Das Gesicht meines väterlichen Freundes Ignatius zeigte einen sehr ernsten Ausdruck. Er schaute mich noch einmal prüfen...
38 downloads
594 Views
732KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Das Gesicht meines väterlichen Freundes Ignatius zeigte einen sehr ernsten Ausdruck. Er schaute mich noch einmal prüfend an, bevor er sich herumdrehte und etwas sehr Profanes tat. Er ging zu einem Kühlschrank und öffnete ihn! Was er hervorholte, sah ich nicht, da er mir den Rücken zuwandte. Ich bekam noch mit, wie im Kühlschrank eine Klappe zugeschoben wurde. Danach schloss Ignatius die Tür, drehte sich wieder herum, und ich sah, dass er eine Plastikschale in den Händen hielt. Auf der Schale lag ein flacher, rötlich schimmernder Gegenstand. Von der Form her erinnerte er mich an einen ovalen Klumpen. »Komm bitte mit, John.« Father Ignatius ging auf einen Tisch zu. Er war rund und mit wunderschönen Intarsienarbeiten geschmückt. Ignatius stellte die Schale auf den Tisch und winkte mich so nahe wie möglich heran. »Schau es dir genau an, John.« Das tat ich. Der Gegenstand stammte aus dem Eisfach des Kühlschranks. Er war gefroren, und ich hätte ihn als ein Stück rotes oder rötliches Eis bezeichnet. Ich hob etwas verlegen die Schultern. »Sorry, aber ich weiß nicht, was es genau ist. Sieht mir nach Eis aus.« »Das ist es nicht, obwohl es vereist ist.« »Gut. Was ist es dann?« Ignatius schaute mit gerunzelter Stirn auf den Gegenstand. »Es ist Blut«, flüsterte er, »gefrorenes Blut ... « Ich hätte es mir auf Grund der Farbe eigentlich denken können. Ich hatte auch für einen Moment daran gedacht, aber ich hatte es nicht aussprechen wollen. Eisblut. Gefrorenes Blut. Ich schüttelte den Kopf. Durch meinen Beruf hatte ich viel mit Blut zu tun, besonders dann, wenn ich mich auf der Jagd nach Vampiren befand, aber zu Eis gewordenes Blut hatte ich noch nicht kennen gelernt. Father Ignatius wartete auf eine Antwort, auch wenn er nichts sagte. Er sah, dass ich mit den Schultern zuckte. »Es ist natürlich schwer zu erklären und auch zu verstehen. Aber ich sehe keinen Grund, dir nicht zu glauben, Ignatius. Ist das auch das Motiv dafür gewesen, dass du mich gebeten hast, nach Rom zu kommen?« »Genau das habe ich gemeint.« Es war in diesem großen Raum mit der hohen Decke und den quadratischen Fenstern nicht so kalt wie im Eisfach eines Kühlschranks. Das machte sich auch bei diesem ungewöhnlichen Fundstück bemerkbar. Das Eis begann zu tauen. Es wurde an der Oberfläche zuerst wässrig, und auch an der Unterseite zeigten sich die ersten Wassertropfen, die eine rosige Farbe aufwiesen. Ich wusste nicht, was der Mönch damit vorhatte. Die Schale deutete darauf hin, dass er es auftauen wollte. Es war klar, dass es mit dem Blut eine besondere Bewandtnis haben musste, aber ich wusste nicht, ob es bereits analysiert worden war. Genau diese Frage stellte ich Ignatius. Der Mann mit den kurz geschnittenen grauen Haaren schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe es nicht in einem Labor analysieren lassen, sondern dich geholt.«
Diesmal musste ich lächeln. »Dann weißt du auch, was es mit dem Blut auf sich hat oder auf sich haben könnte?« »Ich denke es mir.« »Ist es normales Blut!« »Was ist normal?«, antwortete Ignatius mit einer Gegenfrage. »Es ist jedenfalls gefroren. Es wurde zu Eis, was man sich überhaupt nicht erklären kann. Ich habe es auch nicht hier im Kühlschrank zu Eis gefrieren lassen, ich habe es gefunden. Verstehst du? Blut wurde hier in Rom im Heiligen Jahr gefunden.« »Als Eis ... « Ignatius wiegte den Kopf. »Ja, vereist. Das Blut ist gefroren. Es gibt doch dieses Sprichwort, das besagt, bis das Blut gefriert. Und das ist zu einer bitterbösen Wahrheit geworden. Hier ist das Blut gefroren, und das ist nicht normal. Da stecken andere Mächte dahinter. Davon gehe ich einfach aus.« Ich fragte nicht nach den Mächten, sondern erkundigte mich, wo der Blutklumpen gefunden worden war. »In einem Taufbecken.« »Bitte?« »Ja, im Taufbecken einer Kirche. Das Wasser war nicht nur zu Blut geworden, es ist sogar gefroren gewesen. Als hätte uns die Hölle ein Zeichen setzen wollen. Du weißt, dass das Heilige Jahr gefeiert wird. Bisher ist es störungsfrei abgelaufen, nun aber befürchte ich Schlimmes. Und ich weiß auch, dass es an anderen Orten ebenfalls diese ungewöhnlichen Funde gegeben hat.« »Dann hat es jemand geschafft, normales Wasser in Blut zu verwandeln. Oder irre ich mich da?« »Nein, ich denke nicht. Oder man hat Wasser gegen Blut ausgetauscht. Ich frage mich nur, wessen Blut es gewesen sein könnte. Ich glaube nämlich nicht, dass es einem Menschen gehört. Für mich gibt es da nur eine Lösung.« Die nahm ich ihm vorweg. »Dämonenblut!« »Genau, John!« Wir schwiegen beide und schauten dabei zu, wie der gefrorene Blutklumpen immer mehr auftaute. Es war so wässrig geworden, dass er bereits im rot gefärbten Wasser schwamm. Dadurch war es natürlich dünner geworden. Wie Soße breitete es sich in der Schale aus. »Du hast von anderen Orten gesprochen, an denen man das Blut fand. Wo ist das gewesen?« »In mehreren Dörfern, John. In den Kirchen und Kapellen. Immer nur wenig, aber das wenige kann auch zu einer Masse werden. Ich denke wirklich an einen Großangriff des Teufels. Mehr kann ich leider noch nicht sagen. Wir stehen vor einem Rätsel. Die Presse hat noch keinen Wind davon bekommen. Ich fürchte allerdings, dass diese ersten Funde zunächst nur ein Anfang gewesen sind. Das dicke Ende kann nachkommen. Hier ist jemand dabei, mit dämonischem Blut zu experimentieren. Ich bin sehr froh, dass du gekommen bist, John, so können wir vielleicht noch etwas retten.« »Du setzt aber viel Vertrauen in mich.« »In wen hätte ich es sonst setzen können? Du bist der Experte.« »Aber nicht für Blut.« »Stimmt.« Er ließ nicht locker. »Doch du hast dein Kreuz, John. Das ist wichtig.« Ich hatte es mir schon gedacht, dass es darauf hinauslaufen würde, aber ich stellte zuvor noch eine Frage. »Da dies nicht das erste veränderte Blut ist, dass dir untergekommen ist, Ignatius, fragte ich mich, ob du nicht schon selbst irgendwelche Tests durchgeführt hast.« »Vergebens.«
»Mit Kreuzen?« »Natürlich. Mit verschiedenen geweihten Gegenständen. Aber ich habe keinen Erfolg erzielen können. Nichts war stark genug, um das Blut aus der Reserve locken zu können, wenn ich das mal so locker formulieren darf. Da habe ich an dich gedacht. Du bist jetzt so etwas wie ein Retter in der Not. Oder meine letzte Hoffnung. Wenn das Kreuz auch nicht funktioniert, weiß ich wirklich nicht, was ich noch alles unternehmen soll. Nun ja, ich überlasse es dir.« Father Ignatius zeigte sich besorgt. Zwar stand ich allein bei ihm, aber ich war nicht allein nach Rom geflogen. Sheila und Bill hatten mich begleitet. Sie wollten sich nicht in meine Arbeit einmischen - hatten sie jedenfalls gesagt -, sie wollten die Ewige Stadt genießen. Ob das gelang, war fraglich. In den Vatikan zu Father Ignatius hatte ich die beiden nicht mitgenommen. »Nun?« Ich lächelte meinen alten Freund an. »Ja, ja, ich weiß, dass es dich drängt.« »Sehr sogar.« Er hatte ruhig gesprochen und war dafür innerlich nervös. Trotz der Kühle im Raum lagen Schweißperlen auf seiner Stirn, und sein Blick war starr auf die Schüssel gerichtet. Ich holte das Kreuz mit der üblichen Bewegung hervor, indem ich die Kette über den Kopf streifte. Für einen Moment ließ ich den wertvollen Talisman auf meinem Handteller liegen. Ignatius sah ihn. Über sein Gesicht lief ein Strahlen hinweg. Er wusste, dass ich der Sohn des Lichts und wahrscheinlich der letzte Träger des Kreuzes war, das eine lange Odyssee hinter sich hatte und aus der tiefen Vergangenheit stammte. »Fertig?«, fragte er leise. »Sicher.« Der Blutklumpen hatte sich jetzt zum größten Teil aufgelöst. Nur noch ein kleiner Rest war fest. Die verflüssigte Masse hatte sich in der Schüssel verteilt. Sie war dünner als normales Blut. Ich fragte mich, ob ich es hier wirklich mit Dämonenblut zu tun hatte. Das sah anders aus. Ich hatte es zumindest als grün und auch dickflüssiger erlebt. Wie so oft war das Kreuz auch hier der große Prüfstein. Sollte das Blut tatsächlich dämonischen Ursprungs sein, dann musste mein Kreuz einfach reagieren. Noch spürte ich keine Wärme, die von ihm ausgegangen wäre. Normal kühl lag es in meiner Hand. »Fertig, John?« »Ja.« »Dann bitte!« Es war genau der Moment, auf den es Father Ignatius ankam. Jetzt würde er erfahren, ob er Recht mit seiner Vermutung behalten hatte oder ob alles nur ein Schwindel war. Ich tippte das Kreuz mit dem Ende des unteren Balkens in das Blut hinein. Für einen winzigen Augenblick geschah nichts. Dann aber zischte es. Das Blut begann zu brodeln. Es kochte plötzlich, und im Nu entstanden schwarze, dünne Rauchwolken, die an unseren Gesichtern entlang rieben. Sie rochen verkohlt, verbrannt, sogar nach altem, verfaultem Fleisch. Beide waren wir zurück getreten und hüteten uns, das Zeug einzuatmen, das sich wie ein Pesthauch ausbreitete. Die Kälte war ins glatte Gegenteil umgeschlagen. Plötzlich brodelte die Oberfläche und warf Blasen, die sehr schnell zerplatzten und dabei diesen Rauch absonderten. Er trieb über den Tisch, er breitete sich aus, aber er dünnte auch aus, bis er schließlich ganz verschwunden war. In der Schale köchelte und kochte es weiter. Spritzer glitten in die Höhe, fielen wieder zurück oder benetzten auch den Tisch, auf dem die Schale stand.
Ich hatte kurz die Erwärmung meines Kreuzes gespürt, als der Kontakt entstanden war. Jetzt hatte der Talisman wieder die normale Temperatur angenommen. Nur an der unteren Seite des Balkens klebte eine dünne Kruste, die ich mit dem Fingernagel abkratzte. Ich hörte Father Ignatius heftig atmen. Er stand auf der Stelle wie auf dem Sprung und nickte zu der Schale. »Ich habe es gewusst«, sagte er mit rauer Stimme: »Ich habe es genau gewusst. Mein Gott, das ist der Schrecken. Der Teufel, die Hölle, was immer auch dahintersteckt, sie haben einen Angriff vor.« Ich widersprach ihm nicht und näherte mich der Schale. Das Blut war noch da. Nur sah es anders aus. Es bedeckte jetzt den Boden als dunkelrote und auch schwarze Schicht. Klebrig, noch nicht ganz hart und mit einer Kruste bedeckt. Der Rauch hatte sich verflüchtigt. Dennoch lag der Geruch auch weiterhin in der Luft. Ich senkte meinen Kopf und hielt die Nase über die Schale. Widerlich, dieser Gestank. Nach altem Fleisch. Nach Leichen, die verwest waren. Das war kein normales Blut. Man konnte schon den Begriff Dämonenblut verwenden. Ich räusperte mich, um klar sprechen zu können. Dann erst wandte ich mich an Father Ignatius. »Ich denke schon, dass du gut daran getan hast, mich nach Rom kommen zu lassen. Wir werden der Spur nachgehen müssen, und wir sollten dort anfangen, wo das Blut gefunden worden ist.« »Ja, in dieser Kirche.« »Hier in Rom?« »Nein, außerhalb der Stadt. In einem Dorf, einer Kleinstadt. Etwas in den Bergen gelegen.« »Und wo noch?«, fragte ich nach einer Pause. »Wieder nur in kleineren Orten«, erklärte Ignatius. Er schüttelte den Kopf. »Aber etwas steckt schon dahinter. Ich denke da an eine Methode.« »Welche?« »Dass wir das Blut eben in den Dörfern fanden. Und diese Fundstellen liegen nicht weit auseinander. Sie beschränken sich auf ein bestimmtes Gebiet.« »Das wir dann näher in Augenschein nehmen sollten.« »Selbstverständlich.« Ich holte mein Taschenmesser hervor und klappte die Klinge aus. Mit der Spitze fuhr ich über den Blutrest in der Schale hinweg. Er war tatsächlich zu einer Kruste geworden, deren Haut sich aus roten und schwarzen Farben zusammensetzte. Allerdings war das Rot nicht hell, sondern dunkel. Es sah aus, als wäre es mit einem Schmutzfilm bedeckt worden. »Wenn das Blut tatsächlich von Dämonen stammt«, sagte Father Ignatius, »so frage ich mich, von welchem? Wer ist von ihnen vernichtet und ausgeblutet worden? Warum hat man es in die Kirchen gebracht? Was will man damit beweisen?« »Macht«, sagte ich. »Reine Macht. Man will zeigen, dass man noch vorhanden ist.« Ignatius blieb die Luft aus. »Die Hölle oder den Satan begreifen ist nicht einfach. Ich denke auch an die Menge. Es ist ja nicht wenig Blut, das wir fanden. Ich fürchte, uns stehen einige harte Tage bevor.« »Aber nur uns beiden - oder?« Ignatius zeigte sich irritiert. »Wie kommst du darauf?« »Weil ich an die Organisation denke, die bei dir im Hindergrund steht und für die du arbeitest.« »Nein, die Weiße Macht hat nichts damit zu tun. Ich zeige mich dafür verantwortlich.«
Das Stichwort >Weiße Macht< war gefallen. Sie war der Geheimdienst des Vatikans und zudem kein Dienst, der schlief. Die Agenten der Weißen Macht waren in aller Welt unterwegs. Sie gingen dabei normalen Berufen nach. Sie gaben sich nicht zu erkennen, und Father Ignatius gehörte zu den Führern. Er lebte im Vatikan, und ich hatte manchmal den Eindruck, dass er sogar der heimliche Chef war. Früher hatte er im Kloster St. Patrick gelebt. In Schottland, in den Grampion Mountains. Er war auch derjenige, der meine geweihten Silberkugeln für die Beretta herstellte, und das hatte er auch in seiner neuen Funktion nicht aufgegeben. »Es wäre natürlich am besten, wenn wir uns die Schauplätze so schnell wie möglich anschauen«, schlug ich ihm vor und fragte sofort danach: »Wann können wir los?« »Nach dem Mittag?« »Okay, dann gehe ich noch zu Sheila und Bill, die sicher gespannt sein werden.« »Kommen die beiden denn mit?« »Bill würde gern, aber ich kenne Sheila. Sie will mit ihrem Mann Urlaub machen.« »Mir ist es egal. Außerdem ist der gute Bill kein Neuling in diesem Geschäft.« »Das ist er wirklich nicht.« Ich teilte Ignatius noch den Namen des Cafés mit, in dem die Connollys auf mich warteten. Mein väterlicher Freund versprach mir, uns dort abzuholen. Dann brachte er mich zur Tür. Er war sehr nachdenklich geworden und schüttelte mehrmals den Kopf. »Du weißt, John, dass ich trotz allem Optimist bin. Das muss man als Christ sein. Aber in diesem Fall habe ich schon meine Befürchtungen, dass wir etwas auf die Spur gekommen sind, das lieber im Dunkeln hätte bleiben sollen. Versteh mich bitte richtig, ich habe keine Angst um mich, sondern mehr um die Menschen, die ja nichts ahnen.« »Ich auch.« Vor der Schwelle blieb ich stehen. »Sind denn schon Menschen umgekommen?« »Nein, zum Glück nicht. Ich bete auch, dass es so bleiben wird.« »Und wer hat den Blutklumpen gefunden?«, fragte ich. »Der Pfarrer. Er lebt.« »Das gibt uns Hoffnung«, sagte ich und verließ das Gebäude.
Rosannas Zimmer lag in der oberen Etage des kleinen Hauses, was sie ärgerte. Im Sommer war es zu heiß, im Winter oft zu kalt, und wenn sie wegwollte, dann musste sie drei Treppen hinablaufen, um endlich das Haus verlassen zu können. Sie war jung genug, um es locker zu schaffen. Mit achtzehn ist man noch nicht alt. Aber es gab da noch ihre Eltern, die ein scharfes Auge auf sie hatten, obwohl ihre Mutter schon mit siebzehn geheiratet hatte. Aber bei ihr war das eben immer etwas anderes. Der eigenen Tochter wollte sie keine Amouren zugestehen. Doch die Natur ließ sich nicht aufhalten. Auch Rosanna hatte einen Freund. Er hieß Flavio und stammte aus einer der Vorstädte der großen Stadt Rom. Er lebte in einem der Hochhäuser, die man einfach in die Landschaft gesetzt hatte, um so viele Menschen wie möglich unterzubringen. Da hatte Rosanna es besser, auch wenn sie ihre Eltern manchmal wie Wachhunde empfand. Rosanna und Flavio hatten sich für den Abend verabredet. Für den späteren Abend und nach Einbruch der Dunkelheit. Ihre Eltern wollten noch immer, dass sie um Mitternacht zu Hause war, doch daran konnte und wollte sich Rosanna nicht halten.
Ihr Zimmer lag zwar hoch, aber nicht ungünstig. Von ihm aus konnte sie das Haus auch verlassen, ohne von einer anderen Person entdeckt zu werden. Wenn sie aus dem Fenster kletterte und sich auf den schmalen Sims stellte, war es für sie leicht möglich, das tiefer liegende Dach des Nachbarhauses zu erreichen. Es war zum Glück flach wie ein Brett und bot einer TV-Schüssel Platz. War sie erst einmal auf dem Dach, dann brauchte sie nur die schmale Aluleiter zu nehmen, um den Boden zu erreichen. Flavio hatte sie besorgt. Sie war so praktisch, weil man sie zusammenschieben konnte. Bis zum Treffen war noch etwas Zeit. Rosanna betrachtete sich im Spiegel. Was sie sah, machte sie recht zufrieden. Sie war schlank, eher klein als groß, hatte Taille und gut geformte Beine, die durch die enge schwarze Hose betont wurden. Als Oberteil trug sie ein ebenfalls eng am Körper liegendes Top, das den Bauchnabel freiließ, in den sich Rosanna einen silbernen Ring immer dann hineinklemmte, wenn sie mit Flavio verabredet war. Ansonsten ging sie ringlos. Dann ärgerte sich ihr Vater wenigstens nicht. Er sah in jedem Mädchen, das sich beringt oder tätowiert zeigte, schon eine Nutte. Rosanna hatte ein hübsches Gesicht mit einer kleinen schmalen Nase, dunklen Augen, sanft geschwungenen Brauen und einem kleinen Kirschmund. Vor ihrem achtzehnten Geburtstag hatte sie die Haare noch sehr lang getragen, was ihr das Aussehen eines Madonna gegeben hatte. Einen Tag nach dem Geburtstag hatte sich Rosanna die schwarze Flut abschneiden lassen. Sie trug die Haare jetzt kurz und in die Höhe gefönt. Sehr praktisch, der Schnitt. Sie legte etwas Rouge auf und lauschte den Melodien aus dem Radio. Adriano Celentano sang mit seiner Reibeisenstimme. Sie mochte ihn, hatte schon zweimal ein Konzert mit ihm erlebt und kannte auch seine lustigen Filme. Die Lippen zog Rosanna nicht nach. Flavio mochte den Geschmack des Lippenstifts nicht. Er liebte sie natürlich und verehrte sie manchmal wie eine Göttin. Das mochte auch daran liegen, dass er bei Rosanna noch nicht zum Ziel gekommen war. Sie hatte sich ihm bisher stets verweigert. Petting, das war okay, aber ihre Unschuld hatte sie sich von Flavio nicht nehmen lassen. Das wollte sie auch so weit wie möglich hinausschieben. Da hatte sie ihre konservativen Grundsätze. Sie fand sich gut. Noch ein paar Tupfer Parfüm in den Nacken gespritzt, dann war sie bereit. Bevor sie die Leiter unter dem Bett hervorholte, öffnete sie noch die Zimmertür und lauschte in das Haus hinein. Unten lief der Fernseher. Der Ton hallte bis zu ihr hoch. Den Eltern hatte sie nicht gesagt, dass sie noch verschwinden würde. Sie waren der Meinung, dass die Tochter für die Schule lernte, denn der Abschluss stand dicht bevor. Weder der Vater noch die Mutter schauten am Abend nach, ob sie auch im Bett lag. Das Licht ließ sie brennen. Es war nur eine schwache Beleuchtung, die von einer krummen Lampe stammte. Die Großmutter hatte ihr das Kleinod vererbt. Durch eine Lücke zwischen den Sprossen hatte Rosanna ihre Hand geschoben und die Leiter gut festgeklemmt. Den Weg kannte sie im Schlaf. Sie kroch aus dem Fenster und sprang mit einer geschmeidigen Bewegung auf das Dach. Erst jetzt war es kühler geworden. Tagsüber hatte die Hitze wie eine Glocke über dem Ort gelegen. Es war inzwischen Juni geworden, und sicherlich stand wieder ein heißer Sommer bevor. Im Ort selbst gar es keine breiten Straßen. Die Häuser waren dicht zusammengerückt, so dass sich zwischen ihnen nur Gassen bilden konnten. So gab es auch am Tage viel Schatten, den besonders die alten Menschen ausnutzten. In der Nacht war nicht viel los. Wer etwas erleben wollte, der fuhr in das nahe Rom. Dort konnte er die ganze Nacht über den Bär loslassen. Hier oben in den Bergen wurde die Nachtruhe eingehalten. Selbst die Lautstärke der Fernsehapparate wurde zurückgedreht.
Rosanna summte ein Lied vor sich hin - natürlich ein Hit von Adriano Celentano - und bewegte sich auf den Dachrand zu, den sie mit drei Schritten erreichte. Sie schaute in die Tiefe. Flavio war noch nicht da. Er hätte sonst hier gewartet und auch leise gepfiffen. Sie hatten immer nur eine ungefähre Zeit verabredet. Für den jungen Mann war es nicht immer einfach, bei dem starken Verkehr aus der Stadt zu kommen. Besonders nicht im Heiligen Jahr, wo Touristen und Gläubige aus aller Welt in die Ewige Stadt eindrangen. Die Leiter fuhr fast lautlos aus. Sie erreichte den Grund. Rosanna prüfte noch die Standfestigkeit und war zufrieden. Sie hätte auch springen können, aber der Boden war nicht so flach wie das Dach. Da schauten schon an einigen Stellen Steine hervor. Ein falsches Aufkommen, und sie hatte sich leicht den Fuß verstaucht oder sogar gebrochen. Mit geschmeidigen Bewegungen kletterte Rosanna die Leiter hinab. Es war wie immer. Ganz locker. Sie rutschte nicht aus, sie schaffte es leicht, trat mit dem linken Bein zuerst auf den normalen Boden und stieß einen leisen Schrei aus, als sie plötzlich die beiden Hände spürte, die sich um ihre Taille legten. »Überraschung«, flüsterte eine Männerstimme. Rosanna entspannte sich und holte tief Luft. »Dio, du bist es, Flavio.« »Wer sonst?« »Ich weiß nicht. Ich habe mich erschreckt. Ich dachte, du würdest später kommen.« »Es ging besser als ich dachte. Die Straßen waren ziemlich frei. Das habe ich ausgenutzt.« »Super.« Rosanna drehte sich. Sie schaute in Flavios lächelndes Gesicht. Er war vier Jahre älter als sie und wirkte immer noch wie ein großer Junge. Das mochte an seinen lockigen Haaren liegen, die er lang hatte wachsen lassen. Dadurch hingen sie um seinen Kopf wie eine gekräuselte Matte. Die Narbe auf seiner hohen Stirn störte Rosanna nicht. Er war kein Schönling, aber einer, auf den sie sich verlassen konnte. Von Beruf war er Pflasterer, der noch seinen Meister machen wollte. Rosanna hatte ihm mal zugeschaut, wie er die Steine nebeneinander legte. Das sah aus, als wären sie von den Händen eines Künstlers geführt worden. »Ist das alles, Rosanna?« »Wie alles?« Sie wusste, was er meinte, stellte sich jedoch ahnungslos. »Was ist mit einem Kuss?« »Muss das sein?«, fragte sie und verdrehte die Augen. »Ja, es muss«, erwiderte Flavio und riss seine Freundin an sich. Im nächsten Moment brannte der Kuss auf ihren Lippen, und sie öffnete bereitwillig den Mund, damit die Zungen ihr Spiel beginnen konnten. Er war so wild, dass Rosanna ihn zurückdrängen musste, weil sie keine Luft mehr bekam. »He, was ist denn mit dir los?« »Du machst mich eben so scharf.« »Hör doch auf!« »Das stimmt aber.« Sie winkte ab. Jetzt lächelte sie. Es tat ihr gut, wenn er so etwas sagte. Rosanna wusste nicht, ob sie ihm noch lange würde widerstehen können. Sie kannten sich seit sechs Monaten, und auch sie spürte immer mehr den Drang, mit ihm zu schlafen. Schließlich waren beide erwachsene Menschen. »Was hast du vor?« Flavio strich die Haare zurück. »Wir können hier im Ort bleiben, aber auch wegfahren.« »Der letzte Vorschlag hört sich besser an.« »Finde ich auch.« »Wohin sollen wir fahren?« Flavio trat nahe an sie heran und strich erst über ihre Arme, dann über die kleinen Hügel der Brüste. »Wir fahren dorthin, wo wir ganz allein sind.«
»Aha. Dann hast du dir schon etwas ausgesucht.« »Kann man so sagen.« »Und wo?« »Lass dich überraschen.« Rosanna sah das Funkeln in seinen Augen und musste lachen. »Bene, Flavio, ich verlasse mich auf dich.« »Ich habe etwas eingepackt. Eine Flasche Wein, etwas Brot und Käse ... « »Ein Picknick willst du machen?« »So ähnlich.« »Ha. Und das mitten in der Nacht?« »Ist doch romantisch - oder? Nur wir beide ... « »Ja, einverstanden. Öfter mal was Neues. Wo hast du denn deinen Roller abgestellt?« »Am Ende der Gasse.« »Dann lass uns gehen.« Flavio schob noch die Leiter zusammen und drückte sie der Länge nach in eine Mauerspalte. Da war sie gut versteckt und auch noch nicht einmal gefunden worden. Hand in Hand gingen sie los. Es gab nur wenig Licht, und beide mieden die hellen Pfützen. In den Häusern hörten sie die Stimmen der Bewohner. Die meisten Fenster standen offen, um die kühlere Nachtluft in die Räume zu lassen. Dass jemand schlief, war nicht zu hören. Aber sie erfuhren, welche Programme die Leute sahen. Die wechselnden Bilder auf den Bildschirmen füllten die Zimmer mit blassen, huschenden Schatten aus, die wie Geister wirkten. Der Wind war sacht und warm. Er umschmeichelte ihre Gesichter und ließ die längeren Haare des jungen Mannes flattern. Der Roller stand da, wo Flavio ihn geparkt hatte. Er war schwarz lackiert und zeigte an den Außenseiten der beiden Kotflügel gelbe Fratzen mit weit aufgerissenen Mäulern. Einen Helm hatte er mal wieder nicht mit dabei, und darüber ärgerte sich Rosanna jedes Mal. Sie sagte nichts und stieg hinter Flavio auf den Sitz. Mit beiden Händen hielt sie sich an ihrem Freund fest, der sehr langsam startete. Sie rollten noch ein Stück bergab, um die normale Verkehrsstraße zu erreichen, die jeder Fahrer nehmen musste, wenn er den kleinen Bergort durchquerte. Flavio fuhr nicht sehr schnell. Er wusste, dass Rosanna es hasste. Auf sie nahm er immer und gern Rücksicht. Sie ließ sich überraschen. Die Umgebung kannte sie und auch den Ausblick, den jeder bekam, der das Dorf in einer bestimmten Richtung verließ. Er war phantastisch. Sowohl am Tag als auch in der Nacht, wenn das Wetter klar war. Sie sahen eine Lichterglocke, die aus dem Boden zu steigen schien und sich gegen die Himmel drängte. Es waren die Lichter der Stadt Rom, die sich in der Ferne abzeichneten und auf manche Betrachter wie ein soeben gelandetes UFO wirkten. Rosanna liebte den Ausblick. Sie kannte ihn seit ihrer Kindheit, doch sie würde sich niemals daran satt sehen können. Er war einfach zu schön. Die Stadt selbst mochte sie nicht besonders. Sie war ihr einfach zu hektisch. Flavio fuhr langsam weiter. Das Ziel war nicht mehr weit. Er wollte zu den alten Ruinen hin, die nicht weit entfernt lagen. Vor langer Zeit hatten dort die Etrusker gelebt. Zwar hatte der Mantel der Zeit die meisten Städte zugedeckt und zugeschüttet, aber einige Ruinen waren noch gut erhalten. Man hatte sie ausgegraben und restauriert.
Besonders gut war dies bei dem alten Brunnen gelungen. Ein richtiges Kunstwerk hatten die Archäologen dort freigelegt. Sie hatten sogar im Brunnen Gegenstände des täglichen Lebens gefunden, mit denen die Etrusker sich damals umgeben hatten. Auch an der freigelegten Außenmauer des Brunnens waren Hinweise auf die spirituelle Kultur des Volkes gefunden worden, Bemalungen, deren Farben man sogar noch hatte freilegen können. Es war kein weites Feld. Man hätte es sicherlich noch vergrößern können, aber die Grabungen waren aus Geldmangel eingestellt worden. Neue Finanziers hatten sich noch nicht gefunden. Eine Raupe hatte an einer bestimmten Stelle das Gelände gut planiert. Dort konnte auch ein Fahrzeug herfahren, ohne von herumliegenden Steinen oder anderen Hindernissen gestört zu werden. Kein Fahrzeug war ihnen entgegengekommen. Sie waren auch nicht überholt worden. Man schlief in dieser Gegend. Die nächtliche Ruhe war den Menschen heilig und nicht so wie in Rom. Flavio bog nach links ab. Die Reifen rutschten über den Rand der Straße hinweg. Vor ihnen lag jetzt die planierte breite Bahn, die der Roller locker hochfuhr. Der Brunnen war schon zu sehen. Er bildete praktisch die Mitte der Ausgrabungsstätte und ragte wie ein runder Kegel aus dem Boden hervor. Ihn umstanden die anderen Reste der Siedlung. Hausmauern mit Fensteröffnungen. Auch Wohnungen, die tiefer im Boden lagen und mehr an Schächte erinnerten. Es waren Treppen und auch Wasserleitungen freigelegt worden. Ein genau geplantes Netzwerk verschiedener Rinnen, durch das die Flüssigkeit laufen konnte. Da hatten die Etrusker sehr von den alten Römern gelernt. Die planierte Stelle endete in der Nähe des Brunnens, wo die beiden anhielten. Der Motor verstummte mit einem letzten Stottern, dann fiel die schon atemlose Stille über die beiden jungen Menschen hinweg. Diese Ruhe empfand Rosanna stets als etwas Besonderes. Sie liebte es, in sie hineinhorchen zu können, und manchmal hatte sie das Gefühl, als könnte die Stille sprechen und ihr eine Botschaft bringen. Das war Einbildung, doch Rosanna gab sich eben gern diesen Gedanken hin. Flavio hatte den Roller auf den Ständer gestellt. Er trat zu seiner Freundin und umarmte sie von hinten, während er über ihre Brüste streichelte. »Ist das nicht herrlich?«, fragte er leise. »Wen oder was meinst du? Die Stille oder mich?« »Beides.« Rosanna umfasste die Gelenke und drückte die Arme nach unten. »Wollten wir nicht ein Picknick machen?« »Das hatte ich vor.« »Dann mal los.« »Hast du denn schon Hunger?« Rosanna lachte ihn an. »Schon wieder habe ich Hunger.« Dabei tänzelte sie auf den Roller zu. Dort war an der Rückseite die Box mit den Lebensmitteln befestigt. Flavio half ihr dabei, die Box zu lösen. Sie stellten sie auf den Boden und öffneten den Deckel. »Ah«, sagte Rosanna und saugte den Geruch des Käses ein. »Das riecht ja super.« »Dazu gibt es Wein und Brot.« »Richtig.« »Und Tomaten!«, rief sie. »Reif und frisch.« Beide priesen ihr Essen an wie die Markfrauen und freuten sich dabei diebisch.
