Anders Roslund und Börge Hellström
Blasse Engel Thriller
Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs Deutsche Erstausgabe...
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Anders Roslund und Börge Hellström
Blasse Engel Thriller
Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs Deutsche Erstausgabe Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, Juni 2007
ISBN 978-3-596-16567-4
Lydia und Alena stammen aus Litauen und wurden von einer Schlepperbande nach Schweden gelotst, wo sie seit drei Jahren ihre »Schulden« für Pass und Transfer als Prostituierte abarbeiten müssen. Als Lydia eines Tages von ihrem Zuhälter schwer misshandelt in ein Krankenhaus eingewiesen wird, kann Alena ihr eine Waffe zukommen lassen. Damit nimmt sie mehrere Menschen als Geiseln. Doch ihre Forderung überrascht alle: Sie will Bengt Nordwall sprechen, ein anerkannter und allseits beliebter Polizist und der einzige Freund von Kommissar Ewert Grens. Doch was dann geschieht, bringt die Polizei und auch Ewert Grens in eine prekäre Lage...
Anders Roslund, geb. 1961, ist ein anerkannter Fernsehjournalist und preisgekrönter Dokumentarfilmer. Er hat mehrere Jahre die Kulturnachrichten auf Kanal 1 des schwedischen Fernsehens geleitet, bevor er sich hauptberuflich dem Schreiben zuwandte. Der Autor lebt mit seiner Familie in Stockholm. Börge Hellström, geb. 1957, ein ehemaliger Strafgefangener, ist freier Autor und Berater in mehreren schwedischen Fernsehsendungen zum Thema Drogenabhängige und Jugendliche im Strafvollzug. Der Autor lebt mit seiner Familie in Gustavsberg.
Aus einem Krankenbericht. Söderkrankenhaus, Stockholm:
... bewusstlose Frau, Identität unbekannt, eingeliefert mit Krankenwagen 0905, aufgefunden in Wohnung Völundsgata 3, Nachbarn hatten Notruf verständigt. Nicht ansprechbar, keine Schmerzreaktion. Bleich und kalt. Dezimeterlange frische Verletzungen am Rücken, zahlreiche Blutergüsse sowie Schürfwunden im Gesicht. Kräftige Schwellung im oberen Teil des linken Oberarms. Atmung: erhöhte Frequenz, keine Nebengeräusche. Puls: Regelmäßig, aber äußerst schwach. Frequenz 110. Blutdruck: 95/60. Bauch: gespannt, bretthart. Vorl. Einschätzung: Frau ca. 20 Jahre, offenbar irgendeiner Form von multipler äußerlicher Gewaltanwendung (Peitsche?) ausgesetzt. Anzeichen von einsetzendem Schock. Verdacht auf
innere Blutungen, möglichen Milzschaden und Fraktur des linken Oberarms. Zur weiteren Behandlung in die Innere Medizin überführt...
Elf Jahre früher
Sie hielt die Hand ihrer Mama ganz fest. Das hatte sie im vergangenen Jahr oft gemacht, sie hatte die weiche Hand ihrer Mama heftig gedrückt und einen festen Händedruck als Antwort erhalten. Sie wollte nicht dorthin. Sie hieß Lydia Grajauskaitė, und oft setzten die Bauchschmerzen schon ein, wenn sie zu Hause in Klaipėda in den Bus stiegen, in dem hässlichen Busbahnhof, und je weiter sie fuhren, umso schlimmer wurde es. Sie war noch nie in Vilnius gewesen, sie hatte sich ihre Vorstellungen gemacht und andere erzählen hören, aber jetzt ... sie wollte absolut nicht, sie gehörte hier nicht hin, sie hatte hier nichts zu suchen. Sie hatten ihn vor über einem Jahr zuletzt gesehen. Es war ganz kurz vor ihrem neunten Geburtstag gewesen, und sie hatte eine Handgranate für ein ziemlich gutes Geschenk gehalten. Papa hatte sie natürlich nicht gesehen, er hatte dem schmutzigen Zimmer den Rücken zugekehrt und sich mit den anderen beschäftigt, die soffen und schrien und die Russen hassten. Sie hatte mit
Vladi Kopf an Fuß auf dem Sofa gelegen, einem großen braunen, stinkenden Möbelstück aus abgenutztem Cord, sie lagen manchmal dort, wenn die Schule geschlossen war und Papa arbeitete. Sie hatten zugehört. Etwas an den Pistolen und den Kästen mit Pulver und den lauten Stimmen der Männer hatte sie fasziniert, hatte sie dazu gebracht, sich öfter dorthin zu legen, als es vielleicht klug gewesen wäre. Papa hatte so ein rotes Gesicht gehabt, das war sonst nie der Fall gewesen, höchstens ein seltenes Mal zu Hause, wenn er direkt aus der Flasche getrunken und sich an Mama herangeschlichen und sich gegen ihren Hintern gedrückt hatte. Sie hatten natürlich nicht geahnt, dass sie das sah, und sie hatte auch nicht verraten, dass sie es gesehen hatte. Er hatte dann immer noch ein wenig getrunken, und auch Mama hatte den Mund an die Flasche gehalten, und dann waren sie in das kleine Schlafzimmer gegangen und hatten alle anderen weggeschickt und die Tür hinter sich zugezogen. Lydia hatten seine roten Wangen immer gefallen. Zu Hause, und wenn er bei den anderen Männern saß und sie sich die Waffen vornahmen und putz-
ten. Er schien dann ein wenig zu leben, er sah dann auch nicht so alt aus. Sonst sah er nämlich alt aus, Himmel, er war ja auch fast neunundzwanzig. Sie schaute vorsichtig aus dem Busfenster. Ihr Bauchweh wurde schlimmer, als der Bus jetzt rasch über die Straßen mit den vielen Schlaglöchern fuhr, immer wenn ein Vorderrad gegen eine Asphaltkante stieß, wackelte ihr Sitz, und etwas schien sie ganz hart unter den Rippen zu treffen. So sah sie also aus. Ihre noch unerforschte Welt, die ganze weite Strecke zwischen Klaipėda und Vilnius. Sie war noch nie mitgefahren. Sie hatte das nicht gedurft, es war doch teuer, und es war wichtiger, dass Mama fuhr. Mama fuhr jetzt seit fast einem Jahr jeden zweiten Sonntag hin, mit Lebensmitteln und mit Geld, das sie sich auf irgendeine Weise verschafft hatte. Lydia fand es schwer zu sagen, wie Papa wirklich war, was er sagen würde, bestimmt sehnte er sich am meisten nach Mama. An dem Tag mit den Handgranaten hatte er Lydia ja nicht einmal gesehen. Sie hatte auf dem Sofa gelegen und sich dann hingeschlichen und in den Kästen mit Sprengstoff und Handgranaten gegraben und den Finger an
den Mund gelegt, damit Vladi still war, sie wollten doch nicht gestört werden, die Papas. Sie hatte gewusst, wie das alles funktionierte. Der Sprengstoff und die Handgranaten und die kleinen Pistolen. Sie hatte den Papas immer beim Üben zugesehen und wusste genauso viel über die Waffen wie manche von diesen Männern. Sie starrte noch immer aus dem verdreckten Busfenster. Es goss, die Fensterscheiben hätten sauber werden müssen, doch statt den Staub abzuwischen, weichten die harten Tropfen den braunen Lehm auf und es wurde immer schwerer, die Landschaft im Blick zu behalten. Aber die Straße war jetzt besser, keine Löcher, kein Ruckeln, keine Stöße unter den Rippen. Sie hatte die Handgranate in der Hand gehalten, als die Polizei die Tür eingeschlagen hatte und in das Zimmer gestürzt war. Papa und die anderen Männer hatten Warnrufe geschrien, aber sie waren zu langsam gewesen, und schon nach wenigen Minuten waren sie an eine Wand gedrückt worden, sie hatten Handschellen bekommen und waren heftig geschlagen worden. Lydia wusste nicht mehr, wie viele Männer ins
Zimmer gestürmt waren, vielleicht zehn, vielleicht zwanzig, sie wusste nur noch, dass die Männer immer wieder »zatknis« geschrien hatten, und außerdem hatten sie solche Pistolen gehabt, wie Papa sie verkaufte, und sie hatten den Kampf gewonnen, noch ehe sie richtig damit angefangen hatten. Ihr Geschrei hatte sich mit dem Klappern der Waffen und dem Klirren der zerbrechenden Flaschen gemischt. Dieser ganze Lärm hatte ihren Ohren wehgetan, und dann hatte es nur noch eine plötzliche seltsame Stille gegeben, als Papa und die anderen Männer sich auf den Boden legen mussten. Daran konnte sie sich wohl am allerbesten erinnern. An die Stille, die einfach stärker gewesen war als alles andere. Mamas Hand, sie drückte sie wieder. Sie zog sie an sich und ließ sie auf dem Bussitz ruhen, sie hielt sie fest, bis die Haut weiß wurde und sie einfach nicht mehr fester drücken konnte. So, wie sie die Hand gehalten hatte, als sie vor dem Gericht in Klaipėda gesessen hatten, wo der Prozess gegen Papa und die anderen Männer stattfand. Mama und sie hatten dagesessen, und sie hatten einander an
den Händen gehalten, und Mama hatte lange geweint, als ein Gerichtsdiener in einem grauen Anzug aus dem Gerichtssaal gekommen war und gesagt hatte, dass die Männer allesamt zu einundzwanzig Jahren Gefängnis verurteilt worden waren. Sie hatte ihn seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Sicher würde er sie nicht wiedererkennen. Lydia drückte auf die Stofftasche, die Mama bei sich hatte. Die enthielt sehr viel zu essen, sie war bis an den Rand vollgestopft. Mama hatte erzählt, was sie dort aßen, dass sie Brei bekamen, jeden Tag nur eine Art Mehlpampe. Mama sprach über Vitamine, darüber, dass man krank wurde, wenn man keine bekam, und dass alle, die dort waren, zusätzliches Essen brauchten und es von denen, die sie besuchen kamen, auch erhielten. Der Bus fuhr jetzt ziemlich schnell. Es war eine bessere Straße mit etwas mehr Verkehr, und die Häuser hinter dem lehmverschmierten Fenster wurden immer größer, je näher sie Vilnius kamen. Die Gebäude, die sie zuerst gesehen hatte, dort, wo die Straße so viele Schlaglöcher gehabt hatte, waren in schlechtem Zustand gewesen. Aber jetzt sah sie
Mietshäuser, die zwar auch vor allem aus grauen Mauern und Blechdächern bestanden, die aber doch viel moderner waren als die anderen Häuser. Bald kamen die noch etwas teureren Bauten und dann die vielen Tankstellen, die fast alle in derselben Gegend lagen, sie lachte und zeigte darauf, sie hatte noch nie so viele Tankstellen gesehen. Es hatte fast aufgehört zu regnen, sie fand das schön, dann würden ihre Haare nicht nass werden, heute nicht. Das Lukuskėles-Gefängnis lag nur einige hundert Meter von der Bushaltestelle entfernt. Es war ein großes Gefängnis, eigentlich ein eigener Stadtteil, der ganz und gar von einer hohen Mauer umgeben war. Ursprünglich war es eine russische Kirche gewesen, doch dann war sie umgebaut und erweitert worden, jetzt saßen dort über tausend Häftlinge ein. Vor der grauen Eisentür mitten in der Betonmauer stand schon eine Schlange. Andere Mamas und andere Kinder. Eine Familie nach der anderen wurde eingelassen, in dem düsteren Raum hinter dem Eingang warteten uniformierte Wächter. Die Besu-
cherinnen mussten Fragen beantworten. Ihren Ausweis vorzeigen. Zeigen, was sie bei sich hatten. Ein Wärter lächelte sie an, aber sie wagte nicht, das Lächeln zu erwidern. »Wenn jemand hustet, dann gehst du sofort weg. Dann verlässt du das Zimmer.« Mama hatte sie angesehen, als sie das sagte. Sie sah streng aus, wie immer, wenn die Lage ernst war. Lydia hätte gern gefragt, warum, aber das tat sie nicht, Mama hatte deutlich gezeigt, dass sie nicht darüber sprechen wollte. Sie wurden durch einen Gang geführt, weg vom Hauptgebäude, Stacheldraht oben auf der Mauer und weiße Hunde, die bellten und sich gegen den Draht warfen. Hinter einem vergitterten Fenster sah sie zwei Gesichter, die sie beobachteten, die winkten und ihr zuriefen: »Süße Kleine, schau mal her, süße Kleine!« Sie ging einfach nur geradeaus, nur geradeaus, es war nicht so weit bis zum nächsten Haus. Mama hielt die Tüte in den Armen, und Lydia suchte nach ihrer Hand, die sie nicht fand. Wieder tat ihr der Bauch weh. Wie im Bus, wenn ein Rad in ein Schlagloch geraten war. Sie kamen in ein
Treppenhaus mit sterilen grünen Wänden, die Farbe leuchtete stark, sie sah sich lieber Mamas Rücken an, hielt die Hand dagegen, als es nach oben ging. Sie blieben im dritten Stock stehen, folgten dem Wärter, der auf einen langen dunklen Gang zeigte, wo es verschimmelt und nach Reinigungsmitteln gleichermaßen roch. Vor jeder Tür, an der sie vorüberkamen, standen Tonnen, beschrieben mit den Buchstaben »Tbc«, sie schaute in eine, die ein wenig offenstand, Papier mit Blutflecken. Sie hatten alle geschorene Köpfe, sie sahen bleich aus, irgendwie müde. Einige lagen, einige saßen nur da, in Laken gewickelt, einige standen vor einem Fenster und redeten. Acht Betten, nebeneinander an der Wand, das hier wurde Krankenstation genannt. Papa saß auf dem allerletzten. Lydia musterte ihn verstohlen und dachte, dass er kleiner aussah. Er hatte sie nicht gesehen. Noch nicht. Sie wartete ziemlich lange. Mama ging zuerst zu ihm, sie sagten etwas zueinander, diskutierten, Lydia konnte kein Wort ver-
stehen. Sie sah ihn noch immer an und entdeckte irgendwann, dass sie sich nicht mehr schämte, jetzt nicht mehr. Sie dachte an das Jahr, das hinter ihr lag, an das höhnische Feixen der anderen in ihrer Klasse, das jetzt nicht mehr wehtat, nicht, wo sie hier stand, ganz dicht bei ihm. Sogar diese Stöße in ihrem Bauch, die so wehtaten, verschwanden. Als sie ihn dann umarmte, hustete er, aber sie lief nicht aus dem Zimmer, wie sie es Mama versprochen hatte. Sie presste sich an ihn und ließ ihn nicht mehr los. Sie hasste ihn, wieso kam er nicht mit ihnen nach Hause.
JETZT ERSTER TEIL
Montag, 3. Juni
Es war still in der Wohnung. Sie hatte schon lange nicht mehr an ihn gedacht, sie dachte überhaupt an niemanden, der damals dabei gewesen war. Jetzt saß sie hier und tat es doch. Sie dachte an die letzte Umarmung, als sie damals im Lukuskėles-Gefängnis gestanden hatte, sie war zehn Jahre alt gewesen, und er hatte so klein ausgesehen und mit dem ganzen Körper gehustet, Mama hatte ihm ein Stück Papier gereicht, und er hatte es mit Blutklumpen gefüllt und es zusammengeknüllt in eine der großen Tonnen auf dem Gang gelegt.
Sie hatte nicht begriffen, dass es das letzte Mal sein sollte. Irgendwie hatte sie das noch immer nicht verstanden. Lydia holte tief Atem. Sie schüttelte ihren Widerwillen ab, lächelte den großen Spiegel in der Diele an. Es war noch früh am Morgen. Es klopfte an der Tür. Sie hielt noch immer die Bürste in der Hand. Wie lange saß sie eigentlich schon hier? Sie schaute noch einmal in den Spiegel. Legte den Kopf ein wenig schräg. Lächelte, wollte gut aussehen. Sie trug ein schwarzes Kleid, dunkler Stoff auf weißer Haut. Ihr Körper, sie sah ihn an, er war noch immer der einer jungen Frau, sie hatte sich nicht sonderlich verändert, seit sie hergekommen war, jedenfalls nicht äußerlich. Sie wartete. Wieder wurde geklopft, energischer jetzt. Sie müsste die Tür öffnen. Sie legte die Bürste auf ein Wandbrett neben dem Spiegel, setzte sich in Bewegung. Sie hieß Lydia Grajauskaitė und das sang sie oft, sie sang es jetzt, zur Melodie eines Kinderliedes, an das sie sich aus der Schule in Klaipėda erinnerte, der Refrain hatte drei Zeilen gehabt, sie sang zu je-
der »Lydia Grajauskaitė«, sie hatte das immer schon gemacht, wenn sie nervös war. Lydia Grajauskait Lydia Grajauskait Lydia Grajauskait Sie hörte mit Singen auf, als sie die Tür erreichte. Er stand doch auf der anderen Seite. Wenn sie ein Ohr an die Tür legte, würde sie nach einer Weile seinen Atem hören, sie würde seinen Rhythmus sicher erkennen, das war er. Sie hatten sich schon einige Male getroffen, acht Mal, vielleicht neun Mal? Er roch anders. Sie kannte ihn, seinen Geruch, wie der von einigen der Männer, mit denen Papa zusammen gewesen war, in diesem schmutzigen Zimmer, wo sie auf dem Sofa gelegen hatte, als sie klein war. Es roch nach Zigarre und einem Herrenparfüm und nach Schweiß unter dem engsitzenden Jackett. Er klopfte. Es war das dritte Mal. Die Tür wurde geöffnet. Da stand er. Dunkler Anzug, hellblaues Hemd, Schlipsklammer aus Gold. Seine blonden Haare kurz geschnitten. Er war son-
nenbraun, es regnete seit Mitte Mai, aber er war trotzdem spätsommerbraun, das war er immer. Sie lächelte, wie vorhin vor dem Spiegel, sie wusste, dass ihm das gefiel. Sie berührten einander nicht. Noch nicht. Er verließ das Treppenhaus, trat über die Schwelle, betrat die Wohnung. Sie schaute kurz zum Hutregal hinüber, zu den Kleiderbügeln, soll ich deine Jacke aufhängen, das mach ich gerne. Er schüttelte den Kopf. Er war sicher zehn Jahre älter als sie, um die dreißig, das schätzte sie, genau wusste sie es nicht. Lydia Grajauskait, Lydia Grajauskait, Lydia Grajauskait. Er hob die Hand, wie er das immer machte, spielte vorsichtig an ihrem schwarzen Kleid herum, ließ die Finger langsam den Trägerriemen entlangwandern, auf ihre Brust zu, aber immer auf dem Stoff. Sie stand bewegungslos da. Seine Hand in weitem Kreis um die eine Brust, schon auf dem Weg zur anderen. Sie atmete nicht,
ihr Brustkorb bewegte sich nicht, sie musste lächeln, sie musste ganz still dastehen und lächeln. Er lächelte auch, als er spuckte. Sie standen noch immer dicht voreinander, es war eher so, als habe er es fallen lassen, als dass er gespuckt hatte, er spuckte ihr nur selten ins Gesicht, meistens landete es vor ihren Füßen, vor den schwarzen hochhackigen Schuhen. Es gefiel ihm, wenn sie zögerte. Er zeigte nach unten. Der gerade Finger, auf den Boden gerichtet. Lydia bückte sich, lächelte ihn noch immer an, sie wusste ja, dass ihm das gefiel, manchmal lächelte er dann auch. Ihre Knie knackten ein wenig, als sie die Beine krümmte, sie ließ sich auf alle viere nieder, mit dem Gesicht nach vorn. Sie bat um Verzeihung. Das wollte er so. Er hatte gelernt, wie man das auf Russisch sagt, er nahm das genau, er wollte sich davon überzeugen, dass sie wirklich das richtige Wort benutzte. Sie ließ sich langsam zu Boden sinken, fast ganz zu Boden, ihre Nase streifte die Dielenbretter, die Zunge das Kalte, als sie den Speichelklumpen in den Mund nahm, ihn hinunterschluckte.
Dann erhob sie sich. So wollte er das. Sie blinzelte, sie versuchte immer zu erraten, welche Wange an die Reihe kommen würde. Die rechte, sicher die rechte. Links. Er schlug mit offener Handfläche, die bedeckte fast ihre ganze Wange. Es tat nicht besonders weh. Es hinterließ eine rosa Stelle, und er holte wirklich weit aus, aber eigentlich brannte es nur, es brannte, wenn sie wollte, dass es brannte. Wieder streckte er den Zeigefinger aus. Lydia wusste, was sie zu tun hatte, es war also unnötig, aber trotzdem wedelte er immer vor ihren Augen ein wenig mit dem Finger, sie sollte in ihr Zimmer gehen, sie sollte sich vor das Bett mit der roten Tagesdecke stellen. Sie ging vor ihm her, sie sollte langsam gehen, und sie sollte sich zerstreut über den Hintern fahren, er wollte, dass sie heftig atmete, und sie spürte, wie er ihren Rücken anstarrte, so sehr, dass es fast wehtat. Sie blieb vor dem Bett stehen. Sie öffnete drei Knöpfe hinten an ihrem Kleid, streifte es über die Hüften, ließ es zu Boden sinken. Ihr BH, ihr Slip, schwarze Spitze, wie er es ihr aufgetragen hatte, er hatte ihr die Wäsche gekauft,
und sie hatte versprochen, sie nur für ihn zu tragen, nur dann. Er legte sich über sie, und sie hatte keinen Körper mehr. So machte sie es. So machte sie es immer. Sie dachte an zu Hause und daran, was gewesen war und wonach sie sich sehnte und wonach sie sich jeden Tag gesehnt hatte, seit sie hergekommen war. Hier, hier und jetzt gab es sie nicht. Hier war sie nur ein Gesicht ohne Körper. Sie hatte keinen Hals, keine Brust, keinen Schoß, keine Beine. Und wenn er hart gegen etwas stieß, wenn er in etwas eindrang, wenn etwas hinten blutete, dann hatte das nichts mit ihr zu tun. Sie war ja irgendwo anders, und hier lag nur ein Gesicht, das Lydia Grajauskait sang, zu einer Melodie, die sie vor langer Zeit gelernt hatte.
Es regnete, als er auf den leeren Parkplatz fuhr. Es war so ein Sommer, in dem die Leute aufwachen, sich leise zum Schlafzimmerfenster schleichen, den Atem anhalten und hoffen, dass an die-
sem Tag, an diesem Tag die Sonne hinter den Jalousien lauert. Es war ein Sommer, in dem der Regen draußen freies Spiel hatte, jeden Morgen müde Augen, die sofort aufgaben, die dem begegneten, was grau war und gegen die Fensterscheiben hämmerte. Ewert Grens seufzte. Er hielt, stellte den Motor ab und blieb dann hinter dem Lenkrad sitzen, bis er nicht mehr aus dem Fenster schauen konnte, die Regentropfen waren eine Flut, die ihm die Sicht nahm. Er brachte es nicht über sich, auszusteigen. Er wollte nicht. Die Unlust zog an allem, woran sie überhaupt ziehen konnte, wieder war eine Woche vergangen, und er hatte sie fast vergessen. Er atmete schwer. Er würde nie vergessen. Er lebte noch immer bei ihr, jeden Tag, so gut wie jede Stunde, fünfundzwanzig Jahre, das half einfach kein bisschen. Der Regen ließ ein wenig nach, er konnte durch die Windschutzscheibe das Haus ahnen. Eine große Klinkervilla, rot und im Stil der siebziger Jahre, der Garten war schön und fast schon zu gepflegt, am besten gefielen ihm die Apfelbäume, sechs
Stück, die eben ihre weißen Blüten eingebüßt hatten. Er hasste dieses Haus. Er öffnete die um das Lenkrad geklammerten Hände, öffnete die Tür und stieg aus. Große Pfützen auf dem unebenen Asphalt, er lief zwischen ihnen hin und her, und die Feuchtigkeit war schon in seine Schuhe eingedrungen, noch ehe er die halbe Strecke hinter sich gebracht hatte. Er näherte sich, versuchte das Gefühl abzuschütteln, dass das Leben mit jedem Schritt, den er auf die Eingangstür zumachte, ein wenig endete. Es roch nach alten Menschen. Er kam jeden Montagmorgen her, hatte sich aber noch immer nicht an diesen Geruch gewöhnt. Die Menschen, die sich hier befanden, in Rollstühlen und hinter Gehgeräten, waren nicht einmal besonders alt, er begriff nicht, woher der Geruch stammte. »Sie sitzt drinnen. In ihrem Zimmer.« »Danke.« »Sie weiß, dass Sie kommen.« Sie hatte keine Ahnung davon, dass er kam. Er nickte der jungen Schwesternhelferin zu, die gelernt hatte, ihn zu erkennen, sie wollte nur freund-
lich sein und konnte nicht ahnen, wie weh das tat. Er ging vorbei an dem lachenden Mann, der genauso alt war wie er selbst und der immer in einem Sessel im Foyer saß und allen Vorübergehenden fröhlich zuwinkte. Dann an der Frau, die Margareta hieß und immer laut schrie, wenn man sie nicht ansah und sich nicht nach ihrem Befinden erkundigte. Jeden Montagmorgen, sie saßen immer da, wie ein Teil einer Fotografie, die niemals aufgenommen zu werden braucht. Er fragte sich, ob er sie vermissen würde, wenn sie irgendwann einmal nicht mehr da wären, oder ob er erleichtert sein würde, darüber, dass er das Vorhersehbare dann nicht mehr betreten müsste. Er wartete, blieb eine Weile vor ihrem Zimmer stehen. Es kam vor, dass er nachts schweißnass erwachte und deutlich hörte, wie sie »Willkommen« sagte, wenn er hereinkam, wie sie seine Hand nahm und festhielt, froh darüber, jemanden berühren zu können, der sie liebte. Er dachte an den Traum, der sich immer wieder einstellte, und das gab ihm den Mut, ihre Tür zu öffnen, in ihr Leben einzutreten, vierzehn Quadratmeter, ein Fenster zum Parkplatz. »Hallo.«
Sie saß mitten im Zimmer. Den Rollstuhl zur Tür gekehrt. Sie sah ihn an. Aber nichts in ihren Augen hatte Ähnlichkeit mit Erkennen, sie hatte nicht einmal seinen Gruß gehört. Er ging zu ihr, legte eine Hand an ihre kalte Wange, er sprach wieder zu ihr. »Hallo, Anni. Ich bin’s. Ewert.« Sie lachte auf. Ein unpassendes, viel zu lautes Lachen, ein Kinderlachen, wie immer. »Erkennst du mich heute?« Wieder lachte sie, abrupt und zu laut. Er zog den Stuhl heran, der an dem nie benutzten Schreibtisch stand, setzte sich zu ihr. Er nahm ihre Hand, hielt sie, legte sie in seine. Sie hatten sie feingemacht. Hatten ihre blonden Haare gekämmt, hatten sie mit Klammern hochgesteckt, eine auf jeder Seite. Ein blaues Kleid, das er lange nicht mehr gesehen hatte, es duftete frisch gewaschen. Er staunte darüber, wie unverändert sie im Grunde aussah. Fünfundzwanzig Jahre im Rollstuhl, im Land des Unbewussten, sie kam ihm nicht viel älter vor als damals. Er selbst hatte zwanzig Kilo zugenommen, seine Haare verloren, konnte die vie-
len Falten in seinem Gesicht spüren. Sie war so unzerstört. Als bestehe die Belohnung dafür, dass sie an der wirklichen Welt nicht teilnehmen konnte, in der Sorglosigkeit, die Jugendlichkeit schenkte. Sie versuchte, etwas zu sagen. Dieses Gestammel, sie drehte sich zu ihm hin, und immer hatte er das Gefühl, dass sie wirklich etwas auf dem Herzen hatte. Er drückte ihre Hand, schluckte das hinunter, was in seinem Hals wehtat. »Er wird morgen entlassen.« Sie lallte und sabberte, er zog das Taschentuch hervor und wischte ihr den Speichel vom Kinn. »Verstehst du, Anni? Morgen kommt er raus. Er ist frei. Und kann wieder unsere Straßen versauen.« Ihr Zimmer sah so aus wie bei ihrem Einzug. Er hatte selbst die Möbel ausgesucht, die sie von zu Hause mitnehmen sollte, und er hatte sie persönlich aufgestellt, nur er hatte doch gewusst, warum es für sie so wichtig war, mit dem Kopf zum Fenster zu schlafen. Sie hatte schon in der ersten Nacht ausgesehen, als fühle sie sich hier geborgen. Er hatte sie zum Bett getragen und hingelegt, hatte die Decke um ihren schmächtigen Leib festge-
steckt. Er hatte neben ihr gesessen, bis die Dunkelheit gewichen war, sie hatte tief geschlafen, und er hatte sie gegen Morgen verlassen, als sie erwacht war. Er hatte den Wagen stehen lassen und den langen Weg zur Wache auf Kungsholmen zu Fuß zurückgelegt, es war schon später Vormittag gewesen, als er dort angekommen war. »Und diesmal schnapp ich ihn mir.« Sie sah ihn an, als ob sie ihm zuhörte. Er wusste, dass das nicht der Fall war, aber da es so aussah, spielten sie oft, als führten sie ein Gespräch, wie damals, wie früher. Ihre Augen, vielleicht erwartungsvoll, vielleicht nur leer. Wenn ich es nur geschafft hätte anzuhalten. Wenn dieser Arsch dich nicht herausgezogen hätte. Wenn dein Kopf nicht weicher gewesen wäre als das Rad. Ewert Grens beugte sich zu ihr vor, seine Stirn an ihrer, ein Kuss auf ihre Wange. »Du fehlst mir.«
Der mit dem dunklen Anzug und der goldenen Schlipsnadel, der, der vor ihr auf den Boden ge-
spuckt hatte, war gerade gegangen. Diesmal hatte es nicht geholfen, an Klaipėda zu denken und den Rest ihres Körpers auszusperren, nur ein Gesicht zu sein. Sie hatte ihn trotzdem gespürt, es kam manchmal vor, dass sie spürte, wie weh es tat, wenn jemand in sie eindrang und sie zugleich anschrie, sie solle sich bewegen. Lydia überlegte, ob es an seinem Geruch liegen könnte. An diesem Geruch, den sie erkannt hatte und der dem der Männer ähnelte, die mit ihrem Papa in dem verschmutzten Waffenraum gesessen hatten. Sie überlegte, ob es ein gutes Zeichen war, dass sie ihn erkannte, ob das bedeutete, dass es noch immer eine Verbindung zu damals gab und zu dem, wonach sie sich so sehr sehnte, ob das, wonach sie sich so sehnte und das jetzt weit weg war, noch tief in ihr verwurzelt war. Danach hatte er nicht mehr viel gesagt. Er hatte sie angesehen und ein letztes Mal den Zeigefinger ausgestreckt, nicht mehr, nur ein paar einsilbige Wörter. Er hatte sich nicht einmal umgesehen, als er gegangen war. Lydia lachte. Wenn sie einen Schoß gehabt hätte, hätte sie getrauert, weil seine Körperflüssigkeiten
nun in ihr waren. Dann hätte sie sein Organ noch mehr wahrgenommen. Jetzt war es nicht so. Sie war doch nur ein Gesicht. Sie lachte und rieb sich einen Körperteil nach dem anderen mit weißer Seife ein, ihre Haut flammte rot auf, sie drückte hart zu, Seife gegen Hals, Schultern, Brüste, in der Vagina, an Schenkeln, Füßen. Das erstickte die Schande. Sie spülte sie fort. Seine Hände, seinen Atem, seinen Geruch. Das Wasser war so heiß, dass es fast wehtat, die Schande eine hässliche Haut, die sich nicht löste. Danach saß sie auf dem Boden der Duschkabine und sang, den Refrain, das Kinderlied aus Klaipėda. Lydia Grajauskait. Lydia Grajauskait. Lydia Grajauskait. Sie liebte dieses Lied. Es war ihr Lied gewesen, ihres und das von Vladi, sie hatten es jeden Morgen laut gesungen, wenn sie durch das Wohngebiet mit den Plattenbauten zur Schule gegangen waren, eine Silbe für jeden Schritt, ihre Namen, immer wieder, laut.
»Hör auf mit dem Krach!« Dimitri schrie aus der Diele, den Mund dicht vor der Badezimmertür, aber sie machte weiter. Er schlug gegen die Wand, schrie wieder, sie solle herauskommen, aber verdammt plötzlich. Sie blieb auf dem nassen Boden sitzen, hörte aber auf zu singen, ihre Stimme war durch die Tür kaum zu hören. »Wer kommt denn jetzt?« »Du hast Schulden, du verdammte Nutte.« »Ich will wissen, wer jetzt kommt.« »Wasch dir die Fotze. Du hast einen neuen Kunden.« Lydia hörte, wie die Wut seine Stimme packte, und stand auf, trocknete ihren nassen Körper ab, sie trat vor den Spiegel über dem Waschbecken, malte sich die Lippen rot, Schicht um Schicht. Sie zog sich an, die fast sahneweiße Unterwäsche aus einer Art dünnem Samt, die irgendwer, der jetzt kommen würde, schon vorher geschickt und die Dimitri ihr an diesem Morgen gegeben hatte. Vier Rohypnol und ein Valium. Sie schluckte, lächelte in den Spiegel und mischte die Tabletten mit einem halben Glas Wodka.
Sie öffnete die Badezimmertür und ging hinaus in die Diele. Der nächste Kunde, der zweite an diesem Tag, ein neuer, den sie noch nie gesehen hatte, wartete schon im Treppenhaus. Dimitri saß in der Küche, sie sah, wie er sie wütend anstarrte, als sie vorbeiging, die letzten Schritte zur Haustür. Sie ließ den Mann noch einmal klopfen. Dann öffnete sie.
Hilding Oldéus riss an der Wunde in seiner Nase. Eine chronische Infektion im rechten Nasenloch, verursacht durch Heroin. Wenn er den Scheiß genommen hatte, kratzte er sich dort, er hatte schon seit vielen Jahren keine Nase ohne offene Wunde mehr. Es schien dort zu brennen, er musste reiben reiben reiben, der Zeigefinger bohrte, kratzte noch mehr Haut ab. Er schaute sich um. Es war ein mieser Scheiß-Sozialraum, er hasste diesen Ort und kam doch immer wieder zurück, kaum war er entlassen worden, saß er schon wieder hier, bereit, für sein Geld zu lächeln. Eine Woche war vergangen. Er hatte sich vor den Bullen in der JVA Aspsås verbeugt, hatte sich hastig von Jo-
chum verabschiedet, Jochum, dem er in den letzten Monaten in den Arsch gekrochen war, er hatte jemanden gebraucht, hinter dem er sich verstecken konnte, und Jochum war doch mehr als groß genug, kein Arsch würde auf die Idee kommen, irgendwelchen Scheiß mit ihm anzufangen, wenn er sich in Jochums Schatten verkroch. Jochum hatte seinen Gruß erwidert, ihm blieb noch eine Woche (Hilding ging plötzlich auf, dass das morgen war, eine Woche war vergangen, verdammt, es war morgen) und sie würden sich außerhalb der Mauern vermutlich niemals wiedersehen. Jochum war eine Zeit lang sein Beschützer gewesen, aber er hatte nichts mit Drogen am Hut, und wer nichts mit Drogen am Hut hatte, verschwand danach einfach, war irgendwo anders. Hier saßen nicht viele. Ein paar Zigeunerweiber und zwei blöde Rentner. So was Dämliches, was brauchten die denn schon? Hilding kratzte wieder an der Wunde in seiner Nase herum, die stahlen doch einfach seine Zeit, diese verdammten Massen, die ihm da im Weg saßen. Es war so ein Tag. Wenn er es merkte. Er wollte es nicht merken, durfte es nicht merken, aber dann kam so ein Scheißtag, wo er merkte, dass er es
merkte, er brauchte einen Schuss, musste den Dreck loswerden, brauchte das verdammte Horse, und die vielen miesen Ärsche saßen ihm hier in dem blöden Sozialraum im Weg, er war jetzt an der Reihe, verdammt, jetzt war er an der Reihe. »Ja. Der Nächste?« Sie hatte die Tür geöffnet. Die fette Sozialtante. Er sprang auf, lief zu ihrer Tür. Sein ruckhafter Gang trug seinen mageren Körper, und alle sahen, dass hier ein noch junger Mensch kam, noch keine dreißig, kindliche Züge in der von Drogen zerstörten Haut, irgendwohin unterwegs, aber nicht zum Leben. Er riss sich wieder an der Nase, merkte, dass ihm der Schweiß ausbrach. Es war Juni, und es pisste wie bescheuert, und er lief in einem langen Regenmantel durch die Gegend. Der Mantel ließ keine Luft durch und er hätte ihn ausziehen müssen, hatte mit dem Gedanken gespielt, hatte es aber nicht über sich gebracht. Er setzte sich auf den Besucherstuhl vor einem nackten Schreibtisch und einigen leeren Bücherregalen. Er schaute sich nervös im Zimmer um. Sonst niemand da, keine an-
dere verdammte Sozialtante, eigentlich waren sie immer zu zweit. Klara Stenung nahm ihm gegenüber Platz, auf der anderen Seite des Schreibtisches. Sie war achtundzwanzig Jahre alt, so alt wie der Drogensüchtige, der ihr gegenübersaß. Sie sah ihn nicht zum ersten Mal und wusste, wer er war, wohin er unterwegs war. Sie hatte noch mehr von der Sorte. Sie hatte zwei Jahre in einem Vorort als Sozialarbeiterin gearbeitet, jetzt war sie seit drei Jahren hier in der Innenstadt eingesetzt. Mager, gestresst, unverschämt, frisch aus der Haft entlassen, sie kamen und gingen, blieben für zehn Monate weg, kehrten aber immer wieder zurück. Sie erhob sich, streckte den Arm aus. Er sah ihre Hand an, spielte mit dem Gedanken, die anzuspucken, nahm sie dann endlich, hielt sie in schlaffem Griff. »Ich brauch Knete.« Sie erwiderte schweigend seinen Blick, wartete ab. Sie hatte ihre Ordner, ihr Archiv. Sie wusste alles über ihn. Hilding Oldéus war wie die anderen. Kein Vater. Keine Mutter, die der Rede wert gewesen wäre. Zwei ältere Schwestern, die sich alle Mühe
gegeben hatten. Ziemlich begabt, ziemlich verwirrt, ziemlich verloren. Alkohol mit dreizehn, Cannabis mit fünfzehn. Danach war es schnell gegangen. Heroin geraucht, Heroin gespritzt, erster Gefängnisaufenthalt mit siebzehn. Jetzt, mit achtundzwanzig, hatte er in elf Jahren siebenmal gesessen. Vor allem wegen Diebstahls, dazu kam der ein oder andere Fall von Hehlerei. Ein kleiner Dieb. So einer, der mit einem Brotmesser in der Hand in einen Kiosk stürmte, die Tageskasse an sich riss und dann vor dem Laden stehen blieb, während er einen kleinen Dealer bezahlte und das Gramm entgegennahm, das er sich dann im erstbesten Torweg setzte. Er begriff überhaupt nichts, wenn die Leute im Laden in seine Richtung zeigten und die Polizei eintraf und er hinten in einem Auto saß und in den Knast geschafft wurde. »Du kennst die Antwort. Du bekommst kein Geld.« Er rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her, wippte auf und ab, hätte fast das Gleichgewicht verloren. »Aber verdammt! Ich bin doch frisch entlassen!« Sie sah ihn an, er schrie, er riss an seiner Nasenwunde herum.
»Tut mir leid. Du bist nicht registriert. Nicht als Arbeitsloser. Und das Arbeitsamt führt dich auch nicht als arbeitssuchend.« Er sprang auf. »Du fetter Arsch! Ich bin doch total fertig! Hab einen Scheißhunger!« »Ich verstehe ja, dass du Geld für Lebensmittel brauchst. Aber du bist nicht registriert. Also darf ich dir keins geben.« Das Blut aus der Nasenwunde tropfte auf den Boden, es war ziemlich viel, der gelbe Kunststoff färbte sich rot. Er schrie, das tat er, er drohte heftig, auch das tat er, aber es kam nichts dabei heraus, auch jetzt nicht. Er blutete, aber er schlug nicht zu. Er war nicht so, und sie wusste es, sie spielte nicht einmal mit dem Gedanken, Verstärkung zu rufen. Er hämmerte mit der Faust gegen das Bücherregal. »Ich scheiß doch auf eure dämlichen Regeln!« »Mach, was du willst. Geld gibt es trotzdem nicht. Aber ich kann dafür sorgen, dass du für zwei Tage Essensgutscheine bekommst.« Vor dem Fenster fuhr ein Lastwagen vorbei, der Lärm wurde zwischen die Häuser in der engen Gasse gepresst. Hilding hörte es nicht. Er hörte über-
haupt nichts. Die Alte da vor ihm redete über Essensgutscheine. Und seit wann, verdammt nochmal, konnte man einen Gutschein vom Sozialamt gegen Pulver eintauschen? Er starrte die fette Frau an, die da hinter ihrem Schreibtisch saß und Gutscheine anbot, starrte ihre dicken Titten und ihr Halsband mit den runden Holzperlen an. Er lachte und er schrie, er warf den Stuhl um, auf dem er eben noch gesessen hatte, und versetzte der Wand einen Tritt. »Ich scheiß ja wohl auf deine blöden Gutscheine! Dann muss ich die Kohle eben selbst zusammenkratzen. Bekloppte Sozialmulle!« Er stürzte aus dem Zimmer, sah die Finnen und die Zigeunerweiber und die Rentner in dem scheußlichen Wartezimmer. Alle starrten ihn an, sagten aber nichts, saßen schweigend da, fast geduckt. Er schrie »Scheißbettelpack« und meinte diese Leute, an denen er vorüberlief, und dann schrie er noch etwas, was einfach unverständlich war. Seine schrille Stimme brach und ertrank in dem Blut, das aus seiner Nase lief, und er hinterließ Spuren, auf der Treppe und in der Eingangstür und auf dem
ganzen Weg durch die Östgötagata in Richtung Skanstull
Nicht gerade der Supersommer. Windig, selten mehr als zwanzig Grad, ab und zu ein Vormittag mit zufälligem Sonnenschein, ansonsten Regen auf Hausdächern und Gartengrills. Ewert Grens hatte ihre Hand gehalten, so lange sie das geduldet hatte, dann war sie unruhig geworden, das wurde sie immer, wenn sie genug gelacht hatte, wenn sie aufhörte zu lallen und wenn der Speichel nicht mehr regelmäßig über ihr Kinn tropfte. Deshalb hatte er sie umarmt und ihre Stirn geküsst und erklärt, er werde in einer Woche wieder kommen, immer in einer Woche. Wenn du es nur geschafft hättest, noch ein wenig Widerstand zu leisten. Jetzt saß er im Wagen und fuhr über die Lidingöbrücke, unterwegs zu Bengt Nordwall, der jetzt in Eriksberg wohnte, einige Dutzend Kilometer im Süden der Stadt. Er fuhr viel zu schnell und sah sich plötzlich, wie so oft, hinter einem anderen
Lenkrad sitzen. In dem Einsatzbus, dessen Leiter er fünfundzwanzig Jahre zuvor gewesen war. Er sah Lang draußen vor dem Bus und wusste, dass der gesucht wurde, und er machte das, was er schon so oft gemacht hatte, er holte den laufenden Menschen ein, während Bengt die Seitentür des Busses aufriss und Anni, die am nächsten saß, Lang packte und schrie, er sei festgenommen, wie die Vorschriften es eben verlangten. Sie hatte auf diesem Platz gesessen. Und deshalb hatte Lang sie aus dem Wagen ziehen können. Ewert Grens kniff die Augen zusammen und bog von der Straße ab, verließ die Reihe aus gestressten Morgenpendlern. Er stellte den Motor ab und blieb still sitzen, bis die Bilder verschwunden waren. In den letzten Jahren war es immer so, wenn er sie besucht hatte, die Erinnerungen dröhnten in seinem Kopf und nahmen ihm den Atem. Er blieb eine Weile stehen, achtete nicht auf die Idioten, die hupten, wartete, bis er so weit war. Noch fünfzehn Minuten, dann hatte er sein Ziel erreicht. Sie begrüßten einander schon auf dem schmalen Gartenweg und blieben dann im Regen
stehen, nebeneinander, sie starrten zum Himmel empor. Keiner von ihnen lächelte sehr oft, ob das nun am Alter lag oder ob sie schon immer so gewesen waren. Aber der graue kompakte Himmel und der Wind und der rauschende Regen zwangen sie zum Lachen, was hätten sie auch sonst tun sollen. »Was sagst du?« »Was ich sage? Dass ich es nicht mehr bringe, mir irgendwas zu Herzen zu nehmen.« Sie zuckten mit den Schultern, setzten sich auf das vom Wasser gesättigte Polster einer Gartenbank. Sie kannten einander seit zweiunddreißig Jahren. Damals waren sie jung gewesen, ihr Leben hatten sie hastig verbraucht, jetzt blieb ihnen weniger als die Hälfte. Ewert Grens sah seinen Freund schweigend an. Den einzigen, den er im Grunde hatte, mit dem er über andere Dinge sprach als über die Arbeit, den er ertragen konnte. Noch immer gut aussehend, noch immer viele Haare, sie waren gleich alt, aber Bengt wirkte viel jünger. Das war wohl so, wenn man kleine Kinder hatte. Die zwangen einen zur Jugend.
