durch ihren Schnabel, um sie zu kämmen. Jetzt gibt es nur noch eines; ich spüre es in meinem Innern. Ich fliege über Perta und lasse mich auf sie herab. Ich berste vor Leidenschaft. Da ist nichts! Ich komme dort herunter, wo eben noch Perta war, doch da ist nichts. Ich bin allein! Ich stürze, nicht von der Stange, sondern aus den Träumen. Ich stürze aus meinem Traum-Traum in meinen Traum, erkenne mich für einen kurzen Augenblick, allein, auf der obersten Stange schlafend, stürze
dann weiter aus dem Traum und in mein Bett in meinem Zimmer.
Ich wache auf. Es ist das erste Mal, daß ich einen feuchten Traum hatte. Ich habe zwar immer wieder von feuchten Träumen gehört, aber selber noch nie einen gehabt. Ich gehe ins Bad und wasche mich. Dann wische ich mit dem Waschlappen die Bettlaken sauber. Ich lege mich zurück, und mir ist, als hätte ich einen tiefen Sturz hinter mir. Ich bin wieder schrecklich allein. Am Wochenende mache ich mich auf die Suche nach ihr. Ich weiß, daß sie irgendwo sein muß. Ich muß sie gesehen haben, ohne es zu wissen. Ich kann sie nicht einfach erfunden haben. Instinktiv gehe ich zuerst zu Mr. Lincoln. In seinen Zuchtkäfigen ist sehr viel Leben. Er zeigt mir seine neuen Jungvögel. Er hat zwei sehr dunkle. Er erzählt mir, wenn er im gleichen Tempo weitermache wie bisher, werde er in etwa zehn Jahren seinen vollkommen schwarzen Kanarienvogel haben. Er hat das mit einer Kurve auf einem Schaubild dargestellt. Er sagt, das Dunklerwerden läßt immer mehr nach, je näher man dem Ziel kommt. Der Unterschied erscheint geringer, und man hat immer wieder Rückfälle. Er schätzt, daß er neunzig Prozent des Weges hinter sich gebracht hat; in zehn Jahren wird er einen Vogel haben, der zu neunundneunzig Komma sechsundneunzig Prozent schwarz ist. Er zeigt mit dem Finger auf sich und sagt: »Ich selber bin noch nicht mal zu neunzig Prozent schwarz, bei weitem nicht.« Ich frage ihn, ob er irgendwelche Weibchen hat, die er nicht in der Zucht einsetzt. Ich will sehen, ob sie da ist. Sie ist in keinem der Zuchtkäfige. Ich wußte, daß sie dort nicht zu finden sein würde. Er zeigt auf die Plane über seiner Voliere auf der linken Seite. Er sagt, er deckt sie ab, weil die freien Weibchen
mit den Männchen in den Zuchtkäfigen flirten, und diese Männchen singen dann zurück; manchmal macht das ein Weibchen auf einem Nest so wütend, daß sie das Nest aufgibt. Daran hatte ich noch nie gedacht. Er erzählt mir, daß er diese Weibchen verkaufen wird; die meisten von ihnen sind unfruchtbar oder legen pro Nest nur ein oder zwei Eier, und in seinen Zuchttabellen spielen sie allesamt keine Rolle, sie sind über. Ich blicke in den Käfig, und da sind etwa zehn Weibchen. Ich sehe sie sofort. Es ist Perta, genau wie ich sie kenne. Ein Teil von mir, mein Vogelteil, hat sich an sie erinnert. Als Junge bin ich in sie verknallt. In meinem Traum habe ich mich als Vogel in sie verliebt, aber dann ist es in mein Leben als Junge durchgebrochen. Ich muß sie haben; ich wende mich Mr. Lincoln zu und deute auf sie. Es scheint so seltsam, sie als einen Vogel zu sehen, wenn ich ein Junge bin; ich komme mir vor wie ein Spion, wie einer, der durch ein Schlüsselloch späht und etwas sieht, was nicht für ihn bestimmt ist. »Du meinst diese da?« Er zeigt auf sie, und ich nicke. »An ihr wirst du nicht viel Freude haben. Ich habe sie jetzt seit zwei Jahren, und sie hat noch nicht ein fruchtbares Ei gelegt. Ich hab’s bei ihr mit drei verschiedenen Männchen probiert. Der letzte war der geilste Bock von einem Vogel, den du dir vorstellen kannst. Aber sie hat jedesmal ihre vier tauben Eier. Befruchtet worden ist sie, da bin ich sicher. Aber irgend etwas ist mit ihr nicht in Ordnung.« Mr. Lincoln beobachtet sie mit mir zusammen. Sie bewegt sich seitlich auf der Stange, hüpft hin und her. Sie sieht mich. Ich weiß es. »Ich müßte schon einen mächtigen Haß auf jemand haben, bevor ich ihm die andrehen würde. Eigentlich sollte ich ihr den Hals umdrehen, aber ich bringe es nicht über mich, sie ist so
ein hübsches kleines Ding. Aber ein Weibchen, das kein fruchtbares Ei legt, taugt nun mal nichts. Dabei würde sie bestimmt eine prächtige kleine Mutter abgeben. Du solltest mal sehen, was für ein feines Nest sie baut; und dann setzt sie sich so treu und brav drauf, wie man sich das nur wünschen kann – alles für die Katz.« »Ich möchte sie kaufen.« Jetzt ist es raus. Ich beobachte sie, und ich weiß, daß auch sie mich beobachtet. In dem Traum-Traum hat sie mich nie angesehen. Würde sie mich jetzt ansehen? »Ich verkaufe sie nicht. Ich geb sie dir so. Dann brauche ich ihr schon nicht den Hals umzudrehen. Die kann nur fressen, sonst nichts.« Ich möchte sie wirklich nicht kaufen. Ich bin froh, daß Mr. Lincoln sie mir gibt. Es ist, als wäre er der Vater, der mir die Erlaubnis gibt, seine Tochter zu heiraten. Ich kann nichts sagen und so strecke ich die Hand aus, um Mr. Lincoln zu danken. Für einen Moment weiß er nicht, was er tun soll, aber dann sieht er, daß es mir ernst ist. Er nimmt meine Rechte in beide Hände. Er blickt mir in die Augen. Meine Augen füllen sich mit Tränen, aber nicht, weil mir zum Heulen zumute ist, sondern weil ich so aufgeregt und glücklich bin. »Ist irgendwas, mein Junge? Du bist doch nicht krank?« Ich schüttle den Kopf. Ich will nicht reden. Wenn man ein Vogel gewesen ist, kommt einem das Reden so grob vor wie das Grunzen. Mr. Lincoln weiß irgendwie, was los ist; er wendet sich ab und geht in die Voliere. Er fängt sie mühelos; er geht einfach hin und nimmt sie von der Stange herunter. Sie will sich fangen lassen. Ich weiß es. Er bringt sie in der Hand heraus, dreht sie auf den Rücken und bläst die Federn um die Kloake weg. »Siehst du? Sie ist bereit, keine Frage. Man könnte meinen, sie sei das perfekte Weibchen.«
Ich mache die Augen zu, um nicht hinsehen zu müssen. Mr. Lincoln merkt nichts. Er dreht Perta wieder um und fährt ihr mit den Fingern über den Kopf. »Da. Sie hat kleine Zeichnungen über jedem Auge, fast wie die Augenbrauen bei einem Menschen. Das hab ich bei einem Vogel noch nie gesehen.« Ich nicke. Er gibt sie mir in die Hand. Ich kann ihren Herzschlag spüren. Mr. Lincoln will mir eine kleine Transportkiste holen, aber ich sage ihm, daß ich sie in der Hand nach Hause tragen kann. Ich versuche, Mr. Lincoln zu danken, aber eigentlich will ich jetzt nur noch weg, mit Perta.
Ich bringe sie in die Voliere und beobachte sie für den Rest des Tages mit dem Fernglas. Es ist genau wie in dem TraumTraum. Es ist das erste Mal, daß etwas, was im Traum angefangen hat, nachher in meinem Jungenleben weitergeht. Als ich einen Blick in die Zuchtkäfige werfe und die Böden putze, fühle ich mich als Teil der anderen Vögel. Ich bin nicht allein, auch wenn ich nur ein Junge bin; auch ich habe mein Weibchen. Sie ist in meinem Jungenleben ebenso bei mir wie in meinem Traum-Traum. Ich hoffe, sie wird heute nacht in dem richtigen Traum sein. Die Aussicht erregt mich sogar noch mehr als das Fliegen. Im Traum in dieser Nacht schlafe ich nicht. Ich sitze auf der höchsten Stange und sehe sie unten am Käfigboden, wo sie – wie das erste Mal in dem Traum-Traum – aus dem Futternapf frißt. Ich kenne mich inzwischen gut genug aus, um zu wissen, daß ich träume und um zu wissen, weshalb sie da ist, aber diese Gedanken sind selbst nur wie Träume. Sie ist hier in meinem Traum höchst real. Ich sehe ihr eine Weile zu. Die Butterdose ist mit Wasser gefüllt, und sie badet darin so wie vorher in dem Traum-Traum.
Ich hatte vergessen, vor dem Schlafengehen die Dose in den Käfig zu stellen; das zeigt, wie der Traum sein eigenes Leben haben kann. Mein Traum-Ich weiß besser als ich selbst, was ich will. Ich sehe ihr, wie schon einmal, beim Baden zu. Bis jetzt hat sie mich noch nicht auf der oberen Stange sitzen sehen. Ich singe für sie:
Wie kommt es, daß ich dich kenne, Fremde? In welch grenzenlosem Himmel sind wir geflogen? Vielleicht war ich die Luft und du der Vogel. Bist du durch mich hindurchgeflogen? Warum haben wir uns nicht gepaart? Gib mir ein Zeichen; wirst du die Meine sein? Siehst du mich, fühlst du mein Verlangen? Oder hat dich mein Lied schon ermüdet?
Am Ende des Singens fliege ich zu ihr hinunter. Sie sieht mich. Sie hört mich. Die Mauer zwischen uns ist gefallen. »Hallo. Ich wußte nicht, daß noch ein Vogel in diesem Käfig ist. Ich dachte, ich sei allein. Bist du schon lange da?« Ich möchte sie nicht anlügen, aber ich möchte auch, daß sie in mir nur einen Vogel sieht. Ich antworte ihr. »Ja, ich bin schon die ganze Zeit hier.« »Dein Lied gefällt mir. Du singst sehr gut. Hast du ein Weibchen?« »Nein. Ich bin allein.« »Hast du das ernst gemeint in deinem Lied? Hast du gesungen, was dich bewegt? Oder hast du einfach gesungen?« »Ich habe es ernst gemeint. Ich habe gesungen, was mich bewegt.«
»Ich habe kein Männchen mehr. Ich habe noch nie Junge gehabt. Ich habe viele Eier gehabt, aber keine Jungen. Ich wäre gern dein Weibchen, aber du solltest das wissen.« »Ja, das würde mir gefallen.« »Verstehst du, was ich sage?« Ich kann ihr nicht antworten. Ich habe noch nie mit jemand gesprochen, der so direkt redet und denkt. Was sie denkt, wie sie sich gibt, das ist so klar und durchsichtig wie sauberes Wasser. Es gibt zwischen uns ein so natürliches Ineinanderfließen, wie ich das noch nie erlebt habe. Ich spüre, wie ich aus mir heraustrete und in sie ströme und wie sie in mich strömt. Ich beginne zu singen:
Ich bringe den unverdorbenen Samen der Freude, ein endloses Ineinanderströmen. Laß uns fliegen. Unsere Zeit wächst aus dem, was gestern das Morgen war; wir gleiten sanft in unsere eigene Vergangenheit. Laß uns fliegen.
»Das war wunderschön, noch stärker als das erste Lied. Du hast Gedanken in deinen Liedern, die ich noch nie gehört habe. Man könnte meinen, du bist mehr als ein Vogel, warst außerhalb des Käfigs.« »Danke schön. Aber wenn du ein Vogel bist, gibt es kein Mehr und kein Außerhalb. Laß uns zusammen fliegen.« Wir fliegen die ganze Nacht im Käfig herum. Ich zeige ihr Dinge, die mir Alfonso beigebracht hat, und sie zeigt mir, wie sie ihre raschen Wenden und ihre langsamen anmutigen Landungen macht. Sie hat eine elegante Art, die Luft als eine Art Stütze zu gebrauchen und nicht auf ihr zu gleiten. Es ist wie
beim Wassertreten. Sie zeigt mir, wie ich das schaffen kann, ohne zu zappeln oder gegen die Luft anzukämpfen.
Als ich in der nächsten Nacht träume, ist es früher Nachmittag. Es ist früher am Tag als in allen bisherigen Träumen. Das Badewasser ist da, und es ist frisch. Diesmal habe ich nicht vergessen, es reinzustellen. Perta ist da. Sie wartet schon und begrüßt mich, indem sie herauffliegt, bevor ich zu ihr runterfliegen kann. Sie blickt mir in die Augen, direkt von vorn, ganz und gar nicht wie ein Vogel. Kaum ist mir das aufgefallen, als sie auch schon den Kopf zur Seite neigt und mich auf richtige Vogelart anblickt. Wir drehen unsere Köpfe mal auf die eine, mal auf die andere Seite, und jeder blickt in den anderen hinein; ich von links und sie von links, beide von rechts, ich von links und sie von rechts, ich von rechts und sie von links. Bei Vögeln hab ich das noch nie gesehen. Dann fliegt sie auf die untere Stange. »Komm, Birdy, laß uns zusammen baden.« Ich habe ihr meinen Namen nicht gesagt. Ich folge ihr nach unten und frage mich, woher sie meinen Namen kennt; das gibt ein großes Loch in dem Traum. Ich versteh das nicht. Ist die Perta hier von der Perta in der Voliere völlig getrennt? Ist sie ganz und gar meine Erfindung? Weiß sie meinen Namen, weil ich ihn weiß? Ich fliege mit ihr hinunter an das Wasser. Sie steht auf dem Rand der Schale und wartet. Ich stelle mich neben sie. Sie taucht den Schnabel ins Wasser und bespritzt mich. Ich habe als Vogel noch nie gebadet. Ich weiß nicht recht, wie ich vorgehen soll. Ich tauche meinen Schnabel ins Wasser und bespritze Perta. Ich bin ungeschickt. Perta blickt mich aufmerksam an. Sie bespritzt mich wieder. Ich bespritze sie. Das zweite Mal geht’s schon besser. Ich habe furchtbar Angst, Perta könnte entdecken, daß ich kein
Vogel bin, daß ich ein Junge bin; ich habe Angst, sie könnte sich vor mir fürchten. Diese Schuldgefühle, diese Angst stehen plötzlich zwischen uns. Perta spürt es. Sie blickt mich an und steigt dann ins Wasser. Der Sonnenschein ist wieder in Stücke farbigen Lichts gebrochen. Ich bade in dem Licht, und sie wirft einen Schauer aus Wasserperlen über mich. Dann bin ich selbst in dem Bad, flattere, verliere mich in dem Licht, im Wasser, in Perta. Es ist, als badete ich in Musik. Ich möchte singen, aber ich warte ab. Ich halte mich in allem an Perta. Wir tanzen zu unserer eigenen Musik. Ich brauche nicht zu singen. Mir wird in dem Augenblick klar, daß Pertas Tanz das ist, was bei den Kanarimännchen der Gesang ist, und daß wahrscheinlich alle Kanariweibchen tanzen. Es ist etwas, was man nicht wissen kann, wenn man kein Vogel ist; Kanariweibchen tanzen. Als wir völlig naß sind, als das Bad zu Ende ist, fliegen wir zusammen kreuz und quer durch den Käfig. Unser Gefieder ist naß, und wir sind schwer. Wir fliegen mit dem Gefühl durch die Luft, das ein Junge kennt, wenn er im Wasser schwimmt. Wir fliegen langsam. Wir müssen uns den Raum, die Entfernungen erkämpfen. Wir schütteln das Wasser aus den Federn und besprühen uns dabei gegenseitig. Ich folge immer noch Pertas Führung, verfolge jede ihrer Bewegungen. Es ist immer noch ein Tanz, ein Tanz mit langsamen Bewegungen, aber ein Tanz. Perta beobachtet, daß ich sie beobachte. Ihre Augen sind voller Fragen. Vielleicht beobachten Vögel einander nie so, wie ich Perta beobachte. Ich beobachte sie, weil es mir ein solches Vergnügen bereitet, aber auch, um zu lernen, wie man als Vogel badet. Als wir endlich trocken sind, setzen wir uns nebeneinander auf eine Stange und putzen unser Gefieder. Es ist ein wunderbares Gefühl, die noch nicht ganz trockene Feder durch den Schnabel zu ziehen, die einzelnen Federästchen zu spüren und
strammzuziehen. Es ist so ähnlich, wie wenn man sich sorgfältig die nassen Haare kämmt, nur daß es einen tausendmal mehr befriedigt. Die Federn müssen auf eine ganz bestimmte Weise sitzen; eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Wenn man sie soweit hat, gibt einem das das Gefühl, daß man fertig ist, daß man alles richtig gemacht hat. Ich möchte etwas tun, was ganz und gar nicht vogelgemäß ist: ich möchte Pertas Gefieder putzen. Ich habe das bei Vögeln noch nie gesehen. Abgesehen vom gegenseitigen Füttern, vom Singen, Piep-Piep-Piepen und Ficken habe ich bei Vögeln keine Zeichen der Zuneigung gesehen. Ich möchte Perta streicheln, wie ein Junge ein Mädchen streicheln würde, aber ich habe nur meinen Schnabel und meine Füße. Es käme mir so natürlich vor, eine ihrer Federn zu nehmen und mit den weichen Rändern meines Schnabels zu glätten. Das ist eine Stelle, an der sich der Vogel und der Junge unterscheiden. Ich fasse den Entschluß, sie wegen meines Namens zu fragen. »Perta, wie kommt es, daß du meinen Namen kennst?« Sie blickt mich überrascht an und hört auf sich zu putzen. »Ich kenne deinen Namen nicht. Du hast ihn nie gesagt.« »Aber als du mich zum Baden aufgefordert hast, hast du mich Birdy genannt.« »Ja. Aber Birdy ist doch kein Name.« »Was ist es dann?« »Birdy eben; ein Vogel, von dem man den Namen nicht kennt. Birdy kann irgendein Vogel sein. Das weiß doch jeder.« Wie soll ich ihr erklären, daß das neu für mich ist? Wie paßt das alles in den Traum? Es ist eine der Nächte, in denen ich stets weiß, daß ich träume. Und es ist eine der letzten Nächte dieser Art. Perta blickt mich an. »Wie kommt es, daß du meinen Namen kennst? Ich hab ihn dir nicht gesagt.«
Perta in dem Traum-Traum hatte einen Namen, nämlich Perta. Sie sagte ihn mir nicht; ich dachte ihn mir aus. Woher soll ich ihren Namen kennen? Ich muß wieder lügen. »Du hast ihn mir gesagt, als wir in der ersten Nacht herumflogen.« Perta plustert sich auf und läßt eine halbe Minute verstreichen, bevor sie antwortet. »Nein. Ich hab ihn dir nicht gesagt. Warum lügst du mich an? Es gibt keinen Grund dafür, daß wir uns anlügen. Immer wenn wir nicht ehrlich sein können, ist etwas zwischen uns. Ohne Wahrheit ist gar nichts da.« »Ich weiß nicht, was wahr ist, Perta. Ich habe deinen Namen auf einem Weg erfahren, über den ich dir nichts sagen kann. Das ist keine Lüge.« »Es ist auch nicht die Wahrheit. Wenn man etwas weiß und nicht darüber spricht, dann ist das nicht die Wahrheit.« Perta fliegt nach unten und frißt einige Körner. Ich fliege hinter ihr her. Eine ganze Zeitlang knacken wir zusammen Körner. Ich bin furchtbar verliebt in sie. Es ist so eigenartig, in einem so weichen Wesen einen so harten Kern zu finden, einen Kern der Reinheit. Es ist wie der Stein in einem Pfirsich. Tagsüber kann ich an nichts anderes als an Perta denken. Es ist Frühling, und ich bin im zweitletzten Jahr auf der Schule. Alle sind aufgeregt und reden nur noch von dem großen Schulball. Meine Mutter fragt mich, wen ich einlade. Ich lade überhaupt niemand ein. Die Mädchen in der Schule kommen mir alle wie übergroße, plumpe Kühe vor. Sie bewegen sich, als seien ihre Füße fest mit dem Boden verwachsen. Meine Augen sind ganz auf die feinen, anmutigen Bewegungen von Vögeln eingestellt. Al geht mit einem der Mädchen, die bei Schulwettkämpfen die Zuschauer in Stimmung bringen. Er steht im Football und im Ringen in der Schulmannschaft. Und wahrscheinlich kommt er
als Diskuswerfer auch noch in die Leichtathletikmannschaft. Das sind alles Auswahlmannschaften der ganzen Schule und nicht nur unserer Klasse. Er wird der einzige in unserer Klasse sein, der in drei Sportarten die Farben unserer Schule vertritt. Al trainiert mit dem Diskus gleich hinter dem Zaun auf dem Baseballplatz. Ich gehe manchmal raus und werfe ihm den Diskus zurück. Es ist eine der wenigen, nicht mit meinen Vögeln zusammenhängenden Tätigkeiten für mich als Jungen, die mich nicht total langweilen. Um einen Diskus weit zu werfen, genügt Kraft allein noch nicht; man muß ihn auch im richtigen Winkel abwerfen, damit er von der Luft getragen und nicht allzusehr gebremst wird. Ich experimentiere damit immer wieder, wenn ich ihn Al zurückwerfe, und manchmal werfe ich ihn tatsächlich weiter als Al selbst. Ich habe natürlich auch einen außergewöhnlichen Kraftvorsprung. Durch all das Flügelschlagen sind bei mir Deltamuskeln, Trizeps und Latissimus dorsi unnatürlich stark entwickelt. Nun möchte Al, daß ich mich im Diskuswerfen um einen Platz im Leichtathletikteam bewerbe. Dauernd mißt er meine Weiten. Mir gefällt zwar das Diskuswerfen, aber nicht das Messen. Ich versuche es Al zu erklären, aber das ist hoffnungslos. Ich glaube, mit dem Messen und Zählen und Gewinnenwollen verderben sich die Leute oft selber den Spaß. Al will mich dauernd dazu überreden, irgendein Mädchen zum Schulball einzuladen. Durch seine Freundin kennt er etwa zwanzig Mädchen, die gerne zum Ball gingen, aber noch keinen Dummen gefunden haben, der sie mitnimmt. Meine Mutter wird immer hysterischer. Sie fühlt sich irgendwie persönlich beleidigt, weil ich keine Lust habe, für fünf Dollar einen Smoking zu mieten, für eineinhalb Dollar eine Orchidee zu kaufen und einem Mädchen anzustecken, das ich kaum kenne, und dann auch noch zwei Dollar für die Eintrittskarten zu zahlen.
Ich finde Tanzen widerlich, und die ganze Sache wäre für alle bloß eine Zeitverschwendung. Es sind noch drei Tage bis zum Schulball, und ich glaube schon, ich bin aus dem Schneider, doch da kommt am Abend Al zu mir. Die Vögel sind für diesen Tag versorgt, und ich freue mich schon auf den Traum für diese Nacht. Perta und ich verstehen uns immer besser, und ich habe tagsüber große Sehnsucht nach ihr. Al erzählt mir direkt vor meiner Mutter, daß er ein Mädchen namens Doris Robinson kennt, und die hat ihn gebeten, mich zu fragen, ob ich mit ihr zum Ball gehe. Sie hat die Eintrittskarten und wird auch die Blume fürs Kleid selber kaufen. Sie hat den Führerschein und kann den Wagen ihres Vaters bekommen. Ich brauche nichts weiter zu tun, als den Smoking zu mieten. Herrgott noch mal, ich könnte Al umbringen! Meine Mutter fängt mit ihrer ganzen Litanei wieder von vorne an. Sie sagt, der erste große Ball sei etwas Herrliches für einen jungen Menschen, und wenn sie die Chance gehabt hätte, die Oberschule zu besuchen, wäre der erste Schulball zu einem Höhepunkt in ihrem Leben geworden, und ich wisse gar nicht, was für ein Glückspilz ich sei. Mein Vater greift in die Tasche und zieht fünf Dollar raus. Er sagt, damit könne ich mir einen Smoking mieten. Sie haben mich in die Enge getrieben, was kann ich machen? Ich sage, daß ich gehen werde. Ich weiß, ich habe Schuldgefühle wegen Perta. Ich will es ihr erzählen. Sie soll wissen, daß mir das aufgezwungen wird und daß ich es gar nicht will. Ich spüre, daß sich eine weitere Nicht-Wahrheit zwischen uns schieben wird. Der Schulball kommt zu einem denkbar ungeschickten Zeitpunkt, mitten hinein in viel wichtigere Dinge. Perta hat mich gefragt, ob ich ein Nest mit ihr bauen will. Sie hat in letzter Zeit immer wieder die Flügel gespreizt, wenn wir zusammen waren, und deshalb bin ich jetzt nicht überrascht. Auch Perta
am Tage macht jetzt diese typischen Flügelbewegungen. Es ist eine ganz wesentliche Entscheidung für mich, und ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken. Statt dessen habe ich jetzt dieses Theater mit dem Schulball. Al geht mit mir zu dem Smokingvermieter und versucht, mir Doris schmackhaft zu machen. Er redet davon, daß sie tolle Beine habe. Ich habe schon versucht, auf die Beine von Mädchen zu achten, um herauszufinden, was daran so aufregend sein soll, aber in meinen Augen sehen sie alle gleich aus. Das eine hat hier oder da ein bißchen mehr Fleisch, das andere hat mehr Falten am Knie oder einen stärker ausgeprägten Knöchel, aber was soll’s? Und was ist an einem Frauenarsch schon Besonderes? Das ist doch nur Fleisch um ein Arschloch herum, so wie bei jedem. Es ist einfach eine Überentwicklung des Glutaeus maximus, die es dem Menschen ermöglicht, auf zwei Beinen zu gehen und sich zu setzen. Für mich ist alles, was sitzt, häßlich. Ein Vogel steht gewöhnlich, wenn er nicht fliegt. Sitzen tut er nur, um Eier auszubrüten. Das nenne ich Schönheit. Und dann die Titten. Was für eine blöde Einrichtung zum Füttern der Jungen. Frauen müssen sie ihr ganzes Leben mit sich herumschleppen, haben sie direkt vor der Nase, lose schwingend, dauernd im Weg, und dabei werden sie allenfalls zwei oder drei Jahre gebraucht. Ich habe eine Menge Titten beobachtet, und Al hat versucht, mir den Unterschied zwischen starken und schwachen Titten zu zeigen. Es kommt vor allem darauf an, wie groß und wie spitz sie sind. Ich habe im »National Geographic Magazine« geblättert und festgestellt, daß sie sich nicht wesentlich von dem unterscheiden, was eine Ziege oder eine Kuh hat; sie sind höchstens ein bißchen unbequemer. Auch auf dem Rückweg vom Smokingvermieter läßt Al nicht locker. Er weiß, ich kann das Mädchen »rumkriegen«. Damit meint er, seiner Ansicht nach werde sie zulassen, daß ich sie
ficke. Er kennt zwei Typen, die sie schon »gehabt« haben. Angeblich ist das aufregend. Ich kenne Doris Robinson. Sie ist ein ganz gewöhnliches Mädchen mit durchschnittlichen Beinen, durchschnittlichem Arsch und leicht überdurchschnittlichen Titten. Doris sieht nicht so aus, als könne sie unter irgendwelchen Umständen fliegen. Sie ist klein bis mittelgroß, ihre Haare sind von einem rötlichen Zimtbraun, und sie hat Sommersprossen. Meine Mutter würde es gern sehen, wenn ich mit einem Mädchen zum Ball ginge, die wie Doris aussieht. Al würde es gern sehen, wenn ich mit Doris zum Ball ginge. Al möchte, daß ich sie ficke. Ich weiß nicht, was meine Mutter möchte. In dem Smoking sehe ich aus wie einer von Mr. Lincolns schwarzen Vögeln. Im Bus auf dem Weg zu Doris komme ich mir vor wie eine Witzfigur. Gott sei Dank brauche ich nicht auch noch eine bescheuerte Orchidee herumzutragen. Den ganzen Abend werde ich beim Tanzen eine Orchidee unter der Nase haben. Für mich riechen Orchideen irgendwie nach Tod. Es ist ein schimmeliger, feuchter Pilzgeruch, wie aus einem alten Sarg; und über allem liegt auch noch ein feiner Parfümduft. Zusammen ergibt das den Geruch eines einbalsamierten Leichnams. Ich stelle mir zwar vor, daß ich den ganzen Abend diese Orchidee unter der Nase haben werde, aber es kommt dann doch anders. Als ich Doris’ Adresse erreiche, ist das ein großes freistehendes Haus in der vornehmen Gegend von Girard Hill. Ich gehe die private Zufahrt rauf und klopfe an die Haustür. Ihre Mutter macht auf. Ich stelle mich vor, und sie läßt mich rein. Wer zum Teufel soll denn sonst im Pinguinkostüm vor ihrer Haustür steht? Mrs. Robinson ist mächtig aufgedonnert und riecht so stark nach Parfüm, daß ich für einen Moment fürchte, ich muß sie zu dem Ball abschleppen.
»Doris wird gleich runterkommen. Wollen Sie nicht bitte hier drüben Platz nehmen?« Sie stößt mich praktisch in einen Sessel, der im Wohnzimmer gleich neben der Tür am Fuß der Treppe steht, und geht hinaus. Man hat mich zu meinem Platz geleitet, gleich kommt der große Auftritt. Ich warte. Ich fange an, an Perta zu denken. Ich würde ihr liebend gern von all dem erzählen. Ein Jammer, daß es so weit von allem entfernt ist, was sie kennt. Sie würde es nie verstehen. Und selbst wenn sie es verstehen könnte, dann würde sie es nicht glauben. Doris kommt die Treppe herunter. Vom Winde verweht feiert Auferstehung. Sie kommt drei Stufen herunter und bleibt dann stehen, als sie mich sieht. Sie fixiert den Sessel, in dem ich sitze, und setzt ein Lächeln auf wie Olivia de Havilland alias Melanie. Dann geht sie rasch die restlichen Stufen hinunter, ohne auch nur im geringsten zu hüpfen, wie auf einer Gleitschiene. Ich stehe auf. Sie verdreht die Hüften, damit das Kleid besser absteht. Das ergibt ein hartes knisterndes Taubengeräusch. Dann kommt ihre Mutter ins Zimmer zurück. In den Händen hat sie die Schachtel mit der Orchidee. Sie erzählt mir, daß sie sie in den Kühlschrank gelegt hat, damit sie frisch bleibt. Das ist nicht der schlechteste Platz für etwas, was so tot riecht. Mir wird allmählich klar, daß die das Haus wegen der Treppe gekauft haben, Doris zuliebe, damit sie beim entsprechenden Anlaß heruntergleiten kann. Die Mutter hält die Orchidee hoch, damit ich sie bewundern kann. Sie ist so groß wie eine Taube und hat auch die Form einer Taube, und zwar einer Taube, die gerade im Staub badet. Sie gibt mir die Blume und eine lange Nadel. Beide sind eiskalt. Sie erwarten, daß ich diese Blume Doris anhefte. Und in dem Augenblick stelle ich fest, daß ich dieses Ding unmöglich so festmachen kann, daß ich es nachher unter mei-
ner Nase habe. Es sei denn, ich stecke die Nadel in nacktes, rohes, sommersprossiges Fleisch. Da stehe ich nun, in der einen Hand die Nadel, in der anderen die Blume. Ich könnte sie durch diese kleine Erhebung stecken, die so aussieht, als könnte es eine ihrer Brustwarzen sein, die aber doch wohl eher ein Stück Gummi ist. Doris hat große Titten, aber in diesem Kleid stehen sie seitlich bis über ihre Ellbogen raus. Zwischen ihnen ist soviel Platz, daß ich aus dem richtigen Blickwinkel bestimmt bis zum Fußboden runtersehen könnte. Offensichtlich ist das Anstecken der Blume ein Programmpunkt, der danebengegangen ist. Die Mutter fängt an zu kichern. Doris verfärbt sich, und auf der lachsroten Haut werden auch die Sommersprossen dunkler. Die Mutter nimmt die Sache in die Hand und steckt ihr die Blume an die Taille. Jetzt sieht es so aus, als krieche von hinten eine furchterregende Rebe an ihr hoch. Ich möchte bloß wissen, wo ich beim Tanzen meine Hand hintun soll. Jetzt kommt der Vater herein. Er ist ein blasser, müde aussehender Mann. Er legt Doris einen Seidenumhang über die Schulter und gibt ihr die Autoschlüssel. Außerdem gibt er ihr alle möglichen Ermahnungen; sie soll den Wagen ja abschließen, die Scheinwerfer ausmachen und nicht über fünfzig fahren. Er gibt ihr einen Kuß auf die Wange. Ihre Mutter gibt ihr ebenfalls einen Kuß auf die Wange. Der Vater dreht sich um und schüttelt mir die Hand. »Amüsier dich gut, mein Sohn. Aber sorg dafür, daß sie spätestens um zwei wieder da ist.« Mein Sohn! Heiliger Strohsack, die haben mich bereits mit ihr verheiratet. Der Ball ist um zwölf Uhr dreißig vorbei. Was soll ich eigentlich mit ihr bis um zwei? Was wird Perta denken, wenn ich nicht in den Traum komme? Die Katastrophe weitet sich von Minute zu Minute aus.