Sogar an eine Decke hatte Flavio gedacht, worüber sich seine Freundin wunderte. »Du kannst ja richtig fürsorglich sein«, sagte sie und fragte keck: »Gehört das bereits zu deiner Abnabelung vom SingleDasein?« »Wieso?« »Wirst du Hausmann?« Er verdrehte die Augen. »Nein, nein, so schlimm wird es mich nicht treffen - ehrlich.« »Wäre nicht unübel.« »Ha, erwischt. Du denkst schon an eine Hochzeit, wie?« Rosanna gab keine Antwort und war auch froh, dass ihr Freund nicht sah, wie rot sie wurde. In der Tat hatte er einen schwachen Punkt bei ihr getroffen. Sehr beschäftigt breitete sie die helle Decke neben dem Brunnen aus und holte den Käse, das Brot und die Tomaten aus der Box. Um den Wein und die Gläser hatte sich bereits ihr Freund gekümmert. Er war auch dabei, die Flasche zu öffnen. »Ha«, sagte er und ließ Wein in das erste Glas gluckern. »Der sieht aus wie Blut.« Rosanna schüttelte den Kopf. »Du kommst mir vielleicht mit Vergleichen. Bitte, hör auf damit.« »Wieso? Was stört dich?« »Das Wort Blut.« »Und warum?« »Ach, ich weiß auch nicht. Es geht ein Gerücht im Dorf um.« »Davon hast du mir aber nichts erzählt.« »Das weiß ich. Deshalb sage ich es dir jetzt. Angeblich soll man im Taufbecken der Kirche Blut gefunden haben. Das hat zumindest Camino, der Pfarrer gesagt.« Dem jungen Mann blieb vor Staunen der Mund offen. »Bitte?«, hauchte er, »habe ich richtig gehört? Im Taufbecken war statt Wasser Blut?« Rosanna nickte nur. »Aber wieso? Weiß man denn, wer es hineingekippt haben könnte?« Er musste lachen, aber es klang nicht echt. »Das ist eine Schweinerei. Ich bin ja auch für manchen Spaß zu haben, doch Blut im Taufbecken ... vielleicht Menschenblut?« »Ich kann es dir nicht sagen, Flavio. Aber es ist Blut gewesen. Da müssen wir uns schon auf die Aussagen des Pfarrers verlassen. Deshalb hat es mich geschüttelt, als du den Wein mit Blut verglichen hast. Alles klar?« »Kann ich sogar verstehen.« Er zog die Schultern hoch. »Ein mit Blut gefülltes Taufbecken ist schon ein Hammer.« »Und es ist nicht alles gewesen«, fügte Rosanna hinzu. Sie stand da und schaute traumverloren auf die Decke mit den Lebensmitteln. »Es hieß, dass dieses Blut zu Eis geworden ist. Es war also nicht flüssig, sondern gefroren. Überleg mal. Du findest plötzlich in einem Taufbecken gefrorenes Blut.« »0 Scheiße. Und das mitten im Sommer.« »Genau.« Rosanna setzte sich Flavio gegenüber auf einen viereckigen Stein. Die Beine winkelte sie an, und ihre Ellenbogen stützte sie auf die Knie. Selbst die Gänsehaut war nicht zu übersehen. »So etwas geht doch nicht mit rechten Dingen zu, finde ich.« Ihr Freund sagte nichts. Er schenkte ihr das Glas halbvoll und reichte es rüber. Rosanna nahm es mit leicht zitternder Hand entgegen. »Was sagst du dazu?« »Erst mal, dass ich Hunger und Durst habe.«
»Komm, sei mal ernst.« Ihr gefiel das Grinsen auf Flavios Lippen nicht. »Was soll ich dazu sagen? Ich habe keine direkte Meinung. Ist denn überhaupt sicher, dass es sich bei dem Fund um Blut gehandelt hat?« »Sagt der Pfarrer.« »Klar doch, die sagen immer viel, wenn der Tag lang ist.« Rosanna stand dem Geistlichen bei. »Er soll ziemlich durcheinander gewesen sein.« »Auch klar. Und wo befindet sich das Blut jetzt?« »Keine Ahnung. Kann sein, dass der Pfarrer es weggeschafft hat. Zur Untersuchung oder so.« »Schon möglich.« Er hob sein Glas an. »Sollen wir uns deswegen den Appetit verderben lassen?« »Nein, auf keinen Fall.« »Also. Salute.« Flavio streckte seinen Arm noch weiter aus, damit die beiden Gläser sich berühren konnten. Sie lauschten dem hellen Klang, und Rosanna konnte auch wieder lächeln. Nicht nur das, sie trank den ersten Schluck, denn sie hatte ihren Ekel überwunden. »Gut?«, fragte Flavio. »Klasse.« »Ist auch ein alter Barolo.« »Woher hast du den denn?« »Mein Geheimnis.« »Sag schon.« »Nein!« »Geklaut?« Flavio schaute sie treuherzig an. »Traust du mir das denn zu, meine Liebe?« Sie hob die Schultern und spreizte die Arme. »Meine Mutter sagt immer, dass alle Kerle lügen.« »Aber ich doch nicht.« »Das war schon die erste Lüge. Ist auch egal. Hauptsache der Wein schmeckt.« »Und das Essen auch.« Beide nahmen sich den Käse vor und auch die Tomaten. Mit einem Taschenmesser viertelte Flavio sie, denn an Bestecke hatte er nicht gedacht. Was ihrer Freude am Picknick allerdings keinen Abbruch tat. Sie fühlten sich super. Sehr schnell war die Flasche Wein bis zur Hälfte geleert. Bei ihnen stieg die Stimmung. Hinzu kam noch dieser prächtige Himmel über dem Land. Das war ein gewaltiger dunkelblauer See, der keinen Anfang und kein Ende zu haben schien. Zudem besprenkelt mit zahlreichen Diamanten, deren Glanz Menschen zu Träumern werden lassen konnte. Da flog die Phantasie weit, weit weg. Hinein in die andere Welt. Da stellte man sich vor, wie es Millionen von Lichtjahren entfernt wohl aussah. Rosanna hockte auf ihrem Stein, den Blick gegen den Himmel gerichtet und ließ ihre Gedanken wandern. Es waren gute Gedanken, denn das Lächeln hatte sich auf ihren Lippen festgeklebt. Eine wunderbar romantische Nacht, fast schon kitschig schön, und sie war mit dem jungen Mann, den sie liebte, allein. Hier bewahrheitete sich tatsächlich der Text so manchen Schlagers. Sie merkte auch, dass ihr Widerstand dahinschmolz und sie sich auch hier auf der Decke entjungfern lassen würde. Rosanna senkte nach einer Weile den Kopf und drehte ihn dann nach links. Sie schaute Flavio an, der mit dem Rücken zum Brunnen hin saß. Über sein Gesicht flossen Schatten, die nicht so dicht waren, um das Funkeln in seinen Augen zu überdecken.
»Woran hast du gedacht?«, fragte er. Rosanna erschrak. Sie fühlte sich wie ertappt. Zum Glück sah er nicht, dass sie schon wieder rot wurde. »An das gleiche wie ich?« »Keine Ahnung.« »Du lügst.« »Na und?« »Komm, trink noch einen Schluck Wein. Dann sieht die Welt gleich ganz anders aus.« »Du willst nur, dass ich betrunken werde, um dann leichteres Spiel zu haben.« »Wieso? Wobei denn?« »Tu nicht so erstaunt.« Sie hielt ihm trotzdem das Glas hin. Während er den roten Wein hineinfließen ließ, schaute er in ihr Gesicht. Am Ausdruck der Augen erkannte Flavio, dass ihr >Widerstand< schon so gut wie gebrochen war. Noch in der Nacht konnte es passieren. Er hatte bestimmt nichts dagegen. Sie stießen wieder an und lauschten dem Klang nach. Dann tranken sie. Rosanna wusste, dass sie schon etwas zuviel getrunken hatte. Zwar schwamm sie noch nicht weg, aber da gab es eine gewisse wohlige Wärme, die sich in ihrem Innern ausgebreitet hatte. Es war kein schlechtes Gefühl, und es gefiel ihr auch. Der Käse und die Tomaten waren gegessen worden. Es lagen nur noch einige Brotscheiben auf der Decke. »Und jetzt?«, fragte Flavio. Er wollte sich erheben und zu Rosanna hingehen, aber schon im Ansatz der Bewegung stoppte er, weil er das heftige Kopfschütteln seiner Freundin gesehen hatte. »He, was ist?« Rosannas dunkle Augen weiteten sich noch mehr. »Da ... da ... war was«, flüsterte sie. »Und was?« Sie schaute sich unbehaglich um. »So ein komisches Blubbern oder Gluckern.« »Unsinn, du ... « »Doch, doch ... « Nach diesen Worten waren beide still. Sie saßen da und lauschten und schraken dann beide zusammen, weil sie das Geräusch gemeinsam gehört hatten. Tatsächlich blubberte es. Und dieser ungewöhnliche Laut war aus dem Brunnen gedrungen ...
Plötzlich war die gute Stimmung zwischen ihnen weg. Sie schauten sich starr an, und es war Flavio, der den Kopf schüttelte. »Geirrt habe ich mich nicht, und du hast dich auch nicht geirrt. Ich kann mir nur nicht vorstellen, woher das komische Blubbern gekommen ist.« »Aus dem Brunnen.« »Klar, Mann, aber der ist leer. Oder glaubst du, dass die alten Etrusker noch Wasser hinterlassen haben?« »Bestimmt nicht.« »Eben. Das muss etwas anderes gewesen sein. Ob sich da jemand versteckt hat?«
Flavio wollte lachen, nur blieb diese Reaktion schon im Ansatz stecken. Auch ihm war komisch geworden. Sie saßen sekundenlang still, ohne etwas zu sagen, doch beide bemerkten den kalten Schauer, der über ihre Körper strich. Als hätte ein Windstoß einen Eiskeller verlassen, um sie zu berühren. Es war eine ungewöhnliche Kälte, die auf der Haut prickelte. Sie schien aus zahlreichen Eiskörnern zu bestehen, die jemand gegen sie geworfen hatte. »Das ist doch nicht normal«, flüsterte Rosanna. »Was meinst du?« »Die ... die ... Kälte.« Er zuckte die Achseln. »Denk daran, dass wir nicht am Strand sind. In den Bergen weht schon mal ein Wind.« Entschieden sprach Rosanna dagegen. »Das war kein Wind aus den Bergen. Den kenne ich. Vergiss nicht, wo ich lebe.« »Was war es dann?« »Gute Frage.« Sie blickte sich scheu um. »Als wären irgendwelche Geister erschienen, die uns berührt hätten. Man sagt ihnen doch nach, dass sie kalt sind.« »Tut mir leid, Rosanna, ich habe noch keinen Geist gesehen.« »Aber meine Urgroßmutter, die sehr alt geworden ist und erst vor drei Jahren starb. Sie hat immer ihren verstorbenen Mann gespürt. In der Nacht, um die Tageswende, wenn sie im Bett lag, da ist er dann gekommen und hat sich als kalte Schicht über den Körper der Urgroßmutter gelegt.« Um genau zu sein, zeichnete Rosanna es mit der rechten Hand nach. »Und das hast du geglaubt«? »Gib mir eine andere Erklärung.« »Ich kenne keine. Aber an Geister glaube ich auch nicht. Und nicht an Gespenster.« Genau da hörten sie wieder das Gluckern. Diesmal lauter, als würde es von einem Schwall stammen, der aus der Tiefe in die Höhe schoss. Beide wurden blass. Zugleich drückte wieder dieser kalte Wind gegen sie und hinterließ den Schauer auf ihrer Haut. Flavio fühlte sich gefordert. Mit einem Ruck stand er auf und hätte dabei fast die Balance verloren. Er fing sich wieder. Seine Freundin blieb sitzen. Sie sprach gegen seinen Rücken. »Wo willst du hin? Was hast du vor?« »Nur zum Brunnen.« »Aber gib Acht.» »Klar.« Flavio brauchte nur einen Schritt zu gehen, um den Rand des runden Brunnens zu erreichen. Er legte die Hände darauf, um Halt zu bekommen, als sie sofort wieder in die Höhe zuckten. Der Stein war eiskalt. Wie im Winter, als hätte der Frost eine dünne Schicht darauf hinterlassen. Er sagte nichts von seiner Entdeckung, aber er berührte den Brunnen nicht mehr und neigte sich nur vor, um in die Tiefe schauen zu können. Der Brunnen war tief. Und er war dunkel. Noch finsterer als die Nacht. Wie ein Schacht oder eine Höhle. Er konnte nicht sehen. Tiefe Schwärze hing zwischen den Innenwänden. Er hätte schon eine Taschenlampe haben müssen, aber die lag in seinem Zimmer im Hochhaus. Er hörte Rosannas leise Schritte und spürte die Wärme, als sie neben ihn trat. »Und?«, fragte sie.
»Ich sehe nichts. Ist alles dunkel.« »Das habe ich mir gedacht. Aber warum bist du vorhin so plötzlich zurückgezuckt?« Stoßweise atmete Flavio aus. Weil ... weil ... verdammt, weil der Brunnenrand eiskalt gewesen ist.« »Echt?« »Ja. Du kannst es versuchen.« Rosanna zögerte wie jemand, der sich gewisse Dinge erst noch durch den Kopf gehen lassen muss. Dann hatte sie sich überwunden, hob die Arme an und legte ihre Hände auf den Brunnenrand. Sie war jetzt gewarnt, und sie schrak auch nicht mehr zurück, aber sie blieb starr stehen, und auf dem Gesicht malte sich die Gänsehaut ab. »Was sagst du?«, hauchte Flavio. »Du hast Recht. Das ... das ... Gestein ist tatsächlich so kalt wie Eis. Wie kommt das?« »Woher kam der Wind?« »Ja, stimmt. Keine Ahnung.« Beide waren sprach- und erklärungslos geworden. Sie schauten über den Rand hinweg und in den Brunnen hinein. Rosannas Lippen waren trocken geworden. Sie leckte darüber hinweg, aber auch sie konnte in der Tiefe nichts erkennen. Aber sie hörten das Geräusch. Jetzt waren sie ganz sicher, dass es im Brunnen seinen Ursprung besaß. Es blubberte, und es erreichte sie wie ein böses Echo. In der Tiefe schien sich die Erde geöffnet zu haben, um etwas Furchtbares herauszulassen, das den Blicken der Menschen bisher verborgen geblieben war. Etwas Unheimliches, nicht Fass- und auch nicht Erklärbares. Eine Masse, die bestimmt kein Wasser war, denn das Geräusch hörte sich anders an. Rosanna flüsterte Worte vor sich hin, die sie selbst nicht verstand. Sie merkte auch, dass die Kälte sich noch längst nicht zurückgezogen hatte. Sie stieg von unten hoch. Sie griff nach ihrem Körper und umgab ihn wie ein Etui. »Das ist doch grauenhaft, Flavio. Lass uns gehen. Ich ... ich ... nicht mehr länger hier bleiben. Da melden sich die Toten, die Geister. Oder was auch immer.« Flavio antwortete ihr nicht. Er stand wie unter einer fremden Macht und schien selbst zu Stein geworden zu sein. »Warum gehst du denn nicht weg?« Rosanna hatte Mühe, nicht zu schreien. »Weil da was ist.« »Im Brunnen?« »Ja ... ja ... «, erwiderte er wie geistesabwesend. »Da unten ist wirklich was, und es kommt sogar hoch.« »Du bist verrückt.« »Nein, schau selbst!« Rosanna zögerte. Sie wusste nicht, ob sie ihrem Freund glauben sollte. Aber die Geräusche waren nicht verstummt. Nach wie vor hörten sie das Blubbern und auch Schmatzen, als wäre ein Ungeheuer dabei, sein Maul zu bewegen. Sie beugte sic widerwillig über den Brunnenrand hinweg - und jetzt sah sie es auch. In der Tiefe, vielleicht schon in der Mitte des Brunnens, drängte sich etwas in die Höhe. Es war ebenfalls dunkel, aber nicht so schwarz wie die Leere darüber. Es musste eine Masse sein, die zwar von den Innenwänden eingeklemmt wurde, aber trotzdem schaukelte und an zähes Öl erinnerte.
Das Blubbern war geblieben. Auch die Kälte hielt die beiden fest, und sie merkten jetzt, dass sie tatsächlich aus dem Brunnen zu ihnen in die Höhe drang. Also war die Flüssigkeit so kalt wie Eis, das möglicherweise seinen kalten Nebel in die Höhe schickte, der ebenso dünn wie auch unsichtbar war. Die Masse stieg hoch und höher. Sie war jetzt besser zu erkennen, und es malten sich zudem auf der Oberfläche einige hellere Flecken oder Gegenstände ab. Zugleich erreichte sie der Geruch. Er war sehr plötzlich da, und die beiden hatten sich nicht darauf einstellen können. Deshalb schlug dieser Gestank mit einer regelrechten Wucht gegen ihre Gesichter, und er raubte ihnen den Atem. Keiner der beiden hatte jemals in seinem Leben so etwas gerochen. Es war einfach schlimm und grauenhaft. Der Gestank war nicht zu identifizieren. Alles was schlecht roch musste sich in ihm versammelt haben. Der Geruch nach Verwesung, nach altem Fleisch, aber auch ein süßlicher und zugleich metallischer Geschmack. So sehr sich die beiden auch angeekelt fühlten, so stark waren sie davon fasziniert. Sie kamen einfach nicht weg und hatten ihre Hände auf das kalte Gestein gelegt, als sollten sie dort festfrieren. Auf der Oberfläche dieser Flüssigkeit schwamm tatsächlich etwas. Es war heller, es bewegte sich leicht hin und her. Wenn das Zeug Wellen warf, dann schwappten die Gegenstände zusammen und es war ein hohles Geräusch zu hören. »Wasser ist das nicht«, flüsterte Rosanna, die die Sprache wiedergefunden hatte. »Das ist was ganz anderes. 0 verdammt, ich weiß es!«, rief sie plötzlich. Ruckartig drehte sie den Kopf zur Seite, um ichren Freund anzuschauen. »Blut!«, kreischte sie. »Verdammte Scheiße, das ist Blut. Blut aus dem alten Brunnen ... « Flavio sagte nichts. Er war kein Held. Er war ein normaler Typ. Und cool war er höchstens in den Discos und bei seinen Freunden. Rosanna hatte Recht. Das war kein Wasser. Das war auch kein Öl. Das konnte nur Blut sein, und es stank auch irgendwie wie altes Blut. Jedenfalls ging der junge Mann davon aus. Es schwappte weiter hoch. Auf der Oberfläche erschienen Blasen, die Halbkugeln bildeten, um dann wieder zu zerplatzen. Kleine Spritzer oder Tropfen blieben dann für winzige Augenblicke in der Luft stehen, bis sie wieder zusammenfielen. Nicht nur Blasen brachte die Flüssigkeit mit. Sie hatte aus der Tiefe des Brunnens noch etwas hervorgeholt, das seit langer Zeit dort gelegen haben musste. Beide fühlten sich in einen Horrorfilm versetzt, als sie jetzt endlich erkannten, was auf der Oberfläche schaukelte. Bleiche Knochen ... Gebeine - der Teil eines Gerippes. Ein kleiner Skelettschädel, auch Knochenarme und ebensolche Beine. Die Rest eines oder mehrerer Menschen. Ein Schädel lag so, dass sie direkt in die leeren Augenhöhlen schauen konnten. Rosanna war vor Entsetzen starr geworden. Nie hätte sie gedacht, dass ein derartiger Schrecken einmal wie ein Blitz in ihr Leben würde einschlagen können. Sie wunderte sich darüber, dass sie noch sprechen konnte. Nur mühsam stieß sie die Worte hervor, und der Satz war nichts anderes als ein abgehacktes Flüstern. »Das ist doch nicht wahr, Flavio! Verdammt, sag, dass es nicht wahr ist!« »Hör auf!« »Warum?«
»Das ist kein Traum. Wie auch die Kälte. Wir bilden uns beide nichts ein.« Er hatte Recht. Rosanna konzentrierte sich allmählich wieder auf sich selbst. Sie spürte, dass ihr Herz viel schneller schlug als gewöhnlich, aber es arbeiteten auch die Gedanken. Wieder fiel ihr das Gerücht ein. Das kalte Blut im Taufbecken, von dem der Pfarrer gesprochen hatte. Es war so unvorstellbar, und Rosanna hätte es niemals geglaubt. jetzt sah die Sache anders aus. Vor ihr schwamm das alte Blut. Es war nicht nur kalt, es stank auch widerlich, als befänden sich darin versteckt noch irgendwelche Menschen, deren Körper allmählich verwesten. Das bekamen sie nicht zu sehen. Es blieb bei den Knochen, die auf der Oberfläche schwammen. Die Masse stieg nicht mehr. Es war auch kaum möglich. Bei einem weiteren Anstieg wäre sie über den Rand des Brunnens geschwappt. Diesmal war es Flavio, der die Starre als erster abstreifte. Er umfasste den Arm seiner Freundin. Er übte nur einen leichten Druck der Finger aus, aber Rosanna verstand das Zeichen. Sie wollten hier weg. Sie mussten weg, denn wer konnte schon sagen, was da noch alles passierte. Sie ging zurück, ohne auch nur einen Blick über die Schulter zu werfen. Dass auf der Decke die noch nicht leere Flasche stand, sah sie nicht. Mit der Hacke stieß Rosanna dagegen. Die Flasche kippte um, der Rest des Weins ergoss sich über die helle Decke hinweg, die nun aussah wie in Blut getaucht. Aber das schwere Blut war nicht übergeschwappt. Es blieb innerhalb des Brunnens und drang auch nicht über den Rand hinweg. Auf ihm schwammen die Gebeine zwischen den Blasen, die noch immer blubberten und zerplatzten. Rosanna warf sich in Flavios Arme. »Bitte«, flüsterte sie, »bitte, ich ... ich will weg. Ich kann nicht mehr. Verstehst du?« Er streichelte ihr über das Haar und auch über den Rücken. »Ist schon klar. Es ist alles in Ordnung. Wir haben es geschafft.« »Ich will auch nichts wegräumen. Nur nicht mehr bleiben. Bitte, ich ... ich kann nicht.« Flavio konnte sie verstehen. Ihm erging es nicht anders. Auch ihn hatte die Furcht gelähmt. Obwohl in seinem Innern die Hektik wahre Triumphe feierte, bewegte er sich langsam. Er wollte alles der Reihe nach machen. Nur nicht durchdrehen. Er ging zu seiner Maschine und wollte schon den Ständer lösen, als er Rosannas leisen Ruf vernahm. Es war mehr ein Schrei, der im letzten Augenblick erstickt wurde, aber er zwang den jungen Mann, seinen Kopf zu drehen. Rosanna stand fest wie eine Säule auf ihrem Platz. Sie hatte den rechten Arm halb erhoben, den Zeigefinger ausgestreckt und deutete auf eine bestimmte Stelle. Zuerst glaubte er, sie würde ins Leere zeigen, doch das stimmte nicht. Als er genauer hinsah, da fielen ihm die Bewegungen in der Dunkelheit auf. Um den Brunnen herum standen mehr oder weniger weit entfernt die alten Ruinen. Im ersten Moment hatte er den Eindruck, als wären sie dabei, sich zu bewegen. Nein, so weit ging der Zauber nicht. Aber es bewegten sich andere, und er fragte sich, ob das tatsächlich noch Menschen waren ... Beim ersten Hinsehen sahen sie aus wie Mönche. Männer, die in Kutten steckten, die eigentlich viel zu groß waren. Sie hatten sie um ihre Körper geschlungen und bewegten sich lautlos über das alte Ruinenfeld hinweg. Sie kamen von drei verschiedenen Seiten. Nur die Seite, an der sich die beiden jungen Menschen aufhielten, blieb leer. Mönche? Menschen?
Weder das eine oder das andere kam für Flavio in Betracht. Auch wenn er seine Freundin auf Grund ihres Aberglaubens vor kurzem noch ausgelacht hatte, jetzt würde er das nicht mehr tun, denn diese Gestalten waren seiner Meinung nach Gespenster. Er wusste dafür keinen anderen Ausdruck. Nur Gespenster konnten sich so lautlos bewegen wie sie. Oder auch Geister. Aber Geister sahen wohl anders aus und waren heller. Um die beiden Zuschauer kümmerten sich die Ankömmlinge nicht, obwohl sie nicht zu weit vom Brunnen entfernt standen. Ihr Ziel war der Brunnen. Als die erste Gestalt ihn erreicht hatte, legte sie ihre Hände auf den Rand. Bei der Berührung erklang ein leises Zischen. Für einen Moment stieg heller Rauch wie der kalte Atem in die Höhe, aber mehr geschah nicht. Im Licht der Sterne wirkte alles noch unheimlicher, als es tatsächlich war. Die alten Mauern warfen Schatten, und aus ihnen hervor wuchsen die Gespenster. Es war nichts zu hören, was sie etwas menschlicher gemacht hätte. Weder das Geräusch der Schritte noch das Rascheln des Stoffs oder eine flüsternde Stimme. Ruhig und wie ferngelenkt näherten sich die Gestalten dem Brunnen. Für sie war er ein wichtiges Ziel. Als alle den Rand erreicht hatten, streckten sie zuerst ihre Hände vor, um sie einen Moment später nach unten zu drücken. Flavio wusste nicht, ob er Hände sah, Knochenklauen oder überhaupt nichts. Es musste jedoch etwas vorhanden sein, sonst hätte er nicht das Plätschern gehört, das entstand, als die Gestalten die Hände in die Flüssigkeit getaucht hatten. Normale Menschen wären an einen Brunnen gegangen, um sich die Hände in seinem Wasser zu waschen. Taten diese Gestalten das auch? Reinigten sie Hände mit Blut? Er erhielt keine Antwort. Dafür änderte sich die steife Haltung der unheimlichen Besucher. Sie drückten wie auf Befehl hin gemeinsam die Oberkörper nach vorn, sodass ihre Gesichter beinahe die Oberfläche berührten. So hielten sie inne. Dann bewegten sie wieder die Arme. Wie ein normaler Mensch sich Wasser in sein Gesicht schaufelt, um sich zu reinigen, wuschen sich diese Gestalten mit dem Blut. Es war unglaublich. Flavio merkte, dass er unwillkürlich den Kopf schüttelte. Er sah auch keine Gesichter in den Ausschnitten der Kapuzen. Nur eine dichte Schwärze, in die die Gestalten das Blut hineinschleuderten. Sie wuschen sich. Sie schluckten das Blut. Sie taten Dinge, die völlig unverständlich waren. Es gab keine normale Erklärung für dieses Phänomen. Und Flavio wollte sie auch nicht. Er freute sich nur darüber, noch am Leben zu sein und dass er sich bewegen konnte, und so drehte er sich zu seiner Freundin hin um. Sie war ebenso geschockt wie er und zitterte. Das Zittern hörte auch nicht auf, als Flavio sie anfasste und sie zu sich heranzog. Sie schaute ihm ins Gesicht und blickte trotzdem ins Leere. Obwohl der Roller in seiner unmittelbaren Nähe stand, traute Flavio sich nicht, den Motor anzulassen. Er fürchtete sich davor, die Gestalten bei ihrem Tun zu stören und sie erst recht auf sich aufmerksam zu machen. Deshalb schob er den Roller zunächst vor. Das nur mit einer Hand. In der Not gelang eben viel. Mit der anderen zog er seine Freundin nach. So kamen sie weg, und sie drehten sich auch nicht um. Es war mehr ein Eiertanz für sie als ein normales Gehen. Bei jedem Schritt fürchteten sie sich davor, dass es sich die fremden Gestalten anders überlegen konnten und die Jagd auf sie begann. Zu ihrer Überraschung passierte das nicht. Sie konnten sich vom Zentrum des Grauens fortbewegen, ohne angehalten zu werden.
Auch der Roller schwankte auf der planierten Fläche nicht, und als die beiden den Rand der Straße erreichten, da hatten sie zum ersten Mal das Gefühl, einem schrecklichen Albtraum entwischt zu sein. Beide atmeten frei durch, und Rosanna schaute nicht mehr so starr, denn die Dunkelheit hatte ihr gnädiges Tuch über die Umgebung gelegt. Die Gestalten jedenfalls waren nicht mehr zu sehen. »Steig auf!« »Was?« »Du musst aufsteigen!«, drängte der junge Mann seine Freundin. »Wir müssen so schnell wie möglich von hier verschwinden. Bitte, Rosanna!« »Ja, ja«, murmelte sie wie geistesabwesend. Sie tat, als sähe sie den Roller zum ersten Mal. Sie stieg endlich auf und umklammerte Flavio, der den Motor anstellte. Als er das Geräusch hörte, da rollten kleine Felsbrocken der Erleichterung von seiner Seele. Er hätte jubeln und schreien können. Nun stand für ihn fest, dass sie es geschafft hatten, dem Grauen zu entkommen. Flavio fuhr so scharf an, dass Rosanna trotz des Festhaltens beinahe vom Rücksitz gefallen wäre. Nur durch rasches Nachgreifen gelang es ihr, sich zu halten. Der Staub begleitete sie als Wolke, als sie in Richtung Dorf fuhren. Beide spürten den Fahrtwind. Beide schmeckten den Staub, und beide waren überglücklich, dies zu können. Sie hatten es geschafft und waren dem Grauen entwischt. Rosanna hatte den Kopf gedreht und ihn gegen den Rücken ihres Freundes gedrückt. Ihr Gesicht war so unbeweglich. Es schien aus Stein gemeißelt zu sein. Immer wieder erlebte sie den Schrecken. Sie sah den Brunnen und das viele Blut mir den Gebeinen. Sie konnte auch nicht die schrecklichen Gestalten aus ihrer Erinnerung tilgen und war sich sicher, dass sie erst einen Anfang erlebt hatten ...
Die Conollys hatten auf mich in einem dieser typischen Cafés gewartet, nicht weit vom Vatikan entfernt. Das Grundstück bot genügend Platz für Tische und Stühle, die an der Seite unter dem Blätterdach wuchtiger Eichen standen. Hier ließ es sich aushalten, und auch der Straßenverkehr wirkte nicht mehr so nah. Ich sah sie hinten in der Ecke neben einem blühenden Oleanderstrauch sitzen und ging über den gesprenkelten Boden aus Licht und Schatten. Die Tische waren von Touristen besetzt, die im Heiligen Jahr die Ewige Stadt überfallen hatten und sich ihren Ablass holten, indem sie verschiedene Messen und Stätten besuchten. Zahlreiche Sprachen erreichten meine Ohren. Ich schaute auch in manch exotisches Gesicht. Suko wäre hier auch nicht aufgefallen. Nach der Kühle in den Räumen der Weißen Macht kam mir die Wärme doppelt so stark vor. Ich ließ meine leichte Jacke allerdings an. Die Beretta wollte ich nicht unbedingt offen tragen. »Da bist du ja«, sagte Bill, als er mir einen Stuhl zurechtschob. »Hat ja lange gedauert.« »Es gab auch einiges zu besprechen.« »Und jetzt?« »Habe ich Durst.« Auf einen Kaffee wollte ich verzichten. Wasser war am besten. Ein Kellner hatte mich gesehen. Bei ihm bestellte ich eine große Flasche Wasser, die Connollys entschieden sich für einen halben Liter Rosé, denn Kaffee wollten sie nicht mehr trinken.
Sie waren beide locker und sommerlich gekleidet. Sheila in ihrem hellen Leinenkleid, zu dem sie eine dunkelblaue Kette aus Herzperlen um den Hals gehängt hatte. Die Füße steckten in bequemen Leinenschuhen mit flachen Absätzen, die auch Freund Bill trug, der sich für eine blaue leichte SommerJeans entschieden hatte, wobei das weiße Hemd über den Hosengürtel baumelte. Sheila, mit sommerlichem Kurzhaarschnitt, lächelte mich an und schob dabei die Sonnenbrille etwas nach vorn. »Wenn ich dich so ansehe, John, habe ich das Gefühl, dass dein Urlaub vorbei ist.« »Urlaub? Ich habe davon nicht gesprochen.« »Aber daran gedacht.« »Na ja«, gab ich zu, »ein wenig schon. Doch die Dinge liegen jetzt einfach anders.« »Ignatius hat also keinen falschen Alarm gegeben«, sagte Bill. »So ist es.« Beide Conollys waren gespannt, was ich ihnen zu berichten hatte. Damit ließ ich mir noch Zeit. Zunächst wurde das Wasser serviert, und ich war froh, mich erfrischen zu können. Das Zeug zischte in meine Kehle. Es erfrischte wunderbar und machte mich auch nicht müde wie Wein oder Bier. Ich schenkte mir schnell nach und löste anschließend endlich die Spannung der beiden, als ich ihnen berichtete, was mir bei Ignatius widerfahren war. Auch die Conollys hatten im Laufe der Jahre schon einiges erlebt. Ihnen war nichts Menschliches und auch nichts Dämonisches fremd, doch als sie von dem gefrorenen Blut hörten, da bekamen sie schon einen leichten Schauer, denn das hatten sie auch nicht erwartet. »Blut wie Eis?«, fragte Sheila. »Ich lüge nicht.« »Nein, nein, das habe ich auch nicht angenommen. Aber woher ist es gekommen?« Sie schaute ihren Mann an. »Kannst du dir vorstellen, dass es in einem Taufbecken gelegen hat?« »Nur schwer. Aber wenn John das sagt, wird es schon stimmen.« »Leider.« Ich räusperte mich. »Ein Pfarrer fand es und hat es Ignatius zukommen lassen. Es war kein normales Blut, sondern das eines Dämons oder wie auch immer.« Ich zuckte mit den Schultern. »Somit bin ich an der richtigen Stelle.« Bill tippte auf den Metalltisch. »Aber nicht hier - oder?« »Nein. Ich habe mit Ignatius vereinbart, den Ort des Fundstücks zu besuchen. Wir sind beide der Meinung, dass wir dort ansetzen müssen. Das ist die Quelle.« »Weit von hier?« »Ein paar Kilometer außerhalb in den Bergen. Ein Dorf, malerisch, etwas abgelegen. Ich kenne ähnliche Orte aus früheren Fällen. Das ist genau der Weg, den wir einschreiten müssen.« Bill, der seiner Frau Wein eingeschenkt hatte, runzelte die Stirn. Ich ahnte, welche Gedanken ihn bewegten, und auch Sheila wusste Bescheid. »Sag nur nicht, dass du mitwillst?« »Wäre nicht schlecht.« »Ach!« Sheila regte sich auf und bekam einen roten Kopf. »Warum sind wir dann nach Rom gefahren? Du hast mir versprochen, einiges zu besichtigen. Ich wollte auch etwas Shopping machen, mit dir die schönen Sommerabende genießen, und jetzt hast du alles wieder vergessen, nur weil du der Idee nachhängst, John Sinclair zur Seite stehen zu müssen. Ich habe geahnt, dass es so kommen würde. Es wäre auch ein Wunder gewesen, wenn bei uns mal alles normal ablaufen würde. Immer gibt es irgendwelchen Ärger.«
»Moment mal, Sheila. Die Kirchen, das Pantheon oder die Engelsburg laufen uns ja nicht weg. Die stehen auch noch morgen und in späteren Jahren an ihren Plätzen. Aber das gefrorene Blut ist auf seine Art und Weise einmalig. Zudem habe ich noch etwas Erfahrung, das weißt du selbst.« »Hast du, Bill.« »Außerdem sind wir seit Jahren auch involviert. Das war früher sogar noch stärker. Denk an die Zeit, als die Wölfin noch bei uns lebte. Da haben wir manchmal mehr Angst gehabt. Zudem war Johnny noch klein.« Sheila hatte sich wieder beruhigt. Sie lächelte ihren Mann an. »Klar, Bill, wenn ich dich nicht kennen würde, dann lägen die Dinge ganz anders. Außerdem möchte ich keinen Mann an meiner Seite haben, der mit den Gedanken woanders ist. Meinetwegen kannst du mit John fahren. Ich komme hier allein zurecht.« »Es dauert bestimmt nicht lange - oder?« Der Reporter schaute mich an. »Das weiß ich nicht, Bill. So etwas kann man nie voraussagen. Aber lassen wir das.« Ich sprach Sheila an. »Wenn es dich zu sehr stört, dann wird Bill ... « »Ach nein.« Sie winkte ab und schüttelte den Kopf. »Es stört mich ja nicht so stark. Ich kenne doch meinen Gatten. Wenn der durch die Kirchen und Museen laufen soll, bekommt er ganz schnell dicke Füße und muss unbedingt ein Lokal aufsuchen. Da gehe ich lieber allein, als einen Nörgler neben mir zu haben. Fahrt ihr zusammen mit Father Ignatius in die Berge. Wenn etwas ist, ich lasse mein Handy immer eingeschaltet.« »Gut, dass du es so siehst.« »Bill und ich kennen uns schließlich lange genug.« Sie erhielt von ihrem Mann einen Kuss auf die Wange, danach kam Bill wieder zum Thema. »Wann soll es denn los in die Berge gehen?« Ich schaute auf die Uhr. »Ignatius wollte so schnell wie möglich hier sein. Ich habe ihm gesagt, wo er uns finden kann. Dann geht es los.« »Was ist mit deinem Gepäck?« »Das lasse ich im Gästehaus der Weißen Macht zurück. Ich denke nicht, dass es Tage dauern wird.« Im Gegensatz zu mir wohnten die Conollys im Hotel. Ignatius hatte es sich nicht nehmen lassen, mir eine Bleibe zu besorgen, und man konnte gut dort wohnen. »Wie heißt denn der Ort, in dem ich euch finden kann?«. erkundigte sich Sheila. Ich musste einen Moment überlegen. Dann fiel mir der Name wieder ein. »Limano.« »Nie gehört«, meinte Bill. Auch Sheila schüttelte den Kopf. »Gibt es da denn etwas Besonderes, was auf ein Gefrieren des Blutes hindeuten kann?« Ich sah meinem Freund in die Augen. »Nein, eigentlich nicht. Zumindest hat mich Ignatius darüber nicht aufgeklärt. Kann auch sein, dass er mir nicht alles gesagt hat. Das weiß man ja nie. Aber ich denke schon, dass wir da an der Quelle sind.« »An der Blutquelle.« »Klar, Bill. Die hast du doch erlebt.« Er verdrehte die Augen. »Und wie.« »Habt ihr ein Auto?«, fragte Sheila. »Ignatius wird eines besorgen.« Ich schüttelte mir den Rest Wasser ins Glas und hatte es kaum angehoben, als sich die Gesichter meiner Tischnachbarn zu einem Lächeln verzogen. Da wusste ich, dass Father Ignatius eingetroffen war. Sein Schatten fiel über den Tisch. Er setzte sich auf einen freien Stuhl und wirkte in seiner dunklen Kleidung ein wenig deplaziert. Sehr herzlich begrüßte er die Conollys und erfuhr sehr bald, dass Bill als Unterstützung mit in die Berge kommen wollte.