Ewert hatte keine Kinder, keine Haare und einen schwerfälligen Körper. Seine schleppenden Schritte und Bengts federleichter Gang, sie hatten ihre gemeinsame Vergangenheit, und noch immer teilten sie ihren Beruf als Polizisten in der Stockholmer Innenstadt, aber sie hatten die Zeit in ihren Händen gehalten, und Ewert schien mehr davon gebraucht, sie hastiger verbraucht zu haben. Bengt seufzte resigniert. »Diese Nässe. Ich krieg die Kinder schon gar nicht mehr aus dem Haus.« Ewert war sich nicht sicher, ob er zu seinem ältesten Freund nach Hause eingeladen wurde, weil der Freund mit einem gemütlichen Zusammensein rechnete. Oder ob es aus Pflichtgefühl geschah, ob er ihnen leidtat, so einsam wie er war, so nackt außerhalb der Gänge des Polizeigebäudes. Er kam jedesmal, wenn sie ihn einluden, bereute es nie, konnte aber auch nicht aufhören, darüber nachzudenken. »Heute ging es ihr gut. Sie hat mich begrüßt. Da bin ich mir sicher.« »Und du, Ewert? Wie geht es dir?« »Wie meinst du das?«
»Ich weiß nicht, was ich meine. Aber du kommst mir ... irgendwie niedergeschlagen vor in letzter Zeit. Vor allem, wenn du von Anni sprichst.« Ewert hörte, was sein Freund sagte, gab aber keine Antwort. Er schaute sich gleichgültig um, sah sich das Vorstadtleben an, das er nicht verstand. Sein Freund bewohnte eigentlich eine schöne kleine Villa. So eine ganz normale, Klinker, kleiner Rasen, ordentlich beschnittene Sträucher, sonnengebleichtes Plastikspielzeug, das überall herumlag. Wenn es nicht so geregnet hätte, dann wären die beiden Kinder hinter dem Haus herumgesprungen und hätten etwas gespielt, was Kinder in diesem Alter eben spielen. Er war spät Vater geworden, sein Freund Bengt, er war fast fünfzig gewesen und Lena zwanzig Jahre jünger. Er hatte gewissermaßen eine zweite Chance erhalten. Ewert begriff nicht, was eine schöne junge begabte Frau an einem Polizisten in mittleren Jahren fand, er gönnte es Bengt, konnte es aber nicht begreifen. Ihre Kleidung war nass, schwerer Stoff hing an ihren Körpern hinunter. Sie merkten es nicht mehr, vergaßen eine Zeit lang den Regen. Ewert beugte sich vor, sah seinen Freund an.
»Du?« »Ja?« »Jochum Lang wird morgen entlassen.« Bengt schüttelte den Kopf. »Du musst das irgendwann loslassen.« »Du hast gut reden. Du bist damals nicht gefahren.« »Und ich habe damals nicht geliebt. Aber das spielt keine Rolle. Du musst es ruhen lassen. Es ist fünfundzwanzig Jahre her, Ewert.« Er hatte sich umgedreht, zum Rücksitz. Er hatte gesehen, wie sie den fliehenden Körper gepackt hatte. Ewert Grens atmete schwer, fuhr sich mit der Hand über seinen regennassen Schädel, spürte den Zorn, der noch immer an dem hing, was damals geschehen war. Jochum Lang hatte ihre Hand gespürt und sich im Laufen umgesehen. Er hatte sie gepackt, hatte an ihr gerissen, und Bengt, der neben ihr gesessen hatte, hatte ihren Sicherheitsgurt nicht zu fassen bekommen. Ewert seufzte. Wieder fuhr die Hand über seinen nassen Schädel.
Und dann war es passiert, sie war aus dem Bus gefallen, und ein Hinterrad war über ihren Kopf gefahren, und in diesem Moment hatte er eingesehen, dass ihr gemeinsames Leben zu Ende war. Lang hatte gelacht, als er weggelaufen war, und später hatte er wieder gelacht, als er wegen Körperverletzung zu ein paar miesen Monaten Gefängnis verurteilt worden war. Ewert Grens hasste ihn. Bengt öffnete einen Knopf an seinem nassen Hemd und suchte Blickkontakt zu seinem Freund. »Ewert?« »Ja?« »Du scheinst ganz weit weg zu sein.« Ewert Grens schaute auf den regennassen Rasen, auf die Tulpen, die in dem gepflegten Beet die Köpfe einzogen. Er war müde. »Ich schnapp mir den Arsch.« Bengt legte ihm den Arm um die Schultern. Grens zuckte zusammen. An solche Gesten war er nicht gewöhnt. »Lass ihn doch jetzt los, Ewert.« Er hatte vorhin noch ihre Hand gehalten. Sie hatte gelacht wie ein Kind, und die Hand war kalt ge-
wesen, schlaff, wie abwesend. Er konnte sich daran erinnern, dass sie anders gewesen war, konnte sie noch immer spüren, warm, fest, anwesend. »Von morgen an kann der frei durch die Straßen laufen. Verstehst du? Lang läuft durch die Gegend und scheißt auf uns.« »Ewert, war Lang daran schuld? Bist du dir sicher? Oder war ich schuld? Ich hab sie nicht festhalten können. Vielleicht solltest du mich hassen. Und dich an mir rächen.« Der Wind, der wieder aufkam, packte den Regen, riss ihn mit sich, schlug ihnen damit ins Gesicht. Hinter ihnen wurde die Verandatür geöffnet. Die Frau, die aus dem Haus trat, hielt einen Schirm in der Hand, sie hatte die langen Haare hochgebunden, lachte. »Ihr seid doch verrückt!« Sie fuhren herum. Bengt lachte auch. »Wenn man erst einmal nass ist, spielt es keine Rolle mehr.« »Aber jetzt kommt ins Haus. Das Frühstück ist fertig.« »Jetzt sofort?« »Jetzt sofort, Bengt. Die Kinder haben Hunger.«
Sie erhoben sich. Hosen und Jacketts, Stoff, der am Körper klebte. Ewert Grens schaute wieder auf, der Himmel, er war noch immer grau.
Es war noch immer Morgen. Sie hörte draußen die Vögel, sie sangen füreinander, das machten sie um diese Zeit. Lydia saß auf der Bettkante und lauschte, es war schön, sie sangen hier genauso wie zwischen den scheußlichen Betonblocks in Klaipėda. Sie wusste nicht warum, aber sie war nachts mehrere Male aufgewacht, weil sie von dem Besuch geträumt hatte, den sie Jahre zuvor mit ihrer Mutter im Lukuskėles-Gefängnis in Vilnius gemacht hatte. Sie hatte geträumt, dass ihr Papa dastand und ihr zuwinkte, sie hatte ihn auf dem dunklen Gang vor der Tbc-Abteilung zurückgelassen, war an fünfzehn anderen Gefangenen vorbeigegangen, die langsam in dem so genannten HIV-Zimmer verfaulten, und dann sah sie plötzlich aus der Entfernung, wie er zusammenbrach. Sie war sofort stehengeblieben, hatte eine Weile ganz still dagestanden. Als er sich nicht wieder erhoben hatte, war sie über den Steinboden zurückgerannt, so schnell sie
konnte, sie hatte an ihm gezogen und gezerrt, bis er wieder auf den Füßen gestanden hatte, er hatte gehustet und das Blut und das Gelbe, das herausmusste, von sich gegeben. Im Traum war es genauso gewesen wie damals, ihre Mutter war dazugekommen, sie hatte geweint und geschrien, jemand von der Krankenstation solle kommen und ihn holen. Diesen Traum hatte sie immer wieder geträumt. Lydia seufzte tief, rutschte auf der Bettkante ein Stück weiter und öffnete die Oberschenkel, wie der Mann vor ihr es verlangte. Er saß einige Meter von ihr entfernt. Ein Mann mittleren Alters, sie schätzte ihn auf ungefähr vierzig, so alt, wie ihr Vater jetzt wäre. Sie sah ihn seit fast einem Jahr einmal die Woche, jeden Montagmorgen, er kam immer pünktlich. Er war der dritte Kunde an diesem Tag und klopfte immer genau dann an die Wohnungstür, wenn sie durch das geschlossene Fenster die Kirchturmuhr neunmal schlagen hörte. Er spuckte nicht. Er wollte nicht in sie eindringen. Sein Glied blieb ihr erspart. Sie nahm nicht einmal seinen Geruch wahr.
Er war der Typ, der sie umarmen wollte, wenn sie die Tür öffnete, und der sie dann nicht wieder anrührte, sondern nur sein eigenes Geschlecht mit der einen Hand umklammerte und ihr mit der anderen bedeutete, dass sie sich ausziehen sollte. Er wollte, dass sie ihren Unterleib hin- und herbewegte, und dabei packte er sein Geschlecht fester. Er wollte, dass sie knurrte wie ein Hund, den er einmal gehabt hatte, und sein Geschlecht wurde rot, wenn er es zusammendrückte. Er ließ sich im schwarzen Ledersessel zurücksinken, als seine Flüssigkeit über die glatte Oberfläche strömte. Um zwanzig nach neun war er fertig und hatte die Wohnung bereits wieder verlassen, noch ehe die Kirchturmuhr halb zehn schlagen konnte. Lydia blieb auf der Bettkante sitzen, bis er gegangen war, die Vögel zwitscherten, jetzt hörte sie sie wieder.
Aus der Wunde im rechten Nasenloch tropfte das Blut ganz regelmäßig auf den Bürgersteig der Östgötagata. Hilding lief schnell, er hatte keinerlei nennenswerte Kondition, obwohl er doch frisch entlassen war, er gehörte nicht zu denen, die in der
Turnhalle der JVA Aspsås ihren Hass ertränkten oder Respekt aufbauten, trotzdem lief er voller Panik und Wut von der verdammten Sozialkuh davon und sehnte sich nach dem verdammten Pulver, und deshalb keuchte er, als er sich dem Ringväg und der U-Bahn-Station Skanstull näherte. Ich scheiß ja wohl auf deine blöden Gutscheine. Muss ich die Kohle eben selbst zusammenscharren. »Du da.« Hilding tippte einem Kind, das vor ihm auf dem Bürgersteig stand, auf die Schulter. Er schätzte sie auf zwölf, dreizehn Jahre. Sie gab keine Antwort, und er tippte noch einmal. Sie wandte sich demonstrativ in die Richtung, aus der der Zug gleich kommen würde. »Du da. Ich rede mit dir.« Er hatte ihr Mobiltelefon gesehen. Er streckte die Hand danach aus, trat einen Schritt vor, entriss es ihr und wählte unberührt von ihren Protesten die Nummer, wartete auf das Klingelsignal. Hilding räusperte sich. »Schwesterherz? Ich bin’s.« Sie zögerte, deshalb redete er weiter. »Schwesterherz, verdammt, ich muss Geld leihen.«
Er hörte, wie sie seufzte, ehe sie antwortete. »Von mir bekommst du kein Geld.« »Schwesterherz. Essen. Und Klamotten. Nur dafür.« »Dann musst du aufs Sozialamt gehen.« Wütend starrte er das Telefon in seiner Hand an, atmete tief durch und schrie dann, den Mund dicht vor der Stelle, wo er die Sprechmuschel vermutete: »Verdammt, Schwesterherz! Dann muss ich das eben selbst besorgen. Und du bist schuld.« Sie gab genau die gleiche Antwort wie beim vorigen Mal. »Das ist deine Entscheidung. Dein Problem. Schieb es nicht mir unter.« Hilding Oldéus schrie in das elektronische Schweigen, das sich einstellte, als sie das Gespräch beendet hatte, und schleuderte das blutige Telefon auf den Bahnsteig aus Beton. Die blöde Göre blieb heulend stehen, als er den soeben einfahrenden Zug bestieg. Er stellte sich mitten vor die eine Tür und riss weiter an dem roten Tropfenden herum. Blutgestank und Schweißringe und das magere Gesicht, dem das Leben fehlte – er stank ganz einfach.
Er stieg am Hauptbahnhof aus und fuhr mit der Rolltreppe aus der Unterwelt nach oben. Es regnete kaum, er war unsicher, ob es an diesem Morgen überhaupt schon geregnet hatte. Er schaute sich um und schwitzte noch immer in dem zugeknöpften Regenmantel, sein Rücken triefnass, dann überquerte er die Klarabergsgata und den Bürgersteig auf der gegenüberliegenden Seite. Er verschwand mit schnellen Schritten zwischen den Häusern beim Ferlindenkmal und lief durch das Tor des St.-Clara - Friedhofs. Leer, so leer, wie er gehofft hatte. Ein besoffener Arsch ein Stück weiter im Gras, sonst kein Mensch. Er ging vorbei an dem großen Grabstein von Bellman und weiter zu der Parkbank dahinter, unter dem Baum, den er für eine Ulme hielt. Er streckte die Beine aus, summte eine Melodie. Eine Hand in der rechten Tasche des Regenmantel, Er betastete das Waschmittel, ließ es langsam durch seine Finger rieseln. Er zog die andere Hand in der linken Tasche heraus und öffnete die Packung mit den fünfundzwanzig Briefmarkentüten; kleine Plastiktüten von acht mal sechs Zenti-
metern, vermischte das Waschpulver mit Amphetamin, das kaum den Boden der Tüten bedeckte. Er brauchte Knete, und bald würde er welche haben.
Es war Abend. Sie war für diesen Tag fertig, mehr würden nicht kommen. Lydia ging langsam durch die Wohnung, es war angenehm dunkel, nur wenige Lampen brannten. Die Wohnung war ziemlich groß, wohl die größte, seit sie hergekommen war, vier Zimmer. In der Diele blieb sie stehen. Sie wusste nicht, warum, aber sie suchte etwas im Muster der Tapete, an den schmalen Strichen, die den Leerraum zwischen Boden und Decke füllten. Das machte sie oft, sie stand einfach da und vergaß alles andere, sie wusste, dass es daran lag, dass die Tapete Ähnlichkeit mit etwas hatte, das sie früher schon einmal gesehen hatte, an einer anderen Wand, in einem anderen Zimmer, vor langer Zeit. Lydia konnte sich so deutlich an diese Wand erinnern, an dieses Zimmer.
Die Militärpolizei, die hereingestürzt war; ihr Vater und die anderen Männer, an die Wand gepresst; die Stimmen, die »zatknis, zatknis« schrien; und die seltsame Stille danach. Sie hatte gewusst, dass ihr Vater schon einmal im Gefängnis gesessen hatte. Dass er zu Hause eine litauische Flagge an die Wand gehängt hatte und dafür zu fünf Jahren Haft in Kaunas verurteilt worden war. Sie war noch so klein gewesen, erst ein paar Jahre, aber wegen einer Flagge, sie schüttelte den Kopf, konnte es noch immer nicht verstehen. Natürlich hatte er seinen Posten in der Armee danach nicht zurückerhalten, und er hatte einmal laut gefragt, das wusste sie noch ganz genau, als der Wodka ein Ende genommen hatte und die Wangen rot waren und sie in dem Zimmer mit den Strichtapeten gesessen hatten, zwischen gestohlenen Waffen, die alsbald verkauft werden sollten, da hatte er laut gefragt, was er denn sonst machen sollte? Wenn die Kinder vor Hunger schrien und der Staat sich weigerte zu bezahlen, was zum Teufel sollte er denn dann machen? Lydia blieb in der Diele stehen. Sie liebte die Stille, die abendliche Dunkelheit, die sie langsam um-
hüllte und zur Ruhe wiegte. Die schmalen Striche an der Wand reichten nach hoch oben, sie musste den Kopf ganz weit in den Nacken legen, die Wände waren hoch, es war eine alte Wohnung. Sie dachte, dass sie einige seltene Male allein in um einiges kleineren Wohnungen gearbeitet hatte, ansonsten waren sie immer zu zweit gewesen, und die Männer, die im Treppenhaus standen und an die Tür klopften, konnten sich deshalb aussuchen, welche von beiden sie anfassen wollten. Jeden Tag mussten zwölf Männer zu ihr kommen. Ab und zu auch mehr, aber niemals weniger. Dann schlug Dimitri sie und dann fiel er selbst über sie her, so oft, wie es eben an Freiern fehlte. Sie hatte natürlich ihr Ritual. Jeden Abend. Sie duschte, nahm ihre Tabletten, vier Rohypnol und ein Valium mit ein wenig Wodka. Sie zog weite Kleidung an, die über ihren Körper hing und ihre Konturen auswischte, niemand konnte sie sehen, niemand konnte sie anfassen. Aber trotzdem schmerzte ihr Unterleib mehr als sonst. Sie spürte, wie die Schmerzen zuschlugen. Sie wusste, warum. Zwei waren neu gewesen, und die
Neuen machten es immer zu hart. Aber sie sagte nur selten etwas, sie hatte gelernt, wie wichtig es war, dass sie zurückkamen. Lydia hatte die schmalen Striche an der Wand jetzt satt und schaute deshalb die Wohnungstür an. Sie war schon lange nicht mehr aus dem Haus gegangen. Wie lange? Sie wusste es nicht genau, vier Monate vielleicht, das nahm sie jedenfalls an. Sie hatte einige Male mit dem Gedanken gespielt, das Küchenfenster einzuschlagen, wie die anderen auch ließ es sich nicht öffnen. Sie hatte das Glas zerschlagen und springen wollen, aber sie war zu feige, sie wohnten im sechsten Stock, und sie wusste nicht, was es für ein Gefühl sein würde, zu springen und zu Boden zu stürzen. Sie ging auf die Tür zu, graues Metall, sie berührte sie, hart, kalt. Sie blieb stehen und schloss die Augen, hielt die Hand vor die rote Lampe, sie atmete langsam und verfluchte sich, weil sie nicht begriff, wie die beiden elektronischen Schlösser funktionierten. Sie hatte versucht, zuzusehen, was Dimitri machte, aber das war ihr nicht gelungen, er stand immer im Weg, er wusste ja, dass sie hinter ihm wartete und ihn beobachtete.
Sie verließ die Diele, ging durch das unmöblierte Zimmer, das sie aus irgendeinem Grund als Wohnzimmer bezeichneten, dann vorbei an ihrem eigenen Zimmer, sie sah das große Bett an, das sie hasste, in dem sie aber schlafen musste. Sie ging weiter, bis nach ganz hinten, zu Alenas Zimmer. Alenas Tür war geschlossen, aber Lydia wusste, dass auch Alena mit der Arbeit fertig war, sie hatte geduscht und war allein in ihrem Zimmer. Sie klopfte. »Ja?« »Ich bin’s nur.« »Ich versuche zu schlafen.« »Weiß ich. Aber darf ich reinkommen?« Einige Sekunden. Lydia wartete. Bis Alena sich entschieden hatte. »Sicher. Komm rein.« Alena lag nackt in dem ungemachten Bett. Ihr Körper war dunkler als Lydias, ihre langen Haare waren noch nass, es würde ihr schwerfallen, sie am nächsten Morgen auszukämmen. Sie lag oft so da, wenn alle gegangen waren, sie starrte die Decke an dachte daran, dass sie ihm nie gesagt hatte, dass
sie fahren wollte, dass jetzt mehrere Jahre vergangen waren, dass sie das letzte Mal, als sie sich umarmt hatten, noch immer spürte und dass sie sich danach sehnte, es hatte ja nur für ein paar Monate sein sollen, sie hatte doch zu ihm zurückkehren wollen, zu Janoz, sie hatten heiraten wollen, danach. Lydia blieb still stehen. Sie sah Alenas Nacktheit und dachte an ihren eigenen Körper, den sie danach in weiten Kleidern verstecken musste. Sie sah und sie verglich und sie fragte sich, wie Alena es über sich brachte, in demselben Bett zu liegen, ohne Kleider, sie begriff, dass die andere es sozusagen andauern ließ, es nicht versteckte, es fast schon festhielt. Alena zeigte auf das Bett, auf den Teil, der leer war. »Setz dich.« Lydia ging ins Zimmer, es sah aus wie ihr eigenes, identisches Bett, identisches Regal, sonst nichts. Sie setzte sich auf das ungemachte Bett. Wo eben noch ein Mann gelegen hatte. Sie starrte eine Weile die rote Tapete an, kleine Blumen, wie aus Samt, sie wogten. Sie suchte Alenas Hand, nahm sie, drückte sie und flüsterte fast.
»Wie geht es dir?« »Ach, du weißt schon.« »So wie immer?« »Genau so.« Sie kannten einander seit über drei Jahren. Sie hatten sich auf dem Boot kennengelernt. Damals hatten sie gelacht. Sie waren unterwegs gewesen. Das Wasser, das sich teilte, das tief unter ihnen weiß schäumte, keine von ihnen war je auf dem Meer gewesen. Lydia zog die Hand ihrer Freundin an sich, drückte sie noch immer, streichelte sie mit ihrer anderen, verflocht die Finger mit ihren. »Ich weiß. Ich weiß.« Alena lag still da, blinzelte. Ihr Körper hatte keine blauen Flecken, nicht so wie der Lydias, nicht auf diese Weise. Lydia legte sich neben sie, für eine Weile teilten sie das Schweigen. Alena war wieder bei Janoz, den sie einfach verlassen hatte, den sie in ihre Pläne nicht eingeweiht hatte, Lydia war im Lukuskėles-Gefängnis, zwischen Männern mit geschorenen Köpfen, die auf einer staubigen Krankenstation husteten. Bis Alena sich plötzlich aufsetzte, ein Kissen hinter
ihren Rücken stopfte, sich an die Wand zurücksinken ließ. Sie zeigte auf den Boden, auf eine Abendzeitung, die dort lag. »Heb die auf.« Lydia ließ Alenas Hand los, beugte sich vor und hob die Zeitung auf. Sie fragte nicht, woher Alena die hatte, sie konnte sich ja denken, dass ein Kunde sie mitgebracht hatte, einer, der Dinge mitbrachte, der Sonderwünsche hatte, die dann auch erfüllt wurden. Lydia hatte nicht viele, die Dinge mitbrachten. Sie wollte Geld. Sie wollte Dimitri um das betrügen, was er wirklich haben wollte. Die, die mit Sonderwünschen zu ihr kamen, mussten einen zusätzlichen Hunderter bezahlen. »Schlag auf. Seite sieben.« Sie hatte es Alena erzählt. Jeder Kunde bezahlte fünfhundert Kronen. Sie wusste, was fünfhundert Kronen mal zwölf jeden Tag ergaben. Aber Dimitri behielt fast alles. Sie durften für jeden vollen Tag zweihundertfünfzig Kronen behalten. Der Rest ging für Kost und Logis und zur Schuldentilgung drauf. Anfangs hatte sie
mehr verlangt, aber da hatte Dimitri sie dermaßen rangenommen, wieder und wieder, bis sie versprochen hatte, niemals mehr um Geld zu bitten. Und dann hatte sie beschlossen, ab und zu einen Hunderter mehr zu nehmen. Auf ihre Weise. Eher, um Dimitri eins auszuwischen als wegen des Geldes. Sie bekam Prügel. Sie nahm die Prügel auf sich. Sie ließ sie schlagen, und das kostete hundert Kronen extra. Die meisten schlugen nicht hart, sie wollten nur damit anfangen, ehe sie eindrangen. Sie nahm sechshundert, Dimitri bekam seine fünfhundert und hatte keine Ahnung, dass sie einen Hunderter für sich behielt. Sie machte das schon ziemlich lange so, sie hatte sich einiges zusammengespart, und Dimitri Scheißzuhälter hatte keine Ahnung. Lydia sprach kein Schwedisch. Noch weniger las sie Schwedisch. Sie verstand die Schlagzeile nicht und auch nicht den fett gesetzten ersten Abschnitt oder den folgenden Text. Aber sie sah das Bild. Alena hielt die Zeitung so, dass Lydia sehen konnte, und ihr Blick fiel auf das Bild, und sie stieß einen Schrei aus, sie weinte und schrie und lief aus dem Zimmer
und wieder hinein, sie hasste die Zeitung, die Alena in der Hand hielt. »Dieses Schwein!« Sie ließ sich auf das Bett fallen, legte sich wieder neben den nackten Körper, weinte jetzt mehr, als dass sie schrie. »Dieses verdammte verdammte Schwein!« Alena wartete eine Weile, es hatte jetzt keinen Sinn, etwas zu sagen, Lydia musste sich zuerst ausweinen, so, wie Alena selbst sich vorhin ausgeweint hatte. Sie nahm ihre Freundin in die Arme. »Ich kann es dir vorlesen.« Alena sprach Schwedisch. Lydia begriff nicht, wie sie es über sich gebracht hatte, das zu lernen. Sie waren gleich lange in diesem Land, hatten gleich viele Männer getroffen, daran lag es nicht. Aber sie hatte sich eben dafür entschieden, abzublocken. Niemals zuzuhören. Nicht die Sprache zu lernen, in der sie vergewaltigt wurde. »Soll ich?« Lydia wollte das nicht. Sie wollte nicht. Sie wollte nicht. »Ja.«
Sie schmiegte sich dichter an die nackte Haut, lieh sich die Wärme der anderen. Alena war immer warm, Lydia fror zumeist. Das Bild war ziemlich uninteressant, ein Mann mittleren Alters, der an einem Haus lehnte. Er sah zufrieden aus, wie einer, der gerade gelobt worden ist. Er sah gut aus, hatte einen Schnurrbart, blonde, frisch gekämmte Haare. Alena zeigte auf ihn auf die Überschrift. Sie las, zuerst auf Schwedisch, dann übersetzte sie ins Russische. Lydia lag still da, lauschte, wagte nicht, sich zu bewegen. Dann der Artikel, achtlos hingeschrieben, in aller Eile, ein Drama, das am frühen Morgen beendet worden war, nur eine Stunde vor dem Drucken. Der Mann vor dem Haus, ein Polizist, hatte einen in Panik geratenen Dieb, der plötzlich fünf Geiseln genommen und sich in einer Bank verschanzt hatte, dazu gebracht, zuerst mit ihm zu sprechen, dann zurückzuweichen und dann sofort aufzugeben. Das war nicht weiter bemerkenswert. Ein Polizist, eine Art Alltag, Seite sieben; morgen durch einen anderen Polizisten und einen anderen Alltag ersetzt. Aber er lächelte.
Der Polizist auf dem Bild lächelte, und Lydia weinte wieder vor Hass.
Auf der Platte wimmelte es nur so von ihnen. Den Junkies. Die nicht locker ließen und mehr wollten. Hilding ging zwei Schritte weiter, stellte sich ein Stück weiter oben auf die Treppe zur Drottninggata. Das war sein fester Platz, es war wichtig, dass man ihn sah. Da schiss er doch auf die Bullerei, die da unten mit ihren Ferngläsern rumwedelte. Sie stand ein Stück weiter, am Eingang zur U-Bahn. Die kleinste Kanakenfrau, die er kannte. Höchstens eins fünfzig. Sie war kaum älter als zwanzig, aber sie war hässlich wie der Satan mit ihrer üppigen Mähne und dem speckigen Pullover, und nach drei oder vier Tagen Affe war sie rastlos und geil und wollte fixen und ficken und fixen und ficken. Er wusste, dass sie Mirja hieß und dass sie total mieses Schwedisch sprach und dass es schwer war, sie zu verstehen, und wenn es ihr so richtig dreckig ging, dann war das komplett unmöglich, dann schien ihr Mund einfach nicht zu wollen. »Was?«
Er feixte. »Wieso was?« »Du hast was?« »Ob ich was hab? Scheiße, was willsn?« »Ein G.« Miese Kuh. Fixen und ficken. Hilding reckte sich, ehe er weitersprach, schaute sich auf der Platte um, schaute zu den Bullen hinüber, die sich nicht einmischten. »Metha oder normal?« »Normal. Dreihundert.« Sie beugte sich vor, wühlte mit der Hand in ihrem einen Schuh, irgendwo bei den Schnürsenkeln. Sie zog einige zerknüllte Scheine heraus und gab ihm drei davon. »Ganz normal.« Mirja war seit fast einer Woche ohne. Sie hatte nichts gegessen, sie brauchte mehr, um den Hochspannungsleitungen in ihrem Kopf zu entkommen, der Noia, die brummte und die an ihrem Gehirn riss und die ihr solche Schmerzen verursachte, wie das nur Hochspannungsleitungen im Gehirn schaffen.
Sie ging so rasch sie konnte von Hilding und der Treppe und der Drottninggata weg, zur Statue vor der Kirche und dann auf den Friedhof. Sie hörte deutlich, wie die Leute, an denen sie vorüberging, über sie sprachen. Ihre lauten Stimmen, sie schienen alles zu wissen, ihre Geheimnisse zu kennen. Sie redeten redeten redeten, aber bald würden sie verschwinden, zumindest für einige Minuten. Mirja setzte sich auf die erste Bank neben dem Eingang. Sie hatte es eilig, ließ ihre Stofftasche von der Schulter rutschen, zog eine zur Hälfte mit Wasser gefüllte Cola-Dose hervor, hielt sie in der einen und eine Spritze in der anderen Hand. Sie zog Wasser in die Spritze und ließ es in die Plastiktüte tropfen. Sie sehnte sich so sehr, sie hatte so lange gewartet, sie bemerkte nicht, dass der Inhalt der Tüte zu schäumen anfing. Sie lächelte und setzte die Spritze an, hielt sie einen Moment lang fest. Sie hatte es schon so oft gemacht. Sie krümmte den Arm, suchte eine Vene, fand eine, drückte. Der Schmerz setzte sofort ein. Sie sprang auf, ihre Stimme war kaum zu hören,
sie versuchte, das zurückzuziehen, was sie bereits injiziert hatte. Die Ader schwoll an, eine zentimeterdicke Erhöhung, die sich vom Handgelenk bis zum Ellbogen zog. Es tat nicht mehr weh, als die Haut plötzlich schwarz wurde, als das Waschmittel die Wände der Vene zerfraß.
Dienstag, der 4. Juni
Jochum Lang schlief nicht. Die letzte Nacht war immer die schlimmste. Es war der Geruch. Wenn der Türschlüssel ein letztes Mal umgedreht wurde, nahm er diesen Geruch wieder wahr. Die kleinen Zellen rochen immer gleich, scheißegal in welchem Knast, sogar in der U-Haft rochen Wände und Bett und Schrank und Tisch und die weiß angestrichene Decke so. Er setzte sich auf die Bettkante. Gab sich Feuer. Sogar der Luftdruck war derselbe. Es war so verdammt blöd, dass er es niemandem sagen konnte, aber so war es eben, jede Zelle in jedem Knast und jeder U-Haft hatte denselben Luftdruck, sonst war das nirgendwo so, nirgends. Er nervte herum, wie er in der letzten Nacht immer herumnervte, er ging zur Metallscheibe in der Wand und drückte lange auf den roten Knopf. Der Scheißbulle ließ sich Zeit. »Du wolltest etwas, Lang?« Die rote Lampe brannte, und die Zentrale ant-
wortete. Jochum beugte sich vor und hielt den Mund an das nutzlose Mikrofon. »Ich will diesen verdammten Gestank wegduschen.« »Das kannst du vergessen. Du bist noch immer genauso eingesperrt wie die anderen.« Jochum hasste sie. Er hatte seine Jahre abgesessen, aber die kleinen Ärsche mussten sich noch bis zur letzten Minute aufspielen. Er blieb auf dem Bett sitzen. Er würde zehn Minuten verstreichen lassen. Dann würde er wieder nerven. Meistens gaben sie sich dann geschlagen. Drei-, viermal, dann traten sie einen Schritt zur Seite, gerade so weit, dass er sich vorbeizwängen konnte, sie begriffen, dass er nicht blöd genug wäre ihnen zu drohen, wo ihm doch nur noch eine Nacht blieb, aber sie begriffen auch, dass sie ihm schon am nächsten Tag in der Stadt begegnen konnten und dass es sich manchmal empfahl, so wenig offene Rechnungen ausstehen zu haben wie möglich. Er erhob sich. Einige Schritte zum Gitterfenster, von dort einige Schritte zur Metalltür.
Er packte zwei Bücher und vier Schachteln Zigaretten und Seife und Zahnbürste und sein Radio und alle Briefe und ein ungeöffnetes Päckchen Tabak ein, er stopfte zwei Jahre und vier Monate in eine Plastiktüte, und das machte er so langsam, wie er konnte, und legte sie dann auf den Tisch. Er klingelte wieder, fauchte gereizt und presste den Mund noch immer ans Mikrofon und die Metallplatte, die das Mikro umgab, und die Metallfläche beschlug durch seinen Atem. Der Arsch ließ sich schon wieder Zeit. »Ich will meine Klamotten.« »Um sieben.« »Ich weck die ganze Scheißabteilung auf!« »Wie du willst.« Jochum hämmerte gegen die Tür. Irgendwer auf der anderen Seite des Ganges klopfte zur Antwort. Dann noch einer. Und das war nicht zu überhören. Der Bulle war diesmal schneller. »Du weckst doch alle auf.« »Hab ich ja gesagt.« Der Wärter seufzte. »Sicher. Also gut. Wir gehen zu den Säcken nach unten. Und zum Vorrat. Du kannst etwas anpro-
bieren. Dann geht’s wieder rauf. Vor sieben kommst du nicht raus.« Der Gang war leer. Niemand hatte es eilig. Die hinter den anderen Türen, die mussten noch einige Jahre warten, und wen interessierte da die Morgendämmerung? Er ging durch die Abteilung, sechzehn Zellen, acht auf jeder Seite, vorbei an der Küche, vorbei am Billardtisch, vorbei an der Fernsehecke. Er ging gleich hinter dem Bullen, starrte dessen Rücken an, magerer Arsch, er hätte ihn im Handumdrehen zusammenfalten können, zehn Minuten nach Abbrummen seiner Strafe, es wäre nicht das erste Mal. Sie gingen durch die verschlossene Abteilungstür, durch einen der langen unterirdischen Gänge, durch die er so oft gegangen war, und dann weiter zur Zentralwache. Der Vorratsraum lag gleich daneben, hinter der Wand, an der die Bildschirme des Wachtkäfigs befestigt waren. Das hier war irgendwie die eigentliche Entlassung. Die Jutesäcke durchsuchen zu können, die nach Keller rochen, unter hunderten den richtigen zu finden, ihn zu öffnen, die Klamotten darin anzuprobieren. Zu klein, sie waren immer zu klein. Diesmal hatte er
sieben Kilo zugenommen, er hatte trainiert wie ein Blöder, war kräftiger denn je. Er schaute sich um. Kein Spiegel. Er sah die Kartons mit den Namensschildern, Langzeitknackis ohne Wohnung, alles, was die besaßen, lag in einigen Pappkartons hier im Vorratsraum der JVA Aspsås. Er hatte die Flasche Karl Lagerfeld aus dem Sack genommen, der Bulle hatte es nicht gesehen oder keine Lust gehabt, sich da einzumischen. Jochum Lang hatte nicht mehr nach Mann gerochen, seit sie ihm am ersten Tag bei seiner Einlieferung alles weggenommen hatten, auf der Abteilung war nichts Alkoholhaltiges erlaubt. Jetzt zog er sich aus und drehte den Verschluss ab und hielt sich die Flasche über seinen rasierten Schädel. Er schüttelte die Flasche und leerte den Inhalt, es lief von seinem Kopf über die Schultern und den Oberkörper, es tropfte auf seine Füße und den Boden, das Parfüm spritzte, als er den Gefängnismief abspülte. Zehn vor sieben. War also pünktlich, der Scheißbulle. Die Tür sperrangelweit offen, und Jochum nahm die Plastiktüte und spuckte auf den Zellenboden und ging hinaus.
Er wollte nur kurz durch den Gang und die engen Klamotten anziehen, die er eben anprobiert hatte, und die verdammten dreihundert und die Bahnfahrkarte an sich reißen und den Bullen auffordern, sich zum Teufel zu scheren, während die Gittertür sich langsam öffnete, und dann wollte er mit der Tüte in der Hand hinausgehen und dann weiter zur Überwachungskamera und der den Finger zeigen und dann weitergehen, zur nächsten Mauer, und dort wollte er den Schlitz öffnen und das Graue anpissen. Draußen war es windig.
Weit hinten im unteren Teil des Polizeigebäudes sang die Dämmerung um die Wette mit Siw Malmkvist. So war es immer schon gewesen. Ewert Grens war jetzt dreiunddreißig Jahre bei der Polizei, dreißig davon mit einem eigenen Zimmer. Er hatte einen ebenso alten Kassettenrekorder, so ein Kombiteil mit Monolautspieler und Tonbandgerät, er hatte ihn zu seinem dreißigsten Geburtstag bekommen, und er trug ihn vorsichtig bei jedem Umzug im Haus von einem Zimmer zum anderen. Er
hörte nur Siw Malmkvist. Er hatte sich ein Reservoir an Zusammenstellungen aufgebaut, alle mit demselben Inhalt: ihr gesamtes Repertoire, die gesammelten Klassiker, aber immer in unterschiedlicher Reihenfolge aufgenommen. An diesem Morgen: »Die Liebe ist ein seltsames Spiel«, 1960, Original: »Everybody’s somebody’s fool«. Er kam immer als Erster zum Dienst und drehte die Musik so laut auf, wie ihm das passte, ab und zu beklagte sich jemand über die Lautstärke, aber wenn er dann stocksauer wurde, ließen sie ihn in Ruhe, hinter verschlossener Tür und mit volle Kanne Siw konnte er sich in den Ermittlungen verstecken und dem Leben entgehen. Er dachte noch immer an den gestrigen Tag. Anni, die so hübsch ausgesehen hatte, frischgekämmte Haare, gebügeltes Kleid. Sie hatte ihn häufiger angesehen als sonst, er hatte das Gefühl gehabt, Kontakt zu ihr zu haben, als sei er für einen Moment nicht nur ein Fremder gewesen, der bei ihr auf einem Stuhl saß und ihre Hand hielt. Danach Bengt in der adretten Villa, die so von Leben erfüllt war. Frühstück zwischen verschmierten Kindern und wohlmeinenden Blicken. Er war dankbar gewesen,
wie er das immer war, und er hatte freundlich genickt, wie er das immer machte, und war von Bengt und Lena und den Kindern wie ein Familienmitglied behandelt worden, wie das immer geschah, und er hatte sich einsamer gefühlt denn je. Er verharrte dabei, bei diesem verdammten Gefühl, und drehte die Lautstärke noch weiter auf, um es zu vertreiben. Er erhob sich aus dem Schreibtischsessel und lief langsam auf dem abgenutzten Linoleumboden hin und her. Er musste an etwas anderes denken. Egal woran, nur daran nicht. Er hatte sich für die Arbeit, für den Alltag eines Polizisten, für das hier entschieden. Und gegen alles andere. Es hatte sich einfach so ergeben. Zuerst ein Tag, dann noch ein Tag, dann ein weiterer Tag, dann dreiunddreißig Jahre und keine Frau und keine Kinder und keine richtigen Freunde und langer und treuer Dienst, der in weniger als zehn Jahren zu Ende gehen würde, dann würde es auch mit ihm zu Ende gehen. Ewert Grens sah sich um. Sein Zimmer, das nur so lange sein Zimmer bleiben würde, wie er diesem Zimmer seine Stunden schenkte, und das danach das Zimmer eines anderen sein würde. Er lief wei-
ter hin und her, mit seinem hinkenden Gang, dem großen schweren Körper, der bei Bücherregal und Fenster eine schwerfällige Wendung machte. Er war nicht schön, das wusste er, aber er war kräftig und reaktionsschnell und gefährlich gewesen, jetzt war er vor allem wütend. Er fuhr sich mit der Hand über das, was früher Haare gewesen waren, jetzt waren es graue, kurzgeschorene Büschel. Er horchte. »Fast wären wir zum Standesamt gefahren, bis plötzlich alles so verändert war«, und er vergaß, für einen Moment, dass Morgen war und dass die Stapel auf seinem Schreibtisch Ermittlungen bedeuteten, die er lesen und bearbeiten musste, und wenn es das Letzte wäre, was er jemals machen würde. Es wurde an die Tür geklopft. Zu früh. Er schwieg. Jemand öffnete die Tür, schaute herein. Sven. »Ewert?« Ewert Grens sagte nichts. Er zeigte auf den Besuchersessel. Sven Sundkvist betrat das Zimmer, eine Generation jünger als sein Kollege, kurze blonde Haare, gerade Haltung, lockere Bewegungen. Er war klug, dieser Sven, neben Bengt Nordwall der
Einzige im Haus, den Ewert nicht verabscheute. Sven setzte sich, er sagte nichts, denn er wusste Bescheid, er hatte schon längst verstanden, dass Siw für Ewert eine andere Zeit war, eine glückliche Zeit, Erinnerungen, die Sven niemals kennenlernen würde, von denen er jedoch wusste, wie stark sie waren. Sie saßen schweigend da, es gab nur die Musik. Dann kamen das Rauschen, das sich einstellt, wenn eine Kassette zu Ende geht, und das kurze Klicken, wenn ein betagter Rekorder den PlayKnopf wieder hochschnellen lässt. Zweieinhalb Minuten. Ewert stand noch immer. Er räusperte sich, das war seine erste Äußerung an diesem Morgen. »Ja?« »Guten Morgen.« »Ja?« »Guten Morgen.« »Guten Morgen.« Ewert ging zum Schreibtisch, zu seinem Sessel. Er setzte sich, sah Sven an. »Willst du etwas? Außer guten Morgen sagen?« »Du weißt, dass Lang heute rauskommt?«
Ewert machte eine genervte Handbewegung. »Das weiß ich.« »Das war alles. Ich war eigentlich unterwegs zu einer Vernehmung. Der Junkie, der Waschpulver verkauft hat.« Einige Sekunden. Dann schlug Ewert Grens mit beiden Händen aus voller Kraft auf die Papierstapel, die vor ihm lagen. Die flogen vom Schreibtisch, verteilten sich auf dem Boden. »Fünfundzwanzig Jahre.« Er schlug noch einmal. Auf die leere Fläche, wo eben noch die Ermittlungen gelegen hatten. Die Hände auf die Holzplatte. »Fünfundzwanzig Jahre, Sven.« Sie hatte unter dem Auto gelegen. Er hatte angehalten, war zu ihrem reglosen Körper gestürzt, zu dem Blut, das aus irgendeiner Stelle ihres Kopfes schoss. Die Papiere bedeckten jetzt große Teile des Fußbodens. Sven Sundkvist sah, dass Ewert in einem Gedanken verhaftet war, den er nicht mit ihm teilen würde. Er bückte sich und las aufs Geratewohl einige Unterlagen auf, las laut vor.