Beim Ball muß ich ihr die Blume von der Taille wegmachen und am Handgelenk befestigen. Sie möchte sie am linken Handgelenk haben. Mit einem Gummiband, das ich immer in der Tasche habe, binde ich ihr also die Blume an die Armbanduhr. Nun sitzt sie oben auf dem Handgelenk und sieht aus wie ein Jagdfalke. Beim Tanzen liegt die Hand so auf meiner Schulter, daß mich die verdammte Orchidee ständig im Genick und an den Ohren kitzelt. Dabei läuft es mir kalt über den Rücken. Ich kann das Ding riechen, ohne es zu sehen, und muß deshalb dauernd daran denken, wie Joe Sagessa mit uns zu der Schlächterei rausfuhr, wo es so bestialisch nach verwestem Pferdefleisch stank. Dieser Geruch und dazu all die schwitzenden Körper um uns herum und die Klänge der Musik bringen mich an den äußersten Rand dessen, was ich ertragen kann. Um mich abzulenken, versuche ich schon jetzt mich in den Traum hineinzudenken, den ich haben werde, wenn ich zu Hause im Bett liege. Doris macht Bemerkungen über die Musik oder fragt mich, wo ich wohne. Sie weiß, daß mein Vater hier als Hausmeister arbeitet, aber sie erwähnt das mit keinem Wort. Ich sehe meinen Vater zweimal. Er ist heute abend eine Mischung zwischen Rausschmeißer und Hausmeister. Er achtet darauf, wer in die Jungentoiletten geht. Es ist sein Job, das Trinken in Grenzen zu halten und beim Aufputzen zu helfen, wenn jemand kotzen muß. Er bekommt fünf Dollar extra für den Abend. Das ist gerade die Miete für meinen idiotischen Smoking. Nicht für fünfzig Dollar würde ich ein zweites Mal so einen Abend mitmachen. Ich sehe Al schwungvoll mit seinem Mädchen tanzen. Er ist kein großer Tänzer, aber sie gehört zu den Mädchen, die auch noch beim Tanzen mit einem Büffel anmutig wirken würden. Al tanzt zu jeder Musik sein Eins-zwei-drei-vier, immer im gleichen Rhythmus. Er hört nicht mal hin. In dem Smoking sieht er
aus wie ein Gangster im Film. Er hat eine weiße Nelke im Knopfloch, aber er könnte trotzdem Brian Donlevy sein, der Heliotrope Harry spielt. Doris fragt mich nach den Vögeln. Das ist ein Thema, über das ich nicht reden will. Wenn ich wirklich das Gefühl hätte, daß sie sich dafür interessiert, würde ich ihr schon etwas erzählen. Ich würde das doofe Tanzen bleibenlassen, an den Tisch zurückgehen und ihr davon erzählen. Ich beobachte sie daraufhin, aber sie plaudert nur so beim Tanzen vor sich hin. Manchmal habe ich das Gefühl, Menschen können nur Spielchen miteinander treiben, alle möglichen komplizierten Spielchen. Am Schulball teilzunehmen, ist ein solches Spiel mit einer Serie von Regeln. Daß man sich beim Tanzen zu unterhalten hat, ist eine dieser Regeln. Doris’ Armbanduhr wird völlig von der großen Orchidee verdeckt, und ich selber habe keine Uhr, aber an beiden Schmalseiten der Turnhalle hängt eine. Ein dichter Maschendraht schützt sie vor verirrten Basketbällen, doch aus dem richtigen Blickwinkel kann man die Zeit immer noch ablesen. Die Minuten verstreichen nur langsam. Ich bin müde. Es ist schon nach elf, und ich bin gewöhnlich um zehn im Bett und warte auf den Traum. Mir tut langsam der eine Arm weh, mit dem ich Doris’ Arm hochhalten muß. Von Zeit zu Zeit versuche ich, meinen Arm sinken zu lassen und meine Schultermuskeln auf die Weise zu entlasten, aber sie hilft überhaupt nicht mit und läßt dann einfach beide Arme fallen. Als ich sie schließlich nicht mehr oben halten kann, lassen wir die Arme unten, und sie schmiegt sich noch dichter an mich und klemmt mir ihren Kopf unters Kinn. Jetzt kitzeln mich ihre Haare an der Nase und die Blume im Genick. Ich habe keine Hand frei. Außerdem drückt Doris ihre großen Titten an mich, die etwa so schwabbelig sind wie ein aufgeblasener Autoschlauch. Nach all den Flugübungen steht bei mir wahrscheinlich das Brustbein wei-
ter vor als bei den meisten Menschen; links und rechts davon ist für ihre Titten Platz. Ein prächtiges Paar – wir passen zusammen wie Verbundpflastersteine. Endlich ist es vorbei. Wir holen Doris’ Seidenumhang und gehen ins Freie. Im Dunkeln hört man Leute lachen und Autotüren zuschlagen. Ich halte ihr auf ihrer Seite des Wagens die Tür auf. Sie fragt mich, ob ich fahren will. Irre. Niemand fährt in meiner Familie; wir hatten noch nie ein Auto und werden nie eins haben. Als ich verneine, steckt sie den Schlüssel in die Zündung und dreht ihn nach rechts. Es ist ein Buick, das letzte Vorkriegsmodell. Das Ding hat acht Zylinder und einen unheimlich starken Motor, aber bei dem Auto ist das für die Katz, weil sie etwas eingebaut haben, das sie Dynaflow nennen. Damit kann man nun Autofahren, auch wenn man von einer Gangschaltung keine Ahnung hat. Mein Vater sagt, bald wird es Autos geben, da brauchst du nicht mal mehr zu steuern. Die Leute werden durch die Gegend fahren und einander umbringen, ohne daß sie’s wissen. Doris dreht mir ihr Gesicht zu; in der schwachen Beleuchtung vom Armaturenbrett sieht es so weich aus wie ein kleiner Vogel im Nest. Ihr Umhang ist nach hinten gerutscht, und sie wirkt fast nackt. Sie beugt sich herüber und macht das Radio an. Sie muß den Sender schon vorher eingestellt haben; vielleicht hat sie sogar beim Rundfunk angerufen und die richtige Musik bestellt. Sie bringen Glenn Millers »Sunrise Serenade«. Es ist eines der wenigen Musikstücke, die ich wirklich mag; es hat die innere Vollkommenheit eines guten Kanariliedes. »Machen wir eine kleine Spazierfahrt, raus nach Media.« Es spielt keine Rolle, was ich sage, wir fahren raus nach Media. Wahrscheinlich ist sie schon mal hingefahren, um sich den Weg genau einzuprägen. Ich lehne mich zurück, um mich zu entspannen und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Wahrschein-
lich steht mir mein erster Fick bevor. Sie muß um zwei Uhr zurück sein. Auf der Uhr, die grün aus dem dunklen Armaturenbrett leuchtet, ist es Viertel vor eins. Wieviel kann eigentlich in einer Stunde passieren? Doris hält sich nicht an die Ermahnungen ihres Vaters. Durch das satte Grün der überhängenden Bäume in Media rasen wir auf einer Straße, die nicht breiter ist als das Auto, mit etwa achtzig Sachen durch die engsten Kurven. Als eine längere Gerade kommt, unter den steinernen Bögen der Eisenbahnbrücke hindurch, beschleunigt sie auf hundertzehn. Sie ist so winzig, sie kann eben noch über den oberen Rand des Armaturenbrettes wegsehen. Ich rutsche auf dem Sitz noch weiter nach unten und konzentriere mich auf diese zierlichen silbernen Schuhe, die mal aufs Gas-, mal aufs Bremspedal drücken. Ich frage mich, was Perta jetzt macht. Was wohl aus dem Traum werden würde, wenn sie irgendwo draufknallt, und ich klebe da vorn am Armaturenbrett, in meinem zerfetzten Schoß einen heißen Achtzylindermotor. Sie hat die Stelle schon vorher ausgesucht. Wir fahren von der Asphaltstraße herunter und biegen in ein unbefestigtes Sträßchen ein, das so schmal ist, daß die hereinhängenden Äste auf beiden Seiten den Wagen streifen. Sie sagt nichts, sie fährt nur und versucht, Schlaglöchern auszuweichen. Wir ziehen die Sache voll durch. Doris bekommt ihren Schlußball mit allen Zutaten. Ich fühle mich wie eine Kerze auf der Geburtstagstorte, kurz bevor sie ausgeblasen wird. Wir fahren mit diesem Monsterauto über einen kleinen Bach, und die Fahrbahn besteht jetzt nur noch aus Steinen. Schließlich hält sie an, stellt den Motor ab, zieht die Handbremse an und macht die Scheinwerfer aus. Die Zündung läßt sie an, so daß die Lichter am Armaturenbrett und das Radio noch funktionieren. Dieser Wagen hat einfach alles. Er schluckt etwa
fünfundzwanzig Liter auf hundert Kilometer, aber sie haben ja die B-Plakette, da juckt sie die Rationierung kaum. Zuerst bleibt sie einfach so sitzen und umklammert das Lenkrad, wie ein kleines Kind, das im stehenden Auto sitzt und so tut, als fahre es. Ich rapple mich hoch und setze mich aufrecht hin. Ich wende mich ihr zu und ziehe mein linkes Bein angewinkelt auf den Sitz hoch. Alles kann passieren. Ich weiß, es wird peinlich werden. Doris zieht die Beine hoch und kniet jetzt auf dem Sitz. Im Dunkeln sehe ich, daß sie die Schuhe unten beim Gaspedal gelassen hat. Sie hält mir das Handgelenk hin; ich soll offenbar die Orchidee abmachen. »Ich möchte sie gerne als Souvenir behalten.« Das sagt sie, während ich versuche, im Dunkeln das Gummiband runterzukriegen. Mit der Hand macht sie richtige Schlangenbewegungen. Als ich das Ding runterhabe, nimmt sie’s und legt es auf die Ablage auf dem Armaturenbrett. Im Dunkeln sieht es zusammen mit dem vergrößerten Spiegelbild in der gekrümmten Windschutzscheibe furchterregend aus. Und der ganze Wagen ist voll von dem Geruch. Ich erwarte eine dieser bedeutsamen Unterhaltungen, die immer mit einem »Magst du mich denn nicht?« oder »Warum magst du mich eigentlich nicht?« beginnen. Von der Sorte habe ich bereits einige hinter mir. Du kannst praktisch nicht darauf antworten, ohne entweder beleidigend zu werden oder zu lügen. Ich habe mich für die Lüge entschieden, um das Trugbild vom gelungenen Schulball nicht kaputtzumachen, aber es kommt gar nicht dazu. Doris fängt an, zu der Musik zu summen, und irgendwie lehnt sie sich an mich und wiegt sich hin und her wie im Tanz; ein Tanz in einem Buick Dynaflow! Ich lege die Arme um sie und bemühe mich, in dieser Sache meinen Mann zu stehen. Wenn ich Doris ticke, kommt das
vielleicht meinem Traum mit Perta zugute. Der Traum setzt sich schließlich aus Dingen zusammen, die ich weiß. Doris legt den Kopf zurück, und wir fangen an uns zu küssen. Wir küssen uns allmählich ein, und ich habe nur immer wieder das Problem, daß meine Nase im Weg ist. Dann fängt Doris an, ihre Lippen zu öffnen, und ich mache es ihr nach. Ich gebe mein Bestes. Jetzt atmet sie in meinem Mund aus und ein! Ich spüre, wie sie die Luft durch meine Nasenlöcher reinzieht! Allmächtiger Gott! Ist das nun ein Kuß, oder ist die nette, harmlose Doris Robinson eine Art Vampir, der seinen Opfern die Atemluft stiehlt? Während ich noch überlege, schiebt sie mir plötzlich die ganze Zunge in den Mund! Es ist, wie wenn man einen ganzen Klumpen Bubble-Gum reinzieht. Ich kann gar nicht mehr atmen, nur noch durch die Nase. Und ich kann es nicht glauben: ich krieg einen Steifen! All das verrückte Zeug, es geht direkt runter in den Pimmel. Ich versuche die Beine übereinanderzuschlagen, um ihn zu verstecken oder vielleicht wieder kleinzukriegen, aber Doris läßt sich nichts vormachen. Sie drückt ihren Bauch dagegen! Sie stöhnt und stößt mir ihre Zunge noch tiefer in den Mund. Sie nimmt die Arme von meinem Hals, und ich denke schon, wir haben jetzt unseren Teil zum Gelingen des Schulballs beigetragen und alles ist vorbei, doch da zieht sie auf einmal das Oberteil ihres Kleides herunter, und diese Titten springen raus. Sie zeigen jetzt, wo sie nichts mehr zusammenhält, mehr nach außen. Sie sehen besser aus als die im »National Geographic«. Sie lehnt sich zurück, und ich sehe nur noch ihre Titten. Es sind keine Sommersprossen drauf, zumindest nicht bei dieser schwachen Beleuchtung. In dem Augenblick weiß ich, daß ich’s tun könnte. Ich könnte es nicht nur, ich will es auch. Ich will Doris ficken. Gleichzeitig fange ich an, an Perta zu denken. Das erste Mal möchte ich es mit Perta tun. Das erste Mal möchte ich es mit meiner Frau
tun, nicht mit Doris. Doris könnte nie meine Frau sein, ich würde nur Doris’ Titten und ihre Zunge und ihre Möse ficken. Doris gibt sich weiterhin Mühe, aber ich bin fertig. Ich küsse sie weiter, und ich halte ihre Titten in meinen Händen und streichle sie ein bißchen. Doris atmet schwer und weint, aber wir reden nichts. Zuletzt setzt sie sich auf und packt die Titten wieder weg. Es geht auf zwei Uhr; fast eine Stunde lang haben wir rumgeküßt. Wir haben die größten Schwierigkeiten, dieses Auto zu wenden. Ich steige aus, um ihr zu helfen. Es ist kein Platz da, und Doris ist im Rückwärtsfahren ziemlich schwach. Zweimal sitzen wir fest, eh wir dann schließlich loskommen. Um halb drei fahren wir vor ihrem Haus vor. Würde mich dieser blasse, graue Mann erschießen, weil ich beinahe seine Tochter getickt hätte und sie so spät nach Hause brachte? Und bestimmt ist das Auto voller Kratzer, von all dem Gestrüpp und den Ästen. Bevor wir aussteigen, geben wir uns einen gewöhnlichen, nicht den Vampiren abgeschauten Gutenachtkuß. Doris fragt: »Werden wir uns wiedersehen?« Ich sage: »Klar. Ich seh dich in der Schule.« Dort seh ich sie jeden Tag. Wir sitzen in derselben Geometrieklasse. Sie hat einen Schlüssel und schließt die Haustür auf. Ihre Mutter ist noch auf und sagt, sie bringe mich nach Hause. Straßenbahnen und Busse fahren um die Zeit nicht mehr. Ich sage ihr, ich habe nicht weit nach Hause, ich gehe zu Fuß. Sie ist nicht besonders hartnäckig. Sie will jetzt von Doris all die Einzelheiten hören. Es würde mich ja interessieren, wieviel Doris ihr erzählt. Man kann nie wissen, wie das bei diesen reichen Leuten läuft. Ich bin froh, daß ich die sechs Kilometer zu Fuß gehen kann. Ich hoffe, ich habe Doris nicht gekränkt, aber ich bin froh, daß ich sie nicht getickt habe. Ich möchte jetzt in den Traum zu Perta. Ich schleiche mich die hinteren Treppen hoch, ohne
jemand aufzuwecken. Es ist vier Uhr, als ich das letztemal auf den Wecker neben meinem Bett schaue.
Als ich in den Traum komme, ist es schon spät. Die Sonne geht bereits unter. Perta fliegt auf halber Höhe von der einen zu der anderen Sitzstange. Ich sehe ihr ein Weilchen zu und fliege dann zu ihr hinunter. »Ich hab nach dir gesucht, Birdy. Wo warst du? Wie kommt es, daß du manchmal hier bist und manchmal nicht? Ich verstehe das nicht. Gehst du nach draußen, aus dem Käfig heraus? Fliegst du da draußen allein? Hast du keine Angst? Könntest du mich nicht mitnehmen?« »Nein, Perta. Fliegen tu ich da draußen nicht.« Ich kann ihre übrigen Fragen nicht beantworten. Sie ist in meinen Augen so schön. Sie steht im Gegenlicht, und so sehe ich die reizvolle Rundung ihrer Brust und ihres Rückens. Ich spüre, wie sich die Unruhe in mir regt. Ich gehe auf sie zu, und Perta duckt sich tief auf die Stange und läßt mich ihre Piep-piep-piep-Töne hören. Voller Erwartung flattert sie mit den Flügeln. Es ist Zeit, daß ich sie füttere. Mir geht es wie Alfonso; ich kann es nicht. Ich will Nahrung herauswürgen, aber es geht nicht. Es war mir schon immer ein Greuel, mich zu übergeben. Der Junge gerät dem Vogel in die Quere. Perta bleibt in ihrer Stellung und wartet geduldig darauf, daß ich sie füttere. Ich mache einen neuen Versuch, und diesmal schaffe ich es. Der Vogel gewinnt die Oberhand, und es ist so leicht wie das Fliegen oder das Singen. Ich füttere Perta, und sie ist glücklich, macht immer wieder piep-piep-piep. Ich würge noch mehr Nahrung für sie heraus. Ich singe und nähere mich ihr. Sie duckt sich noch tiefer. Ich bin noch nicht so weit. Ich füttere sie wieder, zum Teil auch deshalb, weil ich möchte,
daß es möglichst lange so weitergeht. Perta sagt nichts, und wir fliegen die ganze Nacht zusammen. Ich singe und füttere sie bis zum Aufwachen am Morgen. Am nächsten Tag spüre ich die kurze Nacht und bin müde. Meine Mutter stellt dauernd Fragen, aber ich erzähle ihr nicht viel. Während ich die Käfige säubere, kommt Al vorbei. Ich habe wieder zwölf Jungvögel in die andere Voliere umquartiert. Bisher habe ich alle Jungen durchgebracht. In den Zuchtkäfigen herrscht Hochbetrieb. Zusammen machen die lautstark nach Nahrung verlangenden Jungen und die singenden Männchen einen ganz schönen Radau. Perta fliegt allein in ihrem Flugkäfig hin und her. Al will unbedingt wissen, wie es mit Doris gelaufen ist. Ich erzähle ihm, daß ich sie nicht gefickt habe, aber er will mir nicht glauben. Er sagt, Doris ist eine der heißesten Blusen in der ganzen Schule; sie würde sogar ein Pferd ficken, wenn sie es dazu überreden könnte, stillzuhalten. Ich sage ihm, das ist schon möglich, aber mich hat sie nicht gefickt. Mein Vater berichtet meiner Mutter, daß ich keinen Tanz ausgelassen habe. Meine Mutter will wissen, wo wir nach dem Ball hingegangen sind. Ich sage ihr, wir waren bei »Don’s« in Yeadon; das ist eine Milchbar, genau das, was meine Mutter hören will. Ich sage ihr, daß mir der Abend gut gefallen hat. Meine Mutter nimmt sich den Smoking vor und bürstet ihn ab. Ich habe noch vor dem Schlafengehen das Laub und die Kletten entfernt. Sie würde völlig ausflippen, wenn sie die Flecken innen in der Hose finden würde. Al sieht sich die Vögel an, aber er hat kein besonderes Interesse an Kanarienvögeln. Doch er versteht sofort, daß ich da eine regelrechte Vogelfabrik habe. Er fragt mich nach den Futterkosten und nach der Zahl der Vögel pro Nest und rechnet aus, wieviel Geld ich verdienen kann.
»Scheiße, Mann, du wirst noch zum Millionär, Birdy! Der große Kanarikönig. Der Mann, der mit Vögeln reich wurde.« Al findet das komisch. Er bringt es fertig; daß sie es nachher im Jahrbuch unter mein Bild schreiben. Sonst steht da nichts, keine Klubs, keine Ehrenpreise, keine sportlichen Auszeichnungen, keine Ämter. Nur: »Spitzname: Birdy. Berufswunsch: Will sein Geld mit Vögeln verdienen.« Al sieht Perta allein in der Voliere herumfliegen und fragt mich nach ihr. Er wundert sich, daß ich nicht einige der jungen Vögel zu ihr reinlasse. Ich erzähle ihm, daß sie mein Lieblingsvogel ist, ein überzähliges Weibchen. »Du willst doch nicht sagen, sie ist so wie die Taube, die wir damals hatten.« Ich sage ihm: »Ja, doch, so was Ähnliches ist sie schon, nur daß sie nicht losfliegt und wertvolle Vögel zurückbringt.« »Frißt sie dir aus dem Mund, so wie diese irre Hexe damals?« Einen Augenblick lang habe ich das Gefühl, Al kann direkt in den Traum hineinsehen. Wenn einer das kann, dann nur Al. Doch dann erinnere ich mich wieder. Ich lache und sage ihm, daß Kanarien viel schwerer abzurichten sind als Tauben. Wir gehen raus und werten eine Weile den Diskus hin und her, und dann geht Al nach Hause. Ich gehe zurück zum Vogelhaus und beobachte Perta durch mein Fernglas. Wenn ich nur wüßte, wie ich ihr sagen soll, was ich bin. Und wenn ich nur wüßte, was ich bin.
In dem Traum in dieser Nacht weiß ich, daß ich Perta von mir selbst erzählen muß. Als Junge habe ich das beschlossen, und jetzt gilt es für mich als Birdy im Traum. Zuerst fliegen Perta und ich zusammen in einem neuen Tanz. Dabei fliegen wir übereinander und lassen uns dann zur Seite
fallen, so daß der, der eben noch oben war, nun unten fliegt. Es ist wunderschön, aber in der Enge des Käfigs nicht leicht. Es wäre einfach großartig, wenn wir frei fliegen könnten. Danach kauert sie sich wieder hin und läßt ihr piep-piep-piep hören, und ich füttere sie mühelos. Es ist Zeit, sich mit ihr zu paaren, und sie wartet darauf. Ich weiß, das werdende Ei ist in ihr und wartet auf meinen Samen. Ich will meinen Samen in sie fließen lassen, will wissen, daß er warm in ihrem Ei geborgen ist. »Birdy, wovor hast du Angst? Möchtest du ein Nest mit mir haben? Ich spüre, wir könnten so wunderschöne Junge haben, wir würden zusammen in ihnen sein; ich spüre, daß in meinen Eiern zum ersten Mal Leben sein würde, unser Leben. Warum hast du Angst?« Ich sehe sie an. Ich liebe sie so sehr. Was sie sagt, ist das, was ich die ganze Zeit denke, träume, singe. Es übertrifft noch das Fliegen. »Perta, da gibt es Dinge, die ich dir vorher sagen muß.« »Hast du ein anderes Weibchen, hast du irgendwo ein anderes Nest?« »Nein. So einfach ist es nicht, Perta.« »Das ist nicht so einfach.« »Hör mir gut zu, Perta. Und höre nicht nur, was ich erzähle, sondern auch, wie ich es erzähle. Ich möchte, daß du weißt, daß ich die Wahrheit sage. Ich möchte, daß du weißt, was ich bin, damit wir in aller Aufrichtigkeit Zusammensein können.« »Sag es, Birdy. Erzähl es mir.« »Perta, alles, was wir hier zusammen haben, ist nicht die Wirklichkeit.« Perta wechselt vom linken auf das rechte Auge, bleibt aber still. »In Wirklichkeit bin ich der Junge da draußen.«
Ich deute auf mich als Junge im Vogelhaus. Ich bin da draußen und fülle die Futternäpfe und tausche das Wasser aus. »Das hier, was wir gemeinsam haben, ist nur ein Traum. Ich erträumte dich in meinem Traum. Ich wollte, daß es dich gibt, und deshalb habe ich dich erträumt.« Ich warte. Perta sagt nichts. Sie blickt mich erst mit dem einen, dann mit dem anderen Auge an und bewegt die Flügel einmal auf und ab. Ist es möglich, daß sie mich versteht? »Perta, ich bin als Junge in der wirklichen Welt fortgegangen, und du bist mir gegeben worden. Ich habe dich hierher in diesen Käfig gebracht.« Ich warte auf irgendein Zeichen, daß sie mir folgt, daß sie versteht. Wenn ich es nur selber besser verstehen würde, dann könnte ich es auch besser erklären. Perta blickt mich aufmerksam an. »Mach weiter, Birdy. Ich höre dir zu.« »Sieh mal, Perta, es sind zwei Dinge, die uns hier zusammenbringen: der Traum, den ich in meinem Traum träumte, und dann der Vogel, den ich mit mir zurückbrachte und der während des Tages allein hier im Käfig fliegt. Du bist der Vogel in meinem Traum-Traum, und du bist der Vogel, den ich als Junge liebe, aber nicht verstehen kann. Du bist hier in dem Traum zwischen den beiden. Ich bin hier in meinem Traum, weil ich hier sein will. Ich will mit dir Zusammensein, und so ist es dann auch gekommen.« Ich höre auf. Ich kann selber nicht verstehen, was ich da rede. Ich bin zu sehr Vogel, als daß ich es verstehen könnte. Mein Jungenhirn bildet die Gedanken, die Worte, aber mein Vogelhirn kann sie nicht verstehen. Ich sehe Perta nicht als einen Vogel, sondern als eine mir verwandte Kreatur, in die ich verliebt bin. Was ich sage, klingt wie das Gefasel eines Irren. Wie kann ich erwarten, daß Perta versteht, ja glaubt, was ich selber nicht verstehe? Ich bin still.
»Mach weiter, Birdy. Erzähl mir mehr.« »Das meiste hab ich erzählt, Perta. Als Junge da draußen, in der Wirklichkeit, wenn der Traum vorbei ist, besitze ich all die Vögel. Ich habe Birdie gekauft, und Alfonso. Ich habe sie alle an einem anderen Ort großgezogen, in meinem Schlafzimmer. Ich habe diesen Käfig gebaut, in dem wir jetzt fliegen. Ich gehe als Junge an Orte, die du von hier aus nicht sehen kannst. Ich lebe mit anderen Wesen, die sind wie ich, als Junge. Ich bin in dieser Welt noch ein junges Wesen, ich kann mich noch nicht selber versorgen. Ich habe Mutter und Vater, mit denen ich zusammenlebe. Mein Haus ist da draußen, außerhalb des Käfigs. Wenn ich nicht hierherkäme, mich um alles kümmerte und die Vögel fütterte, dann würde dieses ganze Leben aufhören, dann wäre alles zu Ende. Verstehst du?« »Natürlich nicht, Birdy. Du weißt, ich kann es nicht verstehen. Ich bin ein Vogel; das alles bedeutet für mich nichts.« »Aber glaubst du mir, Perta? Glaubst du, daß ich lüge, wenn ich dir das alles erzähle?« »Nein, Birdy. Du erzählst mir deine Wahrheit.« »Kann es denn nicht auch deine Wahrheit sein, Perta? Ich möchte, daß es auch deine Wahrheit ist. Ich möchte, daß du mich in Wahrheit kennst.« Perta blickt mir, ganz und gar nicht vogelgemäß, frontal ins Gesicht. »Nein, Birdy. Ich bin ein Vogel. Deine Wahrheit kann nicht die meine sein.« Ich weiß nicht, weshalb ich will, daß sie es weiß. Vielleicht liegt es daran, daß ich glaube, wenn sie es weiß und glaubt, dann wird der Traum wirklicher werden. Aber wie soll ein Traum wirklicher werden? Es ist, wie wenn man eine Null verstärken will, indem man zehntausend Nullen hintereinander schreibt. Es bleibt eine Null.
»Perta, verstehst du, was ich sagen will? Daß es dich überhaupt nicht gibt? Daß du nur Teil meines Traumes bist?« »Was ist ein Traum, Birdy?« Jetzt hat sie mich. Daran hatte ich nicht gedacht. Wenn Vögel nicht träumen, bin ich mit meiner Weisheit am Ende. Und doch, das ist mein Traum. Ich kann in meinem Traum bestimmen, ob Vögel träumen oder nicht. Ich kann das so einrichten, daß es in meinen Traum paßt. »Perta, hast du im Schlaf nicht manchmal Gedanken, Vorstellungen, Bilder, Gefühle, die nicht wahr sind, die aus deinem Inneren kommen, die du dir nur einbildest?« »Nein. Wenn ich schlafe, gebe ich mir Stärke. Ich gebe mir Kraft, damit ich fliegen und Junge haben kann. Es ist das große Nichtsein. Dabei formen wir unsere Federn, härten unseren Schnabel, werden zu nichts.« Das übersteigt meine Möglichkeiten. Ich kann Vögel nicht zum Träumen bringen, nicht einmal in meinem eigenen Traum. Nun ist mir auch klar, daß der Junge eigentlich gar nicht möchte, daß Perta Bescheid weiß. Ich muß mein Vogelleben ausschließlich als ein Vogel leben. Ich muß mich ausliefern. Es ist eine Erleichterung, das begriffen zu haben; ein wunderbares Gefühl. Ein großer Friede durchströmt mich. Ich spüre, wie sich die Stärke des Vogels in mir ausbreitet. Das Blut pulsiert warm durch meine Adern, bis hinaus zu meinen Federspitzen, bis ans Ende meiner Zehennägel. Perta beobachtet mich. Sie sagt mir, daß ich ein Vogel bin; daß ich diesen ganzen Unsinn des Jungen vergessen muß. Sie will mich als ihren Gefährten. All diese Dinge, die ich ihr erzählt habe, sind nur wilde Phantasien eines Wahnsinnigen, ein Fieber. Für sie ist klar, daß ich ein Vogel bin. Wenn ich mich mit ihren Augen sehen kann, dann bin ich in ihrer Welt ein Vogel. Ich gebe mich dem hin. Ich überlasse mich völlig
dem Leben, das ich mir immer gewünscht habe. So werde ich wieder zu einem Vogel in dieser Welt des Traumes. Ich beginne zu singen. Perta ist völlig auf mich fixiert. Es herrscht zwischen uns eine Übereinstimmung im Fühlen und Wissen, wie ich das noch nie gekannt habe, wie ich mir das nie im Traum erträumt hätte. Perta fängt an zu fliegen, und es ist ein komplizierter Tanz. Ich fliege hinter ihr her und höre nicht auf zu singen. Sie fliegt, und dabei tanzt sie zu meinem Lied; ich singe, und dabei tanze ich zu ihrem Tanz. Es ist keine Jagd, sondern ein wechselseitiges Hinterherfliegen. Wir sprechen eine Sprache, die alle Worte hinter sich gelassen hat. Jede unserer Bewegungen verstärkt die Spannung unserer zusammenfließenden Identität. Dann bleibt Perta wo sie ist und wartet auf mich. Ich nähere mich ihr, in tiefster Leidenschaft, so wach wie nie. Sie wartet und wölbt sich mir entgegen. Ich schwebe kurz über ihr, und dann senke ich mich auf sie herab und bin in ihr. Bei meinem Eindringen gehe ich vollkommen in ihr auf. In diesem kurzen Augenblick bin ich nicht allein, nicht mehr isoliert. Ich gehe durch die Illusion einer Identität hinab in die Tiefe einer geteilten Wirklichkeit.