»Das ist gut, denn du bist ja auch ein alter Hase.« Er wandte sich an Sheila. »Du, ich könnte dir einen Privatführer besorgen, der dir Orte zeigt, die den meisten Touristen verschlossen sind. Wäre das etwas für dich?« »Danke, Father Ignatius, das ist sehr lieb. Aber ich komme schon allein zurecht.« »Wie du meinst, Sheila. Dann werden wir uns eben um das gefrorene Blut kümmern.« Bill war neugierig und fragte: »Hast du schon eine Idee? Weißt du etwas über einen Hintergrund, warum ausgerechnet in Limano das Blut gefroren ist?« Ignatius' Gesicht verdüsterte sich. »Nein, leider noch nicht. Allerdings hat das Dorf auch seine Geschichte wie alles hier in Italien.« »Welche denn?« »Eine etruskische. Hier ist ein Zentrum der Etrusker gewesen. Das hat sich dann später gelegt, als sie sich weiter nach Norden ausbreiteten. Ihre Anwesenheit allerdings mit dem gefrorenen Blut in einen Zusammenhang zu bringen, halte ich für etwas gewagt.« »Ich auch«, sagte Bill. Ich hielt mich heraus und genoss den Schatten unter dem Blätterdach des Eichenbaums. Meine Gedanken gingen bereits in die Zukunft hinein. Ich war davon überzeugt, dass der eisige Blutklumpen erst der Anfang gewesen war ...
Rosanna Fabrini hatte den Rest der Nacht, wenn überhaupt, nur sehr schlecht geschlafen. Ihr waren ein paar Mal die Augen zugefallen, und dann war sie hineingeraten in die Welt der Albträume. Für sie waren sie voller Blut. Sie sah es überall, und sie fühlte sich als Gefangene in einem kleinen Raum, aus dessen Wänden, der Decke und auch dem Fußboden das Blut in wahren Wellen kroch und sie dabei so stark überschwemmte, dass sie Angst hatte, zu ersticken. Von ihrem Freund hatte sie sich noch in der Nacht schnell getrennt. Sie wollte allein sein, obwohl Flavio dagegen gewesen war. Er hatte noch vorgehabt, mit ihr zu reden, doch darauf hatte sie keine Lust. Über die Leiter war sie wieder auf das Dach und anschließend in ihr Zimmer gestiegen. Rosanna hätte noch in die Schule gehen müssen. Sie befand sich im Abschlussjahr und stand vor der Prüfung. Das würde nicht passieren. Sie wäre einfach nicht in der Lage gewesen, dem Unterricht zu folgen. Sie würde Kopfschmerzen vortäuschen und zu Hause bleiben. Der Morgen war bereits angebrochen, als sie endlich etwas tiefer schlief und von ihrer Mutter geweckt wurde, die sich darüber wunderte, dass die Tochter noch nicht aufgestanden war. »Was ist los, Kind? Warum ... ? »Mir geht es nicht gut.« »Du bist krank?« »Kann sein.« Rosanna schaute auf die Uhr. Da sie wenig geschlafen hatte, sah sie schon leidend genug aus. Besorgt schaute die Mutter sie an. Sie hatte dunkles Haar wie Rosanna, aber bei ihr zeigten sich bereits die ersten grauen Strähnen, obwohl die Haut noch jung aussah. Zudem war sie erst fünfunddreißig. »Soll ich einen Arzt holen, Kind?«
»Nein. So schlimm ist es nicht. Aber ich fühle mich so matt. Ich habe Gliederschmerzen und möchte am liebsten nur hier im Bett liegen bleiben. Ich kann nicht in den Bus steigen und in die Schule fahren. Das ist heute unmöglich.« »Aber ich muss auch weg. Ich habe in Rom einen Termin beim Arzt.« Rosanna lächelte. »Das ist nicht schlimm, Mama. Wenn ich mich ausgeruht habe, geht es mir besser.« »Dein Vater kommt heute auch erst spät zurück. Er hat noch eine Parteiversammlung.« »Das macht nichts.« Signora Fabrini verzog weinerlich das Gesicht. »Gern lasse ich dich ja nicht allein, cara mia.« »Doch, das musst du tun, Mama. Ich bin kein Kind mehr. Daran solltest du denken.« »Mein Kind bleibst du immer.« Davon ließ sie sich nicht abbringen und legte ihrer Tochter eine Hand auf die Stirn. »Nein, ich denke nicht, dass du Fieber hast.« »Das möchte ich auch nicht bekommen. Deshalb bleibe ich erst mal im Bett liegen. Morgen ist auch noch ein Tag. Da geht es mir dann bestimmt besser.« »Das will ich hoffen«, erwiderte Signora Fabrini und warf einen hastigen Blick auf die Uhr. »0 ja, es wird Zeit für mich. Ich komme sonst zu spät.« Sie küsste ihre Tochter auf die Wange. »Mach es gut, Rosanna. Ich bin am Nachmittag wieder zurück.« »Da geht es mir bestimmt besser.« »Ich drücke dir die Daumen.« Sekunden später war sie aus dem Zimmer verschwunden. Die Tür allerdings hatte sie offen gelassen, und Rosanna lauschte dem Klang ihrer Schritte, die sehr bald verstummten. Sie war froh, endlich wieder allein zu sein. jetzt konnte sie tun und lassen, was sie wollte. Besonders ging es ihr wirklich nicht, denn die Ereignisse der vergangenen Nackt spukten noch durch ihren Kopf und überschatteten ihr gesamtes Denken. Aber sie hatte sich einen Plan ausgedacht, und den würde sie durchführen. Sie stand auf. Das dünne Nachthemd klebte an ihrem Körper. Was sie jetzt brauchte, war eine Dusche. Das Bad lag nicht auf der gleichen Etage, sondern unten, wo die Eltern wohnten. Hier oben gab es nur zwei Zimmer in diesem schmalen Haus. Das zweite diente als Gästezimmer. Sie stieg die Holztreppe hinab, die immer glänzte. Es war ein Hobby ihrer Mutter, sie sauber zu halten. Manchmal hatte Rosanna das Gefühl, in einen braunen Spiegel zu schauen, der sich bis zur Parterre hin fortsetzte. Im Haus selbst war es so still, dass ihr ein leichter Schauer über den Rücken floss. Sie wurde durch nichts abgelenkt, und deshalb konnten all die Gedanken wieder zurückkehren, die sich mit der vergangenen Nacht beschäftigten. Es war kein Traum gewesen. Sie hatte alles so erlebt. Nichts war hinzugedichtet, und sie spürte, wie sich ihr Magen bei der Erinnerung daran zusammenzog. Ein mit Blut gefüllter Brunnen. Hinzu kam das Gerücht, das im Dorf seine Runde machte und das der Pfarrer weder bestätigen noch dementieren wollte. Hier war einiges aus dem Gleichgewicht geraten, das stand für sie fest. Die göttliche Ordnung hatte sich gelockert. Unheimliche Mächte waren aus irgendwelchen dunklen Reichen an die Oberfläche gekrochen und hatten die Regie übernommen. In ihrer kleinen, überschaubaren Welt war der Frieden gestört.
Im unteren Wohnbereich war der Fußboden mit Steinfliesen belegt worden. Durch die schmalen Fenster schien die Sonne und malte helle Streifen auf die Erde oder die Wände. Fliegen summten in der Stille. Die Tür zur Küche stand offen. Es roch noch nach Kaffee. Der Zugang zum Bad lag in einer kleinen Nische. Erst nach dem Einzug hatte es Rosannas Vater eingerichtet. Sie wollte hingehen und die Tür öffnen, als das Telefon klingelte. Das Geräusch erreichte sie aus dem Wohnraum. Es war das größte Zimmer hier unten. Rosanna öffnete die Tür und lief in das Halbdunkel hinein, denn ihre Mutter hatte wegen des starken Sonnenscheins die Rollos vor die Fenster gezogen. Auch die Möbel waren dunkel und viel zu wuchtig für die Größe des Raums, aber Rosanna hielt sich mit Kritik zurück. Das Mobiliar stammte von den Großeltern väterlicherseits, und ihre Eltern würden nie darauf verzichten. Es hatte bereits fünfmal geklingelt, als Rosanna das Telefon erreichte und abhob. Sie ließ sich in einen daneben stehenden Sessel fallen und flüsterte nur ein »Si ... ?« »Ah, du bist ja doch da.« »Flavio.« Er lachte. »Klar. Ich wusste doch, dass deine Mutter zum Arzt wollte. Hast du mir gestern erzählt.« »Komisch, habe ich vergessen.« Sie strich sich durchs Haar. »Dir geht es nicht gut - oder?« »Nein. Ich habe schlecht geschlafen. Das war eine beschissene Nacht, die ich nicht noch einmal erleben möchte. Aber jetzt geht es wieder. Ich habe meiner Mutter nur erzählt, dass ich mich schlecht fühle. Deshalb bin ich auch nicht in die Schule gegangen.« »Klar, kann ich verstehen. Und wie fühlst du dich wirklich?« »Schlecht.« »Das ist ... « »Kein Grund zur Panik, Flavio. Ich werde den Tag über hier im Ort bleiben ... « Er unterbrach sie. »Und was ist mit heute Abend? Hast du vergessen, dass ich kommen will? Nicht erst in der Nacht. Wenn ich Feierabend habe, dann dusche ich und komme so schnell wie möglich zu dir. Dabei bleibt es doch?« Sie hatte die Besorgnis aus Flavios Stimme herausgehört und gab ihm schnell Recht. »Klar, es bleibt dabei. Sollte etwas dazwischenkommen, werde ich mich melden. « »Okay, dann mach's gut. Und denk nicht mehr zu stark an die vergangene Nacht.« Rosanna lachte scharf in den Hörer. »Das sagt sich so leicht, aber es ist verdammt schwer.« »Du bekommst das schon geregelt. Vielleicht ist auch alles nur ein böser Traum gewesen.« »Glaubst du das?« »Nein, ehrlich gesagt.« »Eben. Es war kein Traum. Wir haben es erlebt. Es geht hier etwas vor. Ich habe das Gefühl, dass Limano von einem Fluch befallen ist. Er hat sich lange versteckt gehabt, nun aber tritt er aus dem Dunkel heraus. Ich denke, dass alle Bewohner Angst haben müssen. Nicht nur ich.« »Ich muss Schluss machen. Du weißt, die Arbeit. Ich küsse dich, cara mia.« »Ich dich auch.« Mehr Worte wechselten die beiden nicht. Rosanna legte auf und lehnte sich zurück. Sie spürte das kühle Leder an ihrem schweißnassen Rücken und schloss für einen Moment die Augen. Das Gespräch mit Flavio hatte sie innerlich aufgewühlt und die Bilder der letzten Nacht wieder präsent werden lassen. Ihr wurde kalt, denn sie stand mit den nackten Füßen auf dem Steinboden.
Die Dusche wartete. Wieder durchquerte sie die Stille. Auch von draußen hörte sie nicht viele Stimmen. Hin und wieder die eines Kindes, sie nahm auch die Geräusche der Autos wahr oder das typische Knattern der Roller. Das Bad war eng, aber es besaß eine hohe Decke. Dicht unter der Decke gab es ein kleines Viereck, das Fenster. Es besaß keine Glasscheibe und war statt dessen mit einem Fliegengitter versehen. Zwischen den Wänden hing noch der Geruch des Duschgels, das Rosannas Mutter benutzt hatte. Es gab nur eine Dusche. Für eine Wanne war der Raum zu klein. Platz bot er noch für die Toilette, für das Waschbecken und für einen schmalen Schrank, in dem auch das Duschgel der Tochter stand. Die Hand- und Badetücher hingen an einigen Haken. Der Boden der Duschtasse schimmerte noch feucht. Wenig später war Rosanna nackt, und die Strahlen prasselten auf ihren Körper. Sie genoss das Wasser, hielt die Augen geschlossen und dachte plötzlich an eine Filmszene aus dem Thriller Psycho. Da hatte auch eine Frau unter der Dusche gestanden. Da war dann der Killer mit dem langen Messer erschienen und hatte mehrmals auf sie eingestochen. Die schrille, weltbekannte Musik schrillte durch ihren Kopf und erschreckte Rosanna so sehr, dass sie die Augen öffnete und zum Abfluss hinschaute. Sie wollte sehen, ob sich dort auch das Blut sammelte wie im Film. Gewundert hätte es sie nicht. Aber hier rann das Wasser kreisend und gurgelnd in den Abfluss hinein. Mit einer Gefahr brauchte sie nicht zu rechnen. Sie schäumte sich ein und hatte dabei das Gefühl, nicht nur den normalen Schweiß vom Körper zu waschen, sondern auch das fremde Blut, das sie in der Nacht im Brunnen gesehen hatte. Irgendwie fühlte sie sich beschmutzt. Trotz des warmen Wassers drang ein kalter Hauch über ihren Rücken. Rosanna fühlte sich mit einem Mal wehrlos. Auch weil sie nackt war, und sie stellte hastig die Dusche ab, um die Kabine in Begleitung einer Dunstwolke zu verlassen. Für einen Moment blieb sie auf dem kratzigen Handtuch am Boden stehen. Sie schüttelte das Wasser aus den Haaren, griff zum Badetuch und wickelte sich darin ein. Das Rauschen des Wassers war vorbei. Stille hielt sie wieder umfangen. Sie sagte kein Wort, obwohl sie in solchen und ähnlichen Situationen gern mit sich selbst sprach. Rosanna wollte sich so schnell wie möglich abtrocknen, sich anziehen und dann Camino, dem Pfarrer, einen Besuch abstatten. Er hatte dieses Gerücht in die Welt gesetzt. Wenn sie ihm jetzt von ihren Erlebnissen berichtete, würde sie erfahren, wie er reagieren und zu dem Gerücht stehen würde. In der Dusche hing auch ihr Bademantel, den sie überstreifte. Sie schloss den Knoten des Gürtels locker, öffnete die Tür und ärgerte sich, dass sie ihre flachen Stoffschuhe nicht mitgenommen hatte. So musste sie den Weg nach oben barfuß gehen. Die Stille im Haus hatte sich nicht verändert. Nach wie vor gab es keine fremden Geräusche. Das hätte Rosanna eigentlich beruhigen müssen, war jedoch nicht der Fall. Sie fühlte sich plötzlich unwohl. Das Haus kam ihr noch enger vor als es ohnehin schon war, fast wie eine düstere Grabkammer. Das Gefühl hatte sie in all den Jahren noch nie gehabt. An diesem Tag allerdings konnte sie es auch nicht abschütteln. Alles ging mit den Vorgängen der vergangenen Nacht zusammen. So schnell wie möglich nach oben in das Zimmer gehen, anziehen, dann raus. Bisher hatte Rosanna in der Nische gestanden. Sie trat aus ihr heraus, und die nackten Füße tappten auf den Steinboden. Die dabei entstehenden Geräusche waren ihr vertraut, und auch jetzt gab es sie, aber anders. Nach zwei Schritten hielt sie inne. Sie konzentrierte sich auf ihre Füße und dachte daran, was sie bei den zwei zurückgelegten Schritten gespürt hatte.
War es tatsächlich unter den Füßen klebrig gewesen und auch kalt. Ihr Herz klopfte schneller. Trotz der frischen Dusche brach ihr wieder der Schweiß aus. Das Gefühl der Beklemmung steigerte sich noch mehr, und sie bückte sich jetzt, um die Steinfliesen besser betrachten zu können. Die Fugen dazwischen waren mit einer dunklen Masse gefüllt worden. Die kannte sie auch, aber die Masse war nie so glänzend gewesen wie an diesem Morgen. Zwischen den Steinen schimmerte es wie Wasser. Oder auch wie Öl ... Rosanna zitterte. Sehr langsam beugte sie sich weiter vor. Jetzt fiel ihr auch die Kälte an ihren Fußsohlen auf, und ein schrecklicher Verdacht keimte hoch. Nein! schrie es in ihr. Nein, das kann so nicht stimmen. Das ist einfach unmöglich! Dennoch wollte sie die Wahrheit wissen. Mit der Spitze des rechten Zeigefingers fuhr sie durch eine Fuge. Augenblicklich blieb die Flüssigkeit an der Haut kleben. Rosanna hielt ihren Arm hoch und drehte ihn etwas mehr dem Licht zu, um alles genau erkennen zu können. Die Spitze des Fingers war kalt, und sie war rot. Rot vom Blut!
Wir hatten wirklich nicht lange zu fahren brauchen, um das Ziel in den Bergen um Rom zu erreichen. Der Ort mit dem Namen Limano wirkte so, als wäre er in die Berge hineingebaut worden. Er war uneben, es ging rauf und runter. Das Pflaster bestand aus Kopfsteinen, die Häuser standen dicht zusammen, und oft genug gab es keine Lücken zwischen ihnen. Hinter manchen Rückseiten stieg der blanke Fels in die Höhe und gab noch mehr Schatten, was hier auch nötig war, denn der Schein der Sonne knallte ungehindert auf Mensch und Tier. Ein Bau war besonders gut zu erkennen. Er stand an der höchsten Stelle und überragte mit seinem Turm alles. Es war die Kirche von Limano, um die herum auch ein Friedhof entstanden war, an dessen Rand Father Ignatius stoppte. Aus der Kühle der Klimaanlage stiegen wir hinein in die Hitze. Die Luft hatte die morgendliche Kühle längst verloren. Es wehte auch kaum Wind, und die Sonne schien noch durch ein Brennglas verstärkt worden zu sein. Ich schaute mich ebenso um wie mein Freund Bill. Uns lagen praktisch die Häuser zu Füßen. Wir schauten in die schmalen Gassen hinein und sahen auch die breitere Straße, die wir genommen hatten, nachdem das quirlige Rom hinter uns lag. Sie führte weiter in die Ebene hinein, über der die sommerliche Hitze als zittriger Dunst lag. Father Ignatius hatte vorgeschlagen, zunächst einmal mit dem Pfarrer zu sprechen. Er war praktisch unser einziger Hinweis in diesem Fall. Wir hofften, dass er uns weiterhelfen würde, aber das blieb abzuwarten, denn Ignatius hatte sich selbst ein wenig skeptisch gezeigt. Ihm war der Pfarrer seltsam vorgekommen. Er konnte sein Verhalten nicht erklären, besonders nicht sein schon fluchtartiges Verlassen seines Büros, als wäre Camino froh gewesen, die Stätte endlich hinter sich lassen zu können. Ich trat an Ignatius heran und fragte: »Lebt er auch hier in der Nähe?« »Das kann ich dir nicht sagen, John. Ich nehme an, dass wir ihn in der Sakristei finden.« »Okay.« Wir gingen auf die Kirchentür zu. Die Kirche selbst war ein helles Bauwerk, und nur die Holztür sah aus wie ein dunkelbrauner Fleck. Den Friedhof ließen wir links liegen. Das kleine Areal wirkte sehr gepflegt. Die kleinen Votivbilder auf den Kreuzen und Grabsteinen schimmerten im hellen Licht der Sonne.
Als Bill sich den Schweiß von der Stirn wischte, sprach ich ihn an. »Na, bereust du es jetzt? Wärst du lieber in Rom geblieben?« »Kann ich nicht sagen. Ich warte zunächst einmal ab, was uns noch alles widerfährt.« Erst einmal nichts Großartiges. Wir bewegten uns auf die Tür zu, die unverschlossen war. Father Ignatius konnte sie locker öffnen, und wir lauschten dem Knarren. Dann schob er sich in die Kirche hinein und erreichte als erster die wunderbare Kühle, in der es auch nach Weihrauch roch, als hätte dieser sich in den hellen Wänden festgesetzt. Hell waren auch die Bogenfenster, wenn auch nicht besonders groß, aber das Licht fiel von zwei verschiedenen Seiten in die Kirche hinein. In der Mitte teilte ein Gang die beiden Sitzreihen aus dunklem Holz. Bis zum Altar war es nicht weit, doch der bestand einfach nur aus einer schmucklosen Platte. Das wäre nicht tragisch gewesen, wenn uns nicht etwas anderes gestört hätte. Die Kirche war einfach zu kahl! Ich sah kein Kreuz. Ich sah keinen Blumenschmuck, keine Bilder oder Figuren. Es war einzig und allein ein nackter Raum. Dass es einmal die Bilder und Stationen eines Kreuzwegs gegeben haben musste, war an den hellen Flecken an der Wand zu sehen. Irgendjemand musste sie abgehängt haben. Ignatius blieb stehen und drehte sich zu uns um. Schon in seinem Gesicht stand zu lesen, dass er sich über das Innere dieser Kirche ebenfalls wunderte. »Sprich es aus!«, flüsterte ich ihm zu. »Ich wundere mich über die Kirche. Sie ist ... «, er blies die Luft aus, »irgendwie leer.« »Ja, ohne Schmuck.« »Man hat ihn abgehängt«, sagte Bill leise. »Aber warum? Warum ist das alles weggenommen worden?« »Darauf wird uns Pfarrer Camino eine Antwort geben können«, sagte Ignatius. »Falls wir ihn finden.« Ignatius schüttelte den Kopf. »Du bist ziemlich pessimistisch, Bill.« »Stimmt«, gab er zu. »Ich kann dir auch keinen genauen Grund nennen. Es mag an der Kirche liegen, aber es ist auch etwas anderes. Kann sein, dass ich mich irre oder überreagiere, aber ich für meinen Teil werde den Eindruck nicht los, dass es hier zwar kühl ist, aber zugleich auch zu kühl. Schon seltsam kalt oder?» Jetzt, wo Bill das Thema erwähnt hatte, fiel es mir auch auf. Ja, es war kühl. Er hatte Recht. Es war sogar kalt. Automatisch wurde ich wieder an das Eis erinnert und natürlich an das Taufbecken, in dem es gefunden worden war. Es musste hier in der Kirche stehen. Im Eingangsbereich hatte ich es nicht gesehen. Doch jetzt, als ich mich leicht nach links drehte und so am Altar vorbeischaute, fiel es mir auf. Es war kein besonders auffallendes Taufbecken. Eine Säule aus Stein, eine Schale aus dem gleichen Material, das war alles. Ignatius und Bill folgten mir mit langsamen Schritten, als ich auf das Taufbecken zuging und davor stehen blieb. Mein erster Blick galt dem Boden der Schale. Normalerweise sammelte sich dort das Taufwasser. Hier war das nicht der Fall. Kein Tropfen schimmerte dort. »Das ist nicht überraschend«, sagte Father Ignatius leise. »Oder seht ihr das anders?« Das sahen wir nicht. Der Pfarrer hatte das gefrorene Blutstück herausgeholt, und damit hatte es sich.
Aber wie war das Blut hineingekommen? Wie hatte das Blut gefrieren können? Es war zwar kalt in der Kirche, doch unter die Nullgrenze waren die Temperaturen nicht gefallen. Außerdem kam mir diese Kälte doch sehr unnormal vor, und sie hatte mit dem normalen Wetter nichts zu tun. Ich ließ meinen Handrücken über die Mulde im Becken hinweggleiten. Der graue Stein fühlte sich ebenfalls verdammt kalt an, als hätte er lange im Frost gestanden. Bill und Ignatius fühlten ebenfalls nach und kamen zu dem gleichen Ergebnis. Ignatius fügte noch etwas hinzu. Sein Gesicht war dabei sehr ernst, und der Schauer auf der Haut konnte auch nicht übersehen werden. »Diese Kirche ist nicht mehr so wie sie einst gewesen ist. Man hat sie entweiht. Ich spüre es. Sie gehört einer anderen Macht. Nicht grundlos lag hier das gefrorene Blut.« »Der Teufel?«, flüsterte Bill. »Nicht unbedingt. Die Hölle hat viele Gesichter.« Ignatius wandte sich an mich. »Spürst du, dass sich dein Kreuz erwärmt?« »Bisher noch nicht.« Es war gut, dass er mein Kreuz angesprochen hatte. Ich wollte einen Versuch starten und hängte es ab. Auch in meiner Hand war die Erwärmung nicht zu spüren. Ich hatte es schon einmal einsetzen können. Da war das flüssig gewordene Bluteis verdampft, und ich war gespannt, wie es reagierte, wenn ich es direkt mit dem Taufbecken zusammenbrachte. Ich legte es in die Mulde, ohne die Kette allerdings loszulassen. Ich ersten Moment tat sich nichts. Dann aber hörten wir das leise Zischen und sahen in der Umgebung des Kreuzes feinen dunklen Rauch in die Höhe steigen. Ignatius und ich kannten ihn, und wir nahmen auch den Gestank wahr, ebenso wie Bill, der zurücktrat und den Kopf schüttelte. »Das riecht ja wie bei den Ghouls.« Er hatte irgendwo Recht. Es roch nach alten Leichen, die allmählich vermoderten. Der Rauch drang aus dem Gefüge, aus hauchfeinen Poren, und er schwebte zitternd über dem Becken wie ein Pilz. Wir waren sehr still geworden. Aus diesem Grund hörten wir auch das Brodeln und Blubbern. Zuerst wusste keiner von uns, wo es genau herkam, aber sehr schnell hatten wir die Quelle gefunden. Wir brauchten nur nach vorn und nach unten zu schauen. Das Geräusch drang aus dem Taufbecken. Es hielt sich im Gestein verborgen. Es hörte sich an, als würde von unten her etwas durch die Säule in die Höhe gedrückt. Der Rauch zerflatterte. Er bekam auch keinen neuen Nachschub, und trotzdem änderte sich alles. Hatten die Poren im Gestein vor wenigen Sekunden noch den Rauch entlassen, so quoll jetzt eine Flüssigkeit aus ihnen hervor. Sie war dunkel, sie sah ölig aus. Wir brauchten erst gar nicht den Finger hineinzutunken, um zu wissen, dass es sich um Blut handelte. Es war dünn. Es verteilte sich wie kleine zittrige Adern innerhalb eines Körpers. Es gab keine Stelle im Taufbecken, die von dem alten Blut nicht benetzt wurde. Wir sprachen nicht und schauten nur zu. Von drei verschiedenen Seiten hatten wir das Becken umkreist, wobei Ignatius am bleichsten war. Für ihn brach eine Welt zusammen, obwohl auch er einiges hinter sich hatte, was man als schwarzmagische Aktivitäten bezeichnen konnte. Möglicherweise irritierte es ihn auch so stark, weil dieser Vorgang in einem Gotteshaus ablief. Der Boden des Beckens war plötzlich von einer Blutpfütze bedeckt. Bill hielt es nicht mehr aus. Er tippte die Kuppe seines Mittelfingers hinein, zog die Hand sofort wieder zurück und flüsterte: »Kalt. Das Blut ist tatsächlich kalt.« »Dann wird es auch vereisen«, sagte Ignatius. Ich hielt mich mit einem Kommentar zurück und handelte. Ich wollte das Kreuz einsetzen, wie ich es schon einmal getan hatte. Aber zuvor beobachtete ich die Blutpfütze.
Das rote Zeug erkaltete zusehends. Wir schauten zu, wie sich auf der Oberfläche eine dünne Kruste aus Eis bildete. »Das ist Irrsinn«, flüsterte Bill. Dann lauschte er dem leisen Knacken. Das Eis wurde nicht gebrochen, sondern zog sich vor unseren Augen zusammen. Wenn das so weiterging, würde daraus ein roter Blutklumpen entstehen, wie ihn mir Ignatius gezeigt hatte. Jetzt setzte ich wieder das Kreuz ein. Wie schon einmal, drückte ich das untere Ende gegen die Masse. Es war ein leises Knirschen zu hören, als die dünne Oberfläche brach. Zudem erwärmte sich das geweihte Silber in meiner Hand. Aber es passierte noch mehr. Plötzlich hörten wir das tiefe Grummeln und Rumoren. Es drang aus dem Boden. Es hörte sich beinahe so an wie der Donner bei einem Gewitter. Unter unseren Füßen breitete es sich aus und erfasste schließlich den gesamten Kirchenboden. Bill war zurückgetreten und schaute sich um. »Was ist das denn?«, hauchte er. Von uns bekam er keine Antwort. Es war etwas vorhanden, aber es hielt sich versteckt. Ich hatte auch nicht mehr auf das Blut im Taufbecken geachtet. Durch mein Kreuz war es erhitzt worden, und wieder stieg der fettige Rauch in die Höhe, der dann fadengleich durch die Kirche schwang. Das Grollen verstummte, je mehr Blut verdampfte. Schließlich war es wieder still, und vor uns lag ein leeres Taufbecken. Nicht einmal ein paar Kristalle waren zurückgeblieben. Wir standen nicht mehr so dicht am Becken, und Father Ignatius schüttelte den Kopf. Er konnte nicht begreifen, was hier abgelaufen war. Auf seinem Gesicht malte sich auch eine gewisse Enttäuschung ab. Die Lippen zuckten, doch er brachte kein Wort heraus. Die Vorgänge hatten ihn zu stark überwältigt. Bill stieß mich an. »Bitte, John, was sagst du dazu? Hast du eine Erklärung?« »Noch nicht.« »Was ist mit einem Versuch?« »Das bringt uns nicht weiter. Ich gehe davon aus, dass jemand diese Kirche übernommen hat. Vielleicht wurde sie ihm auch überlassen. Das scheint mir eher der Fall zu sein, wenn ich mich hier umschaue.« »Wer steckt dahinter?« »Keine Ahnung.« »Was haben dieses Blubbern und dann später das Grollen zu bedeuten?«, fragte Bill. »Mir kam es vor, als läge unter der Kirche ein Ungeheuer oder ein Dämon begraben, der sich damit nicht mehr abfinden will und uns eine Warnung geschickt hat. Blut, das gefriert, John. Ich kriege das nicht in die Reihe, da bin ich ehrlich.« »Das ist auch schwer zu fassen.« »Der einzige, der uns helfen kann, ist dieser Pfarrer. Wir müssen zu ihm.« Father Ignatius hatte ebenfalls zugehört. »Du hast im Prinzip Recht, Bill. Ich habe nur die ungute Vermutung, dass er nicht mehr hier an seinem Platz ist. Er hat gewusst, was passiert. Er hat in seiner Verzweiflung und Angst alles abgeräumt, was den fremden Einfluss stören könnte. Er hat die Kirche dem Bösen überlassen.« »Ist das nicht zu allgemein?«, fragte Bill. »Mit einer konkreten Anwort kann ich leider nicht dienen«, sagte Ignatius. »Ja, du hast Recht.«
Ignatius schaute mich an. »Sehen wir uns trotzdem noch in der Sakristei um? Es kann ja sein, dass der Pfarrer eine Nachricht hinterlassen hat. Ich ärgere mich jetzt, dass ich mich nach seinem Besuch bei mir nicht intensiver um ihn gekümmert habe. Ich hätte auf Grund meiner Menschenkenntnis merken können, wie es um ihn steht, aber man ist nicht fehlerfrei.« »Du sagst es!«, stimmte ich ihm zu. Wir blieben nicht mehr am Taufbecken stehen. Der nächste Weg sollte uns in die Sakristei führen. Wie bei den meisten Kirchen war sie daran integriert. Links vom Altar, wo es etwas dunkler war, zeichnete sich trotzdem der Umriss einer Tür in der Wand ab. Wir schritten wieder sehr langsam, setzten die Füße so leise wie möglich auf und schauten uns immer wieder nach irgendwelchen Gegnern um, die sich aber nicht zeigten. Auch das Donnern oder Grummeln kehrte nicht mehr zurück. Die Tür war nicht abgeschlossen. Sie ließ sich von Ignatius leicht nach innen drücken. Er war der Mann, der alles in Bewegung gebracht hatte. Deshalb wollten wir ihm auch den Vortritt lassen. Mit vorsichtigen Schritten betrat er den Raum, in dem es ebenfalls recht kühl war. In einer Ecke stand eine zusammengerollte Fahne. Es gab einen Schrank mit verschlossenen Türen aus dickem braunem Holz. Der Fußboden bestand aus Steinplatten. Ein kleiner Tisch, zwei Stühle und ein Waschbecken in der Nähe des Fensters. Aber keine Spur von Camino. Father Ignatius' Gesicht zeigte eine Spur von Enttäuschung, als er sich umdrehte. »Schade. Er muss geflohen sein. Die Angst ist einfach zu groß gewesen. Vielleicht hat er auch erkannt, was hier passiert ist und was noch passieren wird.« Etwas verloren schaute er auf die beiden Türen des viel zu großen Schranks, der mit seiner oberen Kante fast gegen die Decke kratzte. Ich wusste selbst nicht warum, aber ich konnte seine Meinung über den Pfarrer nicht teilen. Deshalb schüttelte ich auch den Kopf. »Die andere Seite wird ihm nicht die Chance gegeben haben, so schnell zu verschwinden.« »Wirklich?« »Ja, Ignatius, so denke ich.« Nach der Antwort setzte ich mich in Bewegung. Vier Augen verfolgten meine kleinen Schritte, und sie sahen auch, wie ich meine Nase bewegte. Ich schnüffelte, wie jemand, der etwas riechen will. »Was hast du?«, fragte Bill. »Es ist der Geruch.« »Welcher?« »Blutgeruch.« »Vorn Taufbecken her - oder?« »Nein, das ist es nicht. Es ist ein neuer Geruch, und die Quelle liegt hier in der Sakristei. Ich denke nicht, dass wir allzu weit von Pfarrer Camino entfernt sind.« »Wo sollte er denn sein?« Ich ging noch einen Schritt vor, blieb stehen und deutete auf den Schrank. »Der ist groß genug.« »Wie?« Ignatius schüttelte den Kopf. »Du glaubst, dass der Pfarrer dort eingesperrt worden ist?« »Wenn es das mal wäre ... « »Also ist er ... « »Es riecht nach Blut, Ignatius, nach Blut, hörst du?« »Ja, ja, aber das hast du gesagt ... « Er sprach nicht mehr weiter, denn ich war nach vorn auf den Schrank zugegangen, der zwei Türen hatte. In der rechten steckte ein schwarzer Schlüssel im Schloss.