»Nackter Pädagogikstudent im Rålambshovspark. Abgeschlagener Unterschenkel. Zwei gebrochene Daumen. Verdacht nicht bestätigt.« Er ließ seinen Zeigefinger weiterwandern, zum nächsten Blatt. »Versicherungsangestellter in Eriksdalslunden. Vier Messerstiche in die Brust. Neun Zeugen. Keiner hat etwas gesehen. Verdacht nicht bestätigt.« Ewert spürte seine Wut. Die kam aus dem Bauch, ließ seinen Körper schmerzen, musste hinaus. Er winkte Sven zu, bedeutete ihm, einige Schritte zurückzuweichen, nicht im Weg zu stehen. Sven ging weg, er wusste Bescheid. Ewert nahm Anlauf, trat den Papierkorb quer durch das Zimmer, der Inhalt breitete sich auf dem Boden aus, wie ein lautloser Regen. Still, fast mechanisch, bückte Sven sich abermals, hob leere Kautabaksdosen und Pappbecher vom Kaffeeautomaten auf. Er richtete sich auf und las weiter. »Verdacht auf schwere Körperverletzung. Verdacht nicht bestätigt. Verdacht auf versuchten Mord. Verdacht nicht bestätigt.« Sven hatte Jochum Lang häufiger verhört, als er sich überhaupt erinnern konnte. Er hatte jede Ver-
hörtechnik aus dem Lehrbuch und auch solche, die nicht im Lehrbuch standen, angewandt. Vor einigen Jahren war er nahe dran gewesen, hatte fast sein Vertrauen gewonnen, indem er ihm zu verstehen gegeben hatte, dass er wirklich jeden Scheiß hinnehmen könnte, wenn Lang sich nur öffnete und Sven Sundkvist zuhören ließ. Lang hatte das begriffen, hatte dann aber in letzter Minute einen Rückzieher gemacht, hatte lieber eine Zigarette geschnorrt und aus dem Fenster geschaut und dann wieder alles abgestritten, nichts zugegeben, nicht einmal, dass er aufs Klo ging. Sven wandte sich wieder seinem Chef zu. »Ewert, diese Papierhaufen, die du auf dem Boden verteilt hast, ich kann noch ewig weitermachen.« »Das reicht jetzt.« »Missachtung des Gerichts, schwerer Menschenraub ... zwanzig Mal, Verdacht auf alles Mögliche.« »Es reicht jetzt, hab ich gesagt.« »Dreimal verurteilt, immer zu kurzen Haftstrafen. Zum ersten Mal ... hier ...Beihilfe zur Körperverletzung...« »Jetzt hältst du die Klappe!«
Sven Sundkvist zuckte zusammen, erkannte das Gesicht nicht, das ihn hier anschrie. Er hatte gesehen, wie Ewert Grens viele angeschrien hatte, aber ihm war das nicht passiert, nie so, wie das eben gewesen war. Jetzt kehrte Ewert Grens ihm den Rücken zu und ging zum Kassettenrekorder, immer noch dieselbe Kassette in der antiken Musikmaschine, laut genug, um die Vorlesung zu übertönen. »Die Tränen, die ich schon um dich geweint hab, die füllen einen großen See.« Grens lauschte, ihre Stimme löste seinen Zorn auf. Ich kann nicht mehr, dachte er. Vielleicht ist es jetzt, gerade jetzt, dass es ein Ende nimmt. Jochum Lang war so einer, der dreiunddreißig Berufsjahre hindurch für Beschäftigung gesorgt hatte, der ihn gezwungen hatte, niemals loszulassen, niemals Atem zu schöpfen, solange das Urteil nicht gefällt war, und wenn er jetzt keinen Atem mehr hatte, musste er aufhören, nach Hause gehen, das Leben wagen. Diese Gedanken waren ihm in den vergangenen Jahren immer öfter gekommen, er verdrängte sie, aber sie kamen zurück, deutlicher, häufiger. Sven setzte sich vor ihn, rieb sich das Kinn, fuhr
sich mit den Fingern durch den blonden Schopf. »Du.« Ewert hob die Hand. »Psst.« Noch eine Minute. »So ehrlich, wie ich’s stets mit dir gemeint hab, war niemand, aber du sagtest, geh.« Sven wartete, Siw verstummte. Ewert schaute auf. »Ja?« »Ich weiß nicht. Nur so ein Gedanke. Ich denke an Hilding Oldéus. Den klapperdürren Junkie, den ich jetzt gleich vernehmen muss.« Er sah Ewert an, und der nickte, er wusste, wer Hilding Oldéus war. Sven redete weiter. »Wir wissen doch, dass er zusammen mit Lang gesessen hat. Wir wissen sogar, dass sie gute Freunde geworden sind, soweit das bei einem wie Jochum Lang überhaupt möglich ist. Hilding hat sich bei ihm eingeschmeichelt, weil er Maische anbieten konnte, sie hatten den Kram in einem Feuerlöscher versteckt und kriegten einen Höllenärger, als nach ein paar Tagen ein Wärter sie erwischte, weil sie heftig einen in der Krone hatten.«
»Hilding hat Alk angeboten und Jochum Schutz.« »Ja.« »Du hattest eine Idee?« »Nach dem Verhör wegen des Waschmittels. Dann sprechen wir über Lang. Versuchen, Oldéus dazu zu bringen, uns bei ihm zu helfen.« Die Musik war verhallt. Ewert ließ Siw warten. Er sah sich abermals im Zimmer um. Es war nicht groß, es hatte rein gar nichts Persönliches. Abgesehen von der Musikmaschine war es einfach ein Behördenzimmer, ein Raum, möbliert mit Möbeln von Kinnarp, Teile aus heller Birke, ein Raum, der ebenso gut dem Finanzamt in der Götgata oder einer Versicherung in Gustavsberg gehören könnte. Aber hier verbrachte er mehr Zeit als bei sich zu Hause. Er kam in der Morgendämmerung, ging oft spät oder gar nicht, übernachtete auf dem kleinen Sofa vor dem Fenster, das viel kleiner war als sein massiver Körper, aber er schlief dort trotzdem besser als im Bett in seiner Wohnung. So entging er den langen schlaflosen Nächten, den Stunden, wenn das Wachsein ihn quälte, wenn er die Finsternis jagte und keine Ruhe fand. Er wusste nicht, warum, er wusste nur, dass das, was anfangs eine
seltene Nacht gewesen war, zu Wochen wurde, in denen er nicht nach Hause ging. Oldéus und Lang. Schwerlich. Die lebten in zwei Wirklichkeiten. Oldéus fixt, hat nur den Stoff, will nichts anderes. Lang ist kriminell, nicht süchtig, hat vielleicht irgendwann in Aspsås mal eine positive Pisseprobe abgeliefert, mehr aber nicht. Die beiden haben keine Gemeinsamkeiten. Nicht hier draußen. Sven setzte sich anders hin, ließ sich im Besuchersessel zurücksinken. Er seufzte. Er sah plötzlich müde aus. Ewert sah ihn lange an. Er erkannte sie. Die Resignation. Er dachte an Oldéus, daran, dass man es ziemlich satt kriegen konnte, seine Zeit mit kleinen Dealern zu vergeuden, die sich Löcher in die Nase rissen, dazu waren die Tage zu kurz und die Idioten zu zahlreich. »Ja, verdammt. Das machen wir. Ein Trottel mehr oder weniger. Und wir drehen ihn auch wegen Lang durch die Mangel.«
Der Wagen, der langsam vor das große Tor in der Mauer rollte, war funkelnagelneu. Es war so ein
Wagen, wo Lederpolster und unberührtes Armaturenbrett duften, wenn man die Vordertür öffnet. Jochum Lang sah das Auto sofort, als er die Zentralwache durchquerte und hinaus auf den Hof trat. Er hatte mit niemandem gesprochen und hatte den Wagen nicht bestellt, aber er hatte gewusst, dass der dort draußen stehen würde, das war sozusagen im Preis inbegriffen. Er nickte kurz, der Mann hinter dem Lenkrad nickte kurz zurück. Der Motor lief, während Jochum vor der Überwachungskamera den Finger hob und zugleich seinen Urin gegen den Beton spritzen ließ. Keine Eile, kein Grund, das Ritual zu stören, der Wagen wartete, und er konnte in aller Gelassenheit den Finger ein weiteres Mal heben, ehe er mit Pissen aufhörte und die Hose weiter nach unten streifte, um dem sich nun langsam schließenden Tor seinen Arsch hinzustrecken. Er wusste, dass das sinnlos und kindisch war, aber er war jetzt frei und wollte zeigen, dass kein Arsch ihn noch erniedrigen konnte, er hatte zwei Jahre und vier Monate darauf gewartet, und die Entlassung schien erst jetzt zur vollendeten Tatsache zu werden,
durch den Urin für die Mauer, den Arsch für die Zentralwache. Er ging auf den Wagen zu, öffnete die Tür zum Beifahrersitz, stieg ein und setzte sich. Sie musterten einander schweigend, maßen sich gegenseitig, ohne zu wissen, warum. Slobodan war älter geworden, er war zwar erst fünfunddreißig, aber seine langen Jugofransen waren an den Schläfen grau geworden, die Augen von neuen Runzeln umgeben, er hatte sich einen dünnen Schnurrbart zugelegt, und auch der wies graue Einsprengsel auf. Nach einer Weile tippte Jochum leicht mit der Hand gegen die Windschutzscheibe. »Neue Karre.« Slobodan nickte, sah zufrieden aus. »Wie findest du sie?« »Zu jugomäßig.« »Die gehört nicht mir. Sondern Mio.« »Letztes Mal hattest du eine frisch geklaute Mühle mit einem Schraubenzieher als Zündschlüssel. Die hat besser zu dir gepasst.« Der Wagen setzte sich langsam wieder in Bewegung, der Fuß drückte vorsichtig auf das Gaspedal.
Jochum Lang zog die Zugfahrkarte aus der einen Gesäßtasche, riss sie in kleine Fetzen und hielt sie in das offene Seitenfenster. Er beschwerte sich laut und in der breiten Aussprache Uppsalas über die Abschiedsgeschenke der Kriminalfürsorge, mit denen man sich nicht einmal den Hintern wischen konnte, und warf die Fetzen dann in den kräftigen Wind. Slobodan griff zu seinem Telefon, das schon seit einer ganzen Weile klingelte, fuhr gleichzeitig schneller, sie ließen das Tor und die hohe Mauer hinter sich zurück. Zweihundert Meter, dann kam der Regen, die Scheibenwischer blieben zuerst ruhig und wurden dann immer hitziger. »Ich hol dich nicht ab, weil mir das Spaß macht. Mio hat mich darum gebeten.« »Er hat es dir befohlen.« »Er will so schnell wie möglich mit dir sprechen.« Jochum Lang war hochgewachsen, die breiten Schultern, der geschorene Schädel, die Narbe vom linken Ohr zum Mund, einmal hatte ein armes Würstchen versucht, sich mit einem Rasiermesser zu verteidigen. Er nahm da vorn im Auto sehr viel Platz in Anspruch, er redete mit den Händen,
schwenkte sie vor sich in der Luft, verlangte mehr Raum, jetzt, wo er in Rage geraten war. »Du – als ich ihm zuletzt einen Gefallen getan habe, hat mir das diese Reise hierher eingebracht.« Sie verließen die schmale Zubringerstraße zur JVA, bogen auf eine breitere ab, es herrschte schon ziemlicher Verkehr, die Leute fuhren zur Arbeit. »Du bist eingefahren. Aber wir haben uns um deine Familie gekümmert.« Slobodan Dragovic lächelte, als er sich zu Jochum umdrehte, er zeigte seine schlecht reparierten Zähne, sprach ins Telefon, das wieder geklingelt hatte. Jochum sagte nichts, er starrte vor sich hin, auf die gelben Blätter, die jetzt am Rand der Windschutzscheibe klebten. Er wusste, dass es so war. Eine Geldeintreibung war zum Teufel gegangen, und dieser Scheißzeuge, der eigentlich den Mund hätte halten sollen, hatte ihn identifiziert und ein Urteil gegen ihn erwirkt. Jochum beobachtete die Regentropfen, die gegen die Windschutzscheibe schlugen, und dachte, dass er das doch alles wusste, shit happens, dass Mio deshalb die ganze Zeit irgendwo in der Nähe gewesen war, er hatte sozusagen mit geliehenen Ohren und Augen über ihn gewacht,
jeden Morgen, wenn er sich in der Zelle umgesehen hatte. Mio hatte sich um ihn gekümmert, um alles gekümmert, so machten sie das eben. Der neue Wagen, der funkelte, er fuhr immer schneller, jagte durch die Landschaft, die sich von der Dorfidylle in die Großstadt verwandelte, durch die nördlichen Vororte, nach Stockholm.
Der Vernehmungsraum lag einen Stock unter den Untersuchungszellen. Er war nicht gerade ein gemütliches Zimmer. Schmutzige Wände, die früher einmal weiß gewesen waren, ganz hinten ein Fenster mit grobem Gitter, in der Mitte ein Tisch, ungefähr wie ein Küchentisch mit einer abgenutzten Kiefernholzplatte, vier schlichte Stühle aus einem anderen Holz, die aus irgendeiner Schulmensa stammen könnten. Vernehmungsleiter Sven Sundkvist (VL): Bleib gefälligst sitzen. Hilding Oldéus (HO): Mann, wieso schnappt ihr euch Unschuldige?
VL: Mit Waschpulver gestrecktes Amphetamin, nennst du das unschuldig? HO: Weiß ich nix von. VL: Du hast Schwindelpulver verkauft. Bisher haben wir drei Personen mit zerfressenen Venen. Und die haben deinen Namen genannt. HO: Wovon redsn du? VL: Du hattest diese Mischung bei dir. HO: War nich von mir. VL: Wir haben die Tüten mit weißem Pulver, die du bei deiner Festnahme bei dir hattest, im Labor untersuchen lassen. Sechs Stück. HO: Sind doch nich von mir, verdammt. VL: Zwanzig Prozent Amphetamin. Zweiundzwanzig Prozent Koffason. Achtundfünfzig Prozent Waschpulver. Also setz dich jetzt, Oldéus. Ewert Grens öffnete die Tür und ging hinein. Auf dem Spaziergang von seinem Zimmer hierher war er an acht verschlossenen Türen vorübergegangen, was ihm aber nicht bewusst war. In Gedanken war er noch immer mit seinen Ermittlungen von vorhin beschäftigt. Er hatte Sven noch einmal vorle-
sen hören, Svens Stimme hatte in seinem Kopf widergehallt, über »Beihilfe zur Körperverletzung«, über einen Einsatzbus, der zu spät angehalten hatte, darüber, wie er sie in seinen Armen gehalten hatte, bis die Sanitäter sie auf eine Bahre hoben und verschwanden, fort. Er kämpfte mit Svens Stimme, versuchte, sich davon zu befreien, starrte eine Weile in das harte Licht der Deckenlampe, dann in das magere Gesicht Sven gegenüber, des Menschen, der nervös an einer Wunde in seiner Nase herumspielte, auf Tropfen, die zum Mund liefen, über das Kinn. VL: Kriminalkommissar Ewert Grens betritt das Zimmer um neun Uhr zweiundzwanzig. HO: (nicht zu verstehen) VL: Was hast du gesagt, Hilding? HO: Scheiße, nich von mir. VL: Hilding, hör jetzt zu. Wir haben gesehen, dass du auf der Platte diesen Dreck verkauft hast. HO: Ihr habt total keine Ahnung. VL: Da haben wir dich festgenommen. Mit den Tüten. Voll Waschpulver.
HO: ...is nich von mir. Ich hab den Kram von nem Typen gekriegt, als ich da hingekommen bin. Dieser Wichser. Hat mir miesen Stoff angedreht. Ich werd den Arsch fertigmachen, wenn ich hier wieder weg bin. Ewert Grens (EG): Du kommst hier nicht wieder weg. HO: Reds’n da, du blöder Bulle? VL: Es gibt ziemlich viele, die es auf dich abgesehen haben. Wenn wir eine Anzeige von Leuten kriegen, die deinen Dreck gekauft haben, dann betrachten wir das als Mordversuch. Der dünne Körper, der nach Heroin schrie, der aß und kotzte, der vor ihren Augen zerfiel. Er sprang auf, lief ruckhaft durch das enge Zimmer, streckte plötzlich einen Arm aus, ließ ihn wieder sinken, machte einige Schritte, blieb stehen und redete zusammenhanglos, wackelte mit dem Kopf, warf ihn hin und her. Ewert sah Sven an. Sie erlebten das nicht zum ersten Mal. Er konnte sich vor ihnen hinsetzen und ihnen genau das erzählen, was sie wissen wollten. Er konnte sich auch in Embryohal-
tung auf den Boden legen und sich in die Bewusstlosigkeit hineinschütteln. EG: Zwischen sechs Monaten und acht Jahren. Aber wir sind heute zufällig in wahnsinnig guter Stimmung. Und deshalb wäre es möglich, dass dein Drecksstoff, den wir beschlagnahmt haben, verschwindet. HO: Wieso denn verschwindet? EG: Wir möchten etwas wissen. Über einen Typen namens Lang. Jochum Lang. Du kennst ihn. HO: Nie von gehört. Hildings Gesicht zuckte heftig. Er schnitt Grimassen, verdrehte die Augen, warf den Kopf mehrere Male hin und her. Er riss an seiner Wunde. Er hatte Angst. Jochums Name machte ihm zu schaffen, er wollte ihn abschütteln, wollte ihn nicht hören, nicht hier. Er wollte schon wieder protestieren, als an die Tür geklopft wurde. Eine Kollegin, Ewert konnte sich nicht an ihren Namen erinnern, eine Stellvertretung in Stockholm, für den Sommer, schonischer Akzent.
»Verzeihung. Kommissar Grens, ich glaube, das ist wichtig.« Ewert winkte sie herein. »Das macht nichts. Das hier geht ja doch zum Teufel. Unser kleiner Fixer hier hat es arg eilig mit dem Sterben.« Ein kurzer Blick zu Sven, der nickte, sie kam herein, trat in dem engen Zimmer hinter Hilding. Hilding erhob sich, zeigte auf sie und bewegte suggestiv den Unterleib hin und her. »Mensch, Grens, ne neue kleine Bullenfotze.« Sie schlug hart zu, mit offener Handfläche, auf Oldéus’ Wange. Oldéus verlor das Gleichgewicht, stolperte. Er beugte sich vor, presste beide Hände auf die Wange, wo langsam ein großer roter Fleck heranwuchs. »Scheißnazi!« Sie sah ihn an. »Für dich immer noch Polizeiassistentin Hermansson. Du kannst jetzt gehen.« Hilding hielt sich noch immer eine Hand auf die rote Stelle, er fluchte ununterbrochen, als er das Zimmer verließ. Sven ging dicht hinter ihm, hielt ihn fest an einem Arm, führte ihn ab.
Ewert suchte überrascht Svens Blick und drehte sich dann zu seiner jungen Kollegin um. »Hermansson, ja?« »Hermansson.« Sie war jung, um die fünfundzwanzig, ihre Augen kannten keinen Zweifel. Sie ließ sich nichts anmerken. Weder Überraschung noch Zorn. Nicht über Hildings Gerede, nicht über ihre heftige Ohrfeige, die sein Gesicht getroffen hatte. »Was ist so wichtig?« »Anruf von der Einsatzzentrale. Die wollen, dass wir zur Völundsgata 3 fahren. Eine Adresse in der Atlasgegend.« Ewert hörte zu, suchte in seiner Erinnerung, er war schon einmal dort gewesen, es war lange her. »Unten bei der Eisenbahn? In der Nähe vom St. Eriksplan?« »Genau da. Ich hab schon auf dem Stadtplan nachgesehen.« »Und was ist da los?« Sie hielt einen Zettel in der Hand, ein einfaches Blatt aus einem Notizbuch, sie schaute es kurz an, wollte nichts Falsches sagen, nicht zu Ewert.
»Einige Kollegen haben dort nach einem Fall von schwerer Körperverletzung in einer Wohnung im sechsten Stock eine Tür aufgebrochen.« »Ja?« »Es ist sehr eilig.« »Ja?« »Sie haben ein Problem.«
Es war eine ältere Wohnung in einer schönen Gegend. Alle Fassaden waren sorgfältig renoviert worden, alle kleinen Rasenflächen vor allen kleinen Haustüren waren gepflegt, in den schmalen Beeten leuchtete es rot und gelb, es gab einige kleinere Bäume, für die eigentlich gar kein Platz war. Ewert Grens öffnete die Autotür, ließ seinen Blick am Haus hochwandern, an den Fensterreihen entlang. Um 1900 gebaut, so ein Haus, wo man die Nachbarn hörte, wenn die mit schweren Schritten durch die Küche gingen, wenn sie das Radio für die Halb-acht-Uhr-Nachrichten lauter drehten, wenn sie langsam ihre Etage verließen und eine halbe Treppe nach unten gingen, um den Müllschacht zu öffnen. Er suchte unter den Fenstern
mit den teuren Vorhängen. Wohnung für Wohnung, Menschen, die dort ihre Leben lebten, die geboren wurden und starben, diese vielen Welten, die sich einige Atemzüge voneinander abspielten, ohne sich je zu begegnen, niemand wusste auch nur irgendetwas über die Menschen in der Nachbarwohnung. Sven Sundkvist hatte den Wagen abgestellt, er murmelte vor sich hin, als er neben Grens trat. »Völundsgata 3. Sieht teuer aus. Wer kann sich denn hier eine Wohnung leisten?« Sechster Stock. Acht Fenster. Eins davon. Ewert Grens verglich sie, sah sich jedes genau an, alle sahen gleich aus, die gleichen blöden Vorhänge, die gleichen blöden Topfblumen, unterschiedliche Farben und unterschiedliche Muster, aber dennoch, alles gleich. Er holte tief Atem und schnaubte dann die adrette Fassade an. »Ich kann Körperverletzung nicht leiden. Schon gar nicht hinter solchen Wänden. Aber trotzdem passiert sie gerade da.« Er schaute sich um. Ein Krankenwagen, zwei Streifenwagen, beide mit lautlosem Blaulicht. Neugierige Nachbarn, ein knappes Dutzend, sie blieben
immerhin bei den Autos stehen, aus einer Art Respekt heraus, die nicht immer selbstverständlich war. Ewert und Sven gingen über den Plattenweg zur offenen Haustür. Die Klinke war mit einem Stück Schnur an einen Fahrradständer gebunden. Sie gingen ins Haus, Ewert nickte zufrieden, er hatte richtig getippt, was das Baujahr anging, 1901 stand in großen Eisenziffern hinter der Tür an der Wand. Er schaute die Tafel daneben an, die die Namen der Bewohner angab, Stockwerk für Stockwerk: Palm, Nygren, Johansson, Löfgren. Zum Kotzen schwedisch. So ein Haus war das also. »Siehst du da Bekannte, Sven?« »Nein.« »Die bringen ja auch nicht unbedingt ihre Namen an.« »Weißt du was?« »Keine Ahnung.« Der Fahrstuhl war nicht gerade eine Pracht. Eng, mit einer schwarzen Gittertür, die zur Seite geschoben werden musste; höchstens drei Personen oder zweihundertfünfundzwanzig Kilo. Ein Unifor-
mierter stand davor, ein älterer Kollege, den Ewert lange nicht mehr gesehen hatte. Ich vergesse immer, was es bei dieser Truppe doch für Trottel gibt, dachte er, den da hatte ich zum Beispiel total vergessen, wenn man einen Idioten eine Zeit lang nicht sieht, gibt es ihn nicht mehr. Ewert Grens lächelte, musterte sein Gegenüber. Es war so einer, der breitbeinig dasteht, wie Polizisten das im Fernsehen machen, wenn sie ein wichtiges Objekt bewachen und die Musik die Gefahr anzeigt, so einer, der die Hacken gegeneinanderschlägt, wenn er eine Frage beantworten soll, so einer, der laut buchstabiert, wenn er Berichte schreibt, so einer, der niemals etwas anderes machen wird als Aufzüge zu bewachen, so einer. Der Kollege, der breitbeinig vor ihm stand, erwiderte sein Lächeln nicht, er hatte die Verachtung gespürt und wandte sich deshalb demonstrativ an Sundkvist, als er die Lage zusammenfasste. »Der Anruf ist vor einer Stunde eingegangen. Ein reichlich betrunkener Zuhälter. Und eine grün und blau geprügelte Nutte.« »Ja?«
»Die Nachbarn haben angerufen. Er hat sie wirklich übel zusammengeschlagen. Sie ist bewusstlos. Sie muss ins Krankenhaus. Und in der Wohnung ist noch eine. Offenbar auch eine Nutte.« »Misshandelt?« »Glaub ich nicht. Hat er wohl nicht mehr geschafft.« Ewert Grens hatte geschwiegen, während Sven mit dem Idioten geredet hatte, der den Fahrstuhl bewachte. Jetzt konnte er nicht mehr. »Eine Stunde! Worauf wartet ihr denn noch?« »Wir dürfen nicht rein. In die Wohnung. Irgendwas mit litauischem Boden.« »Was redest du da? Wenn Körperverletzung vorliegt, denn geht ihr einfach rein, zum Teufel!« Ewert Grens fiel das Atmen schwer. Jede Treppenstufe war eine Qual, und es waren sechs Stockwerke, er hätte natürlich den Fahrstuhl nehmen sollen, war aber wütend an dem Trottel vorbeigestürzt, der unten Posten gestanden hatte. Jetzt hörte er Stimmen, die über ihm diskutierten, lauter, je näher er kam. Schon im fünften Stock begegneten ihm ein Arzt und zwei Sanitäter. Er nickte ihnen
kurz zu, sie nickten kurz zurück, dann stieg er die letzte Treppe hoch. Er atmete schwer, sah aus dem Augenwinkel, wie Sven sich mit leichten Schritten näherte, er konnte jetzt nicht aufgeben, zwang die Beine, die nicht wollten, spürte sie nicht mehr. Ganz oben im Haus gab es vier Wohnungstüren. In der einen klaffte ein großes Loch, vermutlich war sie eingeschlagen worden. Davor warteten drei uniformierte Polizisten, die er seines Wissens noch nie gesehen hatte, ganz hinten dagegen sah er ein bekanntes Gesicht, Bengt Nordwall, in Zivil, wie Ewert Grens und Sven Sundkvist. Etwas über vierundzwanzig Stunden waren vergangen, seit sie sich zuletzt gesehen hatten, an diesem entsetzlich verregneten Morgen im Garten der glücklichen Familie. Ewert hatte dort gefrühstückt, fühlte sich willkommen und umsorgt. Sie trafen sich nur noch selten im Dienst, deshalb sah er seinen Freund überrascht an. »Was machst du denn hier?« Sie begrüßten einander, ein kurzer Handschlag, so hatten sie es immer schon gehalten.
»Russisch. Der Typ da drinnen spricht keine andere Sprache.« Bengt Nordwall war einer der wenigen Russischsprachigen bei der Stockholmer Polizei. Er schilderte kurz die Lage. »Zuhälter schlägt Nutte zusammen. Als die Polizei anrückt, schreit sie laut, und sie schlagen die Tür ein. Und da steht der da.« Bengt Nordwall zeigte auf den Mann hinter der Tür, der das große Loch zu bewachen schien, er war klein und dicklich, Mitte fünfzig, gekleidet in einen teuer aussehenden grauen glänzenden Anzug, er passte ihm nicht, er hing, statt richtig zu sitzen. Bengt Nordwall redete weiter: »Und wedelt mit einem Diplomatenpass. Schreit, dass das hier litauischer Boden sei und dass die schwedische Polizei kein Recht habe, hier reinzugehen. Er weigert sich, das Mädel rauszugeben. Er will nicht einmal unseren Arzt reinlassen. Wenn er überhaupt jemanden reinlässt, dann den Arzt der litauischen Botschaft. Die misshandelte Frau ist nicht ansprechbar, aber die andere hat einige Male geschrien. Sie nennt ihn Dimitri Scheißzu-
hälter, auf Russisch natürlich, er wurde wütend, hat aber nur zurückgeschrien, traut sich nicht mehr, solange wir hier sind.« Sven Sundkvist war einige Stufen weiter unten stehengeblieben, er stand neben dem Müllschacht auf dem Absatz zwischen Stockwerk fünf und sechs, hielt ein Telefon in der Hand und versuchte jetzt, Grens’ Aufmerksamkeit zu erregen, er winkte eifrig und schien gerade sein Gespräch zu beenden. Er klappte sein Telefon zu, stieg die letzten Stufen zum sechsten Stock hoch, sah Ewert an, während er sagte: »Ich hab eben beim Wohnungsamt angerufen. Die Wohnung gehört einem gewissen Hans Johansson. Sie ist nicht vermietet. Und das stimmt ja auch mit den Namen unten am Eingang überein.« Ewert Grens schaute eine Zeit lang stumm die Tür und den Mann an, der dort in einem glänzend grauen Anzug stand und behauptete, es sei sein Recht in seiner Eigenschaft als Botschaftsangestellter, Frauen zu misshandeln, dann schaute er die Uniformierten hinter Bengt an, streckte die Hand aus, bat um den Gummiknüppel.
»So. Und jetzt soll Dimitri Scheißzuhälter mit seinem Diplomatenpass wedeln, so viel er will.« Er ging auf die Tür zu. Der Mann in dem grauen glänzenden Anzug zeigte sofort, dass er ihm den Weg versperren wollte, trat einige Schritte zurück und stemmte die Hände in die Seiten. Grens ging weiter, stieß die Knüppelspitze in den Spalt zwischen den Anzugknöpfen, und der Körper vor ihm krümmte sich sofort, der Mann, der eben noch über litauischen Boden geredet hatte, hielt sich jetzt krampfhaft den Bauch und fauchte etwas auf Russisch. Ewert Grens ging an ihm vorbei, rief Sanitäter und Arzt, die eine Treppe weiter unten warteten, wies durch Gesten die anderen Polizisten an, ebenfalls vorbeizugehen, und lief dann durch eine lange Diele und ein leeres Wohnzimmer. Zuerst begriff er nicht, was er da sah. Das Bett hatte eine rote Tagesdecke, und die Frau, die darauf lag, war nackt, ihr Rücken war ihm zugekehrt, und für einen Moment fiel es ihm schwer zu entscheiden, wo die Decke endete und wo der Körper begann, die Rottöne schienen miteinander zu verschwimmen.
Er hatte schon lange keinen dermaßen misshandelten Menschen mehr gesehen. Das Licht in der Notaufnahme des Söderkrankenhauses war immer gleich. Morgen Vormittag Mittag Abend Nacht, so ein Licht, das sich einfach nicht änderte. Ein junger Arzt mit müden Augen und langem, magerem Körper starrte eine der einfachen Lampen unter der Decke des Ganges an, er versuchte sich zu konzentrieren, ging neben einer Bahre her, hörte einer Krankenschwester zu, nur noch diese Patientin, und dann könnte er vielleicht nach Hause gehen, hinaus in das andere Licht, das sich manchmal änderte. »Bewusstlose Frau, vermutlich misshandelt, Schädelverletzungen, Armbruch, Verdacht auf innere Blutungen. Sie kann ohne Hilfe kaum atmen. Ich verständige die Traumaeinheit.« Der junge Arzt musterte die Krankenschwester schweigend, er wollte an diesem Tag nichts mehr hören, er wollte nichts mehr über die Menschen und ihre Fähigkeit wissen, sich selbst auszurotten. »Sie muss intubiert werden.«
Er nickte, bestätigend, blieb noch eine Weile neben der Bahre stehen. Einige Sekunden, die nur ihm gehörten. Es war ein langer Tag gewesen, und er hatte mit mehr jungen Menschen als sonst zu tun gehabt, in seinem eigenen Alter und jünger, er hatte ihre zerschundenen Körper so gut zusammengeflickt, wie er nur konnte, und er hatte gewusst, dass keiner dieser Menschen sein bisheriges Leben fortsetzen würde. Er wusste, dass sie diesen Tag immer in sich tragen würden, dass er einigen anzusehen sein würde, während andere ihn in sich verbergen, ihn niemals hinauslassen würden. Er musterte ihr Gesicht. Sie war keine Schwedin, kam nicht von hier, kam aber auch nicht von weit her, sie war blond und vermutlich schön. Sie sah jemandem ähnlich, ihm fiel nur nicht ein, wem. Er zog den Zettel, den er vom Krankenwagenpersonal bekommen hatte, aus seinem Plastikfutteral. Er las die kurzen Sätze. Er wusste jetzt, dass sie Lydia Grajauskaitė hieß, dass diese Information vermutlich von einer anderen Frau stammte, und dass diese Frau sich in der Wohnung aufgehalten hatte, wo die Misshandlung geschehen war. Er musterte sie.
So viele Frauen. Wie sah sie aus, wenn er sie schlug? Was sagte sie? Weiße Kittel und grüne Kittel eilten hastig über den Flur. Sie warteten auf den Arzt mit den schwarzen müden Augen, sie suchten seinen Blick und wollten zeigen, dass sie so weit waren. Sie übernahmen die Bahre, schoben sie ins Behandlungszimmer, hoben die Frau vorsichtig herunter und legten sie auf einen Operationstisch. Sie überprüften Puls und Blutdruck und machten ein EKG. Sie öffneten ihren Mund und pumpten ihr den Magen aus. Sie wurde weniger Körper und weniger Mensch, wurde zu Statistik und Kurven, dann war es leichter, damit umzugehen. Sagte sie überhaupt etwas? Sie hatte vielleicht geschrien, was schreit eine Frau, wenn jemand sich das Recht nimmt, zu schlagen? Der mit den müden Augen konnte nicht weggehen. Er wollte sehen, er wusste nicht, was er zu sehen bekommen würde. Einer der Kollegen, der die Verantwortung übernommen hatte, stand einige Meter vor ihm und
hob vorsichtig die Frau an, von der sie jetzt wussten, dass sie Lydia Grajauskaitė hieß, drehte ihren leichten Körper auf die Seite, sah ihre zerfetzte, blutverschmierte Haut und rief unangenehm berührt: »Ich brauche Hilfe!« Der Arzt mit den müden Augen lief zu ihm. Er sah, was der Kollege neben ihm sah. Er zählte. Er hörte bei dreißig auf. Die Striemen waren rot, geschwollen. Er spürte, dass er es ersticken musste, das, was sich ab und zu einstellte, das Weinen. Er spürte, welche Mühe er sich gab, um professionell zu bleiben. Sie hatte Statistik und Kurven zu sein. Er versuchte so zu denken: Ich kenne sie nicht ich kenne sie nicht ich kenne sie nicht, aber das gelang ihm nicht, nicht an diesem Tag, es war zu viel gewesen, zu viel Sinnloses, das er nicht begriff. Die rote zerfetzte Haut, das sagte er laut, wie um zu hören, wie es klang, oder wie um die anderen zu informieren, er wusste es nicht: »Sie ist ja ausgepeitscht worden!« Er sagte es noch einmal. Langsamer, leiser.
»Sie ist ausgepeitscht worden. Vom Nacken bis zum Gesäß. Ihre Haut, irgendwer hat sie in Fetzen geschlagen.« Es war eine ziemlich schöne Wohnung, das fand er wirklich, abgeschliffener Holzboden, Kachelofen in jedem Zimmer, hohe Wände, eine solche Wohnung sollte Frieden ausstrahlen. Ewert Grens saß in der Küche, am Küchentisch, auf einem der vier Klappstühle aus Plastik. Er hatte zusammen mit Sven Sundkvist und zwei Technikern alle Zimmer der Wohnung nach irgendwelchen Informationen durchsucht: Wer war diese Frau, die laut Aussage ihrer Freundin Lydia Grajauskaitė hieß, wer war die Freundin, die sich Alena Sljusareva nannte, wer war Dimitri Scheißzuhälter, der mit seinem Diplomatenpass gewedelt und etwas von litauischem Boden erzählt hatte? Die beiden Frauen, die zerschundene Grajauskaitė und ihre Freundin Sljusareva, die irgendwann, zwischen dem Moment, in dem die Bahre aus dem Haus getragen worden war, und dem, in dem die Techniker angerückt waren, die Gelegenheit ergriffen hatte, um zu verschwinden, beide waren Prostituierte von der anderen Seite der Ostsee, das hat-
te er immerhin begriffen. Die beiden waren nicht die ersten von dieser Sorte, mit denen er zu tun hatte. Es war immer dieselbe Geschichte, junge, arme Baltinnen, die von irgendeinem überredet wurden, einem beredten Menschen, der in ihren Wohnort kam und ihnen Arbeit und Wohlstand versprach, der ihnen einen falschen Pass besorgte, und in dem Moment, in dem sie diesen Pass entgegennahmen, verwandelten sie sich von hoffnungsvollen Teenies in angeblich geile Luder. Der falsche Pass war teuer, er stürzte sie in Schulden, die sie abarbeiten mussten. Die wenigen, die sich weigerten, mussten langsam lernen, was Prügel sind, dann wurden sie von ihrem Reiseleiter vergewaltigt, bis ihr Schoß blutete, dann kam die Pistole vor den Kopf und dann dasselbe nochmal: mach die Beine breit, zum Teufel, du musst einen Pass und eine Reise über die Ostsee bezahlen, fick jetzt endlich, eh ich ihn dir wieder in den Arsch schiebe. Der, der überredet und geschlagen und vergewaltigt und die Pistole an die Schläfe gehalten hatte, verkaufte sie dann, dreitausend Euro für jede, die von Osten nach Westen gebracht wurde und pflichtbewusst stöhnte, wenn jemand in sie eindrang.
Ewert Grens seufzte, sah Sven Sundkvist an, der in die Küche kam, um über die Vorratskammer zu berichten, die sie beim ersten Durchgang übersehen hatten. »Auch da ist nichts. Überhaupt keine persönlichen Habseligkeiten.« Mehrere Paar Schuhe, ein paar Kleidungsstücke, jede Menge Wäsche natürlich, Parfümflaschen, Plastiktaschen mit allerlei Schminkutensilien, eine Schublade mit Kondomen und Dildos und Handschellen. Sonst nichts. Sie hatten nichts in der Wohnung gefunden, was sie nicht erwartet hätten, nichts, was über mehr hätte erzählen können als über penetrierte Geschlechtsorgane. Ewert breitete ungeduldig die Arme aus. »Diese Kinder ohne Gesicht.« Die Mädchen gab es eigentlich nicht. Sie hatten keine Aufenthaltsgenehmigung, keine Identität, kein Leben. Sie atmeten vorsichtig in einer Wohnung mit elektronischen Schlössern im sechsten Stock in einer Stadt, die ganz anders war als die, die sie verlassen hatten. »Ewert, wie viele haben wir hier in dieser Stadt eigentlich?«
»So viele, wie der Markt braucht.« Ewert Grens seufzte wieder, beugte sich vor, spielte an der Tapete herum. Hier hatte der Scheißzuhälter sie ausgepeitscht. Er betastete das Blut, das auf der geblümten Tapete geronnen war, er sah, wie es über große Flächen gespritzt war, ein Teil sogar bis zur Decke. Er war wütend und müde, er hatte laut werden wollen, zog es dann aber vor, zu flüstern. »Sie ist illegal hier. Sie braucht Bewachung.« »Sie wird gerade operiert.« »Auf der Station. Danach.« »Noch zwei Stunden, sagt das Krankenhaus. Dann müsste sie so weit sein.« »Sorgst du dafür, Sven? Eine Wache. Ich will nicht, dass sie verschwindet.« Es war leer, still vor dem Haus mit der schönen Fassade. Ewert Grens suchte in den gegenüberliegenden Fenstern, auch den leeren, auch denen mit Vorhängen und Topfblumen, die alle gleich aussahen. Er spürte, wie der Widerwille in ihm aufstieg. Die misshandelte Frau und der Zuhälter mit seinem glänzenden Anzug und Bengt und die Kollegen,
die eine knappe Stunde vor der Tür gewartet hatten, während sie bewusstlos immer weiterblutete. Er versuchte, das alles abzuschütteln, er fror, wie schüttelt man das ab, was man noch nicht weiß?
Es war halb elf, und Jochum Lang bediente sich am Frühstücksbüfett, das im Ulriksdals Värdshus noch immer aufgebaut war. So machten sie das eben, die Jugos. Luden elegant und teuer zum Essen ein, dann wurde Tacheles geredet. Sie waren durch die nördlichen Vororte gefahren, auf dem Weg zu dem Gespräch, das sie bald führen würden. Nur noch ein Stückchen Omelett, dann eine Tasse Kaffee und zwei nach Pfefferminz schmeckende Zahnstocher. Lang warf einen Blick in den Speisesaal, weiße Decken und Besteck in Neusilber und Menschen, die eine Konferenz abhielten. Die Frauen hatten rote Wangen und ließen sich Feuer geben, die Männer saßen so dicht bei ihnen, wie sie nur konnten, und ließen sich nachschenken. Er lächelte über diese Besprechungen und die Erwartungen, er beteiligte sich nicht an so etwas, hatte das noch nie gemacht,
hatte den Sinn dieses vorhersagbaren Spiels noch nie kapiert. »Du wolltest etwas sagen.« Sie hatten überhaupt nicht mehr miteinander geredet, seit Slobodan ihn mit dem funkelnagelneuen Auto von der JVA Aspsås abgeholt hatte, und Jochum hatte sich abholen lassen und war im Ledersitz versunken und hatte seinen Zugfahrschein aus dem Fenster geworfen, als sie losgefahren waren. Jetzt saßen sie einander abwartend gegenüber, an einem schönen Tisch in einem teuren Restaurant, zehn Minuten von der Stockholmer Innenstadt entfernt. »Es geht um Mio.« Jochum schwieg noch immer, sein großer kurzgeschorener Schädel, die Bräune aus dem Solarium, die Narbe, die sich vom Mund die Wange hochzog, er nahm noch immer Platz ein. Slobodan beugte sich vor: »Er will, dass du dich mal mit einem Typen unterhältst, der unseren Stoff mit Waschpulver gestreckt verkauft.« Jochum Lang wartete noch immer. Kein Wort. Erst, als das mitten auf dem Tisch liegende Telefon klin-
gelte, streckte er die Hand aus und packte Slobodans Handgelenk. »Du sprichst mit mir. Um deine Scheißgeschäfte kannst du dich später kümmern.« Nur zwei Sekunden, Augen, die trotzen wollten. Slobodan zog seine Hand zurück, als die elektronischen Signale gerade verstummten. »Er verkauft den Dreck, wie gesagt. Unter anderem an Mios Nichte.« Jochum füllte den Salzstreuer, der auf der gemangelten Decke zwischen ihnen stand, und legte ihn auf die Seite, ließ ihn über den Tisch kullern, sah zu, wie er über die Kante auf den Boden fiel, vor dem Fenster. »Mirja?« Slobodan nickte. »Ja.« »Mio hat sich doch nie für sie interessiert. Miese Junknutte.« Muzak aus den Lautsprechern, die ein Stück höher an der Wand hingen. Die Frauen mit den roten Wangen lachten und ließen sich abermals Feuer geben, die Männer öffneten ihre obersten Hem-
denknöpfe und versuchten, ihre Ringfinger so gut zu verstecken, wie das nur ging. »Ich glaube, du kennst diesen Typen.« »Komm zur Sache.« »Es ist mit Waschpulver gestreckt. Und es stammt von uns. Kapiert?« Er wurde jetzt laut. »Das passt mir nicht. Es passt Mio nicht! Blöder Schwindelkram!« Jochum ließ sich zurücksinken, sagte nichts. Slobodans Gesichtsfarbe, sie war rot. »Cred! Der geht schnell verloren. Waschpulver in ein paar Venen, und schon geht das Gerede los.« Jochum hatte den Rauch der Restaurantfrauen langsam satt, den Geruch der gebratenen Würstchen, das Restaurant mit seinen ein wenig zu reizenden Kellnerinnen. Er wollte weg, hinaus in den Tag, einen anderen Tag. Er dachte, dass Aspsås doch die Sehnsucht nach einem Moment wie diesem wecken müsste, aber das genaue Gegenteil war der Fall, immer, wenn er einige Jahre gesessen hatte, fiel es ihm viel schwerer, etwas auszuhalten, das sich als etwas anderes ausgab. »Dann sag endlich, was ich tun soll.«
Slobodan sah, dass Jochum ungeduldig wurde. »Kein Arsch darf in unserem Namen Waschpulver verkaufen. Ein paar gebrochene Finger. Ein Arm. Mehr nicht.« Sie tauschten einen Blick. Jochum nickte. Muzak, dazu ein Klavier, das den bereits zerspielten Hitparadenpop vollends ruinierte; er erhob sich, ging zum Auto.
Der Stockholmer Hauptbahnhof gähnte noch immer hellwach, auch wenn der Vormittag bereits verflogen war. Immer irgendwer, der unterwegs war, immer eine zufällige Schlafstelle, immer Platz für ihn und sie, die mit der Einsamkeit kämpften. Es regnete seit Mitternacht, die ohne Dach hatten die riesigen Eingänge angesteuert und waren hineingegangen und hatten sich auf die Bänke in der fußballplatzgroßen Halle gelegt. Sie zogen in regelmäßigen Abständen weiter, ehe das Wachpersonal sie entdeckte und verjagte, sie versteckten sich zwischen gestressten Reisenden, zwischen denen mit der Reisetasche in der einen und dem
Caffè Latte im Pappbecher mit Plastikdeckel in der anderen. Hilding Oldéus war soeben aufgewacht. Zwei Stunden Schlaf mitten am Tag. Er schaute sich um. Er fühlte sich wie gerädert, die Bank war hart und fast dauernd hatte ihn irgendein verdammter Aufpasser angestoßen. Er hatte nichts mehr gegessen, seit einer der Bullen ihm bei dem Quasiverhör morgens früh Butterkekse angeboten hatte. Er war nicht hungrig. Er war nicht geil. Er war sozusagen nichts. Er lachte laut, zwei alte Weibsen glotzten ihn wie bescheuert an und er zeigte ihnen den Finger. Er war nichts, und er brauchte mehr Pulver, denn mit mehr Pulver konnte er weiter nichts bleiben und weiter absperren und weiter nichts spüren. Er erhob sich. Er stank nach Urin, und seine Haare waren strähnig und ungekämmt, und das Blut aus der Wunde in seiner Nase war gerade wieder geronnen, er war mager und verdreckt und achtundzwanzig Jahre alt, und weiter auf dem Weg zum Nichts als je zuvor.
Er ging langsam auf die stillstehende Rolltreppe zu, klammerte sich an das schwarze Gummigeländer, geriet einige Male ins Schwanken, als die Treppe sich in Bewegung setzte. Die Schließfächer lagen ein Stück weiter hinten im Betongang, gegenüber den Toiletten, wo ein Mensch am Eingang saß und fünf Ecken für einmal pissen verlangte. Ja, Scheiße, natürlich pisst man dann lieber in den U-Bahngang. Olsson lag immer bei den hintersten Fächern, irgendwo zwischen den Nummern 120 und 150. Der Arsch schlief. Hilding ging hin, der eine Fuß nackt, Schuh weg, Socke weg, der Arsch hatte Kohle, Scheiße, wen interessiert schon ein Scheißschuh. Olsson schnarchte. Hilding zog ihn am Arm, schüttelte ihn, so gut das ging. »Ich will Knete.« Olsson sah ihn an, wusste nicht so recht, ob er noch immer schlief. »Hast du gehört? Ich brauch Knete. Du hättest schon vorige Woche abrechnen müssen.« »Morgen.« Er wurde Olsson genannt. Hilding wusste, dass er nicht Olsson hieß, sie waren zusammen in Scho-
nen auf Entzug gewesen, aber verdammt, trotzdem wusste er nicht, wie der andere wirklich hieß. »Olsson. Tausend Ecken, verdammt. Jetzt! Oder hast du dir das H selbst reingepfiffen, du Arsch?« Olsson setzte sich jetzt auf. Er gähnte, breitete die Arme aus. »Verdammt, Hilding, ich hab doch nix.« Hilding Oldéus riss an seiner Wunde. Der Arsch hatte keine Knete. Genau wie die Kuh vom Sozialamt. Genau wie die Schwester. Er hatte sie noch einmal angerufen und sie wie blöd angefleht, wie er das ja schon einige Tage zuvor von dem U-Bahnsteig aus gemacht hatte, und sie hatte genau dieselbe Platte aufgelegt wie beim ersten Mal, das ist deine Entscheidung, das ist dein Problem, schieb das nicht mir zu. Er bohrte weiter in seiner Wunde, die Kruste bröckelte ab, er blutete heftig. »Muss Knete haben. Musst du doch raffen, Scheiße.« »Hab nix. Aber ich hab Infos für ‘n Tausender.« »Was denn für Scheißinfos?« »Jochum Lang sucht dich.« Hilding riss an seiner Wunde, er atmete schwer,
er versuchte nicht zu zeigen, dass er schlucken musste. »Scheiß ich ja wohl drauf.« »Hilding, was will der von dir?« »Ham zusammen gesessen. In Aspsås. Will sicher ne Runde quatschen.« Olssons Wange schoss wieder zu seinem Auge hoch, immer wieder, wie ein Zucken, er war gefangen in seinen Junkie-Ticks. »Tausend wert?« »Ich will meine Knete.« »Hab nix.« Olsson klopfte sich auf die eine Tasche seiner Windjacke. »Aber ich hab ein bisschen Pulver.« Er zog die Plastiktüte hervor, die er unter seiner Jacke versteckt hatte, er hielt sie so, dass Hilding sie sehen konnte. »Ein G. Kannst du haben. Ein G, und wir sind quitt.« »Ein G?« »Saustark.« Hilding hob die Hände, schwenkte sie, versetzte Olsson einen leichten Stoß.