Als ich an diesem Morgen aufwache, ist es wieder geschehen. Alles ist verschmiert, meine Bettlaken, mein Schlafanzug. Ich wasche alles, damit meine Mutter nichts merkt. Ich muß etwas unternehmen. Ich gehe mit einer langen Stange zum Cobbs Creek runter. In diesem Bach schwimmen die ganze Zeit welche vorbei. Bestimmt münden einige Toiletten direkt in den Bach; so viele Liebespaare kann es an den Ufern gar nicht geben. Ich angle mir einen heraus, der noch gut erhalten ist, wasche ihn gleich mal im Bach aus und nehme ihn dann mit nach Hause und wasche ihn noch einmal aus. Ich stülpe ihn um und ziehe ihn
mir über. Ich spüre ihn kaum. Von da an streife ich mir vor dem Schlafengehen immer diesen Gummi über. Anfänglich fülle ich ihn fast jede Nacht, in diesen verrückten ersten Wochen, als Perta und ich so sehr miteinander beschäftigt sind, als die Träume voll sind von leidenschaftlichem Fliegen, Singen und Tanzen und überwältigenden Höhepunkten. Nun gelingt es mir auch besser, den Traum von dem Tag zu trennen. Besonders im Traum denke ich kaum noch dran, daß ich ein Junge bin. Ich bin fast in jeder Hinsicht ein Vogel. Als Junge habe ich in dem Käfig bei Perta, dem »Tagesvogel«, ein Nestkörbchen befestigt. Nachts bauen Perta und ich unser Nest. Seltsamerweise zeigt auch Perta bei Tage, wenn sie allein ist, Interesse an der Nestunterlage. Ich gebe ihr Fetzen aus einem Rupfensack, und sie fängt an zu bauen. Das ist nicht ungewöhnlich. Manchmal baut auch ein Weibchen ohne dazugehöriges Männchen in der Nistzeit ein Nest. Es ist eine Freude, im Traum das Nest zu bauen. Perta verrichtet den größten Teil der Arbeit, und sie ist eine sehr geschickte Baumeisterin. Was sie macht, ist eine Kombination aus einer Art Weben oder Stricken und einem Übereinanderschichten. Ich beschränke mich weitgehend darauf, das Material beizubringen. Perta ist bei ihrem Nestbau penibel und erfinderisch. Als Vogel bewundere ich das jetzt noch mehr als schon früher als Junge. Wenn ich rausgehe, um die Vögel zu füttern und zu versorgen, sehe ich jeden Tag nach dem Nest, das Perta in der Voliere baut. Es sieht genau aus wie das andere, das Perta in dem Traum baut, nur daß das Traum-Nest schon etwas weiter scheint. Kann es denn sein, daß der Traum dem, wirklichen Leben vorauseilt? Manchmal denke ich, ich weiß schon gar nicht mehr, was eigentlich wirklich ist. Als das Nest fertig ist, sagt mir Perta, sie glaube, sie werde das Ei in dieser Nacht legen. Für mich als Junge sind die
Traumnächte der Tag. Während des wirklichen Tages beherrschen mich die Gedanken des Traums. Ich denke die ganze Zeit daran, daß demnächst unser Ei kommt. Ich kann mir nur schwer klarmachen, daß Perta der Vogel schläft, während ich träume, und daß Perta der Traum wach ist, während Perta schläft. Sind sie füreinander nicht Träume? Hat Perta recht? Träumen Vögel tatsächlich nicht? Träumen sie sich nie aus dem Käfig hinaus? In dieser Nacht kommt das Ei. Ich sitze neben Perta. Sie erzählt mir, sie kann spüren, wie das Ei in ihr entsteht, wie die Schale hart wird und sich auf den Weg in die Welt macht. Sie bittet mich, für sie zu singen, damit das Ei leichter kommt. Ich fange an, leise zu singen, abwesend, ohne zu wissen, wie mein Lied ausfallen wird. Ich singe davon, daß wir da sind, zusammen, daß wir eins sind in einem Leben, das eben erst begonnen hat. Der Vater eines Eis zu sein, ist so vollkommen anders, als ein Junge zu sein. Der Himmel fängt am Morgen gerade an, hell zu werden, als Perta mir sagt, das Ei ist im Nest. Sie steht behutsam auf, damit ich es sehen kann. Es ist schön. Sie verläßt das Nest, und ich lasse mich langsam darauf nieder. Pertas Körperwärme dringt vom Ei und vom Nest her durch meine Federn in meine Brust. Ich verhalte mich still, und diese Wärme durchströmt mich. Ich versuche zu empfinden, was Perta empfunden hat und empfindet. Perta beugt sich über den Nestrand und füttert mich. Dann kauert sie sich neben dem Nest hin und wölbt sich mir entgegen, um mich zu empfangen. Perta im Traum und Perta im Käfig legen beide vier Eier. Pertas Eier im Käfig sind so schön wie unsere. Ich lasse bei Perta dem Vogel die Eier im Nest. Ich will nicht riskieren, daß die Eier in meinem Traum plötzlich Murmeln sind, und außerdem weiß ich, daß Perta der Vogel unfruchtbare Eier gelegt
haben muß. Wenn ich das weiß, gibt es keinen Grund, sie herauszunehmen. Als Junge mache ich mir Sorgen, die Eier in dem Traum könnten ebenfalls unfruchtbar sein. Im Traum mache ich mir darüber überhaupt keine Sorgen. Ich frage Perta, warum sie bisher immer unfruchtbare Eier gelegt hat, und sie erzählt mir, sie sei nie richtig befruchtet worden. Es ist das, was ich glauben möchte. Mehr als alles möchte ich, daß unsere Eier fruchtbar sind. Ich wünsche es mir so fest wie ich nur kann. Mit dem Fernglas beobachte ich die Vögel in den Zuchtkäfigen beim Ausbrüten der Eier. Es prägt sich mir tief im Gedächtnis ein. Ich will haargenau wissen, was ich als Vogel zu tun habe. Ich will meine Jungen mit aller Macht in dieses Leben holen. Die andere Voliere füllt sich immer mehr mit jungen Vögeln. Das Singen und Trillern, das ständig zu hören ist, läßt darauf schließen, daß die meisten Männchen sind. Ich beobachte die arme Perta in ihrem Käfig mit ihren unfruchtbaren Eiern. Es erscheint nicht fair, daß ihr fleißiges Brüten umsonst sein soll. Nach sieben Tagen, also der Hälfte der Brutzeit, nehme ich ein Ei nach dem anderen heraus und halte sie gegen das Licht. Sie sind alle unfruchtbar. Ich beschließe, etwas dagegen zu tun. Ich habe drei Brüterinnen auf Eiern sitzen, die ein, zwei Tage vor oder nach Perta angefangen haben. Die eine hat fünf Eier, die beiden anderen je vier. Ich nehme zwei Eier aus dem Fünfernest und je eines aus den Vierernestern. Drei Vögel ist eine gute Zahl für ein Nest; dann geht es nicht so eng her, und die Jungen haben eine bessere Überlebenschance. Diese vier Eier gebe ich Perta, im Tausch gegen ihre eigenen, unfruchtbaren. Ich fühle mich viel wohler in meiner Haut. Ich bin sicher, Perta wird eine gute Mutter sein. Zwei der Eier sind von Birdie und Alfonso. Ich glaube, Birdie hatte nichts
dagegen, daß ich sie ihr wegnahm. Perta scheint von dem Tausch nichts zu merken und akzeptiert die neuen Eier ohne weiteres. Ich sehe bei jedem Ei nach, bevor ich es ihr ins Nest lege, und sie sind alle fruchtbar. Ich nehme eine kleine Taschenlampe, um die Eier zu überprüfen. Ein sieben Tage bebrütetes und fruchtbares Ei ist lichtundurchlässig und hat feine rote Adern. Im Traum sehe ich nach unseren Eiern im Nest, aber ich kann keine Veränderung erkennen. Daß ich Pertas Eier im Käfig ausgetauscht habe, hat sich auf unsere Eier nicht ausgewirkt. Ich hoffe, damit haben unsere Eier noch bessere Chancen, fruchtbar zu sein. Ich spüre ein starkes Verlangen, Vater zu sein. Ich möchte in der Lage sein, meine eigenen Jungen zu füttern. Perta füttere ich oft, während sie auf dem Nest sitzt, und ich singe ihr vor. Wenn ich erst Vater bin und weiß, daß ich in den jungen Vögeln drinstecke, wird das ein neuer Beweis dafür sein, daß es mich gibt. Ich fühle, daß ich dadurch mehr sein werde, nicht nur als Vogel, sondern auch als Junge. Die Vaterschaft ist für ein männliches Wesen einer der wenigen Existenznachweise. Als mir Perta in der Nacht, in der die Jungen vermutlich schlüpfen werden, berichtet, daß sie die Bewegungen der Jungen in den Eiern spüren kann, setze ich mich aufs Nest, damit sie ein Bad nehmen kann, um nachher den Jungen dadurch zu helfen, daß sie die Schale etwas weicher macht. Ich spüre, wie sie sich bewegen. In jedem Ei spüre ich Bewegungen. Sie werden alle am Morgen ausschlüpfen. Ich weiß es. Als Perta ins Nest zurückkommt, singe ich dieses Lied. Ich bin sicher, die Kleinen sind jetzt so weit, daß sie mich hören können. Die Schale der Eier ist so dünn.
Tretet ins Leben, Brecht durch die Schale Des Seins und kostet die Sanfte Luft eures ersten Tags. Sie ist euer, die sichere Alles umhüllende Decke Des neuen Lebens.
Der Tag, an dem die Vögel ausschlüpfen müßten, ist ein Schultag. Zum ersten Mal in meinem Leben schwänze ich die Schule. Ich weiß, daß sie mich erwischen werden. Gewöhnlich bin ich zum Mittagessen bei meinem Vater unten im Kesselraum; er wird also wissen, daß ich nicht da bin. Es ist mir gleich. Ich kann mich auch nicht im Vogelhaus aufhalten; dort würde mich meine Mutter erwischen. Statt dessen gehe ich runter in den Wald und klettere auf einen meiner Lieblingsbäume, nicht weit von der Stelle, wo wir unseren Taubenschlag hatten. Dort oben verbringe ich meinen Tag. Ich kann an nichts anderes denken als an meine Jungen, die versuchen, aus den Eiern zu schlüpfen. Ich kann spüren, wie sie kämpfen. Ich liege lang ausgestreckt auf dem Ast und versuche, mich in den Traum zu versetzen. Es geht nicht. Ganz tief in meinem Innern weiß ich auch, daß es gefährlich wäre, am hellen Tagein den Traum einzutreten. Ich bin mir zwar nicht sicher, was passieren würde, ob damit der Traum kaputtginge oder ob ich nicht mehr aus dem Traum heraus könnte, aber ich weiß, es wäre in jedem Fall gefährlich. Dort oben auf dem Baum stelle ich mir vor, wie ich versuche, meinen Jungen das Fliegen beizubringen. Ich blicke von dem Baum herunter und wünsche mir, ich könnte hier fliegen und sie könnten mit mir hier frei herumfliegen. An dem Tag auf dem Baum fasse ich den Entschluß, wie ich es machen werde.
Ich mache all die Pläne und bin so voll davon, daß ich kaum darauf achte, als mich beim Abendessen mein Vater und meine Mutter ausschimpfen, weil ich die Schule geschwänzt habe. Sie wollen unbedingt wissen, wo ich gewesen bin. Ich erzähle ihnen, daß ich auf einem Baum saß, aber sie wollen es mir nicht glauben. Ich weiß nicht, wo ich nach ihren Vorstellungen hätte sein sollen. Als sich meine Eltern endlich beruhigt haben, gehe ich hinaus zum Käfig und horche, aber von Pertas Jungen ist noch keines ausgeschlüpft. Ich frage mich, ob die Vögel in dem Traum ausschlüpfen werden, wenn ihre hier noch nicht geschlüpft sind. Es ist allmählich schwer zu sagen, was nun zuerst kommt, der Traum oder das wirkliche Leben. Beim Einschlafen weiß ich noch nicht, was kommen wird. Als ich im Traum ankomme, ist Perta ganz aufgeregt. Sie erzählt mir, daß eines der Jungen mit seinem Schnabel die Schale aufpickt. Sie richtet sich hoch auf, damit ich ins Nest sehen kann. Eines der Eier geht auf. Perta faßt zu und zieht mit dem Schnabel behutsam ein Stück der Schale weg. Wir können ein dunkles Auge und einen feuchten Kopf sehen. Ich bin nervös, aber Perta ist gelöst und glücklich. Um mich zu beruhigen, fliege ich durch den Käfig und konzentriere mich auf einige meiner besten Tricks. In zwei Stunden sind alle Jungen ausgeschlüpft. Ich helfe Perta, die Eierschalen aus dem Nest zu werfen. Ich sehe, daß zwei der Jungen dunkel sind und zwei hell. Perta sagt mir, es sind zwei Männchen und zwei Weibchen. Beide Männchen sind dunkel, und die Weibchen sind hell. Ich bin Vater! Perta läßt mich die Jungen füttern, und es ist ein so wunderschönes Gefühl, ihnen die kleinen Bissen in die Münder zu stopfen. Die kleinen Schreie des Forderns und der Freude ergeben ein besonderes Vogellied.
Als ich am nächsten Morgen vor dem Frühstück ins Vogelhaus hinausgehe, schaue ich nach Perta. Sie hat Eierschalen unter ihrem Nest liegen. Ich lege etwas Eifutter auf den Käfigboden, und sie kommt sofort herunter. Ich blicke ins Nest, und da sind vier Junge, zwei helle und zwei dunkle, genau gleich. Sowie ich aus dem Käfig gehe, fliegt sie nach oben und beginnt mit der Fütterung. Ich wollte, ich könnte auch ihr helfen. Ich habe das Gefühl, daß ich sie benutze, wenn ich kein Männchen zu ihr lasse. Ich habe Angst davor, ein Männchen zu ihr reinzulassen, wegen des Traums. Vielleicht bin ich auch eifersüchtig.
Tagsüber tu ich alles, was von mir erwartet wird. Ich gehe zur Schule, mache meine Arbeit, helfe zu Hause und zeichne an meinen Vogelmodellen weiter. Ich versuche, mit Hilfe von Dingen, die ich als Vogel gelernt habe, die Modelle zu verbessern. Außerdem gehen auf die Weise die Tage schneller vorbei. Es geht gar nicht so sehr darum, daß ich fliegen will oder ein Modell bauen will, mit dem ich fliegen kann; ich versuche nur, etwas von dem Traum in mein Leben einzubringen. Im Verlauf der Brutzeit haben Perta und ich drei Nester zusammen. Und jedesmal nehme ich Eier aus anderen Nestern und gebe sie Perta im Tageskäfig. Ich traue mich nicht, darauf zu verzichten. Wir haben zwölf Junge, aber eines von ihnen, ein Männchen, stirbt. Perta sagt, ihr sei von Anfang an klar gewesen, daß dieser Vogel nicht zum Leben oder Fliegen bestimmt war; er habe nichts vom Himmel in seinen Augen gehabt. In meinen Träumen verstehen Vögel die Dinge auf eine Weise, die den Menschen fehlt. Ich weiß nicht, warum das so ist. Ich bin nur ein Mensch, und so leide ich sehr unter dem Verlust dieses einen Jungvogels. Er ist fünf Wochen alt, als er stirbt. In der Zeitrechnung der Vögel war er im Scheen.
Vögel haben keine Zeit, die sie nicht auf sich selber beziehen. Die Bewegung der Sonne oder der Erde bedeutet ihnen nicht viel. Sie haben zwei Arten von Zeit Einmal haben sie die Zeit, die ein Jahr oder eine Brutperiode umfaßt. Das beginnt mit Ohnme. Es ist der Abschnitt nach der Mauser und vor der Paarungszeit. Dann kommt Sachen, die Zeit des Werbens, bis das erste Ei gelegt ist. Kharst heißen die vierzehn Tage, in denen die Eier ausgebrütet werden. Der nächste Abschnitt reicht vom Ausschlüpfen der Jungen bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie das Nest verlassen; er heißt Flangst. Darauf folgt Scheen, bis die Jungen selbständig Samenkörner knacken und ohne ihre Eltern leben können. Scheen ist der Abschnitt, in dem unser Sohn stirbt. Dann kommt die erste Mauser der Jungvögel, Smoor genannt. Bei älteren Vögeln heißt die Zeit der Mauser Smoorer. Auf Smoorer folgt für die ausgewachsenen Vögel wieder Ohnme. Das Vogeljahr hat also sechs verschiedene Abschnitte. Der längste ist Ohnme, und der kürzeste ist Kharst. Kharst, Flangst und Scheen werden im typischen Vogeljahr dreimal durchlaufen. Die zweite Art von Zeit, die Vögel kennen, bezieht sich auf den einzelnen Vogel und nicht so sehr auf die Zeiten der Paarung und der Mauser. Das ganze erste Jahr vor der Paarung heißt Tangen. Die Jahre der Reife heißen Pleen, und die letzten Tage vor dem Tod heißen Lehen. Manchmal geht ein alter oder kranker Vogel in Echen. Es ist eine Zeit, in der ein Vogel weder fliegen noch fressen will. Die Vögel haben kein Wort für den Tod. Soweit ich das übersehen kann, umfaßt Echen auch unsere Vorstellung vom Totsein. Als Perta mir sagte, unser Sohn sei in Echen, ging ich nach unten, um ihm zu helfen; er war noch nicht tot, aber es gab nichts mehr, was ich für ihn tun konnte. Er war in Echen. Als er schließlich starb, erzählte ich es Perta, und sie sagte nur: »Ja, er ist in Echen.«
Das Merkwürdige ist, daß an dem Tag, an dem unser Sohn stirbt, auch einer der Jungvögel in Pertas Nest im Käfig stirbt. Er hat die gleichen Zeichnungen wie unser Sohn. Ich nehme ihn aus dem Käfig heraus, und in dem Traum verschwindet der kleine Leichnam unseres Sohnes. Ich erzähle Perta davon, aber sie will nicht zuhören. Sie redet nie wieder von ihm. Wenn ich von ihm, von seinem Tod, von meiner Traurigkeit reden will, erhalte ich von ihr immer die gleiche Antwort: »Ja, er ist in Echen.« Diese ganzen Wörter kommen dem am nächsten, was ich in der Kanarisprache höre. Ich kann unmöglich beurteilen, ob es allgemeine Vogel-Ideen oder Birdy-Ideen sind. In meinem Traum habe ich angefangen, die Vogellaute als derartige Worte zu hören, obwohl sie für mich als Vogel wie Vogellaute klingen. Ich weiß nicht, was sich da abspielt. Kein Vogelwort klingt an und für sich wie ein englisches Wort, aber die Vögel hören sich für mich so an, als redeten sie englisch. So wie ich die Laute höre, forme ich sie um, und ich höre nur meine eigenen Umformungen. Als die Brutzeit vorbei ist, haben Perta und ich elf wunderbare Kinder. Es sind sieben Weibchen und vier Männchen. Das Bemerkenswerte daran ist, daß die Jungen in Pertas Käfig die gleichen Zeichnungen haben wie meine Kinder in dem Traum, und sie haben auch, soweit ich das beurteilen kann, das gleiche Geschlecht. Es leuchtet mir zwar ein, daß ich möglicherweise die Vögel in meinem Traum so gestaltet habe, daß sie den Vögeln in Pertas Käfig entsprechen, aber andererseits kannte ich von Pertas Jungen im Tageskäfig das Geschlecht schon zu einem Zeitpunkt, wo ich es in Wirklichkeit noch nicht wissen konnte. Perta im Traum hat mich informiert. Das ist ein Punkt, in dem ich nicht klarsehe. Ich bemühe mich, Perta, den Vogel im Käfig, mit Lauten anzureden, an die ich mich aus dem Traum erinnere, aber sie
reagiert darauf nicht. Wenn ich dagegen so piepe oder quiepe wie einst bei Birdie, dann piept oder quiept sie ganz begeistert zurück. Sie möchte, daß ich ihr als Junge erhalten bleibe. Mein Traum hat mit ihrer Wirklichkeit nichts zu tun. Und doch entsprechen ihre Jungen genau meinen Jungen im Traum. Allmählich kann ich nicht mehr sagen, welche Wirklichkeit die andere hervorbringt. Es kann nicht anders sein, als daß ich den Traum irgendwie nach den Dingen gestalte, die in der Wirklichkeit passieren, aber manchmal scheint es genau umgekehrt. Man kann sich leicht selber hereinlegen. Die andere Voliere ist so voll, daß ich etwas unternehmen muß. Fast jedes Zuchtpärchen hat mir drei Nester gebracht. Ich muß die jungen Männchen von den Weibchen trennen, und auch die Zuchtpärchen müssen auseinander. Die Brutzeit ist vorbei, und die erwachsenen Vögel werden bald mit der Mauser beginnen. Ich brauche mehr Platz. Ich löse das Problem, indem ich den Käfig der Männchen für mein Projekt unterteile. Ich ziehe einen neuen Boden ein, so daß das obere Drittel nun einen abgeschlossenen Käfig für Perta und ihre Jungen abgibt. Den unteren Teil nehme ich für die erwachsenen und jungen Männchen. Es sind fünfundachtzig junge Männchen und zweiundachtzig junge Weibchen. Nun gilt es, sie zu füttern und mit Stärkungsmitteln durch die Mauser zu bringen, damit ich sie dann zum Verkauf anbieten kann. Ich denke nur sehr ungern daran, daß ich sie verkaufen muß, vor allem die Kinder von Birdie und Alfonso. Dennoch ist das Geld, das ich mit ihnen verdienen kann, die Rechtfertigung, die ich brauche, um meine Vögel behalten zu können. Nur so kann ich diese Welt aufrechterhalten, die meinen Traum möglich macht. Wenn ich einen eigenen Käfig abtrenne, dann tu ich das nur deshalb, damit ich mit Perta und meinen Kindern in dem Traum ungestört bin. Gleich in der ersten Nacht, nachdem die
Unterteilung fertig ist, bewährt sie sich in dem Traum. Wir haben zwar nicht so viel Platz zum Fliegen, aber es wird schon gehen, bis ich mit meinem Plan so weit bin. Mein Plan besteht darin, eine Möglichkeit zu finden, wie ich mit meiner Familie frei umherfliegen kann. Es ist die Idee, die mir damals auf dem Baum gekommen ist, als ich die Schule schwänzte. In meinem Traum führe ich ein glückliches Leben als Ehegatte und Vater. Es sind wunderbare Stunden, in denen ich meinen Kindern beibringe, wie man fliegt, Körner knackt, frißt. Wir baden zusammen, und ich unterrichte die jungen Männchen im Singen. Wir beginnen mit einfachen Liedern über das Fliegen, die keine Schwierigkeiten bereiten, und machen uns dann an schwierigere Lieder. Eines der Kinderlieder geht so:
Auf und ab Und rundherum. Sing ein Lied, Frag nicht, warum.
Und ein anderes:
Spür nur die Luft Und leg dich hinein. Genieße den Wind Und den Sonnenschein.
Als ich die jungen Vögel verkaufe, gebe ich auch drei meiner alten Weibchen und eines der Männchen weg. Ich ersetze sie
durch einige der besten unter den neuen Jungvögeln. Die drei Weibchen ersetze ich, weil sie sich in der Zucht nicht bewährt haben. Eine hat immer nur zwei Eier gelegt und insgesamt nur fünf Vögel großgezogen. Eine andere hat zwar gut gelegt, aber jedesmal das Nest zerrupft und die Eier auf den Boden geworfen. Die dritte hat jedesmal das Nest aufgegeben, als ihre Jungen noch nicht mal acht Tage alt waren. Ich konnte zwar die Jungen retten, indem ich sie auf andere Nester verteilte, aber sie muß weg. Das Männchen verkaufe ich, weil es sich angewöhnt hat, die Eier aufzufressen. Diese ganzen Jungvögel sind noch bessere Flieger als ihre Eltern. Es ist eine Freude, ihnen zuzusehen. Das schwirrende Geräusch ihrer Flügel ist Musik. Weil sie so viel und so gut fliegen, sind sie alle schlank und langbeiniger als gewöhnliche Kanarien. Ich wollte, ich könnte Mr. Lincoln mein Vogelhaus und meine Vögel zeigen. Ich denke oft daran, aber meinen Eltern könnte ich das nie klarmachen. Ich wollte, die Menschen wären mehr wie Kanarienvögel. Tagsüber sehe ich stundenlang den Vögeln beim Fliegen zu. Je mehr ich zusehe, desto stärker und wahrer sind meine Träume. Ich dringe so tief in die Vogelwelt ein, daß mein Traum vom Tagesgeschehen vollkommen losgelöst scheint. Ich weiß nicht einmal mehr, was ich weiß. Ich kann nicht die ganze Zeit wissen, warum manche Dinge in den Träumen sind oder wie sie sich entwickeln werden. Die Träume sind so kompliziert geworden, daß sie mindestens ebenso real sind wie der Tag. Ich mache mit den Vögeln keine Flugexperimente mehr. Ich kenne sie aus meinen Träumen alle viel zu gut. Das Fliegen interessiert mich auch gar nicht mehr so sehr, zumindest nicht als Junge. Es ist besser, einen Vogel zu beobachten, der natürlich herumfliegt, als einen, der mit Gewichten behängt ist oder dem einige Federn fehlen. Es ist praktisch nicht möglich, eine
Sache wie das Fliegen in ihre Teile zu zerlegen. Man muß es als Ganzes erfassen; es nützt nichts, wenn man nur einzelne Teile sieht. Der Preis für Vögel steigt tatsächlich, und ein Großhändler in Philadelphia zahlt mir für meine Vögel sogar noch mehr, als ich mir vorgestellt hatte. Am Ende des Jahres bleibt mir ein Gewinn von über tausend Dollar. Meine Mutter kann es nicht glauben und will nun, daß ich Kostgeld zahle. Sie sagt, ich wohne in dem Haus und ich verdiene fast soviel wie mein Vater, und deshalb soll ich zahlen. Mir ist es gleich. Mir geht es bei meiner Kanarienzucht nicht ums Geld. Mein Vater sagt nein; er wird das Geld auf die Bank bringen, damit ich später studieren kann. Das bedeutet mir überhaupt nichts. Ich gehe sowieso nicht auf die Uni. Ich will nur meine Vögel aufziehen und nachts mit ihnen fliegen. Das kann ich überall tun; dafür brauche ich keine Uni. Was mir mehr Sorgen bereitet, ist, daß man mich mit achtzehn einziehen wird. Ich kann nichts dagegen tun. Die Armee wird nicht zulassen, daß ich mir Kanarien halte, das steht fest. Ich frage mich, ob der Traum weitergehen würde, wenn ich tagsüber keine Vögel zum Beobachten hätte. Wahrscheinlich wird die Armee ohnehin nur einen kurzen Blick auf mein hervorstehendes Brustbein werfen und mich mit einem 4-F nach Hause schicken. Ich hoffe es jedenfalls. Mein Vater hat zu meiner Vogelzucht eine Masse Einstellung. Er ist stolz auf die Kanarienvögel und fängt an, den Leuten in der Schule davon zu erzählen, auch von dem Geld, das ich damit verdiene. Alle dort wissen, daß ich ein Vogelnarr bin, aber daß ich damit Geld verdiene, das ist ihnen neu. Im Physikunterricht stelle ich einen meiner Ornithopter vor, und sie stellen ihn in eine Glasvitrine in die Eingangshalle. Das stempelt mich vollends endgültig ab: Birdy der Vogelnarr, »will sein Geld mit Vögeln verdienen«. Es macht mir nicht viel
aus; ich bin glücklich, wenn ich das tue, was ich tun muß. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte Al von meinem Traum erzählen. Ich weiß, er würde es nicht verstehen; er lebt so sehr in der Wirklichkeit. Er würde nur denken, ich sei endgültig übergeschnappt, fertig, aus. Ich habe aber auch Angst, der Traum könnte kaputtgehen, wenn ich jemand davon erzähle.
In diesem Winter verbringe ich viele Stunden damit, Pertas junge Vögel im Käfig abzurichten. Nachts spiele und fliege ich mit meinen eigenen Kindern, und bei Tag spiele ich dann als Junge mit ihnen. Die Persönlichkeiten der zwei Vogelfamilien sind genau gleich, und so fällt es mir leicht, Pertas Vögel abzurichten. Ich kenne sie wie meine eigenen Kinder. Ich bringe allen Vögeln Pertas und ihr selbst bei, herzukommen, wenn ich pfeife. Dieser Pfiff kommt dem Vogellaut für »Nahrung« so nahe, wie ich das als Junge nur schaffen kann. Ich gehe das einige tausendmal mit ihnen durch. Ich gebe das Zeichen, und sie fliegen direkt auf meinen Finger, um gefüttert zu werden. Sie fressen von meinem Finger oder von meinen Lippen oder aus meiner Hand. Schließlich haben sie alle vor mir so wenig Angst wie einst Birdie. Es sind wirklich meine Kinder, selbst bei Tag. Ich bin nun in meinem letzten Jahr an der Oberschule. Ich fahre immer mit dem Fahrrad zur Schule, nicht mit dem Schulbus. Ich bleibe möglichst für mich. Al und ich sind zwar manchmal zusammen, aber er treibt jede Menge Sport. In diesem Winter versucht er, im Ringen Meister des Schulbezirks zu werden. Er schafft es und wird dann sogar Landesmeister der Klasse bis zu vierundsiebzig Kilo. Bei den Bezirksmeisterschaften schaue ich zu, aber ich habe keine Möglichkeit, zum Landesfinale nach Harrisburg zu fahren. Er gewinnt dort mit einem Schultersieg in der ersten Runde.
An einem warmen Tag Ende Februar entschließe ich mich zum großen Test. Ich habe dazu ein kleines Weibchen ausgewählt, das mir besonders nahesteht. Sie ist genau wie eine meiner Töchter aus dem letzten Nest. Sie sitzt auf meinem Finger, als ich aus dem Vogelhaus trete. Draußen suche ich erst den Himmel nach Raubvögeln und die nähere Umgebung nach Katzen ab. Alles ist in Ordnung. Ich werfe sie von meinem Finger in die Luft, so wie ich das im Vogelhaus mit ihr geübt habe. Bei diesen Übungen war ich mit den Vögeln immer im mittleren Teil, wo die Zuchtkäfige sind. Die Tür zu ihrer Voliere führt in diesen Mittelteil. Ich werfe sie in den Himmel, wie man eine Taube oder einen Jagdfalken hochwerfen würde. Zunächst fliegt sie nach oben und landet auf dem Garagendach. Ihr Flug, der im Käfig so souverän wirkte, scheint hier im Freien irgendwie plump. Sie hüpft am Rande des Dachs entlang und piept zu mir herunter. Sie sieht so klein aus vor dem Himmel, so gelb und verwundbar in der blauen Weite. Ich pfeife mein Signal und strecke den Finger aus. Sofort fliegt sie herunter und frißt ein bißchen Spezialfutter von meinen Lippen. Ich streiche ihr über den Kopf. Sie plustert sich auf und piept. Der Piepton verliert sich in der Luft. Sie ist von einem schönen Zitronengelb, intensiver noch als Birdie. Sie wirkt in der Wintersonne so rein und sauber. Ich werfe sie erneut in die Luft, und diesmal breitet sie die Flügel aus und fliegt über den Hof auf das Verandadach, auf dem immer die Tauben schliefen. Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Sie ist so schön, wenn sie fliegt, aber sie ist so weit weg. Ich habe einen ganz trockenen Mund, und es gelingt mir nur mit Mühe, zu pfeifen. Sie fliegt geradewegs auf mich zu und macht eine kecke Landung – mit angelegten Flügeln und ohne zu flattern – auf meinem Finger. Während der nächsten Tage übe ich mit den übrigen Jungen Pertas. Ich werfe sie einzeln in die Luft, und sie fliegen alle zu
mir zurück. Es macht viel mehr Spaß als mit den Tauben. Es ist besser, als Modellflugzeuge fliegen zu lassen. Ich weiß, diese Vögel fliegen für mich. Ich warte jede Nacht darauf, aber ich selbst fliege immer noch nicht außerhalb des Käfigs. Ich versteh das nicht. Meine eigenen Kinder haben im Traum angefangen, draußen zu fliegen. Ich kann sie draußen sehen, aber ich bin in den Käfig gesperrt. Nach einer Woche versuche ich, zwei Vögel zusammen hochzuwerfen. Ich mache mir Sorgen, sie könnten meinen Pfiff ignorieren, aber es geht alles gut. Sie kommen direkt auf mich zu. Ich lasse sie immer längere Zeit fliegen, bevor ich sie zurückpfeife. Ein Pärchen lasse ich fünfzehn Minuten lang fliegen. Einmal gehe ich sogar hinüber und setzte mich auf die Verandastufen und sehe ihnen von dort zu, anstatt beim Vogelhaus stehenzubleiben. Auf meinen Pfiff hin kommen sie beide; kein Problem. Ich selber fliege immer noch nicht; ich bin im Käfig eingesperrt. In meinem Traum blicke ich immer mehr aus dem Käfig nach draußen und will dort fliegen. Ich rede mit meinen Kindern, und sie erzählen mir, daß es etwas völlig anderes ist. Man fliegt dort nicht nur, um Nahrung zu holen oder die Sitzstange zu wechseln, sondern man fliegt um des Fliegens willen; es ist ein Fliegen ohne jede Einschränkung. Eines Tages singt eines der jungen Männchen von dem Baum herunter, der über unser Haus hereinhängt. Dieses herrliche Lied in der freien Luft zu hören, ist etwas Wunderbares. In dem Gesang schwingt der ganze freie Raum mit und steigt zum offenen Himmel auf. Als nächstes werfe ich alle die Vögel gleichzeitig in die Luft. Mit einem lauten Schwirren der Flügel schwärmen sie in alle Richtungen aus. Die meisten fliegen an Orte zurück, an denen sie bereits gewesen sind. Es ist eine Freude, überall auf dem
Dach und in den Bäumen Gelb und Grün aufleuchten zu sehen. Die Bäume beginnen gerade, neue Blätter zu bekommen. Ein gelbes Männchen singt oben auf dem Kamin. Das Gelb hebt sich klar und deutlich von dem Blau des Himmels ab. Ich mache mir Sorgen, sie könnten zu weit wegfliegen und dann mein Pfeifen nicht mehr hören. Kanarienvögel haben nicht das Heimkehrvermögen von Brieftauben. Tatsächlich haben Kanarienvögel das freie Fliegen fast völlig verlernt. Nach fünf Minuten pfeife ich, und sieben von den zwölf kommen gleich zu mir herunter. Sie stoßen herab und landen auf meinen Fingern, meinen Händen, meinen Armen. Dort halten sie sich fest, während ich ins Vogelhaus gehe. Ich gebe jedem etwas Spezialfutter und lasse sie dann im Käfig zurück. Als ich wieder hinausgehe, sind die anderen fünf bereits oben auf dem Vogelhaus gelandet. Ich pfeife noch einmal, und sie kommen herunter und springen mir auf die Finger. Es ist alles gutgegangen. Ich frage mich, was wohl passieren würde, wenn eine Katze oder ein Habicht sie auseinandersprengen würde. Würden sie sich an meinen Pfiff erinnern und zurück kommen, oder würden sie in Panik geraten? Ich bin mir sicher, daß ich in dieser Nacht in meinem Traum frei fliegen werde, aber ich täusche mich. Obwohl sie jetzt alle fliegen, fliege, ich immer noch nicht außerhalb des Vogelhauses. Mit Beginn des Frühlings lasse ich die Vögel jeden Tag hinaus. Mit der Zeit wissen sie schon, was kommen wird, und warten darauf. Die anderen Vögel, die ich bei der Zucht einsetzen will, scheinen nicht zu verstehen, was sich abspielt. In meinem Traum neige ich dazu, ihnen aus dem Weg zu gehen; wahrscheinlich habe ich Schuldgefühle. Meine Flieger kommen zur Tür, sobald ich sie öffne, und sie springen auf meinen Finger, noch bevor ich gepfiffen habe. Mit Vögeln auf den Armen und Schultern gehe ich aus dem Vogelhaus und bleibe im Freien stehen. Ich will nicht, daß sie
losfliegen, bevor ich sie in die Luft werfe. Wenn einer von selber losfliegt, pfeife ich ihn zurück. Bald kennen sie alle diese Regel, so wie Leichtathleten wissen, daß sie keinen Fehlstart machen dürfen. Auf der einen Seite haben die Vögel die Freuden des Fliegens und auf der anderen Seite die Sicherheit dessen, was ihnen bekannt ist. Nach einem Monat kann ich alle zwölf, einschließlich Perta, bis zu einer Stunde lang frei fliegen lassen. Der Platz hinter dem Haus ist ihr Territorium, und keiner fliegt zu weit weg. Gelegentlich schwingt sich mal einer über den Zaun zum Baseballplatz, aber dort gibt es keine Bäume, auf denen sie landen könnten, und so kommen sie wieder zurück. Ein Vogel wagt einmal den Flug hinunter zur ausgebrannten CosgroveScheune, aber er macht sofort wieder kehrt. Sie prägen sich mit der Zeit alle Einzelheiten des Territoriums und die markanten Merkmale auf dem Weg zum Vogelhaus ein. In mir wächst die Überzeugung, daß man Kanarienvögel dazu bringen kann, ähnlich wie Tauben in einem offenen Käfig zu leben. Ich fliege in meinem Traum immer noch nicht außerhalb des Käfigs, und allmählich weiß ich auch, woran das liegt. Ich stehe mir selbst im Weg.