Ich fasste ihn an und drehte ihn. Die Tür war tatsächlich abgeschlossen gewesen. Sie klemmte auch etwas, als ich sie aufzog. Mit einem letzten Ruck war sie dann offen, und mein Blick fiel in den Schrank hinein. Er war recht tief. Trotzdem sah ich schon beim ersten Hinschauen, dass es dort etwas gab, was nicht hineingehörte. Ich öffnete die rechte Tür noch weiter und dann auch die andere. Jetzt fiel Licht hinein. Es gab keinen von uns, der nicht bleich wurde. Ich stand am nächsten. Der Schweiß stand mir plötzlich auf der Stirn. Ich spürte ihn auch an den Handflächen. Wir sahen den Pfarrer, und er war tot! Gut, wir hatten damit rechnen müssen, waren aber trotzdem entsetzt, wie dieser Mann vom Leben in den Tod befördert worden war. Man hatte seine Leiche in den Schrank gedrückt. Vielleicht war er auch selbst dort hineingegangen, um sich zu verstecken, das war alles möglich. Jedenfalls saß er etwas schräg auf dem Boden, und er drückte seinen Rücken gegen die innere Rückseite der Schrankwand. Er trug ein weißes Hemd und eine schwarze Hose. Dabei war das Hemd nicht mehr weiß. Es klebte als blutiger Lappen auf dem nackten Oberkörper. Und Blut malte sich auch auf seinem Gesicht ab. Es wirkte wie zerschnitten, denn die rote Flüssigkeit war aus zahlreichen Wunden hervorgetreten. Von der Haut war so gut wie nichts mehr zu sehen, denn überall lag diese dicke rote Schicht. Dazwischen schimmerten die Augen, die so starr geworden waren. Und noch etwas kam hinzu, das uns entsetzte. Der Pfarrer hatte versucht, Hilfe bei einem Kreuz zu suchen. Er hatte sich das große Holzkreuz geschnappt und es mit in den Schrank genommen. Er hatte es dann auf den Boden gestemmt und seine Arme um den Querbalken gehängt. Ob er in dieser Haltung gestorben war, war nicht festzustellen. Man konnte allerdings davon ausgehen. Als ich mich drehte, hörte ich das Stöhnen meines väterlichen Freundes. Er schüttelte den Kopf und schaute zu Boden, dann ging er zur Seite und presste die Hände gegen sein Gesicht. Bill Conolly war ebenfalls totenbleich geworden. »Ich ... ich ... kann es nicht glauben. Das ist ja grauenhaft. Wie ... wieso ... ? Ich hob die Schultern. Auch ich fühlte mich hilflos. Es stand fest, dass hier Kräfte am Werk waren, die keine Gnade kannten. Und diese Kräfte mussten Helfer gehabt haben, sonst hätte so etwas nicht passieren können. Ich überwand meine Starre und trat so nahe an den Schrank heran, dass ich hineinschauen konnte und jedes Detail erkannte. Ich wollte den Körper nach Wunden absuchen. Es war durchaus möglich, dass zahlreiche Stichwunden das viele Blut hinterlassen hatten, aber es war nichts Genaues zu erkennen. Als ich dann mit meiner kleinen Leuchte nachschaute, da entdeckte ich schon einige Risse in der Haut, als wären sie genau dort durch einen inneren Druck aufgeplatzt. Auch Kratzspuren fielen mir auf, als wäre der Pfarrer in einen Dornbusch gefallen. Ich zog mich wieder zurück. Ignatius hatte sich wieder gefangen. Er räusperte sich, bevor er sprechen konnte. »Es war gut, dass ich dir Bescheid gegeben habe, John. Ich allein wäre damit überfordert gewesen. Ich kann nicht sagen, was hier passiert ist, aber ich habe große Angst. Die Angst vor einer schlimmen Zukunft. Die Angst um die Menschen, die hier leben. Hier ist etwas zum Vorschein getreten, das ich lieber hätte verbergen sollen. Ich weiß nicht, was es ist, aber es muss eine Lösung geben. Es gibt ein Motiv, weshalb der Pfarrer getötet wurde. Etwas anderes kann ich dazu nicht sagen.« »Die Kirche wurde entweiht.« »Ja, John.«
»Wenn wir wissen, wer das getan hat, dann kommen wir auch näher an die Lösung heran.« »Wenn ich sage die Hölle oder der Teufel, dann ist das wirklich zu einfach. Das muss präzisiert werden, aber ich fühle mich im Moment überfordert. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Kirche auf einem Grund gebaut wurde, der einmal eine heidnische Welt gewesen ist. Ich bin da überfragt.« »Heidnische Welt?« Die Frage hatte Bill gestellt, nachdem er die Schranktüren wieder zugedrückt hatte. »Ich denke, dass diese Spur irgendwo nicht falsch ist.« »Wie kommst du darauf?«, fragte ich. Er stand neben einem Stuhl. Jetzt streckte er den Arm aus und hob ein Buch in die Höhe, das auf der Sitzfläche gelegen hatte. Es hatte einen schwarzen Einband. Der Titel war mit einer hellen Zitterschrift eingraviert worden. Da wir ihn nicht lesen konnten, las der Reporter ihn halblaut vor. »>Die Mystik der Etrusker<.« Er hob den Blick an und schaute uns in die Augen. »Ich denke, das ist die letzte Spur, die uns der Pfarrer hinterlassen hat.« Da etwas anderes nicht anstand, gingen wir ebenfalls davon aus. Bill legte das Buch auf den Tisch und schlug es auf. Auf der ersten Seite stand nichts, dafür auf der zweiten. Dort war der Text in fetten Buchstaben gedruckt worden. CHARUN - HERR DER TOTEN SEELEN
Rosanna Fabrini wunderte sich darüber, wie still sie sein konnte. Dass sie nicht schrie, nicht durchdrehte, nicht gegen die Wand schlug, nicht aus dem Haus rannte, um brüllend durch die Gassen zu rennen. Nein, das alles passierte nicht. Sie stand auf dem Fleck und starrte ihren Finger an, der eine rote Kuppe bekommen hatte. Ihr Mund blieb offen, und sie spürte unter ihren nackten Füßen die eisige Kälte, die in ihre Beine hinaufstieg. Sie sagte kein Wort. Nicht einmal ein Stöhnen entwich ihrer Kehle. Es war für sie ein Schock, der sie völlig bewegungslos gemacht hatte. Der Begriff für Zeit war ihr ebenfalls abhanden gekommen. Sie konnte nichts tun. Es gab auch keinen Menschen in der Nähe, den sie hätte um Hilfe anflehen können. Die Welt um sie herum schien eingefroren zu sein, und sie kam sich zugleich vor wie ins Abseits gestellt. Erst allmählich begannen ihre Gedanken wieder zu arbeiten. Ihre erste Tat bestand darin, dass sie die blutige Fingerspitze an ihrem hellen Bademantel abwischte und dort einen Streifen hinterließ. Der Blick ihrer Augen war glasig, und dann schoss plötzlich ein Schüttelfrost durch ihren Körper. Die Zähne schlugen klappernd aufeinander. Bei ihr war es ein Startsignal. Plötzlich lösten sich ihre nackten Füße vom kalten Boden. Sie hetzte in langen Schritten auf die Treppe zu und eilte sie so schnell hoch wie nie zuvor. Erst als sie die Tür des Zimmers erreichte, drang wieder ein Laut aus ihrem Mund. Es war ein leiser und langgezogener Schrei, der erst abbrach, als sie bäuchlings auf das Bett fiel und ihr Gesicht im Kissen vergrub. Dann kamen die Tränen. Es war nicht mehr möglich, sie zurückzuhalten. Sie schluchzte. Der Körper zuckte in wilden Bewegungen. Sie trommelte mit beiden Fäusten neben dem Kissen auf die Matratze und warf sich schließlich auf den Rücken, wobei der erste Schrei der Decke entgegenflog. Danach blieb Rosanna liegen und atmete nur noch schwer.
Während ihrer Panik hatte ihre Erinnerung quasi ausgesetzt. Zwar dachte sie noch immer nicht so klar und nüchtern, aber das normale Denken kehrte allmählich zurück, und der Druck wich von ihr. Es lief alles vor ihren Augen ab. Sie wünschte sich, einen Traum erlebt zu haben, aber es war keiner. Ebenso wenig wie sie in der Nacht nur geträumt hatte. Jetzt befand sich das kalte Blut nicht nur im Brunnen, es hatte sogar ihr Haus erreicht und war aus dem Boden gequollen. Mit einem Ruck setzte sich die junge Frau auf. Dann zog sie ihre Beine an, winkelte sie ab, um auf die Fußsohlen schauen zu können. Im nächsten Moment verzogen sich ihre Mundwinkel. Ein Ausdruck des Ekels entstand, denn an der Haut klebte tatsächlich Blut, das aus dem Boden gequollen war. Es war schon eingetrocknet und hatte sogar eine dünne Kruste hinterlassen. Sie hasste es. Sie hasste das fremde Blut. Es widerte sie an. Sie wollte es weghaben. In ihrem Zimmer befand sich ein kleines Waschbecken. Sie stellte sich davor, ließ Wasser einlaufen, hob ein Bein und spülte zuerst die rechte Fußsohle ab und danach die linke. Roséfarben rann das Wasser in den Abfluss hinein. Dabei dachte sie wieder an den Film Psycho. Das kalte Wasser wusch alles ab. Sie nahm ein Handtuch, trocknete ihre Füße und zerrte den Bademantel vom Körper. Sie warf das Kleidungsstück auf ihr Bett. Dort blieb es ausgerechnet so liegen, dass sie den roten Blutstreifen sah. Danach zog sie sich an. Eine Hose, ein T-Shirt. Natürlich auch den Slip, aber den BH ließ sie weg, auch wenn ihre Eltern das nicht mochten. Die Turnschuhe standen unter dem Bett. Schnell war Rosanna hineingeschlüpft. Vor dem Duschen hatte sie schon einen Plan gehabt. Er war dann in Vergessenheit geraten. Nun kramte sie ihn hervor. Es gab nur eine Vertrauensperson hier im Ort, mit der sie über die Vorgänge sprechen konnte. Das war Monsignore Camino, der Geistliche. Von ihm war das Blutgerücht ausgegangen, und er würde ihr sicherlich zur Seite stehen. Rosanna gehörte nicht eben zu seinen bevorzugten Schäfchen. Sie ging einfach nicht oft genug zur Kirche. Nachdem sie ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert hatte, war sie gar nicht mehr in der Kirche gewesen. Einige Male hatte der Pfarrer sie darauf angesprochen, wenn sie ihn im Ort getroffen hatte. Sehr nett hatte sie dabei nie geantwortet und war immer sehr ausweichend gewesen. Es war ihr schon etwas peinlich, sich ausgerechnet ihm anvertrauen zu müssen, nur gab es für die junge Frau keine Alternative. Niemand sonst im Dorf würde ihr Glauben schenken. Im Nachhinein war sie sogar froh, allein im Haus zu sein. Ihre Eltern wären bei diesen Vorgängen bestimmt durchgedreht. Nachdem sie die Schuhe fest verschnürt hatte, ging sie zur Tür. Eigentlich hatte sie ihr zu kleines Zimmer immer gehasst. Es war nie so eingerichtet gewesen wie die Zimmer der Mädchen, die sie aus den TV-Serien kannte. Sie hatten tolle große Räume und auch keine kahlen Wände. An den Tapeten klebten zumeist die Fotos der aktuellen Popstars. Nicht so bei ihr. Da war alles mehr als schlicht, und die Möbel stammten aus der Erbmasse. Trotzdem war sie in diesem Augenblick über ihr Zimmer froh. Es kam ihr wie eine Fluchtburg vor, denn das Blut hatte den Boden hier noch nicht erreicht. Sie schaute die Treppe hinab. Licht machte sie nicht. Aus dem Seitenfenster im Treppenhaus sickerte die Helligkeit ein und malte einen Teil der Stufen an. So blank wie Spiegel. Immer wieder kam ihr dieser Vergleich in den Sinn. Die Treppe zu putzen, hatte sich ihre Mutter als Hobby ausgesucht. Rosanna ging nach unten. Jedes Mal, wenn sie einen Fuß auf die Stufe setzte, schlug ihr Herz etwas schneller. Sie spürte sogar die Echos in ihrem Hirn und merkte zudem, dass ihr Blut stärker durch die Adern schoss und das Gesicht erreichte.
Die Nervosität nahm einfach zu, je mehr sie sich dem Flur näherte. Dort verteilten sich Licht und Schatten. Jetzt, wo die Sonne etwas höher stand, hatte das Licht die Überhand gewonnen. Die Schatten hatten sich mehr bis in die Nähe der Wände zurückgezogen. Auf der letzten Stufe blieb sie stehen. Von diesem Ort aus hatte sie den besten Blick in den Flur. Sie sah auch die offenen Türen zu den anderen Zimmern. Ihnen gönnte sie nur einen flüchtigen Blick. Viel wichtiger war die Stelle, an der Blut durch die Fugen zwischen den Fliesen gequollen war. Zuerst entdeckte sie nichts. Keine feuchte Spur. Keine schimmernden Flecken. Sie wollte schon aufatmen, als alles ganz anders kam. Fast zum Greifen nah sah sie das Blut. Auch die eigenen Fußabdrücke fielen ihr auf. Auf der Treppe hatten sie kaum Spuren hinterlassen. Das sah auf den Fliesen anders aus. Es war nicht verschwunden - und es erhielt Nachschub. Aus den Ritzen quoll es hervor. Aber nicht nur an der gleichen Stelle, sondern auch an anderen. Weiter zur Tür hin und auch in Richtung Bad. Leicht gebückt stand die junge Frau auf der Stufe. Sie hatte eine Hand erhoben und sie gegen ihren offenen Mund gepresst. Die Angst malte sich in den Augen ab. Das Zittern unterdrückte sie nur mit großer Mühe. Wenn sie zur Tür wollte, kam sie am Blut vorbei. Sie musste einfach hindurchschreiten. Das war wie eine Falle. Rosanna suchte nach einem Ausweg. Noch gab es für sie eine Chance. Die Fliesen waren noch nicht völlig mit Blut bedeckt. Es breitete sich zwar aus, doch es hielt sich mehr an den Rändern. Die Mitte war frei. Wenn sie gezielt sprang, konnte sie trockenen Fußes die Tür erreichen. Der Vorsatz war gefasst, allein, Rosanna setzte ihn nicht in die Tat um. Es gab etwas, das sie davon abhielt, und es war ein Phänomen, dessen Existenz sie sich nicht erklären konnte. Vom Blut löste sich der Dampf. Schon einmal hatte sie dieses Phänomen erlebt. Das war in der Nacht gewesen, aber hier traf es sie noch schlimmer. Der Qualm drehte sich in die Höhe. Es waren keine breiten Säulen, die sich vom Blut gelöst hatten, sondern mehr schmale, zittrige und durchsichtige Schwaden. Aber sie waren da und keine Einbildung. Sie fügten sich zusammen und kamen von verschiedenen Seiten, so dass der dunkle Rauch immer dichter wurde. Dabei blieb es nicht, denn wie von Geisterhand gezeichnet nahm der Rauch plötzlich Gestalt an. Er formte sich dem Körper eines Menschen nach. Er war schwarz, jetzt fast undurchsichtig, und Rosannas Augen weiteten sich auf Grund eines plötzlichen Erkennens Das hatte sie schon gesehen. Sie erinnerte sich an die Nacht, als die Gestalten auf sie und ihren Freund zugekommen waren. Nur hatten sie da nicht aus diesem Rauch bestanden, sondern noch Kutten übergestreift. Oder waren diese nicht vorhanden gewesen? Rosanna schüttelte den Kopf. Mit Gewalt riss sie sich aus ihren Erinnerungen los. Sie wollte auch nicht daran denken, dass sich die Gestalten in der Nacht mit dem Blut aus dem Brunnen >gewaschen< hatten, sie wollte an gar nichts mehr denken und hatte plötzlich das Gefühl, aus dem Innern hervor einen Startschuss erhalten zu haben. Nichts hielt sie mehr auf der Treppe. Mit einem langen Satz löste sich Rosanna von der Stufe. Der eigene Schrei machte ihr Mut. Sie sprang gegen eine der breiten und viereckigen Fliesen, stieß sich noch einmal ab und prallte gegen die Haustür. Jetzt war sie sogar sicher, in kein Blut getreten zu sein. Nervös zerrte sie die Tür auf, huschte über die Schwelle - und erlebte die andere Welt mit ihrer Wärme, dem Sonnenschein und auch den in der Nähe liegenden Schatten, die von den Hauswänden in die Gasse geworfen wurden. Der Tag hatte sie zurück. Das Grauen war vorbei. Nein, so durfte sie nicht denken. Der Pfarrer war noch immer wichtig. Die Menschen, die Rosanna wenig später sahen, staunten darüber, wie schnell sie durch die schmalen Gasse auf eine Treppe zulief, um die Kirche auf dem kleinen Plateau zu erreichen ...
Father Ignatius war es, der den seltsamen Untertitel mit leiser Stimme wiederholte und dann noch das Wort Etrusker hinzufügte, als wollte er auf unsere Reaktion warten. Die dann auch prompt erfolgte, denn Bill Conolly fragte: »Warum sagst du das?« »Weil sich die Vorgänge darum drehen. Eben um dieses alte Volk, das einmal hier auf unserer Insel gelebt und zahlreiche Spuren hinterlassen hat.« Da hatte er recht. Die Etrusker waren ein altes und geistig sowie technisch hochentwickeltes Volk gewesen, das die italienische Halbinsel ungefähr vom 7. bis zum 4. Jahrhundert beherrscht hatte mit dem Kernland Etrurien. Es hatte bei ihnen ein politisches Gemeinwesen gegeben, denn sie hatten sich zu regelrechten Städtebünden zusammengeschlossen, um sich gegenseitig mit Rat und Tat zur Seite stehen zu können und sich Hilfe zu geben. Sie hatten letztendlich auch den römischen Stadtstaat erschaffen. Rom hatte sich erst viel später mit Hilfe der Griechen von den Etruskern befreien können, die außerdem im Norden des Landes durch die eingedrungenen Kelten vertrieben wurden. Die Archäologen hatten einiges von dem gefunden, was sie hinterlassen hatten. Besonders die prächtigen Felsengräber reicher Kaufleute, und in ihre Wandmalereien waren zahlreiche orientale Motive mit eingeflossen, was auch auf ihre zahlreichen Reisen hinwies. Das alles war in diesem Buch nur in knappen Abhandlungen vorhanden. Am wichtigsten waren die Götter und Götzen der Etrusker. Wir lasen so manche Namen, die in veränderter Form auch von den Römern übernommen worden waren, zum Beispiel entsprach der Mari dem römischen Mars. Als Zentralheiligtum war der zweigeschlechtliche Voltumna verehrt worden, der uns aber auch nicht interessierte. »Charun!« murmelte Bill. »Verdammt noch mal, der muss doch zu finden sein.« Und er war zu finden! Bill und ich pfiffen durch die Zähne, als wir das Bild sahen, das über zwei Seiten lief. Das musste er sein. Dazu hätte es nicht erst der Überschrift bedurft. Auch Father Ignatius trat interessiert näher. Er sprach den Namen flüsternd aus. »Charun ... « Charun brachte den Schrecken. Charun brachte den Tod. Er war der Herr der toten Seelen oder auch der Herrscher der Toten. Ein Künstler hatte ihn als schwarzen Teufel gemalt. Mit einem schrecklich breiten Maul, in das er mehrere Menschen zugleich gestopft hatte. Nur die zappelnden Beine ragten noch aus dem Maul hervor. Um ihn herum standen Gefäße, die mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllt waren. Wenn mich nicht alles täuschte, dann handelte es sich um Blut, denn dass es schwarzes Wasser war, bezweifelte ich. Auf den weiteren Seiten fanden wir Texte, die in lateinischer Sprache abgefasst waren. Ich hatte da so meine Schwierigkeiten, aber Father Ignatius kümmerte sich um den Text. Wir ließen ihm Zeit, und so erfuhren wir nach einer Weile, was es mit diesem schrecklichen Dämon auf sich hatte. »Er war jemand, dem Menschen geopfert wurden«, erklärte Ignatius mit sanfter Stimme. »Auf dem Bild ist das ja zu sehen. Aber er schluckte die Opfer nicht, wenn sie noch gefüllt waren, wie es hier steht. Sie mussten blutleer sein. Seine direkten Helfer waren die Hüter des etruskischen Geheimwissens. Sie wurden Lukumonen genannt. Genau die haben dafür gesorgt, dass die Menschen zuerst getötet wurden, bevor man sie ausbluten ließ. Das Blut wurde gesammelt und einem Brunnen übergeben. Was der Brunnen nicht fasste, erhielt die Erde, die man als unheilig ansehen kann. So lese ich es hier.« »Unheilige Erde«, sagte Bill leise. »Das verstehe ich schon. Aber kannst du uns auch sagen, wo wir sie finden? Wo befindet sich dieser Grund und Boden?«
Father Ignatius war direkt angesprochen worden. Er räusperte sich, dann erst gab er eine Antwort. Sie überraschte uns nicht einmal. »Ich denke, wir stehen auf diesem unheiligen Boden. Auf ihm wurde die Kirche gebaut. Und ich gehe mal davon aus, das auch das Dorf in Mitleidenschaft gezogen ist. Ebenfalls die nähere Umgebung.« Er zuckte die Achseln, dann klappte er das Buch zusammen. »Ich denke, dass uns eine recht schwere Aufgabe bevorsteht. Wenn ich alles richtig gelesen und auch verstanden habe, dann ist Charuns Werk noch immer nicht vernichtet worden. Wir müssen mit seinem Erbe rechnen. Ich denke nicht, dass er selbst noch einmal zurückehrt. Ich glaube eher, dass er einen Nachfolger gefunden hat, einer der ihn mag und ebenso zur Seite steht wie ein Lukumone.« Ignatius deutete zum Schrank hin, in dem der tote Priester lag. Es ist sogar möglich, dass er eine Spur gefunden hat und deshalb sterben musste.« »Aber warum hat er die Kirche von allen Kreuzen und heiligen Bildern geleert?« »Er wollte ihn locken.« »Nicht schlecht«, sagte ich. »Er hat ihn auch gelockt und den Kampf verloren.« Niemand widersprach. Die kleine Sakristei in dieser Dorfkirche war zu einem Ort des Todes geworden. Der Pfarrer Camino hatte meiner Meinung nach einen großen Fehler begangen. Er hätte Ignatius intensiver einweihen sollen. Wahrscheinlich wäre er noch am Leben gewesen. Ihm das gefrorene Blut zu bringen reichte nicht. Wir standen noch am Anfang, aber zu ratlos waren wir auch nicht. Das Buch hatte uns schon einen Schritt weitergebracht. Was mir nur bitter aufstieß, war die geographische Ausbreitung des Götzenglaubens. Wir hatten über eine sehr große Kultstätte gelesen, und wir befanden uns gewissermaßen im Zentrum oder zumindest an dessen Rand. Und das, obwohl uns die Mauern eines Gotteshauses umgaben. Father Ignatius blätterte weiterhin in dem Buch. Weiteres Interessantes schien er nicht zu finden. Jedenfalls sprach er Bill und mich darauf nicht an. Manchmal schüttelte er den Kopf oder ließ ein Muster aus Falten auf seiner Stirn entstehen. Bill hatte sich in die Nähe des kleinen Fensters gestellt. Er musste sich schon recken, um nach draußen in das helle Sonnenlicht schauen zu können. Die normale Welt war so weit entfernt, obwohl uns in Wirklichkeit nur eine Mauerdicke von ihr trennte. Als Ignatius das Buch zur Seite legte, sprach ich ihn an. »Ob die Zentrale der Kultstätte genau hier ist? Schließlich haben wir das veränderte Taufbecken erlebt und ... « Er unterbrach mich durch sein Kopfschütteln. »Nein, sie ist nicht hier. Eine Kultstätte hat damals mehr Raum eingenommen. Der Platz hier ist einfach zu klein. Ich will nicht abstreiten, dass wir am Rand der Stätte stehen, aber das ist auch alles.« »Sie musste in der Nähe zu finden sein?« »Das ist richtig.« »Und es könnte auch der Ort hier in Mitleidenschaft gezogen sein, wenn man den Faden weiterspinnt.« »Auch da gebe ich dir Recht, John. Aber das Zentrum müsste außerhalb zu finden sein. Nicht weit weg. In diesem Buch ist es leider nicht verzeichnet. Es geht in den Texten mehr um Charun. Hinweise habe ich auch nicht erhalten. Dabei drehte es sich um Gebete und Beschwörungen, durch die er gnädig gestimmt werden sollte. Besonders auch wegen der Opfergaben.« »Der Menschen?« »Ja. Die zuvor ausgeblutet sind. Und dieses Blut ist aus der Erde gekommen. Wie ein Vorbote auf noch kommende schlimmere Dinge. Kaltes Menschenblut. Es gefriert sogar. Als wollte es uns und den Menschen hier die Kälte des Todes bringen.« Ignatius atmete schwer ein. »Ich befürchte, dass unsere Sorgen noch größer werden.« »Um dem zu entgehen, müssen wir eben besser sein«, sagte ich. »Da ist es wichtig, die Kultstätte zu finden, die wir dann zerstören können, falls es sie überhaupt gibt.«
»Bestimmt.« Ignatius nickte mir zu. »Wäre ich hier aufgewachsen, wüsste ich mehr. Aber ich bin es nicht. Trotzdem habe ich mich kundig gemacht und mich mit den Menschen und der Landschaft hier beschäftigt. Italien ist ein Land mit geschichtlichen Spuren. Hier stößt du praktisch überall auf Reste alter Kulturen.« »Limano eingeschlossen, nicht wahr?« »Ja. Und die Umgebung. Es gibt nicht weit entfernt einen Ort, an dem die Reste einer alten EtruskerSiedlung freigelegt wurden. Ich selbst bin noch nicht dort gewesen, aber ich weiß darüber Bescheid. Und ich kann mir vorstellen, dass wir ihr sehr bald schon einen Besuch abstatten müssen.« »Dann vermutest du dort das Zentrum?« »Ja, davon gehe ich aus. Man mag zu diesem Volk stehen, wie man will. Es hat bestimmt Großes geleistet, aber mit seinem Götzenglauben kann ich mich persönlich nicht anfreunden. Und schon gar nicht, wenn es um Götzen geht, die so schrecklich und menschenverachtend sind wie Charun.« »Glaubst du denn an seine Existenz?« Ignatius lächelte leicht. »Das kann ich dir nicht genau beantworten. Ich weiß nicht, ob man da von einer Existenz sprechen kann. Zumindest glaube ich an seine Macht und an seinen Einfluss, der sich bis in die heutige Zeit erhalten hat. Die Beweise haben wir schließlich bekommen. Es könnte jemand geben, der einen Weg gefunden hat, zu den alten Göttern zu gelangen.« »Achtung!« Bill, der lange nicht gesprochen hatte, meldete sich zurück. »Da kommt jemand. Ein Mädchen oder ein Teenager, was weiß ich. Die Kleine hat es ziemlich eilig und wirkt sehr aufgelöst.« Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um noch besser sehen zu können. »Ja, sie läuft auf die Kirche zu. Kann nicht mehr lange dauern, dann öffnet sie die Tür.« Keiner von uns wusste, was das junge Mädchen wollte. Ignatius hob ratlos die Schultern. Ich war mehr der Praktiker, lief zur Tür der Sakristei und öffnete sie. So konnten wir in die Kirche hineinlauschen. Allerdings zog ich die Tür nicht bis zum Anschlag hin auf. Es reichte, wenn sie nur zur Hälfte geöffnet war. Die Geräusche vertrieben die Stille. Wir bekamen mit, wie das kleine Portal der Kirche geöffnet wurde. Hörten dann die ersten schnellen Schritte, die sich allerdings veränderten, als die Person nicht mehr so schnell ging. Sie musste sich jetzt gefangen haben und ging langsamer. Es konnte auch Einbildung sein, aber uns kam die Person vor wie jemand, der sich unsicher fühlt und mit ebenfalls unsichereren Schritten ein Gelände durchquert. Erst wenn sie die Höhe des Altars erreicht hatte, würden wir sie sehen können. Noch war das nicht der Fall, und zunächst verstummten auch die Schritte. Dafür vernahmen wir das heftige Atmen. Es glich schon einem Keuchen. Die junge Frau musste ziemlich außer Puste sein. Sie war stehen geblieben und rief den Namen des Pfarrers mit halblauter Stimme. Als sie keine Antwort erhielt, steigerte sie die Kraft der Stimme, und es schwang Angst darin. »Bitte, wenn Sie da sind, melden Sie sich, Monsignore! Ich bin es. Rosanna Fabrini. Ich muss mit Ihnen reden. Es ist wichtig. Ich habe sonst keinen und weiß mir auch keinen Rat. Bitte, Monsignore. Gerade heute müssen Sie hier sein. Dio, ich kann doch nicht allein sein bei all dem Grauen.« Der letzte Satz hatte uns schon aufgerüttelt. Wenn von Grauen die Rede war, dann konnte es sich um ein bestimmtes handeln. Dann konnte sie Kontakt mit den finsteren Mächten gehabt haben. Ich merkte, wie ich von einem Schauer erfasst wurde. Meinen beiden Freunden erging es ebenso. Father Ignatius schob sich vor. »Wenn möglich, lass mich zuerst mit ihr sprechen, John.« »Kannst du gern.«
Er hatte vor, hinzugehen, aber das war nicht nötig, denn Rosanna setzte sich wieder in Bewegung. Dem Echo ihrer Schritte entnahmen wir, dass sie sich der Sakristei näherte. In der Tat erwischte ich einen Blick auf sie. Rosanna war noch jung. Dem Teenie-Alter gerade entwachsen. Sie hatte dunkles Haar, ein schmales Gesicht, und sie zitterte vor Angst. Als hätte sie eine feindliche Welt betreten und keine Kirche. Obwohl sie sich das neue Ziel selbst ausgesucht hatte, ging sie sehr zögernd. »Sind Sie da, Monsignore? Sind Sie in der Sakristei? Bitte, sagen Sie Bescheid ... « Ignatius drückte mich zur Seite. Er öffnete die Tür nicht weiter. Er wollte nur, wenn sie tatsächlich kam, als erster gesehen werden. Er war ein Mensch, der einfach Vertrauen einflößte. Bill und ich würden sie mehr erschrecken. Wir sprachen kein Wort mehr. Rosanna näherte sich zögernd der Sakristeitür. Sie musste längst gesehen habe, dass sie offen stand, aber sie wagte nicht, etwas zu sagen, und traute sich auch nicht näher. Wir glaubten nicht, dass sie etwas bemerkt hatte, aber gewisse Dinge sollte man vorsichtig angehen, und das tat Father Ignatius auch. »Du kannst ruhig kommen, Rosanna«, sagte er mit sehr ruhiger Stimme, die überhaupt keinen Anlass zur Angst gab. Trotzdem erschreckte Rosanna sich. Wir hörten ihren leisen Aufschrei, doch da hatte Ignatius die Tür bereits aufgezogen und stand vor ihr. »Buon Giorno«, sagte er mit freundlicher Stimme. »Ich denke, dass du hier bei mir richtig bist.« Rosanna erschrak noch einmal. Diesmal hielt sie einen Schrei zurück und drückte die Hand gegen die Lippen. »Du musst wirklich keine Angst haben. Ich werde dir nichts tun. Bitte, wir sollten reden.« Sie ließ ihren Arm sinken. Auf ihrem Gesicht mischten sich noch immer Angst und Erstaunen. »Wer sind Sie? Bitte, Sie sind nicht der Monsignore Camino.« »Nein, das bin ich nicht. Ich bin Father Ignatius. Sagen wir so, im Moment vertrete ich den Monsignore. Er selbst ist unpässlich. Du kannst mir vertrauen. Mir und meinen Freunden, die ebenfalls hier in der Sakristei warten.« Ignatius öffnete die Tür so weit, damit Rosanna in die Sakristei hineinschauen konnte. Wir fühlten uns ein wenig unwohl, als wir so angeschaut wurden. Rosanna kam sich etwas verloren vor, denn die fremden Menschen hatte sie hier nicht erwartet. »Ich denke, dass du uns vertrauen kannst«, sagte Ignatius. »Bitte, komm her.« Es musste wohl etwas in seinem Blick gelegen haben, der die junge Frau veranlasste, sich zögernd in Bewegung zu setzen. Sie ging wie jemand, der ein unbekanntes Gelände betritt, und schaute immer wieder von einem zum anderen. Wir ließen die Tür offen, damit sie nicht den Eindruck bekam, eingesperrt zu sein. Bill und ich sagten ihr unsere Namen. Sie hörte sie, lächelte sogar und schaute Ignatius an. »Komisch«, sagte sie. »Ich habe plötzlich zu Ihnen mehr Vertrauen als zu Monsignore Camino. Ist das nicht komisch?« »Nein, menschlich. Du scheinst zu spüren, dass du uns dein Vertrauen schenken kannst. Aber wenn ich dich so anschaue, muss ich davon ausgehen, dass du Angst hast.« Ignatius hatte den richtigen Ton getroffen. »Ja, ja!«, stieß sie hervor. »Ich habe Angst. Deshalb bin ich auch in die Kirche geflüchtet. Ich wusste mir keinen anderen Rat mehr.« »Da hast du das Richtige getan«, lobte Ignatius sie. »Aber sag mir, wovor hast du Angst?«
»Vor dem Blut.« Ihre Gesicht wurde bleich. »Vor dem Blut in unserem Haus, das aus dem Boden quoll. Und da war auch noch der Brunnen, der ... « Sie wollte alles erzählen, was auch wichtig war, doch Ignatius stoppte sie. »Bitte, Rosanna, wenn du schon redest, dann erzähle alles der Reihe nach. Ich weiß, dass es nicht einfach ist, seine Gedanken zu sammeln, aber das ist wichtig. Nimm dir etwas Zeit, und dann tu uns den Gefallen und beginne von vorn.« Die behutsam gesprochenen Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Rosanna riss sich tatsächlich zusammen. Sie sammelte sich, schaute dabei zu Boden und nagte an ihrer Unterlippe. Uns hatten ihre ersten Worte schon alarmiert. Auch Rosanna hatte dieses Blut-Erlebnis gehabt. Sogar in dem Haus, in dem sie lebte. Da war es aus dem Boden gedrungen. Wie hier aus dem Taufbecken. Ein furchtbares Phänomen. Es gab auch ein kleines Waschbecken in der Ecke. Auf einer Ablage standen zwei Gläser. Eines füllte Father Ignatius mit Wasser und reichte es Rosanna. Sie bedankte sich, trank, schloss für einen Moment die Augen, um so besser in der Erinnerung zu kramen. Dann fing sie an zu sprechen, und wir hörten zu. Bill und ich verstanden die italienische Sprache leidlich. So bekamen wir das meiste mit. Rosanna Fabrini berichtete nicht nur von den Erlebnissen des Morgens, nein, sie sprach auch darüber, was sie mit ihrem Freund in der Nacht erlebt hatte. Das war für sie ebenfalls Grauen pur gewesen. Zwischenfragen stellten Bill und ich nicht. Wenn jemand etwas sagte, dann war es Father Ignatius. Seine ruhige ausgleichende Stimme verfehlte die Wirkung nicht. Rosanna redete weiter, und durch Zwischenfragen lockte unser Freund alles aus ihr heraus. Schließlich war sie fertig, und auch das Glas hatte sie leer getrunken. Sie schaute uns an. »Bitte, das müssen sie mir alles glauben. Ich habe es wirklich so erlebt, auch wenn Sie es nicht ... « »Wir glauben dir«, sagte Ignatius. »Denn wir wissen ebenfalls darüber Bescheid.« »Danke.« »Du wohnst im Ort«, sagte ich. »Und in deinem Haus hast du das Blut aus dem Boden quellen sehen.« »Ja.« »Nur dort? Oder auch woanders?« »Auch an der Kultstätte.« »Ja, das hast du uns erzählt. Von den Gestalten und auch dem Brunnen. Mich würde interessieren, ob du auch Blut im Dorf gesehen hast. Außerhalb eures Hauses?« »Nein, habe ich nicht. Ich bin auch gerannt. Ich wollte einfach nur weg.« Das konnten wir verstehen. Und wir sahen es schon als einen glücklichen Zufall an, dass uns Rosanna Fabrini begegnet war. Es war für sie als auch für uns von Vorteil. Sie brauchte keine zu große Angst mehr zu haben, und wir hatten endlich Informationen erhalten, die uns weiterbrachten. Immer war von der Kultstätte außerhalb des Orts gesprochen worden. Jetzt hatten wir den Beweis erhalten, dass sich genau dort der alte Schrecken des Götzen Charun manifestiert hatte. Rosanna schien enttäuscht zu sein, weil sie von uns keinen Rat erhalten hatte. »Was ... was ... soll ich denn jetzt machen?«, fragte sie mit leiser Stimme. »Das ist ganz einfach. Du gehst wieder zurück ins Dorf und in euer Haus.« »Nein, Father, nein!« »Doch, das wirst du.« Er nickte und lächelte. »Aber wir werden dich nicht allein lassen, Rosanna. Wir sind bei dir, und wir schauen uns das Blut einmal an.«
In den folgenden Sekunden sagte sie kein Wort. Dann aber schloss sie die Augen, und der große Stein schien ihr von der Seele gefallen zu sein. Sie war zufrieden, und der starre Ausdruck der Angst verließ ihr Gesicht. »Wann wollen wir denn gehen?«, fragte sie. »Jetzt. Und du brauchst nicht zu laufen. Wir werden dich in unserem Wagen mitnehmen.« Rosanna war zufrieden. Sie verließ mit Father Ignatius zusammen die Sakristei. Bill und ich folgten den beiden. Rosanna blieb dicht bei dem Mönch, als würde seine Nähe ihr den Schutz geben, den sie brauchte. »Was ist mit dem Pfarrer?«, fragte mich Bill leise. »Wir müssen ihn solange im Schrank lassen. Die Kollegen sollen ihn später abholen.« »Gut. Dann bin ich auf die Zukunft gespannt ...