»Zeig mal her.« »H mit Essigsäure. Stark.« »Ein Viertel. Ich drück nur ein Viertel. Okay?« Der Zug nach Malmö und Kopenhagen verspätete sich, der Lautsprecher unter dem Dach hallte in der Halle wider, fünfzehn Minuten, setzen und weiter warten. Das Cafe ein Stück weiter lärmte, der Duft von frisch aufgegossenem Kaffee und fetten Heißwecken suchte sich einen Weg und lagerte sich in der Halle ab. Das merkten sie nicht. Sie merkten überhaupt nichts von dem großen leeren Raum, der sie umgab und der sich mit Pendlern füllte, die losrannten, um rechtzeitig auf den Bahnsteig zu kommen, von den Interrailern, die von nirgendwoher kamen und nach irgendwo unterwegs waren, mit ihren riesigen, mit Flaggen versehenen Rucksäcken, von den Familien, die zu allen möglichen Zeiten reisten und billige Fahrscheine in der Hand hielten, auf die die Geschäftsleute nur gespuckt hätten. Das alles bemerkten sie nicht. Sie gingen stattdessen mit ruckhaften Schritten zu dem Fotoautomaten neben dem Pfeiler am Eingang, Olsson stand draußen Schmiere, er sollte dafür sorgen, dass niemand hineinzugehen versuchte
und dass Hilding drinnen keine Überdosis abdrückte. Hilding setzte sich auf den niedrigen Schemel. Hilding zitterte. Er zog die Vorhänge vor, seine Beine waren zu sehen, und Olsson trat einen Schritt beiseite, um sie zu verstecken. Der Löffel lag in der Innentasche des Regenmantels. Er füllte ihn mit weißem Heroin und zwei Tropfen Zitronensäure, hielt ihn über die Flamme des Feuerzeugs, bis der Inhalt miteinander verschmolzen war, vermischte ihn dann mit Wasser und zog die Flüssigkeit in die Spritze. Er hatte sehr stark abgenommen, sein Gürtel, den er sonst im dritten oder vierten Loch schloss, reichte jetzt bis zum siebenten. Er zog daran, so hart, bis der Gürtel sich auch noch einmal um seinen Unterarm wickeln ließ, das Leder schnitt sich tief in die Haut ein. Er senkte den Kopf, hielt den Riemen fest und nahm dessen Ende zwischen die Zähne, spannte ihn aus Leibeskräften an, konnte in der Armbeuge aber noch immer keine Ader erkennen. Er ließ die Nadel weiter suchen, drückte sie gegen den schwärzlich verfärbten Knorpel und in den großen
Leerraum, der sich im Arm an der Stelle gebildet hatte, wo im Laufe der Jahre eine Injektion nach der anderen ein Stück Körper weggefressen hatte. Er suchte noch einige Male, versuchte, versuchte wieder, spürte plötzlich, wie die Nadel die Wand der Vene durchbohrte. Er drückte und lachte, so leicht ging es sonst nicht, beim vorigen Mal hatte er sich den Schuss in den Hals setzen müssen. Er sah den Blutstreifen, der in der durchscheinenden Flüssigkeit schimmerte, hinter dem Kunststoffmaterial der Spritze, sah, wie das Rote zuerst zusammenhielt, sich dann aber auflöste wie die Blätter einer roten Blume, wenn sie sich öffnete, es war schön. Schon nach zwei Sekunden sank er bewusstlos in sich zusammen. Er lag nach vorn gekippt über dem Schemel des Fotoautomaten, sehr gut zu sehen unter dem Vorhang, den er geschlossen hatte, er hatte aufgehört zu atmen.
Mittwoch, der 5. Juni
Sie war eben erwacht. Lydia versuchte sich umzudrehen, auf die rechte Seite, dann brannte ihr Rücken nicht so sehr. Sie wartete allein in einem großen Zimmer. Sie war einen halben Tag lang bewusstlos gewesen, das hatte zumindest die eine Krankenschwester, die, die Russisch sprach, zu ihr gesagt. Sie hatte den linken Arm gebrochen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, sie wusste nicht, was er damit gemacht hatte, sie hatte offenbar schon vorher das Bewusstsein verloren. Der Arm war eingegipst und würde das auch noch einige Wochen bleiben. Er hatte sie mehrmals in den Bauch getreten. Daran konnte sie sich erinnern. Er hatte geschrien, sie sei eine Nutte, und Nutten ficken, wie ihnen befohlen wird. Das hatte er getan, als er nicht mehr getreten hatte, er hatte sich in ihren Enddarm hineingezwungen, zuerst mit seinem Geschlecht, dann mit den Fingern. Sie hatte gehört, dass Alena ihn daran hindern wollte, dass sie geschrien und auf seinen Rücken
eingehämmert hatte, bis er sie eingeschlossen und sie gezwungen hatte, sich auszuziehen. Sie werde auch noch an die Reihe kommen, später. Lydia wusste, was bis zur Peitsche passiert war. An alles davor konnte sie sich erinnern. Er hatte zuerst locker geschlagen, über dem Hintern, den Arsch lass ich heil, aber kein Mensch fickt einen Rücken, um den Rücken braucht man keine Angst zu haben. Sie hatte bis elf gezählt. An so viele Schläge konnte sie sich erinnern. Er hatte danach weitergemacht. Das hatte die Krankenschwester erzählt. Dass es mehr Hiebe waren als elf, das war wohl den Striemen anzusehen. »Guten Morgen.« Die Krankenschwester war dunkelhaarig, hieß Irena und kam aus Polen, das war ihrer russischen Aussprache anzuhören. Sie wohnte seit fast zwanzig Jahren in Schweden, sie war verheiratet und hatte drei Kinder, sie fühlte sich wohl, sagte sie, Schweden gefiel ihr. »Guten Morgen.« »Gut geschlafen?« »Zwischendurch.«
Irena wusch ihr die Wunden aus, so, wie schon am Vortag. Erst das Gesicht, dann den Rücken. Die Beine wiesen nur blaue Flecken auf, die würden von selbst verschwinden. Sie zuckte zusammen, als die Hände ihren Rücken berührten. »Tut das weh?« »Ja.« »Ich mach das so vorsichtig, wie ich kann.« Vor ihrem Zimmer stand eine Wache. Eine grüne Uniform, sie sah aus wie die Uniformen, die sie auf den skandinavischen Bahnhöfen gesehen hatte, die sie in aller Eile durchquert hatten, wenn Dimitri in Panik geraten war und sie und Alena gezwungen hatte, zu packen und die Stadt zu wechseln, fünf Städte in drei Jahren. Die Wohnungen hatten alle gleich ausgesehen, immer hoch oben, immer rote Tagesdecken, immer elektronische Schlösser. Lydia merkte, wie ihr Rücken schmerzte, wie die desinfizierende Flüssigkeit in ihren offenen Wunden brannte. Sie wusste nicht, warum, aber sie dachte an den Friedhof in der Stadt, irgendwo an der Landstraße zwischen Klaipėda und Kaunas, wo
ihre Großeltern gelegen hatten, wo deshalb auch ihr Vater liegen sollte. Sie dachte, dass sie den Mann mit dem geschorenen Kopf nicht mehr vermisste, den Mann, der auf dem Gang des Lukuskėles-Gefängnisses so klein ausgesehen hatte. Es gab ihn nicht mehr, er war dort verschwunden, während sie neben ihrer Mutter auf dem Friedhof gestanden und geweint hatte, für sie hatte er seither nicht mehr existiert. Lydia bewegte sich unruhig, sie unterdrückte einen Schrei, die Wunden brannten wieder, sie starrte die Wache in der grünen Uniform an, wenn sie sich auf ihn konzentrierte, tat es vielleicht nicht so weh. Sie wusste nicht, warum er dort stand. Ob Dimitri Scheißzuhälter erwartet würde. Ob sie dachten, sie wolle fliehen. Irena sprach mit ihr, während sie ihr den Rücken wusch, sie fragte nach dem Schreibheft, das auf dem Rolltisch lag, danach, ob ihr das Essen schmeckte, und sie wussten beide, dass es sinnlose Fragen waren, die Lydia ablenken sollten, damit sie eine Weile an etwas anderes dachte als an die Schmerzen und ihren zerschundenen Leib. Sie ant-
wortete, das sei ein Notizbuch, sie notiere einfach irgendwelche Gedanken, über die Zukunft, und sie finde das Essen nicht so toll, das Kauen fiel ihr schwer, ihre Wangen schmerzten. »Herzchen.« Irena sah sie an, schüttelte den Kopf. »Herzchen, ich begreife nicht, was dir da passiert ist.« Lydia gab keine Antwort. Sie wusste. Sie wusste, was ihr passiert war. Ihr Körper, den sie sonst nicht spürte, sie wusste, wie der jetzt aussah. Sie wusste, was sie in ihr Notizbuch geschrieben hatte, das auf dem Rolltisch lag. Sie wusste, dass es nie wieder geschehen würde. »Wir sind so weit. Ich mache das später heute nochmal, am Nachmittag. Und es wird jedes Mal weniger wehtun. Du bist tapfer, Herzchen.« Irena streichelte kurz ihre Schulter, lächelte sie an, wollte schon den Raum verlassen. Bei der Tür begegnete ihr ein Arzt, er brachte vier Personen mit, drei Männer und eine Frau. Er sprach zuerst mit dem Wächter und dann mit Irena, sie drehte sich um, trat wieder ans Bett. »Lydia.«
Irena stand wieder an ihrem Bett, zeigte auf den Arzt und die vier anderen, die ebenfalls weiße Kittel trugen. »Das hier ist der Arzt. Du bist ihm schon begegnet, er hat dich untersucht, als du hergekommen bist. Er hat vier Studierende mitgebracht, die hier im Söderkrankenhaus ausgebildet werden, um das Helfen zu lernen. Der Arzt möchte ihnen deine Wunden zeigen. Deinen Rücken. Darf er das?« Lydia sah in die Gesichter der anderen. Sie kannte sie nicht. Sie konnte es nicht ertragen, betrachtet zu werden, einige schauten sie an, sie hatte Schmerzen, sie wollte nicht von den anderen gesehen werden. »Ja, das darf er.« Irena übersetzte, der Arzt wartete, er sah Lydia an und nickte zum Dank. Er bat Irena zu bleiben, bat sie, weiter zu übersetzen, damit Lydia auch alles verstand. Er drehte sich zu den vier Studierenden um, erzählte ihnen, was passierte, wenn jemand zur Notaufnahme gebracht wurde, erzählte von Lydias Reise durch die Gänge des Söderkrankenhauses, vom Krankenwagen bis in den OP. Dann zog er einen Laserzeige-
stock aus der Kitteltasche, zeigte auf ihren nackten Rücken, der rote Punkt wanderte langsam über die Wunden. »Heftige Rötung und Schwellung. Seht ihr das?« »Sie ist mit kräftigen Schlägen misshandelt worden. Mit einer Peitsche. Seht ihr das?« »Wir glauben, dass es sich um einen Ochsenziemer handelt. Drei, vier Meter. Seht ihr das?« Er drehte sich wieder zu Lydia um, suchte ihren Blick. Irena übersetzte. Lydia nickte und bestätigte. Die vier, die lernen sollten, standen schweigend daneben, sie sagten nichts, sie hatten noch nie die Spuren einer Peitsche auf dem Rücken eines Menschen gesehen. Der Arzt ließ ihnen Zeit zum Nachdenken, dann sprach er weiter: »Ein Ochsenziemer ist ein Gerät, mit dem Vieh getrieben wird. Sie hat fünfunddreißig Schläge bekommen.« Er redete noch eine Weile weiter, aber Lydia brachte es nicht über sich, noch länger zuzuhören. Dann verschwanden die anderen, sie bemerkte es kaum. Sie schaute zu ihrem Notizbuch hinüber. Sie wusste.
Sie wusste, was sie durchgemacht hatte. Sie wusste, dass es nie wieder passieren würde.
Ein Stockwerk weiter unten. Dort lagen drei Personen, in Zimmer 2 auf einer der Stationen für Innere Medizin. Lisa Öhrström stand mitten in Zimmer 2 und musterte ihre drei Patienten. Sie stand schon eine Weile da. Sie war fünfunddreißig Jahre alt, und sie war müde, nach zwei Jahren Dienst hier im Haus war sie ebenso erschöpft wie ihre gleichaltrigen Kollegen. Sie sprachen oft darüber, sie arbeitete stetig und doch nie genug, es war wohl eher dieses Gefühl als die langen Tage, das sie mit sich nach Hause nahm und mit dem sie einschlief. Dass sie nie ausreichend mit den Kranken sprechen konnte, dass sie Diagnose und Zustandsbericht hinkritzelte, dass sie die Behandlung festsetzte und dann weitereilte, zum nächsten Bett, zum nächsten Zimmer, dass sie beim Laufen wichtige Entscheidungen treffen musste, dass sie aber nie innehalten und an ihren Entscheidungen festhalten konnte. Sie sah die drei wieder an, einen nach dem ande-
ren. Der ältere Mann am Fenster war wach, er saß im Bett, hatte Schmerzen, hielt sich den Bauch und suchte nach einer Klingel, die irgendwo auf dem Nachttisch liegen sollte, bei dem Essen, das er nicht angerührt hatte. Der jüngere Mann neben ihm, eigentlich fast noch ein Knabe, achtzehn, neunzehn Jahre alt, kam und ging hier seit fast fünf Jahren ein und aus, in den verschiedenen Abteilungen des Krankenhauses. Sein Körper war stark gewesen, als er so schnell krank geworden war, er hatte sich geweigert zu sterben, hatte geweint und geflucht und sich an seine langsamen Atemzüge geklammert, und er hatte schon vor langer Zeit seine Haare und sein Aussehen und den größeren Teil seines Gewichts verloren, aber er lag noch immer da und starrte die Wand an, bis er sicher sein konnte, dass er zu einem weiteren Morgen erwacht war. Der dritte aber war neu. Lisa Öhrström atmete tief durch. Sicher war er es, der sie so müde machte, der sie dazu brachte, still dazustehen, während auf dem Gang die Klingeln der Kranken wütend widerhallten.
Er lag ganz hinten in der Ecke, dem älteren Mann gegenüber. Er war am Vorabend eingeliefert worden. Es war seltsam und es war ungerecht, es war wohl nicht richtig von ihr, so zu denken, aber sie dachte eben doch so, er war der Einzige von den dreien, der überleben, der mit pochendem Herzen dieses Haus verlassen würde. Er war der Einzige, der sich alle Mühe gegeben hatte, um ein Ende zu setzen. Der ihre Zeit raubte, ihre Kraft, der nicht begriff. Es spielte überhaupt keine Rolle, dass er noch vor kurzem mehr tot als lebendig gewesen war. Er begriff auch das nicht, oder vielleicht begriff er es nur zu gut, er würde es ja wieder und wieder und wieder tun und sie, oder irgendein Kollege, würde hier mitten im Zimmer stehen, apathisch und wütend, ein weiteres Mal. Und deshalb hasste sie ihn. Sie trat an sein Bett. Das musste sie ja. »Du bist aufgewacht.« »Mist. Was’n passiert?« »Überdosis. Diesmal hätten wir dich fast nicht retten können.« Er riss sich den Kopfverband ab, er war in der Fotokabine hilflos zu Boden gefallen und mit dem Ge-
sicht aufgeprallt. Er zog mit der einen Hand daran und begann mit der anderen, die Wunde im einen Nasenloch aufzukratzen, die Wunde, die er schon so lange hatte, sie hatte so oft versucht, ihn davon abzubringen, sie immer wieder aufzureißen, damals, als sie sich noch um ihn gesorgt hatte. Sie suchte in seinem Krankenbericht. Sie wusste schon alles. Hilding Oldéus, achtundzwanzig Jahre. Sie zählte die Eintragungen, sie kannte sie auswendig, er lag zum zwölften Mal hier, zum zwölften Mal belegte er wegen einer Überdosis Heroin ein Bett. Fünf-, sechsmal hatte sie entsetzliche Angst gehabt und geweint. Jetzt war sie nur noch gleichgültig. Sie musste ihre Kraft einteilen, sich um alle gleichermaßen kümmern. Sie konnte nichts dagegen tun. Sie brachte es nicht fertig, sich gerade um seine Zukunft besonders zu kümmern. »Du hast Glück gehabt. Der, der uns alarmiert hat, irgendein Freund von dir, glaube ich, hat dich sofort künstlich beatmet und eine Herzmassage durchgeführt. Das war offenbar in einem Fotoautomaten im Hauptbahnhof.« »Olsson.«
»Dein Körper hätte das sonst nicht durchgestanden. Diesmal nicht.« Er riss an der Wunde in seiner Nase. Sie wollte ihn schon daran hindern, wie früher immer, aber sie wusste, dass seine Hand gleich wieder da sein würde, er konnte sich gern das ganze Gesicht zerfetzen, wenn ihn das glücklich machte. »Ich will dich hier nicht mehr sehen, Bruderherz.« »Schwesterherz, verdammt.« »Nie wieder.« Hilding versuchte sich aufzurichten, sank aber sofort zurück, ihm war schwindlig, er griff sich an die Stirn. »Da hast du’s. Das passiert, wenn du mir keine Knete leihst. Konzentrierte Körner. Kapierst du?« »Verzeihung?« »Kein Verlass auf irgendeinen Arsch.« Lisa Öhrström seufzte. »Du, nicht ich habe das Heroin in Zitronensäure aufgelöst. Nicht ich habe es in die Spritze gezogen. Nicht ich habe es injiziert. Das warst du, Hilding.« »Redst’n da.« »Ich weiß nicht. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich da rede.«
Sie brachte es nicht über sich. Nicht an diesem Tag. Er lebte. Das musste reichen. Sie dachte daran, wie seine Sucht langsam zu ihrer Sucht geworden war. Jede Spritze, die er in der Hand gehalten hatte, jedes Behandlungsheim, in dem er gewohnt hatte, jede Überdosis, die ihr den Atem genommen hatte. Sie war zu Treffen für Angehörige gegangen, zu diesen vielen Selbsthilfegruppen, sie hatte gelernt, dass die Sucht auch sie betraf, und endlich begriffen, warum ihre eigenen Gefühle niemals wichtig gewesen waren, lange Zeit hindurch schien sie kaum existiert zu haben, es hatte nur Hildings Sucht gegeben und die hatte die Familie beherrscht und sie beherrscht. Sie war gerade erst auf den Flur hinausgegangen, als er hinter ihr herschrie. Sie hatte beschlossen, nicht umzukehren, zu ihren eigenen Patienten weiterzugehen, aber nun schrie er weiter, immer lauter. Das hielt sie nur einige Minuten durch, sie weinte vor Wut, als sie in sein Zimmer zurückstürzte. »Was willst du?« »Schwesterherz, zum Teufel!« »Sag, was du willst!«
»Soll ich einfach hier rumliegen? Ich hab doch eine Überdosis gedrückt.« Lisa Öhrström spürte die Blicke des älteren Mannes und des Jungen, der nicht sterben wollte, sie sahen sie an, und sie sollte ihnen Kraft und Mut geben, aber das schaffte sie nicht, jetzt nicht. »Schwesterherz, ich brauch etwas zur Beruhigung.« »Wir geben dir hier keine Drogen. Du kannst mit dem behandelnden Arzt sprechen. Aber der wird dir dasselbe sagen.« »Stesolid.« Sie schluckte, Tränen liefen über ihre Wangen, dazu brachte er sie ja immer. »Wir haben uns in all diesen schrecklichen Jahren um dich gekümmert. Mama und ich und Ylva. Wir haben mit dieser verdammten Angst gelebt. Also quengel hier jetzt nicht rum.« Hilding hörte nicht, was sie sagte. Er mochte es nicht, wenn ihre Stimme sich so anhörte. »Oder Rohypnol.« »Wir waren jedes Mal froh, wenn du gesessen hast. Wie jetzt in Aspsås. Verstehst du? Da wussten wir wenigstens, wo du warst.« »Valium? Du?«
»Nächstes Mal. Nächstes Mal machst du es richtig. Wenn du nochmal eine Überdosis nimmst, dann nimm gefälligst so viel, dass du auch daran stirbst.« Lisa Öhrström beugte sich vor, sie schlang sich beide Arme um den Leib und wandte sich ab, sie weinte, und das sollte er nicht sehen. Sie sagte nichts mehr, sie ging zu dem alten Mann, er hatte auf die Klingel gedrückt, das hatten die Signale auf dem Gang mitgeteilt. Er saß aufrecht da, presste sich die eine Hand auf die Brust, er brauchte etwas Schmerzstillendes, der Krebs war am Werk. Sie wünschte ihm einen guten Morgen, nahm seine Hand, drehte sich dann aber wieder zu Hilding um. »Übrigens.« Ihr Bruder gab keine Antwort. »Du hast Besuch. Ich hab versprochen, dir Bescheid zu sagen, sowie du aufwachst.« Sie ging zur Tür, musste dieses Zimmer wieder verlassen, verschwand auf dem blaugrünen Gang. Hilding sah hinter ihr her. Er begriff nichts. Wie konnte irgendwer wissen, dass er hier lag? Er wusste das doch selber kaum.
Jochum Lang stieg aus dem Auto, das vor dem Eingang des Söderkrankenhauses gehalten hatte, er verließ den Geruch des schwarzen Leders, den er innerhalb von zwei Stunden ebenso zu hassen gelernt hatte wie den der Zelle, in der er zwei Jahre und vier Monate verbracht hatte. Es war ein anderer Geruch und doch derselbe. Einer, der einsperrte, einer, der von Macht und Kontrolle berichtete, er war schon so lange dabei, dass er eingesehen hatte, dass es eigentlich keinen großen Unterschied bedeutete, ob er im Knast einen Befehl eines Bullen oder auf freiem Fuß einen von Mio befolgen musste. Er ging zwischen den Menschen weiter, die im Krankenhausinneren standen und sich nach Hause sehnten, er ging durch den Gang, der immer mit Leuten gefüllt war, die irgendwohin unterwegs waren, die in die Fahrstühle stiegen, die blinkten und in denen eine Tonbandstimme freundlich mitteilte, auf welcher Etage sie sich gerade befanden. Ist ja wohl alles seine eigene Schuld. Geschieht ihm recht.
Jochum Lang hatte sein Mantra. Immer wieder denselben Prozess, er hatte es immer schon so gemacht, er wusste, dass es so funktionierte. Geschieht ihm recht. Er wusste, wo er lag. In der Inneren Medizin. Sechster Stock. Zimmer 2. Er lief hastig weiter, er hatte einen Auftrag, und den wollte er hinter sich bringen. Es war zu still in dem Zimmer. Der Opa im Bett gegenüber und der Junge, der eher tot als lebendig aussah, schienen beide zu schlafen. Hilding mochte die Stille nicht. Er hatte sie noch nie gemocht. Er schaute sich unruhig um, blickte zur Tür, er wartete. Er sah ihn, sowie er die Tür öffnete. Seine Kleidung war durchnässt, offenbar regnete es draußen. »Jochum?« Sein Herz hämmerte. Er riss an der Wunde in seiner Nase. Er wollte das Gefühl nicht wahrhaben, das an ihm fetzte. »Machst du ‘n hier, zum Teufel?« Jochum Lang sah genauso aus wie sonst. Er war ebenso verdammt groß, so verdammt kahl. Hilding spürte es. Er würde jetzt nicht widerstehen
können. Er wollte nichts empfinden. Das wollte er nicht. Er wollte Stesolid. Oder Rohypnol. »Setz dich.« Jochum war ungeduldig, seine Stimme war nicht laut, aber deutlich. »Setz dich.« Jochum packte den Rollstuhl, der neben dem Bett des älteren Mannes stand. Er bückte sich, drückte mit der Hand auf die Bremse. Er schob den Stuhl quer durch das Zimmer, stellte ihn Hilding hin, wartete, bis Hilding sich auf die Bettkante gesetzt hatte. Er zeigte erst aufs Bett, dann auf den Rollstuhl. »Setz dich da rein.« »Was willst du?« »Nicht hier. Bei den Fahrstühlen.« »Was willst du!« »Setz dich, verdammt nochmal.« Jochum zeigte wieder auf den Rollstuhl, seine Hand war dicht vor Hildings Gesicht. Selbst schuld. Hilding kniff die Augen zusammen, sein magerer Körper war schwach, erst vor wenigen Stunden war er hilflos in einem Fotoautomaten zusammengebrochen. Geschieht ihm recht. Er bewegte sich lang-
sam, von der Bettkante zum Rollstuhl, hielt inne, das Blut aus der Nase lief ihm über das Kinn. »Ich hab nichts gesagt.« Jochum trat hinter ihn, schob den Stuhl durch das Zimmer, vorbei an dem alten Mann und dem jungen Knaben, die schliefen in ihren Betten. »Du, Jochum, verdammt. Ich hab nichts gesagt. Hörst du? Die haben gefragt, die Bullenschweine, die haben beim Verhör nach dir gefragt, aber ich hab nichts gesagt.« Der Gang war leer. Der blaugrüne Boden, die weißen Wände, es war kalt. »Ich glaube dir. Dazu bist du zu feige.« Ihnen begegneten zwei Krankenschwestern, beide nickten dem Rollstuhl zu, das sollte sicher ein Gruß sein. Hilding weinte. Er hatte als Kind zuletzt geweint. »Aber du vertickst Schwindelware. An die falschen Leute.« Sie verließen die Station, gingen hinaus ins Treppenhaus. Der Gang verbreiterte sich, änderte seine Farbe, grauer Boden und gelbe Wände. Hildings Körper zitterte, er hatte nicht gewusst, dass Angst so wehtun konnte.
»An die falschen Leute?« »Mirja.« »Mirja? Die miese Kuh.« »Sie ist Mios Nichte. Und du bist so verdammt blöd, dass du grade ihr mit Jugojunk gestrecktes Waschpulver andrehst.« Hilding versuchte, die Tränen fortzuzwingen, er spürte sie nicht, sie waren nicht seine. »Ich raff das nicht.« Sie blieben vor den Fahrstühlen stehen, vier Stück, zwei waren in Bewegung. »Ich raff das doch nicht!« »Das wirst du aber. Du und ich. Wir werden uns nur ein Weilchen unterhalten.« »Jochum, Scheiße!« Die Fahrstuhltüren. Wenn er die Hände ausstreckte, würde er sie erreichen können, sie packen, sich daran festhalten. Er wusste es doch nicht. Woher diese verdammten Tränen kamen.
Alena Sljusareva lief am Kaiufer des Värtahafens entlang.Sie starrte in das dunkle Wasser hinunter,
es regnete und regnete schon den ganzen Morgen, das, was bei starkem Sonnenlicht blau sein konnte, war jetzt nur schwarz, die Wellen, die gegen die Betonwand schlugen, es war eher Herbst als Sommer. Sie weinte, sie weinte jetzt seit fast vierundzwanzig Stunden. Zuerst vor Angst, dann vor Wut, ein wenig vor Sehnsucht, jetzt vor Hoffnungslosigkeit. An diesem einen Tag hatte sie drei Jahre durchlebt. Sie hatte in der Zeit gesucht, die vergangen war, seit sie und Lydia zusammen an Bord einer litauischen Fähre gegangen waren. Zwei Männer hatten ihnen den Weg gezeigt, ihre Hände, die ihnen höflich die Türen geöffnet hatten, ihre Münder, die ihnen erzählt hatten, wie schön sie seien, einer war Schwede gewesen und hatte gut Russisch gesprochen und hatte ihnen falsche Pässe besorgt, die Schlüssel zu einem neuen Leben. Die Kabine war groß gewesen, wie das Schlafzimmer in Klaipėda, wo sie zu viert gehaust hatten. Alena hatte gelacht, sie war so glücklich, sie waren unterwegs in eine andere Zeit. Sie war so unschuldig gewesen. Die Fähre hatte den Hafen eben erst verlassen.
Sie spürte noch immer, wie das Blut an der Innenseite ihrer Oberschenkel hinunterlief. Drei Jahre. Stockholm, Göteborg, Oslo, Kopenhagen, wieder Stockholm. Nie weniger als zwölf. Jeden Tag. Sie versuchte, einige von ihnen vor sich zu sehen, ihre Gesichter, die, die schlugen, die, die sich über sie legten, die, die nur zusehen wollten. Sie konnte sich nicht an ein einziges erinnern. Sie hatten keine Gesichter. Es war ungefähr so wie mit Lydia und ihrem Körper, nur umgekehrt. Für Lydia gab es den Körper nicht. Alena hatte das nie verstanden. Sie hatte einen Körper. Sie wusste auch, dass der beleidigt wurde, sie zählte jeden Abend wie oft, sie lag nackt da und rechnete, multiplizierte zwölfmal pro Tag mit drei Jahren. Sie hatte einen Körper, so sehr sie auch versuchten, ihn ihr wegzunehmen. Es waren ihre Gesichter, die es nicht gab, für sie war das so. Sie hatte versucht, Lydia zu warnen. Sie zu beruhigen. Das war ihr nicht gelungen. Lydia war seit dem Moment, in dem Alena ihr den Zeitungsartikel gezeigt hatte, wie ausgewechselt gewesen. Ihre
heftige Reaktion, ihre Augen, es war Hass, sie hatte gesehen, wie Lydia erniedrigt worden war, hatte sie aber niemals hassen gesehen. Alena bereute jetzt, sie hätte die Zeitung verstecken sollen, sie wegwerfen, wie sie es zuerst vorgehabt hatte. Lydia hatte vor Dimitri gestanden, mit geradem Rücken, sie hatte gesagt, sie werde von jetzt ab das Geld behalten, sie sei es, in die die Männer eindrangen, sie sei es, die das Geld verdiente. Er hatte sie zuerst ins Gesicht geschlagen. Damit hatte sie wohl gerechnet, er fing ja immer so an, sie war nicht ausgewichen. Dann hatte sie gesagt, sie werde jetzt einige Tage keine Männer empfangen, und keiner werde sich noch auf sie legen dürfen, sie sei müde, sie wolle nicht mehr. Lydia hatte noch nie protestiert. Nicht laut, nicht Dimitri gegenüber, sie hatte sich vor den Schlägen und den Schmerzen und der Pistole gefürchtet, die er ihnen ab und zu an den Kopf hielt. Alena setzte sich ans Hafenbecken und ließ die Beine über das Wasser baumeln. Drei Jahre. Sie hatte solche Sehnsucht nach Janoz, die Sehnsucht riss wieder an ihr, warum war sie losgefahren, warum hatte sie ihn nicht in ihre Pläne eingeweiht?
Sie war ein Kind gewesen. Jetzt war sie eine andere. Sie war das schon geworden, als der Schwedisch sprechende Mann sie in der Kabine festgehalten und ihr dann zweimal ins Gesicht gespuckt hatte, als er in ihren Körper eingedrungen war. Danach hatte sie damit weitergemacht, eine andere zu werden. Jedes Mal, wenn etwas von ihr gestohlen wurde, ein wenig mehr. Sie hatte in ihrem Zimmer gestanden und zugesehen. Als er die Peitsche hervorgeholt und sie vor Lydias Gesicht gehalten hatte, war sie hinausgestürzt, hatte sich auf ihn geworfen. Er hatte die Peitsche noch nie benutzt, hatte sie nur gezeigt, um ihnen Angst zu machen. Jetzt hatte er geschlagen, und sie hatte versucht, sie ihm zu entreißen, aber er hatte sie in den Bauch getreten und ihre Tür abgeschlossen, er hatte gesagt, sie werde nachher auch noch an die Reihe kommen. Sie schaute hinunter ins Wasser. Sie wartete. Sie würde zurückfahren. Nach Klaipėda. Zu Janoz, wenn er noch immer dort war. Aber noch nicht. Erst, wenn sie von Lydia gehört hätte. Erst dann.
Sie hatte die Schläge gezählt. Einen nach dem anderen. Die Polizei war gekommen, nachdem Dimitri fünfunddreißig Mal geschlagen hatte. Sie hatte jeden einzelnen Schlag durch die verschlossene Tür gehört, zuerst, wie er die Peitsche gehoben hatte, dann, wie sie auf Lydias nackte Haut aufgeklatscht war. Ihre Füße, wenn sie sich reckte, berührten fast das dunkle Wasser. Sie könnte hineinspringen. Sie könnte auch aufstehen und an Bord gehen. Noch nicht. Jede hatte gesehen, wie die andere vergewaltigt worden war. Sie musste warten. Irgendwer hatte ihre Zimmertür aufgeschlossen, sie hatten die Wohnung durchsucht, und Dimitri hatte auf dem Dielenboden gelegen und sich den Bauch gehalten. Sie hatte einige Sekunden allein dort gestanden, hatte plötzlich den Polizisten gesehen, den sie erkannt hatte, war in Panik geraten und die wenigen Schritte zur Wohnungstür gelaufen, in die irgendwer ein großes Loch geschlagen hatte, und dann hatte sie sich umgedreht, hatte dem liegenden Dimitri Scheißzuhälter mit der Stiefelspitze einen energischen Tritt in die Eier verpasst und war dann sechs Stockwerke nach unten über die leere Steintreppe gelaufen.
Es lag in der Tasche, die über ihrer Schulter hing. Sie hörte es klingeln. Sie wusste, wer es war. »Ja?« »Alena?« »Ja.« Ihr wurde ganz warm, als sie Lydias Stimme hörte. Sie hatte Schmerzen, das konnte Alena hören. Das Reden fiel ihr schwer, aber ihre Stimme, es war so schön, die zu hören. »Wo bist du?« »Im Hafen.« »Du bist auf dem Weg nach Hause.« »Ich habe auf dich gewartet. Ich hab gewusst, dass du anrufen würdest. Danach. Danach wollte ich fahren.« Das Mobiltelefon war ein Geschenk gewesen. Von einem der Gesichter, an die sie sich nicht erinnern konnte. Lydia nahm immer einen Hunderter extra. Sie selbst wollte kein Geld, sie wollte Gegenstände, sie bekam Gegenstände, und die Männer bekamen Zusatzleistungen. Sie hatte Kleider bekommen, zwei Halsketten, Ohrringe. Dimitri hatte davon keine Ahnung. Auch nicht von dem Telefon. Es war
ziemlich neu. Das Gesicht, an das sie sich nicht erinnern konnte, hatte es mit ihnen beiden gleichzeitig machen dürfen. Es war Lydias Idee gewesen, sie hatte gewollt, dass sie ein Telefon hatten, für alle Fälle. »Was hast du vor?« »Wann?« »Wenn du nach Hause kommst.« »Ich weiß nicht.« »Hast du Heimweh?« Alena hielt den Atem an, sie sah das, was damals gewesen war, düster, chaotisch. Klaipėda war nicht sonderlich schön gewesen. »Ja. Ich will sie wiedersehen. Wie sie aussehen. Wie wir aussehen würden.« Sie erzählte, wie sie, ohne sich umzusehen, in der Völundsgata die Treppen hinuntergeflohen war, aus der Wohnung, die sie hasste, und dem Haus, das sie hasste, über einen langen Tag in der Stadt, darüber, dass sie jetzt schlafen wollte, nur eine Weile schlafen. Lydia sagte nicht viel. Ein wenig über das Krankenhaus, in dem sie beide schon einmal gewesen waren. Ein wenig über ihr Bett, über
die Verpflegung, über die Krankenschwester, die aus Polen kam und Russisch sprach. Nichts über die Striemen auf ihrem Rücken. »Du?« »Ja?« »Du musst mir helfen.« Alena schaute die Wasseroberfläche an, die eine Weile still hielt, sie sah ein verschwommenes Bild ihrer selbst, der baumelnden Beine und der Hand, die das Telefon an ihren Kopf hielt. »Ich helfe dir. Egal, wobei.« Lydia atmete langsam in den Hörer. Sie suchte nach Worten. »Kannst du dich an den Kellerraum erinnern?« Das konnte sie. Den harten Boden, die undurchdringliche Finsternis, die feuchte Luft. Dimitri hatte sie für zwei Tage dort eingeschlossen, als er Besuch gehabt hatte. Besuch, der ihre Betten brauchte. Er hatte nie erzählt, wer dieser Besuch gewesen war. »Ja. Natürlich.« »Dahin musst du gehen.« Der Wasserspiegel, ihr Bild verschwand jetzt, kleine Wellen eines vorüberfahrenden Motorbootes.
»Ich werde gejagt. Vielleicht von der Polizei gesucht. Ich kann mich nicht frei bewegen.« »Du musst es tun.« »Warum?« Lydia schwieg, gab keine Antwort. »Warum, Lydia?« »Warum? Es darf nie wieder passieren. Das, was passiert ist, darf nie wieder passieren. Deshalb.« Alena erhob sich. Sie ging am Hafenbecken entlang, hin und her zwischen zwei Meter hohen Dückdalben. »Was soll ich denn tun?« »Im Kellerraum steht ein Eimer. Und unter dem Handtuch, das dort liegt, liegt eine Waffe. Ein Revolver. Und daneben Semtex.« »Semtex?« »Sprengstoff. Und Zündhütchen. In einer Plastiktüte.« »Woher weißt du das?« »Das habe ich gesehen.« »Woher weißt du, was Semtex ist?« »Das weiß ich eben.« Alena Sljusareva hörte zu. Sie hörte zu, begriff aber nicht. Sie murmelte psst. Als Lydia nicht mit Reden
aufhörte, sagte sie das noch einmal, lauter. Sie fauchte in das Telefon, bis nur noch ihr Fauchen zu hören war. »Ich schalte jetzt ab. Du kannst in zwei Minuten wieder anrufen. Zwei Minuten reichen.« Um die Mittagszeit fuhr eine Fähre. In zweieinhalb Stunden. Die könnte sie nehmen. Sie hatte das Geld, sie hatte alles, was sie brauchte, in ihrer Tasche. Sie wollte nach Hause. An den Ort, den sie zu Hause nannten. Sie wollte die Augen zukneifen und vergessen, dass drei Jahre vergangen waren, sie war noch immer schön, noch immer fröhlich, sie war siebzehn Jahre alt und hatte Klaipėda nie verlassen, noch nicht einmal Vilnius hatte sie besucht. So war es aber nicht. Es war jetzt eine andere Zeit. Sie war eine andere. Wieder klingelte das Telefon. »Ich helfe dir.« »Danke. Ich liebe dich, Alena.« Sie lief noch immer unruhig zwischen den Dückdalben hin und her. Hin und her, während sie sich das Telefon ans Ohr hielt. »Nummer 46. Kleine Zahlen, ganz oben an der Tür.
Es ist ein kleines Hängeschloss, nicht weiter auffällig. Der Eimer steht gleich neben der Tür, wenn du reinkommst, rechts. Die Pistole steckt zusammen mit der Munition in einer kleinen Tüte. Der Sprengstoff gleich daneben. Du packst alles ein und fährst zum Bahnhof. Zu unserem Fach.« »Ich war gestern da.« »Noch alles vorhanden?« Alena zögerte. Ein viereckiges Schließfach in einer Betonmauer in einem Wartesaal. Dort bewahrten sie ihr Leben auf. Im Schließfach 21. »Alles noch vorhanden.« »Dann nimm unser Video von dort mit.« Das Video. Alena hatte es fast vergessen. Der ohne Gesicht, der immer verlangt hatte, gefilmt zu werden. Der sie einmal aufgefordert hatte, sich mit Lydia zu lieben. Sie hatte abgelehnt, aber Lydia hatte vor seinen Augen ihre Wange gestreichelt und erklärt, sie würden einander berühren, er könne das filmen, wenn sie nachher ihr eigenes Video aufnehmen dürften. »Jetzt?« »Ja. Jetzt ist es so weit. Wir werden es benutzen.« »Sicher?« »Ganz sicher.«
Lydia räusperte sich und holte Atem, um zu erklären. »Ich habe mir alles genau überlegt, seit ich hier liege. Mein Arm tut weh und mein Rücken brennt, ich kann nicht schlafen. Ich habe es aufgeschrieben. Habe gelesen, gestrichen, neu geschrieben. Alena, ja, ich bin ganz sicher. Irgendwer muss es erfahren. Es darf nie wieder passieren.« Alena blieb stehen, schaute zu der großen blauen Fähre hinüber, die einige hundert Meter weiter wartete. Sie würde nicht damit fahren können. Nicht heute. Morgen. Um dieselbe Zeit. Sie brauchte nur für eine weitere Nacht zu verschwinden, und das würde kein Problem sein. »Und dann?« »Dann kommst du her. Zum Söderkrankenhaus. Ich werde bewacht, wir können also nicht miteinander reden. Ich werde im Aufenthaltsraum vor dem Fernseher sitzen. Ich werde nicht allein sein, da sitzen immer noch andere Kranke, ich weiß nicht, woher die kommen. Ganz in der Nähe gibt es eine Toilette. Falls ich auf dem Sofa sitze, wenn du vorbeigehst, dann geh auf die Toilette und leg das, was du mitgebracht hast, in den Papierkorb
und deck es mit Papiertaschentüchern zu. Steck es in eine Plastiktüte, der Eimer kann feucht sein. Pistole, Munition, Sprengstoff. Video. Und eine Rolle Bindfaden. Ich brauche auch Bindfaden, kannst du den besorgen?« »Ich soll also an dir vorbeigehen und darf nicht mal Hallo sagen?« »Ja.« Alena Sljusareva drehte sich um, kehrte dem Wasser den Rücken zu, verließ den Hafen. Es wehte ein wenig, als sie die Straße erreichte, die das Hafengebiet durchschnitt, als sie an den Speichern vorüberging, in Richtung Gärdet. In der Stadt war viel los, Touristen, die verzweifelt konsumierten, während der Regen fiel. Sie war dankbar dafür. Je mehr hier unterwegs waren, desto mehr Möglichkeiten für sie, sich zu verstecken. Sie fuhr mit der U-Bahn, zuerst zum Stockholmer Hauptbahnhof und dem Schließfach, sie schloss es auf, zog das Video heraus, steckte es in ihre Handtasche, starrte in das dunkle Fach, das mit ihren gemeinsamen Habseligkeiten gefüllt war. Mit ihrem Leben. Dem einzigen Leben, zu dem sie sich
bekannten. Dem, was noch übrig war, nachdem drei Jahre vergangen waren. Sie war erst zweimal hier gewesen, gestern, und damals, als sie sich das Schließfach zugelegt hatten. Sie waren umgestiegen, vor fast zwei Jahren, Dimitri Scheißzuhälter hatte erklärt, dass sie für zwei Wochen ihre Tätigkeit aus der Wohnung in Stockholm in eine andere Wohnung in Kopenhagen verlegen würden, nicht weit vom Hafen und der Einkaufsmeile Strøget entfernt, vor allem betrunkene Schweden, die mit der Fähre aus Malmö kamen, die nach Toblerone und Bier rochen, und die oft für zweimal bezahlten, sie soffen noch eine Nacht und kamen dann zurück und wichsten oder penetrierten auch am nächsten Morgen, auf dem Weg nach Hause. Sie hatte behauptet, sie müsse zur Toilette, als sie auf den Zug nach Kopenhagen gewartet hatten, sie könne es einfach nicht mehr halten. Dimitri war mit ihnen allein gewesen und hatte ihr eingeschärft, ja nicht zu verschwinden, er würde Lydia sonst umbringen, wenn Alena nicht rechtzeitig für die Abfahrt wieder da wäre. Sie war sicher gewesen, dass er das ernst meinte, und sie hatte auch
nie die Absicht gehabt, ihre Freundin im Stich zu lassen, nie und nimmer. Sie wollte ein Schließfach, ein Zuhause. Einer ihrer Stammkunden, der Inhaber eines Installationsbetriebs in Strängnäs, der einmal in der Woche eine Stunde nach Stockholm zu ihr fuhr, hatte ihr von Schließfächern erzählt, die für zwei Wochen am Stück vermietet wurden, sie waren für zufällige Gäste in der Hauptstadt gedacht, wurden aber vor allem von Obdachlosen benutzt. Sie hatte ihre fünfzehn Minuten genutzt, um sich eins zuzulegen, statt auf die Toilette zu gehen. Sie war außer Atem, aber glücklich unmittelbar vor Abfahrt des Zuges zurückgekehrt, mit einem Schlüssel in jedem Schuh. Der Stammkunde mit der Installationsfirma hatte die Schlüssel nachmachen lassen und jedes Mal die Mietdauer verlängert, das war seine Bezahlung für Sonderdienste gewesen, aber das war die Sache auch wert. Das begriff sie jetzt, als sie vor der offenen Tür stand.