Das ganze freie Fliegen war bisher von mir abhängig, von Birdy, dem Jungen. Ich bin derjenige, der die Vögel auf seinen Finger nimmt und ins Freie trägt. Doch im Traum ist es für mich nicht möglich, mit mir als dem Jungen Verbindung aufzunehmen. Ich kann mich zwar sehen, aber ich kann meine Aufmerksamkeit nicht erregen, und deshalb existiere ich nicht. Und so gibt es für mich keine Möglichkeit, ins Freie getragen oder zurückgepfiffen zu werden. In meinem Traum gibt es keine andere Möglichkeit, aus dem Vogelhaus ins Freie zu
kommen. Ich kann mich nicht einfach nach draußen wünschen; es reicht nicht aus. Ich habe eine neue Idee. Ich entwerfe für den Käfig einen Zugang von außen, ähnlich wie an einem Taubenschlag. Dazu hänge ich über eine Öffnung im Käfiggitter dünne, frei herunterhängende Drähte, die nach unten ein Stück weit in den Käfig hineinreichen. Vor die Öffnung baue ich eine kleine Landeplattform. Auf die Weise kann ein Vogel draußen auf der Plattform landen und braucht nur die Drähte zur Seite zu schieben, um ins Vogelhaus zu gelangen. Er kann dann nicht wieder nach draußen, da die herabhängenden Drähte inzwischen die Öffnung wieder verschließen. Die Frage ist nur: Kann ich meine Vögel dazu bringen, diese Art von Eingang zu benutzen? Als ich fertig bin, gehe ich mit den Vögeln wie gewöhnlich aus dem Vogelhaus und werfe sie zum Fliegen in die Luft. Ich selbst gehe wieder hinein und stecke meine Hand durch die frei hängenden Drähte nach draußen, so daß sie auf der Plattform liegt. Ich pfeife. Einer nach dem andern kommen die Vögel und landen auf meinem Finger. Ich ziehe sie durch die Öffnung in den Käfig. Sobald sie drin sind, gebe ich ihnen Spezialfutter. Das wiederhole ich einige Male. Nun kommt der nächste Schritt. Anstatt sie auf meinem Finger auf dem üblichen Weg aus dem Vogelhaus zu tragen, ziehe ich die herabhängenden Drähte zur Seite, stelle mich vor das Vogelhaus, wo sie mich sehen können, lege meinen Finger auf die Landeplattform und pfeife. Sie lernen schnell, durch die Öffnung auf meinen Finger zu fliegen. Sobald sie draußen sind, werfe ich sie in die Luft. Wir üben das mehrmals, bis es automatisch geht. Danach brauche ich nur vor der Öffnung zu stehen und zu pfeifen, und sie kommen heraus. Es dauert nicht lange, bis sie auch von selbst herauskommen, sobald ich die Drähte an der Öffnung zur Seite ziehe. Nun können sie selb-
ständig den Käfig verlassen und fliegen, wenn ich ihnen dazu die Möglichkeit verschaffe, indem ich die Öffnung frei mache. Immer wieder übe ich mit ihnen den gleichen Ablauf, damit sie ihn nicht verlernen: Ich hole sie mit meinem Pfiff zurück und werfe sie anschließend wieder in die Luft. Ich versuche, bei jedem Vogel den Pfiff etwas abzuwandeln, um die Möglichkeit zu haben, jeden bestimmten Vogel zurückzurufen, aber sie haben sich schon zu sehr an den einen Pfiff gewöhnt. Man kann von einem Kanari nicht zuviel verlangen. Einmal habe ich einen der toten Vögel im Biologieunterricht aufgeschnitten und gesehen, wie klein das Gehirn ist; tatsächlich wiegen die Augen eines Kanarienvogels mehr als sein Gehirn. Ich kann nicht erwarten, daß sie zu viele komplizierte Dinge lernen. Es dauert lange, bis die Vögel sich daran gewöhnen, von selbst in das Vogelhaus zurückzufliegen. Am Anfang halte ich innen bei der Öffnung Spezialfutter bereit und pfeife ihnen. Ich setze sie auch auf die Landeplattform, aber sie wollen die Drähte nicht zur Seite schieben. Ich glaube, Kanarien sind gegen Berührungen empfindlicher als Tauben. Ich fange damit an, die Drähte beiseite zu lassen, und dann gehen sie hinein, um sich das Spezialfutter zu holen. Schließlich haben sie den Mut, einer nach dem anderen, die Drähte zur Seite zu schieben und von sich aus hineinzugehen. Es ist geschafft. Sie können praktisch das Leben einer frei fliegenden Taube führen. Sie sind erstaunlich flinke und bewegliche Flieger geworden, so daß ich mir – auch wenn dreihundert Generationen im Käfig gelebt haben – kaum noch Sorgen wegen der Katzen oder Raubvögel mache. Eines Nachts blicke ich in meinem Traum nach oben und sehe die Öffnung; die Drähte sind zurückgezogen. Ich fliege an den Rand der Öffnung und hüpfe hinaus auf die Landeplattform. Der Traum meiner Träume geht in Erfüllung. Ich werde frei fliegen.
Ich fliege nach oben auf das Vogelhaus. Ich hüpfe die Kante entlang, blicke hinunter auf den Boden und fliege dann über den Hinterhof zum Dach unseres Hauses. Es ist ein schöner Tag, die Frühlingsblätter haben sich entfaltet, am Himmel treiben riesige, weiche, weiße Wolken. Ich springe. Ich schwinge mich in einer Schleife durch die Luft und spüre dabei die ganze Fülle des Windes in den Gruben meiner Flügel. Ich blicke nach unten, und der Hof hinterm Haus wird kleiner. Ich fliege einen Kreis und lande dann auf der Dachrinne. Die Welt ist gleichzeitig größer und kleiner. Größer, weil ich weiter sehen kann, und kleiner, weil ich auf sie herabblicke und weiß, daß sie mehr als je zuvor mir gehört. Ich fliege vom Dach fast senkrecht nach oben; ich fliege so steil nach oben, wie ich nur kann, ohne Ziel, einfach um den Himmel zu spüren. Dann lege ich die Flügel an und lasse mich fallen, bis meine Federn anfangen, im Wind zu flattern. Ich öffne die Flügel, fange mich und fliege wieder steil nach oben, bleibe einen Augenblick stehen und ziehe dann eine langgezogene Schleife. Ich blicke hinunter. Da unten ist das Haus mit dem Grundstück drum herum, alles an einem Stück. Ich kann alles sehen, ohne den Kopf zu bewegen. Ich kann den ganzen Baseballplatz sehen, und dazu die Church Lane bis hinüber zum Friedhof. Ich bin direkt über dem Baum in der Ecke unseres Grundstücks. In langsamen Kreisen gehe ich tiefer und suche nach einem Ast, auf dem ich landen kann. Ich finde einen im Baumwipfel, auf der dem Haus zugelegenen Seite. Ich lande und plustere mich auf. Ich fühle mich eins mit allem. Ich habe bis in die letzten Fasern meines Seins das Gefühl, ich selbst zu sein. Ich blicke hinüber zum Vogelhaus. Perta kommt heraus, steht auf der Plattform. Auf dem Dach des Vogelhauses sind zwei meiner Söhne und eine meiner Töchter. Erst will ich piepen, damit sie wissen, wo ich bin, doch dann beschließe ich, zu
singen. Ich fange an, in der Sonne zu singen, und mein Lied erhebt sich in die blaue Luft. Mir ist, als schwebte ich mit meinen Tönen in den Himmel. Ich habe das Gefühl, Teil all dessen zu sein, was von meinem Lied berührt wird. Während ich singe, fliegt Perta herauf und setzt sich neben mich auf den Ast. Sie spürt, was ich empfinde und fordert mich auf, sie zu füttern. Ich füttere sie und singe und füttere sie wieder. Ich fliege über sie und bin in ihr, und es ist mehr als je zuvor. Ich springe auf und fliege in kleinen Kreisen über Perta. Ich singe beim Fliegen. Ich vergesse, daß ich Birdy bin; ich bin wirklich ein Vogel, und es ist kein Traum. Ich fliege die ganze Nacht und komme überallhin, wo meine Vögel während des Tages gewesen sind. Es gibt auch andere Orte, zu denen ich fliegen möchte, etwa zum Gaskessel oder zum Mühlteich oder hinunter zu dem Baum, in dem wir damals das Taubenhaus hatten, aber es geht nicht. Tagsüber denke ich die ganze Zeit ans Fliegen. In dem Traum ist alles so wirklich, daß es immer schwerer wird, die Dinge, die ich bei Tag mache, ernst zu nehmen. Es wird Zeit, an die neue Brutsaison zu denken. Ich putze sämtliche Käfige und richte sie wieder her. Ich habe bereits festgelegt, wie die einzelnen Zuchtpärchen aussehen sollen, und ich füttere sie schon eine Weile mit Eifutter und Löwenzahnblättern, um sie paarungsbereit zu machen. Sobald die Zuchtkäfige an ihrem Platz sind, werde ich den Zwischenboden herausnehmen und die ganze Voliere für meine Familie benutzen. Anfang April bringe ich die Zuchtpärchen zusammen. Im Traum in dieser Nacht fliegen Perta und ich bis an die Grenzen des Bereichs, in dem wir uns frei bewegen können. Wir jagen in der Luft hintereinander her und kommen uns manchmal so nahe, daß unsere Flügel einander berühren. Ich bin versucht, mich in der Luft auf den Rücken zu drehen, so wie die
Tümmler unter den Tauben, aber ein Kanarienvogel kann das nicht. Perta sagt, sie will unser Nest nicht im Vogelhaus bauen; sie möchte es im Baum haben. Es ist mein Traum, also muß ich mir das ausgedacht haben, aber in dem Traum überrascht es mich. Wenn Perta im Traum ihr Nest in den Baum baut, wird es dann auch bei Tage dort sein? Am nächsten Tag bin ich damit beschäftigt, die Vögel in den Zuchtkäfigen zu füttern und Wasser nachzufüllen und zu beobachten, wie es mit der Paarung vorangeht. Für mehr als die Hälfte der Pärchen ist es bereits die zweite Brutzeit, da müßte also alles ziemlich rasch vonstatten gehen. Für meine fliegende Familie habe ich schon vorher das kleine Türchen aufgemacht, und sie sind alle draußen. Als ich mit den Zuchtkäfigen fertig bin und bevor ich zum Abendessen reingehe, pfeife ich, um sie in den Käfig zurückzuholen. Alle kommen angeflogen, bis auf Perta. Ich habe sie später abgerichtet als die anderen, und so pfeife ich noch einmal. Diesmal kommt sie zur Landeplattform, und als ich den Finger hinhalte, hüpft sie rauf. Sie hat etwas in ihrem Schnabel; es ist ein trockener Grashalm. In dieser Nacht suchen Perta und ich den ganzen Baum nach einer geeigneten Astgabel ab, in die wir unser Nest bauen können. Ich denke daran, bei Tage auf den Baum zu klettern und ein Nestkörbchen für uns anzubringen, überlege es mir dann aber doch anders. Am nächsten Nachmittag kommt Perta auf meinen Pfiff nicht zurück. Ich weiß, daß sie irgendwo da draußen ein Nest baut. Das ist wieder etwas, was im Traum begonnen hat und nun am Tag geschieht. Ich stelle etwas Futter und Wasser auf das Dach des Vogelhauses, wo sie vor Katzen sicher sein wird, und hoffe das Beste.
Perta und ich verbringen viele Stunden mit dem Nestbau. Es ist sehr viel schwieriger ohne eine vorgefertigte Unterlage und ohne die Fäden aus dem Rupfensack. Wir tragen aus allen Richtungen trockene Grashalme und Holzstückchen zusammen. In der Garage steht ein alter Strohsessel, den mein Vater Vorjahren geflochten hat, als es mich noch gar nicht gab. Wir reißen Stücke heraus und zerfetzen sie zu kleinen Streifen für die Innenseite des Nestes. Es ist ein wunderschönes Bauwerk. Ich kann nur tun, was Perta mir sagt, und ihre Instinkte brechen immer stärker durch. Zwei Tage vor dem ersten Ei sind wir fertig. Es ist ein prächtiges Nest. Ich fliege zu verschiedenen Zweigen, um es aus der Ferne anzusehen. Wir haben einen Platz ausgewählt, der weder aus der Luft noch vom Boden aus zu sehen ist. Raubvögel oder Katzen konnten nicht mal ahnen, daß das Nest existiert. Perta legt ihre üblichen vier Eier, und sie ist sehr glücklich. Von verschiedenen Plätzen im Baum singe ich ihr zu, und ich fliege hinunter zu den Futter- und Wassernäpfen um ihr Nahrung zu besorgen. Am Tag finde ich sofort die Stelle, an der Perta ihr Nest gebaut hat. Es ist genau die Astgabel, in der wir im Traum unser Nest gebaut haben. Perta könnte diesmal fruchtbare Eier haben; sie könnte von einem der Jungen aus ihrem letztjährigen Nest befruchtet worden sein. Ich hoffe, Pertas Eier sind diesmal befruchtet. Auch einige der anderen Flieger haben angefangen, Nester zu bauen. Die meisten von ihnen machen es wie die Tauben und bauen in der Sicherheit des Flugkäfigs. Nur eines der Weibchen macht es wie Perta und baut draußen. Es ist die kleine Gelbe, die ich als erste mit nach draußen nahm. Sie baut in dem Baum, der über das Dach unseres Hauses hereinhängt. Ich mache mir Sorgen wegen der Katzen und überlege mir, ob ich das Nest an einen anderen Ort bringen
soll. Doch dann entscheide ich mich dafür, es unangetastet zu lassen und das Beste zu hoffen.
– Ich muß lernen, mit mir zu leben, so wie ich bin. Das Problem ist nur, daß es Teile von mir gibt, die ich überhaupt nicht kenne. Mein ganzes Leben habe ich an meinem ganz persönlichen Bild gearbeitet, so wie die Bodybuilder in Strength and Health. Nur habe ich nicht von innen gebaut, sondern von außen, um mich gegen die Außenwelt zu schützen. Nun ist ein großer Teil dieses verrückten Gebäudes zerstört worden. Ich muß wieder von vorne beginnen; ich muß nach innen sehen und herausfinden, was wirklich da ist. Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Am Ende werden wahrscheinlich ein paar Stücke fehlen, und ich muß den alten Al irgendwie zusammenkleistern. Ich muß lernen, mit der Angst zu leben. Sie ist eingebaut, und es hat keinen Sinn, gegen sie anzugehen. Ohne Angst wären wir keine erfolgreichen Tiere. Angst zu haben ist keine Schande. Sie ist natürlich und notwendig, wie das Spielen oder der Schmerz. Ich muß lernen, damit zu leben.
Im Traum schlüpfen Junge aus allen vier Eiern Pertas. Drei sind dunkel, und eines ist gelb. Perta sagt, das gelbe sei ein Weibchen, und die dunklen seien Männchen. Ich kann das immer noch nicht unterscheiden; ich werde es wahrscheinlich nie zum richtigen Vogel bringen. Am Tag schlüpfen oben im Baum Pertas Eier aus; sie war also doch nicht unfruchtbar. Ich freue mich für meine Perta. Die Vögel in den Zuchtkäfigen produzieren wie die Verrückten. In acht Nestern sind je fünf Junge. Als sie soweit sind, daß sie die Zuchtkäfige verlassen können, bringe ich sie in den
Käfig der Weibchen; der Flugkäfig für die Männchen bleibt den Fliegern vorbehalten. Auch die Flieger haben angefangen, ihren Käfig mit Jungen zu füllen. Die Nester sind mit Materialien gebaut, die sie draußen zusammengesucht haben. Sie gehen im Vogelhaus den ganzen Tag ein und aus wie Tauben. Ich lasse den Drahtvorhang an dem Türchen für sie auf. Die Öffnung ist zu klein und die Landeplattform viel zu hoch und zu schmal, als daß eine Katze in den Käfig gelangen könnte. Ich bin nicht sicher, was ich tun werde, wenn ihre Jungen zu fliegen beginnen. Die Frage ist, ob ich dann den Zugang ins Freie offenlassen soll oder nicht. Diese jungen Vögel werden nicht gelernt haben, auf meinen Pfiff hin zurückzukommen oder überhaupt ins Vogelhaus zurückzukehren. Würden die Eltern es ihnen beibringen? Würde ihnen klar sein, daß es nur im Käfig etwas zu fressen gibt? Ich entscheide mich für das Risiko und lasse das Türchen offen. Solange sie von den Eltern gefüttert werden, kommen sie bestimmt zum Käfig zurück. Auf die Weise wird es ihnen zur Gewohnheit. Wenn sie dann anfangen, selbständig Körner zu knacken, ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich erfahren werde, ob das alles möglich ist. Können sie frei sein und trotzdem der Gemeinschaft im Vogelhaus angehören? In meinem Traum ist das Leben wirklich ein Traum. Ich fliege und singe und helfe beim Füttern der Kleinen. Als sie dann anfangen, das Nest zu verlassen, bringe ich ihnen das Fliegen bei. Ihnen das Fliegen unter freiem Himmel beizubringen, macht fast so viel Spaß wie das Fliegen selbst. Wenn ich vom Fliegen träume, dann ist dieser Flugunterricht immer das Beste. Perta ist glücklich und hat schon wieder Junge im Nest. Sie sind acht Tage alt. Ich fliege mit den Jungen aus dem ersten Nest zu all meinen Lieblingsplätzchen. Einige meiner Kinder aus dem letzten Jahr fliegen mit, besonders die Männchen, die nicht an ein Nest gebunden sind. Diese Vögel sind für
die Neuen ein Zwischending zwischen Bruder und Onkel und helfen beim Unterricht. Vater und Großvater zugleich zu sein, ist eine phantastische Erfahrung. Ich fühle mich wie der Bruder meiner eigenen Kinder. Es ist ein Jammer, daß Menschen so alt sind, wenn sie Großeltern werden. Das andere Weibchen, das am Tag außerhalb des Käfigs gebaut hat, hat ebenfalls Junge im Nest. Ich glaube, es sind drei. Ich kann das Nest, das Perta gebaut hat, nicht gut sehen, da es hoch oben im Baum ist. Ich würde gar nicht wissen, daß ihre Jungen geschlüpft sind, wenn ich nicht die Pieptöne hören könnte, mit denen sie um Futter betteln. In meinem Traum gibt es außer Perta und mir keinen Vogel, der außerhalb des Käfigs baut. Die Art und Weise, wie sich meine Kanarien an das natürliche Leben angepaßt haben, ist fast ein Beweis dafür, daß ein Kanari viele seiner natürlichen Fertigkeiten behält, selbst wenn er jahrhundertelang in Käfigen gehalten und über viele Generationen hinweg mit anderen Vogelarten gekreuzt worden ist. Ich habe das Gefühl, daß meine Kanarien, wenn sie nur die richtige Nahrung finden könnten, wahrscheinlich allein überleben würden und mich nicht mehr bräuchten. Die Vögel in dem Nest, das das gelbe Weibchen in den über das Dach hereinhängenden Baum gebaut hat, sind gerade soweit, daß sie schwankend auf den Nestrand klettern, als ich eines Tages einen schäbigen Kater entdecke, der auf dem Dach der Veranda sitzt und zu ihnen hinaufstarrt. Ich weiß nicht genau, ob er von dort auf das Hausdach springen kann, aber ich werfe mit Steinen nach ihm, bis er sich verzieht. Es wird wirklich gefährlich werden, wenn diese Jungen zu fliegen anfangen und auf den Boden herabflattern. Ich weiß keine Möglichkeit, wie ich diese Katze fernhalten soll. Der Flugkäfig der Weibchen enthält jetzt schon zweiundsechzig junge Vögel, und die neuen Nester füllen sich. Es sieht aus,
als werde ich noch mehr Vögel haben als im Vorjahr, und da sind die Jungen von meinen Fliegern noch nicht mal mitgezählt. Die Futterrechnungen sind gewaltig, aber ich habe genug Geld. Ich sage nur meinem Vater, wieviel ich brauche, und er gibt es mir. Diese jungen Vögel aus den Nestern der Flieger benutzen jetzt den Zugang zum Vogelhaus ganz selbständig. Da scheint es überhaupt keine Probleme zu geben. Sie kommen alle zum Fressen und nachts zum Schlafen ins Vogelhaus. Die meisten der Mütter sind inzwischen an ihrem zweiten Nest, aber die Männchen fliegen mit den Jungen. Einige der jungen Männchen haben schon mit ihren gurgelnden, trillernden Liedern angefangen. Die älteren Männchen kommen immer noch, wenn ich pfeife, aber die jungen beachten mich überhaupt nicht. Es ist großartig, daß sie so frei sind. Es gibt praktisch nichts mehr, was sie an den Käfig bindet. Die meisten Weibchen gehen nur wenig raus, da sie so sehr mit ihren Nestern beschäftigt sind. Ich kann immer noch das eine Weibchen aus dem Baum über dem Haus mit einem Pfiff zu mir holen. Sie kommt dann für eine kurze Minute und frißt von meinem Finger, doch dann fliegt sie zu ihrem Nest zurück. Es ist schön zu sehen, wie gewissenhaft die Vögel mit ihren Kleinen umgehen. Die Jungen der Flieger sind in vieler Hinsicht wie wilde Vögel. Sie haben nie erfahren, was es heißt, in einen Käfig eingesperrt zu sein. Sie fliegen weiter vom Haus weg als die anderen, und sie neigen auch mehr als ihre Eltern dazu, sich zu einem Schwarm zusammenzutun. Die Eltern scheinen diesen Instinkt ganz verloren zu haben, doch die Jungen bilden Schwärme fast wie Tauben. Sie sind sehr viel leichter zu erschrecken und fliegen dann geschlossen im Schwarm zu den umliegenden Baumwipfeln. Die ganzen Vögel haben inzwischen angefangen, aus den Näpfen zu fressen, die ich für Perta und das andere junge
Weibchen draußen stehen habe. Nun beschließe ich, das ganze Futter nach innen zu bringen. Das letzte Mittel, das ich noch habe, um sie nachts in die Käfige zu locken, ist das Futter. Wenn ich abends die Zuchtkäfige versorgt habe, ziehe ich die Drähte über die Öffnung im Käfiggitter; wenn nun die Vögel zum Fressen kommen, können sie anschließend nicht wieder hinaus. Auf die Weise behalte ich einigermaßen den Überblick über ihre Zahl. Wenn ich das richtig sehe, gibt es bei den Fliegern bereits etwa zwanzig Junge. Ihre Fortpflanzungsquote ist mit der in den Zuchtkäfigen nicht zu vergleichen. Die Verluste sind auf der ganzen Linie höher. So nehme ich zum Beispiel die Eier nicht weg, wenn sie zu brüten beginnen. Deshalb haben sie nie mehr als drei oder vier Junge pro Nest. Ich mag es nicht, wenn mich die jungen Flieger wie jeden anderen ihrer Feinde behandeln. Sie sind fast meine eigenen Enkelkinder, doch sie erkennen mich nicht. Mein Traum baut auf ihnen auf, doch sie haben sich vollkommen daraus gelöst; sie sind praktisch wilde Vögel.
– Ich habe mich wohl vor allem deshalb aufgebaut, um meinen Vater zu »schlagen«; ich wollte ihn nicht einfach verprügeln, sondern ich wollte in den Dingen besser sein, die er meiner Ansicht nach vertrat. Also wurde ich wie er. Wir werden wie die Leute, mit denen wir konkurrieren. Es ist wie bei den Kannibalen, die Teile eines feindlichen Kriegers aufessen, um sich dessen Mut anzueignen. Verrückte Dinge gibt’s!
Dann passiert es. Als ich eines Tages zur morgendlichen Fütterung hinausgehe, blicke ich zu dem Nest in dem Baum überm Haus hinauf. Da ist dieser Kater auf dem Dach, und er hat einen der jungen Vögel im Maul. Er will sich gerade mit der
Pfote den zweiten der jungen Vögel angeln, der auf einem Ast direkt unterhalb des Nestes hockt. Die Mutter der Kleinen ist außer sich. Sie stürzt sich im Flug auf den Kater, und der Kater schlägt mit der Pfote nach ihr. Den dritten Jungvogel sehe ich nicht. Ich lese Steine auf und werfe sie nach dem Kater. Ich brülle, aber er duckt sich nur und streckt weiter die Pfote nach dem Ast aus oder schlägt nach der Mutter, wenn sie ihm zu nahe kommt. Ich pfeife; und sie kommt angeflogen und landet auf meinem Finger; aber bevor ich sie einfangen kann, ist sie schon wieder abgeschwirrt. Sie fliegt wieder nach oben in den Baum. Ich laufe in die Garage und hole die Leiter. Mein Vater kommt heraus. Er hilft mir die Leiter so hinzustellen, daß ich auf das Verandadach steigen kann. Meine Mutter kommt heraus. Sie macht sich Sorgen, ich könnte abstürzen und mein Vater könnte zu spät zur Arbeit kommen. Ich klettere auf das Dach. Der Kater hält die Stellung und weicht erst ein wenig zurück, als ich aufstehe und die Hand nach ihm ausstrecke. Mit mir in der Nähe ist die Vogelmutter in ihren Angriffen auf den Kater noch mutiger. Er hat immer noch den toten Jungvogel zwischen den Zähnen. Der andere, den er sich holen wollte, hat sich auf dem Ast zum Nest hin bewegt, über dessen Rand der dritte Nestling herausblickt. Ich ziehe mich gerade auf das Dach hoch, als der Kater mit einem Schlag seiner Pfote die Vogelmutter aus der Luft holt. Ich springe auf, um vor dem Kater dort zu sein, aber er ist schneller. Er läßt den jungen Vogel fallen und packt sie mit den Zähnen, bevor ich irgend etwas tun kann. Ich bekomme ein Vorderbein des Katers zu fassen. Er kratzt mich, als ich ihn mit der anderen Hand am Hals packe. Ich zwänge seinen Kiefer auseinander, um die Vogelmutter herauszubekommen. Es ist zu spät. Sie ist tot. Ich nehme den kleinen toten Jungvogel in die
Hand und lasse die Katze los. Geduckt geht sie über das Dach und läßt sich dann auf das Verandadach hinunterfallen. Mein Vater steht mit einem Stecken neben der Regentonne. Die Katze springt vom Dach und an ihm vorbei. Er schlägt mit dem Stecken nach ihr, trifft sie aber nicht. Ich steige herunter und sehe mir die zwei Vögel an. Beide haben ein gebrochenes Genick. Eine Katze weiß genau, was sie tun muß, um einen Vogel sicher umzubringen. Bevor wir die Leiter aufräumen, steige ich noch einmal hinauf und hole die zwei jungen Vögel aus dem Nest. Es ist nicht schwer, sie zu fangen; sie können noch nicht fliegen. Ich bringe sie zu den anderen Jungen in den Käfig der Flieger. Vielleicht wird eines der Männchen sie adoptieren, ich stopfe sie mit Futter voll, bevor ich zur Schule gehe und hoffe, daß alles gutgeht. Als ich nach Hause komme, scheinen sie wohlauf, und ich füttere sie wieder. Die Väter können sich nicht an alle Vögel erinnern, und einer von ihnen ist ohnehin der Vater dieser Vögel.