Zum ersten Mal erlebten wir das Bergdorf Limano und mussten zugeben, dass es nicht eben ein Paradies für Autofahrer war. Wer da durch die engen, auf- und absteigenden Gassen fuhr, hatte Mühe, keine Hauswände zu touchieren. Malerisch, romantisch, pittoresk, so hatte man die Ansammlung der Häuser beschrieben, von denen sich viele auf die harten Stützen der Felswände verließen. Man konnte durchaus davon ausgehen, dass dieser Ort im mehreren Etagen gebaut war. An der untersten Stelle wurde er von der normalen Landstraße begrenzt, die unter anderem auch nach Rom führte. Wer ohne Auto in die Ewige Stadt wollte, - das konnte man nur jedem raten -, stieg in einen Bus. Wir waren an der entsprechenden Haltestelle vorbeigefahren. Die eng stehenden Häuser sorgten für Schatten. Father Ignatius lenkte den Wagen durch das Wechselspiel von Sonnenlicht und den dunkleren Stellen. Während seiner Zeit hier in Rom hatte er tatsächlich perfekt Auto fahren gelernt. Das Haus der Fabrinis passte sich den anderen an. Es lag ungefähr in der mittleren Ebene und war sehr schmal. Wie starre Kaskaden bauten sich andere Häuser recht und links neben dem von uns besuchten auf, sodass die übereinander liegenden Dächer manchmal wie übergroße Treppenstufen wirkten, auf denen die Schüsseln standen, mit denen die entsprechenden TV-Programme empfangen wurden. Ein starker Kontrast zum bösen Fluch des Schreckensgötzen Charun. Father Ignatius musste den Croma bis dicht an die Hauswand heranfahren. Wir alle konnten nur zu einer Seite hin aussteigen, und Rosanna hatte den Wagen vor uns verlassen. Sie stand an der Haustür, schaute die Fassade hoch und hatte eine Gänsehaut bekommen. Als Bill zu ihr trat, flüsterte sie: »Ich habe so große Angst.« »Das kann ich verstehen. Aber jetzt sind wir bei dir. Ich schwöre dir, dass dir nichts passieren wird.« »Weiß nicht. Zum Glück sind meine Eltern beide weg. Die ... die ... wären durchgedreht.« »Wäre ich an ihrer Stelle auch.« »Aber Sie haben keine Angst - oder?« Bill lachte leise. »Ein Mensch, der behauptet, keine Angst zu haben, den gibt es nicht. Oder er lügt.« »Ja, das kann auch sein.«
»Hast du einen Schlüssel?«, erkundigte ich mich. »Die Haustür sieht doch sehr verschlossen aus.« »Ja, den habe ich.« Rosanna kramte in der rechten Tasche ihrer Hose. Es war aufgefallen, dass Rosanna Besuch mitgebracht hatte. In den Fenstern der umliegenden Häuser zeigten sich die neugierigen Gestalten der Bewohner. Sie alle wollten erleben, was hier im Haus der Fabrinis passierte. Ich war auf der einen Seite froh, dass es im Ort so ruhig geblieben war. Es zeugte davon, dass es keine weiteren Blutfunde mehr gegeben hatte. Wäre das der Fall gewesen, hätten wir hier wohl eine Panik erlebt. Rosanna hatte den Schlüssel gefunden. Sie hielt ihn hoch und schwenkte die Hand, um uns klarzumachen, dass einer von uns den Schlüssel nehmen und aufschließen sollte. Ich zupfte ihn aus ihren Fingern und schloss auf. Rosanna hatte sich hinter uns versteckt. Ich hörte, dass Father Ignatius leise auf sie einsprach. Dann war die Tür offen. Ich zögerte einen Moment, bevor ich sie nach innen schob. Auf der Fahrt hierher hatte uns Rosanna genau berichtet, wo das Blut aus den Fugen gequollen war. Schon von der Tür aus hätten wir es sehen müssen. Durch den Druck meiner Hand schwang die Tür nach innen. Das klappte nicht lautlos und war von einer atonalen Musik begleitet. Sie kam auch zur Ruhe, ohne dass sie gegen die Wand geprallt wäre. Auf den ersten Blick war das Haus leer. Ich hörte kein Stimmen, ich vernahm auch keine normalen oder fremden Geräusche. Ein völlig stilles und menschenleeres Haus lag vor mir. Und trotzdem war etwas vorhanden. Es lag in der Luft. Okay, das Haus hatte dicke Mauern, die auch einen großen Teil der Wärme abhielten. Aber hier war es nicht nur kühl, hier war es richtig kalt. Und diese Kälte hatte keinen normalen Ursprung. Es war die Kälte einer anderen Welt, die sich hier ausgebreitet hatte. Rosanna hatte zudem von einem kalten Blut gesprochen und von dem eisigen Hauch in der Nacht. Durch die kleinen Fenster fiel genügend Licht, sodass ich auf die Leuchte verzichten konnte. Eine steile Treppe führte in die Höhe. Vom Eingangsbereich her zweigten verschiedene Türen ab, die nicht einmal alle geschlossen waren. Ich sah das Haus so vor mir, wie es mir von Rosanna beschrieben worden war. Bill hatte sich neben mich gestellt und beobachtete ebenfalls. Hinter uns hörten wir die Stimmen einiger anderer Hausbewohner, ohne allerdings darauf zu achten, was sie riefen. Ich schaute über den Boden hinweg und suchte die Stellen, die uns Rosanna beschrieben hatte. Wenn dort tatsächlich das Blut hervorgequollen war, musste noch etwas zu sehen sein. Hier gab es mehr Schatten. Deshalb holte ich auch meine kleine Leuchte hervor. Der Lichtkreis bewegte sich über die Steinfliesen hinweg, bis er plötzlich eine Stelle erreichte, die anders aussah als die Umgebung. Da war etwas aus dem Boden hervorgekrochen und hatte eine sichtbare Kruste hinterlassen. Auch Bill hatte es gesehen. »Das ist der Beweis«, flüsterte er. »Okay.« Bill drehte sich um. Er gab seine Entdeckung weiter. Welchen Kommentar Ignatius darauf gab, hörte ich nicht, da ich bereits die Schwelle überschritten hatte. Die Kälte blieb. Ich fand den Vergleich mit einem Eisgefängnis. Aber das war nicht normal. Hier schienen sich die finsteren Mächte einen neuen Verschwörungsort ausgesucht zu haben. Ich war an der Tür zur Küche stehen geblieben. Jetzt betraten auch die anderen das Haus. Bill war mir gefolgt. Hinter ihm gingen Father Ignatius und Rosanna. Er hatte eine Hand auf ihre Schulter gelegt, und sie war froh über die beschützende Geste.
Ihre rechte Hand wies nach vorn und dabei auch schräg gegen den Boden. »Das ist das Blut.« »Es stimmt«, sagte ich, bevor die anderen hinschauen konnten. »Man kann es deutlich sehen.« Ich leuchtete mit der Lampe hin. Jetzt war auch zu erkennen, dass sich das Blut nicht nur in den Ritzen gehalten hatte. Der Druck hatte auch dafür gesorgt, dass es sich auf den relativ großen terracottafarbenen Steinfliesen hatte ausbreiten können. Es malte sich dort als dunkle Flecken ab. Rosanna Fabrini war zitternd neben der Tür stehen geblieben, als wollte sie so schnell wie möglich wieder aus dem Haus flüchten. Aber Ignatius machte ihr einen Strich durch die Rechnung, indem er die Tür schloss. Im Haus war es still. Keine fremden Geräusche. Weder Stimmen noch Schritte. Trotzdem schien es von einer anderen Kraft übernommen worden zu sein. Irgendwie waren wir nicht allein. Das spürte jeder von uns. Da brauchte ich nicht erst mein Kreuz anzufassen, das sich allerdings nur leicht erwärmt hatte. Gut, ich hatte gesehen, dass es das Blut zerstören konnte. Allerdings war es auch sekundär. Ob es gegen den Götzen an sich ankommen würde, da hatte ich meine Zweifel. Gegen alte Magien vergessener Völker war es oft machtlos. »Es hat sich nichts verändert«, flüsterte Rosanna. »Da ist auch kein Blut mehr hinzugekommen. Aber die Kälte ist geblieben. Ich friere so und habe Angst.« Ignatius sprach beruhigend auf sie ein. Ich hatte mich bereits gebückt und hielt auch das Kreuz in der Hand. Es würde mir bei diesen einfachen Dingen helfen. Ich setzte es dort an, wo sich die Blutkruste auf dem Boden abzeichnete. Dann passierte das, was wir schon kannten. Plötzlich löste sich die Kruste auf, das Blut wurde wieder flüssig und begann zu dampfen. Ich war zurückgetreten. Von verschiedenen Seiten schaute wir auf das, was geschah. Der Rauch drängte sich in die Höhe. Wir kannten diesen Geruch bereits. Er stank nach verwesendem Fleisch, nach altem Blut, und er raubte uns den Atem. Und es passierte noch etwas. Wohl aus dem Innern der Erde erklang ein düsteres Grollen. Es wehte durch den gesamten Grundriss hier unten, während das Blut allmählich verdampfte. Es warf letzte Blasen, der Gestank erhielt noch einmal Nachschub, und Ignatius öffnete die Tür, um diesen Leichenduft abziehen zu lassen. Ich richtete mich auf. Es gab kein Blut mehr hier unten im Haus. Das Kreuz hatte es vertrieben, und wir hätten eigentlich aufatmen können, aber das kam uns nicht in den Sinn. Wir standen noch immer am Anfang, das große Finale würde noch kommen. Rosanna sah es anders. Sie konnte ihren Blick nicht mehr von mir wenden. Ungläubig schüttelte sie ihren Kopf. »Sie haben es geschafft. Sie haben es geschafft! Das Blut ist nicht mehr da. Es ist einfach verschwunden.« »Sei froh.« »Das bin ich auch!« flüsterte sie. »Das bin ich ganz bestimmt. Kann ich jetzt wieder normal leben?« Es war eine normale und gute Frage, wobei ich mir allerdings schon meine Gedanken machte. Ich wollte ihr auch nichts Falsches sagen und hob nur die Schultern. »Nicht?«, fragte sie. »Es ist wohl nur ein Teil«, sagte Bill. »Wieso?« »Es kann durchaus sein, dass nicht nur euer Haus in Mitleidenschaft gezogen wurde.« Rosanna dachte einen Moment nach. Dann hatte sie begriffen. »Könnte es sein, dass unser gesamtes Dorf darunter leidet?«
Bill hob beide Hände. »Ich will den Teufel nicht an die Wand malen, aber damit zu rechnen ist schon. Ich glaube auch, dass die nächste Nacht entscheidend sein wird.« »Wieso das?« »In der vergangenen hast du mit deinem Freund die Kultstätte besucht, Rosanna. Du hast dort zum erstenmal die Geister der Toten gesehen. Die Blutgeister. Sie sind dort am Brunnen geblieben, aber das muss nicht so bleiben.« "Nein? Sie meinen, dass sie hierher kommen werden?« Das wollte Bill nicht bestätigen und ließ das lieber einen anderen machen. Er schaute mich an. Ich drückte mich nicht vor einer Antwort. »Möglich ist alles, aber nicht sicher. Wir haben noch Zeit, bis die Nacht hereinbricht. Ich möchte die Stunden gern nutzen.« »Was wollen Sie denn tun?« »Zu dieser alten Ausgrabungsstätte fahren.« »Und ... und ... dann? Glauben Sie mir nicht?« »Das hat niemand gesagt. Es ist möglich, dass wir dort etwas finden. Du hast uns von dem Blutbrunnen erzählt. Ich denke, dass wir ihn uns näher anschauen sollten.« Rosanna schauderte es. »Das ist ... gefährlich.« »Wir wissen uns schon zu wehren. Der Ort ist ja leicht zu finden.« »Heißt das, dass ich hier bleiben kann?« »Klar.« Sie war erleichtert und warf Ignatius einen fragenden und auch leicht ängstlichen Blick zu. Er verstand die Besorgnis darin und lächelte leicht. »Keine Sorge, ich werde hier im Ort bleiben und so etwas wie Stallwache halten. Einer muss ja hier die Augen offen halten.« »Dann kann ich in Ihrer Nähe bleiben?« »Ich denke schon.« Rosanna war erleichtert und bedankte sich. Zum ersten Mal sahen wir bei ihr wieder so etwas wie Lebensfreude. »Wann wollt ihr los?«, fragte Ignatius. »Sofort!« »Gut.« Er griff in die Tasche, holte den Zündschlüssel hervor und warf ihn mir zu. »Danke.« »Er brachte uns noch bis vor das Haus. Sein Gesicht zeigte große Sorge. »Das Unheil, John, bahnt sich nicht nur an, es ist schon da. Gebt Acht, passt um Himmels willen auf. Ich flehe euch an.« »Keine Sorge, wir kehren zurück.« »Das will ich auch hoffen ... «
Bill und ich waren sehr schweigsam, als wir mit dem Croma den Ort verlassen hatten. Wir fuhren nicht in Richtung der Ewigen Stadt, sondern entgegengesetzt.
Wie ein Feuerball stand die Sonne am Himmel und brannte auf das Land nieder. Die Klimaanlage musste gegen die Hitze ankämpfen. Zudem schleuderte der vor uns fahrende Bus noch dicke Staubwolken in die Luft, die uns die Sicht nahmen. Ich schaffte es schließlich, den Bus mit einem schnellen Manöver zu überholen. So lag der normale Landstrich vor uns wie eine Kulisse, die in einen Western gepasst hätte. Viel Steine, viel Staub, wenig Grün. Die wenigen Sträucher, die ihre Wurzeln in den Boden gedrückt hatten, waren schon jetzt im Juni staubbedeckt und zeigten ein schmutziges Grün. Dafür gab es keine Wolken am Himmel. Das herrliche Blau, noch blass, gemacht durch die Strahlen der Sonne, schien aus der Unendlichkeit zu stammen. Wir hatten beide die Sonnenbrillen aufgesetzt, um uns etwas zu schützen. Zwei, drei Kilometer ungefähr mussten wir fahren, dann sollte an der linken Straßenseite die alte Ausgrabungsstätte liegen. So war es uns von Rosanna erzählt worden. »Glaubst du denn, dass sich das Blut auch am Tag zeigt?.«, fragte Bill. »Keine Ahnung. Es muss ja nicht so sein. Für mich ist auch der verdammte Brunnen wichtig. Ich gehe davon aus, dass er in der Zeit der Etrusker als Opferbrunnen gedient hat.« »Oder als Aufnahmegefäß für das Blut.« »Auch das ist möglich.« »Ich kann mir nicht helfen, John«, sagte der Reporter nicht eben mit fröhlicher Stimme. »Aber ich habe hin und wieder das Gefühl, zu spät zu kommen. Das ist so, daran kannst auch du nichts ändern. Wenn der Brunnen tatsächlich so etwas wie eine Blut-Zentrale ist, dann hat sich das Zeug verdammt weit ausgebreitet, denn es ist bis in die Stadt und in die Kirche gelangt. Deshalb könnte er leer sein.« »Werden wir alles in Erfahrung bringen.« »Mal schauen.« Er schlug sich kurz gegen die Stirn. »Wenn Sheila wüsste, was wir hier erleben, wäre sie völlig von der Rolle und hätte mit ihren Warnungen wieder einmal Recht behalten.« »Willst du ihr nicht Bescheid geben?« »Gott bewahre. Es ist früh genug, es ihr zu erzählen, wenn wir die Dinge überstanden haben. « Wir hörten ein lautes Geräusch hinter uns. Dann rasten zwei Motorräder vorbei. Die Fahrer saßen tiefgeduckt auf ihren Maschinen und wurden von wirbelnden Staubwolken begleitet. Als diese sich gesenkt hatten und wir wieder besser sahen, da fiel uns an der linken Seite auf, dass das Gelände jetzt anstieg. Davon war auch gesprochen worden. Wir befanden uns nicht weit von der alten Etruskersiedlung entfernt. Über den steinigen Hang hätten wir jetzt nicht fahren können, doch am Ziel war er planiert worden, und so kamen wir auch mit dem Croma hoch. Auf der Straße rauschte der Bus vorbei, dann hatte uns die heiße und steinige Einöde verschluckt. Wenn wir Schatten haben wollten, dann hätten wir ihn uns malen müssen. Er war so gut wie nicht vorhanden, und den warfen auch die freigelegten Ruinen nicht. Sie standen da wie blasse Blöcke, um die der leichte Wind Staubwolken drehte. Ich hielt an. Weiter ging es nicht. Der Untergrund war einfach nicht befahrbar. Es lagen zu viele Steine und Blöcke herum, die uns behinderten. Von der Kühle in den Backofen. So kamen wir uns vor, als wir den Wagen verlassen hatten. Die Sonne war ein gnadenloser Folterknecht. Sie hatte die Luft stark aufgeheizt, so dass sie vor unseren Augen flirrte und tanzte. Einen Vorteil gab es trotzdem. Es war nicht so schwül, hier herrschte eine trockene Hitze.
Die alten Mauern standen zum Teil. Sie schimmerten hell, sahen brüchig aus, ragten aus der Erde hervor oder standen in kleinen Gruben, die die Archäologen bei ihren Grabungen hinterlassen hatten. Zeugen einer Vergangenheit, die mehr als zweitausend Jahre zurücklag. Über das Volk der Etrusker war nie so viel geschrieben worden wie über die Ägypter, Griechen oder Römer. Für sie interessierten sich mehr die Fachleute, zu denen ich mich nicht zählte. Aber sie hatten auch ihre Götter gehabt und sicherlich auch den Schwarzen Künsten gehuldigt. Der Brunnen war uns beschrieben worden, und so konnten wir ihn nicht verfehlen. Er bildete so etwas wie einen Mittelpunkt des Ausgrabungsfeldes. Von der Straße aus wurden wir nicht gesehen. Da war der Blickwinkel zu ungünstig. Bill ging neben mir her. Er schaute sich immer wieder um. Es wäre nicht nötig gewesen, denn wir waren hier allein. Bei der Hitze würde sich kaum jemand an diesen Ort verlaufen. Ich hatte den Brunnen als Ziel anvisiert und blieb vor ihm stehen. Normalerweise haben die alten Brunnen noch einen Aufbau, einen Hebel und eine Kurbel sowie ein Seil, an dem Gefäße in das Innere hinabgelassen werden konnten. Hier war davon nichts zu sehen. Es gab nur den aus der Erde ragenden Schacht, der wie das letzte Stück eines kantigen Schornsteins aussah. Dicht dabei blieb ich stehen, legte die Hände auf das warme und staubige Gestein des Rands und schaute ebenso in die Tiefe wie mein Freund Bill. Wir schauten beide in eine Dunkelheit hinein, die dicht unterhalb des Rands immer schwärzer wurde, denn das Licht reichte nicht sehr weit hinab. Ein Ende oder ein Grund war für uns nicht zu sehen. »Bist du jetzt enttäuscht?«, fragte Bill. »Warum sollte ich?« »Es ist nichts zu sehen.« »Doch.« »Dann bist du schlauer als ich.« Ich fuhr mit der Hand am inneren Rand des Brunnens entlang. Als dort durch den Druck die Kruste abblätterte und wie Staub in die Tiefe sank, der zudem noch eine rötliche Farbe besaß, da wusste Bill, was ich meinte. »Ja, der Rest des Blutes.« »Eben. Das Zeug hat sich wieder zurückgezogen. Es ist möglich, dass es auf dem Grund einen See bildet.« Er grinste mich an. »Jetzt wünschst du dir ein Seil, wie ich dich kenne.« »Nein, nicht einmal das. Darauf kann ich gern verzichten.« Ich streckte die linke Hand aus. »Sieh dir das an.« »Was?« »Da - an der Seite gegenüber. Das sind Tritte aus Metall. Und sie sehen mir alles andere als alt aus. Sie glänzen noch und scheinen mir erst vor kurzem innen angebracht worden zu sein. Ist das eine Chance oder nicht?« »Keine Ahnung«, flüsterte mein Freund. »Wer sagt dir denn, dass sie bis zum Grund durchgehen?« »Ich werde es darauf ankommen lassen.« Bill trat einen Schritt vom Rand weg und richtete sich auf. »Du ... du willst da tatsächlich runter?« »Klar, warum nicht?« »Mensch, mach dich nicht unglücklich.«
»Keine Sorge, Bill. Was andere können, das kann ich auch. Schau dir doch die Stufen an. Es liegt noch nicht lange zurück, dass dort jemand hergegangen ist.« »Ja«, sagte er stöhnend. »Da hast du Recht. Okay, ich versuche, dir hier den Rücken freizuhalten, aber rechne mit dem Schlimmsten.« »Das tue ich doch immer.« Ich klopfte Bill auf die Schulter und ging auf die gegenüber liegende Seite des Brunnens zu. Dort drangen die Sprossen aus der Wand. Ich kletterte auf den Rand, der zwar bröckelig aussah, aber mein Gewicht hielt. Ich drehte mich dort und stieg mit dem Gesicht zur Innenwand hin in den Brunnen hinein. Schon beim ersten Versuch hatte ich die Sprosse getroffen. Sie war zwar klein, aber sie erfüllte ihren Zweck. Auf nichts anderes war ich eingestellt. Es war unklar, wie tief der Brunnen war, aber ich bezweifelte, dass mir das Blut irgendwann entgegenquoll, um mich zu überschwemmen ...
Ich hatte aufgehört die Sprossen zu zählen, denn ich befand mich in einer Umgebung wieder, die meine gesamte Aufmerksamkeit erforderte. Mit viel Phantasie konnte man von einem Mittelstück zwischen Himmel und Hölle sprechen. Über mir der Himmel - jetzt nur noch ein viereckiger Ausschnitt und mit blauer Farbe gefüllt - unter mir drohte die Tiefe der Hölle. Ich sah auch Bill, wenn ich nach oben schaute. Der Kopf und ein Teil seiner Schultern ragten über den Rand hinweg. Ob er mich noch sah, wusste ich nicht, jedenfalls winkte er mir noch einmal zu. Hatten wir uns vorhin noch über die Hitze beschwert, so war sie Gold gegen eine Luft, die mich auf dem Weg nach unten umfing. Sie war als solche kaum zu bezeichnen. Vielleicht passte der Oberbegriff schwül, doch dazwischen hatte sich ein alter und auch nach Blut riechender Gestank ausgebreitet, der mir den Atem verschlug. Es gab keine Stelle an meinem Körper, die nicht klebte. Je tiefer ich kam, um so intensiver wurde dieser alte Gestank, als hätte er sich in Jahrtausenden in diesen Wänden gehalten. Eine Sprosse war locker. Auch das bestätigte mich in der Annahme, dass dieser Einstieg erst vor kurzer Zeit angebracht worden war. Ich fragte mich natürlich, für wen. Bestimmt nicht für Monster oder Dämonen, das hier wies eher auf einen Menschen hin, der dem Grund des Brunnens einen Besuch abstattete. Als die Öffnung über mir noch etwas kleiner wirkte und Bill ebenfalls, blieb ich stehen und holte die kleine Leuchte hervor. Mit einer Hand hielt ich mich an der Sprosse fest, drehte den Körper etwas zur Seite und schickte den Lichtstrahl dann in die Dunkelheit. Fast hätte ich gelacht. Der Boden lag zum Greifen nahe vor mir. Ich brauchte nur noch drei Sprossen zu überwinden, dann hatte ich ihn erreicht. Obwohl die Haltung nicht die angenehmste war, ließ ich mir Zeit und schwenkte die Lampe. Der Kreis huschte über einen Boden hinweg, der feucht schimmerte. Möglicherweise war es das alte Blut, das sich dort gesammelt hatte. Ja, das musste es sein, denn der Lichtarm traf auch die bleichen Gebeine, von denen Rosanna Fabrini berichtet hatte. Selbst den fleischlosen Skelettschädel sah ich. »Bill!« Ich brüllte den Namen meines Freundes so laut wie möglich. Er hatte mich gehört. »Wo bist du?«
»Auf dem Grund. « »Ja, ich sehe dein Licht. Was hast du gefunden?« »Erzähle ich dir, wenn ich wieder oben bin. Ich schaue mich erst mal um.« Die drei Stufen hatte ich schnell zurückgelegt. Zuerst erreichte ich mit dem rechten Fuß den Untergrund, der - und das hatte ich mir gedacht - ziemlich weich war. Er bestand aus feuchtem Schlamm, der sofort die Schuhe umklebte. Die Lampe leistete mir hier eine gute Hilfe. Sie strich über die nicht glatte Oberfläche hinweg, die eine rötlichbraune Farbe aufwies. Da mussten sich Blut und Schlamm miteinander vermischt haben. Hinzu kam noch der Gestank, der ein normales Atmen so gut wie unmöglich machte. Ich hatte den Eindruck, dass sich etwas Schweres auf meinen Brustkorb gelegt hatte. Zwar drang Luft durch den Schacht in das Innere, aber sie verwehte auf ihrem Weg zum Grund. Ich hatte Platz genug, um mich bewegen zu können und umging die Knochen, die aus dem Schlamm schauten. Das Licht der Lampe vertrieb die Finsternis an bestimmten Stellen. Ich leuchtete auch gegen feuchtes Mauerwerk und entdeckte auf dem Gestein ebenfalls die Krusten. Plötzlich sah ich das Loch! Die helle Lichtlanze fand keinen Widerstand mehr. Sie stach in eine dunkle Tiefe hinein, ohne einen Punkt zu finden, auf dem sich ein Kreis abgemalt hätte. Wer A sagt, muss auch B sagen. Stollen und unterirdische Gänge erwecken immer meine Neugierde. Auch in diesem Fall hatte sich daran nichts geändert. Um den Stollen betreten zu können, musste ich mich ducken. Ich hatte nie zur Zeit der Etrusker gelebt, aber ich wusste, dass die späteren Römer von ihnen einiges übernommen und auch gelernt hatten. So auch den Aufbau von Gängen und Kanalsystemen für ihre Bäder und ihre Bewässerungsanlagen. Ich ging davon aus, dass mich der Stollen in irgendeine Kammer führen würde, die noch nicht freigelegt worden war, wenn ich Pech hatte. Das musste ich erst einmal abwarten. Der Gang war wirklich stockfinster. Ohne Lichtquelle hätte ich nicht die berühmte Hand vor Augen sehen können. Mehr denn je war ich auf meine kleine Lampe angewiesen. Von der miesen Luft wollte ich erst gar nicht sprechen. Sie war da, und sie klebte auch in jeder Faser meiner Kleidung. Ich hatte das Gefühl, von ihr wie von einer unsichtbaren Wolke umschwebt zu werden, und konnte nur hoffen, dass ich noch länger durchhielt und mich der Gestank nicht irgendwann umwarf. Wo Schatten ist, gibt es auch Licht. Das traf bei mir sogar im übertragenen Sinne zu. Ich entdeckte ein Ziel. Das Ende des Lampenstrahls stach nicht mehr ins Leere, es tanzte plötzlich über ein Hindernis hinweg, das ölig glänzte. Nach wenigen Schritten schon traten die Wände des Stollens zurück, und mein Blick wurde frei. Es war phantastisch. Hier unten gab es eine kreisrunde Höhle mit einer gebogenen Decke. Sie war uralt, und sie war auch von den Archäologen noch nicht entdeckt worden, denn sie befand sich in ihrem Urzustand. Höhle und Opferstätte zugleich. Hier musste das Zentrum sein. Hier hatte man Charun die Menschen geopfert, und hier war auch das viele Blut geflossen. In der Mitte gab es einen See. Er war mit dem Blut der Verstorbenen gefüllt. Wie ein Lineal stach der Strahl der Lampe über die Oberfläche hinweg, als wollte er sie aufschneiden. Ich war von dem Anblick so fasziniert gewesen, dass mir erst jetzt die Kälte auffiel, die vom Blutsee in die Höhe stieg. Sie war tatsächlich wie ein Eishauch, streifte mein Gesicht und verteilte sich in der gesamten Umgebung des Blutsees.