Es war jeden Schlag wert gewesen, zu wissen, dass es einen Ort gab, der nur ihnen gehörte, zu dem Dimitri Scheißzuhälter keinen Zugang hatte, egal, welche Drohungen er auch ausstieß. Sie wusste, dass sie nie mehr hierher zurückkehren würde. Sie nahm alles an sich, was ihr gehörte, Halsketten, Ohrringe, Kleidungsstücke, sie ließ Lydias Karton und ihr Geld zurück, jede hatte einen Schlüssel, wenn Lydia gesund war, konnte sie ihre Sachen abholen. Sie schloss ab und ging. Wieder die U-Bahn, die grüne Linie. Sie stand auf, verließ am St. Eriksplan den vollbesetzten Wagen, ging die Treppe hoch zu dem nassen Asphalt, hielt Ausschau nach dem vietnamesischen Restaurant, das ihr Wegweiser war. Sie musste daran vorbei und dann zu der anderen Treppe gehen, zu der schönen mit den steinernen Engeln dort, wo das Geländer befestigt war. Sie lief die Treppe hinunter zur Völundsgata. Sie sah den Streifenwagen, noch ehe sie die letzte Treppenstufe hinter sich gebracht hatte. Im Wagen saßen zwei Männer, beide in Uniform. Sie bückte sich, zog den einen Schuh aus, gab vor, den auszu-
schütteln, brauchte Zeit, sie musste schnell denken. Sie konnte nicht. Sie folgte den beiden Kindern, die mit ihren Fahrrädern am Streifenwagen vorbeigingen. Die Kinder achteten kaum auf das Auto. Sie konnte nicht denken. So war es eben. So war es immer. Sie zog den Schuh an, richtete sich auf, ging, als sei ihr der prasselnde Regen egal, gelassene Schritte, geradewegs auf die Haustür zu. Sie bewegten sich nicht. Sie saßen vorn im Auto und sahen sie vorübergehen. Sie ging ins Haus, wartete. Nichts. Sie saßen noch immer im Auto. Sie zählte bis sechzig. Eine Minute. In einer Minute würde sie weiter nach unten gehen. Sie hatte damit gerechnet, hinter sich Schritte zu hören, eine Stimme, einen Befehl, sich umzudrehen und langsam auf die Rückbank des Autos zuzugehen. Aber nichts. Sie schüttelte das ab, was sie nie zu sagen geschafft hatte, sie ging die Steintreppe hinunter. Zwei Trep-
pen. Sie ging nicht sonderlich schnell, wollte nicht heftig atmen, wollte leise sein, dachte an die Tür im sechsten Stock. Das klaffende Loch, wie eine Art Freiheit. Sie kniff die Augen zusammen, konnte noch immer die Schläge der Axt hören, mit denen ein Uniformierter das Holz zerschlagen hatte, als Dimitri Lydias Körper auf den Boden fallen ließ und dem Mann, der in die Wohnung kam, entgegenrannte. Sie blieb für einen Moment stehen, versuchte, die sich aufdrängende Atemnot zu unterdrücken. Fast ein Jahr von diesen dreien hatte sie hinter dieser Tür gewartet. Sie verstand es nicht. Sie war jetzt vierundzwanzig Stunden frei in der Stadt gewesen, und das reichte aus, um das Jahr zu verdrängen. Sie war niemals dort gewesen. Wenn sie es sich nur fest vornahm, dann war es so, dann war sie niemals in der Wohnung mit den beiden großen Betten gewesen, hatte nie in der Diele gestanden und die elektronischen Schlösser angestarrt. Sie ging weiter nach unten, bis zum letzten Treppenabsatz, wo der Keller begann. Die Tür, die den
Keller versperrte, war grau und aus kaltem Metall. Sie war nicht stark, würde sie aber aufbrechen können, mit einem Stemmeisen. Sie hatte das vor langer Zeit in Klaipėda schon einmal gemacht, es war eine schreckliche Nacht gewesen, aber wenn sie jetzt daran zurückdachte, erschien sie ihr als schöne Erinnerung an eine andere Zeit. Sie nahm die Tasche von der Schulter, stellte sie auf den Steinboden. Die Kleidungsstücke, die Plastikbehälter mit den Halsketten und Ohrringen, sie legte sie zur Seite, das Video, den aufgerollten Bindfaden legte sie daneben. Es lag ganz unten, das Stemmeisen. Im Haushaltswarenladen hatten sie gelacht, Stemmeisen und Bindfaden, wollen Sie einen Einbruch begehen, wie eine Einbrecherin sehen Sie aber wirklich nicht aus. Sie hatte ebenfalls gelacht. I live in an old house, hatte sie gesagt, you know, you just need a strong man and some tools. Sie hatte ihn angesehen, wie sie die angesehen hatte, die sich auf sie gelegt hatten, er hatte ihr die Rolle mit dem Bindfaden geschenkt und hatte ihr viel Glück gewünscht, mit dem alten Haus und den starken Männern.
Das Stemmeisen war leicht. Es war das leichteste, das es im Laden zu kaufen gab. Sie hob es, drückte die beiden Zähne ins Schloss und legte ihr ganzes Gewicht dagegen. Sie stemmte einmal, zweimal, dreimal. Nichts passierte. Sie hatte Angst, gehört zu werden, wagte nicht, noch fester zu drücken. Aber ihr blieb nichts anderes übrig. Sie drückte abermals die Zähne des Eisens gegen das Türschloss, bewegte das Eisen leicht hin und her, probierte, legte dann noch einmal ihr ganzes Gewicht dagegen und stemmte mit voller Kraft. Ein dumpfer Knall, als das Türschloss nachgab, das Geräusch jagte durch das Treppenhaus, alle Bewohner, die zu Hause waren, konnten es gehört haben. Sie legte sich hin, auf den Boden. Als wäre sie dann nicht so leicht zu sehen. Sie wartete. Sie zählte bis sechzig, und dann noch einmal. Ihr Handgelenk tat weh, sie hatte härter zugedrückt, als es ihrem Körper lieb war. Dann sechzig, noch einmal. Noch immer war alles still. Keine Wohnungstür wurde geöffnet, keine
Schritte waren unterwegs, um nach dem Rechten zu sehen. Sie erhob sich, suchte ihre Sachen zusammen, steckte sie wieder in die Tasche. Sie versetzte der Tür einen leichten Stoß, öffnete sie ganz. Ein langer Gang, weiße Betonwände, die ihr entgegenfielen. Ganz hinten noch eine Tür. Sie wusste, dass sich dahinter die vier Gänge mit den Kellerbuden befanden, dorthin war sie unterwegs. Sie stützte sich mit der Hand gegen das Metall, sie umklammerte das Stemmeisen und wollte gerade mit derselben Kraft wie vorhin zudrücken, als ihr aufging, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Sie öffnete die Tür. Es roch muffig, Vorratskammern, feuchte Teppiche. Es dauerte eine Weile, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Es roch auch nach etwas anderem. Herrenparfüm. Schweiß. So, wie Dimitri gerochen hatte. Wie einige von den Männern gerochen hatten. Sie blieb stehen. Ihre Brust schmerzte. Das Atmen fiel ihr schwer, es schien keine Luft zu kommen, so sehr sie auch darum rang. Alena dachte an die Fähre, für die sie ein Ticket
gekauft hatte, an das Wasser, in das sie vorhin geschaut hatte. Sie weinte. Sie weinte und schob sich vorsichtig im nächstgelegenen Gang an der Wand entlang, setzte sich hinter einen Kellerraum, der ein wenig in den Gang hinausragte, kniff die Augen zusammen, würde sie geschlossen halten, würde nur ein wenig ausruhen. Schließlich richtete sie sich auf, ihre Beine schienen unter ihr nachzugeben, ihr Kopf schmerzte. Sie machte kein Licht, sie brauchte den Kellerraum nicht zu sehen. Sie wusste, wo er lag. Sie hatte doch dort in der feuchten Luft gesessen, zwei Tage und zwei Nächte lang. Der Raum lag in einem der Mittelgänge. Wände aus braun gestrichenem Holz, ganz oben ein schmaler Lichtschacht. Zu schmal für sie, eher ein Lüftungsloch. Das Schloss, sie wiegte es in der Hand, nur ein schlichtes kleines Hängeschloss. Sie atmete tief durch. Sie schob das Stemmeisen zwischen das goldgelbe Viereck und den Stahlbügel. Sie stand dicht vor der Tür, stemmte das Werkzeug gegen das Holzbrett,
an dem der Schlossbügel befestigt war, nahm ihren Körper als Gewicht, so wie vorhin, ein weiteres Mal. Sie sah überrascht den Schlossbügel und das Hängeschloss an, die frei in der Luft hingen. Sie öffnete die Tür und ging hinein.
Es war noch immer Vormittag am Mittwoch des 5. Juni, und der Regen, der seit der Morgendämmerung herunterprasselte, strömte noch ebenso kräftig durch die Straßen, der Himmel war dunkel, wie an einem verschlafenen Novemberabend. Ewert Grens öffnete die Tür zu einem zivilen Dienstwagen, setzte sich auf den Beifahrersitz. Sven sollte fahren. Das verlangte Grens in letzter Zeit immer häufiger, es machte ihn müde, sich auf die Straße zu konzentrieren, er konnte das Licht nicht ertragen, das seine Augen zum Tränen brachte. Er alterte rapide und fand das schrecklich. Nicht den äußerlichen Verfall seines Körpers, der spielte für ihn keine Rolle mehr, das hatte er schon viele Jahre zuvor aufgegeben, er brauchte für niemanden mehr schön auszusehen. Es war die Kraft. Er hatte immer
alles ausgehalten. Er hatte seinen Motor gehabt, der hatte ihn vorangetrieben, hatte ihn gezwungen, seine Unruhe zu jagen. Sechsundfünfzig Jahre und allein. Was soll man da mit der Vergangenheit? Sven fuhr rasch, von Arlanda in die Stockholmer Innenstadt. Sie waren spät dran, es war ein seltsamer Morgen gewesen, es hätten nur einige Minuten sein sollen, die aber dann zu zwei Stunden in der Abflughalle 5 geworden waren. Sie hatten sehen wollen, wie der Mann, der Dimitri Scheißzuhälter genannt wurde, ein Flugzeug bestieg, das weiß und blau war und eine knappe Flugstunde bis Vilnius vor sich hatte. Sie hatten sich davon überzeugen wollen, dass er wirklich fort war, hatten ihm im nachmittäglichen Bericht ein Ende setzen wollen. Ewert starrte die zweispurige Straße vor sich an, hörte nicht die Gereiztheit in Svens Stimme. »Wir haben es eilig.« »Ja?« »Ich muss schneller fahren. Irgendwelche Kollegen unterwegs?« »Nicht dass ich wüsste.« Sven fuhr viel schneller, als es gestattet war, er
wollte nach Hause und hatte beschlossen, rechtzeitig dort einzutreffen. Dimitri Scheißzuhälter war ein so abgehakter Fall gewesen, wie sie es gehofft hatten. Er war zwischen zwei hochgewachsenen Wachen durch die Abflughalle gegangen und hatte sich bereit gemacht, um die Sicherheitsschleuse zu durchqueren. Ewert und Sven hatten ein Stück von ihm entfernt gestanden, bei den Eincheckschaltern, sie hatten seine nervösen Kopfbewegungen gesehen, seine viel zu kurzen Schritte, mit denen er nie vorwärtskam und womit er seinen Begleitern auf die Nerven ging. Er hatte gerade umständlich in allen Jackentaschen nach seiner Boardingcard gesucht, als ein mit einem Anzug bekleideter untersetzter kleiner Mann von etwa sechzig auf ihn zugegangen war, ihn laut angeschrien und ihm auf die Wange geschlagen, für mehrere Minuten die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, weil er mit den Händen in der Luft herumfuchtelte und Dimitri Scheißzuhälter anschrie, der langsam in sich zusammensank, den Kopf einzog. Der ältere Mann hatte ihm noch eine Ohrfeige verpasst, hatte ihm einen Stoß in den Rücken versetzt und ihn auf die
Sicherheitsschleuse zugeschoben, durch die er in den nächsten Wartesaal gelangen würde, fort. Ewert und Sven hatten gewartet. Es gab Ordnungspersonal, das eingreifen würde, wenn es nötig wäre. Sie waren hier, um sich davon zu überzeugen, dass ihnen der Anblick dieses Frauenschinders von nun an erspart bleiben würde, das war ihre einzige Aufgabe. Der Ältere hatte sein Geschrei beendet, Dimitri Scheißzuhälter den Rücken zugekehrt und war dann langsam auf Ewert und Sven zugekommen. Er hatte nicht gezögert, hatte die ganze Zeit gewusst, wo sie standen und dass sie alles sahen. Jetzt näherte er sich ihnen mit überraschend leichten Schritten, die Aktentasche in der einen Hand, einen Regenschirm in der anderen. Er blieb vor ihnen stehen, nahm den Hut ab, reichte beiden die Hand. Der Wagen verließ die Ausfahrt, sie fuhren jetzt über die E4, auf dem Weg zur nördlichen Zufahrtsstraße nach Stockholm. Der Regen erschwerte die Sicht, die Scheibenwischer jagten hin und her, aber Sven musste trotzdem langsamer fahren. Ewert seufzte laut, schaltete das Autoradio ein.
Der ältere Mann mit dem Hut in der Hand hatte einen Namen genannt, den Ewert gleich nach dem Hören wieder vergessen hatte. Er hatte gelassen vor ihnen gestanden, während Flugreisende fluchend und stoßend an ihm vorbeigehastet waren, er hatte mit ihnen gesprochen, als Dimitri Scheißzuhälter irgendwo hinter seinem Rücken verschwand. Er hatte sich als Sicherheitschef der litauischen Botschaft in Stockholm vorgestellt und sie zu einem Glas einladen wollen. Ewert hatte dankend abgelehnt, er war müde und durstig und hätte gerade an diesem Morgen nichts gegen frühen Alkohol einzuwenden gehabt, aber da Sven bei ihm war, wäre das nicht gegangen. Aber doch wenigstens eine Tasse Kaffee, darauf hatte der Botschaftsmann beharrt, eine Tasse Kaffee in der Bar im ersten Stock, neben der Rolltreppe. Sie hatten eine Sekunde zu lange gezögert, und er hatte auf einen Tisch an einer Glaswand gezeigt, die Ausblick auf die Landebahn bot. Er war selbst zum Tresen gegangen und hatte drei Tassen Kaffee und ebenso viele Heißwecken gekauft und hatte sie bedient und sich dann ihnen gegenüber auf
den freien Stuhl gesetzt, hatte eine Weile schweigend gewartet, seine Tasse zur Hälfte geleert. Er hatte gut Englisch gesprochen, mit starkem Akzent, aber doch viel besser als Ewert und Sven. Er hatte um Verzeihung für den Auftritt von vorhin gebeten, er sei gegen Gewalt und laute Stimmen, aber ab und zu sei beides nötig, das hier sei so ein Fall gewesen. Dann hatte er sich bei ihnen bedankt. Hatte eine komplizierte Rede gehalten, im Namen der litauischen Bevölkerung. Er hatte sie dann lange angesehen, ehe er erklärt hatte, wie bestürzt er sei, nach allem, was nun über seinen Botschaftskollegen Dimitri Simait, so hieß der Mann also, ans Licht gekommen sei, wie peinlich es sei für ein Land, das langsam versuchte, nach Jahrzehnten der Unterdrückung auf die Beine zu kommen. Er hatte nach ihrem Versprechen gefischt, die Sache unter den Tisch zu kehren, sie hätten doch selbst sehen können, dass Dimitri Scheißzuhälter aus dem Land entfernt werde, und dabei könnten sie es doch bewenden lassen. Ewert Grens und Sven Sundkvist hatten sich höflich für den Kaffee und die klebrigen Heißwecken
bedankt, hatten sich dann zum Aufbruch bereit gemacht, hatten kühl erklärt, dass eine solche Ermittlung sich nicht totschweigen lasse, dass sie dazu jedenfalls nicht beitragen würden, dass das bei Menschenhandel nur selten der Fall sei. Der Klanghintergrund des Autoradios, Ewert hatte dieses Gedudel schon längst satt. Er hielt eine seiner eigenen Kassetten in der Hand. »Sven?« »Ja?« »Hörst du zu?« »Ja.« »Da kommt aber nicht viel.« »Ich möchte die Verkehrsinformationen hören, wir nähern uns der Ausfahrt.« Jetzt schalte ich um. Auf das hier.« Grens unterbrach den Mann, der bei Radio Stockholm über Auffahrunfalle redete, schob die Kassette mit Siw Malmkvist ein, die er selbst zusammengestellt hatte. Ihre Stimme, er kniff die Augen zusammen, er konnte wieder denken. Der litauische Botschaftsangehörige hatte rosige Wangen gehabt, als sie im Cafe mit Ausblick auf die Landebahn aufgestanden waren, er hatte sie
angefleht, noch einen Moment sitzen zu bleiben, ihn doch wenigstens anzuhören. Er hatte dabei müde geklungen, Ewert und Sven hatten einen Blick gewechselt und sich wieder gesetzt, seine schütteren Haare hingen ihm in die Stirn, er schwitzte heftig, glänzte im grellen Licht der Neonröhren. Er hatte ihre Hände gesucht, hatte die nächstliegende gepackt, dann seine eigenen Wurstfinger darauf gelegt und dort liegen lassen. Mehrere hunderttausend junge Frauen, hatte er gesagt. Aus Osteuropa. Mehrere hunderttausend Leben! Beim illegalen Sexgeschäft im Westen. Und während sie hier darüber redeten, wurden es noch mehr. Gerade jetzt wurden es noch mehr. Unsere Mädchen. Unsere Mädchen! Er hatte die Hände der beiden gedrückt, seine Stimme hatte verzweifelt geklungen. Es liegt an der Arbeitslosigkeit, hatte er dann gesagt. Es ist nicht schwer, so ein Mädchen zu überreden. Was glauben denn Sie? Sie sind jung, sie suchen Arbeit, Versorgung, Zukunft. Sie sind anständig, die Männer versprechen ihnen die Welt. Die Männer versprechen und drohen und verkaufen sie in Räume mit elektronischen Schlössern, wie
die beiden Mädchen in der Völundsgata. Das war doch ihre Adresse, nicht wahr? Und danach, wenn der Mann, der versprochen und gedroht hat, seine Tausender kassiert hat, dann verschwindet er. Sie wissen schon, keine Verantwortung, keine Investitionen, keine Risiken. Geld. Geld und dann Schluss! Der Botschaftsangehörige hatte plötzlich ihre Hände gehoben. Ewert hatte Sven wütend angestarrt und protestieren wollen, hatte dann aber beschlossen, noch sitzen zu bleiben, der kleine Mann hatte ihre Hände an seine Wangen geführt, hatte sie dort festgehalten, hart. Verstehen Sie, hatte er gefragt, tun Sie das? In meinem Litauen ist es ein schwerwiegendes Verbrechen, mit, ja, sagen wir Drogen zu handeln. Viele Urteile, harte Urteile, lange Strafen. Aber der Handel mit jungen Frauen, der ist ganz ungefährlich. In Litauen werden Zuhälter kaum bestraft. Kein Urteil, keine Strafe. Ich sehe, was mit unseren Kindern geschieht. Ich weine mit ihnen. Aber ich kann nichts dagegen tun. Verstehen Sie, wirklich? Sie näherten sich der Abfahrt nach Norrtull.
Ewert ließ langsam das Bild des verzweifelten kleinen Mannes los, der mit seinem Hut und seiner Aktentasche um Verständnis flehte, er tauschte es gegen das nächste aus, lange Schlangen von regennassen Autos. Die Ampeln verschlangen immer zehn Fahrzeuge, rasch gerechnet, und er stellte fest, dass noch mindestens zweihundert Wagen vor ihnen an die Reihe kommen mussten, sie hatten also noch über zehn Minuten Wartezeit vor sich. Sven fluchte genervt, das machte er nicht oft, sie waren spät dran, sie würden sich noch mehr verspäten. Ewert ließ sich auf dem Beifahrersitz zurücksinken, drehte lauter, ihre Stimme. Das fünfte Rad am Wagen will ich bei dir nicht sein, oh no, da sag ich nein, das ertränkte Svens Flüche und das Gehupe der Idioten. Ewert ruhte, tief, tief drinnen, da gab es etwas, auch wenn es lange her war, wenn alles ein schlichtes Schwarzweißfoto war, das die ganze Zeit auf ihn wartete. Er musterte die leere Plastikhülle in seiner Hand, das Bild von Siw, das er selbst bei einem Konzert aufgenommen hatte, sie lächelte in die Kamera, sie hatten kurz miteinander geredet, sie hatte ihm danach zuge-
winkt und war gegangen, er sah sich die Liste der Stücke an, die er selbst ausgesucht, notiert, aufgenommen hatte. Er hörte Siw zu, musste aber weiterhin an den kleinen Botschaftsangehörigen und seine Verzweiflung denken. Ewert und Sven hatten, als der Kaffee ausgetrunken war, endlich ihre Hände losmachen können, sie hatten sich für die Einladung bedankt und gerade das Cafe verlassen, als er hinter ihnen herrief. Er hatte sie gebeten, auf ihn zu warten. Danach war er zwischen ihnen gegangen, und auf der Treppe hatte er ihnen erklärt, dass Lydia Grajauskaitė und ihr Vater ihm sehr wohl bekannt seien. Dass er nicht nur nach Arlanda gekommen sei, um sich davon zu überzeugen, dass Dimitri Simait plangemäß das Flugzeug besteigen würde, sondern dass es auch um Respekt und Trauer gehe, die Geschichte des Vaters sei sehr traurig und scheine nie ein Ende zu nehmen. Er hatte geschwiegen, bis sie die Eingangshalle erreicht hatten, dann hatte er weitergeredet, er hatte von einem Mann erzählt, der ins Gefängnis gesteckt wurde und seine Familie verlassen musste, weil er nicht heucheln wollte, sondern voller Stolz
in einer Gesellschaft, die das nicht zuließ, die litauische Flagge gezeigt hatte, dass er nach Absitzen seiner Strafe seine Stellung beim Militär verloren hatte und einige Jahre darauf wegen Gefährdung der Landessicherheit abermals zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war, auf aufsehenerregende Weise hatte er – zusammen mit drei ehemaligen Kollegen, die noch immer bei der Armee angestellt waren – Waffen gestohlen, aus dem Land geschmuggelt und an eine fremde Macht verkauft. Der Botschaftsangehörige hatte seinen Bericht dann plötzlich unterbrochen und das tragische Schicksal der jungen Frau beklagt, dann hatte er beiden die Hand gereicht und war zwischen den Schlange stehenden Reisetaschen vor den Eincheckschaltern verschwunden. Ewert und Sven hatten ihm lange hinterhergeschaut, er schien das erledigt zu haben, weshalb er eigentlich gekommen war, er hatte einen Ereignisverlauf dargestellt, der ihn aus irgendeinem Grund berührte, und er hatte zwei schwedischen Polizisten gegenüber versucht, ein wenig von seiner unerträglichen Last loszuwerden.
Ewert Grens wandte für einen Moment seine Blicke vom Kassettenrekorder ab und ließ sie an den wartenden Autos entlangwandern, die noch immer nicht weniger geworden waren. Sven rutschte auf dem Fahrersitz unruhig hin und her, drückte leicht auf das Gaspedal, ließ den Motor aufbrausen. »Ewert, wir schaffen das nicht.« »Nicht jetzt. Ich will zuhören. Siw.« »Ich hab es versprochen. Ich habe es auch dieses Mal versprochen.« Sven Sundkvist wurde einundvierzig. Er hatte morgens Anita und Jonas schlafend zurückgelassen, sie wollten später feiern, schon zum Mittagessen hatte er im Reihenhaus in Gustavsberg sein wollen. Er hatte sich den ganzen Nachmittag freigenommen, an Geburtstagen, zumindest an Geburtstagen wollte er die Frau umarmen, die er schon seit der Schulzeit liebte, zumindest dann wollte er wissen, dass er neben Jonas sitzen und dessen Hand drücken konnte, bis der Junge protestierte. Jonas war das Kind, auf das sie fast fünfzehn Jahre gewartet hatten. Sie hatten sich schon früh für ein gemeinsames
Leben entschieden. Aber es war ihnen nicht ganz gelungen. Anita war dreimal schwanger geworden, beim ersten Mal hatte sie im siebten Monat eine Totgeburt gehabt. Sie war im Krankenhaus gezwungen worden, die Geburt einleiten zu lassen, sie hatte Wehen gehabt und gepresst und am Ende in seinen Armen geweint und das tote kleine Mädchen an sich gedrückt. Danach gab es zwei weitere Fehlgeburten, kleine Herzen, die plötzlich nicht mehr schlagen wollten. Ihre Sehnsucht, er konnte sie immer wieder spüren, wie lange hatte diese Sehnsucht all ihre Handlungen beeinflusst, hatte alles gestohlen, was sie gemeinsam hatten und hätte sie selbst und ihre Liebe zueinander fast umgebracht. Bis sie vor fast acht Jahren gemeinsam zweihundert Kilometer im Westen von Phnom Penh eingetroffen waren, der Vertreter der Adoptionsagentur hatte sie am Flughafen abgeholt und ihnen den Weg durch die Landschaft gezeigt, in der sie noch nie unterwegs gewesen waren. Er hatte dort gelegen, in einem schlichten Bett im lokalen Waisenhaus, er hatte Arme und Beine und Haare gehabt und schon damals Jonas geheißen.
»Ich müsste jetzt im Bus nach Värmdö sitzen.« »Das schaffst du noch.« »Oder wenigstens an der Bushaltestelle bei Slussen stehen.« »Da bist du doch bald.« Er hatte es versprochen. Auch in diesem Jahr. Er erinnerte sich an das vorige Mal, es war genau ein Jahr her, er war vierzig geworden, sie hatten eine Hitzewelle gehabt und die Sahnetorte war im Auto ranzig geworden, während ein fünfjähriges Mädchen mit zerfetztem Unterleib in einem Wald bei Strängnäs entsorgt worden war. Er war damals auf dem Weg nach Hause gewesen, und Jonas hatte am gedeckten Tisch gewartet, und es war schwer gewesen, am Telefon zu erklären, warum jemand ein Kind zerschnitt und dass er deshalb noch nicht so bald nach Hause kommen konnte. Er sehnte sich nach den beiden. »Ich schalte das Blaulicht ein. Ist mir doch scheißegal. Ich will nach Hause.« Sven sah Ewert an, und der zuckte mit den Schultern. Er setzte die Plastikkugel auf das Autodeck und wartete, bis die Sirene einsetzte. Er brach aus der stillstehenden Warteschlange aus, kreuzte zwei
geschlossene Linien, fuhr im Zickzack zwischen den Autos, die versuchten, an Stellen auszuweichen, die es nicht gab. Einige Minuten, dann lagen die Schlange und die drei Ampeln hinter ihnen, und sie waren auf dem Weg in die Innenstadt. Und dann wurde der Alarm gegeben. Sie hörten es nicht sofort, da waren die Sirene und Siw Malmkvist, der Anruf ertrank darin. Eine Ärztin hatte Hilding Oldéus gefunden. Tot, auf einer Treppe, unmittelbar vor der Station, wo er nach einer Überdosis behandelt worden war. Oldéus war übel zugerichtet worden, es war schwer, ihn wiederzuerkennen. Die Ärztin hatte mit schwacher Stimme berichtet, dass er Besuch gehabt hatte, sie selbst hatte den Besucher empfangen. Ihre Beschreibung, und deshalb waren Grens und Sundkvist angerufen worden, war unmissverständlich: hochgewachsener Mann, geschorener Schädel, solariumbraun, eine Narbe vom Mund bis zur Schläfe. Ewert starrte vor sich hin, er schien zu lächeln. »Vierundzwanzig Stunden, Sven. Es hat vierundzwanzig Stunden gedauert.« Sven sah ihn an.
Er dachte an Anita und Jonas, die warteten, sagte aber nichts. Er wechselte die Spur, fuhr in Richtung Västerbrücke, zum Söderkrankenhaus.
Sie saß ganz hinten im Bus. Fast allein, eine ältere Frau einige Reihen weiter vorn, eine mit Kinderwagen auf der Freifläche in der Mitte. Sonst niemand. Alena Sljusareva hatte auf mehr gehofft, wenn viele Leute in der Nähe waren, war es leichter zu verschwinden, aber alle waren zwei Haltestellen früher ausgestiegen, bei der Eriksdalshalle, Leute in Trainingsanzügen unterwegs zu irgendeiner Sportveranstaltung. Sie verließen den Ringväg, fuhren an der Notaufnahme des Söderkrankenhauses vorbei, die sie und Dimitri einige Zeit zuvor besucht hatten, als jemand, der Sonderleistungen wollte, zu weit gegangen war und vorher nicht abgesprochene Dinge getan hatte. Den kleinen Hang hoch, dann der Halbkreis, die Haltestelle lag genau vor dem Haupteingang, sie hatte nicht auf den Halteknopf gedrückt,
aber der Bus hielt trotzdem an, das hier war die Endhaltestelle. Sie schaute sich um. Wenn sie beobachtet wurde, dann war das nicht zu entdecken. Sie hielt sich den Regenschirm so dicht vor den Kopf, dass er ihr Gesicht verbarg. Sie ging in das riesige Foyer, musterte vorsichtig die mit metallenen Kunstwerken bedeckten Wände, schielte hinüber zu den harten Bänken, wo Besucher Kaffee aus Pappbechern tranken, dann warf sie hastige Blicke in die verschiedenen Gänge. Niemand drehte sich um, niemand schien sie zu beachten. Alle waren damit beschäftigt, ihr eigenes Leben zu heilen, ihren eigenen Körper. Sie ging hinein, machte einige Schritte nach rechts, zum Zeitungskiosk und dem daneben gelegenen Blumenladen. Sie kaufte eine Schachtel Pralinen, eine Illustrierte und einen Blumenstrauß in durchsichtiger Folie. Sie bezahlte und trug alles sehr gut sichtbar, alle sollten sehen, dass sie jemanden besuchen wollte, dem es schlechtging, sie war eine von vielen, die in der Mittagspause einen Besuch einschoben, nur eine von den anderen.
Der Fahrstuhl zur Chirurgischen Abteilung lag ganz weit hinten. Der lange Gang, der sich durch das endlose Haus fraß, ihr begegneten frisch Eingewiesene unterwegs zu irgendeiner Untersuchung, dann solche, die langsam dahinschwanden, und die, die nicht wussten, wo sie waren, die es niemals begreifen würden. Die Gänge, die nach links und rechts führten, solche wie der, durch den sie ging, es gab so viele, sie mochte sie nicht. Der Fahrstuhl stand offen und wartete auf sie. Siebter Stock, sie musste nach ganz oben. Sie war allein in dem engen Gelass, sie sah eine Person im Spiegel, eine, die zwanzig Jahre alt war, die einen viel zu großen Regenmantel trug, die nach Hause wollte, die einfach nur nach Hause wollte. Die Pralinenschachtel und den Blumenstrauß, sie packte beides fester, als die Türen aufgingen, hielt sie vor sich wie einen Schild. Ein Arzt ging an ihr vorbei, er hatte es eilig, verschwand, als er den halben Gang hinter sich gebracht hatte, in einem Zimmer mit geschlossener Tür. Zwei Patienten kamen aus der Gegenrichtung, gingen an ihr vorbei, in schlichter Krankenhauskleidung, mit Plastikriemen um die Handgelenke, sie sah sie kurz an, über-
legte, ob sie schon lange dort waren, ob sie diesen Ort je wieder verlassen würden. Das Fernsehzimmer lag auf der linken Seite. Sie hörte die lauten Stimmen einer Nachrichtensendung, als sie näher kam, hörte, wie die Erkennungsmelodie um Aufmerksamkeit bat und einen Moment lang wichtig zu sein versuchte. Sie sah den Bewacher, der ganz still dastand. Grüne Uniform, Gummiknüppel, Futteral für Handschellen, verschränkte Arme. Sein Gesicht war dem Sofa und den dort Sitzenden zugekehrt. Zwei junge Männer, beide in Straßenkleidung. Neben ihnen eine Frau. Ihr Gesicht war zerkratzt, ein Arm in Gips, ihre Augen abwesend, sie starrte den Mann auf dem Fernsehschirm an, sah ihn aber nicht. Alena wollte ihren Blick einfangen, und sei es nur für einen Moment, aber die andere bewegte sich nicht, sie saß ganz still da, als ob nichts sonst existierte. Einige Schritte und sie hatte den Bewacher und die drei auf dem Fernsehsofa hinter sich gebracht. Vor ihr endete der Gang, sie sah in der Querwand eine Toilettentür mit einem Behindertensymbol. Sie öffnete die Tür, ging hinein, schloss die Tür, verriegelte sie.
Sie zitterte. Sie ließ alles fallen, was sie in den Händen gehabt hatte, und beugte sich vor, beide Hände gegen die Wand gestützt, als Hilfe für die Beine, die ihr nicht gehorchen wollten. Sie sah wieder jemanden im Spiegel. Eine, die nach Hause wollte. Die nach Hause wollte. Sie streifte die Tasche von ihrer Schulter, stellte sie auf den Toilettendeckel. Die Plastiktüte darin war zusammengeknüllt, sie hatte versucht, sie so klein wie möglich zu machen. Sie zog sie aus der Tasche, wiegte sie für einige Sekunden in der Hand, dann legte sie sie in den Papierkorb unter dem Waschbecken. Sie drehte den Wasserhahn auf, das hätte sie gleich machen müssen, sie hätte das Wasser fließen lassen müssen, sie verfluchte ihre Dummheit und drückte sicherheitshalber auf die Spülung, diese Geräusche musste es geben, damit niemand sie hörte. Sie suchte in dem fast leeren Behälter an der Wand nach Papiertüchern, sie zerknüllte sie ausgiebig und legte sie dann in den Papierkorb, auf die nunmehr unsichtbare Plastiktüte.
Lydia hatte Schmerzen. Ihr Körper bestrafte sie für jede Bewegung, und sie hatte die polnische Krankenschwester eben um zwei Morphiumtabletten gebeten, um die Schmerzen zu dämpfen. Sie saß auf dem Fernsehsofa neben zwei Jungen, die sie schon morgens beobachtet hatte, denen sie mehrmals zugelächelt, mit denen sie aber noch nicht gesprochen hatte, das wollte sie nicht einmal versuchen, sie wollte nichts über diese beiden wissen. Vor ihr lief eine Nachrichtensendung und berichtete über etwas, wovon sie keine Ahnung hatte, auf der anderen Seite stand der Bewacher, der sie nicht aus den Augen ließ. Aus den Augenwinkeln hatte sie eine Frau vorbeigehen sehen, eine Frau mit einer Pralinenschachtel und einem Blumenstrauß. Seither fiel ihr das Atmen schwer. Sie wartete darauf, dass die Tür wieder geöffnet wurde, dass die Schritte der Frau verschwanden. Sie wollte die Augen zukneifen, sie wollte sich bäuchlings aufs Sofa legen, sie wollte einschlafen und erst aufwachen, wenn alles vorüber wäre. Es dauerte nicht lange. Oder vielleicht doch. Sie wusste es nicht.
Die Frau öffnete die Toilettentür. Lydia hörte es deutlich, die Fernsehsendung, die so laut war, ließ sich aussperren, in ihr gab es nur die Geräusche, die vom Gang herkamen. Die Schritte der Frau, sie näherten sich, sie sah das, was sich wieder bewegte, ohne den Kopf zu drehen spürte sie, dass der Körper vorüberging, ahnte einen Menschen, der rasch in die Richtung verschwand, aus der er eben erst gekommen war. Lydia schielte zu dem Mann in der grünen Uniform hinüber. Er registrierte die vorübergehende Besucherin, mehr aber nicht, er schaute ihr nicht hinterher, er hatte sie in dem Moment vergessen, in dem sie die Station verließ. Lydia bat die beiden Jungen aufzustehen, sie wollte das Sofa verlassen, vorbeigehen. Dann sah sie den Bewacher an, nickte ihm zu, zeigte auf ihren Unterleib und die Toilettentür. Er nickte zurück, sie könne gehen, er werde hier bleiben. Sie verriegelte die Tür. Sie setzte sich auf den Toilettendeckel. Sie atmete tief durch. Es würde nie wieder passieren. Sie erhob sich, hinkte ein wenig, Dimitri Scheißzu-
hälter hatte ihr einen brutalen Tritt gegen die Hüfte versetzt. Sie drehte das Wasser auf, ließ es laufen. Sie betätigte zweimal die Toilettenspülung. Sie ging zum Papierkorb, nahm mit ihrem unverletzten Arm die oben liegenden Papiertücher heraus. Lydia erkannte die Plastiktüte. Eine ganz normale, mit dem Logo der Supermarktkette ICA. Sie zog sie aus dem Papierkorb, öffnete sie. Alles war vorhanden. Pistole, Sprengstoff, Video, Bindfaden. Sie wusste nicht wie, aber Alena hatte ihren Wunsch erfüllt, war zum Schließfach 21 im Hauptbahnhof gegangen, hatte die Völundsgata besucht, war ungesehen von den vermutlich dort aufgestellten Wachtposten ins Haus gelangt, sie war sogar durch zwei verschlossene Türen in den Keller gegangen. Sie hatte ihre Aufgabe erfüllt. Jetzt war Lydia an der Reihe. Die Kleidung, die fast alle Patientinnen und Patienten hier trugen, war weiß und alles andere als figurbetont. Lydias langer Kittel war schon von Anfang an viel zu groß gewesen, sie hatte jedoch gebeten, ihn gegen einen noch größeren eintauschen zu können. Dieser Kittel hing nun über ihrem Körper, der nicht existierte. Sie nahm das weiße Kran-
kenhausklebeband aus der einen Kitteltasche, wickelte es zweimal um ihren Körper und befestigte auf diese Weise die Pistole auf der rechten Seite ihres Brustkorbs, noch zweimal wickeln und der Sprengstoff saß rechts, Video und Bindfaden lagen noch in der Plastiktüte, die sie unter ihren Kittel schob und gegen ihren Bauch presste, sie zog ihre Unterhose hoch und dann zurecht, bis die Tüte darin steckte. Sie schaute ein letztes Mal in den Spiegel. Ihr Gesicht war zerschlagen, sie betastete vorsichtig einige der großen Blutergüsse um ihre Augen. Der Hals war eine weiße Bandage, von einem Stützkragen umgeben. Der linke Arm in seinem Gipsverband hing starr nach unten. Es würde nie wieder passieren. Lydia öffnete die Toilettentür, hinkte leicht. Einige Schritte über den Gang, der Bewacher drehte sich zu ihr um, sie gab ihm mit den Fingern der unversehrten Hand ein Zeichen, sie wollte nicht zurück zum Fernsehsofa, sondern auf ihr Zimmer und wieder ins Bett. Er begriff, nickte kurz. Sie ging langsam, ließ ihre Finger noch ein Zeichen geben, er sollte mit ihr kommen, auf ihr Zimmer. Er blieb
stehen, hob die Arme. Sie gab ihm noch ein Zeichen, zeigte auf ihn und sich und ihre Zimmertür, er solle hineingehen, sie brauche Hilfe. Er hob die Hand, er hatte verstanden, sie brauchte nicht mehr zu erklären. Er murmelte ein »Okay«, sie lächelte und machte einen so tiefen Dankesknicks, wie sie nur konnte, dann ging sie vor ihm her durch die Tür. Sie wartete, bis sie sicher war, dass er sich innerhalb ihrer Zimmerwände befand. Bis sie hinter sich seinen Atem hörte. Dann ging alles schnell. Sie entfernte, noch immer mit dem Rücken zu ihm, das Klebeband, das die Pistole gegen die rechte Seite ihres Brustkorbs gedrückt hatte. Sie drehte sich um. Sie zeigte dem Bewacher ihre Waffe. Sie hob sie hoch, entsicherte sie. »On knee!« Sie zeigte mit der Pistolenmündung auf den Boden, ihr Englisch war unbeholfen, sie sprach mit sehr starkem Akzent. »On knee! On knee!« Er stand vor ihr. Er zögerte. Er sah eine Frau, die nur einen Tag zuvor bewusstlos in die Notaufnah-
me gebracht worden war. Sie hinkte, ein Arm war eingegipst, ihr Gesicht blau geschlagen. Sie sah in ihrem weiten Kittel aus wie ein verängstigter Vogel. Jetzt zielte sie mit einer Waffe auf ihn. Lydia sah sein Zögern. Sie hob den Arm. Sie wartete. Sie war erst neun Jahre alt gewesen. Ihr fiel ein, wie sie an den Tod gedacht hatte, sie hatte es nie zuvor getan, nicht auf diese Weise, sie hatte neun kurze Jahre gelebt, und ein Mann in Uniform, so wie der Mann, der hier vor ihr stand, hatte mit einer Pistole auf ihren Kopf gezielt und »zatknis, zatknis« geschrien und die Spucke aus seinem Mund hatte auf ihrem Gesicht geklebt. Papa hatte gezittert und geweint und gerufen, wenn sie seine Unterwerfung wollten, die könnten sie haben, wenn sie nur aufhörten, den Pistolenlauf auf den Kopf seiner Tochter zu richten. Jetzt bedrohte sie selber einen Menschen mit einer Pistole. Sie hielt die Pistole vor den Kopf eines Menschen, so, wie andere eine Waffe gegen ihren Kopf gehalten hatten. Lydia wusste, was das für ein Gefühl war. Sie wusste, wie diese verdammte Angst alles zerstörte, was es in diesem Kopf gab, ein ein-
ziger Druck mit dem Finger, das Leben konnte von einem Moment auf den anderen zu Ende sein, er konnte noch denken, dass er nie wieder riechen, schmecken, sehen, hören, fühlen würde, er begriff, dass er nie wieder teilnehmen würde, dass das, was sich in seiner Umgebung abspielte, weitergehen würde, nur er hörte auf, nur er. Sie dachte an Dimitri und seine Pistole, die er so oft auf ihren Kopf gerichtet hatte, dass sie es gar nicht mehr zählen konnte. Sie dachte an sein Lächeln, das das Lächeln des Militärpolizisten war, als sie neun Jahre alt gewesen war, und das viel später auch das Lächeln aller Männer gewesen war, die auf ihr gelegen, sie angefasst hatten, in sie eingedrungen waren. Lydia hasste sie. Sie sah den Bewacher an, der vor ihr stand, und sie wusste, was es für ein Gefühl war, sie wusste, was er angesichts der auf seinen Kopf gerichteten Pistole empfand, sie hielt die Waffe weiterhin hoch, sie schaute ihn an, schweigend. Er sank auf die Knie. Er faltete hinter dem Nacken die Hände. Lydia zeigte wieder mit der Pistolenmündung,
zeigte ihm, dass er sich umdrehen, ihr den Rücken zukehren sollte. »Around! Around!« Er zögerte nicht mehr. Er drehte sich um, lag vor ihr auf den Knien, mit dem Gesicht zur Tür. Sie drehte die Waffe um, hielt den Kolben gegen seinen Nacken, schlug so hart zu, wie sie das überhaupt nur konnte, traf seinen Hinterkopf. Er fiel rückwärts, er hatte das Bewusstsein schon verloren, als er auf den Boden auftraf. Sie hob die Plastiktüte wieder hoch, sie hielt sie sichtbar in der Hand, wie irgendeine beliebige Plastiktüte, sie lief hinaus auf den Gang, zu den Fahrstühlen. Es dauerte einige Minuten, bis einer kam. In dieser Zeit gingen Menschen an ihr vorbei, sie achteten kaum auf sie, sie liefen geradeaus weiter, waren in ihre eigenen Reisen vertieft. Sie betrat den Fahrstuhl, drückte auf den untersten Knopf. Sie dachte nicht sehr viel, als sie dort stand. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Sie fuhr bis ganz nach unten. Als der Fahrstuhl zum Stillstand kam, trat sie hinaus, ging durch den hellen Gang zur Leichenhalle.