In dieser Nacht habe ich im Traum Angst vor dem, was geschehen könnte, aber alles geht gut. Pertas Nest ist unversehrt, und da ist keine Spur von einer Katze. Unser Nest ist zu hoch oben im Baum, als daß eine Katze es sehen könnte. Ich rede mit Perta und versuche ihr zu erklären, welche Gefahr von Katzen droht, aber sie hat noch nie eine Katze gesehen und kann gar nicht wissen, wovon ich rede. Ich bin fast versucht, unser Nest in den Käfig zurückzubringen; ich frage mich, was wohl geschehen würde, wenn ich am Tag als Junge auf den Baum kletterte und das Nest herunterholte. Würde Perta im Traum das Nest aufgeben? Würde es auf dem Baum bleiben? Das Risiko ist zu groß. Ich bin zuversichtlich, daß nichts pas-
sieren wird, solange ich vorsichtig bin. Der Traum wiederholt nicht alles, was am Tag geschieht. Das Nest des kleinen gelben Vogels kommt im Traum nicht mal vor. Eine Woche ist vergangen, und ich habe schon das Gefühl, daß die Gefahr vorbeigeht, doch da sehe ich im Traum die gleiche Katze auf unseren Baum klettern. Perta sitzt auf dem Nest und ich habe meinen Platz direkt über und hinter ihr. An dem Tag sind unsere Jungen das erste Mal auf den Rand des Nestes gestiegen. Es mußte so kommen. Bisher sind sie noch zu klein gewesen, aber jetzt sind sie alt genug. Es kann passieren. Perta hat die Katze noch nicht gesehen. Die vier Jungen aus unserem ersten Nest in diesem Jahr sind mit ihren älteren Brüdern beim Fliegen, unten im Wald, wo wir das Taubenhaus auf dem Baum hatten. Mir fällt nichts ein, was ich tun könnte. Ich warte ab und beobachte diesen Kater. Ich sehe ihn sehr deutlich. Von dem einen Ohr ist ein Teil abgerissen. Der Kater hat ein ausgefranstes Eselsohr. Ich kann alle Einzelheiten an ihm erkennen. Ich wußte gar nicht, daß ich ihn so genau gesehen hatte. Ich war so sehr damit beschäftigt gewesen, zu überlegen und rasch zu handeln, daß ich gar nicht merkte, wie genau ich mir den Kater ansah. Ich weiß schon, was ich tun muß: Ich muß den Traum abbrechen. Ich muß aufwachen. Ich muß Birdy, der Junge, werden und dieses Katzenproblem bei Tag lösen. Ich kann nicht. Ich kann mich nicht aus dem Traum herausreißen. Ich bin auf der falschen Seite der Tür; der Schlüssel steckt auf der anderen Seite. Es ist, wie wenn man aufwacht und nicht sicher ist, daß man sich rühren kann, und man hat Angst, es zu versuchen. Ich kann mich nicht dazu bringen, einen Versuch zu wagen. Der Vogel in mir ist zu stark. Der Vogel weiß nicht, daß er alles beenden kann, wenn er weggeht. Der Vogel hat vor der Katze zuviel Angst, als daß er sich weit entfernen könnte. Der Vogel muß bleiben und Perta und die Kleinen beschützen. Er glaubt
nicht an diese andere Sache, an die andere Existenz. Doch der Junge weiß, daß ein Kanarienvogel nicht gegen eine Katze kämpfen kann. Ich gebe nach. Ich warte und verfolge, wie sich der Kater mit seinen Krallen den Baum hochzieht. Alles in meinem Körper will davonfliegen. Mein Vogel-Jungen-Gehirn muß dableiben. Ich versuche mir auszudenken, wie der Traum ablaufen wird. Muß Perta sterben? Wird sie, wenn sie den Kater entdeckt, auf ihn losgehen oder davonfliegen? Ich hüpfe hinunter zum Nest. »Hör mal, Perta, hast du nicht Lust, ein bißchen herumzufliegen. Ich setze mich ein Weilchen aufs Nest.« Perta blickt mich an. Sie ist müde, aber sie will nicht weg. Sie spürt meine Angst; es ist unmöglich, sie anzulügen. Ich denke mir, daß es mir vielleicht gelingt, aufzuwachen, wenn sie aus dem Traum fliegt. Ich sage ihr noch einmal, daß ich möchte, daß sie sich ein wenig erholt; ich möchte eine Gelegenheit haben, mit den Kleinen allein zu sein. Perta weiß, daß irgend etwas nicht stimmt, aber sie erhebt sich von dem Nest. Die Kleinen fühlen sich gestört und geben ihre Bettellaute von sich. Ich steige aufs Nest, und sie beruhigen sich wieder. »Geh schon, Perta. Flieg ein bißchen. Die Jungen sind unten im Wald. Sieh mal nach, was sie treiben. Sie fliegen um das zerfallene Haus in dem Baum. Du weißt doch, wo das ißt. Es wird dir guttun.« Perta blickt mich noch einmal an und fliegt dann davon. Sie sieht den Kater nicht. Sie erwartet ihn nicht. Er preßt sich eng an den Baumstamm. Er ist schon halb oben: Ich bin sicher, er hat die Kleinen piepen hören, aber das spielt jetzt keine Rolle. Wenigstens ist Perta fort. Wenn ich jetzt nur den Traum in den Griff bekomme, verhindern kann, daß er weitergeht. Ich versuche noch einmal, mich zu konzentrieren, den Traum abzubre-
chen, aber ich stecke immer noch zu tief drin. Ich sage den Kleinen, sie sollten sich tief ins Nest ducken. Es ist ein heißer Tag, und im Nest ist es eng und stickig. Sie wollen nicht unten bleiben. Es ist fast Zeit für sie, auszufliegen; sie wollen sich auf den Nestrand setzen oder stellen, die Flügel spreizen. Ich sorge dafür, daß sie unten bleiben. Nun verlasse ich selber das Nest. Ich fliege auf einen höher gelegenen Ast. Der Kater sieht mich nicht. Er konzentriert sich in dieser besessenen Katzenart ganz auf das Nest. Er schmeckt bereits die Federn und das Blut. Meine einzige Chance besteht darin, ihm irgendwie Angst einzujagen oder ihn zu verletzen. Ich denke daran, meinen Vater zu Hilfe zu rufen, aber mein Vater ist nie in dem Traum. Ich denke auch daran, mich selber zu Hilfe zu rufen. Ich sehe mich drüben im Vogelhaus; aber das ist genauso unmöglich. Ich achte überhaupt nie auf mich als Vogel. Also muß ich es allein schaffen. Ich habe nur eine Chance: ich muß dem Kater eine Verletzung beibringen. Ich muß irgendwie an seine Augen kommen, indem ich geräuschlos von oben direkt auf ihn herabstoße. Der Kater ist weitergeklettert. Ich fliege hinaus und stehe praktisch in der Luft. Ich habe Angst. Der Vogel in mir hat eine panische Angst vor der Katze. Ich überlege mir, ich muß in mein Schlafzimmer an eine Stelle fliegen, wo ich als Vogel nie gewesen bin, an eine Stelle, wo ich nur als Junge bin; dann wird der Traum vielleicht enden. Aber ich weiß auch, dafür reicht die Zeit nicht. Ich setze zum Sturzflug an. Ich schieße durch die Zweige direkt auf den Kopf des Katers zu. Ich ziele mit meinem Schnabel direkt auf sein Auge. Auf dieses Auge, gelbgrün, mit einem schwarzen Schlitz, ganz auf meine Kleinen konzentriert. Und dann stürze ich, meine Flügel funktionieren nicht mehr; die Luft bleibt mir weg; ich habe Schmerzen. Der Kater hat mich
mit einer schnellen Bewegung seiner Pfote aus der Luft geholt. Ich schlage auf dem Boden auf und kann mich nicht bewegen. Mit offenen Augen liege ich da, gelähmt. Ich liege auf der Seite und blicke nach oben in den Baum. Ich mache die Augen wieder zu und versuche, den Traum abzubrechen. Ich mache die Augen auf; ich liege immer noch am Boden. Der Kater blickt aus dem Baum auf mich herab, jetzt ist er von dem Nest abgelenkt. Ich gebe mir Mühe, auf die Beine zu kommen, aber nichts bewegt sich. Der Kater blickt über die Schulter nach unten und kommt rückwärts den Baumstamm herunter. Er kommt ins Rutschen und drückt sich schließlich vom Baum ab und landet mit einem Satz am Boden. Ich bin immer noch an derselben Stelle. Der Kater steht reglos da und beobachtet mich. Ich bewege mich nicht; ich kann mich gar nicht bewegen. Der Kater kauert sich zusammen, ist bereit zum Sprung. Ich blicke ihm in die Augen, will ihn zwingen, den Jungen in mir zu sehen, nicht nur den Vogel. Die Schlitze in seinen Augen weiten und verengen sich. Er konzentriert sich so stark, daß die Augen leicht nach innen schielen. Voller Erwartung wiegt er langsam den Kopf vor und zurück. Ich versuche ihn aufzuhalten, ihn mit meinen Augen zu stoppen. Noch einmal versuche ich, den Traum abzubrechen. Ich weiß, ich kann es schaffen, wenn ich die Augen zumache. Ich weiß aber auch, wenn ich die Augen zumache, wird der Kater zum Sprung ansetzen. Ich mache die Augen zu, und dann – noch bevor der Traum zu Ende ist – höre ich ein Geräusch, und der Kater heult auf.
Zitternd und schwitzend wache ich in meinem Bett auf. Mein Herz hämmert. Ich schaffe es kaum ins Bad, um einen Schluck Wasser zu trinken. Die eine Körperhälfte tut weh und ist wie gelähmt. Ich blicke in den Spiegel, aber da ist nichts, keine
roten Flecken, keine Verletzungen. Ich bin bleich, und meine Haare sind schweißverklebt. Ich gehe zurück auf mein Zimmer und hole mir einen neuen Schlafanzug heraus. Den anderen hänge ich zum Trocknen über den Heizkörper. Ich kann ihn kaum anziehen, so weh tut mir alles. Ich lasse mich aufs Bett fallen und starre an die Decke. Ich weiß nicht, ob ich wieder einschlafen soll. Ich bin müde, aber ich habe Angst vor dem Traum. Ist es mir noch möglich, zu schlafen ohne zu träumen? Was wird passieren, wenn ich wieder träume? Ich zwinge meine Gedanken, sich mit dem Traum zu beschäftigen; vielleicht kann ich ihn so steuern, daß er ein gutes Ende nimmt. Der Kater hat aufgeheult. Warum? War es nur der Schrei, mit dem er sich auf mich stürzte und anfing, mich zu zerfetzen? Wenn ich in den Traum zurückkehre, werde ich dann tot sein? Wenn ich im Traum tot bin, ist dann der Traum aus? Wenn ich im Traum tot bin, werde ich dann auch als Junge sterben? Ich habe das Gefühl, fast tot im Bett zu liegen. Ich weiß, ich könnte sehr leicht sterben. Ich muß nur aufhören, mir Mühe zu geben. Ich kann mich nicht mehr dagegen wehren und schlafe wieder ein. Ich komme mit geschlossenen Augen in den Traum. Ich bin noch da, bin noch am Leben. Ich schlage die Augen auf, und der Kater springt und rast im Kreis herum. Er heult, und da ist Blut. Ein Auge ist verschlossen, und eine Flüssigkeit läuft raus. Mit einem letzten Aufheulen rennt der Kater davon. Ich blicke mich um, und neben mir auf dem Boden ist Perta!
– Großer Gott! Jetzt fängt Birdy an zu heulen. Was zum Teufel kann da bloß los sein? Warum heult er? Vielleicht über alles. Wenn er das kann, dann soll er ruhig heulen. Das geht gar nicht so leicht, selbst wenn du willst.
Ich mache wieder die Augen zu. Ich möchte den Traum aufhören lassen. Er muß aufhören. Die Kleinen sind allein; Perta ist tot. Ich weiß, daß sie tot ist, nicht nur weil sie so daliegt, sondern weil es immer noch mein Traum ist. Ich schließe die Augen und konzentriere mich darauf, den Traum abzubrechen. Endlich entgleitet mir alles, der Traum hört auf, und ich schlafe weiter. Ich weiß: wenn man schläft, ohne zu träumen, ist man tot. Als ich am Morgen aufwache, kann ich mich nicht bewegen. Ich bin überrascht, daß ich am Leben bin. Ich will nicht losheulen, ich will mich nicht bewegen. Der Geist hat die Kontrolle über den Körper verloren. Ich fühle mich völlig losgelöst. Ich sehe zu, wie meine Mutter hereinkommt, auf mich einredet, wütend wird, mich genau ansieht, mich anschreit und aus dem Zimmer rennt. Ich fühle mich weit weg. Ich beobachte alles um mich her so, wie ich die Vögel durch das Fernglas beobachte. Ich beobachte den Arzt. Ich beobachte sie, wie sie mich ins Krankenhaus bringen. Ich öffne oder schließe die Augen, je nachdem, wieviel ich sehen will. Ich habe das Gefühl, ich werde nie wieder schlafen, nie wieder träumen, mich nie wieder bewegen. Es macht mir nicht viel aus. Alles was mir bleibt, ist das Beobachten; und ich beobachte gern. Sie heben meine Beine hoch. Sie heben meine Arme hoch. Sie stellen mir Fragen. Ich gebe keine Antwort. Ich bin nicht sicher, daß ich antworten kann. Selbst meine Stimme gehört nicht mehr mir. Ich bin irgendwo zwischen mir und etwas anderem. Dann schlafe ich doch ein. Es ist wieder die gleiche Art eines toten Schlafes.
Es ist, als gäbe es keine Verbindung zwischen dem, was vorher war, bevor ich in diesen Schlaf verfiel, und dem, was nachher ist, als ich wieder aufwache. Ich wache im Krankenhaus auf. Ich habe Hunger. Ich esse und kann mich bewegen. Ich bin zurück bei den Menschen. Vielleicht ist der Traum für immer verschwunden. Ich weiß nicht, wie ich darüber empfinde. Ich bin wie ein kleines Kind. Es gibt nur mich, mein Interesse daran, gefüttert zu werden, die Dinge um mich herum anzusehen, Dinge zu riechen, Dinge zu schmecken, Dinge zu hören. Ich bewege meine Hand und beobachte sie. Es ist alles neu. Drei Tage später lassen sie mich aus dem Krankenhaus, und ich gehe nach Hause. Ich bleibe noch eine Woche im Bett und genieße es einfach, ich selbst zu sein. Mein Vater sagt, er kümmert sich um die Vögel. Er erzählt mir, wie viele neue Vögel er in die Zuchtkäfige umquartiert hat und in welchen Nestern wie viele Eier sind. Es interessiert mich nicht. Das alles ist vorbei. Ich habe Angst; ich will nicht zurück. Er fragt mich, was ich wegen der frei fliegenden Vögel tun will. Er möchte sie in den Käfig sperren. Er sagt, er hat mindestens fünfzehn junge Männchen gezählt, die auf den Bäumen singen, und er schätzt, daß es doppelt so viele sind. Das sind also über dreihundert Dollar, die da in den Bäumen herumfliegen. Ich will nicht darüber reden. Seit drei Tagen gehe ich nun wieder zur Schule, und auf einmal fängt alles wieder an. Ich habe alle möglichen Abschlußprüfungen vor mir, und ich schaffe es nicht, mich darauf vorzubereiten. Es macht mir Spaß, mit dem Fahrrad herumzufahren und Leute zu beobachten. Ich habe früher die Leute kaum beachtet. Sie sind so interessant wie Vögel, wenn man richtig hinschaut. Ich gehe zu einer Leichtathletikveranstaltung, und es fasziniert mich, zu beobachten, wie die Leute laufen und springen und verschiedene Dinge durch die Luft schleudern. Al gewinnt das Diskuswerfen mit einer Weite von
über zweiundfünfzig Metern. Ich habe mein Fernglas, dabei, und ich kann alles richtig aus der Nähe beobachten.
Vielleicht ist es der ständige Blick durchs Fernglas, der alles zurückbringt. Im Schlaf in dieser Nacht wache ich in meinem alten Traum auf. Ich liege immer noch am Boden unter dem Baum. Ich rapple mich auf und stehe wieder auf den Beinen. Ich strecke die Flügel. Ich hüpfe zu Perta hinüber. Sie ist tot. Ihr Genick ist gebrochen, so wie ich das bei Birdie befürchtet hatte, als sie gegen das Fenster flog, und so wie es bei dem kleinen gelben Weibchen gebrochen war; ich kann nichts tun. Ich weiß nicht, daß ich im Traum bin. Ich bin ganz und gar Vogel. Ich habe keine Arme, mit denen ich sie vom Boden aufheben könnte. Ich bin allerdings noch nicht Vogel genug, um einfach Echen zu akzeptieren und sie liegenzulassen. Ich will sie wegbringen, irgendwohin, wo die Katze sie nicht fressen kann. Ich blicke mich um; die Katze ist nicht in der Nähe. Ich kann Perta nicht so am Boden liegenlassen. Ich fliege nach oben in den Baum, um nach unseren Jungen zu sehen. Sie drücken sich an den Nestboden, sind verängstigt. Ich füttere sie und sage ihnen, daß ich wiederkommen werde. Ich fühle mich überanstrengt. Die Zeit verwirrt mich. Ich fliege zurück zu Perta. Dann sehe ich mich, wie ich gerade aus dem Vogelhaus komme. Ich gehe über den Hof auf mich zu. Ich stehe da als Vogel am Boden und warte. Ich weiß, da ist ein neues Loch in dem Traum. Ich spüre, wie sich die von zwei Orten ausgehenden Wellen vermischen, wie ein Sog am Meeresufer. Zwei Orte ziehen mich gleichzeitig an. Ich sehe mich nicht. Das war bisher auch so. Dann beuge ich mich hinunter und hebe Perta auf. In meinem Gesicht spiegelt sich großer Kummer. Es ist der Kummer eines Jungen; Vogel-
gesichter zeigen nichts. Ich nehme Perta und gehe zurück zum Vogelhaus. Ich fliege mühsam hinter mir her und lande auf dem Rand des Vogelhausdaches. Ich sehe mich mit einem kleinen Löffel und einer Streichholzschachtel wieder herauskommen. Es ist eine der Schachteln für Großstreichhölzer, in denen ich die Eier immer aufbewahre. Ich lege Perta behutsam in die Schachtel und mache sie wieder zu. Ich grabe neben der Mauer hinter dem Vogelhaus ein Loch und begrabe die Schachtel. Ich gehe zurück ins Vogelhaus. Ich hüpfe vom Vogelhaus herunter und stehe neben Pertas Grab. Ich bin froh, daß sie jetzt vor der Katze in Sicherheit ist. Ich weiß, ich muß zu meinen Jungen, aber ich will Perta nicht verlassen. Dann sehe ich mich wieder aus dem Vogelhaus kommen. Ich habe das Holzstäbchen von einem Lutscher dabei. Ich stecke das Stäbchen genau an der Stelle in den Boden, wo die Streichholzschachtel begraben ist. Ich hüpfe hin und lese die Aufschrift: PERTA, MEINE FRAU. Ich wache auf.
Am darauffolgenden Tag in der Schule weiß ich genau, was geschehen muß. Es beunruhigt mich nicht sonderlich, daß die wirkliche Welt dem Traum auf so seltsame Art folgen muß. Es tut mir leid um Perta, und ich überlege mir, ob ich sie nicht in die Voliere sperren soll, aber dann würden ihre Jungen verhungern. Ich könnte diese Jungen anderen Vögeln unterschieben, aber diese ganze Geschichte ist einfach etwas, das geschehen muß. Wenn es nicht so geschieht, wie es geschehen
muß, dann wird meine Perta nie wirklich tot sein, und ich kann nie wieder als Junge frei sein. Nach der Schule arbeite ich im Vogelhaus, und da höre ich den Kater aufheulen. Ich gehe über den Hof und hinüber unter den Baum. Sie liegt genau an der Stelle, wo ich nach ihr suche. Ich sehe mich um, aber ich weiß, daß ich mich nicht sehen kann. Ich hebe Perta auf, ihr Genick ist gebrochen. Sonst ist nichts an ihr zu sehen. Ich trage sie über den Hof zum Vogelhaus und tu die Dinge, die ich zu tun habe. Ich bin innerlich ganz ruhig. Mehr als je habe ich das Gefühl, ein einheitliches Ganzes zu sein. Als Junge tu ich genau, was sein muß. Ich kann fast spüren, wie ich den Raum ausfülle, den ich im Traum eingenommen habe. Ich lege Perta in die Schachtel und gehe hinaus zu der Stelle neben der Mauer. Im Boden ist eine leichte Vertiefung. Ich grabe das Loch und rechne halb damit, auf eine Streichholzschachtel zu stoßen. Al wird nie verstehen, wie das damals mit dem Schatz an der Scheune war, den wir nicht gefunden haben. Der existierte nämlich doch, irgendwie, in der Gewalt unseres Traumes. Da ist keine Streichholzschachtel, und ich lege die Schachtel mit Perta in das Loch. Ich mache es wieder zu und suche auf dem Dach des Vogelhauses nach mir. Ich bin nicht da. Ich gehe zurück ins Vogelhaus und nehme das von einem Lutscher stammende Stäbchen, mit dem ich immer die Ecken der Käfige auskratze. Ich mache es sauber und schreibe mit einem dunklen Bleistift in Blockschrift die drei Worte drauf. Ich gehe hinaus und stecke das Stäbchen über dem Grab in den Boden. Nirgends in der Erde sind Vogelspuren zu sehen. Ich wache auf.
Während des Tages muß ich dauernd an den Traum denken. Mir tut der Hals weh, weil ich nicht weine, wenn ich es sollte. Wir stehen in den Abschlußprüfungen, da falle ich nicht weiter auf. In der folgenden Nacht stehe ich immer noch an Pertas Grab. Der Traum ist jetzt mehr zu einem Traum geworden. Es läuft alles anders als vorher. Ich sehe keinen von den anderen Vögeln. Wenn ich fliege, dann geschieht das in Zeitlupe. Es ist wie ein Traum. Ich fliege zu den Jungen hinauf und füttere sie. Ich erzähle ihnen, daß ihre Mutter nicht wiederkommt und daß ich mich um sie kümmern werde. Ich verbringe den ganzen Tag und die Nacht damit, auf dem Nestrand zu hocken, sie zu füttern, wenn sie Hunger haben, und an Perta zu denken. Ich weiß, die Jungen erinnern sich nicht an sie. Für sie ist Perta in Echen, und damit hat sich’s. Es lohnt sich nicht, darüber nachzudenken; es spielt keine Rolle. In meinem Traum ziehe ich in den nächsten Wochen die jungen Vögel auf, bis sie das Nest verlassen und mit den anderen fliegen können. Sie sind frei; sie können fliegen, wohin sie wollen. Meine Kinder sind durch und durch Vogel. Ich zeige ihnen nicht, wo Perta liegt. Es hätte für sie keine Bedeutung. Ich werde in meinem Traum immer mehr zum Jungen, der Vogel in mir schwindet. Der Traum wird immer weniger wirklich. Als Junge bin ich auch nicht mehr so stark am Züchten von Vögeln interessiert. Ich sehe sie als das, was sie sind: Kanarienvögel. Alles, was sich im Vogelhaus abspielt, kommt mir so automatisch vor. Die jungen Vögel sehen alle gleich aus. Ich kann sie nicht mehr von den Jungvögeln aus dem letzten Jahr unterscheiden. Ich spüre, daß das alles seinem Ende entgegengeht. Irgend etwas ist abgeschlossen.
Ich baue oben auf das Vogelhaus eine Futterplattform mit einem schützenden Regendach. Ich bringe auch einige Stangen an, so daß die frei fliegenden Vögel beim Fressen da oben vor den Katzen sicher sind. Als alles fertig ist, lasse ich sämtliche Vögel aus dem neuen Flugkäfig. Ein paar Weibchen sitzen noch auf Nestern; die lasse ich vorläufig in dem Käfig. Sobald das letzte Nest leer ist, baue ich wieder den Zwischenboden in den Käfig. Ich hole nach und nach die singenden Männchen aus dem Flugkäfig der Weibchen und bringe sie in den unteren Teilkäfig. Auch die Brüterinnen, die mit ihren drei Nestern in diesem Jahr fertig sind, quartiere ich in die Flugkäfige um. Birdie ist erschöpft, aber so zutraulich wie eh und je, und ich lasse sie heraus, damit sie einmal frei fliegen kann. Ich lasse auch Alfonso raus, und es ist das erste Mal, daß er frei fliegt. Nach der langen Zeit in einem kleinen Käfig tut er sich zuerst schwer, aber er findet rasch seine Flügel und macht lange Flüge hinauf auf den Baum und aufs Hausdach. Ich bin mir nicht sicher, ob er zum Käfig zurückkommen wird, aber er kommt. Ich fasse den Entschluß, Alfonso und Birdie bei den freien Fliegern draußen zu lassen. Sie haben es verdient. Die freien Flieger leben nun völlig außerhalb der Käfige. Sie schlafen im Baum oder auf dem Haus. Ich lasse die Käfigtür offen, aber sie kommen nicht mehr. Es sind inzwischen etwa sechzig Vögel, die frei fliegen. Es macht mich stolz, sie zu sehen. Ich habe das Gefühl, sie sind mit meiner Hilfe dorthin zurückgekehrt, wo sie hingehören. Ich frage mich, ob sie jetzt, da sie nicht mehr in den Käfigen schlafen, in der Nähe des Hauses bleiben werden. Wenn der Sommer zu Ende geht, kommt für die auf der nördlichen Halbkugel lebenden Finken die Zeit des Aufbruchs in den Süden. Was werden diese Vögel wohl tun? Wird ihr Instinkt sie fortziehen lassen bevor der Winter naht, und in welche Richtung? Werden Birdie und Alfonso mit ihnen ziehen? Wie weit kann ein Fink fliegen, ohne
etwas zu fressen? Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie irgendeine Chance haben, nach Afrika zu kommen, wo ihre eigentliche Heimat ist. Werden sie lernen, von den gleichen Körnern und Früchten zu leben wie unsere Finken hier? Werden sie sich mit anderen Finken kreuzen oder für sich bleiben? Es spielt keine Rolle. Es ist einfach herrlich, sie so frei fliegen zu sehen. Ich habe jetzt gut zweihundert Vögel in den Volieren. Über die Hälfte davon sind Männchen. Für Vögel werden astronomisch hohe Preise bezahlt. Ich werde froh sein, wenn die Vögel alt genug sind, daß ich sie verkaufen kann. Ich will keine Vögel mehr in Käfigen halten. Am liebsten würde ich sie alle freilassen, aber die jungen Vögel, die noch keine Erfahrung im freien Fliegen haben, würden nie durchkommen. Außerdem ist mein Vater sehr glücklich, wenn er an das Geld denkt, das sie uns einbringen werden. Er hat mir meine Mutter vom Hals gehalten, da kann ich ihn jetzt nicht im Stich lassen. Er möchte die ganzen freien Flieger in den Käfig zurückholen und auch sie verkaufen. Er hört ihnen immer zu und kann inzwischen jedes Männchen an seinem Gesang erkennen. Fünfunddreißig hat er schon identifiziert. Ich habe wieder angefangen zu träumen, aber in meinen Träumen bin ich immer allein. Ich sehe die anderen Vögel fliegen, aber ich bleibe für mich. Die ganze Nacht fliege ich allein. Ich fliege überallhin, wo ich je gewesen bin. Ich fliege dicht über den Dächern und Bäumen und manchmal hoch oben im Himmel. Es scheint so leicht, und ich bin mehr ich selbst, nicht so sehr ein Vogel. Ich bin es, der da fliegt, ein Junge. Ich bewege meine Arme wie Flügel, und es geht ganz leicht. Was mich fliegen läßt, ist einfach das Wissen, daß ich es kann. In meinen Träumen fehlt mir immer jemand, dem ich zeigen könnte, wie man’s macht. Es würde so viel Spaß machen, Al
oder meinem Vater beizubringen, wie man fliegt. Wenn du’s kannst, scheint es so unglaublich leicht. Der Mann von der Großhandlung kommt und kauft alle Vögel. Wir bekommen neun Dollar für die Männchen und drei Dollar für die Weibchen. Insgesamt sind es über fünfzehnhundert Dollar. Mein Vater versteht nicht, warum ich auch die Zuchtpärchen verkaufe. Er will immer noch die freien Flieger ein fangen und verkaufen, aber ich kann ihn davon abbringen. Es sind meine Vögel. Ich lasse ihn glauben, ich werde sie im nächsten Jahr in der Zucht einsetzen. Es ist jetzt ruhig im Vogelhaus. Ich mache alles sauber und decke die Zuchtkäfige mit Zeitungen ab. Bei Nacht im Traum fange ich an, eine seltsame Unruhe in mir zu spüren. Selbst beim Fliegen denke ich an etwas anderes, und ich weiß nicht, was es ist. Doch dann weiß ich es. Ich spüre den Drang, mich mit den anderen Vögeln zusammenzutun und in den Süden zu fliegen. Spüren es die anderen Vögel auch, oder bin ich damit allein? Spüren es auch die Vögel im Traum? Tagsüber beobachte ich die Vögel, und ich bin sicher, sie rüsten zum Abflug. Wie zur Probe fliegen sie immer häufiger im Schwarm. Sie fressen jetzt mehr und fliegen größere Entfernungen. Es kommt manchmal vor, daß zwei, drei Stunden lang überhaupt keine Vögel im Hof sind. Meine Mutter fängt an, über den überall zu findenden Vogeldreck und über den Lärm zu schimpfen. Was sie als Lärm bezeichnet, ist das Singen der Vögel. Mein Vater sagt, sie werden im kalten Winter alle erfrieren. Er sagt, es wäre grausam, sie draußen zu lassen, und wir müßten sie alle in die Volieren zurückholen. Die meisten von ihnen haben nie in einem Käfig gelebt. Er macht die Tür im Käfiggitter auf und stellt die Futternäpfe hinein. Bald kommen sie zum Fressen in den Käfig und dann auch nachts zum Schlafen. Ein paar von ihnen, wie Alfonso,
schlafen auch weiterhin in dem Baum, aber meistens kommen sie alle in den Käfig. Ich weiß, es dauert nicht mehr lange, bis mein Vater die Tür zumachen und sie einsperren wird. In meinem Traum gehe ich zu den Vögeln. Ich sage ihnen, daß es Zeit ist, fortzufliegen. Ich sage ihnen, wenn sie weiterhin zum Schlafen in den Käfig gehen, werden sie eingeschlossen und dann in noch kleinere Käfige gesperrt werden. Am Anfang verstehen sie mich nicht, und nachher glauben sie mir nicht. Alfonso spricht; er erklärt, was ich sage sei wahr; das wisse er, denn ich hätte Vögel noch nie angelogen. Es sei Zeit, fortzufliegen. Er sagt, er wisse, wohin sie zu gehen hätten; es sei ein langer Flug, und einige würden sterben, aber er gehe auf jeden Fall und Birdie ebenso; am frühen Morgen würden sie aufbrechen. Ich höre es und bin traurig. Die Vögel sind aufgeregt. Bei Tagesanbruch sind sie alle bereit. Mit einer einzigen Bewegung steigen wir auf. Alfonso führt den Flug an. Wir fliegen geradewegs nach Süden, über den Gaskessel weg, über Lansdowne und weiter über ehester, und ich bin dabei. Ich frage mich, was wohl aus meinem Leben wird. Werde ich je wieder in meinem eigenen Bett aufwachen? Und dann bin ich irgendwie nicht mehr unter ihnen. Ich bin am Himmel, fliege, schaue ihnen nach. Ich kann nicht mithalten, sie lassen mich zurück. Ich sehe mich als Vogel, der mit ihnen fliegt, gleich hinter Alfonso und Birdie. Ich weiß, ich werde bei ihnen sein, ganz gleich, wohin sie gehen. Ich beobachte von meinem Platz hoch oben in der Luft, wie sie, wie wir zu kleinen Punkten werden, immer kleiner, bis schließlich nur noch Himmel zu sehen ist. Ich merke, wie ich schwerer werde, falle, zur Erde hinunter gleite, nur wenig langsamer als damals bei meinem Sturz vom Gaskessel. Ich bewege im Fallen die Arme auf und ab, und ich finde gerade noch zurück in meinen Schlaf unter dem leeren Himmel.
Am Morgen sind keine Vögel mehr da. Mein Vater ist wütend. Ich fühle mich sehr einsam. Wir warten den ganzen Tag darauf, daß die Vögel zurückkommen. Es ist Samstag, und ich schaue den ganzen Tag in den Himmel und versuche, ihn leer zu halten. Am nächsten Tag baue ich das Vogelhaus ab. Das Holz staple ich hinter der Garage. Ich mache möglichst wenig Lärm, damit niemand weiß, was ich treibe. Das Abbauen ist sehr viel leichter als das Aufbauen. Das Vogelhaus ist verschwunden, als ich ins Haus zurückgehe, um zu schlafen. In dieser Nacht träume ich nicht. Die Tage gehen nur langsam vorüber. Ich fühle mich schrecklich allein. Ich habe Angst davor, meinem Vater zu sagen, daß ich nicht aufs College gehen werde. Ich habe auch Angst davor, zum Wehrdienst eingezogen zu werden. Das alles erledigt sich von selbst; die Entscheidungen werden mir abgenommen. Im September bekomme ich einen Brief von der Armee, in dem mir mitgeteilt wird, daß ich für ein Ingenieurstudium im Rahmen des ASTP, des »Army Specialized Training Program«, ausgewählt worden bin. Sie haben mich der Universität von Florida in Gainsville zugeteilt. Ich hatte die ASTP-Prüfung im Februar in der Schule gemacht und inzwischen völlig vergessen. Es scheint mir die perfekte Lösung. Ich kann von allem weg, und es ist etwas, mit dem ich leben kann. Sie erzählen uns, man bildet uns als Ingenieure aus, damit wir nach dem Krieg in Europa und Japan beim Wiederaufbau helfen können. Meine Eltern sind glücklich; sie denken, ich werde Offizier, und das beeindruckt sie. Am Ende des Monats schreibe ich mich ein. Als ich ein Semester in Florida hinter mir habe, lösen sie das ASTP auf. Sie
schicken mich zur Grundausbildung nach Fort Benning, danach in den Südpazifik, als Ersatzmann für die Infanterie. Ich denke oft an die Vögel, an Perta und meine Kinder. Aber ich träume nicht von ihnen.