Er lag völlig ruhig vor mir. Es gab auch keinen Windhauch, der über die Oberfläche gestrichen wäre und sie bewegt hätte. Wie ein flacher Spiegel bot sich der See meinen Blicken dar. Man konnte um ihn herumgehen. Dort befand sich ein breiter Felssims. Wie tief der Blutsee war, konnte ich nicht einmal ahnen. Seine Oberfläche sah matt aus und glänzte trotzdem. War es wirklich noch die alte magische Stätte der Etrusker oder hatte sie jemand ausgebessert, um sie so zu bekommen wie sie jetzt war? Möglicherweise schwebte noch der Geist des Götzen Charun hier herum. Mein Kreuz jedenfalls meldete mir nichts. Als ich danach fasste, fühlte ich eine normale Kühle. An einigen Stellen warf die Oberfläche einen Reflex ab. Oder auch einen gewissen Glanz, den ich kannte. Er entstand, wenn ein normaler See zufror. Dünnes Eis lag dann wie kleine Scheiben auf dem Wasser. Bisher hatte mich tiefe Stille umgeben. Die wurde abgelöst von einem seltsam klingenden Geräusch. Es war kein Schreien, es war auch kein Knurren, es war etwas anderes. Jedenfalls klang es sehr dumpf, als würde einem Menschen oder einem Tier etwas tief in das Maul hineingestopft. Für mich war noch nichts zu sehen, aber das änderte sich, denn der See geriet in Bewegung. Das schwere Blut schwappte hin und her. Wellen entstanden, die gegen das Ufer und auch noch darüber hinweg schlugen. Meine Füße wurden ebenfalls davon erfasst. Ich spürte die Nässe durch meine Schuhe dringen, ging aber nicht sehr weit zurück, um das Blut nicht aus den Augen zu lassen. Es schwappte weiter. Aus der Tiefe wurde es zudem noch von einem grollenden Geräusch begleitet, und plötzlich schoss es als Säule in die Höhe. Es war wie eine Fontäne, die gegen die Decke klatschte und dort einen Pilz bildete. Dann fiel das Blut wieder nach unten, verteilte sich mit dem anderen Blut im See, um erneut Anlauf zu nehmen. Hier war alles in Bewegung geraten, und nicht nur der See. Ich hatte mich zu sehr ablenken lassen, so war mir entgangen, dass das alte Blut auch aus dem Boden gebrochen war. Es klebte plötzlich an meinen Beinen, stieg sehr schnell höher und ich merkte die Nässe an den Hosenbeinen. Es stand fest, dass dieses Blut die Welt hier unten überschwemmen würde. Mit dieser Masse hatte ich beim besten Willen nicht gerechnet. Bei den Etruskern mussten unzählige Menschen geopfert worden sein, deren Blut man gesammelt hatte. In ihm steckte der Keim des Dämons Charun. Er war Menschenfresser und Herr der toten Seelen. Ich musste den Rückzug antreten, wenn ich nicht in Blut baden wollte. Das im wahrsten Sinne des Wortes. Mit langen Schritten brachte ich soviel Distanz wie nötig zwischen mich und den Blutsee. Ich hörte hinter mir das Toben der Flüssigkeit und erwartete schon, dass mächtige Wellen gegen meinen Rücken klatschten und mich nach vorn auf den Boden schleuderten. Es war der reine Horror. So etwas hatte ich auch noch nicht erlebt: vor dem Blut zu fliehen, das sich in diesem unterirdischen Tempel des Schreckens gesammelt hatte. Als ich den Boden des Brunnens erreichte, hatte mich noch keine Welle erwischt. Ich kam mir trotzdem vor, als hätte ich im Blut der längst Verstorbenen gebadet. Diese Welt hier wäre perfekt für Vampire gewesen. Nicht nur das Blut verfolgte mich, sondern auch der kalte Hauch. Er hing mir im Nacken wie eine Wand aus Eis. Die Tore einer anderen Welt mussten sich geöffnet haben. Ich glaubte sogar, im Klatschen der Wellen ferne Schreie zu hören, aber die bildete ich mir wohl nur ein. Der Blick nach oben! Verdammt, der Ausschnitt war so klein und schien von mir überhaupt nicht erreicht werden zu können.
Als ich auf der zweituntersten Stufe stand, warf ich einen Blick zurück. Ich hatte die Lampe noch eingeschaltet. Jetzt bekam ich mit, wie die Flut aus dem Gang strömte und dabei gewaltige Wellenberge warf, die gegen das Gemäuer klatschten. Die Lampe aus und hoch. Es war ein Klettern gegen die Zeit. Ich konnte mir vorstellen, dass das Blut schneller stieg, als ich kletterte, aber ich schaute nicht zurück, denn jede Sekunde war kostbar. Greifen, treten - greifen, treten. Nur nicht den Rhythmus verlieren. Nur nicht abrutschen. Wenn ich in die Masse hineinfiel, dann war ich verloren. Ich setzte den Kampf fort. Die Kälte blieb, der Blutgeruch und der Geschmack blieben auch, aber das Blut erreichte mich nicht. Über mir wurde das helle Viereck der Hoffnung allmählich größer. Kurz vor dem Ende des Schachts fiel mir wieder mein Freund Bill ein. Ich hätte ihn eigentlich oben am Rand sehen müssen. Ich erwartete, dass er mir die Hand reichte, um mir über den Rand des Brunnens nach draußen zu helfen, aber er war nicht da. Verbissen drückte ich mich in die Höhe. Ich sah die letzten Sprossen schon vor mir, zählte sie ab, und trotzdem kam mir der Rand noch meilenweit entfernt vor. Wenn ich hochblickte, verschwamm die Umgebung vor meinen Augen. Sie wurde zu einem roten wallenden Tuch, das aber nichts mit dem Blut zu tun hatte, dessen Masse innerhalb des Schachts immer höher stieg. Es war der Kampf gegen die Erschöpfung. Ich wollte ihn nicht verlieren, riss mich noch einmal zusammen und mich mit einem letzten Klimmzug bis zum Rand des Brunnens hoch. Andere Luft. Hitze! Das grelle Licht der Sonne. Ich war wie ein Mensch, der es geschafft hatte, den düsteren Kammern der Hölle endgültig zu entkommen. Mein rechtes Bein hob ich zuerst unter unsäglichen Mühen an, legte es auf den Rand und konnte mich so für einen Moment ausruhen. Dann rutschte ich weiter, zog dabei auch das andere Bein nach, lag auf dem Rand und rollte mich nach rechts. Wäre ich ein Filmheld gewesen, ich wäre aufgesprungen und hätte womöglich noch die Krawatte zurechtgezupft. Doch ich war ein Mensch, der sich leer und ausgepumpt fühlte und froh sein konnte, der unheimlichen Masse entwischt zu sein. Nichts ist unendlich im Leben. Auch mein Zustand hielt nicht ewig an. Es gelang mir wieder, klarer zu denken. Auch meine Sinne funktionierten besser. Ich hörte noch das Rauschen, aber das war eher ein Echo in meinem Kopf. Mit dem Blut hatte es weniger zu tun. Meine Sinne waren da, das Denken ebenfalls - und mir fiel wieder ein Name ein. Bill Conolly! Der Gedanke an ihn versetzte mir einen Stich. Was war passiert? Bill Conolly war jemand, auf den man sich hundertprozentig verlassen konnte. Wenn er jetzt nicht da war, dann hatte das einen triftigen Grund. Schon wieder schrillte die Alarmsirene in meinem Kopf. Auch wenn wir die Gegner nicht sahen, sie sahen uns, und genau das störte mich gewaltig. Etwas war hier faul! Bei diesem Gedanken wollte ich mich erheben und hatte die Arme bereits angewinkelt, um die Hände abzustützen, als es passierte. Ich hörte die Schritte. Sie knirschten auf dem mit kleinen Steinen bedeckten Boden. Sie wurden auch lauter, und dann hörte ich sie dicht neben meinem rechten Ohr. Das ist nicht Bill, durchfuhr es mich. Ich wollte aufspringen, doch die Bewegung erstarrte schon im Ansatz. Etwas Kaltes drückte gegen meinen Nacken. Es war nicht nur kalt, sondern auch rund.
Die Mündung einer Pistole. Und eine Flüsterstimme sagte: »Wenn du dich bewegst, fresse ich bald dein Gehirn ... «
Rosanna Fabrini und Father Ignatius hatten noch vor dem Haus gestanden und der Abfahrt des Wagens zugeschaut. Sehr schnell war der Croma zwischen den Häusern verschwunden. Die junge Frau zog wie fröstelnd ihre Schultern hoch, obwohl sie bei den Temperaturen kaum frieren konnte. Sie schaute ins Leere. Von der Seite her sah Ignatius den Schauer auf ihrem Gesicht. »Du frierst?«, fragte er. »Ja - schon.« »Aber es ist warm.« Sie hob die Schultern. »Ich weiß es nicht, Father. Es ist eine andere Kälte, die mich quält. Ich habe sie noch nie zuvor gespürt oder erlebt. Heute zum ersten Mal. Es ist die Kälte, die von innen kommt, als würde sie aus meinen Knochen entweichen. Komisch, Sie werden vielleicht lachen, aber so fühle ich es.« »Nein, warum sollte ich lachen?« »Sie sind erfahren. Ich lebe erst seit achtzehn Jahren auf dieser Welt und ... « »Darauf nimmt die Angst keine Rücksicht, Rosanna. Sie trifft junge und alte Menschen gleich, und das ist auch gut so. Denn Angst zu haben bedeutet, auch vorsichtig zu sein. Wenn sie vorhanden ist, tappt man nicht in jede Falle. Da muss man dann schon auf seinen Bauch hören, finde ich.« »Das haben Sie gut gesagt, Father. Irgendwie habe ich wieder etwas Mut bekommen.« »Das muss auch so sein. Du bist jung, und das Grauen wird bald vorbei sein, denke ich.« »Sagen Sie das nicht nur so?« »Nein, ich meine es ehrlich. John Sinclair und Bill Conolly sind Freunde von mir. Sie kennen sich in diesen Geschäft aus, das kann ich dir versprechen.« »Trotzdem bin ich nicht beruhigt. Ich frage mich auch, warum das Blut bei uns im Haus aus der Erde gequollen ist. Es gibt doch auch noch andere Häuser.« »Klar. Wer sagt dir denn, dass das bei anderen nicht passiert ist? Du hast noch mit keinem Menschen aus dem Ort darüber gesprochen.« »Ja, aber man hätte es erfahren. Die Leute wären aus den Häusern gerannt. Angst und so ... « »Mal sehen, was noch passiert. Was meinst du, sollen wir hier stehen und warten, bis die beiden zurück sind, oder willst du ins Haus gehen?« »Nein, nein, auf keinen Fall. Nicht ins Haus. Das ... das ... kann ich einfach nicht.« »Hast du denn eine Idee?« Rosanna zuckte die Achseln. »Hier will ich auch nicht bleiben, denn viele Leute starren uns schon an. Da ist es besser, wenn wir gehen. Andererseits wollte Flavio so früh wie möglich kommen und nicht erst bei Dunkelheit. Nachdem, was mit uns passiert ist, hat er große Angst um mich. Wir haben uns hier am Haus verabredet, aber jetzt bin ich mir nicht sicher.« »Kennst du keinen anderen Ort, an dem du gern bist.«
»Ja, im Café. Es ist weiter unten. Man kann dort gutes Eis bekommen. Wenn wir draußen sitzen, sehen wir auch die Straße. Flavio muss da sowieso immer halten. Der Verkehr ist ziemlich stark. Ich kann ihn dann zu uns holen.« »Das ist doch eine Idee!« »Dann gehen Sie mit?«, fragte Rosanna erstaunt. »Klar. Warum nicht?« »Na ja, Sie ... Sie ... sind so anders als die übrigen Gäste. Da sind zumeist jüngere vertreten.« »So alt fühle ich mich noch nicht. Du glaubst gar nicht, wie oft ich mit jungen Menschen zu tun habe. Wer sich das auf die Fahne geschrieben hat, bleibt selbst länger jung.« »Echt stark, wie Sie das sagen. Super.« »Dann lass uns gehen.« Der Weg führte sie in den unteren Teil der Stadt, wo sich auf recht engem Raum Geschäfte, Cafés und kleine Restaurants zusammenballten. Trotz der Hitze herrschte reger Betrieb, wovon auch das Eis-Café nicht ausgeschlossen war. Nur mit viel Glück erwischten die beiden einen freien Tisch. Das Café lag am Marktplatz. Der Besitzer hatte die Tische und die Stühle so weit nach draußen gestellt, dass die äußere Reihe dort abschloss, wo sich auch der Springbrunnen befand. Es war kein großer Brunnen. Er war rund, bestand aus blaugrauem Stein, und wer direkt an ihn herantreten wollte, musste eine breite Stufe hochgehen. Aus der Mitte des Brunnens ragte eine Gestalt hervor. Irgendein Phantasiewesen mit breitem Maul, aus dem drei kleine Fontänen spritzten. Es sah aus, als würde das Wesen das Wasser ausbrechen, weil es damit nicht mehr zufrieden war und lieber Bier haben wollte. Als sie ihre Plätze eingenommen hatten, warf Rosanna dem Brunnen einen skeptischen Blick zu. »Ist was?« »Ich mag jetzt keine Brunnen mehr.« Ignatius lachte. »Kann ich sogar verstehen. Aber mit dem hier ist das etwas anderes, denke ich.« »Das hoffe ich auch.« »Bestimmt.« »Hi, Rosanna, auch mal wieder hier.« Vom Nebentisch grüßten zwei junge Burschen, die ihre Muskeln unter den eng anliegenden schwarzen T-Shirts spielen ließen. Sie antwortete nicht. »Sogar ein frommer Mann ist bei dir. Soll er dir helfen, deine Unschuld zu verteidigen?« Der Typ hatte ziemlich laut gesprochen. Seine Stimme war an den Nebentischen zu hören gewesen, wo man alle Mühe hatte, nicht zu grinsen oder zu lachen. Rosanna hatte einen knallroten Kopf bekommen. Sie fühlte sich blamiert und gedemütigt, was wiederum Ignatius störte. »Lass mich das mal machen«, sagte er und drehte sich auf seinem Stuhl herum. Auch die beiden Großmäuler saßen im Schatten eines Sonnenschirms. Sie gehörten zu der Sorte, die viel in den Armen, aber wenig im Kopf hatten. Ignatius schaute sie nur an. »Ich weiß, dass es Menschen gibt, die keine Kinderstube gehabt haben, wie wir als Ältere sagen. Doch diese Masse aus Dummheit und Borniertheit braucht man nicht noch nach außen zu tragen. Es reicht, wenn ihr den Mund haltet und intelligenten Menschen nicht auf die Nerven geht. Haben wir uns verstanden?« Das hatten die beiden. Sie wurden plötzlich sehr still und schauten zur Seite. Father Ignatius war zufrieden. »Hat doch geklappt - oder?«
Rosanna hatte während des Gesprächs auf die Tischplatte geschaut. Jetzt sah sie hoch. »Ja, Father, bei Ihnen. Wäre ich mit Flavio hier gewesen, hätte es Ärger gegeben. Diese Typen halten sich für unwahrscheinlich cool.« »Dabei sind sie nur dumm. Aber das zu merken oder einem Menschen beizubringen ist nicht eben leicht.« »Bei denen schon gar nicht.« Die Bedienung hatte sie gesehen und stellte sich vor den Brunnen. »He, Rosanna, mal wieder da.« »Wie du siehst, Lucia.« »Seit du mit Flavio zusammen bist, sieht man dich kaum noch in Discos.« »Habe ich auch keinen Bock drauf.« »Aber auf Eis, wie?« »Ja, ich nehme den kleinen Hausbecher.« »Gut. Und Sie, Signore?« »Aqua minerale. Eine kleine Flasche. Ach ja, und bringen Sie mir noch einen Espresso.« »Alles klar.« Mit wehendem Rock schwang die Bedienung davon. Sie hatte ihr Haar ganz kurz geschnitten und den verbleibenden Flaum hellrot eingefärbt. »Kennst du sie?«, fragte Ignatius. »Ja. Wir sind mal zusammen in eine Klasse gegangen. Dann haben sich unsere Wege getrennt.« Ignatius fragte nicht mehr weiter. Er lehnte sich in seinem hellen Korbstuhl zurück und ließ die Blicke über den Parkplatz gleiten. Er sah aus wie ein entspannter Mensch, was er aber nicht war, denn im Innern sah es anders aus. Für ihn war das Leben und Treiben auf dem Marktplatz nur eine große Bühne, auf der Theater gespielt wurde, um das wahre Leben zu verdecken. Es hielt sich verborgen, es lauerte im Untergrund, und es hatte sich über mehrere Jahrtausende gehalten. Lucia servierte den Espresso. Auch die Flasche Wasser hatte sie mitgebracht, und das Eis war auch schon da. Die Schale stand ebenfalls auf dem Tablett. Aus ihr schauten die bunten Kugeln hervor, über die dicker, roter Kirschsirup lief, wobei Rosanna im ersten Moment wieder an das Blut dachte, denn ihre Lippen zuckten. Father Ignatius hatte es mitbekommen und sofort die richtigen Schlüsse gezogen. »So darfst du nicht denken, Kind. Das ist Saft und kein Blut aus dem Boden.« »Ja, ja, ich weiß. Aber es sieht so komisch aus.« »Lass es dir trotzdem schmecken.« »Danke.« Die übrigen Gäste hatten sich an den Anblick der beiden gewöhnt. Sie interessierten sich wieder für sich selbst oder ihre Getränke. Die Welt hatte die Normalität wieder zurückerhalten. Es gab keinen Hinweis auf einen Angriff. Aber Ignatius war vorsichtig. Er dachte dabei mehr an die Ruhe vor dem großen Sturm. Der Brunnen brachte etwas Kühle unter den Sonnenschirm. Er plätscherte vor sich hin, und an das Geräusch konnte man sich leicht gewöhnen. Wieder ließ Ignatius seine Blicke über den Markplatz gleiten, auf dem alles so friedlich wirkte. Er lag noch im Schein der Sonne, aber es gab nicht nur die Helligkeit, sondern auch die Schatten im Leben. Davon konnte Ignatius ein besonderes Lied singen. Sein Leben war spannend wie ein Roman gewesen, und das Schlusskapitel war noch längst nicht geschrieben worden,
Er überlegte, wie es weiterging. John Sinclair und Bill Conolly waren noch nicht zurückgekehrt. Ignatius wusste nicht, ob er sich deswegen Sorgen machen musste. Die beiden waren erfahren, aber sie hatten es hier auch mit den Kräften eines uralten Dämons zu tun, der es auch noch geschafft hatte, nach Tausenden von Jahren seine Macht irgendwie zu konservieren. Damals musste irrsinnig viel Blut geflossen sein, und dieses Blut war gesammelt worden. Ignatius kannte es aus dem Buch. Das Blut hatte den Boden benetzt und sich ausgebreitet. Es war kalt. Der Dämon wollte damit zeigen, dass es kein normales Blut mehr war, sondern eines, das er beeinflusst hatte. Dem Pfarrer Camino war es zuerst aufgefallen. Nur hatte er einen Fehler begangen. Er hätte sich nicht so sehr auf seine eigenen Kräfte verlassen sollen, sondern auf eine Zusammenarbeit drängen müssen. Ignatius sah, dass Rosanna ihn hin und wieder von der Seite her anschielte. Sie hielt sich mit Fragen zurück, löffelte ihr Eis, lächelte manchmal, und der Mönch fragte: »Wie schmeckt es denn?« »Gut, ja ... « »Das freut mich.« Das Wasser plätscherte weiter. Aus dem Maul der Figur drang es hervor, und es sah so aus, als wollte dieses Geschöpf es auf keinen Fall behalten. Es mochte das Wasser nicht. Es musste immer wieder ausgespien werden. Ignatius hatte den Dämon Charun zwar nur als Strichzeichnung gesehen, aber wenn er sich das wasserspeiende Monstrum so anschaute, dann konnte er durchaus eine Ähnlichkeit zwischen den beiden entdecken. Es war wohl nur Zufall oder auch Einbildung. Er schüttelte den Kopf, weil er irritiert war. Nein, das bildete er sich nicht ein. Er räusperte sich, blickte auf seinen Schützling, der nach wie vor das schon geschmolzene Eis als Suppe löffelte, und konzentrierte sich wieder auf den Brunnen. Es stimmte. Es war kein Irrtum. Das verdammte Wasser hatte sich leicht gefärbt. Es war rötlich geworden. Blass. Rosa. Das lag auch nicht an den Strahlen der Sonne, die ein Spektrum geschaffen hätten. Dieses Wasser hatte eine Veränderung erhalten. Es sah nicht mehr so hell aus, auch nicht so klar, und sein Schaum hatte eine rosige Farbe erhalten. Als wäre Blut in die klare Flüssigkeit hineingemischt worden. Father Ignatius verschlug es die Sprache. Er saß wie erstarrt da. Es rann eisig kalt über seinen Rücken hinweg. Das glatte Gegenteil zu den Strahlen der Sonne. Ihm war kalt, und trotzdem schwitzte er. Obwohl noch nichts passiert war, dachte er schon jetzt an die Folgen. Es war auch niemand gekommen und hatte rotes Farbmittel in das Wasser gestreut. Für diese Rötung gab es nur eine Ursache. Dieser verdammte Dämon Charun hatte seine Macht noch weiter ausgedehnt. Er war dabei, mit seinem Blut das gesamte Dorf zu terrorisieren. Rosanna Fabrini kratzte die Eisschale leer. Als sie den Blick hob, da fiel ihr auf, dass Ignatius' Haltung sich verändert hatte. Er saß nicht mehr so locker auf dem Stuhl, und er schaute starr an ihr vorbei. »Ist was, Padre?« »Nein, nein, Rosanna, alles okay.« »Ich will Sie ja nicht der Lüge bezichtigen, aber so wie Sie da sitzen, kann ich es nicht glauben.« »Abwarten.« Das wollte sie nicht, aber sie wurde abgelenkt, denn quer über den Platz kam jemand, den sie schon erwartet hatte. Es war ihr Freund Flavio Lucca. Er hatte seinen Roller abgestellt und lief mit langen Schritten auf den Tisch zu. »Das war Zufall, dass ich dich hier gesehen habe. Fast wäre ich vorbeigefahren.« Er blieb pustend vor Rosanna stehen, küsste sie flüchtig auf die Stirn und schaute Ignatius an. »Wer ist das denn?«
»Father Ignatius. Ein Freund.« »Ah ja. Willst du noch hier bleiben?« Rosanna schaute Ignatius an. »Ich weiß nicht so recht.« Der Mönch winkte ab. »Wir sollten noch abwarten«, schlug er vor. »Bis Ihre Freunde kommen?« »Nein, aber ... « Jetzt hatte auch Rosanna gesehen, was mit dem Wasser passiert war. Sie brach das Gespräch ab und kümmerte sich auch nicht mehr um ihren Freund. Wie angegossen saß sie auf dem Platz und konnte nur immer auf das Maul der Figur schauen, aus dem das jetzt schon recht rot gefärbte Wasser floss und immer wieder in den Brunnentrichter hineinklatschte. »Das ist ja rot!«, sagte sie stöhnend. »Stimmt.« »Wie Blut?« »Das will ich nicht hoffen.« Rosanna schüttelte den Kopf. »Es gibt keine andere Möglichkeit, Padre. Das Wasser ist mit Blut gemischt worden. Es wird immer roter. Gütiger Himmel, was kann das nur sein?« Ignatius enthielt sich einer Antwort. Die Farbe intensivierte sich. Man musste damit rechnen, dass später kein Wasser mehr, sondern kaltes Blut aus dem breiten Maul der Figur floss. Den anderen Gästen war noch nichts aufgefallen. Sie waren zu sehr mit sich selbst oder ihren Bekannten und Freunden beschäftigt. Das Stimmengewirr hatte sich gehalten, nur eben die drei konnten den Brunnen nicht mehr aus den Augen lassen. »Wie in der Nacht«, flüsterte Flavio. Er hatte sich gesetzt und schützend einen Arm um Rosanna gelegt. »Weiß der Padre denn Bescheid?« »Ja, ich habe es ihm gesagt. Er will uns helfen. Er und seine beiden Freunde aus England. Sie sind noch an der Ausgrabungsstätte und wollen sich dort umschauen.« Flavio zeigte Widerspruch. »Aber da ist doch das Blut gewesen, verdammt. Und nicht hier.« »Jetzt ist es aber hier!«, zischte Rosanna. »Es hat unser Dorf erreicht, das siehst du doch.« »Dann lass uns abhauen.« »Ha, wohin denn?« »Zu dir!« Rosanna musste wieder lachen. Diesmal lauter. »Willst du vom Regen in die Traufe kommen? Nein, Flavio, das geht nicht. Bei uns zu Hause ist das Blut aus dem Boden gequollen. Ich bin mir fast sicher, dass es auch an anderen Stellen so abgelaufen ist. In Häusern, in der Kirche, es wird bald überall sein. Das alte Blut der Menschen, die hier gestorben sind. Ich kann es nicht erklären, aber ... « »Hör doch auf!« Flavio griff nach Ignatius' Arm. »Können Sie denn nichts tun? Sie sind doch ein Mann der Kirche.« »Was verlangen Sie?« »Stoppen Sie es.« »Ich bin weder Zauberer noch Schamane, junger Freund. Hier sind andere Mächte am Werk.« Das sahen sie immer stärker. Der Anteil des Wassers in der Flüssigkeit war stark zurückgegangen. Was jetzt aus dem Maul der Figur schoss, hatte schon eine erschreckende Ähnlichkeit mit normalem Blut. Nicht nur von der Farbe her, auch von der Dicke. Es sah beinahe schon aus wie dunkelrotes Öl.
Erst jetzt fiel ihnen auf, dass es um sie herum still geworden war. Ignatius riskierte einen Blick zur Seite. Die anderen Gäste unterhielten sich kaum noch. Wenn, dann nur flüsternd. Und es gab keinen, der seinen Blick nicht auf den Brunnen gerichtet hätte. Selbst das Personal bediente nicht mehr. Die Mädchen standen wie Salzsäulen auf dem Fleck, und ihre Mienen sprachen Bände. Sie hatten Angst. Sie konnten es nicht fassen. Sie begriffen einfach nichts mehr. Das Blut floss träge aus dem Maul in den Brunnen hinein. Wenn es auftraf, hörte sich das Geräusch auch anders an als beim Wasser. Es verursachte ein hartes Klatschen, und es waren nur wenige Spritzer, die in die Höhe schossen. Dann schrie ein Mädchen. »Blut! Verdammt, das ist ja Blut! Ich werde nicht mehr. Das halte ich nicht aus!« Schreiend rannte sie davon und sorgte mit ihrer Aktion dafür, dass auch die anderen Gäste nicht mehr auf ihren Plätzen blieben ...
Die Stimme zu hören war für mich schlimm gewesen. Sie hatte einen widerlichen Klang. Ich konnte es mir nicht so recht erklären, aber für mich wirkte sie überzüchtet, und sie passte auch zum Druck der Mündung in meinem Nacken. Ich blieb auf dem Boden liegen. Ich wusste nicht, wer neben mir hockte, aber in diesen Sekunden dachte ich auch an meinen Freund Bill Conolly, von dem ich nichts gesehen hatte. Auch er musste überrascht worden sein. Das er mein Gehirn >fressen< wollte, war zwar normalerweise übertrieben, aber nicht ganz wegzudiskutieren. So etwas gab es oder hatte es gegeben, als der Götze Charun noch aktiv gewesen war. Aber das lag Tausende von Jahren zurück, und jetzt musste ich mir die Frage stellen, ob Charun gar nicht vernichtet worden war und immer noch irgendwie existierte. »Ich habe verstanden«, flüsterte ich in meinem miserablen Italienisch. »Aber was soll das alles? Wer bist du?« »Einer, der dich töten wird!« »Bist du Charun?« Ich hatte die Frage aufs Geratewohl gestellt und hörte zunächst ein Lachen. Wieder so schrill und unnatürlich. »Ich ... ich ... wollte, es wäre so. Mein Traum, ja, es wäre mein Traum. Aber er kann sich noch erfüllen. Ich werde fast an seine Macht heranreichen, wenn ich alles richtig mache.« »Du willst werden wie er?« »Ja. Das Blut ist da. Es ist nicht versickert. Keiner hat damit rechnen können, aber ich. Ich habe die Schriften studiert. Ich habe den alten Zauber genau nachvollzogen. Ich bin in der Lage, dir dies zu sagen. Das Blut ist da.« »Habe ich leider bemerkt«, erklärte ich. »Es hätte mich beinahe erwischt.« »Du bist nicht würdig gewesen. Du bist ein Fremder. Ein verdammter Eindringling. Ebenso wie dein Freund. Und deshalb werdet ihr beide zu den Opfern des großen Charun.« Das hatte ich mir gedacht. Ich blieb auch ruhig und sagte: »Trotzdem weiß ich nicht, wer du bist. Das hätte ich gern gewusst, aber du scheinst dich zu verstecken, wie jemand, der keinen Namen besitzt. Oder etwa doch?«
»Ich heiße Adolfi.« »Das bringt mich nicht weiter.« »Und ich bin ein Lukumone«, erklärte er voller Stolz. Nach dieser Antwort war ich zunächst einmal still. Ich musste einen Moment nachdenken und brauchte ein paar Sekunden, um mit dem Begriff etwas anfangen zu können. Ich kannte ihn aus dem Buch. Die Lukumonen waren die direkten Helfer des Dämons gewesen. Hohepriester, ähnlich wie bei den Pharaonen. Helfer in allen Lebenslagen. Nicht so mächtig, aber immer sehr darauf bedacht, etwas zu lernen und gewisse Dinge im Sinne ihrer angebeteten Herren weiterzuführen. Auch das Morden ... Dazu fiel mir die nächste Frage ein. »Dann waren Sie es, der den Priester getötet hat?« »Genau, ich bin es gewesen. Ich habe ihn vernichtet. Er war ein Unbelehrbarer. Ich habe versucht, mit ihm zu reden, doch es hat keinen Sinn gehabt. Er hat einfach nicht auf mich hören wollen. Aus diesem Grund musste er sterben. So einfach ist das gewesen. Jedem, der sich gegen mich stellt, ergeht es ebenso. Das Blut der Opfer gibt uns die Kraft. Es ist nicht verdampft, nicht vergangen. Es ist mit dem Keim des großen Charun infiziert.« Es gab also einen Nachfolger. Einen Menschen aus dieser Zeit. Einer, der im Dritten Jahrtausend herrschte und die Vergangenheit wieder hatte lebendig werden lassen. »Was hast du mit mir vor?«, erkundigte ich mich. Beim Sprechen hatte ich den Kopf wieder zur Seite gedreht, um nicht den verdammten Staub schmecken zu müssen. »Auch du wirst zu seiner Gabe. Ich werde dich ausbluten lassen, wie auch deinen Freund.« Da konnten wir uns auf etwas gefasst machen. Ob er bei Bill schon damit begonnen hatte, wusste ich nicht. Ich fragte ihn auch nicht danach, weil ich ihn nicht auf dieses Thema bringen wollte. Ich konzentrierte mich mehr auf mich selbst, und dabei spürte ich noch immer den Mündungsdruck der Waffe im Nacken. Mochte er auch mit der Vergangenheit verbunden sein, in der Gegenwart verließ er sich lieber auf die moderne Technik. An meinen Beinen klebten die Hosenbeine fest. Das Blut hatte sie feucht werden lassen. Es würde noch dauern, bis sie getrocknet waren. Es verdampfte auch etwas von dem Zeug, sodass stets ein Blutgeruch in meine Nase drang. Ich sagte nichts mehr und wartete auf weitere Befehle. Wahrscheinlich würde ich mich herumdrehen müssen, damit er mir die Waffe abnehmen konnte. Seltsamerweise passierte das nicht. Dafür verschwand der Druck aus meinem Nacken. Neben mir richtete sich Adolfi auf und trat etwas zur Seite, weil er einen Sicherheitsabstand einhalten wollte. »Du kannst jetzt aufstehen, aber vorsichtig.« Zunächst einmal sah es schlecht für mich aus. Adolfi hatte genau den richtigen Abstand gewählt, der einen Angriff meinerseits praktisch unmöglich machte. Hätte ich es auch nur versucht, hätte ich mir eine Kugel eingefangen. Dieser Adolfi war verdammt auf der Hut. Er hatte eine alte Null-Acht in der Hand. Sie war entsichert, und sein Zeigefinger umklammerte den Abzug. Zum erstenmal sah ich ihn auch in voller Größe. Er war schwer zu beschreiben. Dem Aussehen nach hätte er auch als Waldschrat durchgehen können. Das Haar war vielleicht seit Jahren nicht mehr geschnitten worden. Strähnig und auch lockig umwuchs es seinen Kopf. Es schimmerte blauschwarz und leicht feucht. Viele Strähnen klebten zusammen. Von seinem Gesicht war nicht viel zu sehen, weil es von einem ebenfalls dunklen Bartgestrüpp umwuchert wurde. Die Lippen fielen auf. Sie erinnerten mich an feuchte Schläuche. Kleine Augen schimmerten unter den dichten Brauen. Die Pupillen schienen in einer Flüssigkeit zu liegen, die selbst dunkel war. Vielleicht an eisiges Blut erinnerte, das dabei war, allmählich zu tauen.
Er trug dunkle Kleidung, auf der Staub und Schmutz klebte. Adolfi war ein Mensch und kein Dämon, doch er hatte es geschafft, den dämonischen Keim in sich hineinzuholen. Ich hatte meine Arme nicht angehoben. Das wollte Adolfi auch nicht. Er befahl mir nur, mich umzudrehen, und tat mir den Gefallen, mich nicht nach einer Waffe zu durchsuchen. Er fühlte sich sehr sicher. Vielleicht deshalb, weil er bei Bill auch keine gefunden hatte. Von meinem Freund war nichts zu sehen. Adolfi musste ihn irgendwo hingeschafft und versteckt haben. Ich hoffte nur, dass Bill noch lebte und nicht allmählich ausblutete. »Jetzt geh!« »Wohin?« »Am Brunnen vorbei und in die Ausgrabungsstätte. Wenn du vor einer Treppe stehst, wirst du sie hinabgehen.« »Gut.« Es blieb mir nichts anderes übrig. Außerdem sah ich es als nicht so schlimm an. Er würde mich sicherlich zu Bill führen und damit an einen Ort, an dem wir gemeinsam sterben sollten. Ich ging langsam. Die Hose klebte noch immer an den Beinen. Das Blut verdampfte. Ich bekam seinen alten Geruch einfach nicht aus der Nase. Ich hörte Adolfi lachen. Er sprach mit sich selbst. Einige Male hustete er auch, und mehrmals fiel der Name Charun. Zwar war die Zeit fortgeschritten, und die Sonne hatte sich auch gesenkt, aber sie brannte trotzdem noch auf meinen Rücken. Als läge dort eine heiße Hand, die sich nicht lösen wollte. Der Brunnen lag bald hinter mir. So wurde mein Blick frei für die Ausgrabungsstätte. Ich sah mich von den alten, bräunlich-gelben Mauern in verschiedener Höhe umringt. Ich ging über einen Boden, der mit Steinen und Staub bedeckt war, und verspürte den Wunsch, einen ganzen See leerzutrinken. Die Archäologen hatten sich tief in die Erde eingegraben. Das große Viereck kannte ich schon. Es lag vor und unter mir wie ein gewaltiges Grab. Wenn jemand hier arbeitete, dann wurden Leitern angelegt, die in die Tiefe führten. Jetzt waren sie verschwunden, aber ich sah tatsächlich die Stufen der Treppe. Sie würde mich in das Zentrum bringen. Im Moment war das für mich nicht wichtig, denn mir war etwas anderes aufgefallen. Ich sah meinen Freund Bill. Trotz der relativ weiten Entfernung war zu erkennen, dass es ihm nicht gut ging. Er war an eine Wand gefesselt. Er hatte die Arme ausgestreckt, und die Füße baumelten über den Boden hinweg. So hing er dort wie ein altes Kleidungsstück, das niemand mehr haben wollte. Bei seinem Anblick hatte ich unwillkürlich meine Schritte verlangsamt. Das merkte auch Adolfi. Er begann zu lachen. Dann sagte er: »Da kannst du schon erkennen, was ich mit dir machen werde. Aber zunächst kommt dein Freund an die Reihe.« »Das werden Sie nicht schaffen!« »Verdammt, geh runter!« »Ja, schon gut. Nur keine Panik.« Es gab kein Geländer, und die Stufen der Treppe waren nicht eben glatt. Außerdem waren sie unterschiedlich hoch, da musste ich beim Hinabgehen schon aufpassen. Nach unten rollen wollte ich auf keinen Fall. Ob sich dort unten das Zentrum des dämonischen Heiligtums befand, das wusste ich nicht. Es konnte auch der Brunnen sein. Vielleicht war der Brunnen auch nur die Lagerstätte für das vergossene Blut der unschuldigen Opfer.