Jochum Lang saß auf einer Bank in der großen Wartehalle des Söderkrankenhauses, als Alena Sljusareva vorbeiging. Er sah sie nicht, ganz einfach, weil er nicht wusste, wer sie war. Sie sah ihn nicht, ganz einfach, weil sie nicht wusste, wer er war. Er saß auf der Bank, versuchte, seinen Widerwillen abzuschütteln. Er hatte schon lange keinen Bekannten mehr umgebracht. Selbst schuld. Geschieht ihm recht. Er brauchte ein paar Minuten, nur das, musste sich einen Moment setzen, seinen Gedanken freien Lauf lassen, begreifen, woher diese Anspannung rührte. Hilding hatte sich verzweifelt an die Fahrstuhltüren geklammert. Er hatte geweint und gefleht und ihn mit Vornamen genannt. Er wusste, dass Hilding ein Scheißjunkie war. Dass er fixte. Dass er fixen würde, bis sein magerer Körper es nicht mehr aushielt. Dass er seine Spritzen hatte und für die wirklich jeden Menschen ruinieren würde. Aber es gab keine besonderen Feinde, keinen Hass, keine Absichten, es gab nur das Blut,
das mit einer chemischen Substanz vermischt werden sollte, um alles auszusperren, was er nicht mehr ertragen konnte. Jochum seufzte. Es war nicht so gewesen wie sonst. Sonst hatte es keine Rolle gespielt, wenn er gewusst hatte, um wen es ging. Es hatte keine Rolle gespielt, wenn sie geweint und um ihr Leben gefleht hatten. Das hatte nie eine Rolle gespielt. Selbst schuld. Das Krankenhausfoyer war ein seltsamer Raum. Jochum sah sich um. Menschen in ständiger Bewegung. Verurteilte, auf dem Weg herein, Erleichterte, auf dem Weg hinaus. Niemand lachte hier, es war ein Ort für das andere. Er konnte Krankenhäuser überhaupt nicht leiden. Hier war er verletzlich, hier hatte nicht er die Macht, war er nackt und hatte keine Kontrolle über das Leben anderer Menschen. Er erhob sich, ging auf die Türen zu, die sich automatisch öffneten, als er sich näherte. Es regnete noch immer, der Asphalt draußen wies kleine Seen auf, und das Wasser suchte einen Ausweg. Slobodan saß noch im Auto. Einige Meter hinter
der Bushaltestelle, in der Taxizone, zwei Räder auf dem Bürgersteig. Er drehte sich nicht um, als Jochum die Tür zum Beifahrersitz öffnete, er hatte ihn schon aus dem Haus kommen sehen. »Hat ja verdammt lange gedauert.« Slobodan starrte vor sich hin, drehte den Zündschlüssel um, gab Gas. Jochum packte sein Handgelenk. »Nicht fahren.« Slobodan würgte den Motor ab, drehte sich zum ersten Mal zu Jochum um. »Scheiße, was ‘n los?« »Fünf Finger. Eine Kniescheibe. Nach Tarif.« »Das kostet es, wenn man unser H mit Waschpulver streckt.« Slobodan war der kleine Boss. Er hatte sich Unsitten zugelegt. Zum Beispiel laut zu seufzen und resignierte Handbewegungen zu machen, um zu zeigen, wie verdammt egal ihm das war. »Und?« Jochum war schon mit dem kleinen Scheißer umhergezogen, als der noch nicht einmal den Führerschein gehabt hatte. Er konnte diese Bossallüren
nicht leiden und spielte mit dem Gedanken, das zur Sprache zu bringen. Später, er würde es dem anderen später klarmachen. »Er hat sich wie blöd gewehrt, und ich bin nicht mal in den Fahrstuhl gekommen, hab draußen gewartet. Plötzlich hat er ein Rad gepackt, hat ein paarmal daran geruckelt und ist die Treppe runtergejagt. Voll gegen die Wand.« Slobodan zuckte mit den Schultern, drehte wieder den Zündschlüssel um, schaltete die Scheibenwischer ein. Jochum spürte die Wut, die an ihm nagte. Er packte Slobodans Arm, zog ihn vom Lenkrad weg, riss dann den Zündschlüssel an sich und steckte ihn in die Tasche. Er hob die Hand an Slobodans Gesicht, drückte sie gegen seine Wangen, drehte Slobodans Kopf, bis sie einander ansehen, bis Slobodan ihm zuhören musste. »Ich bin gesehen worden.« Sven Sundkvist fuhr durch den Eingang zur Notaufnahme ins Söderkrankenhaus. Er machte das immer, sie hatten oft hier zu tun, sie kannten sich aus, und es gab genug Platz, um den Wagen abzu-
stellen. Sie hatten stumm da gesessen, seit Alarm gegeben worden war und Sven die Spur gewechselt hatte, um zur Västerbrücke und fort von dem Geburtstagsmittagessen zu fahren, zu dem er doch rechtzeitig zu kommen versprochen hatte. Ewert begriff, dass das für Sven wichtig war, auch wenn er nicht begriff, warum, er hatte sich ja selbst dagegen entschieden oder vielleicht hatte es sich gegen ihn entschieden, so fiel es ihm doch schwer, eine kluge Bemerkung zu finden, etwas einigermaßen Tröstliches, er hatte in Gedanken mehrere Varianten versucht, aber sie klangen ebenso platt, wie er das befürchtet hatte, was wusste er denn darüber, was es für ein Gefühl war, sich nach einer Frau und einem Kind zu sehnen. Alles. Alles wusste er darüber. Sie eilten über die Laderampe und in die Notaufnahme, sie gingen nebeneinander zu den Fahrstühlen, drückten auf den richtigen Knopf und stiegen im sechsten Stock aus. Eine Ärztin wartete schon auf sie, als sie die enge Kabine verließen. Ziemlich groß, ziemlich jung, ziemlich hübsch. Ewert musterte sie einen Moment
zu lange, hielt ihre Hand bei der Begrüßung einen Moment zu lange fest. Sie merkte es, schaute ihn rasch an, ihm war das peinlich. »Ich habe den Besucher eingelassen. Aber ich habe nicht gesehen, dass sie weggegangen sind.« Die Ärztin, die Lisa Öhrström hieß, zeigte auf die Treppe neben den Fahrstühlen. Oldéus lag auf dem ersten Absatz, das Gesicht auf dem Beton, das Blut, das an seinem Mund jetzt geronnen war, hatte eine breite Fläche um seinen Körper rot gefärbt. Er lag so still da, riss sich nicht an der Nase, ließ seinen Blick nicht umherirren, fuchtelte nicht mit den Armen. Er strahlte eine Art Frieden aus, die sie noch nie gesehen hatten, als seien die verdammte Unruhe und die Angst mit dem Blut aus seinem Körper geströmt. Sie stiegen die zwölf Treppenstufen nach unten. Ewert ging in die Knie, suchte den Toten ab, er hatte gehofft, irgendetwas zu finden, auch wenn er wusste, dass das nicht der Fall sein würde, bei einem wie Lang gab es Handschuhe und Vorsicht und absolut keine Überreste. Sie warteten auf Ludwig Errfors. Ewert hatte ihn gleich angerufen, als der Alarm gegeben worden war. Sein Entschluss stand fest. Wenn es Lang ge-
wesen war, dann sollte alles seine Ordnung haben. Errfors war der Beste. Ihm unterliefen keine Fehler. Zwei Minuten. Ewert konnte sich auf die Treppenstufe setzen, er konnte den Toten ansehen, der vor ihm lag. Er fragte sich, ob Hilding Oldéus jemand gewesen war, der an den Tod dachte. Ob er gewusst hatte, was er mit Hilfe der Droge beschleunigte. Ob er Angst gehabt hatte. Oder ob er sich danach gesehnt hatte. Verdammter Idiot. Bei seinem Leben hatte er sich ausrechnen können, dass er genauso hier liegen würde, im Weg und verloren auf einer hässlichen Treppe, mit nicht einmal dreißig Jahren. Ewert seufzte, schnaubte den Toten an, der ihn nicht hören konnte. Ich wüsste gern, wo ich liegen werde, dachte er, erhob sich, ging wieder zu Hilding Oldéus. Und wer mich anschnauben wird. Immer gibt es irgendeinen Arsch, der schnaubt. Ludwig Errfors war ein großer dunkler Mann von vielleicht fünfzig. Er trug Zivilkleidung, Jeans und Sakko, so sah er auch bei ihren sonstigen Begegnungen aus, in seinem Arbeitszimmer in der Gerichtsmedizin in Solna. Er begrüßte sie beide, deutete dann auf den Leichnam, der vor kurzem noch
Hilding Oldéus gewesen war. »Ich hab es ein wenig eilig. Können wir gleich anfangen?« Ewert zuckte mit den Schultern. »Wir sind hier.« Errfors ging in die Knie, musterte den Toten eine Zeit lang. »Wer?« »Kleiner Dealer. Heroinabhängig. Hieß Hilding Oldéus.« »Und was mache ich dann hier?« »Wir suchen den Schlächter, der ihn umgebracht hat. Suchen ihn schon eine Weile. Wir brauchen eine korrekte Leichenschau.« Errfors zog die schwarze Tasche zu sich, die er mitgebracht hatte und die jetzt neben ihm stand. Er öffnete sie, nahm ein Paar Plastikhandschuhe heraus. Er streifte sie über, fuchtelte gereizt mit den weißen Händen in der Luft herum, wollte, dass Ewert wegging, nach oben, zumindest zur ersten Treppenstufe. Er suchte den Puls, der zum Erliegen gekommen war. Er horchte auf die Herzschläge, die es nicht mehr gab.
Er leuchtete mit etwas, das aussah wie eine Taschenlampe, in beide Augen, maß mit einem Enddarmthermometer die Körpertemperatur, drückte mehrmals mit beiden Händen auf den Bauch. Er arbeitete nicht sonderlich lange. Zehn, fünfzehn Minuten. Erst später würde er öffnen, herausziehen, die eigentliche Arbeit durchführen. Sven Sundkvist war schon längst wieder die Treppe hochgegangen, er saß da und wandte sein Gesicht dem blauen Ewigkeitskorridor zu, der zwischen den Fahrstühlen und der Inneren Medizin verlief. Er dachte daran, wie er Errfors das letzte Mal bei der Arbeit zugesehen hatte, er war weinend aus dem Zimmer gelaufen, und jetzt war alles genauso schwer, er konnte den Tod nicht ertragen, nicht hier, überhaupt nirgends. Errfors kniete sich anders hin, schaute rasch zu Ewert Grens hoch, der wartend auf der ersten Treppenstufe stand, und zu Sven Sundkvist, der ganz oben saß. Er drehte sich zu Ewert hin und sagte fast flüsternd: »Das schafft er nicht. Beim letzten Mal war es genauso.« Ewert drehte sich um, sah seinen jüngeren Kollegen an.
»Sven?« »Ja?« »Unsere Zeugen. Erledige du das jetzt gleich.« »Wir haben nur Öhrström.« »Gut.« »Wir haben schon mit ihr gesprochen.« »Sprich noch mal mit ihr.« Sven Sundkvist verfluchte seine Unfähigkeit, mit dem Tod umzugehen, war Ewert aber für dessen Verständnis dankbar. Er erhob sich, verließ die Treppe, ging zum Ende des Ganges und öffnete die Tür zu der Station, die Hilding Oldéus eine Weile zuvor voller Panik verlassen hatte. Ludwig Errfors sah ihn verschwinden und wandte sich dann wieder der Leiche zu seinen Füßen zu. Ein Mensch hatte das Leben verloren, war ins Nichts übergegangen, jetzt würde er zu Details in einem Protokoll werden. Errfors räusperte sich, er hielt ein Tonbandgerät in der Hand, hob es an seinen Mund. »Äußere Beschreibung einer toten männlichen Person.« Einen Satz nach dem anderen. »Augen dilatiert.«
Dann eine Pause. »Alle vier Finger der rechten Hand gebrochen. Hämatome um die Frakturen deuten an, dass es kurz vor Eintreffen des Todes geschehen ist.« Einige Atemzüge. »Linkes Knie zeigt Bruchverletzungen mit Blutergüssen an, die darauf hinweisen könnten, dass es kurz vor Eintreffen des Todes geschehen ist.« Er war genau. Wägte jedes Wort ab. Ewert Grens hatte ihn um eine Beschreibung gebeten, die nicht in Frage gestellt werden könnte. Und die würde er bekommen. »Unterleib weist multiple blaue Flecken auf, ist schlaff und zittert bei der Berührung. Weist hin auf mögliche Blutansammlung und vermutlich intraabdominale Blutung.« »Injektionsspuren unterschiedlichen Alters, etliche entzündet, vermutlich in Folge von Drogenmissbrauch. – Tot seit dreißig, nicht mehr als vierzig Minuten, basierend auf Leichenschau und Zeitangaben der Zeugen.« Er sprach noch ungefähr eine Minute weiter auf Band. Er würde den Toten später öffnen, in der Gerichtsmedizin, aber er wusste, dass das, was er jetzt
sagte, im Prinzip das war, was er auch später sagen würde, er hatte schon häufiger solche Fälle gesehen. Jochum entfernte die Hand von Slobodans Gesicht. Rote Flecken auf den Wangen, die sich bewegten, wenn er sprach. »Habe ich das richtig verstanden? Jemand hat dich gesehen?« Slobodan betastete die roten, heißen Stellen. Er seufzte. »Das ist nicht gut. Wenn es Zeugen gibt, dann müssen wir mit ihnen sprechen.« »Nicht Zeugen. Eine Zeugin. Nur eine. Eine Ärztin.« Der Regen, der immer weiterfiel, machte es schwer, aus dem Fenster zu schauen, und ihrer beider Körperwärme und Atemzüge und Aggressivität prallten von innen gegen die Windschutzscheibe und ließen sie beschlagen und nahmen die restliche noch vorhandene Sicht. Slobodan zeigte auf die Glasscheibe und auf die Klimaanlage des Autos, und Jochum nickte und zog den Schlüssel, den er vorhin an sich gerissen hatte, aus der Tasche, gab
ihn Slobodan, und der ließ den Motor an und vertrieb die fließende Feuchtigkeit. »Ich kann nicht zurückgehen. Jetzt nicht. Die Ärztin ist noch da. Die Bullerei ist vermutlich schon eingetroffen.« Slobodan wartete schweigend, während das Wasser langsam von der Innenseite der Windschutzscheibe verjagt wurde. Ein bisschen wollte er den Arsch noch auf die Folter spannen. Es gab Macht, und die musste zwischen ihnen beiden verteilt werden, und jedes Mal, wenn Slobodan ein Stück mehr an sich riss, musste Jochum ebenso viel hergeben. Als die Hälfte des Fensters wieder durchsichtig war, drehte er sich zu Jochum hin. »Ich bring das in Ordnung.« Jochum fand es schrecklich, dankbar sein zu müssen. Aber jetzt musste er das eben. »Lisa Öhrström. Zwischen dreißig und fünfunddreißig. Eins fünfundsiebzig. Dunkle halblange Haare. Sie hat eine Brille, die steckt in der Brusttasche ihres Kittels, schwarzes Gestell mit kleinen Gläsern.«
Er hatte mit ihr gesprochen. Er wusste, wie sie sich anhörte. »Norrländischer Akzent. Helle Stimme. Lispelt ein wenig.« Jochum Lang blieb sitzen, streckte die Beine aus, schaltete die Klimaanlage ab. Er sah im Rückspiegel, wie Slobodan hinter den automatischen Türen verschwand, im Krankenhausfoyer. Sie sang. Wie immer, wenn sie nervös war. Lydia Grajauskait. Lydia Grajauskait. Lydia Grajauskait. Sie sang leise, murmelte fast, wollte keine Entdeckung riskieren. Sie fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis der Bewacher, den sie eben bewusstlos geschlagen hatte, wieder zu sich kam. Es war ein kräftiger Schlag gegen seinen Hinterkopf gewesen, aber er war ein großer Mann, vielleicht konnte er allerlei ertragen, vielleicht hatte er ja schon Alarm gegeben.
Lydia verließ den Fahrstuhl und ging durch den hellen Gang ganz unten im Söderkrankenhaus, konnte sich aber nicht von dem Gefühl befreien, das sie hatte, als sie die Pistole an seinen Kopf gehalten, sie gegen seine Schläfe gepresst hatte. Sie war wieder dort, im Neunjahreland, im Zimmer bei Papa auf den Knien, dann der Militärpolizist, der gegen seinen Kopf schlug und laut schrie, dass Waffenschmuggler sterben müssten. Sie blieb stehen und öffnete ihr Notizbuch. Sie hatte sich die Informationsbroschüre über die verschiedenen Etagen des Krankenhauses genau angesehen, sie hatte sich danach erkundigt, und die russischsprechende Krankenschwester hatte sie ihr gebracht. Jetzt sah sie sich die zittrige Kopie mit dem litauischen Text wieder an, die sie im Krankenbett liegend und in unmittelbarer Nähe des Bewachers zu zeichnen versucht hatte. Es stimmte. Sie war unterwegs zur Leichenhalle. Lydia ging jetzt schnell, sie hielt die Plastiktüte mit dem ICA-Logo in der einen Hand, der rechten, die nicht eingegipst war. Sie ging so schnell sie konnte, aber ihre Hüfte tat weh, sie hinkte und hatte Angst vor dem Geräusch, das entstand, wann immer sie
das nicht schmerzende Bein aufsetzte, es schien von den Gangwänden widerzuhallen, sie ging langsamer, wollte nicht gehört werden. Sie wusste genau, was sie zu tun hatte. Kein Dimitri Scheißzuhälter sollte ihr je wieder befehlen, sich auszuziehen, nie wieder würde sie einem fremden Mann gestatten müssen zu entscheiden, welchen Teil ihres Körpers er gekauft hatte und nun anfassen durfte. Die, die ihr entgegenkamen, schienen sie nicht zu sehen. Sie spürte ihre Blicke, bis ihr aufging, dass sie nicht zu sehen war, sie sah aus wie alle anderen, eine Patientin in Krankenhauskleidung auf einem Krankenhausgang war keine, die gesehen wurde. Deshalb war sie nicht richtig vorbereitet. Sie hatte sich entspannt, sie durfte sich nicht entspannen. Als sie ihn sah, war es zu spät. Es war seine Art zu gehen, sich zu bewegen, sicher dachte sie zuerst daran. Er war groß und machte deshalb große Schritte, seine Arme kamen überall hin. Dann kam die Stimme. Er ging neben jemandem, einem anderen Mann, er sprach laut, und sie hörte seine Stimme, die war hell und nasal, sie hatte sie dicht bei sich gehabt.
Er war einer von denen, die sie angefasst hatten. Einer von denen, die schlugen. Jetzt trug er einen weißen Kittel. In wenigen Atemzügen würden sie einander begegnen, er ging geradeaus, und sie ging geradeaus, und der Gang zwischen ihnen war gerade und hatte keine Türen. Sie versuchte langsam zu gehen, den Boden anzusehen, schob die eine Hand unter den weiten Krankenhauskittel, tastete nach der Pistole, die dort lag. Sie berührte ihn fast, als er an ihr vorüberging. Er roch so wie damals, wenn er in sie eingedrungen war. Einen Moment nur, mehr nicht, dann war er vorbei. Er hatte sie nicht gesehen. Die Frau, in die er während des vergangenen Jahres alle vierzehn Tage eingedrungen war und die er dafür bezahlt hatte, trug nur schwarze Kleidung, von ihm ausgesuchte Unterwäsche, sie trug die Haare offen und hatte rote Lippen. Die Frau, an der er gerade vorbeigegangen war, hatte er noch nie gesehen, mit zerschundenem Gesicht, den einen Arm in Gips, weiße Pantoffeln mit dem Krankenhauslogo, er sah sie auch jetzt nicht. Danach war sie vor allem überrascht. Was sie emp-
funden hatte, war keine Angst gewesen, auch kaum Panik, sondern eher Überraschung, die in Wut übergegangen war, er lief einfach hier herum, wie die anderen, es war ihm nicht anzusehen. Ein letztes Stück Krankenhausgang. Lydia blieb vor der Tür stehen, sie war noch nie in einer Leichenhalle gewesen. Sie hatte ein Bild davon, wie es dort aussehen konnte, sie wusste, dass dieses Bild aus amerikanischen Filmen stammte, die sie in Litauen gesehen hatte, aber es war das Einzige, was sie hatte, und davon ausgehend hatte sie geplant. Sie wusste aus der Skizze in ihrem Notizbuch, wie groß die Halle war, wie viele Zimmer es dort gab, jetzt würde sie hineingehen, sie würde ruhig sein und ruhig bleiben und deshalb mit Lebenden und Toten gleichermaßen umgehen können. Sie hoffte, dass drinnen Menschen wären. Am besten mehr als einer. Sie öffnete die Tür. Die war schwer, und sie nahm einen Luftzug wahr, obwohl es im Raum keine Fenster gab. Sie hörte Stimmen. Dumpf, aus dem Nachbarraum. Sie blieb stehen, dort gab es Leben, jetzt kam es auf sie an, sie hatte ja die Waffe und
den Sprengstoff, und jetzt, sie hörte Stimmen, sie hatte Glück, dort waren wirklich Menschen. Lydia atmete tief durch. Sie würde ihren Vorsatz in die Tat umsetzen. Sie würde dafür sorgen, dass es nie wieder passieren konnte. Es waren mehrere Personen, mindestens drei, die da sprachen. Sie verstand nicht, was sie sagten. Ein einzelnes Wort, aber keinen Zusammenhang, ihr Schwedisch war kaum vorhanden, und das verfluchte sie jetzt. Sie schob zum zweiten Mal das Klebeband beiseite, mit dem die Pistole an ihrem Brustkorb befestigt war, sie nahm die Waffe in die unversehrte Hand. Sie ging langsam durch den ersten Raum, einen leeren, länglichen Raum, ungefähr wie die Diele in einer Wohnung. Jetzt sah Lydia sie. Sie stand in dem dunklen länglichen Zimmer und betrachtete sie. Sie waren miteinander beschäftigt, ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf etwas vor ihnen, sie konnte nicht richtig sehen, was. Sie waren zu fünft, und sie erkannte sie alle. Sie hatte sie ja morgens früh gesehen. Sie hatten um ihr Bett gestanden. Der eine, der et-
was Ältere mit den grauen Haaren und der großen Brille, war der Arzt, der sie nach ihrem Eintreffen auf der Station als Erster untersucht hatte und der dann vor einigen Stunden zurückgekommen war, um sie vier Medizinstudenten vorzuführen. Er hatte auf ihren Körper gezeigt, auf die Striemen auf ihrem Rücken, er hatte von Durchmesser und Heilungsprozess und Ochsenziemer gesprochen, während die vier jungen Leute stumm danebengestanden und sich gefragt hatten, wie viele körperliche Defekte sie noch anschauen müssten, um zu verstehen und zu behandeln. Sie standen ein Stück weiter und betrachteten eine Bahre. Das sah Lydia jetzt. Die Bahre stand mitten im Raum, zwei starke Lampen ließen konzentriertes Licht von der Decke herunterströmen. Auf der Bahre lag ein Körper. Von der Tür her nahm sie an, dass es sich um einen Toten handelte, die helle Färbung, der fehlende Atem. Der grauhaarige Mann mit der großen Brille wies auf den Leichnam, er benutzte dasselbe Laserinstrument, mit dem er auf Lydia gezeigt hatte, und die vier Studenten standen wieder ganz still da, wieder so verbissen vor diesem Menschen, der tot war, wie sie vor dem
Menschen gestanden hatten, der gekränkt und verletzt worden war. Lydia blieb in dem Teil des Raumes, der im Dunkeln lag. Die anderen sahen sie nicht. Sie konnte zwei Schritte machen, ehe sie entdeckt wurde. Und nun stand sie zwei, vielleicht drei Meter von den anderen entfernt. Sie sahen sie und sahen sie doch nicht. Sie erkannten sie als die Frau mit den Peitschenhieben auf dem Rücken und dem traurigen, abwesenden Lächeln, in einem Bett mit einfarbigen Krankenhausbezügen. Die Frau, die jetzt vor ihnen stand, sah auch so aus, strahlte aber etwas anderes aus. Sie wollte etwas, ihre Augen forderten Aufmerksamkeit, sie hob eine Waffe und zielte auf sie, während sie zugleich einen weiteren Schritt vortrat. Das Licht der starken Deckenlampe fiel jetzt auch in ihr Gesicht, das zerschunden und blau geschlagen war, aber sie schien keinen Schmerz wahrzunehmen, sie war konzentriert und zugleich ruhig. Der grauhaarige Arzt war eben aus dem Konzept geraten und begann demonstrativ einen neuen Satz über die Leiche, die vor ihnen lag, ver-
stummte dann aber, unterbrach sich mitten im Wort. Die Frau vor ihm hatte ihre Pistole entsichert. Sie hob sie um einige Dezimeter, zeigte damit auf sein Gesicht, auf alle Gesichter, ließ sie von Augenpaar zu Augenpaar wandern. Sie machte das gerade so lange, bis sie den verdammten Krampf im Magen spürten, wie sie selbst jedes Mal dann, wenn Dimitri Scheißzuhälter den Tod auf ihre Schläfe gerichtet hatte. Niemand sagte ein Wort. Sie warteten darauf, dass sie sprach. Lydia zeigte mit dem Pistolenlauf auf den Boden. »On knee! On knee!« Alle fielen auf die Knie, auf den Boden, bildeten einen Ring um die Bahre mit dem, was vor kurzem noch ein Mensch gewesen war. Sie suchte ihre Blicke, sie wollte sehen, ob sie Angst hatten, aber diese Leute erwiderten ihre Blicke nicht, einfach niemand, zwei kniffen die Augen zusammen, die Medizinstudentin und ein Kommilitone, die anderen starrten einfach gerade vor sich hin, es fehlte ihnen die Kraft, mehr zu sehen als eben das, sie fehlte sogar dem Grauhaarigen, sogar ihm.
Sie war wieder neun Jahre alt. Wieder dieses Zimmer. Der Militärpolizist, der die Waffe auf ihren Kopf richtete, und Papa, der in die Knie gezwungen wurde, mit auf dem Rücken gefesselten Händen musste er das Gesicht auf den Boden pressen, und sie wusste noch, wie er vornübergekippt war, mit einem Knall war sein Gesicht auf den harten Boden aufgeprallt, in freiem Fall, das Blut lief aus beiden Nasenlöchern. Jetzt stand sie hier. Und hielt selber die Waffe in der Hand. Lydia trat einen letzten Schritt vor. Sie stolperte, hätte fast das Gleichgewicht verloren. Sie wusste, dass sie vorsichtig sein musste. Nicht nur, dass sie durch Dimitris Tritte hinkte, auch ihr Gefühl für das Gleichgewicht war seit fast zwei Jahren reduziert. Ein Freier mit Sonderwünschen, der dafür bezahlte, sie ins Gesicht zu schlagen, hatte die Summe verdoppelt, und als er sie dann auf das linke Ohr geschlagen hatte, war der Schmerz unerträglich gewesen, und sie hatte für immer einen Teil ihres Gehörsinns eingebüßt, und zugleich war etwas in ihrem Ohr beschädigt, das den Gleichgewichtssinn reguliert, sie hatte nie richtig begriffen,
was das war, aber das linke Ohr hatte einfach mehr Schläge einstecken müssen, als es verkraften konnte. Jetzt konnte sie sich auf den Beinen halten, sie stolperte zwar, fiel aber nicht, fand das Gleichgewicht wieder und zielte noch immer auf die fünf Menschen, die mit gesenkten Köpfen vor ihr knieten. Sie achtete darauf, Distanz zu halten, zwei Meter, nicht weniger, nicht mehr. Sie überzeugte sich davon, dass sie noch immer auf den Knien lagen, und als sie sich ganz sicher war, schob sie rasch die Hand mit der Pistole unter ihre Krankenhauskleidung, löste die Plastiktüte von ihrem Bauch und dem Bund ihrer Unterhose, ließ sie vor ihre Füße fallen. Sie schob einen Fuß in die Tüte, holte den aufgerollten Bindfaden heraus und trat sie in Richtung der Bahre. Sie zeigte auf die Medizinstudentin, schrie sie an: »Lock! Lock!« Sie sah die verängstigte Frau an, die versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Sie sahen sich eigentlich ziemlich ähnlich. Beide hatten halblange blonde Haare mit einem Stich Rot. Sie waren ungefähr gleich groß, ungefähr gleich alt. Vor kurzem
noch hatte Lydia im Bett gelegen, und die Studentin hatte über ihr gestanden und ihr ins Gesicht geblickt. Fast hätte Lydia gelacht. Jetzt ist es umgekehrt, dachte sie. Jetzt liegt sie. Jetzt stehe ich hier und schaue sie an, von oben herab. »Lock!« Die junge Frau starrte geistesabwesend vor sich hin. Sie sah, dass jemand eine Pistole auf sie richtete. Sie sah auch, dass diese Person etwas schrie. Aber sie hörte nicht, wusste nicht, was es bedeutete. So weit konnte sie nicht denken. Dass Wörter eine Bedeutung hatten. Nicht jetzt. Nicht mit einer auf ihren Kopf gerichteten Pistole. »Last time! Lock!« Der ältere Arzt mit den grauen Haaren begriff, was hier vor sich ging. Vorsichtig drehte er sich zu der Medizinstudentin um, er suchte ihren Blick, sprach leise mit ihr. »Du sollst uns fesseln.« Er hatte eine ruhige Stimme, die Frau schien ihm zuzuhören, sie erwiderte seinen Blick und schaute dann erschrocken Lydia an.
»Ich glaube nicht, dass sie schießen wird. Verstehst du, was ich sage? Wenn du uns fesselst, wird sie nicht schießen.« Die Frau nickte. Langsam bewegte sie den Kopf hin und her. Sie nickte auch Lydia zu, wollte zeigen, dass sie verstanden hatte. Sie bewegte sich vorsichtig auf die Bindfadenrolle zu. Sie nahm sie, erhob sich von ihren Knien, ging hinüber zur Bahre, um den Toten dort herum. Sie fand das Messer, mit dem den Toten die Bäuche aufgeschnitten wurden. Sie hob es hoch, wickelte ein Stück Schnur ab, schnitt. Dann ging sie zu dem älteren Arzt, ging hinter ihm in die Hocke, legte seine Hände aneinander, wickelte die Schnur darum. »Hard! Very hard! You lock hard!« Lydia trat einen Schritt vor und schwenkte die Pistole vor der Frau hin und her. Sie blieb stehen, bis sie gesehen hatte, dass die Schnur fest angezogen wurde und tief in die Haut des Mannes schnitt. »Lock!« Die Frau trat von dem älteren Arzt zurück, nahm das scharfe Bauchmesser mit und ging von einem ihrer Kommilitonen zum anderen, schnitt überall Schnur ab und wickelte sie um deren Handgelen-
ke, hörte erst auf, als es unter allen Knoten blutete. Als sie damit fertig war, schaute sie zu Lydia hinüber, sie atmete schwer und wartete, bis Blickkontakt entstanden war. Lydia zeigte mit ihrer Waffe, dass die Studentin sich umdrehen sollte, in die Knie gehen und ihr den Rücken zukehren. Dann trat sie vor, nahm den Bindfaden und schnitt, auf ihren eingegipsten linken Arm gestützt, ein letztes Stück ab und fesselte die Hände der Studentin so, wie diese die anderen gefesselt hatte. Das hatte sechs oder sieben Minuten gedauert. Lydia war schon länger in diesem Raum, als sie es geplant hatte. Sie hätte nie damit gerechnet, dass sie zu fünft sein würden. Einer, vielleicht zwei. Aber nicht fünf. Irgendwer musste mittlerweile den Wächter gefunden haben. Irgendwer wusste, dass sie verschwunden war. Irgendwer hatte die Polizei alarmiert. Sie hatte es eilig. Rasch durchsuchte sie die fünf weißen Ärztekittel. Die äußeren Taschen, die inneren. Dann die Hosen. Das Gefundene legte sie auf den Boden. Einige Schlüsselbunde, zwei Brieftaschen, Kleingeld, Aus-
weise, Plastikhandschuhe, halb volle Schachteln mit Halstabletten. Bei dem Grauhaarigen fand sie dazu ein Mobiltelefon. Sie untersuchte das Gerät, probierte es aus, stellte fest, dass der Akku leer war. Fünf Personen knieten vor ihr, versuchten, der Pistole in ihrer Hand auszuweichen. Neben ihnen lag ein toter, zur Hälfte aufgeschnittener Mensch, auf einer Bahre unter grellem Licht. Sie hatte Geiseln genommen. Und wer Geiseln hat, kann Forderungen stellen. Sie weinte. Er hatte sie schon lange nicht mehr so weit bringen können. Und deshalb hasste sie ihn. Lisa Öhrström hasste ihren Bruder. Dieser verdammte Anruf, von einem U-Bahnhof aus, einige Tage zuvor, in Gedanken hörte sie seine Stimme noch einmal, wie er um Geld bettelte und sie sich weigerte, wie sie es in dem Kurs für Angehörige gelernt hatte. Tränen und ein Kloß im Hals und ihr zitternder Körper. Sie hatte ihn so oft aufgelesen, wenn er irgendwo gelegen hatte, und jedes Mal hatte er versprochen, das werde nun wirklich das letzte Mal sein. Er hatte sie angesehen, und er hatte langsam
ihre Kraft und ihre Unruhe genommen, und ohne zu verstehen, was er da tat, mehrere Jahre ihres Lebens sehr weit in Richtung Hölle geworfen. Jetzt lag er da. Auf einer Treppe, wenige Meter von ihrem Arbeitsplatz entfernt. Jetzt war es wirklich das letzte Mal, und sie hatte sich für einen Moment fast erleichtert gefühlt, als ihr aufgegangen war, dass es ihn nun ja gar nicht mehr gab, bis sie eingesehen hatte, dass eben dieses Gefühl das einzige war, das sie nicht ertragen konnte. Vernehmungsleiter Sven Sundkvist (VL): Ich weiß, dass Hilding Oldéus mehr als nur ein Patient war. Aber ich brauche Antworten auf einige Fragen. Lisa Öhrström (LÖ): Ich wollte gerade meine Schwester anrufen. VL: Ich weiß ja, dass das schwer für Sie ist. Aber nur Sie waren hier. Nur Sie haben etwas gesehen. LÖ: Ich wollte mit den Kindern meiner Schwester sprechen. Die haben ihren Onkel angebetet.
Er kam immer frisch aus dem Gefängnis, wenn er bei ihnen war. War immer heil und sauber. Hatte Farbe auf den Wangen. Den, der da liegt, haben sie nie gesehen. VL: Ich muss wissen, wie weit die andere Person entfernt war. Der Besucher. LÖ: Ich wollte doch eben anrufen. Hören Sie mir nicht zu? Ich versuche doch, Ihnen das zu erklären! VL: Wie weit? Sie saßen auf harten Holzstühlen im Glaskasten der Stationsschwester, mitten auf dem Gang im sechsten Stock des Söderkrankenhauses. Lisa Öhrström weinte noch immer, ihre Würde schien sozusagen aus ihr herauszugleiten, sie klammerte sich daran und merkte, wie ihre Hände daran abglitten. Es ging um ihren Bruder. Aber sie hatte es nicht mehr ertragen. Sie hatte sich die letzten Male geweigert, ihm zu helfen, und nicht einmal alle Tränen der Welt schienen diese Schuld sühnen zu können.
Sven Sundkvist musterte sie schweigend, sah ihren weißen Kittel, der schon ziemlich zerknittert war, er wartete, während sie die Augen zukniff und sich die Nase putzte und mit der Hand durch ihre langen Haare fuhr. Er war ihr schon früher begegnet. Nicht ihr, sondern Frauen wie ihr. Er hatte diese Frauen so oft vernommen, die, die ein Stück dahinter standen und stützten, die sich schuldig an allem fühlten, bloßgestellt. Er dachte an sie als an Schuldmenschen, sie machten Probleme. Ihre Fähigkeit, sich selbst die Schuld zuzuschreiben, machte sogar einem routinierten Vernehmungsleiter die Arbeit schwer. Sie verhielten sich allesamt wie Schuldige, was immer er sagte, wurde zu einer Anklage. Ihr ganzes Leben war eigentlich eine einzige lange Anklage, und sie besaßen das Talent, ohne auch nur im Geringsten schuldig zu sein, Ermittlungen, die durchgeführt werden mussten, im Weg zu stehen. LÖ: VL: LÖ: VL:
War das so? Was denn? War das meine Schuld? Ich verstehe ja, dass das, was geschehen ist,
Ihnen ein gewisses Schuldgefühl eingibt. Aber das ist Ihr Problem – ich kann einfach nichts daran ändern. Lisa Öhrström sah ihn an, sah den Polizisten an, der da vor ihr saß, der die Beine übereinandergeschlagen hatte und etwas von ihr wollte. Sie mochte ihn nicht. Er war sanfter als der Ältere, aber sie mochte ihn trotzdem nicht. Polizisten hatten etwas Autoritäres, und das hier, das war keine Vernehmung, es war eine Konfrontation, wie der Beginn eines Streits, der über ihre Kräfte ging. VL: Der Mann, der hier war. Der aller Wahrscheinlichkeit nach Ihren Bruder umgebracht hat. Wie nah war er? LÖ: So wie jetzt Sie und ich. VL: So nah, dass Sie ihn deutlich gesehen haben? LÖ: So nah, dass ich seinen Atem gespürt habe. Sie drehte sich um, schaute durch die Glaswand. Es war unangenehm hier zu sitzen, alle Vorübergehenden schauten herein, ein neugieriger Blick
wurde zu einem Eindringen in ihre Privatsphäre. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren, und sie bat, sich mit dem Rücken zum Fenster setzen zu dürfen. VL: LÖ: VL: LÖ:
Aussehen? So einer, vor dem man sich fürchtet. Wie groß? Um einiges größer als ich. Und ich bin ziemlich groß, eins fünfundsiebzig. Wie Ihr Kollege vielleicht. Noch zwei Zentimeter.
Lisa Öhrström nickte zum Gangende hinüber, zum Treppenhaus, wo Ewert Grens zusammen mit Ludwig Errfors vor einem toten Männerkörper stand. Unbewusst drehte Sven sich in dieselbe Richtung, versuchte in Gedanken, Ewert zu messen. VL: LÖ: VL: LÖ:
Gesicht? Irgendwie kräftig. Nase, Kinn, Stirn. Haare? Hatte er nicht.
Es wurde an die Tür geklopft. Lisa Öhrström hatte nicht gemerkt, dass jemand kam, und fuhr deshalb zusammen. Ein uniformierter Polizist machte die Tür auf und kam herein. Er hielt einen Umschlag in der Hand, überreichte ihn und verschwand dann wieder. VL: Ich habe hier ein paar Fotos. Von mehreren Personen. Bitte, sehen Sie sich die an. Sie erhob sich. Nicht mehr. Nicht jetzt. Der braune Umschlag auf dem Tisch war ihr egal. VL: Setzen Sie sich. LÖ: Ich muss arbeiten. VL: Lisa, sehen Sie mich an. Das war nicht Ihre Schuld! Sven Sundkvist trat einen Schritt vor, nahm die Frau, die unterwegs war zu Trauer und Schuldgefühlen, an den Schultern, drückte sie vorsichtig wieder auf den Stuhl. Er schob zwei Ordner mit Krankenberichten, die ebenfalls auf dem Tisch lagen, zur Seite, machte die leere Fläche größer, öff-
nete dann den braunen Umschlag und schüttelte den Inhalt heraus. VL: Bitte, versuchen Sie jetzt, den Besucher zu identifizieren. Den, dessen Atem Sie gespürt haben. LÖ: Offenbar wissen Sie, wen ich da beschrieben habe. VL: Bitte, sehen Sie sich die Bilder an. Sie hob die Fotos hoch, eins nach dem anderen. Sie schaute sie an, ließ sich wirklich Zeit. Dann legte sie sie mit der Rückseite nach oben aufeinander. Sie hatte an die dreißig Bilder von Männern betrachtet, die vor weißen Wänden standen, als sie ein Ziehen in der Brust verspürte, wie damals, als sie als kleines Kind Angst vor der Dunkelheit gehabt hatte, sie hatte es damals so beschrieben, dass etwas in ihrem Körper tanzte, als sei die Angst leicht und hebe sie hoch. LÖ: Der hier war es. VL: Ganz sicher? LÖ: Ganz sicher.
VL: Für das Protokoll, die Zeugin nennt den Mann auf Foto Nummer 32. Sven Sundkvist schwieg, wusste nicht, was er empfand. Er hatte gewusst, wie die Trauer die Menschen von innen her auffrisst und dass die Frau vor ihm davon erstickt wurde, und doch hatte er sie dazu gezwungen, die Trauer hinunterzuschlucken und festzuhalten. Er hatte eingesehen, dass sie jeden Moment zusammenbrechen konnte, aber es war seine Pflicht gewesen, das zu ignorieren. Und jetzt. Jetzt hatte sie die Person genannt, von der er sich gewünscht hatte, dass sie sie nennen würde. Er hoffte, dass sie stark war. VL: Sie haben einen Mann identifiziert, der als sehr gefährlich gilt. Wir wissen aus Erfahrung, dass Zeugen, die jemanden identifizieren, immer Drohungen ausgesetzt sind. LÖ: Was bedeutet das? VL: Dass wir erwägen, Sie unter Personenschutz zu stellen.
Das hatte sie nicht hören wollen. Sie hätte gern alles rückgängig gemacht. Sie wollte nach Hause gehen, sich ins Bett legen, darauf warten, dass der Wecker klingelte, dann aufwachen, frühstücken, sich anziehen, zum Söderkrankenhaus gehen. Aber so war es nicht. Es war niemals so. Die Vergangenheit hörte nicht auf, so sehr man sich das auch wünschte. Sie saß auf dem harten Stuhl und versuchte zu weinen, versuchte, das, was sie von innen her auffraß, herauszupressen. Aber das ging nicht. Sie hatte es nicht mehr, das verdammte Weinen. Manchmal hat man das nicht. Sie wollte gerade aufstehen und an einen Ort gehen, der nur weg war, als schon wieder die Tür zum Glaskäfig der Stationsschwester aufgerissen wurde. Jemand, der nicht angeklopft hatte, stürzte herein. Sie sah, dass es der ältere Polizist von vorhin war, der ihre Hand zu lange festgehalten hatte. Jetzt war sein Gesicht rot angelaufen, seine Stimme laut. »Verdammt, Sven!« Sven Sundkvist ärgerte sich nur selten über seinen Chef. Nicht wie die anderen. Die meisten Kollegen
verabscheuten Grens, einige hassten ihn sogar. Er selbst hatte sich dafür entschieden, das zu akzeptieren, Gutes wie Schlechtes hinzunehmen, er konnte entweder aushalten oder fliehen, und er hielt aus. Mit einer Ausnahme. »Für das Protokoll. An dieser Stelle wird meine Vernehmung der Zeugin Lisa Öhrström unterbrochen von Ewert Grens, Kommissar am Polizeibezirk City.« »Verzeihung, Sven. Aber das hier ist verdammt eilig.« Sven beugte sich zum Tonbandgerät vor, schaltete es aus. Eine Geste, eine Hand, die auf Ewert zeigte, dann rede schon. »Die Frau, die, die wir bewusstlos aus der Wohnung im Atlasviertel geholt haben.« »Die Peitschenhiebe?« »Sie ist verschwunden.« »Verschwunden?« Ewert nickte. »Sie lag hier im Söderkrankenhaus, auf der Inneren Medizin. Bis vorhin. Jetzt hat die Ermittlungsleitung angerufen. Sie liegt nicht mehr dort. Jetzt
ist sie bewaffnet und hat den Wächter niedergeschlagen, den wir in ihrem Zimmer postiert hatten. Sie ist vermutlich noch irgendwo hier im Haus, mit einer ungesicherten Waffe in der Hand.« »Warum hat sie das getan?« »Ich weiß nur, was ich dir gerade gesagt habe.« Lisa Öhrström legte Foto Nummer 32 zurück auf den Tisch. Dann sah sie die beiden Polizisten an, einen nach dem anderen, zeigte an die Decke des Glaskäfigs. »Da oben.« »Bitte?« »Da oben sind die Abteilungen für Innere Medizin.« Grens schaute zu der weißen Decke hoch und wollte schon den Raum verlassen, als Sven ihn am Arm packte. »Ewert, warte. Wie haben soeben eine hundertprozentige Identifizierung von Jochum Lang erhalten.« Der hochgewachsene, klobige Mann blieb in der Türöffnung stehen. Er drehte sich um, nickte Lisa Öhrström zu, lächelte Sven an. »Jetzt, Anni.«
»Was hast du gesagt?« »Nichts.« Sven sah Ewert verständnislos an, drehte sich dann zu Lisa Öhrström um und legte der Ärztin leicht die Hand auf die Schulter. »Sie braucht Schutz.« Es war gleich nach der Mittagspause, am Mittwoch des 5. Juni. Ewert Grens und Sven Sundkvist liefen eine der vielen Treppen im Söderkrankenhaus hoch, vom sechsten in den siebten Stock. Es war ein seltsamer Vormittag gewesen.
Sie hatten sich einige Minuten lang unruhig bewegt, alle fünf. Vorsichtig ein Bein ausgestreckt, langsam den Kopf zu einer Schulter gesenkt. Als schmerzten ihre Körper dort auf dem Boden, als wagten sie nicht, sie an ihre Existenz zu erinnern, als könnten sie eben deshalb nicht stillsitzen. Lydia spürte ihre Angst und ließ sie gewähren. Sie wusste, wie schwer es ist zu atmen, wenn man auf Knien liegt und zu jemandem aufschaut, der sich soeben das Recht genommen hat, über den Körper des knienden Menschen zu verfügen. Sie dachte an
die Stena Baltica und daran, wie eine Todesdrohung den natürlichen Ruf um Hilfe zum Verstummen bringt. Plötzlich fiel einer hilflos nach vorn. Einer der jungen Männer, die Medizin studierten, hatte das Gleichgewicht verloren und den Ring verlassen, in dem er eben noch gekniet hatte, den Ring um die Bahre, auf der ein Toter lag. Sofort richtete Lydia die Pistole auf ihn. Er lag nach vorn gebückt da, seine Knie noch immer auf dem Boden, das Gesicht ein wenig darüber, die Hände hinter seinem Rücken hart gefesselt. Sein Körper bebte, er konnte ihn nicht mehr aufrecht halten. Er weinte, vor Angst. Er hatte noch nie daran gedacht, sein Leben war weitergegangen, und er war jung, und alles hatte ewig dauern sollen, jetzt sah er ein, dass es hier und jetzt ein Ende nehmen könnte, er war erst dreiundzwanzig, sein Körper bebte, er wollte so viel länger leben. »On knee!« Lydia ging zu ihm, drückte ihm die Waffe in den Nacken. »On knee!«
Langsam hob er den Oberkörper, kniete wieder gerade, er zitterte noch immer, Tränen liefen über seine Wangen. »Name!« Er sah sie schweigend an. »Name!« Das Sprechen fiel ihm schwer, die Wörter, sie wollten nicht. »Johan.« »Name!« »Johan Larsen.« Sie beugte sich zu ihm vor, presste ihm den Pistolenlauf in die Stirn. Wie die Männer auf der Stena Baltica. Sie hielt den Lauf dort, während sie sagte: »You on knee! If again. Boom!« Er hielt den Rücken gerade. Er atmete nicht. Er brachte es nicht fertig, seinen Körper dazu zu bringen, dass er mit Zittern aufhörte, nicht einmal, als der Urin sein Bein entlanglief, er machte seine Hose nass, und das wusste er. Lydia sah sie an, der Reihe nach. Sie sahen sie noch immer nicht an, das wagten sie nicht. Sie hob die Plastiktüte mit dem Supermarktlogo vom Boden auf, zog das Paket mit Sprengstoff und Zünder
heraus. Sie ging zu einem kleinen Tisch aus rostfreiem Stahl, der ganz dicht bei der Bahre stand, verteilte die teigige Masse darauf, arbeitete mit der Hand, machte die Masse weich und gefügig genug, um die Tür zu bestreichen, durch die sie eben noch verstohlen geschaut hatte. Sie hielt die Waffe in der unversehrten Hand und drückte zugleich, mit derselben Hand, die Hälfte der gekneteten Masse in einer geraden, ziemlich dünnen Linie um die Tür. Dann wandte sie sich der anderen Hälfte zu, platzierte Sprengstoff auf fünf Menschen, auf die fünf Menschen, die vor ihr auf dem Boden auf den Knien lagen. Sie knieten im Kreis um einen nackten, frisch obduzierten Menschen auf einer Bahre, und sie trugen den Tod von Schulter zu Schulter, als deutliche blassbeige Teighaut im Nacken. Sie war jetzt seit fast zwanzig Minuten in diesem Raum. Sie hatte außerdem zehn Minuten gebraucht, um aus der Chirurgie im siebten Stock in die Leichenhalle unten im Keller zu kommen. Sie wusste, dass ihre Flucht schon längst bemerkt worden war. Sie wusste, dass die Polizei informiert war, dass nach ihr gesucht wurde.