Als ich am nächsten Tag wieder zu Birdy gehe, da grinst er mich doch tatsächlich an! Ich stelle den Stuhl zwischen die Türen und warte, bis Renaldi weg ist. »Tag, Birdy, dein alter Kumpel ist hier, Al. Wie sieht’s aus, bist du soweit, daß du mir ein bißchen was erzählen kannst? Kennst du mich noch?« Er kauert am Boden und beobachtet mich. Er hat die Arme über den Knien verschränkt, und das Kinn ruht auf den Armen. Seine Augen sind auf mich gerichtet, aber es ist keine Antwort in ihnen. Er beobachtet mich so, wie er immer Vögel beobachtete. Sein Blick wandert mal hierhin, mal dorthin, bleibt aber irgendwie immer auf mich konzentriert. Es ist ein gruseliges Gefühl, aber ich bin mir ganz sicher, daß er da ist. Ich fange noch einmal an, von den alten Zeiten zu reden, aber ich langweil mich selber dabei. Birdy und ich waren immer viel zusammen, ob wir nun über die Neunundsechzigste Straße bummelten oder am Freitagabend zur Städtischen Bücherei gingen, um uns was zum Lesen zu holen, aber es lohnt sich nicht, darüber zu reden. Dann fang ich vom alten Schulhaus an und von dem schäbigen kleinen Spind, in dem wir all unser Zeug aufbewahren mußten, aber damit komm ich auch nicht weiter. Ich hab immer mehr das Gefühl, er kennt das alles und will nichts mehr davon wissen. Ich weiß, er will etwas über mich erfahren, kann mich aber nicht fragen. Ich bin bereit, auszupacken, ihm alles zu erzählen. Ich wußte gar nicht, wie sehr ich das Bedürfnis hatte, irgendwem davon zu erzählen. Und wem sonst, wenn nicht Birdy? Nach der Grundausbildung schicken sie mich nach Europa, als Ersatzmann für die Siebenundachtzigste Division. Ich erzähle Birdy erst mal von den guten Seiten, von Dingen, die Spaß gemacht haben, von Schönwetterfahrten im offenen Lastwagen hinter Panzern her. Dann von all den französischen
Mädchen und danach vom Schlamm im Saargebiet. Ich erzähle ihm, wie das in Metz war, als die Achtundzwanzigste diesen blöden Hügel in Fort Jeanne d’Arc stürmte und wie es Joe Higgins dabei erwischte. Higg spielte in der Schulmannschaft mit mir in der Verteidigung. Es fällt mir verdammt schwer, endlich zu dem Teil zu kommen, der wirklich zählt. Als wir schließlich nach Deutschland kommen und am Westwall stehen, haben sie mich doch tatsächlich zum Sergeant gemacht. Nicht weil ich ein besonders strammer Soldat bin, sondern weil kaum ein anderer mehr da ist. Ich hatte gar nie gewußt, was für ein Glückspilz ich bin. Und das ist nicht das einzige, was ich von Al Columbato nicht wußte. Ich lerne rasch, daß ich vor Dingen, die ich nicht ändern kann, mehr Angst habe als die meisten; Dinge wie die feindliche Artillerie zum Beispiel. Kleine Rotznasen, Typen, die sich nicht mal trauen, einem in die Augen zu sehen, Typen, die ich mit links fertigmachen könnte, die können unter Beschuß in einem Loch sitzen und Schokolade fressen und Witze machen, während um sie herum die Wände einstürzen. Sie haben Angst, aber sie können damit leben. Ich weiß nicht, wie man seine Würde auch nur einigermaßen bewahren kann, wenn man Angst hat. Ich habe eine wahnsinnige Angst davor, verstümmelt zu werden. Auf tausenderlei Weise seh ich Blut fließen, mein Blut. Was mich fertigmacht ist, daß ich so sehr an meinem verdammten Körper hänge. Das geht so weit, daß ich sogar vor dem Angsthaben Angst habe. Ich habe manchmal Angst, ich könnte einfach aufstehen und davonlaufen, und ich muß mich dann mit aller Macht zwingen, dazubleiben, auch wenn überhaupt nichts los ist. Nach und nach kennen mich alle als den kraftstrotzenden Itaker ohne Mumm in den Knochen. Zu unserer Truppe gehört auch ein kleiner Jude, noch ein richtiger Junge, im Ringen war der nicht mal Bantamgewicht, und den machen sie zum Anführer unseres Trupps. Er hat es
verdient. Er weiß immer, ob es besser ist, weiterzuziehen oder zu bleiben; er denkt die ganze Zeit, wie es sich für einen richtigen Soldaten gehört. Der große Al ist immer nur bemüht, nicht in die Hosen zu machen, und das ist nicht bildlich gemeint: ich atme tief durch und konzentriere mich ganz darauf, den Arsch zuzukneifen und nicht pausenlos zum Latrinenwagen zu rennen. Und jedesmal wenn ich genug Mut zusammenhabe, um meinen psychischen Knacks selbst anzuzeigen und damit dem Militär zu entkommen, werden wir von der Front abgezogen, und ich versuche von neuem, mich in den Griff zu bekommen. Ich schlafe nur wenig; ich habe dauernd Dünnpfiff. Meine Hände zittern so sehr, daß ich kaum die Patronen in den Gurt bekomme. Und das ist die ganze Zeit so, nicht nur wenn wir unter Druck stehen. Es ist, als ob mein Körper sein eigenes verrücktes Leben führt. Mein Verstand, mein Gehirn, hat damit überhaupt nichts zu tun. Lewis und Brenner – Brenner ist der kleine Jude – erwischt es hinter der Hauptkampflinie in Ohmsdorf. Von der alten Gruppe ist keiner mehr übrig, und so machen sie mich zu Richards’ Stellvertreter. Richards kam als Ersatzmann im Saargebiet dazu. Ich nähe die Streifen an den Ärmel, als unser Bataillon gerade in rückwärtiger Stellung auf den nächsten Einsatz wartet. Ich nähe sie mit großen, losen Stichen an. Ich werde sie sowieso nicht lange haben; die werden bald rauskriegen, was mit mir los ist. Ich teile die Falle mit Harrington. Harrington kommt ursprünglich vom ASTP und hat sich in den Ardennen im Schnee Schützengrabenfüße geholt. Er ist erst vor zwei Wochen zurückgekommen. Er ist clever und sieht gleich, daß ich am Umkippen bin. Kurz bevor sie uns von der Front abzogen, hat er eine von Morgans idiotischen Patrouillen für mich übernommen. Es ist das größte Geschenk, was man einem Kumpel
machen kann, wenn man ihm die Patrouille abnimmt. Harrington ist Kalifornier. Ich kenne keinen, der mehr Mumm hätte als er. Er würde mit Sicherheit unseren Trupp kommandieren, wenn er sich nicht Schützengrabenfüße geholt hätte. Ich vergehe vor Angst, während wir täglich auf unseren nächsten Einsatz warten, und ich danke Gott für jeden neuen Tag. Dann bekommen wir die Anweisung, in dem weiter nördlich liegenden Städtchen Neuendorf das erste Bataillon abzulösen. Dort sind wir unmittelbar am Westwall. Bei Nacht, etwa zwei Stunden vor dem Morgengrauen, rücken wir in dem hügeligen Gelände im feindlichen Sperrfeuer vor. Das erste Bataillon kommt uns entgegen. Sie haben allerlei aufmunternde Sprüche auf Lager, wie: »Viel Glück, ihr Ärsche, ihr werdet es brauchen«, oder: »Viel Spaß mit den Achtundachtzigern.« Das gibt einem so richtig Auftrieb; ich spüre, wie sich mir der Magen umdreht. Drei oder vier Achtundachtziger und Granaten schlagen ganz in der Nähe ein. Sie sind so nahe, daß wir uns hinwerfen müssen. Granatsplitter fliegen uns um die Ohren. Selbst im Dunkeln können wir die Stellen sehen, wo sie einschlagen. Sie reißen ganze Erdklumpen heraus und schleudern sie wie Kuhfladen durch die Gegend. Wir kommen in die Stadt, und nirgendsmehr steht ein Haus. Das müssen Bomben gewesen sein; mit Kanonen allein läßt sich eine Stadt nicht so einebnen. Wir werden in den Keller unter einer Ruine gepfercht. Sie steht neben der Kirche. Die Kirche hat eine fast unversehrte Fassade, der Rest sind Trümmer. Lieutenant Wall, der Verbindungsoffizier vom ersten Bataillon, ist noch da. Richards und ich gehen zu ihm hin, um mit ihm zu reden. Er erzählt uns, auf der anderen Seite des Tales liegt eine Stadt namens Reuth. Es wird langsam hell, und er zeigt auf ein paar weiße Punkte nicht weit vom Horizont, etwa
in zweieinhalb Kilometer Entfernung. Reuth ist die mutmaßliche Fernmeldezentrale für diesen Frontabschnitt. Die Krautfresser verteidigen diesen Ort wie die Verrückten. Mindestens zehn »Tiger«-Panzer sind gesehen worden. Ständig sind irgendwelche Spähtrupps unterwegs. Er sagt, seine Einheit hat in den zehn Tagen in Neuendorf siebenundzwanzig Mann verloren. Er zeigt uns die vorgeschobenen Posten für unseren Zug. Er sagt, wir werden Reuth wahrscheinlich angreifen müssen; die ganze Division wird hier aufgehalten. Als ich in den Keller zurückkomme, spielen meine Eingeweide verrückt. Sobald ich Angst bekomme, habe ich im Nu die Scheißerei, und mein Kopf fühlt sich völlig leer. Innerlich zittere ich jetzt schon vor Angst. Herr Gott, ich werd ja einen beschissenen stellvertretenden Gruppenführer abgeben. Rauskommen kann ich da wohl nur, wenn ich einen Treffer einfange. Der Keller ist voller Rauch und Gestank, aber warm. Die Männer liegen in ihren Schlafsäcken an der hinteren Wand und schlafen. Die Feuerstelle haben sie in einer gewölbten Nische neben der Tür eingerichtet. Vielleicht wurden da früher Kartoffeln gelagert. Weil es keinen Kamin gibt, steigt der Rauch zur Kellerdecke auf, treibt zur Tür und zieht schließlich über die Kellertreppe ab. Der Rauch hängt tief herunter, bis etwa einen Meter über dem Boden, und wenn man atmen oder etwas sehen will, muß man sich bücken. Über dem Eingang hängt eine Decke, so daß das einzige Licht vom Feuer kommt. Es riecht nach Rauch, Fürzen und Füßen. Ich geh wieder raus, um die Latrine zu suchen. Sie lehnt an den Resten der Mauer, die einmal die Rückwand der Kirche gebildet hat. Ein kleiner ausgetretener Weg führt durch den Schutt. Die Morgensonne gewinnt allmählich an Kraft und nimmt der Kälte etwas von ihrer Schärfe. Kohler und Schneider stehen auf Posten; ich sehe sie draußen auf einer kleinen
Kuppe in ihrem Loch stehen. Herrgott, hoffentlich gibt’s keine Patrouillen. Es wird sie aber geben müssen, wenn ein Angriff vorbereitet werden soll. Ich hocke mich hin und laß alles laufen. Ich werde wahrscheinlich nie wieder einen ordentlichen Kaktus setzen. Seit drei Monaten hat nichts Festes mehr mein Arschloch passiert. Das Klopapier hängt am Griff eines Spatens. Ich wische vielleicht fünfmal, um alles wegzubekommen, stehe auf, mache meine Knöpfe zu und decke dann die Bescherung mit ein paar Schaufeln Erde zu. Die Latrine ist immer noch tief; müßte eigentlich bis zum Angriff reichen. Die nächsten anderthalb Wochen sind einigermaßen erträglich. Wir haben keine der Patrouillen zu übernehmen, und wir müssen nur diesen einen Außenposten besetzt halten. Ich bekomme genügend Schlaf. Ich verstecke mich in meinem Furzsack im Keller. Passieren kann mir nur etwas bei einem direkten Treffer, und der ist bei zweieinhalb Kilometer Entfernung nicht wahrscheinlich. Ich fühle mich sicher, fürchte mich aber schon jetzt vor dem Angriff. Als es dann losgeht, rücken wir um vier Uhr morgens aus. Wir gehen in einem großen Bogen nach links und in einen Wald hinein. Es ist ein Kiefernwald, und ein schmaler, sich verengender Streifen läuft über einen Hügel und auf der anderen Seite noch ein Stück hinunter, in Richtung Reuth. Er bietet uns die einzige Möglichkeit, nahe heranzukommen, ohne durch das offene Gelände zu marschieren. Wir legen schleichend die ganze Strecke bis zum vorderen Rand des Waldes zurück, ohne daß ein Schuß fällt. Richards sagt, wir sollen uns eingraben. Es ist etwa fünf Uhr, der Angriff beginnt um sieben. Das Sperrfeuer unserer Artillerie soll um halb sieben beginnen. Es ist also wieder mal soweit, die ganze Scheiße fängt von vorne an. Die ersten paarmal willst du gar nicht recht glauben, daß es wirklich passiert. Und dann,
wenn es tatsächlich passiert, ist es so real, daß du dir nicht vorstellen kannst, daß es je wieder aufhört. Diesmal weiß ich, daß es passiert; die nackte Angst zieht mir den Sack zusammen. Richards und ich sind unten am Ende des Waldes. Im ersten Tageslicht sehen wir die Häuser von Reuth. Sie können nicht weiter als drei-, vierhundert Meter entfernt sein. Harrington sagt, vielleicht haben sie sich zurückgezogen. Wie zum Teufel können sie sich aus einem solchen Stützpunkt zurückziehen, wenn sie nicht vorhaben, diesen ganzen Frontabschnitt aufzugeben? Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Krautfresser so was tun. Vielleicht ist nur der tapfer, der nicht zuviel denkt oder der zumindest fähig ist, sich selbst was vorzumachen. Es ist kalt, und keiner darf rauchen. Richards schickt mich durch die Reihen; ich soll nachprüfen, ob alle ihre Waffen bereithalten, Patronengurte, Granaten und all das Zeug. Ich glaube, keiner hat soviel Angst wie ich, nicht mal die zwei neuen Ersatzleute. Woher sollen sie auch wissen, was läuft? Ich bin froh, als ich wieder bei unserem Loch bin, reinspringen und mich tief reindrücken kann. Die feste Erde in meinem Rücken fühlt sich gut an. Wenn du Angst hast, gibt es praktisch nichts, was so tröstlich riecht und sich anfühlt wie die Erde in einem Loch. Kein Wunder, lebten die Menschen doch früher in Höhlen. Während des Sperrfeuers bleiben wir in unseren Löchern. Die schweren Brummer rattern über unsere Köpfe weg wie Güterzüge. Ich mache mich noch kleiner. Ich hab einen Mordsbammel vor Kurzschüssen. Ich kann mir nicht helfen, ich muß dauernd an all die blöden Zivilisten denken, die diese Geschosse herstellen, und dann die Schwachköpfe da hinten, die sie abschießen. Um sieben verlassen wir unsere Löcher. Es ist wieder mal das Übliche: wir sind der vorderste Trupp des vordersten Zuges
der vordersten Kompanie; wahrscheinlich das vorderste Bataillon des vordersten Regiments der vordersten Division der ganzen angetretenen amerikanischen Armee. Harrington geht als Späher voraus, und Richards ist bei ihm. Ich bilde die Nachhut. Da gehöre ich hin. Es ist zufällig auch der Platz, an dem ich sein möchte. Nein, das stimmt nicht ganz. Fast überall war ich jetzt lieber als hier auf dieser abschüssigen Wiese. Wir gehen in geschlossener Ordnung wie beim Übungsmarsch den Abhang hinunter. Wir sehen aus wie verrückte Golfer, über unsere Schläger gekrümmt; es ist kein Laufen, nur ein schnelles Gehen, und alles ist gespannt, wartet darauf, daß es losgeht. Von unten her kommt ein Bodennebel, und auch von oben drücken Nebelschwaden herunter. Wir haben die Hälfte des Abhangs hinter uns, zur Umkehr ist es jetzt zu spät. Wenn sie uns sehen, dann müssen sie jetzt zuschlagen. Ich hoffe, Harrington hat recht, und ich schlucke pausenlos, um meinen Kaffee drunten zu behalten. Das Blut pocht mir in den Ohren. Ich spüre den kalten Schweiß zwischen den Schulterblättern. Ich habe vorne im Gewehrlauf eine Phosphorgranate, und die tränenförmige, dunkelgrüne, knollige Spitze starrt mir drohend ins Gesicht. In meiner Angst sehe ich die ganze Wiese und die Umrisse der Häuser in Regenbogenfarben getaucht. Dann geht’s los. Es sind Maschinenpistolen und irgendein großkalibriges Maschinengewehr, und danach Granatwerfer. Die Panzer sind offenbar noch nicht da. Wir fangen an zu laufen. Jemand stürzt. Es ist nicht Harrington, auch nicht Richards. Es ist Collins. Ich renne an ihm vorbei, und er hält sich mit der rechten Hand die linke Schulter. Da ist Blut. Ich renne weiter. Einer der Ersatzleute fällt. Er hält die Hände vors Gesicht, und er rollt den Hang hinunter. Dann sinken die Hände nach unten, und die Arme schwingen lose hin und her und machen dem Rollen ein Ende. Er steht nicht auf. Ich laufe an
Morris vorbei. Scheiße, das wird vielleicht ein Tag! Ich hole Richards und Harrington ein. Sie hocken geduckt in der tiefen Rinne zwischen den beiden Abhängen, dem einen, den wir eben heruntergekommen sind, und dem anderen, der nach Reuth hinaufführt. In der Rinne fließt Wasser. Der Morast und das Gras sind stellenweise mit Eis überzogen. Richards blickt den vor uns liegenden Berg hinauf, und Harrington dreht sich nach mir um. Ich deute nach hinten. »Collins und einen der Ersatzleute hat’s erwischt!« »Scheiße!« Richards guckt nicht zurück. »Der Scheißberg ist voller Scheißminen. Überall gottverdammte Stolperdrähte und bestimmt auch Tretminen. Diese Ficker!« Leuchtspurgeschosse fliegen über uns weg und summen wie wild gewordene Bienen. Auf jeden Brummer, den du sehen kannst, kommen fünf lautlose, die du nicht siehst. Der Rest des Trupps kauert jetzt in der Wasserrinne. Ich blicke zurück und sehe, wie der Zug über den Berg kommt. Das wird ein übles Massaker geben, ein zweites Ohmsdorf. Wir müssen etwas unternehmen; jeden Moment kann der Granatwerfer loslegen; die haben uns mit Sicherheit direkt im Visier, und wenn erst die Panzer anrollen, sind wir erledigt. Wir müssen raus hier, durch das Minenfeld auf den Berg rauf. MG-Nester ausradieren und rüber über den Berg, wie einst im Ersten Weltkrieg! Mir geht das alles durch den Kopf, aber ich kann mich nicht bewegen. Ich kann nicht reden. Ich hocke tief im Dreck; die kalte Nässe kühlt die wundgeriebenen Stellen zwischen meinen Beinen. Ich zittere am ganzen Leib und drücke mich noch tiefer in den Morast. Ich kann mich nicht mehr dazu überwinden, mich umzusehen. Harrington steht auf.
»Wir können nichts anderes machen, als uns langsam da hocharbeiten, nicht direkt durch die Minen. Die haben die Drähte so gespannt, daß wir drüberstolpern, wenn wir mittendurch gehen. Es ist die einzige Möglichkeit!« »Mhm.« Richards rührt sich nicht. Er ist genauso gelähmt. Harrington fängt an durch den Graben zu kriechen. »Los komm, Al. Laß es uns zwei versuchen. Wir können nicht hierbleiben! Scheiße Mann, wir krepieren hier alle!« Er macht sich auf den Weg, und ich hasse ihn. Ich folge ihm. Ich blicke vor mich auf den Boden und halte; nach Minen Ausschau. Zweimal steige ich über dünne Drähte zwischen Minen. Ich seh einen der kleinen Stifte einer Tretmine. Ich fange so fürchterlich an zu zittern, daß ich stehenbleiben muß. Ich kann nicht weiter. Ich stehe schutzlos da und kann nicht vor und nicht zurück. Es ist wie damals auf dem Gaskessel; ich bin völlig gelähmt. Harrington geht vorsichtig weiter. Ich rufe ihn nicht. Ich blicke hinter mich, und Richards ist weg. Ich fühle mich allein. Ich kann keinen sehen, und ich hoffe, keiner sieht mich. Ich sinke langsam zu Boden. Ich weiß nicht, wie lange ich so daliege. Ich weiß, ich sollte meinen Spaten nehmen und graben, aber ich kann mich nicht dazu überwinden. Dann sehe ich, wie jemand den Abhang herunter auf mich zukommt. Ich ducke mich noch tiefer. Zuerst sind es nur Umrisse, dann sehe ich das Feldgrün eines deutschen Soldaten. Zitternd bringe ich das Gewehr in Anschlag und taste durch meine Handschuhe nach dem Abzug. Ich ziehe, und nichts passiert. Sie kommen näher. Ich löse die Sicherung und ziehe erneut. Es gibt einen gewaltigen Rückstoß. Erst jetzt fällt mir ein, daß ich immer noch die Phosphorgranate im Gewehr habe. Sie trifft einen der Soldaten und explodiert mit einem Lichtblitz.
»Wer zum Teufel ist das? Feuer einstellen, verdammt noch mal!« Es ist Richards, und er bürstet wie ein Verrückter die Uniform eines Krautfressers ab. Ich stürze den Hang hinauf, ohne an die Minen zu denken. Ich bin bei ihnen und helfe, die Phosphormasse von dem Krautfresser abzubürsten. Er sitzt am Boden. Der Phosphor frißt sich wie Feuer durch den Stoff. Der Krautfresser brüllt, und wir bürsten wie wild, um all die Stückchen zu erwischen. Er zieht sich den Mantel und die Jacke aus, und ich sehe einen dunkelroten Fleck an seiner Seite, wo die Granate ihn getroffen hat. »Himmel Arsch, was machst denn du noch hier? Du solltest doch mit Harrington gehen. Ich nehm diesen Dreckskerl hier mit, der muß den Rest unseres Haufens durch die Drecksminen bringen. Und du setzt endlich deinen Arsch in Bewegung. Du sagst Harrington, wir treffen uns bei den Kiefern, gleich über der Kuppe da oben.« Ich mache mich auf den Weg um den Berg herum, in der Richtung, in der Harrington verschwunden ist. Jetzt fliegen auch die ersten Granaten. Bei einem Einschlag direkt vor mir, hinter der Kuppe, denke ich zuerst auch an eine Granate, sehe aber dann an dem Blitz, daß es etwas anderes sein muß. Ich fange an zu laufen. Ich hüpfe über die Minendrähte und weiche den Auslösern der Tretminen aus, als spielte ich Himmel-undHölle. Ich versteh das nicht – noch vor ein paar Minuten war ich nicht imstande, mich zu rühren. Harrington sitzt am Boden. Er hält sich das Knie und schaukelt vor und zurück. Sein Gewehr liegt neben ihm auf dem Boden. Er brüllt! »O mein Gott, mein Gott! Mutter Gottes! Mutter! Mein Bein!! O mein Gott!« Ich lasse mich neben ihm fallen. Sein Gesicht ist grün. Zwischen seinen Händen spritzt das Blut aus seinem Knie! Ich
muß mich bei dem Anblick fast übergeben. Der untere Teil seines Beines, unterhalb des Knies, hängt nur noch an einem Fetzen Fleisch. Zersplitterte Knochen ragen aus geschrumpftem Fleisch. Im anderen Bein stecken Granatsplitter, die durch den Stoff und durch den Stiefel ins Fleisch eingedrungen sind. Harrington guckt mich an, und seine Augen sind schwarze Löcher. »Heiliger Gott! Ich verblute! Tu was dagegen! Hilf mir, Al! Um Himmels willen, hilf mir!« Meine Hände zittern, aber ich bekomme trotzdem mein Koppel aus den Schlaufen. Ich wickle es fest um die Stelle, die Harrington zudrückt. Ich ziehe es straff an, damit es nicht rutschen kann. Meine Finger sind blutverschmiert und glitschig. Es gelingt mir, das Ende des Gurtes durch die Messingschnalle zu ziehen und festzuzurren. Harrington läßt mit den Händen los, und das Blut kommt nur noch tropfenweise. Ich nehme meine Erste-Hilfe-Tasche ab und hole das Verbandszeug heraus. Ich lege die Kompresse über den Stumpf und wickle die Enden der Binde um das Koppel. Ich hole meine Feldflasche heraus, damit Harrington seine Tabletten nehmen kann. Ich habe das Sulfa vergessen und versuche, den Verband etwas anzuheben und es darunter zu verteilen. Irgendwie schaffe ich es. Harrington lehnt sich, auf seine Hände gestützt, zurück und blickt auf sein Bein herunter, das schräg vom Knie weghängt. Den Schuh hat es ihm völlig abgerissen und zum Teil auch das Fleisch, so daß man die Knochen sehen kann. Ich traue mich nicht, die Granatsplitter aus dem anderen Bein zu ziehen. Harrington versinkt rasch in einen Wundschock. Er ist völlig weiß im Gesicht, und er weint. Zum Teufel mit Richards; ich hol einen Sanitäter. Sie sind wahrscheinlich alle im Wald zurückgeblieben. Ich habe zu Harrington noch kein Wort gesagt. Ich versuche, mit ruhiger Stimme zu reden. »Nicht bewegen! Ich hol einen Sanitäter!«
Harrington nickt. Er beißt sich auf die Unterlippe und umklammert das Bein, das ihm nicht abgerissen wurde. Den Stumpf des anderen Beines stütze ich behutsam mit seinem Helm ab. Ich ramme sein Gewehr mit dem Lauf nach unten in die Erde, damit die Sanitäter ihn finden. Ich werfe noch einen Blick auf Harrington und mache mich dann auf den Weg zurück, den Berg hinunter. Himmel, die ganze Wiese ist total vermint! Ich gehe gegen die Minenreihen an und übersteige Draht um Draht. Ich staune selber, daß ich das tun kann. Vielleicht habe ich irgend etwas in mir überwunden. Nach etwa zwanzig Metern drehe ich mich um; ich will mich kurz orientieren, um nachher die Sanitäter richtig dirigieren zu können. Harrington hebt eine Hand; er hat meinen Weg verfolgt. Ich winke und mache mich wieder auf den Weg. Ich habe noch keine drei Schritte gemacht, als ich eine gewaltige Explosion höre. Ich blicke zurück und sehe Harringtons schlaffen Körper durch die Luft fliegen. Er dreht sich einmal und schlägt dann hart auf dem Boden auf. Ich laufe zurück und springe dabei über Minen und Drähte. Er ist in zwei Stücke gerissen. Ich kann durch seinen Bauch hindurchsehen. In seinem Gesicht ist kein Kratzer, und er ist bereits tot. Seine Eingeweide glänzen und werden mit dem letzten Blutschwall nach außen geschwemmt. Ich drehe mich um und übergebe mich. Jetzt hab ich keinen Vorwand mehr, zurückzugehen. Ich knie mich vorsichtig hin. Harrington muß die ganze Zeit eine Tretmine hinter sich gehabt haben, zwischen seinen Armen. Wahrscheinlich hat er sich einfach daraufgelegt. Die Angst hat mich wieder voll im Griff. Ich weiß nicht, wie lange ich so neben Harrington knie; es können zwei Minuten sein oder auch zwanzig. In meinem Kopf dreht sich alles, mein Verstand will nicht mehr funktionieren. Ich weiß, daß ich weine; ich schaffe das alles nicht.
Es wird langsam heller; der Nebel lichtet sich, die Sonne steht orangefarben über Reuth. Ich muß irgend etwas tun. Ich stehe auf und fange an, mich den Berg hochzuarbeiten. Ich gehe über Minen wie über Risse in einem Gehweg; ich weiß, ich bin nicht vorsichtig genug. Mein Verstand ist wie betäubt. Doch dann stehe ich oben auf der Kuppe. Rechts von mir liegt ein kleines Wäldchen. Der ganze Zug hält sich dort auf. Ich sehe Richards. Sie graben alle wie die Verrückten. Richards kommt auf mich zugelaufen. »Verdammt noch mal, wo bleibst du denn? Wir wollen in ein paar Minuten los, in die Stadt rein! Da oben sind bereits Panzer! Wer zum Teufel hat die Panzerhandgranaten?« »Harrington hat es da hinten erwischt; Tretmine.« »Scheiße! Herrgott, wir müssen hier weg. Wer zum Teufel hat die Panzerhandgranaten?« »Die hatte einer der Ersatzleute. Der liegt da hinten am Berg.« »Himmel noch mal! So eine Scheiße! Wir brauchen Panzerfäuste! Der Granatwerfer kommt immer näher, und wenn uns diese Panzer finden, sind wir im Arsch! Wo zum Teufel ist der Lieutenant?« Richards stürmt hin und her, während er redet. Er hat mindestens genausoviel Angst wie ich, aber er überlegt sich dabei noch, was zu tun ist. Er läuft zurück zu den anderen. Ich lasse mich an Ort und Stelle fallen und presse mich an den Boden. Ich bleibe liegen; ich bin bereit, alles hinzunehmen, egal was kommt. Sollen die Panzer losballern, sollen mich die Krautfresser gefangennehmen, sollen sie mich vor ein Kriegsgericht stellen, mich aus der Armee ausstoßen. Ich lasse alles über mich ergehen. Ich bin tot, gehöre nicht mehr dazu. Ich sage das alles nicht laut, aber es stimmt nun mal. Ich bin über alles hinaus, sogar über meine Angst. Ich will nur, daß das alles aufhört.