Bill hatte mich gesehen. Er hing nicht mehr so starr. Zweimal hatte er den Kopf gedreht und mir damit klargemacht, dass er noch am Leben war. Es dauerte lange, bis ich die verdammte Treppe endlich hinter mir gelassen hatte. Nach der letzten Stufe atmete ich auf. Jetzt stand ich auf dem unheiligen Boden der alten Etrusker. Was sich früher hier einmal befunden hatte, konnte ich an Hand der verbliebenen Reste beim besten Willen nicht herausfinden. Die Mauern gaben mir keine Auskunft. Der Boden war mit Staub bedeckt und knochenhart. Ich sah einen Kreis. Er war in den Boden eingezeichnet. Bei genauem Hinsehen entdeckte ich auch das große Gebilde, das die Mitte des Kreises einnahm. Meiner Ansicht nach war es ein Gesicht. Man konnte auch von einer hässlichen Fratze sprechen, die hier zurückgelassen worden war, um der Nachwelt zu zeigen, wer hier existiert hatte. Die Fratze kannte ich aus dem Buch. Teuflisch, dämonisch, mit einem breiten Maul. So war Charun der Nachwelt hinterlassen worden, und so hatte er ausgesehen. Bill musste direkt auf dieses blasse Gebilde schauen. Er hing an einer Mauer und war nicht in der Lage, sich aus eigener Kraft zu befreien. Seine Arme waren in die Höhe gestreckt, die Hände zusammengebunden, und das Band wiederum war mit seinem Ende durch einen in die Wand geklopften Fleischerhaken geschlungen. Es war eine Haltung, aus der er ohne fremde Hilfe nicht mehr herauskam. Sie war einfach schrecklich. Die Füße pendelten über dem Boden. Sein gesamtes Körpergewicht wurde nur von den Armen gehalten. Bestimmt litt Bill unter starken Schmerzen. Zudem hing er in der Sonne. Die Strahlen trafen ihn voll. So konnte man die Haut eines Menschen rösten. Trotzdem grinste Bill mich an, als er mich sah. Aber die Hoffnung zerbrach, denn hinter mir erschien Adolfi mit schussbereiter Pistole. Er lachte leise. Er war der Herrscher, und er befahl mir, mich umzudrehen, was ich auch tat. Ich schaute ihn an und blickte auch auf die Waffenmündung. »Hier ist der Ort des Sterbens gewesen«, flüsterte er mir zu. »Hier kannst du noch heute sein Abbild sehen. Hier sind die Opfer ausgeblutet. Hier sickerte es in den Boden hinein und fand seinen Weg durch die Stollen und Kanäle bis in den Brunnen hinein. Diese Welt haben die Archäologen nicht entdeckt, das kann ich dir schwören.« »Das ist vorbei, Adolfi!« »Nein!«, schrie er mich an. »Es fängt erst an. Oder es fängt wieder an. Mächtige Dämonen wie Charun leben weiter. In anderen Personen. In mir, denn ich habe das kalte Blut gefunden, und ich habe es getrunken wie ein Vampir. Es hat mich stark gemacht. Ich fühle mich als Lukumone, aber nicht mehr lange, denn bald werde ich durch die Kraft des Blutes sein wie Charun. Ich habe alles gut vorbereitet. Niemand störte mich, bis der erste Schrecken in Form des gefrorenen Blutes in Limano auftauchte. Es war der Beginn der Blutpest, die sich in diesem Dorf und in der nahen Umgebung ausbreiten wird. Das schwöre ich dir. Auch euer Blut wird dazugehören.« Aus Bills Mund drang ein krächzendes Lachen. Er hüstelte auch, als er sprach. »Glaubst du wirklich, dass du es schaffst, Adolfi? Ich halte dagegen. Deine Zeit und auch die Zeit des Dämons Charun ist längst abgelaufen. Da kannst du versuchen, was du willst. Du kommst nicht an dein Ziel. Auf keinen Fall.« Vielleicht war Adolfi Widerspruch nicht gewohnt. Welchen Grund hätte er sonst haben können, sich so aufzuregen? »Halte dein verdammtes Schandmaul«, schrie er, sonst jage ich dir einen Kugel in den Schädel. Ich will dich ausbluten sehen. Ich werde zuschauen, wie das Blut vom Boden geschluckt wird. Und ich weiß, dass es dein Freund sein wird, der dich hier absticht.«
Das waren ganz neue Vorschläge. Ich konnte nicht sagen, dass sie mir gefielen, aber Adolfi schien sich schon darauf eingestellt zu haben, denn er griff mit der freien Hand unter seine Kleidung und holte ein Messer mit langer Klinge hervor. Mit einer knappen Bewegung schleuderte er es in meine Richtung, ohne mich treffen zu wollen, denn es blieb vor meinen Füßen liegen. »Da, deine Waffe!« »Ja und?« »Du wirst sie nehmen und deinem Freund damit den Körper aufschneiden. Klar?« Es war ihm ernst. Er starte mich an, und ich gab den Blick zurück. In seinen Augen malte sich keine Spur von Nachgeben ab. Er war voll entschlossen, die alten Mord-Rituale wieder aufleben zu lassen, und da waren Bill und ich der Mittelpunkt. Noch zögerte ich, was Adolfi nicht gefiel. Er hatte die Waffe jetzt mit beiden Händen umklammert und zielte auf meine Stirn. »Wenn du in zwei Sekunden nicht das Messer aufgenommen hast, ist es vorbei. Alles klar?« »Ich habe verstanden!« Eine Kugel wollte ich mir nicht fangen. Adolfi führte Regie, und er machte es so grausam wie nur möglich, denn er hätte Bill auch allein umbringen können. Aber er wollte die Schau. Wahrscheinlich trat er damit auch in die Fußstapfen des Dämons. Die Klinge hatte auf dem Boden gelegen und war dabei leicht staubig geworden. Es hatte ihr trotzdem nichts von ihrer Schärfe genommen. Es war kein normales Messer. Das war schon ein Hirschfänger. »Fühlt sich gut an, nicht?« Ich hob die Schultern. Adolfi ging zurück und drehte sich dabei etwas zur Seite. So hatte er einen besseren Schusswinkel und konnte sowohl Bill als auch mich im Auge gehalten. »Du kannst ihm zuerst die Kleidung auftrennen, und dann schneidest du von oben nach unten in den Körper. Fang mit der rechten Seite an, danach nimmst du die linke. Anschließend kommen die Beine an die Reihe, und wenn er kurz davor ist, zu sterben, wirst du dir das Gesicht vornehmen.« Wir hatten uns diese menschenunwürdigen und perversen Vorschläge anhören müssen. Ich merkte, wie die Wut in mir hochstieg. Nein, das war mehr als Wut. Das waren schon Hass und Zorn, was mich da übermannte. »Na los, geh hin!« Er würde mich treffen. Bill bedeutete keine Gefahr für ihn. Der Reporter versuchte trotzdem, mir zur Seite zu stehen. »Hör zu, Adolfi, das wirst du nicht schaffen. Nein, auf keinen Fall. Wir sind einfach zu gut für dich. Derjenige, der sein Blut verlieren wird, bist einzig und allein du. Kapiert?« »Halt dein Maul, verdammt!« »Warum? Jeder, der hingerichtet werden soll, hat einen letzten Wunsch. Ich mache da keine Ausnahme, und deshalb sage ich dir ... « »Neinnn, du sagst gar nichts!«, brüllte Adolfi meinen Freund an und fuhr in seiner Wut zu ihm herum. Genau das hatte Bill gewollt, denn auch die Waffe hatte die Bewegung mitgemacht. In dieser einen Sekunde musste ich meine Chance nutzen. Wie ein Stein ließ ich mich fallen. Das Messer warf ich zur Seite, denn mit der Beretta konnte ich besser umgehen. Sie lag in meiner Hand, als ich den Boden erreichte. Dann hörte ich den Schuss.
Die Kugel hätte mich auch jetzt treffen können, aber der Einschlag erfolgte nicht. Statt dessen schoss ich zurück. Lag dabei halb auf dem Rücken und halb auf der Seite. Ich musste Adolfi zurückzwingen, damit er nicht in seiner Wut und Enttäuschung auf den wehrlosen Bill feuerte. Ich hatte ihn nicht getroffen. Auch der zweite Schuss verfehlte ihn knapp. Es konnte auch sein, dass die Kugel ihn gestreift hatte. Aber er nutzte die Gelegenheit zur Flucht. Im Zickzack rannte er von uns fort und auf die gegenüberliegende Wand zu. Erst jetzt sah ich, dass es dort eine Öffnung gab, in die er hineinhechtete. Adolfi tauchte unter wie ein Fisch im Wasser. Er war einfach zu schnell, und zudem gab es innen eine Tür, die er zurammte. So hatte ich als Verfolger keine Chance, ihn mit einer dritten Kugel zu stoppen. Da war er schon in der Unterwelt verschwunden. Es gab hier Gänge und Kanäle, es gab den Brunnen, und es gab auch Ausgänge. Wir hätten tagelang suchen können, ohne ihn zu finden. Aber man trifft sich im Leben immer zwei Mal. Ich war sicher, dass er mir noch vor die Mündung laufen würde. Es drohte keine Gefahr mehr. Jetzt war es nur wichtig, dass ich meinen Freund Bill befreite. Zum Glück hatte Adolfi mir das Messer überlassen. Das hob ich auf und ging zu meinem hängenden Freund. Bill hatte die Augen geschlossen. Er stöhnte. Es ging ihm nicht eben gut. »Hinter der Mauer steht eine Leiter. Die musst du dir holen, John. So kannst du an die Stricke herankommen.« »Okay, noch ein paar Sekunden.« Ich holte die Leiter, lehnte sie neben Bill an die Mauer und schnitt die Fesseln durch. Diesmal hielt den Körper nichts mehr. Die Gravitation zog ihn an. Bill fiel auf die Füße, konnte sich aber nicht halten und sackte zusammen, wobei er mir in die Arme fiel. Ich ließ ihn zu Boden gleiten und drückte ihn mit dem Rücken gegen die Mauer. Die Strahlen der Sonne hatten auf seinem Gesicht einen Brand hinterlassen. Er stöhnte und flüsterte dabei: »Das möchte ich nicht noch mal erleben, verdammt. Das ging wirklich bis an die Grenzen. Habe ich überhaupt noch Arme?« »Keine Sorge, die sind noch dran.« »Ich spüre sie aber kaum.« »Das wird sich geben.« Er schaute zur mir hoch. »Danke, Alter. Ich bin ein Idiot, wirklich ein verdammter Idiot. Ich habe mich von diesem Adolfi überrumpeln lassen. Ich stand am Brunnen, schaute in die Tiefe und wollte deinen Weg verfolgen. Dann ist er gekommen. Er hat mich groggy geschlagen, bevor er mich aufhängte. In meinem Kopf geht es drunter und drüber. Ich hasse diesen Ort und seine verdammte Hitze.« »Aber du kannst gehen?« »Sicher.« So sicher war es nicht. Bill war schon froh, dass ich ihn dabei unterstützte. Mit seinen Armen hatte er ebenfalls Probleme. Er stöhnte, wenn er sie bewegte. »Ich werde wohl ausfallen. Meine Arme sind gar nicht da. Es brennen nur die Schultern. Manchmal hatte ich das Gefühl, als würden sie mir aus dem Körper gerissen.« Ich ließ Bill reden. So etwas brauchte er jetzt, um den Schock einigermaßen zu verkraften. Zwischendurch schaute ich mich nach Adolfi um, denn vergessen hatte ich ihn nicht. Und auch jemand wie er würde nicht aufgeben. Er hatte etwas in Bewegung gebracht, das sich so schnell nicht zurückdrehen ließ.
Vor der Treppe blieben wir stehen. Sie sah von unten aus recht lang aus, und Bill holte ein paar Mal Luft, bevor er sagte: »Komm, wir müssen es packen.« Es gab kein Geländer. Aber Bill hatte mich, der ihm die nötige Stütze gab. »Ich komme mir vor wie ein alter Mann«, sagte er krächzend. »Verdammt noch mal.« »Der Jüngste bist du ja auch nicht mehr!« »Hör auf, Alter. Das hält mir Sheila schon oft genug vor. Ist eben ihre Art, um mich mehr ans Haus zu binden. Aber Unkraut vergeht nicht so leicht, kann ich dir sagen.« »Das haben wir ja hier erlebt.« »Eben.« Bill stieg wieder zwei Stufen hoch und blieb stehen. »Was ist denn mit dir passiert, John?« »Was meinst du?« »Du warst plötzlich aus dem Brunnen verschwunden. Einfach weg. Nicht mehr zu sehen.« »Da war mir zu viel Blut.« »Ach.« Ich erzählte ihm, weshalb ich die Flucht hatte ergreifen müssen, und Bill war der Ansicht, dass da noch einiges auf uns zukam. »Da gebe ich dir Recht. Charun hat nicht aufgegeben. Er hat einen adäquaten Nachfolger gefunden, das gebe ich dir schriftlich. Außerdem riechst du, als würdest du selbst ausbluten.« »Danke für das Kompliment.« »Gern geschehen«, erwiderte er stöhnend und stieg wieder auf die nächst höhere Stufe. Wir hatten den größten Teil der Strecke hinter uns gelassen, und der Rest war beinahe ein Kinderspiel. Als wir die Treppe bewältigt hatten, ließ sich Bill auf einen nahen Stein fallen. Er stöhnte auf und versuchte, seine Arme zu bewegen, was ihm auch gelang, allerdings nur unter Schmerzen. »Und?«, fragte ich. »So langsam kommt es wieder.« »Wunderbar.« »Wir müssen zurück«, sagte ich. »Bist du dir sicher?« »Ziemlich. Dieser Adolfi, der uns leider entwischt ist, fühlt sich wie Charun. Und der hatte sein Reich nicht nur hier auf die Ausgrabungsstätte beschränkt. Er hat es viel weiter gezogen, und zwar auch dort, wo wir jetzt das Dorf Limano finden.« Bill schloss für einen Moment die Augen. »Und es weiß keiner davon?«, fragte er. »Nein, abgesehen von uns und Ignatius.« »Dann steht den Bewohnern was bevor.« Ich wiegte den Kopf. »Es kann sein, dass wir es abwenden können, darauf wetten möchte ich nicht.« »Egal, wir müssen zurück. Ich brauche auch was zu trinken und eine Tablette gegen die Kopfschmerzen. Lass uns fahren.« Ich warf noch einen letzten Blick zurück, während sich Bill in die Höhe quälte. Er drückte seine Hände gegen den Kopf. Es war das Letzte, was ich von ihm vorläufig wahrnahm, denn als ich einen Blick über den Rand hinweg in die Tiefe der Ausgrabungsstätte warf, da glaubte ich, einen Traum zu erleben. Das durfte doch nicht wahr sein! Der Boden hatte sich verändert. Unter ihm malten sich rötlichbraune Adern ab, als wären sie in einem fremden Körper gefangen.
Dabei blieb es nicht. Das Blut floss, und es gab einen Druck ab, dem die Oberfläche nicht standhalten konnte. An verschiedenen Stellen sprudelte es in die Höhe wie gefärbtes Wasser. Besonders dort, wo sich der Kreis befand, in dem sich die Fratze des Dämons abmalte. Bill war aufgefallen, dass ich mich nicht mehr bewegte. Er stützte sich an meiner Schulter ab und sah ebenfalls, was dort unten vor sich ging. »Nein, verdammt ... Es breitet sich aus. Es ist überall. Und nicht nur im Brunnen!« »Komm, du hast es gesagt. Es breitet sich aus. Ich will nicht, dass Limano von dieser verdammten Blutwelle überschwemmt: wird.« Mit langen Schritten eilten wir zum Croma. Selbst Bill brauchte nicht mehr gestützt zu werden. Mir gelang noch ein Blick in den Himmel. Die Sonne hatte sich verfärbt und schon einen rötlichen Farbton angenommen. Sie würde irgendwann ganz verschwunden sein. In der Dunkelheit besaß das Böse immer mehr Chancen ...
Im Nu war die Panik auf dem Markplatz perfekt. Wo eben noch eine so gute und fröhliche Stimmung geherrscht hatte, war die Angst nicht mehr zu stoppen. Sie bedeutete für die Gäste des Cafés die Flucht aus dieser Region. Keiner wollte mehr in der Nähe .eines Brunnens bleiben, aus dem das Blut in wahren Lachen schoss und in das Auffangbecken klatschte. Father Ignatius, Rosanna und auch Flavio ließen sich von der allgemeinen Hektik nicht anstecken. Flavio hatte zwar auch flüchten wollen, war jedoch von Rosanna festgehalten worden, die immer in der Nähe des Mönchs blieb, weil sie sich dort noch am sichersten fühlte. Hinter ihnen fielen Stühle um. Da rutschten Tische zur Seite, da glitten Gläser, Flaschen und Schalen zu Boden, die mit einem lauten Klirren zerbrachen. Die Menschen verteilten sich in den nahen Gassen oder suchten Schutz in irgendwelchen Hauseingängen, um von sicheren Stellen aus das unheimliche Schauspiel zu beobachten. Es floss kein Wasser mehr, es floss jetzt richtiges Blut. In breiten Fahnen schwappte es hervor und klatschte in den Brunnen hinein, wo es sich ausbreitete, wie der in den Abflüssen verschwand, um von einer Pumpe hochgedrückt zu werden. Ein ewiger Kreislauf. Wasser wär wunderbar gewesen, nur kein Blut, das zudem noch eine widernatürliche Kälte abgab, die Father Ignatius entgegenwehte . Er ging auf den Brunnen zu. Er wollte seine direkte Nähe erleben, blieb am Rand stehen und störte sich nicht daran, dass auch seine Kleidung ein paar Spritzer abbekam. Die rote Flüssigkeit drang in einem breiten Strom aus dem Maul. Ignatius rechnete mit allem. Es hätte ihn nicht einmal verwundert, wenn die Steinfigur plötzlich lebendig geworden wäre. Aber sie blieb starr. Nur das Blut spuckte sie weiter. Father Ignatius hörte hinter seinem Rücken die aufgeregten Stimmen der Menschen und sah dann einen Polizeiwagen über den Parkplatz fahren. Das Auto nahm Kurs auf den Brunnen. Dicht davor stoppte es. Zwei Carabinieri sprangen heraus. Sie liefen auf den Mönch zu und blieben neben ihm stehen. An der Kleidung erkannten sie, wen sie vor sich hatten, und Ignatius wurde auch sofort angesprochen. »Haben Sie eine Erklärung?« »Nein, ich glaube nicht.«
»Aber das ist Blut.« »Sicher.« »Wo kommt es her?« »Möglicherweise aus der Erde.« »Nein, das geht nicht. In der Erde befindet sich kein Blut. Das wissen wir.« »Dann sind Sie schlauer als ich.« Der zweite Beamte war um den Brunnen herumgegangen, um nachzuschauen, ob er etwas sah, das zur Aufklärung beigetragen hätte. Es war nicht der Fall. Er hob beide Arme, sodass die beiden Schweißflecken an den Ärmeln sichtbar wurden. »Da ... da ... hat sich jemand einen Scherz erlaubt. Irgendwelche Typen, die immer cool sein wollen. Die sitzen irgendwo und lachen sich halbkrank, die ... «, er hörte auf, weil er den Blick des Mönchs auf sich gerichtet sah. »Oder etwa nicht?« »Eher nicht.« »Dann kann ich auch nichts mehr sagen.« »Es kommt aus der Erde«, erklärte Ignatius. Er sprach laut, um das Klatschen der Flüssigkeit zu übertönen. »Auch wenn Ihr Kollege es nicht einsehen will, aber ich bleibe dabei.« »Aber der Grund ... « Ignatius schüttelte den Kopf. »Fragen Sie nicht nach Gründen, die man sich mit dem normalen Verstand nicht erklären kann. Es gibt Situationen, da muss man die Dinge einfach so hinnehmen wie sie sind. Das ist hier der Fall.« »Für alles gibt es eine Lösung.« »Stimmt. Aber Sie müssen auch bereit sein, ungewöhnliche Lösungen zu akzeptieren.« »Wie sollen wir das verstehen?« »Manchmal ist die Vergangenheit nicht tot«, sagte Ignatius. »Das erleben wir hier. Auch was schon Tausende von Jahren zurückliegt, ist manchmal nicht tot.« Die Polizisten schüttelten ihre Köpfe. Etwas darauf erwidern konnten sie nicht. »Kennen Sie die Vergangenheit des Ortes hier? Ich meine, die sehr lange zurückliegende.« »Nein, nicht.« »Es geht um einen alten Fluch oder um einen Vorgang, der in etruskischer Zeit seine Geburt erlebt hat. Erst in diesen Tagen ist er wieder zum Vorschein gekommen. Ich weiß nicht, wie weit diese alte Sache noch gehen wird, aber rechnen Sie bitte damit, dass dieses nicht das gesamte Blut gewesen ist.« »Wie? Noch mehr?« »Ja.« »Hier?« »Nicht unbedingt hier am Brunnen, aber im Ort verteilt. Es kann aus dem Boden treten. Es kann aus den Wänden sickern, und es ist möglich, dass es die Menschen hier verändert.« Einer der Carabinieri lachte. Er schlug dabei gegen seine Mütze. »Wenn ich das in der Zentrale berichte, halten die mich für ausgeflippt und sperren mich ein. Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, Monsignore, aber das glaube ich nicht.« »Das ist Ihr Problem. Sagen Sie später nicht, Sie wären nicht gewarnt worden.« »Ach, hören Sie doch auf!« Für die beiden Polizisten war Ignatius nicht mehr interessant. Sie gingen in das Eis-Café, um dort mehr über den unerklärlichen Vorfall erfahren zu können.
Da die Carabinieri nicht mehr da waren, trauten sich Rosanna und Flavio wieder näher. Der junge Mann, der sein Haar zu einem Zopf gebunden hatte, war blass geworden. »Stimmt das denn, was Sie da alles gesagt haben?«, fragte er flüsternd. »Leider.« »Welcher alte Fluch?« »Charun.« »Kenne ich nicht.« Ignatius lächelte. »Ist auch nicht weiter tragisch. Bleib bei deiner Freundin. Es kann auch sein, dass in einigen Stunden alles vorbei ist. Das hoffe ich zumindest.« Rosanna fragte: »Was haben Sie denn vor?« Ignatius hob die Schultern. »Ich kann eigentlich gar nichts tun. Ich muss auf die Rückkehr meiner Freunde warten. Meiner Ansicht nach sind die beiden schon beunruhigend lange fort. Sie könnten in Schwierigkeiten geraten sein.« »Am Brunnen?« »Ja.« »Da haben wir auch die Gestalten gesehen. Totengeister oder so ähnlich. Es war schlimm.« Father Ignatius räusperte sich. »Wir müssen davon ausgehen, dass vor mehr als zweitausend Jahren auch dieser Ort hier unter dem Einfluss des Dämons stand. Dieser Einfluss oder dessen Macht hat sich zwar zurückgebildet, aber jetzt ist er dabei, sich wieder auszubreiten. Ich kenne die Gründe nicht und weiß auch nicht, wer dahinter steckt. Es muss uns gelingen, den Dämon zu vernichten. Oder zumindest seinen Helfer, der ihn leitete.« »Ja, aber wie?« »Du brauchst dich darum nicht zu kümmern, Rosanna. Das erledige ich mit meinen Freunden.« Das junge Mädchen konnte den Optimismus des Mannes nicht teilen. Es sprach davon, mit den Eltern reden zu wollen. »Sie werden das Blut in unserem Haus entdeckt haben«, sagte sie. »Da ist es besser, wenn ich zu ihnen gehe.« »Wie?«, rief Flavio. »In eurem Haus auch?« »Ja, es kam aus dem Fußboden.« Der junge Mann verdrehte die Augen. Er schlug ein Kreuzzeichen. Dass er Angst hatte, stand in seinem Gesicht geschrieben. Auch zitterte er und wusste nicht, wohin er schauen sollte. Die Szenerie auf dem Markplatz hatte sich verändert. Es lag auch an der tiefstehenden Sonne, die ihre eingefärbten Strahlen schräg über den Platz hinwegschickte. Auch der Blutbrunnen wurde getroffen, und so vereinigte sich das Abendrot mit der dunkleren Farbe des noch immer ausströmenden Lebenssafts. Und die Kälte blieb. Sie war nicht nur in der Nähe des Brunnens zu spüren, auch wer sich von ihm entfernte, spürte sie. Auf dem Platz hatte sie sich verteilt, und Ignatius, der sich ständig drehte, rechnete damit, dass das Blut auch an einigen anderen Stellen an die Oberfläche quellen würde. Die beiden Polizisten liefen aus dem Café. Ihre Gesichter hatten einen leicht verstörten Ausdruck bekommen. Sie sahen aus, als wollten sie unbedingt mit Ignatius sprechen. »Was ist passiert?«, fragte er. »Wir haben keine Erklärung bekommen. Aber in der Küche des Cafés ist auch Blut hervorgetreten.« »Wo genau?« »Aus einem Spülbecken. Wir waren dabei. Plötzlich schoss ein Schwall hervor, und dann war Ruhe.« »Es sucht sich seine Bahn.«
»Aber das ist doch irre! «, schrie der Größere der beiden. »Daran kann man nicht glauben.« »Sie brauchen es auch nicht zu glauben. Sie brauchen es nur zu sehen, Signori.« Beide waren auch weiterhin ratlos. Ignatius gab ihnen den Rat, im Ort zu bleiben und zu versuchen, die Menschen zu beruhigen. »Und denken Sie daran«, fügte er noch hinzu. »Das Blut ist nicht nur auf einen Fleck oder eine Stelle begrenzt. Es kann überall austreten. Im Freien und auch in den Häusern.« Beide nickten, aber nur einer sprach. »Ich glaube, das haben wir jetzt begriffen.« Ignatius lächelte. »Es würde mich freuen.« Trotzdem waren die beiden nicht bereit, die Vorgänge weiter zu melden. Sie gingen allerdings quer über den Platz auf eine Gasse zu. Unterwegs wurden sie von zahlreichen Menschen angesprochen, ohne jedoch Antworten auf entsprechende Fragen geben zu können. »Wollen Sie hier auf dem Markplatz bleiben, Father?« erkundigte sich Rosanna bei Father Ignatius. »Ja, das werde ich.« Er wies in Richtung Landstraße. »Es ist nicht nötig, wenn ihr auch in meiner Nähe bleibt. Geht ruhig. Du wirst deinen Eltern etwas erklären müssen, wenn Sie schon zu Hause sind.« Rosanna nickte. »Das glaube ich auch. jetzt werden sie mich bestimmt nicht für verrückt halten. Nach dem, was hier passiert ist, müssen sie anders denken.« »Wir sehen uns noch.« Die beiden gingen weg. Und sie schritten über einen so gut wie menschenleeren Markplatz hinweg, auf dem eigentlich nur Father Ignatius neben dem Brunnen stand und zuschaute, wie das Blut in einem breiten Streifen nach unten klatschte. Er hätte viel dafür gegeben, das Grauen zu stoppen, doch auch ein Mann der Kirche war hin und wieder ratlos. Hier hatte das Unheil zu lange in der Erde lauem und Kräfte sammeln können, um sich so einfach vertreiben zu lassen. Im Moment spie nur der Brunnen Blut. Aber es war auch in der Küche des Cafés hervorgesprudelt, Ignatius spielte mit dem Gedanken, sich dort kundig zu machen, als er durch das Geschehen auf dem Platz abgelenkt wurde. Er musste zugeben, dass der Schwall Blut aus dem Brunnen nur so etwas wie ein Vorspiel gewesen war, denn von irgendeiner zentralen Stelle aus hatte es das Blut geschafft, sich unterhalb des Bodens bis in den Ort hinein auszubreiten. Unsichtbar war es herangekrochen. Es war auch nicht zu hören gewesen, aber es zeigte jetzt welche Kraft in ihm steckte, denn das Pflaster besaß nicht genügend Druck, um es zurückzuhalten. Die Steine bewegten sich nicht nach oben, doch zwischen ihnen, aus den Ritzen, drängte sich die Flüssigkeit hervor. Rot! Rot wie das Blut aus dem Brunnen. Wenn man Father Ignatius gefragt hätte, wie er sich fühlte, dann hätte er gesagt wie jemand, der auf verlorenem Posten stand ...
Wir waren in den aufgeheizten Fiat Croma gestiegen und hatten beide das Gefühl erlebt, in einer Sauna zu stecken. Ich wunderte mich darüber, dass ein Mensch so viel Schweiß besaß. Mein Gesicht klebte. Der Staub darin vermischte sich mit dem Schweiß zu einer klebrigen Schicht und ich hatte wieder Mühe, etwas Genaues zu sehen, weil mir die Staubwolken den größten Teil der Sicht nahmen.
Bill, der neben mir saß, massierte seine Arme in den Schultergelenken. Sein Gesicht zeigte dabei einen verbissenen Ausdruck. Er erinnerte mich an jemand, der es unbedingt schaffen wollte, auch wenn die Hürden noch so hoch lagen. Es waren nur wenige Kilometer bis zum Ort aber die können sich auch hinziehen, wenn man es eilig hat. Das war bei uns der Fall. Ich befürchtete, nicht mehr rechtzeitig genug zu kommen. Dieser Adolfi hatte den Fluch des Dämons auf die Reise geschickt, und Limano lag greifbar vor ihm. Auf der Fahrt erlebten wir keine Veränderungen. Die Umgebung blieb normal. Es gab keine Stelle am Boden und auf der Straße vor uns, die das Blut ausgespuckt hätte. Aber es war da. Es war unterwegs, und wir gingen davon aus, dass es den Ort schon erreicht hatte. »Was ist mit deinen Armen, Bill?« »Geht schon wieder. Ich freue mich auf Adolfi.« »Vorsicht. Übernimm dich nicht.« »Keine Sorge, John, der legt mich nicht noch einmal rein.« Vor uns lag Limano. Nichts wies darauf hin, dass sich etwas verändert hatte. Nur hatte die Sonne bereits eine andere Färbung angenommen, und die strich über die Häuser hinweg wie ein verdünnter Blutschein. Der Nachmittag neigte sich allmählich dem Ende entgegen. Mit dem Abend und der Nacht würde auch die Dunkelheit kommen. Die Landstraße führte unten vorbei. Wir bogen in eine der schmalen Gassen ein. »Wo willst du hin, John?« »Zu Rosanna.« »Und dann?« »Bei ihr hat es begonnen. Ich will sehen, ob sich das Blut ausgebreitet hat.« »Okay.« Bill räusperte sich. »Wenn du mich fragst, John, dann ist das bereits der Fall gewesen. Ich habe es besser als du, weil du fahren musst. Aber mir ist die veränderte Atmosphäre nicht entgangen. Um diese Zeit sind die meisten Menschen doch vor ihren Häusern, weil es bald abkühlt. Schau dich um, du siehst niemand auf der Straße. Sie müssen Angst haben.« »Kann, muss aber nicht sein.« »Doch, doch. Das habe ich im Gefühl. Wir sind leider zu spät gekommen, verflucht!« Ich war nicht so pessimistisch wie Bill und hielt mich auch mit einer Antwort zurück. Ich lenkte den Wagen vorsichtig bergauf. Auf der linken Seite tauchten plötzlich die Schatten auf. Ich war gezwungen, hart auf die Bremse zu treten, sonst hätte ich die Gruppe der jungen Leute erwischt. Sie warfen weder einen Blick nach rechts noch nach links. Für sie war es einzig und allein wichtig, so schnell wie möglich wegzulaufen. »He, was war das, John?« »Eine Flucht. Die haben Angst gehabt.« »Dann fahr mal weiter«, sagte Bill und stöhnte dabei. Ich musste noch um eine Linkskurve herum, um die Gasse zu erreichen, in der die Fabrinis wohnten. Endlich kam mir die Gegend bekannt vor, auch wenn die Schatten mittlerweile dichter und größer geworden waren. Wie graue Tücher sanken sie von den Hauswänden herab. Es war mir egal, dass ich mitten im Weg parkte. Nachdem der Wagen stand, eilte ich auf die Haustür zu. Das Holz war nicht eben dünn. Trotzdem hörte ich innen die Stimmen der Menschen. Wenn mich nicht alles täuschte, waren es zwei Frauen, die sprachen. Ich hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Tür. Das Geräusch würde das Schreien hoffentlich übertönen. Tatsächlich wurde die Tür sehr bald aufgerissen.