Lydia trat vor die Medizinstudentin, die ihr mit ihren halblangen rötlichen Haaren und dem dünnen Körper so ähnlich sah und die Hände der anderen gefesselt hatte. »Police!« Lydia zeigte das Mobiltelefon, das sie aus einer Kitteltasche genommen hatte, hielt es der Frau vor das Gesicht. Dann legte sie die Hand auf den Sprengstoff, den sie auf den Schultern der Studentin verteilt hatte, wollte sie daran erinnern, dass sie zu gehorchen hatte, ehe sie vorsichtig ihre Handgelenke losband. »Police! Call police!« Die Studentin zögerte. Sie hatte Angst, etwas falsch zu verstehen. Sie schaute sich unruhig um, suchte den Blick des älteren, grauhaarigen Arztes. Er machte dasselbe wie vorhin, sprach mit ihr, es gelang ihm, wie vorhin seine Stimme ruhig klingen zu lassen, seine Angst zu verbergen. »Du sollst die Polizei anrufen.« Die Studentin hatte verstanden, jetzt nickte sie, bestätigte. Der ältere Arzt zwang seiner Stimme noch einige Sätze ab. »Tu das. Tu, was sie sagt. Wähl eins eins zwo.«
Ihre Hand zitterte, das Telefon fiel zu Boden, sie hob es wieder auf, verwählte sich bei der ersten Ziffer, schaute hastig zu Lydia hinüber und bat um Verzeihung, dann gab sie die richtigen Ziffern ein, eins, eins, zwo. Lydia hörte den Verbindungston, sie war zufrieden, zeigte danach der Studentin, dass sie sich auf den Bauch legen sollte. Sie nahm ihr das Telefon ab, ging damit zu dem Arzt und drückte es an dessen Ohr. »Talk!« Der Arzt nickte. Er wartete. Seine Stirn glänzte vor Schweiß. Im Zimmer war alles still. Eine Minute. Dann meldete sich eine Stimme: »Polizei!« Er saß schweigend da, wartete. Lydia neben ihm, sie hielt das Telefon. Die anderen kniffen die Augen zusammen oder starrten vor sich auf den Boden, weg, weit weg. Eine neue Stimme. Jetzt sagte der Grauhaarige wieder etwas. »Hier spricht Gustaf Ejder. Ich bin Oberarzt im Söderkrankenhaus. Ich befinde mich in der Leichen-
halle im Keller. Ich bin mit vier anderen von einer jungen Frau als Geisel genommen worden. Die Frau ist mit einer Pistole bewaffnet und trägt Patientenkleidung. Sie hat die Waffe entsichert und zielt damit auf unsere Köpfe. Sie hat außerdem etwas an unseren Körpern angebracht, das ich für Sprengstoff halte.« Der Student, der es kurz zuvor nicht mehr geschafft hatte, sich aufrecht zu halten, der Johan Larsen hieß und vornüber zu Boden gefallen war, weil sein Körper so gezittert hatte, er schrie jetzt zum Telefon hinüber: »Semtex Sprengstoff. So heißt das. Sie hat fast ein halbes Kilo benutzt. Das gibt einen Wahnsinnsknall, wenn sie es hochgehen lässt.« Lydia richtete die Pistole auf den schreienden Mann, entspannte sich dann aber. Sie hatte das Wort Semtex gehört, und seine Stimme war unkontrolliert gewesen, die Botschaft war angekommen, der Zuhörer hatte begriffen. Sie zog die Seiten hervor, die sie aus ihrem Notizbuch gerissen hatte. Sie hielt das Telefon noch immer an das Ohr des Arztes und legte die Zettel vor ihm auf den Boden, ganz oben lag ein weißes
Blatt, auf dem nur eine einzige Zeile stand. Sie machte ihm klar, dass er weitersprechen sollte. Das tat er. »Seid ihr noch da?« Die Stimme, die antwortete, bestätigte kurz, dass das der Fall sei. »Die Frau will, dass ich einen Namen von einem Zettel lese, den sie offenbar aus einem Notizbuch gerissen hat. Darauf steht Bengt Nordwall. Mehr nicht.« Die Stimme am Telefon bat ihn, diesen Namen zu wiederholen. »Bengt Nordwall. Das ist alles. Ihre Schrift ist ziemlich unleserlich, aber ich glaube, dass ich richtig gelesen habe. Auch ihr Englisch ist nur schwer zu verstehen. Ich tippe auf Russland. Oder vielleicht auf das Baltikum.« Lydia nahm das Telefon von seinem Ohr. Sie bedeutete ihm, dass er wieder aufrecht knien sollte. Sie hatte gehört, wie er den Namen von ihrem Zettel vorgelesen hatte. Sie hatte ihn außerdem »Baltikum« sagen hören. Sie war zufrieden.
Bengt Nordwall starrte zum Himmel hoch. So unerhört grau. Der Regen, der bisher ihre Sommerschritte verfolgt hatte, er seufzte laut, jetzt war doch die Zeit, um Kraft zu sammeln, um sich eine Weile zu entspannen und dann wieder zupacken zu können. Es würde wieder so einen Herbst geben, in dem die Menschen sich schon Mitte Oktober in ihren Zimmern verkrochen und alles außer sich selbst satt hatten. Es war still. Er hörte nur die Tropfen, die auf dem Stoff des Sonnenschirms zerplatzten. Lena saß neben ihm, las ein Buch, genau wie immer. Er fragte sich, ob sie sich länger als bis zum nächsten Tag an diese Geschichten erinnern konnte, aber das war eben ihre Art zu verschwinden, sie zog die Beine auf den Sessel, stopfte sich ein Kissen in den Rücken, kroch in sich zusammen und vergaß das, was sich in ihrer Umgebung abspielte. So hatte sie auch morgens dagesessen, zwei Tage zuvor, im gleichen Dauerregen. Ewert hatte neben ihm auf der Gartenbank gesessen, ihre Kleidung war triefnass, aber ihr Gespräch war wichtiger gewesen, sie erreichten manchmal eine Nähe, eine
Nähe, die es nur geben kann, wenn genug Zeit vergangen ist. Er hatte nicht damit gerechnet, Ewert nur zwei Tage später schon wiederzusehen, dort vor der Wohnung der Baltennutte. Bengt sah sie vor sich. Ihren von Peitschenhieben zerfetzten Rücken. Er empfand Unbehagen, nicht sie, die Geschundene, nicht schon wieder. Er war nicht groß, ihr Garten, aber er war stolz darauf. Es war ein Garten, in dem Kinder umhertoben konnten. Er hatte in den vergangenen zwei Jahren eine halbe Stelle gehabt, er war fünfundfünfzig und würde nie mehr erleben, dass Leben heranwuchs, das hier war das einzige Mal, und er wollte so viel wie möglich davon miterleben. Sie waren jetzt größer, kamen eigentlich ziemlich weitgehend allein zurecht, aber er wollte da sein, er sah aus der Ferne ihre Spiele und nahm aus der Ferne daran teil. In diesem Sommer waren sie der Spiele im Freien überdrüssig geworden. Der vom Regen gesättigte Rasen hatte seine Ruhe, keine Fußbälle landeten in den Rosenbeeten, und niemand versteckte sich in der Fliederhecke, während jemand anders mit geschlossenen Augen bis hun-
dert zählte. Jetzt saßen sie in ihren Zimmern, vor ihren Computern, elektronischen Welten, von denen er rein gar nichts begriff. Bengt sah wieder Lena an. Er lächelte. Sie war so schön. Ihre langen blonden Haare, ihr Gesicht, das Frieden auszustrahlen schien, diese Ruhe, die sie immer gehabt hatte. Er dachte an Vilnius, an die schwedische Botschaft, er hatte dort einige Jahre als Sicherheitschef gearbeitet, und sie hatte eines Tages einfach dort gesessen, eine junge, neugierige Angestellte. Er konnte nicht begreifen, warum sie sich für ihn entschieden hatte. Aber das hatte sie getan, hatte ihn gewählt, ihn, der schon aussortiert worden war, er war gewissermaßen wieder hereingeholt worden, zurück in die Riege der wählbaren Familiengründer. Ein verbrauchter Polizist, zwanzig Jahre älter als sie. Er hatte noch immer schreckliche Angst, dass sie eines Morgens aufwachen, seinen Blick erwidern, einsehen würde, dass sie einen Fehler gemacht hatte, und ihn dann bitten würde zu gehen. »Du.«
Sie hörte ihn nicht. Er beugte sich vor, küsste leicht ihre Wange. »Lena?« »Ja?« »Wollen wir ins Haus gehen?« Sie schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Bald. Noch drei Seiten.« Der Regen, er war so sicher gewesen, dass der nicht schlimmer werden könnte. Jetzt wurde er kräftiger, als wolle er den Schutz über ihren Köpfen durchdringen. Der Rasen, der sie umgab, verwandelte sich langsam in einen trügerischen Sumpf. Bengt sah seine Frau an. Sie hielt das Buch mit beiden Händen fest, verbarg ihr Gesicht hinter einem Kapitel, von dem noch drei Seiten übrig waren. Plötzlich stellte die andere Frau wieder Forderungen. Er hatte Lena vor sich, aber es war nicht sie, es war der zerschundene Rücken von vorhin, das geronnene Blut und die zerfetzte Haut, er versuchte, dieses Bild zu verdrängen, aber die verdammte Nutte nahm allen Platz für sich in Anspruch. Er kniff die Augen zusammen, und sie wurde noch deutlicher, die Bahre, auf der sie gelegen hatte, als sie bewusst-
los aus dem Haus getragen worden war, er öffnete die Augen, da war sie, sie war stumm und sie war unterwegs, vorbei an der eingeschlagenen Tür, und er zog den Kopf ein, als das Gefühl des Unbehagens in Angst umschlug, während er versuchte, nichts zu empfinden. »Was ist los?« Lena hatte das Buch auf die Armlehne der Bank gelegt, sah ihn jetzt an. Zuerst schwieg er, dann zuckte er mit den Schultern. »Nichts.« »Ich sehe doch, dass etwas ist. Woran denkst du?« Die Schultern, so lässig er konnte, noch einmal. »Nichts.« Sie kannte ihn zu gut. Sie wusste, dass es alles andere war als nichts. »Du hast schon lange nicht mehr so ausgesehen. Ängstlich.« Die verdammten Peitschenhiebe auf der einen, dann die andere, die schreiend durch die Wohnung rannte, ihre nackten Körper, die jung und misshandelt waren. Die Bilder jagten ihn. Vielleicht sollte er es ihr sagen. Lena hatte das Recht,
es zu erfahren. Er war ihnen doch gegenübergetreten, ohne bereit zu sein. »Dein Telefon klingelt.« Er sah ihre Finger, die auf seine Jackentasche zeigten. Er wühlte in der Tasche, das Klingeln stresste ihn, viermal, danach würde es nicht mehr klingeln. »Nordwall.« Bengt Nordwall presste das Telefon ans Ohr und hörte zu. Eine Minute, dann war das Gespräch beendet. Er sah seine Frau an. »Es ist etwas passiert. Sie brauchen einen Dolmetscher. Ich muss hin.« »Wohin?« »Ins Söderkrankenhaus.« Er erhob sich, küsste Lena auf dieselbe Wange wie eben, zog den Kopf ein, als er unter dem Sonnenschirm durch und dann hinaus in den strömenden Regen ging. Söderkrankenhaus. Baltennutte. Leichenhalle. Er nahm sie wieder wahr, die Angst.
Der Wächter trug eine grüne Uniform, er saß im einzigen Bett im Raum, ein Verband zog sich von seiner Stirn bis zu seinem Hinterkopf. Er hatte heftig geblutet, der weiße Stoff hatte sich hellrot verfärbt. Eine Krankenschwester, auf deren Brusttasche ein polnisch klingender Name eingestickt war, stand neben ihm, sie hielt in der einen Hand zwei braune Tabletten, etwas Schmerzstillendes, wie Grens annahm. Er konnte nicht viel erzählen. Sie hatte im Aufenthaltsraum vor dem Fernseher gesessen. Zwei Jungen aus Zimmer 4 waren ebenfalls dort gewesen. Es hatte eine Nachrichtensendung gegeben, irgendein Mittagsmagazin, er wusste nicht mehr welches. Sie hatte zur Toilette gehen wollen, er hatte keinen Grund gesehen, ihr das zu verweigern, sie war doch dünn und schwach, hatte einen Arm in Gips, ihre zerschlagene Hüfte zwang sie zum Hinken, er hatte sie für absolut ungefährlich gehalten und er hätte ja doch nicht mit ihr auf die Toilette gehen dürfen, oder was? Ewert Grens lächelte. Ja, verdammt, das hättest du tun müssen. Du solltest sie bewachen. Beim Schlafen und beim Kacken.
Der Wächter hatte Schmerzen, er fasste sich an den Kopf, in den Nacken, es war ein kräftiger Schlag gewesen. Sie hatte die Toilette abgezogen, das hatte er gehört, zweimal hatte sie Wasser laufen lassen. Sie war herausgekommen, hatte ihm bedeutet, dass sie zu ihrem Zimmer und ihrem Bett zurückwollte und dass er sie begleiten sollte. Auch das hatte er ganz normal gefunden. Er war mit ihr in Zimmer 2 gegangen, das Zimmer, in dem sie jetzt saßen, er hatte wie üblich hinter sich die Tür zuziehen wollen. Und dann hatte sie plötzlich eine Pistole in der Hand gehalten. Er begriff nicht, woher sie die hatte. Er begriff nur, dass sie gewusst hatte, wie man diese Waffe entsichert, und dass sie damit auf seinen Kopf gezielt und dass er schon bald erkannt hatte, dass das kein Witz sein sollte. Es war ein nacktes, ärmliches Zimmer. Der Wächter war gegangen, hatte sich in den Nacken gefasst und war seufzend verschwunden. Grens saß noch in einem Besuchersessel und schaute sich um.
Ein Metallbett. Daneben ein Rolltisch. Vor dem Fenster ein kleiner Tisch und der Sessel, in dem er hier saß. Nur das. Groß wie ein Wohnzimmer, geplant für vier Patientinnen, aber ausgeräumt und einer übel misshandelten Frau angepasst. Er saß schweigend da, seine Gedanken schienen gegen kahle weiße Wände anzurennen. Er wartete, schien Anlauf zu nehmen. Er brauchte Kraft, mehr als er geahnt hatte, als sie auf dem Weg von Arlanda den Alarm bekommen und die Fahrspur gewechselt hatten. Was vor kurzem noch ein hingerichteter Junkie gewesen war, und dazu die von ihm so lange gejagte Möglichkeit, den Mann festzunageln, der Annis und sein gemeinsames Leben durch ein Verbrechen vernichtet hatte, hatte sich auf die Schnelle zu einem Geiseldrama mit ausreichend Semtex ausgeweitet, um Teile eines Krankenhauses voller Menschen in die Luft zu sprengen. Ewert Grens war Kommissar. Er ermittelte in Mordfällen, nachdem sie begangen worden waren, und er leistete bessere Arbeit als die anderen. Aber schon vor langer Zeit hatte er keine großen Operationen mehr geleitet, die Einsätze, während der Irr-
sinn noch vor sich ging. Dann hatte er dagestanden, mit einer frischen Identifizierung von Lang, nur ein Stockwerk unter einer Prostituierten, die einen Wächter niedergeschlagen hatte und entflohen war, und nur sieben Stockwerke über ihr, als sie in der Leichenhalle im Keller fünf Personen als Geiseln genommen und blassbeigen Tod auf ihre Schultern gelegt hatte. Deshalb ließ er sich jetzt von einem Streifenwagen die Uniform holen, die in einem Schrank in seinem Zimmer in Kronoberg hing. Bald würde er aussehen wie ein PEC – ein polizeilicher Einsatzchef. Beide Dramen waren jetzt seine. Slobodan drehte sich um und schaute zum Auto und zu Jochum Lang hinüber, ehe er durch die Türen des Söderkrankenhauses schritt. Sein rasierter sonnenbrauner Schädel und der breite Nacken leuchteten durch die regennassen Glasscheiben. Er mochte diesen verdammten Glatzkopf eigentlich ungeheuer gern, der war wie ein großer Bruder für ihn gewesen, so einer, den man bewundert und vor dem man sich ein wenig fürchtet. Aber hier ging es
jetzt um ihn selbst, er war fünfunddreißig und musste sich durchsetzen, man musste sich Respekt verschaffen, auch bei denen, die nicht damit rechneten. Und diesmal hatte Jochum ins Förmchen geschissen, als er mit dem Waschpulverdealer gesprochen und dabei eine Zeugin hinterlassen hatte. Diesmal musste Slobodan für Ordnung sorgen. Lisa Öhrström. Norrländischer Akzent. Zwischen dreißig und fünfunddreißig. Eins fünfundsiebzig. Dunkle Haare. Brille in der Brusttasche, schwarze Bügel mit kleinen Gläsern. Slobodan fuhr mit dem Fahrstuhl in den sechsten Stock. Er ging zu den etwas weiter liegenden Türen, öffnete sie, spazierte langsam auf die Station, durch einen menschenleeren Gang. Er blieb ungefähr auf halber Strecke stehen, vor einem Glaskasten, in dem eine Frau stand. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt. Er klopfte leise an das Fenster, bis sie sich umdrehte. Sie war es nicht. Diese hier war älter, zwanzig Jahre älter. »Ich suche Dr. Lisa Öhrström.« »Die ist nicht hier.« Er lächelte. »Das sehe ich.«
Sie erwiderte sein Lächeln nicht. »Sie hat zu tun. Worum geht es?« Die Frau, die Stationsschwester, er sah das Namensschild auf ihrer Brust, war angespannt, ihr Gesicht nervös. »Wir hatten eben die Polizei hier. Die haben bereits mit ihr gesprochen. Mit Dr. Öhrström. Geht es darum?« »Könnte man so sagen. Was haben Sie noch gesagt, wo sie ist?« »Ich habe nichts gesagt.« »Wo?« »Sie hat Patienten. Und noch andere, die warten. Es war heute ein wenig hektisch hier, wir sind im Rückstand.« Er trat einen Schritt zurück, zog den Stuhl, der an der Wand gestanden hatte, zu sich heran, setzte sich. Er zeigte ihr, dass er nicht vorhatte, zu gehen. »Dann holen Sie sie eben.« Er hatte an dem kleinen Fenstertisch in dem Raum gesessen, der eben noch das zufällige Zuhause eines Opfers gewesen war, einer misshandelten Frau, das nun aber der Tatort einer Täterin war, einer
gewalttätigen Person, und per Mobiltelefon hatte er Befehle erteilt, bis der Akku leer gewesen war und das Telefon durch ein frisch aufgeladenes ersetzt werden musste. Ewert hatte jeden freien Streifenwagen sofort zur Notaufnahme des Söderkrankenhauses bestellt, er nahm an, dass sie weit genug von dem eventuellen Sprengbereich entfernt lag. Er hatte angeordnet, allen normalen Verkehr vom Ringväg zu sperren, die Einfahrt zum Krankenhaus war jetzt nicht mehr zugänglich. Er hatte mit der Krankenhausleitung gesprochen und sie aufgefordert, den Teil des Gebäudes, der in der Nähe der Leichenhalle lag, evakuieren zu lassen, alle Menschen mussten fort, da unten ist eine Frau mit Waffe und Sprengstoff, die Menschen müssen fort, jetzt gleich! Er erhob sich, warf einen kurzen Blick auf Sven Sundkvist, der gerade das Zimmer betrat, zeigte auf die Tür. Sie gingen schweigend hinaus auf den Gang. Es waren einige intensive Minuten gewesen. »Ich brauche auch einen Sprengstoffexperten.« »Ja.« »Erledigst du das?« »Ich erledige das.«
Sie hatten die Fahrstühle erreicht. Sven ging auf den soeben eingetroffenen zu. »Fahren wir? Oder nehmen wir die Treppe?« Grens hob eine Hand. »Noch nicht.« Er hielt einen Umschlag in der Hand. Den reichte er seinem Kollegen. »Das hier habe ich bei ihrem Bett gefunden. Das war das Einzige dort, was nicht dem Krankenhaus gehörte.« Sven Sundkvist nahm den Umschlag, schaute ihn an, gab ihn danach zurück. Er ging in das nächste Zimmer, suchte eine Weile, bis er das Gesuchte gefunden hatte. Der Stapel aus Plastikhandschuhen lag in einem Regal über einem Waschbecken. Er nahm sich ein Paar, streifte es über. »So. Krieg ich es noch mal?« Er öffnete den Umschlag. Ein Notizbuch, blaues Deckblatt. Sonst nichts. Er sah Ewert an, blätterte danach in dem Block. Zwei Seiten waren herausgerissen worden. Vier andere waren dicht beschrieben. Eine fremde Sprache, slawisch vielleicht. »Von ihr?« »Das nehme ich an.« »Ich kapier kein Wort.«
»Das muss übersetzt werden, Sven. Kannst du das in die Wege leiten?« Ewert Grens streckte die Hand aus, wartete, während Sven den blauen Block wieder in den Umschlag steckte, nahm ihn dann entgegen. Er zeigte an den Fahrstühlen vorbei. »Die Treppe.« »Jetzt?« »Wir dürfen doch nicht festsitzen, wenn etwas passiert.« Sie gingen die steile Betontreppe neben dem Fahrstuhl hinunter. Sie kamen an dem großen roten Fleck vorbei, der vor kurzem noch zu Hilding Oldéus gehört hatte. Das Einzige, was von ihm übrig geblieben war, jetzt, wo die Grüngekleideten ihn weggetragen hatten. Ewert zuckte mit den Schultern, als sie vorübergingen. »Das nehmen wir uns später vor.« Zwei Treppenstufen, dann blieb Sven stehen. Er wartete einige Sekunden und ging dann zurück, zum Blutfleck. »Warte einen Moment, Ewert.« Er starrte den Fleck an, ließ seinen Blick an dessen
Rändern entlangwandern, das Blut war weit die Wand hochgespritzt. »Was treibt uns Menschen um? Siehst du das, Ewert? Die Reste von etwas, das vorhin noch gelebt hat.« »Wir haben keine Zeit.« »Ich verstehe das nicht. Ich weiß genau, wie es funktioniert, was es ist, was uns antreibt, aber ich verstehe es trotzdem nicht.« Sven Sundkvist ging in die Hocke, wiegte seinen Körper ein wenig hin und her, hätte fast das Gleichgewicht verloren, als er sich wieder erhob. »Wir wissen, wer er war. Er hatte doch Möglichkeiten. Hilding Oldéus war begabt. Das wissen wir ja. Aber er hatte ein verdammt schweres Päckchen zu tragen. Er trug seine Schande auf den Schultern, wie alle anderen verdammten Idioten. Wo immer die wohl hergekommen war.« »Wir haben es verdammt eilig.« »Du hörst nicht zu, Ewert. Die Schande frisst. Die Schande treibt sie alle an. Wir sollten keine Verbrecher jagen. Wir sollten die Schande jagen, die die Verbrecher antreibt.« »Ich hab jetzt keine Zeit, Sven. Wir gehen jetzt.«
Sven Sundkvist blieb stehen. Er registrierte, wie gereizt Ewert war, ignorierte das aber. »Hilding Oldéus hat geglaubt zu wissen, wer er im tiefsten Herzen war. Er glaubte, um keinen Preis mit diesem Menschen etwas zu tun haben zu wollen, er wollte ihn nicht kennen lernen, er schämte sich dieses Menschen. Warum hat er das getan?« Ewert Grens seufzte. »Ich weiß nicht.« »Wahrscheinlich wusste er es selbst nicht. Aber das Heroin hat blockiert. Das wusste er immerhin. Es hat die Schande blockiert.« Sven Sundkvist sah Ewert Grens an. Er hatte nicht zugehört. Er war schon auf dem Weg die Treppe hinunter. »Wir haben eine Irre, die da unten mit einer Waffe auf Menschen zielt. Du musst schon entschuldigen, Sven. Wir reden später darüber.« Ein Stock tiefer. Sven hatte Ewert gerade eingeholt, als der ihn ansah und sagte, während sie weitergingen: »Du?« »Ja?« »Einen Vermittler. Ich brauche auch einen Vermittler.«
»Der ist schon unterwegs.« »Unterwegs?« »Das war eine ihrer Forderungen.« Ewert erstarrte mitten im Schritt. »Was zum Teufel redest du da?« »Das habe ich eben erfahren. Als ich angerufen und Verstärkung verlangt habe. Sie hatte eine Geisel anrufen lassen. Einen Oberarzt. Offenbar der, der die Situation beschrieben hatte. An ihrer Stelle. Sie spricht kein Schwedisch. Und nur ganz wenig Englisch.« »Und?« »Als er fertig war, musste er einen Namen vorlesen, den sie auf einen Zettel geschrieben hatte. Bengt Nordwall.« »Bengt?« »Ja.« »Wieso das?« »Das wissen wir nicht. Die Leitung konnte es nur so deuten, dass sie ihn dort unten dabeihaben will. Ich hätte das sicher auch so gesehen.« Ewert war Bengt schon lange nicht mehr im Dienst begegnet. Abgesehen vom Vortag, vor der eingeschlagenen Tür in einem Treppenhaus. Jetzt wür-
den sie sich wieder begegnen, nur einen Tag später. Er zog die privaten Treffen vor, Frühstück im Regen, seine einzige Beziehung ohne Uniform. Sie liefen durch das Erdgeschoss. Einige hundert Meter Gang, dann die Notaufnahme. Sie grüßten kurz Ärzte und Pflegepersonal, die ihnen begegneten, hofften, mit Fragen verschont zu werden, sie hatten keine Zeit für Erklärungen, noch nicht. Sie gingen durch den Ausgang, hinaus auf die Laderampe, wo sonst mehrmals täglich die Krankenwagen hielten und auf schweren Bahren verletzte Menschen ins Haus trugen. Hierher hatten sie alle freien Streifenwagen bestellt. Es war noch nicht sehr lange her, aber Sven konnte sehr schnell vierzehn Wagen auf dem großen Parkplatz zählen, fünfzehn mit dem, der soeben durch das große automatische Tor fuhr, noch immer mit rotierendem Blaulicht. Ewert Grens wartete noch fünf Minuten. Achtzehn Polizeifahrzeuge standen dicht an dicht. Er hatte einen Stadtplan von Stockholm ausgebreitet und auf das Dach des ersten Wagens gelegt. Sie standen alle hinter ihm, sagten nicht viel, warteten auf den Kommissar, der groß war und klobig
und der schüttere graue Haare hatte, der ein wenig hinkte und einen steifen Nacken hatte, nachdem er einmal in einer Würgeschlinge gelandet war, einen wütenden Arsch, von dem sie alle gehört hatten, mit dem aber kaum jemand von ihnen schon zusammengearbeitet hatte. Sie wussten, dass er am liebsten in seinem Zimmer saß und Siw Malmkvist hörte, während er seine Ermittlungen allein verfolgte, dass nicht viele seine Tür durchschreiten durften, dass es eine Tür war, an die viele eigentlich lieber gar nicht klopfen wollten. Sie warteten weiter, bis er sich umdrehte und sie schweigend ansah, lange Sekunden, bis er schließlich sagte: »Wir haben es mit einer Frau zu tun. Vor kurzem erst haben wir sie bewusstlos aus der Wohnung ihres Zuhälters getragen. Sie wurde hier im Krankenhaus betreut. So weit ist es einfach. So weit haben wir das alles schon einmal gesehen.« Er schaute sich um. Die anderen standen schweigend da, hörten zu. Sie sind so jung, dachte er. Sie sind schön und stark, aber sie haben das alles sicher noch nicht gesehen. »Aber aus irgendeinem Grund, aus irgendeinem
verdammten Grund, verwandelt sich diese Irre gegen Mittag in etwas, das wir noch nie gesehen haben. Sie besorgt sich, weiß der Teufel wie, eine kleine Waffe. Sie kann sich kaum bewegen, aber mit der Waffe in der Hand schlägt sie trotzdem ihren Bewacher nieder. Sie spaziert in den Keller und von dort in die Leichenhalle. Sie schließt die Tür hinter sich zu und nimmt die fünf Personen, die sich gerade dort aufhalten, als Geiseln. Sie dekoriert ihre Körper mit Sprengstoff. Und dann ruft sie uns an.« Ewert Grens redete gelassen zu den Kollegen, die er noch nie gesehen hatte, die vermutlich auch ihn noch nie gesehen hatten. Er wusste, was er zu tun hatte, was hier von ihm erwartet wurde. Er ließ einen noch größeren Teil des Krankenhauses evakuieren, als bisher angeordnet. Sie hatte da unten ein ganzes Pfund Sprengstoff, samt Zündern. Das war die Menge, die ihm bekannt war. Aber sie konnte ja noch viel mehr angebracht oder versteckt haben. Sie hatte eine ziemliche Entfernung durch das Krankenhaus zurückgelegt, der Dreck konnte also überall sein. Er erweiterte die Absperrungen um das Kranken-
haus. Nicht mehr nur die Auffahrt, sondern auch die ganze Strecke, wo im Moment die Pendler im dichten Verkehr am Krankenhausgelände vorbeifuhren. Den Ringväg von den Rasenflächen im Park Tantolunden bis zum Asphalthof der Eriksdalsschule. Er beantragte, die Nationale Einsatztruppe innerhalb von sechzig Minuten zum Sturm auf das Krankenhaus bereit zu machen. Er rief selbst einen der Leiter dieser Einsatztruppe an, John Edvardson, einen Russisch sprechenden klugen Mann, dem er einige Male begegnet war, und ging mit ihm erst einmal die Lage durch. Da Bengt schon eingetroffen war, hatte er jetzt zwei Menschen, die die Sprache beherrschten, in der sie bald über Leben und Tod verhandeln würden. Sven Sundkvist stand zwei Meter weiter. Er sah seine Kollegen an, die vor ihm auf der Laderampe der Notaufnahme warteten, die Ewerts Befehle entgegennehmen sollten. Sie waren da. Sie waren wirklich da. Anwesend, konzentriert, im Jetzt, nirgends sonst. Er war nicht da.
Im tiefsten Herzen war es ihm doch scheißegal, dass eine Prostituierte von der anderen Seite der Ostsee ihre Waffe auf fünf Weißkittel richtete, die sich zufällig zum falschen Zeitpunkt in einer Leichenhalle aufgehalten hatten, oder dass Jochum Lang einige Stock höher soeben als der erkannt worden war, der Hilding Oldéus das Leben genommen hatte. Er hatte nichts gegen seine Arbeit. Absolut nicht. Er mochte sie sogar, es fiel ihm noch immer leicht, zum Dienst zu gehen. Er hatte natürlich mit dem Gedanken gespielt, das schon, etwas ganz anderes zu machen, etwas, bei dem er nicht die Folgen von Gewaltverbrechen sehen musste, etwas, das ein wenig lichter war, aber er hatte diesen Gedanken immer wieder verdrängt, es war nur ein Traumspiel gewesen. Er war Polizist. Er war gern Polizist. Er hatte keine Lust, etwas anderes anzufangen. Aber jetzt, jetzt war er nicht da. Er wollte nach Hause. Nur an diesem Tag. Er hatte versprochen, gleich nach Mittag nach Hause zu kommen, dann könnten sie wieder damit anfangen, eine Familie zu sein.
Er trat noch zwei Schritte zurück, teilweise versteckt hinter einem wartenden Krankenwagen, er rief an, und Jonas meldete sich. Mit Vornamen und Nachnamen. Das machte er immer so. Hallo, ich heiße Jonas Sundkvist. Sven erklärte und schämte sich, und Jonas weinte, weil Sven doch versprochen hatte, und er schämte sich noch mehr, und Jonas schrie, »ich hasse dich«, denn er und Mama hatten alles so schön gemacht, mit Kuchen und Kerzen, und Sven konnte nicht mehr viel ertragen, er stand eine Weile schweigend mit dem Telefon in den Händen da und schielte zu Ewert hinüber, der die Besprechung beendete, und zu den vielen anderen Kollegen, die eilig auseinanderliefen und in unterschiedliche Richtungen verschwanden, er atmete tief durch und riss sich zusammen und hob das Telefon wieder an den Mund und flüsterte Verzeih mir in das elektronische Schweigen, das entsteht, wenn jemand aufgelegt hat. Es war Juni und Sommer und als ein großes Krankenhaus in der Stockholmer Innenstadt mitten am Tag zur Hälfte evakuiert und dann mit hohen Gittern für die Öffentlichkeit abgeriegelt wurde,
schrie jede Kamera, jedes Mikrophon, jeder Kugelschreiber vor Freude auf, es roch nach Blut und Chaos und Schlagzeilen, um die Sauregurkenzeit aufzupeppen. Sie hatten achtzehn Wagen mit rotierendem Blaulicht zum Krankenhaus fahren sehen, und jetzt drängten sie sich mit den üblichen Gaffern vor den beiden engen Passagen zusammen, wo uniformierte Polizisten das Gitter für das Pflegepersonal öffneten, das noch immer aus dem Krankenhaus strömte. Ewert Grens hatte den Pressesprecher der Polizei und das Krankenhaus gebeten, soweit das von hier aus möglich war, eine Pressekonferenz in die Wege zu leiten und von da an so wenig wie möglich zu sagen. Er wollte Ruhe in dem Zimmer in der Notaufnahme, das jetzt als improvisierte Einsatzzentrale diente, er wollte Ruhe auf den Gängen im Keller bei der Leichenhalle. Er dachte voller Entsetzen an ein Geiseldrama, das sich einige Jahre zuvor an der Westküste abgespielt hatte, da hatten die Geiselnehmer in einem Privathaus gesessen und ihre grobkalibrigen Waffen auf ihre Geisel gerichtet. Gewalttätig und der Polizei nur zu vertraut, hatten sie eben mit den Verhandlungen angefangen und auf den nächsten Kontakt
gewartet, als ein Journalist von einem schwedischen Fernsehsender es geschafft hatte, Identität und Mobilnummer in Erfahrung zu bringen, um dort anzurufen und vor laufender Kamera ein Interview zu verlangen. Er wusste, dass das nichts helfen würde. Egal, zu wie vielen sinnlosen Pressekonferenzen er sie zu schicken versuchte. Eine misshandelte Prostituierte vom Baltikum, die danach im Krankenhaus Geiseln nimmt, das ist doch eine brisante Geschichte. Die Pressemeute würde hier stehen bleiben, bis alles vorüber wäre. Die Einsatzzentrale war eigentlich ein Operationssaal. Die Behandlungszimmer der Notaufnahme waren beide frei, und dann gab es noch diesen Raum, einen vollständig eingerichteten Reservesaal, der nur selten benutzt wurde. Sie hatten zusammen mit dem Personal alles auf die Seite geschoben, was sich auf die Seite schieben ließ, das, was einmal steril gewesen war, diente jetzt als improvisierte Tische und Stühle, und während die Polizisten kamen und gingen, saß die Einsatzlei-
tung, die nie aus weniger als drei Personen bestand und nie aus mehr als fünf, auf den Plätzen, die jetzt zu ihren geworden waren. Ewert Grens hatte nach Drohungen und noch mehr Drohungen dem Marketingchef einer Telefongesellschaft die Nummer des Mobiltelefons entlockt, das um zwölf Uhr einunddreißig von der Leichenhalle aus den polizeilichen Notruf angerufen hatte. Eine Nummer mit heimlichem Abonnement, registriert auf Oberarzt Gustaf Ejder vom Söderkrankenhaus. Er ließ die Nummer auf einem großen Blatt ausdrucken und befestigte das dann zwischen zwei Schränken aus rostfreiem Stahl an der Wand ihm gegenüber, neben dem Zettel mit der Nummer des Festanschlusses der Leichenhalle. Er saß auf dem Platz, der zu seinem geworden war, in einer Ecke bei der Operationspritsche. Er wartete seit fast zwei Stunden. Er trank Kaffee aus einem Krankenhausbecher und war ungeduldig. »Die macht uns nur Stress.« Niemand hörte auf ihn. Falls er das gewollt hatte, vielleicht hatte er es nur loswerden, es laut sagen wollen.
»Sie weiß vielleicht genau, was sie da tut. Dass Schweigen Stress macht. Oder sie hat zusammengepackt, hat eingesehen, dass das hier zum Teufel geht, und bringt es nicht mehr.« Er leerte seinen Becher, zerdrückte ihn in der Hand, erhob sich, lief unruhig im Zimmer hin und her. Er schaute zu Sven Sundkvist hinüber, der in der anderen Zimmerecke saß, mit einer umwickelten Bahre als Schreibtisch, ein Telefon am Ohr, er hatte lange mit irgendwem gesprochen und legte jetzt auf. »Das war Ågestam. Er kam gerade von einer Besprechung mit Errfors über die Leichenschau, offenbar will er Hilding Oldéus noch heute Nachmittag aufmachen. Und dann war er neugierig, er wollte wissen, was hier los ist, er hatte ja von dem Alarm und dem Einsatz gehört und kann sich ja denken, dass das hier eine Riesennummer werden kann.« Ewert blieb mitten im Zimmer stehen und schleuderte den zerdrückten Plastikbecher gegen die Wand. »Dieser kleine Schnösel von Staatsanwalt! Das hier riecht nach was Großem, und es riecht nach Karriere, und da kommt er gekrochen. Aber wenn wir
ihn bitten, Lang festzuhalten, ist sein Interesse schon viel kleiner, Mafiatorpedos, die Dealer umbringen, bringen ihm keine saftigen Interviews.« Ewert Grens konnte Lars Ågestam nicht leiden. Er konnte junge Staatsanwälte mit modischer Frisur und blanken Schuhen, die mit der Universität als einziger Lebenserfahrung ihm erzählen wollten, was triftige Verdachtsmomente und ausreichende Grundlage für die Anklageerhebung waren, überhaupt nicht leiden. Sie hatten einander ein Jahr zuvor kennengelernt und waren aneinandergeraten und hatten einander verabscheut. Ågestam war bei der Jagd auf einen Sexualverbrecher zum Leiter der Voruntersuchung ernannt worden. Ågestam hatte bei den Verhandlungen ins Licht der Öffentlichkeit gestrebt und dort brilliert, und Ewert Grens hatte ihn mehrere Male gebeten, sich zum Teufel zu scheren. Seit damals hatte der Möchtegernoberstaatsanwalt ihm mehrere Male im Weg gestanden, und sie hatten einander weiterhin angeschrien. Er schluckte jetzt vor Wut, er hatte es schon gedacht, schon zwei Stunden zuvor, als er Lydia Grajauskaitės leeres Bett in Zimmer 12 verlassen hatte, hatte er es gedacht: Ågestam wird
merken, dass das hier nach Aufmerksamkeit und noch mehr Scheinwerfern riecht, er wird sich verbeugen und schleimen und sich nackt ausziehen, wenn das nötig ist, um auch diesmal wieder zum Leiter der Voruntersuchungen ernannt zu werden. Er lief weiterhin unruhig in dem grell beleuchteten Zimmer herum – die aufdringlichen Leuchtröhren unter der Decke, kräftig, um bei akuten Operationen zu helfen, aber jetzt nur irritierend, er winkte ihnen abwehrend zu, als ob das helfen könnte. »Mit Grajauskaitė ist es dasselbe.« Sven Sundkvist saß weiterhin in der anderen Zimmerecke und hatte die Hände auf die eingewickelte Bahre gelegt. Er achtete nicht darauf, dass Ewert noch immer den Deckenlampen zuwinkte. »Verstehst du, Ewert? Es ist eigentlich genau dasselbe, was jetzt passiert. Was sie und ihre Taten antreibt, ist die Schande. Genau wie bei Oldéus.« »Sven, nicht noch einmal. Jetzt nicht.« »Du erinnerst dich doch an die Völundsgata? Du erinnerst dich an Wodka und Rohypnol im Badezimmer? Was glaubst du, worum es da ging? Sie hat dasselbe getan. Hat blockiert. Sie hat sich ge-
schämt. Sie hat es nicht über sich gebracht, sich selbst zu akzeptieren.« Ewert Grens drehte sich demonstrativ um, fragte mit dem Rücken zu Sven: »Wie lange ist sie jetzt schon da unten?« »Du verstehst, was? Sie wird wieder und wieder geschändet. Sie hasst das, was passiert, muss aber weitermachen. Und scheint das zuzulassen, was sie nicht will. Scheint jedes Mal mitzumachen. Sie hat versucht, mit dieser Schande zu leben. Aber es ist doch sicher klar, dass das nicht geht. Ewert?« Ewert Grens drehte sich nicht um. Er schlug wütend mit der Hand gegen die Wand und schrie. »Ich habe gefragt, wie lange, Sven. Wie lange bedroht diese Irre schon fünf Menschen, die ihr nur zufällig über den Weg gelaufen sind? Ich will eine Antwort!« Sven Sundkvist atmete zweimal tief durch, schaute dann hinüber zu dem Mann, der ihn anschrie. Er zögerte noch einige Atemzüge, dann sah er auf die Uhr, die neben dem Telefon auf der Pritsche stand. »Vor einer Stunde und dreiundfünfzig Minuten ist ihr Anruf bei uns eingegangen.« »Und wie lange da unten?«
»Wir tippen auf zwei Stunden und zwanzig Minuten. Der misshandelte Wächter hatte die Zeit einigermaßen im Kopf. Als sie aufs Klo ging, liefen gerade die Mittagsnachrichten, einige Minuten schon, und dann vergingen noch einige Minuten, und dann hat sie ihn niedergeschlagen. Ich halte zwei Stunden und zwanzig Minuten für eine ziemlich korrekte Zeitangabe.« Grens stand still da, schaute lange auf seine eigene Armbanduhr. »Zwei Stunden und zwanzig Minuten. In einem verschlossenen Raum, mit Geiseln und ohne irgendwelche wirklichen Forderungen zu stellen. Sie hat Bengt verlangt, um Russisch zu sprechen. Mehr nicht. Sie weiß, dass sie uns Stress macht. Und jetzt werden wir den Spieß umdrehen.« Ewert Grens hatte, als er eingesehen hatte, dass sie im Krankenhaus eine Einsatzzentrale einrichten mussten, Sven Sundkvist bei sich gehabt. Er hatte John Edwardson angerufen, einen von vier Einsatzleitern bei der Nationalen Einsatztruppe. Er hatte sich auch an die Gewaltsektion gewandt und die junge Vertretungskraft angefordert, die ein breites Schonisch sprach, Hermansson. Er hatte
bereits erkannt, dass sie sorgfältig und methodisch arbeitete, jetzt wusste er auch, dass sie stark war, sie hatte sich absolut nicht beeindrucken lassen, als Hilding Oldéus sie beim Verhör durch Fickbewegungen und »Bullenfotze« provoziert hatte, sie hatte dem zugedröhnten Arsch einfach eine gescheuert. Jetzt hatte er den Kern seiner Einsatzleitung zusammen. Er sah Hermansson an, die ihren provisorischen Schreibtisch mit Sven teilte, ihre Papiere lagen auf dem anderen Ende der Bahre. »Du musst Vodafone anrufen. Ich habe dem Sakko von der Marketingabteilung klargemacht, dass sie auf unsere Wünsche einzugehen haben. Sag ihm, er soll die verdammte Mobilnummer der Irren sperren. Für ausgehende Gespräche. Nur dafür. Danach rufst du die Telefonzentrale hier im Krankenhaus an und sagst ihnen, sie sollen das auch mit dem Festanschluss unten bei den Leichen machen.« Sie nickte ihm zu, sie hatte verstanden. Die Frau, die Russisch sprach und eine Waffe in der Hand hielt, sollte nicht nach Lust und Laune kommuni-
zieren können, es war ihre Kommunikation, die der Polizei, für die die Polizei die Bedingungen festlegte. Ewert Grens ging zum Wasserkocher, den irgendwer auf einen hohen Hocker gestellt hatte. Er füllte ihn aus der Wasserkanne, die daneben stand, und schaltete ihn ein. Dann nahm er einen Plastikbecher von dem Stapel auf dem Boden und gab drei gestrichene Teelöffel Pulverkaffee hinein. »Damit entscheiden wir, wann geredet wird. Wir machen hier den Stress. Wir lassen sie schmoren.« Er wartete nicht auf Antwort. »Und Bengt. Wo steckt der?« Bengt hatte sie festgehalten. Seine Hände hatten den Sicherheitsgurt gepackt und es dann nicht mehr geschafft, sie war im Fahren aus dem Bus gerissen worden. Fünfundzwanzig Jahre. Bald. Er näherte sich. Wenn die Leichenhalle vorüber wäre. Es gab da oben eine Zeugin. Und es würde die Strafe geben, die Lang schon so lange verdient hatte. Annis Strafe. Sven zeigte in Richtung Tür.
»Nordwall sitzt da draußen. Im Wartezimmer. Auf einem Sofa zwischen den Patienten, die noch auf Behandlung warten.« Ewert schaute schweigend in die Richtung, in die Svens Finger zeigte. Er zögerte, dann sagte er: »Der soll herkommen. Es ist so weit. In einer halben Stunde haben wir die Einsatztruppe im Gang vor der Leichenhalle postiert. Und dann kann er den ersten Kontakt aufnehmen.« Der Wasserkocher zischte wütend. Ewert Grens schaltete ihn aus, füllte den Becher mit Wasser und rührte mit dem Teelöffel um. Er blies auf die heiße Flüssigkeit und wollte eben daran nippen, als das Telefon klingelte, das auf einem Schrank mitten im Zimmer lag und nur einem Zweck diente. Die Alarmzentrale hatte die Nummer erkannt und befehlsgetreu den Anruf durchgestellt. Ewert Grens griff zu dem klingelnden Telefon. Er hielt es in der Hand, sah die im Display aufleuchtenden Ziffern an. Sie war ihm zuvorgekommen. Er stand still da, ließ es klingeln. Er zählte vierzehn Klingeltöne. Er lächelte, als sie verstummten.