Dann steht Richards auf und gibt mit einer Geste seiner Arme das Zeichen zum Aufbruch. Alle hören auf zu graben und richten sich auf. Ich sehe, wie ich mich mit ihnen aufrichte. Ich denke nicht mehr. Ich tu’s einfach. Ich würde einen prächtigen Lemming abgeben. Sie gehen oben über die Kuppe, erst Richards, dann Vance und Scanlan, dahinter der zweite Ersatzmann, dann ich. Die anderen schließen sich nach und nach an. Das ganze Unternehmen ist verkorkst. Wir gehen vielleicht fünfzig Meter, und da schlägt eine der Granaten dicht bei uns ein. Wir werfen uns alle hin. Als wir wieder aufstehen, dreht sich der Ersatzmann um, guckt zurück und läuft an mir vorbei den Berg hinunter. Er wird mit Sicherheit auf eine Mine treten. Wir gehen langsam weiter. Immer noch keine Panzer. Vielleicht täuscht sich Richards. Ich fange wieder an zu denken. Dann geht es los, schnell und geräuschlos. Direkter Beschuß, Achtundachtziger. Ich bin am Boden; der Aufprall versetzt mir einen Schlag in den Unterleib. Ich hör nicht mal das Motorengeräusch. Überall fliegt der Dreck durch die Luft. Ich hebe meinen Kopf, und das nächste Ding kommt angeflogen. Die Erde unter mir bebt, aber ich bin noch nicht getroffen. Ich genieße meine Gleichgültigkeit; es macht alles so viel leichter. Ich fühle mich losgelöst von allem, wie in einem Kriegsfilm. Einer schreit, er ist getroffen worden. Es ist Vance. Er läuft an mir vorbei, den Helm in der ausgestreckten Hand. Blut läuft daran herunter. Ein Granatsplitter hat die Hand an seinen Helm genagelt. Von vorn höre ich ein Stöhnen. Ich sehe nach. Scanlan dreht mir das Gesicht zu. Er schreit. Es sieht nicht aus wie Scanlan, es ist ein Totenkopf: der nackte Schädel, aus dem das Blut schießt. »Mich hat’s erwischt! Meine Augen! Ich kann nichts sehen! Helft mir doch, irgendwer?«
Er rappelt sich auf und wankt auf mich zu. Er kann nichts mehr sehen, weil es ihm das ganze Gesicht weggerissen hat, zur Seite gezogen wie eine Maske. Das Fleisch hängt ihm über ein Auge herunter, und das andere Auge hängt bis über die Wange herunter. Nase und Oberlippe sind weg; ich seh die Zähne in seinem Gaumen stecken. Einige Zähne sind gesplittert und nach innen gedrückt. Ich krieche zu ihm hinauf, packe ihn an den Beinen und ziehe ihn herunter. »Faß dir nicht ins Gesicht! Du bist im Gesicht getroffen!« Scanlan sitzt am Boden und hält immer noch sein Gewehr fest. Ich hocke mich vor ihn hin, packe die Haut seines Gesichts und versuche, sie herüberzuziehen, an ihren alten Platz. Sie fühlt sich an wie Gummi und ist so geschrumpft, daß sie nicht mehr paßt. Ich rücke die Nase in die Mitte und sage Scanlan, er soll den Rand des Hautlappens festhalten, damit ich meine Erste-Hilfe-Tasche aufmachen kann. Eine Sekunde lang weiß ich tatsächlich nicht, wo meine Erste-Hilfe-Tasche ist. Ich rufe um Hilfe, aber hinter mir ist keiner mehr, und Richards liegt da vorne immer noch am Boden. Ich rufe noch einmal, aber er rührt sich nicht. Ich mache mich an Scanlans Verbandszeug und hole eine Binde heraus. Ich habe Angst vor weiteren Treffern, aber meine Hände sind ruhig. Ich wickle die Binde fest um Scanlans Kopf und verknote sie hinten. Scanlan kann nur mit Mühe atmen. Er schluckt zwar ständig das Blut, aber trotzdem kommt immer mehr Blut aus allen möglichen Stellen. Zum Teufel mit den Tabletten; ich werde Scanlan zurückbringen und mich festnehmen lassen! Mein Verstand arbeitet langsam, aber klar. Mir ist, als sei ich gar nicht ich. Ich sage Scanlan, er soll sein Gewehr fallenlassen. Er redet nicht mehr, er stöhnt nur noch tief unten im Hals. Er zieht den linken Handschuh aus, und in der Mitte fehlen zwei Finger. Auch dort strömt Blut heraus. Ich packe ihn fest am Handge-
lenk, ziehe ihn auf die Beine und fange an, mit ihm zurückzulaufen. Er wird bald das Bewußtsein verlieren, und ich kann ihn nicht tragen. Ich werde vielleicht selber bald ohnmächtig. In meinem Kopf ist eine einzige Leere. Scanlan reißt sich von mir los. Er geht zurück und liest den Handschuh auf, den er eben ausgezogen hat und in dem noch seine Finger stecken. Er hält ihn in seiner guten Hand. Himmel Herrgott! Was er dabei wohl denkt?! Irgendwie schaffen wir es durch die Minen. Diesmal halte ich mich weiter rechts, und ich sehe nur zwei Drähte. Es fällt mir sowieso schwer, die Minen ernstzunehmen. Ich hab irgendwie das Gefühl, als hätte Harrington sie alle auf einmal für mich entschärft. Ich bilde mir ein, ich könnte sogar auf eine Mine treten, und sie würde nicht losgehen. So weit bin ich inzwischen. Wir erreichen den Waldrand, und da ist Lucessi, der erste Sergeant. Er brüllt mich an. »Wer ist das? Wo zum Teufel willst du mit ihm hin?« Ich bleibe stehen und drehe Scanlan in seine Richtung. Er ist meine Fahrkarte aus dieser Hölle. Ziemlich beschissen, aber so ist das eben. Mit Scanlan möchte ich weit zurück, bis zu einem Sanitätszelt. »Ich bringe Scanlan nach hinten, Sergeant. Er ist schwer verwundet.« Lucessi kann das selber sehen. Und er kann auch sehen, daß ich die Hosen voll habe. Na und, kann mir doch egal sein, was Lucessi denkt. Der ist auch bloß ein Scheiß-Itaker, auch wenn er erster Sergeant ist. Lucessi sieht sich Scanlan an. Ich überlege mir, ob ich nicht einfach losrennen soll, auf den Wald zu. Lucessi wird nicht auf mich schießen oder mir sonstwas tun. »Wo ist Richards? Wo ist der zweite Zug? Wo ist dein Trupp? Was zum Teufel ist da droben los?«
»Richards sagt, die kommen mit Panzern. Er braucht Panzerfäuste. Und er hat keine Panzerhandgranaten.« »Kann schon sein, aber wo zum Teufel ist Richards?« Lucessi versucht, den Verband über Scanlans Gesicht glatt zuziehen. Ich halte immer noch Scanlans Handgelenk um klammert. »Er ist da oben, auf der anderen Seite der Bäume. Er liegt an der Stelle, wo es Scanlan erwischt hat. Ich hab ihm zugerufen, aber er hat nicht reagiert, sich nicht bewegt.« So funktioniert mein Verstand. Erst jetzt gebe ich mir selber zu, daß Richards einen Treffer eingefangen hat. Richards hat’s erwischt. Richards ist erledigt. Ich kann Richards nicht mal leiden, aber ich fange wieder an zu zittern. Ich will weg, irgendwohin, nur weg. Ich laufe nicht mehr nur zurück, ich bin jetzt am Davonlaufen. Es fällt mir schwer, meine Füße stillzuhalten. Aber ich habe Angst vor Lucessi. Ich könnte ihn wahrscheinlich mit einer Hand fertigmachen, aber ich habe Angst. Ich warte nur auf die richtige Gelegenheit, ich will davonlaufen, mich im Boden verstecken, verhungern, irgendwas, nur verschwinden, allein sein. Ich halte Scanlan immer noch am Handgelenk, um die Blutung zu stoppen, und er fummelt irgendwie mit dem Handschuh in der anderen Hand herum. Er zieht etwas aus dem Handschuh und wischt es an seinen Hosen ab. Es ist ein Trauring. Er steckt ihn in seine Tasche. Lucessi beobachtet mich. »Verdammt, Columbato, du gehst sofort wieder da rauf. Wenn es Richards erwischt hat, hast du das Kommando über deinen Trupp. Und so wie’s läuft, vielleicht schon über den ganzen Zug. Das ist vielleicht eine Scheiße, Mann. Ich kümmre mich um Scanlan. Ich schick die Panzerfaust und die Handgranaten rauf. Und jetzt mach bloß, daß du da raufkommst!« Er ist schon dabei, den Organisationsplan der Kompanie umzubauen. In Gedanken schiebt er verschiedenfarbige Kärtchen
hin und her. Ich überlasse ihm Scanlan, und er umklammert sein Handgelenk. Blut tropft von Scanlans Gesicht auf seine Uniformjacke. Lucessi macht kehrt und läuft mit Scanlan zurück, auf den Wald zu. Ich bin wieder allein. Ich weiß, daß ich nur bis zu den Bäumen gehen und mich da verstecken werde. Ich werde in einen dieser Splittergräben springen, die die Truppe ausgehoben hat. Ich werde einfach daliegen und warten, bis es ruhiger wird. Danach werde ich mich vielleicht auf irgendwelchen Schleichwegen nach Frankreich absetzen, mich nur nachts rauswagen, und mir eine französische Familie suchen, bei der ich mich verstecken kann. Da stehe ich mitten in der Landschaft und drehe still und leise durch. Ich laufe wieder den Abhang hoch, hüpfe über Drähte und versuche, nicht da hinzusehen, wo Harrington liegen muß. Ich schaffe es bis zu den Bäumen und verstecke mich in einer kleinen Vertiefung in der Erde. Ich will nicht erst graben. Dann fängt es an. Es sind Einsfünfundfünfziger; unsere. Irgendwer muß diese Bäume als Koordinaten angegeben und Artilleriefeuer angefordert haben. Ich springe auf und laufe wie ein Wahnsinniger den Berg hinauf Richtung Reuth. Die Erde hüpft, Dreckklumpen fliegen durch die Luft und schlagen gegen mich. Ich werde beim Laufen im Gesicht getroffen, wie einer, der mitten durch einen Hagelschauer läuft oder mit dem Fahrrad hinter einem Kieslaster herfährt. Dann spüre ich, wie etwas an meinem linken Arm zieht und mich herumreißt. Ich sehe nach unten, und da ist ein kleines eichelförmiges Loch an der rechten Seite des linken Handgelenks. Ein Tropfen Blut schiebt sich langsam aus dem Loch. Er ist dunkelrot. Ich bleibe mitten auf der Wiese stehen und starre auf mein Handgelenk. Ich mache eine Faust, und der kleine Finger bleibt steif ausgestreckt. Ich drehe meine Hand herum, und auf der anderen Seite ist kein Ausschußloch. In mir bricht etwas, und ich wei-
ne. Jetzt kann ich zurückgehen. Ich kann in ein Lazarett und mich operieren lassen! Ich kann mit Ärzten reden, ihnen sagen, daß es für mich vorbei ist! Der Krieg ist aus! Das nächste Geschoß schlägt links von mir ein und holt mich von den Beinen. Mir klingen die Ohren, und als ich mir über das Gesicht fahre, ist meine Hand blutverschmiert. Ich taste das ganze Gesicht ab, doch da ist nichts, bis auf die Stellen, wo der Dreck und die kleinen Steine meine Haut aufgerissen haben. Ich fange wieder an zu laufen. Ich laufe, bis ich zu einer Straße am Ortsrand von Reuth komme. Ich habe immer noch niemand gesehen. Weiter drin im Ort höre ich Schüsse aus Handfeuerwaffen. Ich sehe ein Loch, das jemand neben der Straße ausgehoben hat. Da werde ich mich hineinlegen und warten, bis mich irgendein Sanitäter rausholt. Ich habe unendlich viel Zeit; der Krieg ist aus. Alfonso Columbato wird als verwundeter Kriegsheld heimkehren. Ich höre schön wieder ein Artilleriegeschoß näherkommen, und so mache ich einen Satz und springe in das Loch. Der Krieg ist nicht aus! Zwei Krautfresser liegen in dem Loch! Ich lande direkt auf ihnen! Sie kriechen unter mir vor und legen die Hände über den Kopf. Ich lehne mich in dem Loch zurück und versuche, sie mit meinem Gewehr in Schach zu halten. Ich hab die Hosen voll vor Angst, und sie lächeln mich an. Es ist eine verrückte Situation. Sie möchten auch, daß ich den Krieg für sie beende. Da hocken wir also zu dritt in einem Loch und haben alle nur einen Wunsch: wieder Zivilisten sein zu dürfen. Der eine ist alt, über vierzig; der andere kann noch keine sechzehn sein. Sie haben beide nur ein Schiffchen auf, keine Helme. Sie lächeln mich unentwegt an. Sie sind froh, daß ich sie nicht erschieße. Ich bin froh, daß sie da sind; jetzt habe ich einen doppelten Vorwand, zurückzugehen. Ich werde als verwundeter Kriegsheld dastehen, der im Nahkampf Gefangene
gemacht hat. Vielleicht werden alle Helden auf die Weise gemacht. Dann kommt das Stampfen der Einsfünfundfünfziger den Berg herauf. Irgend jemand ändert die Koordinaten und schiebt sie immer weiter den Berg hoch. Die ganze Welt scheint uns auf den Kopf zu fallen. Keine zehn Meter weit weg schlägt ein Geschoß ein, und die Wände unseres Loches beginnen zu rutschen. Ich spüre Panik in mir aufkommen. Fast hatte ich es schon geschafft, und jetzt muß ich doch noch dran glauben. Ich lehne mich zurück und halte das Gewehr auf die Krautfresser gerichtet. Ich gebe ihnen mit einem Zeichen zu verstehen, daß sie aufstehen und aus dem Loch raus sollen. Sie lächeln jetzt nicht mehr, die wollen hier nicht raus. Ich verschwinde hier, und sie kommen mit mir. Ich will den Krieg für sie beenden, und ich werde obendrein ein großer Kriegsheld sein. Sie rühren sich nicht von der Stelle. Ich stoße dem Älteren meinen Gewehr lauf in die Rippen und brülle ihm zu, er soll rausklettern. Er quasselt irgendwas, aber er steigt aus dem Loch, und der Junge folgt ihm. Sie lassen ihre Gewehre liegen und behalten die Hände über dem Kopf. Ich deute mit meinem Gewehr auf die Bäume. Für einen Zuschauer müßte das tatsächlich wie die Szene aus einem Kriegsfilm aussehen: der blutbedeckte Held treibt seine Gefangenen vor sich her. Ich lächle, um ihnen zu zeigen, daß ich auf ihrer Seite stehe, aber meine Angst ist so groß, daß ich kein echtes Lächeln zustande bringe. Sie müssen mir vertrauen; bei den dicken Brummern, die da angeflogen kommen, können wir uns hier nicht eingraben. Als wir etwa dreißig Meter die Straße runter auf die Bäume zugegangen sind, kommt es knüppeldick auf uns herunter. Diesmal ist es die deutsche Artillerie, keine Panzer; ein paar Nummern größer. Die beiden Krautfresser werfen sich in den Dreck, die Hände nach wie vor über dem Kopf. Ich liege hinter
ihnen. Die ganze Welt fängt an zu schaukeln. Wir müssen in den verdammten Wald, und zwar schnell. Hier draußen ohne Deckung sind wir schnell erledigt. Ich rufe ihnen zu, sie sollen aufstehen und weiterlaufen. Sie können mich nicht hören, sie können mich nicht verstehen, und sie würden sich so oder so nicht von der Stelle rühren. Sie drücken ihre Gesichter noch tiefer in den Dreck. Ich hätte sie da einfach liegenlassen können. Hätt ich’s nur getan. Aber ich habe mir einfach eingeredet, daß ich diese Gefangenen will, und außerdem glaube ich zu wissen, was das Beste für sie ist. Ich drücke einmal ab und schieße knapp über den Kopf des Älteren weg. Er dreht sich um und guckt mich an. Aus seinen Augen spricht Angst, keine Frage. Mit meinem Gewehr geb ich ihm das Zeichen, daß er aufstehen soll. Er springt auf, der Junge ebenfalls, und dann laufen sie beide los, immer noch die Hände über dem Kopf. Ich stoße den Kolben meines Gewehrs in die Erde, um mich hochzuziehen, und da – WAMM – passiert es. Ich komme zu mir, über und über mit Blut und glitschigem Zeug bedeckt. Der Gewehrkolben ist in zwei Teile gespalten. Ich will aufstehen, aber ich werde wieder ohnmächtig. Als ich das zweitemal zu mir komme, ist vor meinen Augen alles verschwommen, mir klingen die Ohren, und Nase und Mund sind voller Blut. Ich spucke aus und sehe mich um. Die zwei Krautfresser liegen vor mir am Boden, der Einschlag war genau zwischen ihnen und hat da ein Loch hinterlassen, es war mindestens eine Einsfünfundfünfziger. Ich fange an, mich abzutasten. Das glitschige Zeug ist zum großen Teil von den Krautfressern. Ich ertaste eine durchnäßte weiche Stelle in der Leiste, aber es tut nicht weh. Ich versuche auf die Beine zu kommen, aber es geht nicht. Mir brummt der Kopf, und ich kippe um. Mein Bein versagt den Dienst. Ich krieche zu den zwei Krautfressern hinüber, und
sie sind beide tot. Ich weiß nicht, wie lange ich ohne Bewußtsein war, aber jedenfalls lange genug, um sie sterben zu lassen, und auch lange genug, um Fliegen anzulocken. Die Sonne ist inzwischen auch aufgegangen; es ist ein sonniger Tag. Es ist der erste Sonnenschein seit vierzehn Tagen. Das Artilleriefeuer hat aufgehört. Die Welt sieht aus wie neu. Von Reuth her sind keine Kampfhandlungen zu hören. Alles scheint so ruhig, daß ich mir überlege, ob ich nicht vielleicht taub bin. Ich versuche, etwas zu sagen, um mich selbst zu hören, aber irgendwas ist mit meinem Kiefer nicht in Ordnung. Ich höre mich stöhnen, als sich die Schwärze wieder über mich legt. Es ist mehr wie ein Einschlafen, wenn man wirklich müde ist. Ich werde mit dem Wissen ohnmächtig, daß ich wenigstens nicht taub bin: ich habe mich stöhnen hören. Als ich das nächste Mal zu mir komme, fange ich an, auf den Wald zuzukriechen. Eigentlich sollte ich einfach dableiben und warten, bis jemand kommt, aber ich denke nicht. Ich will von dem Weg runter, von dem offenen Platz weg, irgendwohin wo’s schattig ist. Ich will von den Krautfressern weg. Ich halte die Hand auf die durchnäßte Stelle, und als ich mich bewege, spüre ich, wie meine Eingeweide gegen die Hand nach draußen drängen. Ich habe kein Verbandsmaterial mehr, und so lasse ich meine Hand drauf. Es blutet nicht sonderlich stark. Ich bekomme langsam wieder einen klareren Kopf. Ich überdenke meine Situation, suche nach einem Ausweg aus meiner beschissenen Lage. Ich krieche die Wiese hinunter zu der Stelle, wo immer noch Richards liegt. Ich finde ihn, und da ist überhaupt kein Blut. Erst denke ich, er blufft, er will nur den Krieg vorbeigehen lassen, so wie ich. Er liegt mit offenen Augen und mit offenem Mund da. Er ist tot. Ich seh den Granatsplitter seitlich in seinem Hals stecken. Es ist ein langer, dünner Splitter, und er steckt im Hals wie ein Füller im Füllhalterständer. Die Haut ist
nach innen gebogen, um sich den rauhen Kanten des Gußeisens anzupassen. Ich seh das alles deutlich in der Morgensonne. Mit meiner guten Hand ziehe ich den Granatsplitter heraus. Er läßt sich mühelos entfernen und zieht einen kurzen Blutschwall hinter sich her. Richards’ Hals biegt sich, so daß sein Gesicht sich der Erde zukehrt. Die Augen bleiben offen. Das ist der Moment, in dem ich ernsthaft durchdrehe. Ich höre mich murmeln: »Richards ist tot«, immer und immer wieder, wie ein Gebet; es tut weh, und ich kann nicht aufhören. Ich liege neben Richards am Boden und kann mich nicht bewegen. Das nächste, was ich weiß, ist, daß sich der Sanitäter über mich beugt, De John. Er fragt mich, was los ist, wo es weh tut, aber ich kann nur murmeln und weinen. Mein Kiefer schmerzt bis hinauf zu den Ohren. Harrington ist tot, und ich weine wegen Richards. Dabei weiß ich, es ist sinnlos, aber ich kann nicht aufhören. De John macht mir einen Verband um den Bauch und legt Sulfa auf, gibt mir aber keine Tabletten. Er wirft einen Blick auf mein Gesicht und zieht eine weitere Binde aus seinem Verbandskasten. Er fängt an, die untere Hälfte meines Gesichts und den Kiefer bis runter zum Hals zu umwickeln. Ich seh seinen Augen an, daß es schlimm ist, und ich bin froh. Ich bin über alles froh, was mich von der Front fernhält. Ich weiß, ich versuche es jetzt sogar damit, daß ich den Irren spiele. Ich jammere immer weiter wegen Richards, obwohl das überhaupt keinen Sinn mehr hat. Ich will mich an jeden Vorteil klammern, den ich habe. Ich hab keinen Stolz mehr, keine Ehre, gar nichts. Ich habe nur noch ein Bedürfnis, weiterzuleben. Sie beschaffen eine Tragbahre für mich, tragen mich zurück, und dann kommt eine Fahrt oben auf einem Jeep, ins Kriegslazarett. Sie stellen mich auf einem blutigen Betonboden ab. Ich seh die Toten in einer Ecke aufgestapelt, mit Decken verhüllt,
nur die Stiefel gucken raus. Ich suche nach Harrington, aber sie haben alle zwei Stiefel. Auf einmal kommt mir der Gedanke, daß ich vielleicht nicht schwer genug verwundet bin, daß sie mich zurückschicken werden. Ein T-5-Sanitäter kauert neben mir nieder. Er fragt mich nach meiner Einheit, nach meinem Namen. Das Reden tut zu sehr weh. Ich schüttle den Kopf. Er zieht meine Hundemarke raus, um nachzusehen. Er guckt unter meinen Verband. Ich habe das Gefühl, ich falle ins Leere. Ich bin bereit, wieder zu heulen und darum zu betteln, daß sie mich nicht zurückschicken. Dieser T-5 tut so fröhlich und sagt mir, es ist halb so schlimm, ich werde schon bald wieder auf den Beinen sein. Ich hasse ihn. Er füllt ein Kärtchen aus und hängt es mit einem Draht an meine Uniformjacke. Das muß irgendwas bedeuten. Ich beginne mich zu entspannen. Ich bin jetzt ein Paket, mit dem sich andere Leute beschäftigen werden. Ich habe kein Gewehr, ich habe keinen Helm. Ich bin kein Soldat mehr. Ich bin jetzt ein Patient. Jemand kommt rüber, rollt mir den Ärmel hoch und gibt mir eine Spritze. Ich spüre, wie mir alles entgleitet. Das nächste ist, daß alles schaukelt: sie heben mich von der Trage auf einen schwarzen Operationstisch. Ein Arzt lächelt zu mir herunter; er hat saubere Hände, einen sauberen weißen Mantel und Blutspritzer auf der Brille. Er wirft einen Blick auf meine Erkennungsmarke und fängt dann an, meine Kleider aufzuschneiden, bis hinunter zur Leiste, wo ich getroffen worden bin. Er schneidet den Verband auf, und ich spüre, wie er mit seinen Händen herumdrückt. Jemand anders schneidet meine Stiefel und übrigen Kleider auf und zieht sie mir herunter. Ich komme mir vor wie ein kleiner Junge. Seit ich vier Jahre alt war, hat mich niemand mehr ausgezogen. Der Arzt sieht mich wieder an und lächelt. Er ist müde. Es war ein großer Tag für die Chirurgen.
»Sie werden jetzt gleich einschlafen. Dann können wir das alles hier ein bißchen säubern. Keine Angst, es kommt alles in Ordnung.« Scheiße, Mann, ich hab keine Angst; ich möchte einschlafen. Ich möchte, daß die ganze Sanitätstruppe kommt und sich an mir versucht. Ich möchte, daß sie mich in Krankenhäusern behalten und an mir üben, meinetwegen für fünf Jahre und länger, bis eben dieser verrückte Krieg vorbei ist. Ich werde alles tun, um zu erreichen, daß niemand weiß, was ich weiß. Ich werde alles tun, um mich aus dem Kampfgeschehen herauszuhalten; wenn das bedeutet, von Ärzten in Krankenhäusern aufgeschnitten zu werden, dann bin ich damit völlig einverstanden. Als ich zu mir komme, liege ich auf einer anderen Trage; sie ist gepolstert, und ich bin mit einer Decke zugedeckt. Mein ganzes Gesicht ist praktisch ein einziger Verband, und auch meine Hand ist bis über das Handgelenk hinauf bandagiert. Ich taste mit meiner guten Hand nach unten und spüre, daß ich vom Bauchnabel abwärts bandagiert bin, aber mein Schwanz und meine Eier sind noch da, vom Verband ausgespart. Vorne in meinem Schwanz steckt ein Schlauch. Ich lege mich zurück und entspanne mich. Eine Zeitlang werden sie mir jedenfalls kein Gewehr mehr in die Hand drücken können. Ich komme mir vor wie auf Stufen, die sich bewegen, auf einer Rolltreppe. Selbst der Äthergeruch sagt mir zu; es ist ein Geruch der Sicherheit, der Ruhe und des Friedens. Ich blicke mich um und sehe, daß ich nicht mehr im Kriegslazarett bin. Wir bilden lange Reihen, und wir liegen in einem großen Saal. Ich hebe den Kopf, um mich umzublicken, und ich kann nicht glauben, was meine Augen sehen. Da ist eine Frau in einer Uniform, und sie kommt auf mich zu. Ich habe seit Monaten keine richtige Frau mehr gesehen. Ich hatte vergessen, wie gut sie aussehen. Mann, ich werde nach Hause gehen können, wo
es Frauen gibt, und ich werde nicht unehrenhaft aus der Armee entlassen. Wahrscheinlich bekomm ich sogar eine Pension, und Leute, die nichts Näheres wissen, werden mich für einen Helden halten. Dann kann ich alle Weiber haben, die ich will. Die Dame bleibt stehen und geht neben meiner Trage in die Knie. »Ist bei Ihnen alles in Ordnung, Soldat?« Ich sehe den Streifen eines Lieutenant an ihrer Mütze. Ich kann meinen Kiefer nicht bewegen und rede durch die Zähne. »Ja, Sir. Wo bin ich?« »Sie sind im Divisionshauptquartier, und wir warten auf einen Krankentransport, der sie zurückbringt.« »Wo komme ich denn hin?« »Wahrscheinlich ins Lazarett nach Metz.« Ich lege mich zurück. Sie sind mir noch nicht auf die Schliche gekommen. Wenn ich erst mal in Metz bin, kriegen sie mich nie wieder an die Front. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee?« Während sie das sagt, schaut sie auf die Karte, die sie mit einer Nadel an mir befestigt haben. Sie ist länger als das letzte Kärtchen und sieht offizieller aus; ich bin jetzt ein Wertpaket. Ich frage mich, ob wir immer noch denselben Tag haben. Wochen scheinen vergangen, seit wir den Wald verlassen haben und diesen Abhang auf Reuth zugegangen sind. Für einen kurzen Augenblick denke ich an den Krieg, der immer noch weitergeht. Wer befehligt jetzt den Trupp? Ich hätte zum Stab aufrücken können, wenn ich dabeigeblieben wäre. Ob sie Reuth wohl eingenommen haben? Ich höre auf, daran zu denken. Ich gehöre jetzt zum rückwärtigen Stab; das Kämpfen überlasse ich den Jungs an der Front. Die Frau Lieutenant hat meine Paketkarte zu Ende gelesen.
»O, das tut mir leid. Es heißt hier, daß Sie eine Bauchwunde haben. Sie dürfen nichts Flüssiges bekommen. Ich hatte nur Ihr Gesicht gesehen und gedacht, das sei alles. Es tut mir leid.« Es ist bestimmt das erstemal in meinem Leben, daß ich einem Lieutenant leid tue. Ich ziehe meine verbundene Hand unter der Decke hervor, um noch ein wenig Mitleid einzuheimsen, aber da hat sie sich schon einem anderen zugewendet. Wenn sie mir keinen Kaffee geben kann, will sie nichts mit mir zu tun haben. Ich lege den Kopf zurück und versuche, mich an die Wirklichkeit zu erinnern. Ich will mich daran erinnern, was für ein mieser Soldat ich wirklich bin. Es macht mir nichts aus, allen anderen was vorzumachen, aber mir selbst will ich nichts vormachen. Es war eine harte Lektion für mich. Ich kann schon jetzt sehen, wie leicht es für mich sein wird, mich als den großen Helden zu präsentieren. Ich muß von dem ausgehen, was ich jetzt über mein Leben weiß, und darauf meine weiteren Pläne aufbauen. Während ich noch darüber nachdenke, verliere ich wieder das Bewußtsein. Das Krankenhaus in Metz ist ein echtes Krankenhaus. Ich will damit sagen, es ist keine Schule oder Kaserne, die sie in ein Lazarett verwandelt haben. Es ist schon immer ein Lazarett gewesen. Ich habe meine erste Operation nach zwei Tagen dort. Es ist die Magenoperation. Genau genommen ist es nicht der Magen. Ich hab da unten einen Bruch, der dringend operiert werden muß. Hinterher geben sie mir den Granatsplitter. Er sieht so ähnlich aus wie die Pfennige, die wir immer bei der Haltestelle in der Neunundsechzigsten Straße aufs Bahngleis legten, um sie von den Zügen zerquetschen zu lassen. Der Arzt sagt, es ist mein Glück, daß ich mich damals gerade in die eine und nicht in die andere Richtung bewegt habe, denn es ging haarscharf am Samenstrang vorbei. Er sagt, der Splitter sieht aus wie von
einer amerikanischen Einsfünfundfünziger. Vielleicht denkt er, ich bin ein Krautfresser, der sich hier eingeschmuggelt hat, wegen der kostenlosen Behandlung. Es juckt mich überhaupt nicht, auf welcher Seite ich bin. Es juckt mich nicht mal mehr, wer gewinnt. Ich bin draußen. Ich liege einfach den ganzen Tag im Bett und genieße die Ruhe, den normalen Zustand aller Dinge. Meine Innereien kommen langsam in Ordnung. Ich kann mich nicht erinnern, je glücklicher gewesen zu sein. Wenn ich morgens aufwache, bevor die Schwester kommt, um alle aufzuwecken und zu waschen, vor dem Orangensaft, liege ich mit geschlossenen Augen da, horche und denke daran, daß ich aus allem draußen bin. Ich bin aus allem draußen, nicht nur aus dem Krieg. Ich bin gefangen, der Gefangene der Welt. Ich kämpfe nicht mehr. Es ist ein großartiges Gefühl, alles scheint so unwichtig. Jeden Morgen werfen sie eine Packung Zigaretten auf mein Bett. Kostenlose Zigaretten. »Noch eine Stange Zigaretten für die Jungs in Übersee.« Ich fange das Rauchen an. Na und; ich will nicht mehr der stärkste Mann der Welt werden. Ich will nur durchkommen, ohne allzuviel Schande auf mich zu laden. Ich liege auf dem weißen Bett und bewege nichts außer meiner guten Hand, einer sauberen, sauberen Hand, die jeden Tag von sauberen Händen gewaschen wird. Ich stecke die weiße Zigarette in den Mund und blase Rauch durch meine Bandagen. Ich rauche nicht richtig. Ich blase den Rauch in die Luft und schaue hinterher. Ich übe mich darin, Rauchringe in die Luft zu paffen. Onkel Caesar hat mir das früher immer vorgemacht; ich weiß also genau, wie’s geht. Die Luft in dem Raum ist still, und schon nach wenigen Tagen schaffe ich perfekte Ringe. Das Inhalieren hebe ich mir für später auf. Es tut immer noch weh, tief einzuatmen, und es ist eine Qual, zu husten. Zwanzig Zigaretten verarbeite ich jeden Tag zu Rauchringen. Ich genehmige mir jede halbe Stunde eine Zigarette. An der
Wand hängt eine Uhr, und ich klammere mich an jede Minute, die ich mitbekomme. Die Zeit ist mir noch nie so köstlich vorgekommen. Ich glaube, ich habe bisher noch nie in der Gegenwart gelebt. Jetzt vergesse ich alles, was gewesen ist, und denke höchstens eine halbe Stunde voraus. Jede dieser halben Stunden enthält mehr als die meisten Tage in meinem Leben. Es sind noch andere Männer auf der Station, aber es sind meistens andere innere Verletzungen, schwerere Fälle als ich. Sie hängen alle am Tropf. An mir haben sie nur diesen Schlauch zum Pinkeln festgemacht, ich bin also praktisch ein freier Mann. Sie wechseln alle drei oder vier Tage den Verband an meiner Hand, und die große Operation betrachten sie sich jeden zweiten Tag. Im Gesicht legen sie mir zwar immer wieder einen frischen Verband an, aber zwei Wochen tun sie nichts anderes als die Wunde zu reinigen. Eines Tages schiebt mich ein Arzt in einen Raum und entfernt meinen Gesichtsverband. Er nimmt kleine Scheren und schneidet einige Stückchen weg. Er verklebt alles wieder und sagt, ich brauche plastische Chirurgie. In diesem Krankenhaus fehlen ihnen dazu die Möglichkeiten. Er erzählt mir, der Kiefer ist ausgerenkt und im Gelenk zertrümmert. Das müssen sie sich zuerst vornehmen. Mir ist das egal. Ich finde langsam Gefallen an Operationen. Die Schwestern sagen mir immer wieder, wie tapfer ich bin. So ein Quatsch! Niemand wird mich hier reinlegen. Sie können mich im Krankenhaus behalten und mich Stück für Stück zerschnippeln; nur bitte keine Schmerzen. Nehmt meinen schönen muskulösen Körper und hackt drauflos. Aber keine Schocks, keine plötzlichen Schmerzen, kein Schmutz, keine Attacken, keine Patrouillen; das verkrafte ich nicht mehr. Ich bin gerade so weit, daß ich mich wieder aufsetzen kann, da sagen sie mir, daß sie mich in die Staaten zurückschicken.
Ich soll ins Lazarett nach Fort Dix, weil das meinem Heimatort am nächsten ist. Herrgott, ich komm mir fast schon wie ein Zivilist vor. Du fängst ein paar Metallsplitter ein, und schon ist alles verändert. Ich denke nicht mehr an den Trupp oder an den Zug, an nichts mehr von alledem. Täglich lese ich die Stars and Stripes, um zu sehen, wie das mit dem Krieg so weitergeht. Die Russen überrollen Rußland, Polen, Deutschland. Von allen Seiten rücken sie den Nazis auf die Pelle. Dann jagt sich Hitler eine Kugel in den Kopf. Es ist so, wie wenn ich einen Roman lese; es kommt mir unwirklich vor. Es ist, als ob an einem Vormittag alles, was eben noch superwirklich war, zu einer Pilzsuppe wird. Ich beklage mich nicht. Ich kann nicht einmal groß darüber nachdenken, daß ich ein Feigling bin. Ich werde eine neue Spur legen. Ich werde irgendeine Tätigkeit finden, wo keiner etwas über mich weiß. Vielleicht mache ich einen Pizzaladen auf oder verkaufe Sandwiches. »ALFONSO’S« – ein klasse Namen für so einen Schuppen. Es fällt mir schwer, für die Schwestern und die Ärzte nicht den harten Burschen zu spielen. Die erwarten das von mir, das merke ich. Es ist nicht leicht, diese beschissene Heldenrolle abzulegen. Inzwischen verschiebt sich der eine Mundwinkel immer weiter nach hinten. Es wird immer schwieriger, überhaupt noch den Mund aufzubekommen. Die Ärzte entscheiden, daß ich ein Notfall bin, und ich bekomme einen Platz in einem Flugzeug. Ich war noch nie in einem Flugzeug; ich wollte, Birdy könnte mitfliegen. Er wäre begeistert. Ich bin in Amerika und merke es kaum. Ein Krankenhaus ist ein Krankenhaus. Auf einer Trage rollen sie mich aus dem Flugzeug und in einen Krankenwagen. Mit heulender Sirene fahren wir durch New York. Während der Fahrt spiele ich Poker mit dem Typ, der in der unteren Koje liegt. In Dix sind die Schwestern anders, älter und voller Mitleid. Alle scheinen
sich schuldig zu fühlen. Die heulen praktisch wegen uns. Ich fühle mich ungefähr sieben Jahre alt, ein herrliches Gefühl. Ich verwandle mich in ein Riesenbaby. Vielleicht gewinne ich einen Preis im Schönheitswettbewerb für Kriegsbabys. Zwei Tage lang werde ich geröntgt, und alle möglichen Ärzte fingern an den Hautlappen in meinem Gesicht herum. Dann geben sie mir eine Narkose und machen ihre erste Operation. Ich habe mein Gesicht immer noch nicht gesehen; es ist dauernd bandagiert. Ich will es eigentlich gar nicht sehen. Ich weiß genug, wenn ich denen in die Augen sehe, die mein Gesicht betrachten. Ich weiß, ich seh nicht so schlimm aus wie Scanlan. Mann, der muß für irgendeinen plastischen Chirurgen ein Alptraum gewesen sein. Ich bin nach wie vor ganz entspannt und lasse die Dinge auf mich zukommen. Sie rufen meine Eltern an und sagen ihnen, daß ich im Lazarett bin. Sie kommen in dem alten De Soto ankutschiert. Ich kann nicht sagen, daß mir ihr Besuch leid tut, nur daß meine alte Dame dauernd die Bandagen in meinem Gesicht anstarrt und heult. Der alte Herr sieht müde aus, viel älter, und zum erstenmal wird mir klar, daß ich sein Junge bin und daß ihm etwas an mir liegt. Nur kann er sich nichts anmerken lassen. Er steht bleich und verängstigt da und versucht, den tollen Hecht aus Sizilien zu spielen. Er strahlt, als ich ihm erzähle, daß ich es bis zum Sergeanten gebracht habe. Als sie wieder weg sind, kehre ich in meine private Welt zurück. Mein Körper ist künftig meine Fahrkarte. Also, ihr Herren Ärzte, stanzt Löcher hinein. Stanzt so viele Löcher hinein, wie ihr wollt; jetzt bin ich schon so weit gekommen, bis hierher nach Amerika. Also, stanzt ruhig drauflos. Jetzt kommen langsam die Schmerzen von dieser ersten Operation. Eine Woche lang bekomme ich nur Infusionen, und dann ernähren sie mich durch einen Schlauch. Ich komme mir vor wie ein frisch geschlüpftes Täubchen, das mit erbrochenem
Essen gefüttert wird. Mir ist das egal; kümmre dich um mich, Welt. Zwei Wochen vergehen, bis ich zum erstenmal wieder eine dünne Suppe trinken kann. An Kauen ist nicht zu denken, nicht mal auf der guten Seite. Die Ärzte erzählen mir irgendwas von einer Metallplatte und von Nägeln, die sie mir eingepflanzt haben, um den Kiefer zu fixieren. Sie müssen erst den Kiefer geradestellen, bevor sie mit plastischer Chirurgie anfangen können. Der Doktor sagt, ich werde ohnehin mit einer partiellen Gebißanomalie leben müssen. Ich weiß nicht, was das ist, und so frage ich eine der Schwestern. Sie sagt, das heißt, daß mein Ober- und Unterkiefer nicht hundertprozentig aufeinanderpassen werden. Damit kann ich leben. Der Doktor sagt auch, er wird etwas Haut von meinem Arsch holen, um das Kinn zu reparieren. Haben Sie’s passend? Klar, mein Gesicht und mein Arsch. In dem Zusammenhang erfahre ich auch, daß mir nie mehr ein Bart wachsen wird. Ich habe zwar genügend Haare am Arsch, mehr als die meisten Leute im Gesicht, aber das nützt nichts. Sie tragen nur ganz dünne Schichten ab. »Als ich gerade die dritte Operation hinter mir habe, erzählen sie mir von dir, Birdy. Sie sagen mir, du bist in Kentucky unten, und sie wollen, daß ich hinfahre und mit dir rede. Sogar deine beknackte alte Dame kommt rüber zu uns und bittet mich, zu dir runterzufahren. Ich will nicht. Ich will nicht, daß mich irgendwer sieht, der weiß, wie ich früher war. Ich weiß, ich bin nicht mehr ich, und ich will mich nicht mehr verstellen, als unbedingt sein muß. Wir haben uns zu gut verstanden, Birdy; wir haben uns zu viel bedeutet. Aber deiner alten Dame kann ich das nicht sagen; sie heult meiner Mutter was vor. Die fiese Taubenvergifterin und Baseballdiebin heult. Ich sage ihr, okay, ich gehe. Ich komme also hier runter und unterhalte mich mit diesem Schwachkopf Weiss, und dann fange ich an mit dir zu reden,
Birdy, über all die alten Geschichten, über die Tauben und all den Scheiß. Und du spielst hier den verrückten Vogel, guckst zum Fenster raus, hockst am Boden, kümmerst dich einen Dreck um mich. Scheiße, Mann, nicht mal jetzt hörst du zu. Wir sind beide total versaut, Birdy. Ich weiß nicht, vielleicht haben wir beide das Erwachsenwerden ein bißchen zu lange rausgeschoben.« Ich höre auf zu reden. Was soll’s? Was bringt es schon? Keiner redet mehr mit anderen, und das gilt auch für die, die nicht verrückt sind. Jeder stolziert nur noch durch die Gegend und hackt und pickt auf die anderen ein. Ich mache die Augen zu, lege die Ellbogen auf die Knie und beuge mich vor, den Kopf in den Händen. Die linke Gesichtshälfte muß ich immer noch vorsichtig anfassen. Ich nehme an, es ist das letzte Mal, daß ich Birdy sehe. Ich kann das einfach nicht mehr verkraften. Der alte Weiss wird bald dahinterkommen und mich in eine dieser Zellen sperren. Ich mach die Augen wieder auf, und Birdy steht vor den Gitterstäben. Er grinst übers ganze Gesicht, und er guckt mich geradewegs an. Er rollt nicht mal mit den Augen. »Ich muß schon sagen, Al, du bist noch der gleiche Quatschkopf wie früher.«
»Ich werd verrückt! Bist du das wirklich, Birdy?!! Bist du wieder da?!« Ich kann es nicht glauben! Er lehnt an den Gitterstäben, hat das Gesicht zwischen zwei Stäben durchgesteckt. Er ist so dünn, daß er sich glatt seitlich durch das Gitter schieben und hier rausspazieren könnte. Solange er am Boden hockte oder saß, war nicht zu erkennen, wie dünn er tatsächlich ist. Er ist aber auch größer. Er war immer ein Zwerg, und jetzt ist er größer als ich. Ich stehe auf und gehe zu ihm hin. »Du bist es tatsächlich, Birdy. Bist du okay?« »Na ja, Al, okay nicht gerade, aber ich bin wieder da.« Es ist Birdy, das ist klar, aber er klingt irgendwie anders. »Und diese ganze Vogelkacke, was ist damit? Sag bloß, du hast mir die ganze Zeit nur was vorgemacht. Wenn du dagesessen und beim Zuhören innerlich gelacht hast, dann bring ich dich mit bloßen Händen um!« »Es stimmt, Al. Ich hab nur so getan. Ich hab so getan, als sei ich ein Vogel; und jetzt tu ich so, als sei ich ›ich‹. Ich bin draufgekommen, als du geredet hast. Ich glaube, ich bin jetzt ich. Oder nein, das stimmt nicht ganz. Ich weiß nicht, wer ich bin, aber ich bin kein Vogel.« »Das ist ja ein dicker Hund! Ich kann es nicht glauben. Heißt das, du kannst dich an alles erinnern? Du bist kein Verrückter mehr?« »Auch da bin ich mir nicht ganz sicher, Al.«
Al ist schwerer geworden. Er könnte nur noch im Schwergewicht ringen. Er hat einiges über achtzig Kilo. Er sieht aus wie der unsichtbare Mann aus dem Film, mit all den Bandagen um die untere Gesichtshälfte. Er hat die gleichen Augen, dunkel, gefährlich, aber weicher, irgendwie bekümmert. Du hast den
Eindruck, er würde zurückspringen, wenn du eine rasche Bewegung machst. »Okay, Al, da sitzen wir also. Birdboy trifft Superboy. Wie winden wir uns diesmal aus der Sache raus? Können wir uns denn im Ernst einreden, daß das alles einen Sinn ergibt, daß es irgendeinen Grund dafür gibt?«
Birdy lacht still vor sich hin und hockt sich vor den Gitterstäben auf den Boden. Es ist seine übliche Hockstellung, die er immer im Taubenschlag einnahm oder auf der Straße, um Tauben zu beobachten. Er hat dabei die Fußsohlen flach am Boden, die ausgestreckten Arme liegen auf den Knien, die Handflächen nach oben. Beim Zuhören legt er den Kopf schräg. Da erinnert immer noch viel an einen Vogel.