Vor mir stand Rosanna mit verheultem Gesicht. Im Hintergrund sah ich einen jungen Mann mit langen Haaren. Das musste Flavio sein, von dem Rosanna erzählt hatte. Nicht weit entfernt, auf der Schwelle einer Tür, hielt sich Rosannas Mutter auf. Die Frau hielt den Stiel eines Besens fest. Um das breite untere Ende hatte sie einen Lappen gewickelt, der einmal hell gewesen war, nun aber die Farbe von Blut angenommen hatte. Bestimmt hatte sie damit den Boden gewischt. Für Rosanna war ich wie der rettende Engel erschienen. Sie rief meinen Namen und hätte sich fast in meine Arme geworfen, so froh war sie, mich zu sehen. »Was ist denn los?« »Das Blut, das Blut ... « »Hier?« »Ja, ja. Aber meine Mutter glaubt mir nicht. Sie denkt, ich hätte irgendeine Schweinerei hinterlassen. Sie will es aufwischen, aber es kommt immer wieder nach.« Sie fuhr über ihre Stirn. »Bitte, können Sie ihr nichts sagen?« Dazu kam ich nicht. »Ist das dieser Engländer, von dem du erzählt hast, Rosanna?« »Ja, Mutter.« »Er soll verschwinden, denn mit ihm hat das verdammte Unglück begonnen.« Das tat ich nicht. Ich ging sogar in das Haus hinein. »Beruhigen Sie sich, Signora Fabrini. Ihre Tochter hat Recht. Es ist alles so gelaufen, wie sie es sagt.« »Blut, wie? Blut aus dem Boden!« »Leider ja.« »Wo kommt es denn her?«, schrie sie mich an. »Wie kann Blut aus dem Boden dringen?« Ich hatte keine Lust und auch nicht die Zeit, mich mit der Frau auf eine lange Diskussion einzulassen. Deshalb wandte ich mich an ihre Tochter. »Wir waren ja nicht hier, Rosanna. Was ist inzwischen passiert? Und wo finden wir Father Ignatius?« »Auf dem Marktplatz. Er wollte dort auf euch warten.« »Gibt es einen Grund?« Rosanna schien nur auf diese Frage gewartet zu haben, denn plötzlich brach es aus ihr hervor. Die Worte verließen ihren Mund wie ein Sturzbach, und ich musste mich schon sehr anstrengen, um etwa die Hälfte zu verstehen. Sie krallte sich an mir fest und sprach dann mit fast überkippender Stimme davon, dass das Blut den gesamten Ort unterwandert hatte. »Hast du sonst noch etwas erlebt? In den anderen Häusern vielleicht?« »Nein, nein, nur hier.« »Okay, dann bleib du im Haus. Und sag deiner Mutter noch einmal, dass alles stimmt, wie du es erzählt hast.« »Wo willst du hin?« »Zum Marktplatz.« Da sagte sie nichts mehr Sie ließ mich los und schlug ein Kreuzzeichen, bevor sie ein Gebet flüsterte. Schaden konnte es sicherlich nicht, denn dieses Bergdorf wirkte auf mich wie von allen Schutzengeln verlassen, um der Hölle freie Bahn zu verschaffen ...
Ein Wächter, der auf das Blut achtete, so kam sich Father Ignatius vor. Er war in der Nähe des Brunnens geblieben, denn diese Stelle garantierte ihm den besten Überblick. Der Platz war menschenleer geworden. Es musste sich überall im Ort herum gesprochen haben, welches Unheil da aus dem Boden gedrungen war. Und dieses Unheil war sichtbar. Das Blut hatte den Markplatz in gewisser Weise überschwemmt. Es gab keine Fuge zwischen den Steinen, die verschont geblieben wäre. Der Druck aus der Tiefe war mächtig gewesen. Ignatius sah das Blut. Es zeichnete die Fugen nach. Sie waren dunkler geworden, aber auch glänzender. Die Oberfläche des Blutes schien mit einer Ölschicht bestrichen worden zu sein. Hinzu kamen die Geräusche und der Geruch. Er lastete wolkenschwer über dem Platz. Es war der Gestank von altem Blut, in den sich der Geruch von verwesendem Fleisch mischte. Es geschah nichts schnell. Der Rhythmus wurde schon beibehalten. Zudem brachte er die Kälte mit. Es war kaltes Blut. Vereistes. Es knisterte, wenn es aus der Erde drang. Die Laute glichen denen von brechenden Eierschalen. Ignatius wollte gar nicht daran denken, wie viele Opfer für diese Masse an Blut gesorgt hatten. Charun musste eine wahre Schreckensherrschaft ausgeübt haben. Ein Vlad Dracula der Etrusker, dem Menschen in das gierige und unersättliche Maul gestopft worden waren. Er hatte sie verschluckt und ihr Blut gesammelt. Ähnlich wie in einem gewaltigen, unter der Erde liegenden Brunnen. Father Ignatius drehte sich etwas zur Seite, um den Brunnen genauer sehen zu können. Die Figur hatte sich nicht verändert. Dennoch war etwas dort eingetreten. Aus dem Maul schwappte das Zeug nicht mehr mit einer so großen Wucht hervor. Die rote Flüssigkeit war mehr zu einem Rinnsal geworden. Manchmal fielen auch nur dicke Tropfen nach unten. Father Ignatius konnte mit dieser seltsamen Figur nichts anfangen. Aber er ging davon aus, dass es sich bei ihr nicht um ein Abbild des Götzen handelte. Die Erbauer hatten sich irgendeine scheußliche Gestalt einfallen lassen, nicht bedenkend, dass diese Scheußlichkeit noch übertroffen werden konnte. Blut aus dem Eiskeller. Die Kälte war zu spüren. Sie lag über dem Marktplatz wie ein unsichtbares Tuch. So mussten es auch die beiden jungen Menschen in der Nacht erlebt haben, als sie den alten Brunnen besuchten. Dass dort einmal die Opferstätte gewesen war, konnte Ignatius vergessen. Das war Vergangenheit. Menschen ließen sich jetzt nur in den Dörfern fangen, und das Blut hatte tatsächlich seinen Weg geschafft. Aber wer leitete es? Der Mönch wollte nicht glauben, dass alles nur aus eigenem Antrieb geschehen war. Es musste jemand geben, der es lenkte, der seine Fäden im Hintergrund zog. Es würde nichts bringen, wenn er sein Kreuz hervorholte. Vielleicht war es ihm möglich, dem Blut die Kälte zu nehmen. Das hatte John Sinclair ja am Taufbecken bewiesen, aber es würde nicht so verschwinden, wie er es sich vorgestellt hatte. Gut, er besaß ein Kreuz, nur hatte das nicht die Macht des Talismans eines John Sinclair. In der letzten Minute hatte er sich zu stark seinen Gedanken hingegeben und weniger darauf geachtet, was mit dem Blut passierte. Als er seinen Blick jetzt wieder über den Marktplatz streifen ließ, konnte er genau sehen, was sich verändert hatte. Das Blut hatte seine Kälte verloren. Es knisterte nicht mehr. Es brach nicht mehr zusammen. Es zeigte auch keine hellen Spuren auf der Oberfläche, obwohl es noch vom Glanz der sich allmählich zurückziehenden Sonne gebadet wurde. Der gesamte Marktplatz hatte eine andere Oberfläche erhalten. Father Ignatius scheute sich nicht davor, von einem Blutteppich zu sprechen.
Und der veränderte sich weiter. Ignatius hörte plötzlich die anderen Geräusche. Das leichte Schmatzen und das Blubbern. Er kannte die Geräusche aus der Kirche her, und auch Rosanna Fabrini hatte davon gesprochen. Ignatius erlebte das Phänomen unmittelbar und in seiner Nähe. Das Blubbern, dann das Aufsteigen der Blasen und schließlich das Platzen, wenn die dünnen Häute brachen und dabei kleine Spritzer durch die Luft wirbelten. Er verharrte auf der Stelle und blickte nach unten. Seine dunklen Schuhe hatten einen roten Rand bekommen. Ignatius merkte erst jetzt, dass auch in seiner unmittelbaren Nähe die Blutmengen aus dem Boden gedrungen waren. Unmerklich hatte sich zudem das Licht verändert. Die Helligkeit des Tages war verschwunden, obwohl die Sonne sich noch nicht zurückgezogen hatte. Ein grauer Schatten war dabei, sich aus dem Boden des Markplatzes zu erheben. Zuerst glaubte Ignatius, sich geirrt zu haben. Aber er hatte Unrecht. Es war kein Irrtum. Die Schatten fielen nicht von oben. Sie bauten sich aus dem Blutteppich hervor auf. Während er beobachtete, bildete die Erinnerung ein anderes Bild. Er sah sich in der Sakristei zusammen mit der jungen Rosanna. Er hörte noch ihre Stimme, als sie von ihren Erlebnissen berichtet hatte. Die blanke Angst über das Erlebte hatte darin mitgeklungen. Sie und ihr Freund hatten die ungewöhnlichen Schatten gesehen. Die dunklen Blutgeister, die sich in der Nähe des Brunnens aufgehalten hatten und nun ebenfalls dabei waren, sich zu formieren. Das viele Blut hatte die Totenkälte verloren. Da war das Eis geschmolzen, jedoch nicht die Kraft. Durch die Wärme begann es zu dampfen und nicht zu verdampfen. So hatten die Totengeister der Geopferten freie Bahn! Ignatius hielt den Atem an. Er bekam eine Gänsehaut. Dabei hatte er das Gefühl, von Kälte durchrieselt zu werden. Es gab keine Stelle mehr auf dem Markplatz, die sich nicht verändert hatte. Überall stiegen die geisterhaften Säulen aus dem Blutboden. Sie drehten sich dabei in die Höhe. Wenn er genau hinschaute, dann sah er schon, dass sie menschliche Gestalten angenommen hatten. Es war schon ein magisches Phänomen. Sie drehten sich hin und her. Sie wallten, und sie sahen tatsächlich so aus, als lägen Kutten über der Schwärze, denn die Unruhe war bei ihnen einfach nicht zu stoppen. Blutgeister? Totengeister? Er tippte auf beides. Feinstoffliche Gestalten, die in früherer Zeit dem Götzen geopfert worden waren. Man hatte die Körper getötet man hatte ihnen das Blut genommen, aber man hatte es nicht geschafft, ihnen den Geist zu nehmen. Es gab sie noch. Sie fanden keine Ruhe. Sie drehten ihre Kreise. Sie hatten mehr als 2000 Jahre ohne Erlösung irgendwo in einem anderen Reich vegetiert, und nun drehten sich die Gestalten wie makabre Tänzer auf dem Marktplatz, als hätte das Jenseits seine Pforten geöffnet, weil es sie nicht mehr haben wollte. Sie waren vor ihm, sie waren hinter ihm, sie umschwebten den alten Brunnen. Ignatius konnte hinschauen, wo er wollte, er würde ihnen nicht entgehen. Die Schatten bildeten einen dunklen Nebel, der über dem Platz tanzte und schwebte. Unheimlich anzusehen. Blass, durchsichtig, aber trotzdem kam er Ignatius irgendwie fest vor. Sie waren in ständiger Bewegung. Manchmal blitzte es in der Mitte der Körper auf, als hätten dort kleine Lichter ihre Plätze gefunden. Es war auch kein Laut zu hören. Sie schwebten durch die gespenstisch gewordene Landschaft und sonderten diesen alten Geruch ab, der Ignatius den Atem raubte. Über ihren Köpfen war das helle Licht verschwunden. Schatten beherrschten den Platz. Sie drehten sich. Sie bewegten sich mal nach vorn, dann wieder zur Seite, aber sie taten nichts.
Father Ignatius hatte mit einem Angriff gerechnet, doch da hatte er sich geirrt. Sie ließen ihn in Ruhe, obwohl er der einzige Mensch auf dem Platz war. Die anderen hatten sich zurückgezogen. Wo die Gäste des Cafés sich aufhielten, war dem Mönch unbekannt. In den Häusern, vielleicht versteckt in den Gassen, wo sie angstvoll zusammengedrängt standen und das Geschehen aus sicherer Entfernung beobachteten. In der magischen Kälte war das Blut gefroren. Aber diese Zeit war vorbei. Nun zeigten sie sich wie Seelen, die der Reihe nach ihr Toten-Gefängnis verlassen hatten. Der Marktplatz war für sie zu einem Tanzplatz geworden, denn sie fanden keine Ruhe und drehten sich weiter. Sie gaben keinen Laut ab. Weder ein Flüstern noch einen Schrei. Nur blitzte hin und wieder kurz ein Licht auf, als wäre der letzte Lebensfunke in ihnen noch vorhanden. Ihnen gehörte der Platz. Ihnen würde bald der gesamte Ort mit seinen Bewohnern gehören. Ein Begriff wie Blutrache schoss Ignatius durch den Kopf, obwohl er dafür kein Verständnis hatte. Er wusste nicht, an wem sich die alten Totengeister hätten rächen können. Da gab es für ihn keinen Grund. Dann änderte sich die Szene. In der ungewöhnlichen Stille waren Schritte zu hören. Sie wirkten wie Echos, die auch durch die geisterhaften Wesen kaum gedämpft werden konnten. Die Geräusche kamen näher. Ignatius schritt durch das am Boden klebende Blut am Brunnen vorbei und genau in die Richtung, aus der die Geräusche drangen. Die Geister gab es. Und es würde sie auch weiterhin noch geben. Aber es gab noch jemand anderen. Kein Geist. Eine normale Person, ein Mensch. Father Ignatius blieb stehen. Es war noch nicht zu dunkel. Er konnte ihn sehen, wie er als unheimliche Gestalt durch den Geisterreigen schritt. Er ließ sich nicht stören. Mit tänzelnden Bewegungen wichen die Totengeister zurück, um ihm den nötigen Platz zu schaffen. Ignatius wollte nicht länger warten. Ihm war klar gewesen, dass jemand das Unheil dirigierte. Er blieb stehen. Es war genau der richtige Ort. Ignatius wunderte sich über seine eigene Stärke. Er hätte sich eigentlich fürchten müssen, was nun nicht der Fall war. Nahezu gelassen wartete er auf die Person, die für all dies verantwortlich war. Der Mönch war froh, dass es so weit gekommen war. Er ließ den anderen kommen, der ihn längst gesehen haben musste. Ignatius sah sich einer dunkel gekleideten Gestalt gegenüber, bei der nicht nur die Kleidung dunkel war, sondern auch das dichte, lange Haar. Das gesamte Gesicht wirkte dunkel, was zum großen Teil am Bart lag, der um das Gesicht herum wie Gestrüpp wuchs. Der Fremde blieb stehen. Er sagte nichts. Er tat etwas anderes. Er lachte schaurig auf ...
Eigentlich hatten wir uns vorgenommen, zu rennen oder zumindest so schnell wie möglich zu gehen, um den Markplatz zu erreichen. Das taten wir auch, aber wir gaben es auch schon wieder auf, weil uns die Umgebung mehr interessierte. Bisher hatten wir Limano nur als kleines verschlafenes Bergdorf nahe der Ewigen Stadt erlebt. Das hatte sich geändert. Es gab Menschen, aber sie handelten nicht mehr so, wie es normal gewesen wäre. Sie kamen uns entgegen, sie drückten sich in Türnischen oder verschwanden fast schattenhaft in ihren Häusern. Vor irgend etwas hatten sie schreckliche Angst und wirkten wie von mächtigen Peitschenhieben getrieben.
Wir gingen gegen den Strom. In jedem Gesicht malte sich die Angst ab. Wir hörten ihre Stimmen. Es waren zumeist junge Leute, die sich verstecken wollten. Die Angst des Erlebten stand ihnen in den Gesichtern geschrieben. Viele sahen aus, als hätten sie den Teufel persönlich gesehen. Bevor ein junger Mann in einer sehr engen Gasse verschwinden konnte, bekam ich ihn zu fassen und zerrte ihn zurück. Er fiel gegen mich und gurgelte dabei auf. »Ganz ruhig!«, zischte ich ihm zu. »Ganz ruhig. Hier ist alles normal.« Meine Worte zeigten Erfolg. Er versuchte nicht, sich aus dem Griff zu befreien. »Was ist auf dem Platz passiert?« Er duckte sich wie unter einem Schlag. Dann schüttelte er den Kopf. »Nicht hingehen, nicht ... « »Was ist passiert?«, fragte auch Bill. Der junge Mann verdrehte die Augen. Dann hatte Bills Frage gewirkt, und wir bekamen die Antwort. Sie wurde mehr gekeucht als gesprochen. »Blut! Nur Blut. Überall ist Blut. Es ist schrecklich. Ich habe es gesehen. Es dringt aus dem Boden. Es sind überall Quellen, die das Blut ausspucken. Grauenhaft. Gestank und ... ich weiß nicht!« Das letzte Wort war ein Aufschrei, dann war er auch nicht mehr zu halten und verschwand in der Gasse wie ein gejagtes Tier. Bill Conolly starrte mich an. Er brauchte nichts zu sagen. Der Ausdruck in seinem Gesicht sprach Bände. Adolfi hatte sein Versprechen wahrgemacht. Zumindest befand er sich auf dem Weg dorthin. Ich war mir sicher, dass jemand wie Father Ignatius dabei nicht wich und sich ihm entgegenstellte. Wir rannten los. Es war auch nicht weit. Die Gasse, in der wir uns befanden, führte auf den Marktplatz. Wir hatten ihn noch nicht erreicht, als wir das widerliche und hässliche Lachen hörten. »Adolfi!«, keuchte Bill.
Das Lachen hatte nicht lange angedauert. In einem letzten schrillen Ton war es verklungen oder wie von den Blutgeistern geschluckt. Ignatius hatte sich davon nicht beeindrucken lassen. Er stand auf der Stelle, umgeben vom Platzen der Blasen, die sich noch immer auf der Oberfläche bildeten. »Willst du mich stoppen?«, höhnte Adolfi, der den Blick seiner dunklen Glitzeraugen auf Ignatius gerichtet hatte. »Einer muss es ja tun!« »Kein Mensch kann es. Die alte Magie des Charun ist zu stark. Ich bin sein Nachfolger.« Adolfi warf den Kopf zurück und lachte kurz gegen den Himmel. »Wie soll ein Mensch es schaffen, mich zu stoppen? Kannst du mir das sagen? Wie ist das möglich?« Ignatius blieb gelassen. »Wer fragt mich das? Jemand, der ebenfalls ein Mensch ist? Lächerlich und ... « »Ich bin kein Mensch. Ich bin Addi Adolfi. Ich bin ein Gesandter, ich bin ein Lukumone. Verstehst du das? Ich bin ein Hoher Priester des großen Charun.« »Er ist schon längst vergessen. Es liegt weit über zweitausend Jahre zurück.«
»Was?«, schrie Adolfi, und es sah so aus, als wollte er Ignatius anspringen. »Vergessen nennst du das? Schau dich doch um. Nichts ist vergessen, gar nichts. Das Blut lebt. Das Blut war kalt, aber jetzt kocht es. Das Blut hat lange Zeit wie in einer magischen Tiefkühltruhe überlebt. Es hat die Seelen der Opfer in sich bewahrt. Sie waren all die lange Zeit konserviert. Sie gehörten ihm, ebenso wie das Blut. Aber Charun wollte mehr. Und deshalb hat er mich geschickt. In ihm steckt die Kraft einer fremden Hölle. Die Macht der Toten. Er war der Gott des Schreckens. Er hat seinem Namen alle Ehre gemacht. Er war unersättlich. Wie ein antiker Vampir ohne Blutgebiss. Man hat ihm die Opfer auf eine andere Art und Weise zugeführt. Sie wurden in sein Maul gedrückt, und dann hat er sie geschluckt und verdaut. Aber das Blut spie er aus, eben wie dieser Brunnen hinter dir. Es hat sich gesammelt. Jeder Tropfen der Opfer. Keiner ging verloren. Um Charun gnädig zu stimmen, haben die Menschen ihm immer mehr Opfer gegeben. Sie holten sich die Gefangenen, die Feinde und auch welche aus den eigenen Reihen. Wer sich gegen Charun stellte, war verloren. Dafür haben seine mächtigen Diener gesorgt.« »Damit meinst du die Lukumonen?« »Ja«, erklärte Adolfi voller Stolz. »Auch sie gibt es nicht mehr!« »Nein? Bist du sicher? Schau mich an. Wer bin ich? Ein Mensch? Ein scharfes Lachen folgte. »Auch die Lukomonen waren Menschen, aber sie waren besonders, denn sie standen unter dem Schutz des Götzen und in seiner Gunst.« »Standen!« »Na und?« »Sie sind vergangen.« Da funkelte es wieder in den Augen des Mannes. »Schau mich an!«, flüsterte er scharf. »Sehe ich aus, als wäre ich vergangen? Sehe ich so aus? Bin ich jemand, den es nicht gibt? Ein Geist oder wie?« »Du kannst kein Lukumone sein.« »Wenn du dich da nicht mal irrst. Ich war es nicht von Geburt, aber jetzt bin ich es. Ich bin jemand, der hinter das Geheimnis des Götzen gekommen ist. Ich habe erlebt, wie die alte Kultstätte freigelegt wurde. Die Menschen selbst in ihrer Neugierde haben dies getan, weil sie die Kulturen nicht in Ruhe lassen konnten. Sie wühlten den Boden auf und legten das frei, was die Zeit begraben hatte. Aber sie wussten nicht, was sie wirklich aus den Tiefen hervorgegraben haben. Sie ließen alles liegen. Sie waren noch nicht fertig, denn sie mussten erst neues Geld auftreiben. Das ist ihnen bisher nicht gelungen. So haben sie auch nicht weiterarbeiten können. Aber sie haben etwas geweckt, das gebe ich gern zu. Und ich habe es gerochen. Ich habe sie beobachtet. Sie sahen mich nicht. Ich fand die Schriften über Charun und habe mich auch um die alten Beschwörungen gekümmert, die längst in Vergessenheit geraten waren. Nur nicht bei mir. Ich fand den Brunnen, ich stieg ein. Ich habe mich in den Stollen darunter umgesehen. Da konnte ich das Blut riechen, aber nicht sehen. Das Unheil steckte in ihnen. In jedem Krumen Erde, in jedem Stein, in der Decke und auch in den Wänden. Es war zu riechen und zu schmecken, und ich besaß das nötige Wissen. Ich habe durch das Sprechen der Formeln dafür gesorgt, dass das Blut wieder in Bewegung geriet, und damit füllte sich wieder der Brunnen. Das Blut nahm seinen Weg. Es verließ die alte Erde und auch die Verstecke. Es drang durch alle Ritzen und Spalten, und es gab die Geister der Toten frei, die nicht mehr Charun, sondern mir zur Seite stehen. Ich habe sie in den neuen Unruhestand zurückgeholt. Die Kälte verwandelte sich in Wärme, und damit wieder in ein anderes Leben.« Ignatius schüttelte den Kopf. »Leben ist etwas anderes. Was du da vorhast ist das Leben ohne Seele. Ohne Gewissen. Es darf nicht existieren. Die Toten gehören nicht zu den Menschen und auch ihre Geister nicht.« »Ach - tatsächlich nicht?«, höhnte Adolfi. »So etwas habe ich schon einmal gehört. Euer Priester hier war nicht schlecht. Als einziger ahnte er, was auf den Ort zukam. Er hat sich nur nicht getraut es weiterzuerzählen, weil er Furcht davor hatte, ausgelacht zu werden. Kann ich sogar verstehen, doch nun ... «
»Moment, du irrst dich!« »Ach - wieso?« »Camino hat es weitererzählt. Mir nämlich. Ich bin nicht zufällig hier. Ich habe ihm geglaubt. Und ich kenne auch die anderen Welten. Darauf kannst du dich verlassen.« Von zittrigen Schatten umweht stand Adolfi auf dem Fleck und breitete seine Arme aus. »Nutzt es dir etwas?«, fragte er, und seine Augen schimmerten wieder stark. »Nein, es bringt dir nichts, denn du wirst auf die gleiche Art und Weise sterben wie Camino. Du hast ihn gesehen, nicht?« »Das habe ich.« »Dann weißt du auch, dass ihm sein Kreuz nichts genutzt hat. Auch bei mir nicht. Es ist lächerlich. Ich habe mich amüsiert, als er es versuchte.« Adolfi deutete mit seinem Zeigefinger auf Ignatius. »Du trägst sicherlich auch ein Kreuz bei dir.« »Ja.« »Sehr gut. Auch wenn es geweiht ist, es bringt nichts. Es kann dein Leben nicht schützen. Wirf es weg!« »Ich denke nicht daran!« »Das hat Camino auch gesagt.« Adolfi freute sich. »Ich brauche mich nicht mehr zu verstecken. Jetzt ist es egal, ob ich von Zeugen gesehen werde oder nicht. Jeder kann zuschauen, wie ich dich vernichte. Man soll sogar zuschauen, denn nur so kann ich meine Macht schon jetzt am Beginn festigen.« Father Ignatius wollte nicht zugeben, dass er auf verlorenem Posten stand. Aber es war so. Und er wurde Zeuge, wie Adolfi einen Schritt von ihm wegtrat, den Kopf zurücklegte, den Mund öffnete und die Arme ausbreitete wie jemand, der auf eine besondere Art und Weise beten will. Seine Augen glänzten dabei, und er riss den Mund so weit auf wie eben möglich. Dann holte er Luft. So hätte es jeder Mensch getan. So sah es auch bei ihm aus, aber es kam noch etwas hinzu. Er atmete nicht nur die Luft ein. Durch diese saugende Bewegung gelangte noch etwas anderes in ihn, denn die feinstofflichen Gestalten in seiner Nähe bewegten sich kreiselnd und glitten langsam auf ihn zu. Er saugte sie tatsächlich ein. Noch weiter drückte er den Kopf in den Nacken. Vor seinem offenen Maul zogen sich die Gestalten zusammen, sodass sie knochendünne Rauchschwaden bildeten, die tief hinein in den Rachen gleiten konnten. Ein Schluck. Noch einer, dann immer schneller. Er trank die alten Totengeister. Ignatius war fasziniert. Er sah, wie sich die Haut an der Kehle bewegte, und er hörte aus dem offenen Maul das Röcheln der Lukumonen wie ein Rückhall. Dann schloss er den Mund. Er beugte den Kopf nach vorn. Er stierte Ignatius an. Es war nicht so dunkel geworden, als dass der Mönch nicht alles hätte erkennen können. Adolfis Gesicht glänzte heller. Bläulich und auch fahl. Seine Haut arbeitete. Sie sah aufgedunsen aus. Das Gesicht wurde plötzlich schief. Die Mund veränderte sich. Er zog sich in die Breite, als wollte er die Maulform eines Frosches annehmen, und die Augen quollen aus den Höhlen wie von hinten gestoßen. Er wollte wie der Götze werden. Er hatte sich auf ihn eingestellt. Sein Sinnen und Trachten galt nur Charun. Es reichte ihm nicht mehr, nur ein Diener zu sein, er wollte werden wie er. Eine bösartige Fratze mit schiefen Proportionen im Gesicht starrte den Mönch an. Der Mensch hatte sich in eine Bestie verwandelt. Er war nicht zu Charun geworden, aber zu einem Teil von ihm, der sich innerhalb der Blutgestalten aufgeteilt hatte. So musste ihn auch Camino gesehen haben, und so war der bedauernswerte Pfarrer gestorben.
Das hatte Ignatius nicht vergessen. Jetzt war er an der Reihe. Eine Waffe steckte unter seiner Kutte. Sie war mit geweihten Silberkugeln geladen, und er bekam sogar noch die Zeit, sie hervorzuholen. Bis zum Brunnen ging er zurück. Dort hob er die Pistole an. Er zielte genau - und schoss ... Nicht immer, aber manchmal und in extremen Situationen war Gewalt das einzige Mittel, um das Grauen zu stoppen. Das sah auch ein Mann wie Father Ignatius ein. Die Kugel erwischte Adolfi in der Brust. Der harte Einschlag hätte ihn eigentlich stoppen oder zurückwerfen müssen, aber Adolfi war stark. Das Blut der Götzenopfer verfehlte die Wirkung nicht. Er nahm den Treffer hin, knurrte nur böse auf und stemmte sich auf die Zehenspitzen wie jemand, der sich noch einmal aufbäumte, um dann alles klarzumachen. Zum ersten Mal sah Ignatius auch die Fingernägel des anderen richtig. Sie waren ihm zuvor nicht aufgefallen. Jetzt verglich er sie mit spitzen Nägeln, die weit nach vorn schauten. Ihm kam wieder das Bild des toten Pfarrers in den Sinn. Seine Haut war so schrecklich aufgerissen worden. Wie abgezogen hatte sie gewirkt. Und nun das. Im gleichen Augenblick erschienen die beiden Schatten hinter dem Rücken des Lukumonen. Keine Blutschatten, auch keine richtigen Schatten. Ignatius, der noch mal hatte schießen wollen, sah die ihm bekannten Gesichter. Er sah die tanzenden Bewegungen der Blutgeister, als hätten sie plötzlich Furcht bekommen, und hörte dann die Stimme des Reporters Bill Conolly. »Nein, so nicht!«
Auch Adolfi hatte die Stimme gehört. Er stand für einen Moment regungslos, um dann herumzufahren, weil er genau wusste, wo sich seine wirklichen Feinde befanden. Genau das hatten wir gewollt. Angesicht zu Angesicht auf diese widerliche Gestalt schauen, die halb Mensch und halb Monstrum war, gefüllt mit dem Blut der Totengeister, die keine Ruhe finden konnten. Wir hatten den Marktplatz sehr schnell erreicht. Und uns dann zurückgehalten. Allerdings waren wir so nahe an den Ort des Geschehens herangeschlichen, um hören zu können, was da genau passiert war. So hatten wir die Unterhaltung zwischen den beiden gut verstanden und daraus unsere Schlüsse gezogen. Mit dem Kreuz war bei Adolfi nichts zu machen. Es hatte nur das Blut auftauen können, mehr nicht. Ansonsten waren seine Kräfte zu schwach, und die geweihte Silberkugel hatte ihn auch nicht umgebracht. Sie steckte in seinem Körper, als er uns anschaute. Himmel, wie hatten sich seine Augen verändert. Da war nichts Menschliches mehr in ihnen. Sie wirkten wie runde Glaskugeln, die einfach hineingedrückt worden waren. Früher hätte man ihn als Gestalt mit dem bösen Blick bezeichnet. Die alte Kraft des Charun belebte ihn auf grausame Art und Weise. Dennoch zeigte er sich für einen Moment verunsichert, da er einen Schritt zur Seite ging. Bill Conolly folgte ihm sofort. Sein Hass auf diesen Zwitter zwischen Mensch und Dämon, der ihn gepeinigt hatte, war riesengroß, und er konnte sich auch nicht beherrschen. Das lange Blutmesser hatte er mitgenommen. Er drehte es so, dass es leicht nach oben zeigte. »Kennst du das?«, fragte er gefährlich leise. »Kennst du dieses Messer, Hundesohn?« Adolfi lachte ihn aus.
Zwei Sekunden später lachte er nicht mehr. Niemand hatte Bill zurückhalten können. Ein Sprung, ein Stoß, wuchtig und zielsicher, dann hatte er die Klinge bis zum Heft in den Körper der Gestalt hineingetrieben. Er ließ den Griff sofort los und dachte nicht daran, das Messer aus dem Körper zu ziehen. Ob es nach der Kugel ein Messer schaffte, ihn zu vernichten, wusste keiner von uns. Die Klinge blieb jedenfalls stecken, und sie zeigte schon ihre Wirkung. Der Lukumone schaffte es nicht, die Waffe aus seinem Körper zu zerren, obwohl er sie mit beiden Händen umklammerte. Es machte ihm auch nichts aus, dass er sich dabei in die Hände schnitt, weil die Klinge noch ein kleines Stück hervorragte. Er drehte den Griff. Er kämpfte weiter, und aus seinem Mund drangen dabei unkontrollierte Laute. Ich war bisher passiv gewesen. Ich hörte Bills Keuchen, das irgendwie auch erleichtert klang. Ignatius sprach. »Er ist nicht tot«, sagte er. »Adolfi wird es überstehen und das Messer aus seinem Körper ziehen. Es gibt nur eine Möglichkeit, ihn von dieser Welt zu tilgen.« »Welche?«, fragte ich. Ignatius streckte seinen Arm aus. »Feuer!« Ich wollte nicht erst lange darüber nachdenken, ob er Recht hatte oder nicht. Mein väterlicher Freund hatte bereits in die Tasche gegriffen und ein Feuerzeug hervorgeholt. Es war ein Sturmfeuerzeug, dessen Flamme so leicht nicht ausgeblasen werden konnte. »Willst du es tun, John?« »Nein!« Ignatius schaute mich für einen Moment ernst an, dann nickte er. »Das kann ich verstehen.« Mehr brauchte er nicht zu sagen. Sein Ziel war Adolfi, der sich zwar noch in unserer Nähe aufhielt, es dabei allerdings geschafft hatte, bis zum Brunnen zurückzuweichen, gegen den er gestoßen war. Er suchte den Halt, damit er sich von der Klinge befreien konnte. Sie schien ihm doch mehr Probleme zu machen, als er zugeben wollte. Er konzentrierte sich darauf und drehte sie, während er daran zog. Zur Hälfte hatte er es schon geschafft, als plötzlich Father Ignatius vor ihm stand. Adolfi schaute hoch. Und sein Blick fiel auf die tanzende Flamme des Feuerzeugs. Sie verlosch auch nicht, als sich Ignatius gegen ihn warf. Die Kleidung war trocken wie Pulver. Plötzlich tanzte die Flamme hoch und fand Nahrung. Die Jacke fing Feuer, Stoff loderte auf, und erste zuckende Zungen leckten hoch zum Gesicht der Gestalt. Die tanzenden Flammenspitzen erwischten den Bart, dann die Haare. Im Nu war Adolfi zu einem brennenden Bündel geworden. Von einem Menschen konnte man hier nicht sprechen. Er war keiner, und er rannte plötzlich weg wie durch Schläge getrieben. In die Blutsäulen hinein brachte ihn der Weg. Er schrie. Er brüllte. Er tanzte in seinem Flammenmantel. Er war nicht mehr zu halten. Er duckte sich, stolperte, konnte sich nicht mehr fangen und prallte auf den Boden, wo er sich zwar überschlug, aber das Feuer nicht löschen konnte. Er warf die Beine hoch. Er winkelte sie an. Dabei trat er um sich, und urplötzlich breiteten sich die Flammen aus. Die Totengeister wurden von ihnen erfasst. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Wir sahen zu, dass wir wegkamen, und schauten von sicherer Stelle aus zu, wie eines der vier alten Elemente, das Feuer eben, seine reinigende Wirkung voll entfaltete. Es breitete sich nicht aus. Es blieb auf den Marktplatz begrenzt und zerstörte nicht nur die Blutgeister, sondern auch die rote Masse auf dem Boden. Wir schleuderten unsere Schuhe weg, weil an ihnen Blutreste klebten und wir nicht auch noch von den Flammen erwischt werden wollten. Das Feuer brannte, und es brannte nieder. Schatten aus Licht und dunklen dämonenhaften, irren, gestaltlosen Wesen wechselten sich ab. Keiner von uns und auch von den versteckten Zuschauern wusste, wie lange das Blut brannte und schließlich verbrannt war. Nicht einmal Reste blieben zurück. Selbst von Adolfi nicht.
Doch - etwas hatte er schon hinterlassen. Es war das Messer. Nur steckte es nicht mehr in seinem Körper, sondern lag wie eine letzte Mahnung an die Lebenden auf dem Pflaster ...
»Mein Gott«, flüsterte der Mönch. »Mein Gott, es ist vorbei. Der Spuk und das Grauen wurden gelöscht. Dem Himmel sei Dank ... « Wir blickten uns an. Das Lächeln fiel gequält aus, bis Bill sagte, und das war wieder typisch für ihn: »Ich bin mal gespannt, welchen Kommentar Sheila geben wird, wenn sie mich ohne Schuhe sieht.« Ich klopfte ihm auf die Schulter. »Keine Sorge, sie wird ganz normal reagieren. Bei deinen Entenfüßen wird sie dir so schnell wie möglich ein Paar neue kaufen ... «