Ich beobachte Al. Er überlegt krampfhaft, ob er mich als einen Patienten, als einen Irren im Irrenhaus, ansprechen soll oder einfach als den alten Birdy. »Okay, Birdy, was tun wir also? Ich sitze fest. Irgendwie kann ich aus mir keinen anderen machen, und ich kann nie wieder zu den alten Methoden zurück und mir irgendwas vormachen. Ich weiß es; ich bin erledigt. Den alten Al gibt’s nicht mehr!« »Eigentlich weißt du das gar nicht, Al. Du möchtest nur glauben, daß du ’s weißt. Es ist der bequeme, stille Selbstmord, ohne Blutvergießen und ohne Todesfolge. Ich will dir was sagen, Al, ich habe nachgedacht. Vielleicht sind die verrückten Menschen diejenigen, die alles klar sehen, die aber eine Möglichkeit finden, damit zu leben.«
Nach einem tiefen und beunruhigend langen Atemzug redet Birdy langsam, gar nicht wie Birdy; sonst lief sein Mundwerk immer wie geschmiert. »Sieh mal, Al, du und ich, wir hatten da einen gut funktionierenden Trick. Wir machten aus fast allem, was passierte, einfach ein persönliches Abenteuer, wie Figuren aus einem Comicstrip. Für Birdyboy und Superboy war das Leben nur ein Spiel. Wir haben doch in jeder Lage Richard Halliburton gespielt. Es gab nichts, was uns richtig bewegen konnte. Du wirst mir zugeben, daß das etwas Besonderes ist. Da wir alles als Spiel auffaßten, brauchten wir keine Spiele zu erfinden. Wir selbst waren das Spiel.« »Okay, großartig. Und jetzt haben sie uns abgeschossen.« »So schlimm ist das auch wieder nicht, Al. Wir sind immer noch da. Ich weiß, ich kann nicht fliegen, und ich will es auch gar nicht mehr. Du weißt, du kannst keine Nägel zerkauen und Reißzwecken ausspucken; aber das juckt doch nicht. Wir können weiterhin versuchen, die Dinge zusammenzustellen und umzubauen und zu ordnen, so daß was dabei herauskommt.« »Was bedeutet das denn, Birdy? Daß du dich wieder in deinen Käfig hockst und dich füttern läßt, und daß ich wieder anfange, Zentnergewichte bankzudrücken und mich auf Leute zu stürzen, nur um sie für drei Sekunden auf die Schultern legen zu können? Ich seh da keinen Sinn.« »Hör zu, Al. Ich glaube, ich will nichts anderes sagen, als daß wir wirklich verrückt sind, verrückt, weil wir die Vorstellung nicht akzeptieren können, daß Dinge um uns herum ohne jeden Grund passieren und daß alles sinnlos ist. Für uns ist das Leben nicht einfach eine Reihe von Hürden, die wir irgendwie überwinden müssen. Ich habe den Eindruck, daß alle, die nicht verrückt sind, einfach pausenlos um sich schlagen, um durchzukommen. Sie leben von einem Tag zum andern, einfach weil
jeder Tag da ist, und wenn ihnen dann die Tage ausgehen, machen sie die Augen zu und bezeichnen sich als tot.«
Al blickt mir voll in die Augen. Er weiß immer noch nicht recht, ob ich was Vernünftiges von mir gebe. Ich glaube schon, aber ich habe mich in letzter Zeit so oft geirrt. Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Ach komm, hör auf, Birdy. Ich will dir mal was ganz anderes sagen. Es wird verdammt schwer für dich sein, hier rauszukommen. Dein Psychiater, dieser fette Fiesling Weiss, sieht in dir den Fall seines Lebens. Der läßt dich nicht mehr aus den Klauen.« »Der ist schon in Ordnung, Al. Er hat immerhin dich herkommen lassen, und mir geht’s inzwischen ganz gut. Du mußt zugeben, er hat das richtig angepackt. Ich bin kein Vogel, und wenn ich beschließe, daß ich hier raus will, dann geh ich auch. Ich bin noch nicht bereit, aber wenn ich soweit bin, dann geh ich auch. Ich brauche einfach noch Zeit, um alles zusammenzubringen und mir zu überlegen, was ich tun kann, damit mein Leben ein bißchen Spaß macht.« »Du willst es anscheinend nicht kapieren, Birdy. Du bist hier eingesperrt. Du kannst nicht einfach rausspazieren.« »Darüber mach ich mir keine Sorgen, Al. Ich komm schon raus. Das ist nicht das Problem.« »Okay, Birdy, okay. Wir überlisten also Weiss, und er stellt deine Entlassungspapiere aus. Du kriegst eine Pension und lebst in Saus und Braus, und keiner ist hinter dir her. Wie gefällt dir das?« »Es genügt mir nicht, Al. Es ist nur Hürdenlaufen, Durchkommen, Sichzurücklehnen. Wir können mehr als das.« »Aber du machst dir überhaupt keine Vorstellungen, Birdy. Das ist hier ein regelrechtes Gefängnis. Da sind erst mal diese
zwei Türen; nun gut, die schaffen wir; aber dann kommt der Eingang zur ganzen Station. Ich glaube, da würde uns Renaldi helfen. Doch dann kommt eine fünf Meter hohe Mauer um das ganze Gebäude herum, mit Wachen am Eingang. Wenn du glaubst, du kannst da drüberfliegen, dann bist du immer noch verrückt.«
Ich starre ihn an. Ich will Birdy nicht weh tun, aber ich muß es wissen. »Sag mal, Birdy, was zum Teufel ist eigentlich mit dir passiert? Wieso hat es dich bloß hierher verschlagen?«
Es ist Al peinlich, danach zu fragen. Ich weiß, ich muß ihm etwas sagen. »Na ja, Al, es ist wie mit allem anderen, es ist einfach passiert. Kannst du dir vorstellen, daß es mich bei der Eroberung der Insel Waiheke vor der Küste Neuguineas erwischt hat? Ich glaube, es war eines dieser kleinen japanischen Maschinengewehre, Kaliber fünfundzwanzig. Als ich zu mir komme, liege ich in einem heißen Zeh, in dem die Sonne alles in ein gelbes Licht taucht. Ich hänge an allen möglichen Schläuchen und Leitungen. Ich liege auf dem Rücken und kann mich nicht bewegen. In dem Zelt stehen lange Reihen von Feldbetten, und in der Luft hängen Flaschen voll Blut und Wasser. Ich verliere das Bewußtsein. Ich wache wieder auf, und es herrscht ein großer Lärm. Leute laufen an dem Feldbett vorbei, ich höre Gewehrschüsse. Es ist entweder morgens oder abends. Ich höre ein Geräusch am entlegenen Ende des Zeltes. Es ist ein japanischer Soldat, der mit einem Bajonett den Stoff aufschlitzt. Er geht die Reihe der Feldbetten entlang. Keiner schreit, man hört nur den dumpfen
Schlag seines Gewehrs und jedesmal das Zerreißen des Feldbetts, wenn er mit dem Bajonett zustößt. Ich reiße die Schläuche heraus, krieche unter dem Zeltrand durch und fange an zu laufen. Und dann hebe ich ab und fliege. Ich fliege an den Japanern vorbei, über das Zelt und in den Dschungel. Ich blicke zurück und sehe das Zelt neben dem Sandstrand und das glitzernde Wasser. Und dann bin ich plötzlich hier und höre dich über Tauben reden. Kannst du das glauben, Al! Das ist das, woran ich mich erinnern kann.« »Ach, Scheiße, Birdy. Das ist verrückt! Kein Mensch kann fliegen! Was, glaubst du, ist wirklich passiert?« »Es ist wirklich so passiert, Al.« »Gott im Himmel!« Al weicht wieder zurück. Ich wollte ihn nicht anlügen, aber jetzt macht er sich wieder Sorgen. »Na gut, Al. Dann ist eben alles verrückt. Vielleicht habe ich das mit dem Fliegen nur erfunden, ohne es selber zu wissen. Aber jetzt sitzen wir hier, wir müssen irgendeinen Ausweg finden, mit dem wir leben können. Laß uns mal nachdenken; früher ist uns auch immer was eingefallen.«
Wir sitzen minutenlang still da. Die Idee ist so irre, daß ich mich kaum traue darüber zu reden, besonders nach der »Fluggeschichte«, die er mir eben erzählt hat. Ich riskiere, daß Birdy wieder in seine Vogelrolle schlüpft. Aber ich kann nicht anders, ich muß es ihm erzählen. »Mir ist da in einer Art Traum eine Idee gekommen, Birdy. Nach all den anderen war das ein phantastischer Traum. Ich mußte laut hinauslachen und bin daran aufgewacht.
Vorweg muß ich noch sagen, Birdy, daß ich Weiss gebeten habe, sich all die Basebälle schicken zu lassen, die deine alte Dame immer geklaut hat.« »Ja, ich weiß. Das hast du mir schon erzählt.« »Ich war nie sicher, ob du zuhörst.«
Es ist nicht zu glauben, daß meine Mutter diese Bälle überall die Jahre aufbewahrt hat. Die Leute tun wirklich die absurdesten Dinge im Bemühen, dem Leben einen Sinn zu geben.
»Nun, diese Bälle haben den erwähnten Traum ausgelöst. Ich bin dann mittendrin aufgewacht und habe ihn weitergesponnen, so wie man das halt bei einem guten Traum macht. Wenn wir das hinkriegen, Birdy, flippt Weiss total aus. Die Scheißarmee wird dir bestätigen, daß du zu hundertfünfzig Prozent kriegsversehrt bist, nur damit sie dich nie wieder sehen oder von dir hören müssen. Zuerst werd ich Weiss kräftig verarschen und ihm erzählen, daß du Fortschritte zu machen scheinst und daß du immer lebhaft reagierst, wenn ich von diesen Basebällen rede. In einer rührseligen Geschichte werde ich ihm erzählen, daß du große Schuldgefühle entwickelt hast, weil deine Mutter immer die Bälle wegnahm. Vielleicht sag ich ihm sogar, daß du immer fliegen wolltest, so wie die Bälle, die über den Zaun flogen. Ich werde ihm eine superdramatische Schilderung deines Flugs vom Gaskessel geben. Und an der Stelle mach ich dann den Vorschlag, die Bälle hierher in deinen Käfig zu bringen und abzuwarten, was dann geschieht. Er wird bestimmt anbeißen. Ich seh schon alles vor mir.«
Weiss beginnt mit seinem hmmm und ähemm. Ein paarmal fährt er sich übers Kinn und versucht dann, einen Arm um seine fette Brust zu legen, damit er den Ellbogen drauf stützen kann. Er ist beinahe zu fett dafür. Wie kann man ein richtiger Psychiater sein, wenn es einem nicht mal gelingt, einen Arm über die Brust zu legen, den Ellbogen des anderen Armes darauf zu stützen und mit der Hand den Bart zu streichen? Es muß für einen Psychiater in der Armee schrecklich sein, daß er keinen Bart hat, den er streichen kann. Die armen Schweine gehen zehn Jahre auf die Uni und üben das Bartstreichen und das richtige hmmm und ähemm, und dann wird ihnen einfach der Bart weggenommen. Weiss würde mit einem Bart besser aussehen; hinter einem schönen schwarzen Bart könnte er sein Doppelkinn verstecken. Am nächsten Tag marschieren wir also frühmorgens den Gang entlang, Weiss, Renaldi und ich. Renaldi ist ein Beweis dafür, daß man gar nicht erst in der Armee drin sein muß, um sie zu hassen. Weiss marschiert mit einem frischen Schreibblock an der Spitze. Renaldi geht hinter ihm und gibt sich sehr ernst und sachlich. Ich bilde die Nachhut, unterm Arm die Kiste mit den Bällen. Sie riechen verschimmelt, und es ist eine irre Mischung; niemand kann sie irgendwo gekauft haben. Es sind die Original-Basebälle, absolut echt, einer wie der andere von lebenden Baseballspielern gestohlen. Es ist eine der großen Sammlungen dieser Welt. Birdys Mutter, die Ballräuberin vom linken Außenfeld, Bestatterin verlorengegangener Basebälle. Wir kommen zu der Zelle, und Weiss macht einen Schritt zur Seite, damit Renaldi die Tür aufschließen kann. Da steht er und schaukelt auf und ab, von den Zehen zu den Fersen, vor und zurück, wiegt seinen Körper, daß es aussieht, als ficke er die Luft. Er hat den Kopf in den Nacken gelegt und betrachtet die Decke über dem Gang. Er sieht aus wie ein zu groß geratener
Chorknabe; sein glatthäutiges Gesicht hat etwas Eunuchenhaftes. Ein schmucker buschiger Schnurrbart könnte da helfen. Ich kann mir direkt vorstellen, wie er plötzlich auf dem hohen C in ein gregorianisches Kyrie eleison ausbricht. Ich stehe daneben und schnuppere an den Basebällen und versuche an mich zu halten. Ich bin jetzt voll drin in der Geschichte, und Birdy lacht. Mein Gott, es tut gut, ihn lachen zu hören. Renaldi hat die Tür aufgemacht, und Birdy kommt zu uns herübergehüpft. Er schlägt mit den Flügeln und will gefüttert werden. Weiss gibt seine Chorknabenhaltung auf und glotzt nur noch. Er legt sich den Schreibblock zurecht und kritzelt drauflos. Renaldi schließt die zweite Tür auf. »Birdy, du fängst jetzt an, auf und ab zu springen und deine Arme zu schwingen und in dem Raum herumzulaufen, und dann springst du mit diesen riesigen Sätzen, die du machen kannst, ein paarmal gegen die Wände. Du müßtest eine deiner besten Vogeldemonstrationen bringen. Zum Abschluß landest du mit einem Satz auf der Toilette und bleibst dort erst einmal hocken.« Weiss ist völlig überwältigt. Er steht da und lehnt sich so weit vor, daß er fast umkippt. Seine Hände hängen schlaff herunter, in der einen hat er den Kugelschreiber, in der anderen den Schreibblock. Ich gebe ihm mit der Ballkiste einen kleinen Schubs, damit er vollends durch die Tür geht, und Renaldi schließt daraufhin die Tür ab. Ich gehe an Weiss vorbei auf Birdy zu. Birdy hüpft von der Toilette herunter und kommt zu mir. Er gibt mir zu verstehen, daß er gefüttert werden will. Ich stelle die Kiste neben ihn. »Hier, Birdy. Das sind die Basebälle, die deine Mutter immer den Baseballspielern weggenommen hat. Jetzt brauchst du dir also keine Sorgen mehr darüber zu machen.«
Ich gehe wieder zurück und stelle mich neben Weiss und Renaldi. Ich weiß, ich darf keinen der beiden anschauen, sonst kann ich nicht mehr an mich halten. Birdy hüpft um die Kiste herum. Er spreizt die Hände ab wie Flügel und steckt den Kopf in die Kiste. Er fängt an, die Bälle mit seiner Nase herumzustoßen. Er schnüffelt wie ein Hund. Dann kommt sein großer Augenblick. Er macht die Beine breit und läßt sich mit dem Hinterteil auf den Bällen nieder, ganz in der Art einer Henne, die sieh auf ein Nest setzt. Er macht es sich bequem und beginnt, nach und nach übers ganze Gesicht zu strahlen. Weiss hat sich ein wenig erholt; der Schweiß steht ihm auf der Stirn, und er kritzelt wie wild. Birdy sitzt einfach da. Dann hebt er sein Hinterteil ein wenig an und guckt nach unten. Er sitzt mit gespreizten Beinen auf der Kiste, eher in der Art eines Männchens, das ja auf dem Nest mehr oder weniger »steht«, während das Weibchen bequem sitzt. Birdy greift mit einer Hand in die Kiste und holt einen Baseball heraus. Es ist eines der besseren Exemplare, fast weiß, und die Steppnähte halten noch. Er hält diesen Ball gegen das Licht. Er kneift die Augen zusammen, um durch den Ball hindurch in das Licht zu sehen. Das dauert zwischen fünf Sekunden und fünf Minuten, und dann richtet er sich auf, hat aber immer noch die Kiste mit den Bällen zwischen den Beinen. »Unfruchtbar!« brüllt er. »Und dann, Birdy, wirfst du den Ball Weiss an den Kopf!« Es ist ein Volltreffer! Seine Brille fliegt durch die Luft! Er dreht sich um und guckt mich ohne Brille an. »Mein Gott, Sergeant, der Patient wird gewalttätig! Nichts wie raus hier. Wo ist meine Brille?« Ich hebe seine Brille auf und gebe sie ihm. Die Gläser sind noch ganz, aber das Gestell ist so verbogen, daß es jetzt schief
auf seiner Nase sitzt. Er fummelt noch daran herum, als wir wieder den Schrei hören. »Unfruchtbar!« Weiss bekommt diesen Ball mitten auf die Stirn. Er sinkt nach hinten, als habe ihn ein Axthieb getroffen. Seine Brille hängt nur noch an einem Ohr. Er sinkt auf die Knie, mit dem Rücken zu Birdy, und guckt Renaldi an. »Machen Sie die Tür auf und lassen Sie mich hier raus!« Weiss rappelt sich wieder hoch, als Renaldi einen der Bälle aufliest und zur Toilette hinüberwirft. »Läufer am Ersten Mal draußen!« Wieder kommt der Schrei: »Unfruchtbar!« Weiss wird diesmal an der rechten Arschbacke getroffen. Der Ball springt in meine Richtung. Ich werfe ihn zu dem Fenster ’rauf, das Birdy diese ganzen Tage fixiert hat. »Foul, zweiter Fehlschlag!« Weiss blickt zu mir herüber. Er ist immer noch auf den Knien und versucht, seine Brille zurechtzurücken. Birdy hat den nächsten Ball aus der Kiste genommen. Diesmal guckt er ihn nicht lange an, sondern wirft ihn sofort. »Unfruchtbar!« Auf das Stichwort hin läßt Weiss seine Brille Brille sein; er legt die Hände schützend auf den Kopf und kauert sich dicht an den Boden. Einen fetten Mann so am Boden liegen zu sehen, das muß einfach das Schlimmste in einem Menschen hervorkehren. Ich weiß, wie Löwen zumute sein muß, wenn sie einen Wasserbüffel oder irgendein anderes großes, gefährliches Tier zur Strecke gebracht haben. Birdy schießt daneben, aber er wirft sofort wieder. Bevor Weiss ausweichen kann, wird er im Rücken getroffen. Der Ball prallt ab, und Renaldi angelt ihn aus der Luft. »Läufer am Zweiten Mal draußen!«
Er wirft den Ball an Birdys Kopf vorbei in die entfernte Ecke. Bälle fliegen jetzt kreuz und quer durch den Raum. Weiss duckt sich tief, krümmt sich, versucht immer noch seine Brille richtig aufzusetzen. Er schreit. Er will, daß Renaldi die Tür aufmacht; er will, daß ich Renaldi die Schlüssel wegnehme. Wir ignorieren ihn. Er droht mir mit dem Kriegsgericht; er sollte eigentlich wissen, daß das witzlos ist. Er schreit, irgend jemand solle kommen und ihn retten. Die zwei Türen lassen kaum ein Geräusch nach außen dringen. Sie sind eigens so konstruiert. Wir haben einen Riesenspaß mit den Bällen. Manchmal werfen wir sie gegeneinander, manchmal an die Decke, wobei wir versuchen, die Glühbirne abzuschießen, und manchmal zielen wir auf Weiss, wenn es so aussieht, als wolle er aufstehen. Und bei jedem Wurf brüllen wir irgendeinen Baseballspruch. »Laß ihn nicht ins Schlagmal!« »Das schafft die lahme Ente nie!« »Wirf zum Dritten! Das gibt ein Doppel!« »Paß auf, der stiehlt!« »Der Ball war foul!« »Anfänger, blutiger!« »Werft die Nummer eins raus!« Die Bälle fliegen in alle Richtungen. Wir rennen jetzt auch im Raum umher. Die Bälle prallen von den gepolsterten Wänden ab. Wir sind außer Rand und Band. Ich versuche immer wieder, dieses hohe Fenster zu treffen. Wir werden jetzt alle von Basebällen getroffen. Es ist wie eine Schneeballschlacht, jeder gegen jeden. Fast wünsche ich mir, Weiss würde vom Boden aufstehen und mitmischen. Wir drehen jetzt Runden um die Male. Im Laufen werfen und fangen wir Bälle oder lesen sie vom Boden auf. Das wilde Gebrüll geht unentwegt weiter. Die Toilette ist das Erste Mal, die hintere Ecke das Zweite, Birdys Matratze das Dritte, und
Weiss ist das Schlagmal. Wir laufen Runde um Runde, und im Vorbeilaufen tippen wir jedesmal Weiss mit dem Fuß an. Dann wird aus dem wilden Durcheinander ein richtiges Spiel. Jeder von uns stoppt ab und wirft, sobald er zum Schlagmal – also zu Weiss – kommt. Wir zielen jetzt alle auf das hohe Fenster. Das Fenster ist mit Gitterstäben gesichert und befindet sich etwa viereinhalb Meter über dem Boden. Die Gitterstäbe sind so weit auseinander, daß ein Ball durchpassen würde, wenn er genau richtig ankäme. Drei- oder viermal treffen wir die Stäbe, und Renaldi schreit: »Ball tot! Läufer rückt um zwei Male vor!« Es wird immer hektischer. Mir geht die Puste aus, und ich habe Angst, einer dieser Bälle könnte mich am Kiefer treffen. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie ich vor dem Arzt in Dix stehe und ihm erkläre, ich hätte mir die Verletzung beim Baseballspielen in einer Gummizelle geholt. »Und dann bleibst du plötzlich am Schlagmal stehen, Birdy. Du hältst beide Hände hoch, wie ein Schiedsrichter, der eine Auszeit verlangt, und dann gehst du einen Schritt nach vorn. Fast rechne ich damit, daß du einen Besen holst und Weiss den Rücken fegst, um ein sauberes Schlagmal zu haben.« Birdy sagt: »Ersatz-Schlagmann!« »Zwei Läufer unterwegs!« »Zwei sind out!« »Wir liegen zwei Punkte zurück!« »Letzter Durchgang!« »Schlagmann fertig!« Wir warten an den Malen. Birdy hat drei Bälle. Der erste landet rechts neben dem Fenster. Der zweite ist etwas zu tief. Der dritte geht durch die Gitterstäbe, man hört die Scheibe splittern, und das Glas fällt die Wand herunter. Renaldi ist am Dritten Mal; er steht auf Birdys Bett. Ich bin am Ersten und hocke auf der Toilette. Renaldi brüllt: »Es ist ein Homerun!
Eine Kiste Haferflocken! Drei Läufer punkten, das ist der Sieg!« Er läuft auf Weiss zu, der wegen der plötzlichen Stille und dem Geräusch von splitterndem Glas den Kopf gehoben hat. Renaldi erreicht das Schlagmal, tippt kurz Weiss an und geht dann zur Tür hinüber und macht sie auf. Ich kurve um das Zweite Mal. Weiss hat wieder das Genick eingezogen, und ich bin ebenfalls im Ziel. Renaldi empfängt mich rechtzeitig mit einem Handschlag. Birdy ist dicht hinter mir, und wir schütteln ihm beide die Hand und geben ihm einen Klaps auf die Schulter, als er an uns vorbeiläuft. Weiss will aufstehen, ist schon auf Händen und Knien, und Birdy fliegt im Stil eines Hürdenläufers über ihn weg. Er fliegt so hoch durch die Luft, daß Weiss auch auf beiden Beinen stehen könnte – Birdy würde ihn nicht berühren. »Und dann, Birdy, laufen wir zur Tür hinaus und sperren Weiss ein.« Birdy hat sich die Geschichte angehört und die ganze Zeit gelacht. Er ergänzt mich sogar hier und da, so wie das bei uns immer geht. Wir unterbrechen und korrigieren einander immer wieder, um die Geschichte noch besser zu machen, und sind uns hinterher einig, daß es wirklich so gewesen ist. Ich bin fertig, und Birdy starrt mich an. Wir sind wieder da.
»Ehrlich, Al. Wie oft mußt du eigentlich deinen alten Herrn noch auf die Schultern zwingen? Herrgott noch mal, ich bin nicht bereit, deinetwegen Weiss mit Basebällen zu traktieren. Das hat einfach keinen Sinn mehr. Mein Gott, wir sind jetzt praktisch erwachsen. Wenn du dich nicht vorsiehst, dann läßt du das noch an deinen Kindern aus; dann machst du aus ihnen Ringer oder Footballspieler oder was weiß ich, nur um dir einzureden, daß du den alten Vittorio tatsächlich auf die Schul-
tern gezwungen hast. Irgendwann muß einfach Schluß damit sein. Du weißt doch: die Zeit legt früher oder später sowieso jeden auf die Schultern.«
Dieser verdammte Birdy! Es ist wie damals mit dem Messer, die ganze Geschichte noch einmal. »Na schön, du großes Flieger-As! Dann laß uns mal deinen Ausweg hören. Sollen wir einfach über die Mauern rausfliegen oder was? Und so tun, als sei nichts geschehen?«
»Also gut, ich will dir sagen, wie mein Schluß aussieht, Al. Bevor wir hier rausgehen, nach dem Baseballspiel, sammeln wir die Bälle ein und legen sie in die Kiste zurück. Dann steigen wir rauf auf das Dach.« »Ich hab’s ja gewußt, Birdy, ich hab’s gewußt!« »Hör doch mal zu, Al! Von dort oben werfen wir die Bälle über die Mauern nach draußen. Es ist ein wunderschöner Tag, blauer Himmel, Sonnenschein mit großen, weichen, fetten Wolken. Wir schleudern einfach Ball um Ball, mal aus der Hüfte, mal über Kopf in den blauen Himmel und sehen ihnen nach, wie sie über die Mauer segeln. Dann drehen wir uns um, und da steht Weiss. Er lächelt uns freundlich zu, er hat keine Brille auf. Du bietest ihm einen Ball zum Werfen an, aber er lächelt nur, immer weiter, ein großes, sanftes Lächeln voll Liebe. Es ist ein Lächeln, das einen im Innern wissen läßt, daß man ein wertvoller Mensch ist. Wir beobachten, wie Weiss über den Kopf nach hinten greift und sich ans Genick faßt. Er fängt an zu ziehen, und es ist wie ein riesiger Reißverschluß. Er macht diesen Reißverschluß auf, über den Kopf, übers Gesicht, den Hals, über den Bauch und hinunter bis zwischen die Beine. Dann steigt er aus dem Anzug
des fetten Majors und Psychiaters. Da steht er nun im Sonnenlicht, und er ist schön.« »Ach komm, Birdy, hör schon auf!« »Laß mich zu Ende reden, Al. Weiss ist schlank, und er hat lange, starke geschmeidige Muskeln. Er bewegt sich flink und wendig, und er ist in einen goldfarbenen Flaum gehüllt, wie ein kleines Entchen. Ohne seine Brille wird sichtbar, daß er runde Augen hat. Er springt nach vorn an die Dachkante, fordert uns mit einer Geste auf, ihm zu folgen, lächelt und gleitet dann mit rundem Rücken durch die Luft, wobei er die ausgestreckten Arme kräftig und schnell, aber ohne Hast aufund abbewegt und mit den Füßen sanfte Wellenbewegungen macht. Er schwebt über das ganze Gelände hinüber zu der Mauer, die das eigentliche Lazarett umgibt, und landet dort. Er dreht sich um und fordert uns wieder auf, nachzukommen.« »Ohne mich, Birdy. Ich geh’ nicht mal in die Nähe der Dachkante. Ich spring’ doch nicht von einem Dach runter und brech’ mir das Genick.« »Ich auch nicht, Al.« »Was tun wir denn sonst da oben, Birdy?« »Nun, wir nehmen den Anzug, den Weiss vorher bei seiner Mauser abgestoßen hat, und den legen wir in die Kiste zu den verbliebenen verschimmelten Basebällen. Wir gehen die Treppen runter und geben die Kiste am Eingang ab. Dann marschieren wir einfach zum Tor raus, fort von hier.« »Einfach so?« »Einfach so.« »Und? Was kommt danach?« »Nichts, Al. Nur der Rest unseres Lebens.« »Ist das alles?« »Das ist alles.« »Und damit ist alles zu Ende?«
»Eigentlich nicht, Al. Es geht nie so leicht. Keiner kommt so einfach davon.« Aber man muß es versuchen. Es lohnt sich.