Lydia Grajauskait schaute auf die Uhr über der Tür. Eben hatte sie wieder angerufen, wie vorhin, die Medizinstudentin hatte die Nummer gewählt und das Telefon gegen das Ohr des grauhaarigen Arztes gedrückt. Sie hatte es vierzehnmal klingeln lassen. Sie hatte gewartet, hatte die dumpfen Töne gehört, einen nach dem anderen, vierzehn Mal. Ohne Antwort. Sie war unsicher, waren sie nicht durchgekommen oder hatte die Polizei ganz einfach nicht reagiert? Sie saß auf einem Stuhl ungefähr drei Meter von den anderen entfernt. Das war eine gute Entfernung, sie hatte die volle Kontrolle und riskierte nicht, ihnen zu nahe zu kommen. Sie saßen seit dem ersten Anruf stumm da, niemand sagte ein Wort. Sie kniffen oft die Augen zusammen, die Angst ließ sich nicht verleugnen. Sie schaute sich um. Die Leichenhalle bestand eigentlich aus mehreren Räumen. Zuerst das weite Foyer, durch das sie gekommen war, wo sie eine Weile gesessen hatte, um sich zu sammeln, ehe sie die Pistole aus der Plastiktüte
gezogen, ehe sie sie vor sich gehalten hatte und damit in den nächsten Raum gegangen war, den mit den fünf weißen Kitteln um eine Bahre mit einem toten Menschen. Ein noch größerer Raum wartete dann hinter der Wand, wo die fünf jetzt auf Knien lagen. Eine Art Lager, mit Aktenschränken und Bahren und ausgeschalteten elektronischen Geräten. Sie hatte das alles gewusst, ehe sie hergekommen war. Sie hatte sich die Informationsbroschüre über das ganze Krankenhaus genau angesehen, die die polnische Krankenschwester ihr geliehen hatte, und sie hatte sie in ihr Notizbuch abgezeichnet und diese Seiten danach herausgerissen. Sie wusste auch, dass es noch einen weiteren Raum gab. Dort war sie noch nicht gewesen, sie war vollauf damit beschäftigt gewesen, sich bei ihren Geiseln Respekt zu verschaffen und sie zu bewachen, aber sie wusste, dass dieser Raum hinter ihr lag, hinter der großen grauen Metalltür. Der größte Raum. Die eigentliche Leichenhalle, in der verbrauchte Körper aufbewahrt wurden. Plötzlich begann einer der drei Studenten, der, der
vorhin unkontrolliert geweint und sich erst wieder aufgerichtet hatte, als sie ihm den Pistolenlauf gegen die Schläfe gepresst hatte, heftig an zu atmen, sein Atemtempo steigerte sich rasch bis zum Hyperventilieren. Sie blieb sitzen, senkte die Waffe, sah zu, wie er mit gefesselten Armen vornüberkippte, ohne sich abstützen zu können. Er zitterte heftig, als er mit dem Gesicht auf den Boden gepresst dalag. »Hilf ihm!« Der ältere Arzt, der vorhin telefoniert hatte, war heiser, er rief, konnte sich aber nicht bewegen, er starrte sie an und auf Hals und Wangen bildeten sich rote Flecken. »Help! Help him!« Lydia zögerte. Sie sah den Menschen, der zitternd auf dem Boden lag. Sie stand auf, hob wieder die Pistole, einige kurze Schritte, dann hatte sie ihn erreicht. Sie schaute zu den anderen Geiseln hinüber, wollte sich davon überzeugen, dass sie noch immer daknieten, den Rücken an die Wand gepresst. Deshalb sah sie es nicht. Dass seine Hände frei waren.
Dass er zitternd vor ihr auf dem Boden lag, das Gesicht auf den Boden gepresst, die Hände locker an der einen Hüfte liegend. Sie bückte sich, ihr eingegipster Arm an seinem Nacken, als er sich zu ihr hindrehte. Sie kippte rückwärts, er fiel auf sie, er schlug mit einer Hand nach ihrem Kopf und versuchte mit der anderen, die Pistole aus ihren verkrampften Fingern zu ziehen. Er war so viel stärker als sie. Er war wie die anderen. Die auf ihr gelegen und sie geschlagen hatten, vergewaltigt, die sie hasste und denen sie nie wieder gestatten würde, sie zu schlagen. Sicher schaffte sie es deshalb. Das dachte sie jedenfalls danach. Seine Hand zog an der Waffe, und sie konnte sich lange genug widersetzen, um ihre Finger um den Abzug zu krümmen. Der Schuss schrie durch den Raum und der Mann, der sie schändete, ließ sie los, er fiel zur Seite, er war schwer, als er auf den Boden aufprallte, und er schnitt eine Grimasse, als ihm aufging, dass der Schmerz aus seinem Bein kam. Sie hatte dicht unterhalb der Kniescheibe getroffen, er würde lange nicht mehr gehen können.
Die ersten Mitglieder der Nationalen Polizeilichen Eingreiftruppe hatten sich jetzt im unteren Gang des Söderkrankenhauses postiert, als sie eine Stimme aus der Nähe der Leichenhalle rufen hörten. Die Stimme war leise, und es fiel ihnen schwer, etwas zu verstehen, nicht einmal, als sie sich langsam näherten, konnten sie mehr als nur ein leises Stöhnen registrieren. Dann sahen sie ihn, er lag ausgestreckt und in Seitenlage quer über den Gang, mit dem Kopf zur Tür der Leichenhalle. Sein Bein blutete, er hatte schon so viel Blut verloren, dass sie begriffen, dass er sofortige Behandlung brauchte. Sie bereiteten sich sorgfältig vor, aber nichts passierte, als sie ihn nach einigen Minuten erreichten und seinen verletzten Körper auf eine schlichte Bahre hoben. Die trainierte Elitegruppe übereilte nichts, sie brachte einen Schritt nach dem anderen hinter sich, so, wie sie es vorher beschlossen hatten, nicht schneller, nicht langsamer. Sie wussten, dass dieser Mensch ein Köder sein konnte, den sie schlucken sollten. Als sie die Bahre zwölf Minuten darauf in die improvisierte Einsatzzentrale in der Notaufnahme
trugen, wartete Ewert Grens schon ungeduldig. Über Funk hatte er erfahren, dass der Mann Medizinstudent war und Johan Larsen hieß, dass er zu den fünf Geiseln gehörte, und dass die Frau, die sich kurz nach Mittag in Krankenhauskleidung in die Leichenhalle geschlichen hatte, eben mit einer grobkalibrigen Waffe seine beiden Kniescheiben durchschossen und ihm danach mehrmals mit dieser Waffe auf die Stirn geschlagen hatte. Grens lief sofort zu der Bahre, als die hereingetragen wurde, und versuchte, Kontakt aufzunehmen, wurde aber brüsk von einem der Notärzte abgewiesen, es müsse noch eine Weile warten, der Patient müsse erst verarztet werden. Er hatte viele Fragen. Er brauchte viele Antworten. Lydia Grajauskaitė saß wieder auf dem Stuhl, vor den vier übrig gebliebenen Geiseln. Sie war müde, es waren grauenhafte Minuten gewesen. Schon als sie auf ihn geschossen hatte, hatte sie gewusst, dass es nicht reichen würde. Sie hatte doch von Anfang an versucht, sich Respekt zu verschaffen, ihnen klarzumachen, dass sie es ernst
meinte. Das hatte nicht geklappt. Als er wie die anderen Männer auf ihr gelegen hatte, hatte sie begriffen, dass sie es genauso machen musste. Nach unten drücken, nach unten drücken, wieder und wieder, sie brauchte Macht und die anderen brauchten Angst. Sie wollte keinen weiteren Aufruhr, beim nächsten Mal könnte es anders ausgehen. Sie hatte mit der Waffe in der Hand auf dem Boden gelegen, neben ihr der Medizinstudent, er hatte vor Schmerzen geschrien und sein rechtes Knie umklammert. Sie hatte sich erhoben, hatte die vier angesehen, die sich an die Wand pressten, hatte den Mann angesehen, der sie überfallen hatte. Sie hatte den anderen ihre Waffe gezeigt, hatte auf sie gewiesen. »Not again. If again. Boom.« Dann hatte sie einen Schritt auf ihn zugemacht, hatte sich über ihn gestellt, einen Fuß auf jeder Seite seines Körpers. Sie hatte den vieren vor der Wand ein weiteres Mal die Waffe gezeigt, hatte boom gesagt und dann auf seine andere Kniescheibe geschossen, auf das linke Bein. Er hatte wieder geschrien, und sie hatte sich vorgebeugt, hatte die
vier angesehen, hatte boom boom gesagt und den Pistolenlauf in seinen Mund gepresst. Sie hatte ihn dort gelassen, bis er ganz still geworden war, dann hatte sie den Lauf herausgezogen, die Waffe umgedreht und mit dem Kolben auf sein Gesicht eingeschlagen, bis er das Bewusstsein verloren hatte. Sie hatte ihn geschlagen, wie die anderen sie geschlagen hatten. Dann hatte sie den Sprengstoff von seinen Schultern entfernt, hatte auf die Studentin und den grauhaarigen Arzt gezeigt, hatte ihre Hände losgebunden und sie angewiesen, den Bewusstlosen durch das Foyer zu tragen, die Ausgangstür zu öffnen und ihn in den leeren Gang zu legen. Sie saß still da, hielt die Pistole fest, richtete sie auf die anderen. Die draußen hatten inzwischen den Angeschossenen gefunden, sie hatten ihn vielleicht sogar schon geholt, ihn zum Sprechen gebracht. Das war gut. Was er zu erzählen hatte, würde ihnen klarmachen, dass sie sich nicht geschlagen geben würde, dass ihr die Sache ernst war, dass sie den Respekt bekommen würde, den sie verlangte, so lange das hier ablief. Sie wollte mit ihnen sprechen.
Mit denen da draußen. Sie wollte nicht mehr warten. Sondern ihnen sagen, was sie wollte. Sie gestikulierte mit der Pistole in der Luft. Die Frau sollte das Telefon nehmen und die Nummer wählen. Es würde ihr dritter Anruf sein. Zuerst der, mit dem sie von der Geiselnahme berichtet hatte. Dann die vierzehn Klingeltöne ohne Antwort. Jetzt wählte die junge Studentin abermals diese Nummer, drückte das Telefon gegen das Ohr des älteren Arztes. Er wartete, dann schüttelte er den Kopf. »Dead.« Sie hörte, was er sagte, war sich aber nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte. »Again!« »Dead. No tone.« Der ältere Arzt fuhr sich mit der Hand über die Kehle, wie in einem Hollywoodfilm, wenn jemand hingerichtet werden soll, er machte es noch einmal und sagte zweimal dead. Sie hatte begriffen. Sie erhob sich, zielte noch immer mit der Waffe auf die Geiseln, sie ging zum Festanschluss, der über ihren Köpfen an der Wand befestigt war.
Sie nahm den Hörer ab, hörte die Stille. Zwei Telefone. Ihr Kontaktweg. Sie hatten ihn abgeschnitten. Sie schrie die vier knienden Menschen an, auf Russisch, das diese wiederum nicht verstanden, sie schrie und deutete auf die Tür zum Nachbarraum, dem Lager mit Aktenschränken und elektronischer Apparatur. Sie erhoben sich, Beine und Rücken schmerzten nach diesen Stunden auf dem Boden, sie gingen hinein und setzten sich vor eine neue Wand. Sie wusste jetzt, dass sie gehorchten, aber sie zeigte trotzdem mit der entsicherten Waffe auf sie und sagte, if again, boom, dann zog sie die Tür hinter sich zu. Sie lief durch den Raum, vorbei an der Bahre mit dem toten Körper, sie ging auf die blaue Metalltür auf der anderen Seite zu. Die öffnete sie, ging allein hinein, in den großen Saal, der die eigentliche Leichenhalle darstellte.
John Edvardson war mit nur vierunddreißig Jahren zum operativen Einsatzleiter der Nationalen Einsatztruppe befördert worden. Zollschule, Universitätsstudium von Russisch und Staatswissenschaft,
Polizeihochschule und einige Jahre bei der Streife hatten ihn an der Schlange der selbsternannten Kandidaten für diesen Posten vorbeigetragen. Damals hatte es allerlei Murren gegeben, wie das immer so ist, wenn das Ego einen aufs Dach bekommt, aber er war genau die glückliche Lösung gewesen, auf die die Polizeileitung gehofft hatte, klug, beliebt, einer, mit dem man nicht machen kann, was man will, einer, der nicht laut rufen muss, um gehört zu werden. Ewert Grens war ihm einige Male begegnet. Es war keine Freundschaft daraus entstanden. Ewert Grens hatte kein Interesse daran, aber er hatte verstanden, wer der andere war, hatte seine Professionalität zu schätzen gelernt. Er war froh, als er ihn in der provisorischen Einsatzzentrale neben sich hatte, zwischen Bahren und Skalpellen. Edvardson ging zu Ewert, nahm seinen Arm und führte ihn ein Stück von dem Medizinstudenten mit den durchschossenen Knien weg. »Du brauchst ihn nicht zu vernehmen. Noch nicht. Ich habe einen von meinen Leuten auf dem Weg vom Leichenhallengang hierher mit ihm reden lassen.«
Ewert hörte zu, dann schaute er zu dem Arzt hinüber, der die beiden Kniescheiben untersuchte. »Ich brauche alles.« »Du kannst jetzt nicht alles haben. Das muss warten, aber du kannst schon erfahren, dass der angeschossene Larsen glaubt, dass es sich bei dem Sprengstoff um Semtex handelt. Er will nicht verraten, warum er das weiß, aber er scheint sich seiner Sache sicher zu sein. Er hat den Sprengstoff beschrieben, beige Masse, das stimmt. Sie hat die Geiseln und alle Türen damit gepflastert. Sie hat Zünder, und er ist sich ganz sicher, dass sie sie im Ernstfall benutzen wird.« »Er muss es ja wissen.« »Und du verstehst, was das bedeutet?« »Ich glaube schon.« »Wir können die Leichenhalle nicht stürmen. Das ist unmöglich. Wir setzen die Geiseln aufs Spiel, wenn wir reingehen.« Ewert Grens drehte sich zu Edwardson um, schlug gereizt mit der Hand auf einen Rolltisch aus rostfreiem Stahl. Der Knall wurde von der heftig vibrierenden Metallfläche noch verstärkt.
»Ich kapier hier gar nichts mehr. Seit wann bewaffnen sich so kleine Irre und nehmen Geiseln!« »Er hat erzählt, wie gut sie sich im Griff hat. Sie hat eine Art Selbstkontrolle, die ihm Angst gemacht hat. Sie war gut vorbereitet, sie hatte Schnur, um die Geiseln zu fesseln, mehr als genug Munition für eine Weile und ausreichend Sprengstoff, um uns auszusperren.« »Kontrolle.« »Das hat er gesagt. Kontrolle und Mut. Er hat es mehrere Male wiederholt.« »Ich scheiße auf ihre Kontrolle. Ich will, dass du deine Leute postierst. Wie du es für richtig hältst. Und ich will Scharfschützen. Wenn es sein muss, dann müssen wir sie erschießen können.« Edvardson hatte das Zimmer schon fast verlassen, als Grens ihn zurückrief. Der Umschlag lag auf einer Bahre, die zufällig beiseite geschoben worden war. Ewert Grens holte ihn, bat Edvardson, Plastikhandschuhe überzustreifen, und ließ dann das Notizbuch mit dem blauen Deckel in seine Hände fallen. »Das gehört Grajauskaitė. Kannst du das lesen?«
John Edwardson blätterte vorsichtig um. Er schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Litauisch. Das kann ich nicht.« »Sven, wo bleibt der verdammte Dolmetscher?« Ewert Grens drehte sich zu der Ecke um, in der Sven Sundkvist saß, als der Notarzt, der im angrenzenden Zimmer Johan Larsons Verletzungen untersuchte, mit der Hand winkte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. »Grens?« »Ja?« Ewert ging zur Bahre hinüber und wollte eine kurze Vernehmung des Studenten durchführen. Der Notarzt hob abwehrend die Hand. »Nein. Noch nicht.« »Ich brauche weitere Auskünfte.« »Noch nicht. Er kann noch nicht antworten.« »Zwei Scheißkniegelenke! Da unten sind noch andere Menschen!« »Es geht nicht um die Knie. Das sehen Sie ja wohl. Der Schock setzt erst jetzt ein. Wenn wir darauf keine Rücksicht nehmen, werden Sie niemals eine Antwort bekommen.«
Ewert Grens sah Larson an, der mit weißem Gesicht dalag und dem der Speichel über das Kinn lief. Für einen Moment ballte er die Faust um das Taschentuch in seiner Tasche, das, mit dem er Anni immer abwischte. Er kniff die Augen zusammen, sah dann noch einmal Larsons offenen Mund an und wollte wieder auf den Metalltisch schlagen, blieb aber nur mit ausgestrecktem Arm stehen. »Sie nimmt Geiseln. Sic sorgt dafür, dass wir davon erfahren. Sie füllt die ganze verdammte Leichenhalle mit Sprengstoff. Aber sie stellt keine Forderungen!« Er ließ seine Hand weitermachen, die Metallplatte bebte, und der Lärm schlug gegen die Wände. »Sven?« »Ja?« »Ruf sie an. Wird Zeit für einen kleinen Plausch.« Sie war noch nie in einer richtigen Leichenhalle gewesen. Sie blieb stehen, als die blaue Metalltür hinter ihr zuschlug, und sah sich um. Der Raum war größer, als sie erwartet hatte, ein hellgelber Saal mit steriler Beleuchtung, weiße Fliesen dort, wo die Obduktionen durchgeführt wurden, groß
wie die beiden Tanzsäle, die sie und Vladi früher in Klaipėda besucht hatten. Die Kühlschränke liefen fast an der ganzen Wand entlang, stahlgraue Türen mit kleinen Kühlfächern, fünfzig mal fünfundsiebzig Zentimeter, immer drei und drei übereinander. Lydia zählte fünfzehn Reihen. Fünfundvierzig Gefrierfächer. Darin lagen Menschen. Tiefgefrorene Körper in Ruhelage. Sie konnte es nicht verstehen, wollte es nicht verstehen. Sie dachte an Vladi, das machte sie manchmal, er fehlte ihr. Sie waren zusammen aufgewachsen, waren zusammen in die Schule gegangen, sie hatte gern seine Hand gehalten, sie waren zusammen spazieren gegangen, hatten geplant, Klaipėda zu verlassen, ab und zu waren sie zur Stadtgrenze gegangen, waren dort stehen geblieben und hatten sich umgedreht, hatten die Stadt angesehen, hatten sie wirklich angesehen, sie hatten sich gesehnt, das hatten sie getan, hatten sich zusammen gesehnt. Sie hatte gedacht, dass er ihr gehörte. Er hatte gedacht, dass sie ihm gehörte.
Lydia ging langsam über den harten Boden, grauer Klinker. Sie hatte ihn seit mehr als drei Jahren nicht mehr gesehen, sie hätte gern gewusst, wo er war, was er machte, ob er jemals an sie dachte, Sie dachte an ihre Eltern. Papa und das LukuskėlesGefängnis. Mama und die Wohnung in Klaipėda. Sie hatten sicher ihr Bestes getan. Viel Liebe hatte es nicht gegeben, aber auch keinen Hass und keine Schläge. Sie hatten gewissermaßen mit sich selbst genug zu tun gehabt. Sie fragte sich, ob auch sie sich einst nach etwas anderem gesehnt hatten, ob auch sie an die Stadtgrenze gegangen waren, sich umgedreht hatten, etwas anderes gesucht hatten. Sie war froh darüber, dass ihre Mutter nicht wusste, wo sie jetzt war. In einer Leichenhalle, eine zerschundene Nutte, die eine Waffe in der Hand hielt und sie auf andere Menschen richtete. Sie war froh darüber, dass Vladi das nicht zu wissen brauchte. Sie fragte sich, ob er es verstanden hätte. Sie glaubte, ja. Er hätte verstanden, dass wenn jemand genügend gekränkt wird, der Augenblick kommt, wo die Kränkung zurückgegeben werden muss. Dass es einfach so ist. Dass es einfach nicht mehr wei-
tergeht, dass es keinen Platz mehr gibt, einfach das. Es dauerte einige Sekunden, ehe sie das Telefon hörte. Den Festanschluss, der an einer Wand im mittleren Raum befestigt war, einige Schritte von dem toten Menschen auf der Bahre entfernt. Sie lief über den Steinboden, vorbei an den Kühlschränken, öffnete die blaue Metalltür. Sie nahm an, dass es viermal geklingelt hatte, vielleicht fünf. Sie nahm den Hörer ab, wartete schweigend. Sie hatte Schmerzen. Die Wirkung des Morphiums ließ langsam nach, es fiel ihr jetzt schwer, sich zu bewegen, sie sah ein, dass es bald noch schlimmer werden würde. Es dauerte eine Weile. Er sprach Russisch, damit hatte sie nicht gerechnet, die Männerstimme sprach Russisch mit skandinavischem Akzent, und sie begriff erst, als er sich vorstellte. »Bengt Nordwall. Ich bin von der Polizei.« Sie schluckte. Das hatte sie nicht geglaubt. Sie hatte es gehofft, das schon, aber geglaubt hatte sie es nicht. »Du hast mich herkommen lassen.« »Ja.«
»Lydia? Stimmt das? Ich höre zu, solange du ... « Sie fiel ihm ins Wort, schlug mit dem Finger auf dem Hörer und redete mit lauter Stimme. »Warum habt ihr die Telefone gesperrt?« »Wir haben ... « Wieder schlug sie auf den Hörer. »Ihr könnt mich anrufen. Aber ich kann euch nicht anrufen. Ich will wissen, warum nicht.« Er zögerte einen Moment, sie wusste, dass er sich zu den Kollegen umsah, die hinter ihm standen, er suchte eine Art Unterstützung, sie nickten einander sicher zu, gestikulierten mit den Händen in der Luft. »Ich weiß nicht, was du meinst. Wir haben kein Telefon gesperrt. Wir haben große Teile des Krankenhauses evakuiert, weil du Geiseln genommen hast. Aber wir haben kein Telefon gesperrt.« »Bring eine bessere Erklärung.« »Lydia, wir haben auch die Telefonzentrale evakuiert. Ich nehme an, dass dein Telefon deshalb nicht funktioniert.« »Telefone. Nicht eins, sondern alle beide! Haltet ihr mich für blöd? Für eine bescheuerte Ostblocknutte? Ich weiß, wie Telefone funktionieren. Und ihr
wisst, dass ich schieße. Also kein Scheißgerede mehr. Fünf Minuten. Ihr habt jetzt genau fünf Minuten, um dafür zu sorgen, dass ich hier wieder telefonieren kann. Sonst schieße ich auf eine Geisel. Und diesmal werde ich nicht auf die Beine zielen.« »Lydia, wir ... « »Und versucht bloß nicht, hier reinzukommen. Dann sprenge ich die Geiseln und das Krankenhaus in die Luft.« Wieder zögerte er. Sah seine Kollegen an. Räusperte sich. »Wenn wir die Telefone in Ordnung bringen, was kriegen wir dann?« »Was ihr kriegt? Euch bleibt etwas erspart. Eine tote Geisel nämlich. Jetzt sind es nur noch vier Minuten und fünfzehn Sekunden.« Ewert Grens hatte dem ganzen Gespräch zugehört, das Edvardson gleichzeitig übersetzt hatte. Er nahm die Kopfhörer ab, legte sie zwischen Sven Sundkvist und Hermansson auf die Pritsche. Er griff zu dem Plastikbecher, den er danebengestellt hatte, trank den Rest des jetzt kalten Kaffees. »Was meint ihr?«
Er sah Sven an, dann Hermansson, Edvardson, Bengt Nordwall. »Was meint ihr? Blufft sie?« John Edwardson war genauso angezogen wie die Kollegen, die er in den Krankenhausgängen postiert hatte. Schwarze Lederstiefel, Uniformhosen in Tarnfarben mit großen viereckigen Taschen auf den Oberschenkeln, doppelte graue Westen; zuerst eine Ausrüstungsweste mit Reservemagazinen für die Schusswaffen, die er auf die eine Bahre gelegt hatte, dann eine kugelsichere Weste voller Metallplatten, die zumindest den üblichsten Geschossen Widerstand leisten konnten. Der Raum war schon zu eng und zu warm geworden, er schwitzte, seine Stirn glänzte, und er hatte große dunkle Flecken unter den Achselhöhlen. »Sie hat bewiesen, dass sie keine Angst davor hat, die Geiseln zu verletzen.« »Aber blufft sie?« »Das braucht sie doch nicht. Sie ist ja im Vorteil.« »Und warum sollte sie den Vorteil verspielen?« »Das tut sie nicht. Wenn sie eine Geisel erschießt, hat sie immer noch drei.« Grens sah Edvardson an, schüttelte den Kopf.
»Warum zum Teufel nimmt sie in einer Leichenhalle Geiseln? Kein Fenster, kein anderer Ausweg. Spielt keine Rolle, wenn sie sie allesamt erschießt. Wir erwischen sie, sowie sie versucht, rauszukommen. Entweder das, oder einer von unseren Scharfschützen trifft sie. Das muss sie wissen. Sie hat es schon gewusst, als sie hineingegangen ist. Ich versteh das nicht.« Hermansson saß schweigend mitten im Raum, auf ihrem Platz an einer Pritsche. Ewert hatte registriert, dass sie kaum etwas gesagt hatte, seit sie gekommen war. Vielleicht sagte sie ja auch sonst nicht viel, oder es fiel ihr schwer, ihren Platz zu finden zwischen den Männern, die mit ihrer Routine und ihrer Selbstverständlichkeit allen Raum einnahmen, der hier einzunehmen war. Jetzt erhob sie sich, sah ihn an. »Es gibt eine andere Möglichkeit.« Grens mochte ihr breites Schonisch. Es schenkte Vertrauen, es zwang ihn sozusagen zum Zuhören. »Wie meinst du das?« Sie zögerte, erwog den Gedanken aufzugeben, sie war sich sicher, dass sie Recht hatte, aber es gab doch diese seltsame Unsicherheit, die sie verab-
scheute, ohne sie verdrängen zu können, wenn sie sie ansahen wie ein kleines Mädchen, sie wusste, dass sie nicht so dachten, aber so kam es ihr eben trotzdem vor. »Sie ist schwer verletzt. Sie hat Schmerzen. Sie wird nicht mehr lange durchhalten. Aber ich glaube nicht, dass sie denkt wie ihr. Sie hat die Grenze schon überschritten, hat Dinge getan, die sie sich vermutlich niemals zugetraut hätte. Ich glaube, dass sie sich entschieden hat. Ich glaube, dass sie die Leichenhalle nicht wieder verlassen will.« Ewert Grens stand ganz still da. Das kam bei ihm nicht oft vor. Immer kämpfte er mit der Unruhe, lief mit seinem schweren Körper unruhig in einem Zimmer hin und her. Auch wenn er saß, war er auf irgendeine Weise immer in Bewegung, reckte die Arme oder stampfte unbewusst mit dem Fuß oder drehte den Oberkörper hin und her. Nie war er still. Jetzt war er es. Hermansson hatte eben das gesagt, was er selber hätte begreifen müssen. Einige tiefe Atemzüge, er bewegte sich wieder, drehte um die Pritsche und ihre zufälligen Sitzplätze eine Runde nach der anderen.
»Bengt.« Bengt Nordwall stand in der Türöffnung, er stemmte die Hände gegen den Türrahmen. »Ja?« »Bengt, du musst sie wieder anrufen.« »Jetzt gleich?« »Ich glaube, wir haben es verdammt eilig.« Bengt Nordwall verließ die Tür, lief zu dem Telefon, das mitten im Raum aufgestellt war. Er setzte sich nicht, jagte die Sekunden, die Ewert einholen wollte, und kämpfte dazu mit dem verdammten Widerwillen, den er bereits im Garten gespürt hatte, als sich die Bilder des zerschundenen Rückens ihm aufgedrängt hatten. Er wusste, wer sie war. Er hatte es schon vor der Wohnung in der Völundsgata gewusst. Das Gefühl war jetzt stärker, das Unbehagen, die Angst. Bengt Nordwall schielte zu dem Zettel an der Wand hinüber, zu der Nummer, die er eingeben sollte. Er drehte sich zu Ewert um, wartete, bis der das Abhörgerät aufgesetzt hatte.
Er wählte die Nummer. Achtmaliges Klingeln, keine Antwort. Er sah wieder die Wand an, den anderen Zettel, die vergrößerte Kopie mit der Mobilnummer. Und rief dort an. Acht zehn zwölfmal Klingeln. Keine Antwort. Er schüttelte den Kopf, legte den Hörer hin. »Sie hat sie abgeschaltet. Alle beide.« Bengt Nordwall suchte Ewert, der noch immer unruhig im Kreis ging, sein Gesicht war rot, als er schrie: »Was für ein verdammtes Miststück!« Grens wollte gerade noch einmal schreien, als er auf die Uhr sah, zuerst auf die an seinem Arm, dann auf die an der Wand. Er wurde leiser. »Noch anderthalb Minuten.« Sie wusste, dass sie horchten. Sie wusste, dass sie still saßen. Aber sie öffnete trotzdem die Tür, verschaffte sich einen raschen Überblick. Sie saßen im Lagerraum, Aktenstaub wirbelte in der Luft. Sie schwiegen, hatten die Rücken gegen die Wand gepresst. Sie drehten sich zu dem Geräusch einer Tür, die geöffnet wurde, sie sahen sie, sie zeigte ihnen
die Waffe, zeigte damit lange genug auf sie, damit sie noch einmal den Tod spürten. Papa war vornüber gefallen. Sie hatten ihm die Hände auf den Rücken gefesselt. Sein Gesicht war hart auf den Boden aufgeschlagen. Sie hätte zu ihm rennen sollen. Aber sie hatte sich nicht getraut. Die Pistole an ihrem Kopf, es hatte wehgetan, als der, der sie gehalten hatte, den Druck gegen die zarte Schläfenhaut gesteigert hatte. Sie schloss die Tür, ging in den mittleren Raum zurück. Sie sah auf ihre Uhr. Sie hatten ihre fünf Minuten gehabt. Sie hängte das Telefon wieder an die Befestigung an der Wand. Sie schaltete das Mobiltelefon ein, drückte auf den Knopf mit dem grünen Symbol und wählte dann die vier Ziffern, die der ältere Arzt ihr genannt hatte. Sie wartete nur einige Sekunden. Es klingelte, womit sie ja schon gerechnet hatte. Sie ließ es zweimal klingeln. Dann hob sie den Hörer ab, den des schwarzen Wandtelefons. »Die Zeit ist zu Ende.« Bengt Nordwalls Stimme. »Lydia, wir brauchen ... «
Ihr harter Schlag auf die Sprechmuschel. »Habt ihr getan, was ich wollte?« »Wir brauchen mehr Zeit. Jetzt dauert es nicht mehr lange. Dann können wir den Irrtum mit den Telefonen in Ordnung bringen.« Ihr brach der kalte Schweiß aus. Jeder Atemzug war ein Schlag gegen ihren Körper. Es fiel ihr schwer, ihre Gedanken zu sammeln, den Schmerz zu verdrängen. Lydia schlug mit dem Pistolenlauf auf den Hörer. Diesmal mehrere Schläge, härter. Aber sie sagte nichts. Bengt Nordwall wartete, er hörte, wie ihre Schritte verschwanden. Sie wusste, dass er sich jetzt zu seinen Kollegen umdrehte, dass sie mit ihren Kopfhörern dastanden und versuchten zu verstehen. Er packte sein Telefon und rief dann nach einem kurzen Moment, so laut er es wagte: »Hallo!« Er hörte den Widerhall. Wie dieses Wort durch den Raum tanzte. »Hallo!« Dann hörte er das, was er nicht hören wollte. Der Schuss war so laut, dass er alles andere erstickte.
Sie schoss in einem geschlossenen Raum, und deshalb schlug eine gewaltige Kraft gegen den Hörer. Es war schwer zu sagen. Ob nur wenige Sekunden vergangen waren. Oder mehr. »Jetzt habe ich drei lebende und eine tote Geisel. Jetzt gebe ich euch noch fünf Minuten. Dann will ich von hier aus anrufen können. Wenn das nicht geht, erschieße ich die nächste Geisel.« Ihre Stimme klang fest. »Ihr solltet auch die Leute wegholen, die vor der Eingangstür auf dem Gang sitzen. Ich werd da gleich ein paar Ladungen hochgehen lassen.«
Ewert Grens hatte den Schuss gehört. Er hatte ihr Schweigen aussitzen wollen. Als sie sprach, hatte er sich auf ihre Stimmlage konzentriert, war sie ruhig, wollte sie ruhig klingen, das war das Einzige, was er tun konnte, von diesem verdammten Russisch verstand er doch kein Scheißwort. John Edvardson stand hinter ihm, beugte sich vor, übersetzte das, was sie eben gesagt hatte. Grens hörte zu und fluchte.
Er drehte sich zu Sven Sundkvist um, bring die Scheißtelefone in Ordnung, Sven, sie muss wieder anrufen können, und zwar verdammt sofort, dann wieder zu Edvardson, sie hatten sich geeinigt, die Einsatzkräfte ein Stück vom Eingang zur Leichenhalle zurückzuziehen, kein Arsch soll da vor der Tür umkommen! Dann schwieg er eine Weile, atmete schwer, legte Sven eine Hand auf die Schulter, suchte dessen Blick. »Und du musst eine kugelsichere Weste anziehen.« Sven Sundkvist zuckte fast zusammen, Ewerts Hand, ihm ging auf, dass Ewert ihn noch nie angefasst hatte. »Du musst hingehen, Sven. In den Kellergang. Ich muss es wissen. Muss deine unmittelbaren Eindrücke hören. Brauche Augen, auf die ich mich verlassen kann.« Sven Sundkvist saß ungefähr fünfzig Meter vor der Eingangstür zur Leichenhalle entfernt, an der Stelle, wo der Gang sich gabelte. Er wartete hinter dem letzten Mauerstück des anderen Ganges, zusammen mit drei Angehörigen der Einsatztruppe. Er
saß noch keine zwei Minuten dort, als er hörte, wie die Tür, die er bewachte, geöffnet wurde. Er lag auf den Knien, kroch vorwärts und schaute in den Spiegel, der ein Stück weiter entfernt stand. Der Gang war dunkel, aber aus der Leichenhalle fiel das Licht einer grellen Lampe. Ein Mann bewegte sich in diesem Licht, sein Körper war eine dunkle Silhouette, er ging gebeugt, schleppte etwas. Sven begriff nicht sofort, was das war. Der Mann hielt einen Arm, er schleppte einen Körper. Sundkvist riss das Nachtfernglas hoch, das in der Tasche neben einem Angehörigen der Einsatztruppe lag, wägte das Risiko ab, sich zu deutlich zu zeigen, hielt das Fernglas dann so, dass er in vorgebeugter Haltung um die Ecke schauen konnte. Er konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen, sah aber, wie der plötzlich den Arm losließ, den er gehalten hatte, wie er zurückrannte und die Tür zur Leichenhalle zuzog. Sven Sundkvist kroch rückwärts, saß im Schutz der Mauerecke da. Er keuchte, hielt das Funkgerät an den Mund und sagte: »Grens, kommen.«
Es knackte, wie diese Dinger immer knackten. »Grens hier. Kommen.« »Ich habe gerade einen Mann gesehen. Er kam aus der Leichenhalle, schleppte einen leblosen Körper. Er ist jetzt wieder in der Halle, aber der Körper liegt dort. Ich habe die Drähte gesehen, die von ihm wegführen. Wir können nicht vorrücken. Der Körper ist verkabelt!« Ewert Grens wollte gerade etwas sagen, wurde aber von dem seltsamen Geräusch übertönt, als ein menschlicher Körper gesprengt wurde. Das Funkgerät war stumm, genauer gesagt, das war es nicht, vielleicht war Svens Schrei schon von Anfang an dort gewesen. »Sie hat es getan, Ewert! Sie hat die Geisel gesprengt!« Seine Stimme, sie war schwach, brach. »Hörst du mich, Ewert! Da sind nur noch Fetzen übrig. Nur noch Fetzen!«
Lisa Öhrström hatte Angst. Sie hatte den Schmerz nun schon so lange in sich herumgetragen, den Schmerz, der brannte und schrie, der sie dazu
zwang, mitten im Schritt innezuhalten, um sich davon zu überzeugen, dass sie noch immer atmen konnte. Sie hatte den Mann gesehen, der wahrscheinlich zuerst geschlagen und dann den Rollstuhl die Treppe hinuntergestoßen hatte, und sie hatte gewusst, dass diese Bilder sie länger jagen würden, als sie es ertragen könnte. Sie hatte nichts gegessen, hatte es mit einem Apfel und einem belegten Brot versucht, aber das war nicht gegangen. Sie schien nicht schlucken zu können, es schien in ihrem Mund keinen Speichel mehr zu geben. Sie begriff es nicht. Er war jetzt sicher tot. Aber sie wusste nicht, ob es gut tat, genau zu wissen, wo er jetzt war, was er nicht mehr tun konnte, dass er weder sich noch anderen etwas antun konnte. Oder ob sie trauerte. Oder ob sie sich eigentlich nur darauf vorbereitete, wie sie darüber mit Ylva und ihrer Mutter sprechen sollte. Vor allem dachte sie wohl daran, dass sie es Jonathan und Sanna beibringen musste, damit die es verstanden, die geliebten Kinder ihrer Schwester, ihre Ersatzkinder, die Kinder, die sie selbst nie bekommen hatte.
Onkel Hilding ist tot. Onkel Hilding ist heute auf einer Treppe umgebracht worden. Lisa Öhrström ging wieder in die Küche, holte sich Kaffee, der seit dem Morgen dort stand. Sie hatte gefleht und einer der Polizisten, die noch auf der Station waren, hatte nach einer Weile mehr erzählt, als er gedurft hätte. Sie wusste, dass der Mann mit dem rasierten Schädel, der ihren Bruder zu Tode misshandelt hatte, den sie danach bei der Vernehmung als Foto Nummer 32 identifiziert hatte – sie wusste jetzt, dass er Lang hieß dass er als Torpedo arbeitete, so einer, der drohte und zuschlug, wenn er dafür bezahlt wurde. Sie wusste auch, dass er schon mehrmals wegen Gewaltverbrechen vorbestraft und vieler weiterer Verbrechen verdächtigt wurde, aber die Zeugen, die es gab, wollten plötzlich nicht mehr aussagen, so arbeiteten sie, mit Drohungen, die zu Angst wurden, und ängstliche Menschen reden nicht. Jochum Lang saß noch im Auto vor dem Krankenhauseingang, ohne sich umzusehen. Slobodan hatte seine Art, lebte seine kleinen Chefallüren aus
und kriegte einen Ständer davon, dass er für Ordnung sorgte und dass Jochum eine Zeugin produziert hatte und dass auch hier für Ordnung gesorgt werden musste. So ist es wohl, dachte er, früher oder später macht man einen Patzer, früher oder später setzt man Macht aufs Spiel und muss gegen kleine Jungs kämpfen, die bitten und betteln, die vergessen haben und eine Erinnerung brauchen. Er beugte sich zum Fahrersitz vor, drehte den Zündschlüssel halb herum, schaute auf die Uhr, die ganz unten im Armaturenbrett angebracht war. Zwanzig Minuten. Inzwischen musste Slobodan sie gefunden und mit ihr gesprochen haben. Lisa Öhrström stand in der Küche, an das Spülbecken gelehnt. Der Kaffee war stärker als gut war, aber sie trank trotzdem, froh, weil sie schlucken konnte. Sie hatte nicht einmal die Hälfte der Visiten hinter sich gebracht, die auf der Liste in ihrer weißen Kitteltasche verzeichnet waren, es war ein wirrer Morgen gewesen, es würde ein langer Tag werden.
Sie wollte gerade die Tasse wegstellen, als die Stationsschwester zur Tür hereinkam, sie machte einen besorgten Eindruck, ihre Wangen waren rot. »Solltest du nicht nach Hause gehen?« »Nicht allein. Das schaff ich nicht, Anne-Marie. Ich bleibe hier.« Die Stationsschwester schüttelte langsam den Kopf. »Wir hatten hier einen Mord. Du hast ihn gesehen. Du solltest dich wenigstens an das Krisenteam wenden.« »Hier sterben oft Menschen.« »Das hier war dein Bruder.« »Mein Bruder ist schon sehr lange tot.« Die Stationsschwester sah ihre Kollegin an. Legte ihr vorsichtig die Hand an die Wange, dann holte sie tief Luft, redete weiter. »Da will jemand mit dir sprechen.« Lisa erwiderte ihren Blick, sie hielt den Kaffeebecher in der Hand, sie trank langsam den letzten Rest. »Wer?« »Ich weiß nicht. Mir gefällt er nicht.« »Patient?«
»Nein.« Die Stationsschwester setzte sich an den Tisch, legte eine Hand auf die rotweiß karierte Plastikdecke. Lisa Öhrström fing ihren Blick ein. »Was will er?« »Er hat nicht lockergelassen. Er will mit dir sprechen. Mehr hat er nicht gesagt.« Sie setzte sich an den Küchentisch, dicht neben die Stationsschwester, und dann bebte der Boden unter ihren Füßen plötzlich einige Sekunden lang, das Geschirr im Küchenschrank klirrte für einen Moment. Das ganze Haus schien zu zittern. Sie wusste, dass Teile des Krankenhauses evakuiert worden waren, aber sie wusste nicht, warum, und während das Zimmer sich nun bewegte, hatte sie das Gefühl, dass eine Bombe hochgegangen war, sie war noch nie in der Nähe einer Bombe gewesen, aber das, dachte sie jetzt, war wie das Zittern, das auf eine Detonation folgt. Jochum Lang drehte noch einmal den Zündschlüssel um, schaltete die Scheibenwischer ein, er wollte hinaussehen können, während er wartete. Es war
so ein Tag, es würde bis zum Einbruch der Dunkelheit regnen. Es kam plötzlich. Er hörte ihn deutlich, den dumpfen Knall, im Krankenhaus. Er drehte sich um, versuchte durch die regennassen Fensterscheiben der Eingangstür zu schauen. Sprengstoff. Da war er sich sicher. Es war so ein Geräusch. Er bereitete sich auf weitere Detonationen vor, aber die kamen nicht, nur ein Knall, dann war es wieder still.
Es war zu viel Licht im Raum. Ewert Grens ärgerte sich schon über die verdammten Lampen, seit er den Operationssaal der Notstation betreten und angefangen hatte, die im Weg stehenden Einrichtungsgegenstände zu verschieben. Er hatte gerade den Knall eines in die Luft gesprengten menschlichen Körpers gehört, gefolgt von Svens verzweifeltem Anruf per Funk. Diese verdammten Lampen, dachte er, ich kann sie nicht mehr ertragen, wie kann man so viel Licht aushalten? Er setzte sich, sprang dann aber sofort wieder auf, stürzte fast
durch den Saal, vorbei an der Pritsche mit Edvardson und Hermansson, er warf sich gegen den Knopf an der Wand und schaltete die Lampen aus. Nur für eine Weile. Keine Körper, die sich auflösten. Keine Irren, die über das Leben anderer Menschen verfügten. Nur eine Weile, die Lampen, die Gereiztheit, die Dunkelheit, die Knöpfe an der Wand, damit er begriff. Um auszuhalten, musste man begreifen, nur für eine Weile. Es war hell genug, um einander zu sehen. Ewert lief wieder durch den Raum, drehte die Runden, die er brauchte, er vergaß die Lampen, die nicht mehr leuchteten, spürte, dass er atmete, spürte die Farbe im Gesicht. Er blieb in der Ecke stehen, wo Bengt Nordwall noch immer mit den Kopfhörern saß, legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du musst wieder anrufen.« Das Beben hörte so plötzlich auf, wie es angefangen hatte. Lisa Öhrström saß noch am Küchentisch, ihre Hand lag auf der der Stationsschwester. »Anne-Marie.« »Ja?« »Wo ist er?«
»Vor deinem Büro. Er macht mir Angst. Ich weiß nicht, aber weil dein Bruder umgebracht worden und die Polizei den ganzen Vormittag hier herumgerannt ist, ist das zu viel.« Lisa Öhrström schwieg, schaute einen Moment lang das rotweiße Karomuster an, dann wurde an die Tür geklopft. Sie drehte sich um. Ein Mann, dunkle Haare, Schnurrbart, leichtes Übergewicht. Sie sah, wie die Stationsschwester vorsichtig ihren Kopf bewegte, wie sie nickte und bestätigte. »Verzeihen Sie die Störung.« Er hatte eine sanfte Stimme, klang freundlich. »Wollten Sie mit mir sprechen?« »Ja.« »Worum geht es?« »Um eine Privatangelegenheit. Können wir woanders hingehen?« Sie spürte, wie ihr Magen sich verkrampfte. Sie sah ihn an, und ein Teil von ihr wollte nur schreien, wollte nur weglaufen. Aber ein anderer Teil war plötzlich wütend, die Angst, die sie überkommen hatte, es war doch nicht ihre, es war Hildings verdammte Fixerei, ihr ganzes Leben war durch seine Flucht bestimmt worden, und jetzt machte
er damit weiter, sogar jetzt, wo er tot war, nahm er ihr ihre Kraft. Sie schüttelte den Kopf, zögerte mit der Antwort. Ihr Magen brannte, die Angst riss an ihr. »Ich glaube, ich bleibe hier.« Ewert Grens hatte ihm befohlen anzurufen, und er streckte die Hand aus, um den Hörer hochzuheben. Bengt Nordwall hätte lieber gewartet, noch eine kleine Weile, um sich zu beruhigen, das, was sich unter seinen Füßen bewegt hatte, gefiel ihm überhaupt nicht. Sein Mund war trocken, er schluckte, konnte sich aber nicht von Widerwillen und Unbehagen befreien. Er fragte sich, ob er reden sollte, er wusste doch, wer sie war. Noch nicht. Noch war es nicht nötig. Stattdessen befolgte er Ewerts Befehl, beugte sich vor, um die Nummer des Festanschlusses in der Leichenhalle zu wählen. Das schaffte er nicht mehr. Es klingelte bereits. Er drehte sich um, sah Ewert an, der nickte und setzte die Kopfhörer auf, die bisher um seinen Hals
gehangen hatten. Er wartete zwei Klingeltöne ab, dann meldete er sich. »Ja?« »Nordwall?« »Ja.« »Du hast gehört?« »Ich habe gehört.« »Dann habt ihr verstanden.« »Das haben wir.« »Traurig, dass dafür eine tote Geisel nötig war.« »Was willst du?« »Erstens: Ich verhandele nicht. Zweitens: ihr könnt hier nicht rein, ohne dass ich uns alle in die Luft sprenge.« »Das haben wir verstanden.« »Die Geiseln sind mit Sprengstoff verkabelt, die Leichenhalle auch.« »Lydia, wenn du dich beruhigst, bin ich sicher, dass wir zu einer Einigung kommen können. Aber ich muss wissen, warum du das hier tust.« »Das werde ich noch sagen.« »Wann?« »Später.« »Und jetzt?«
»Du musst herkommen.« Er wusste jetzt, warum sie die Geiseln genommen hatte. Auf irgendeine Weise hatte er das die ganze Zeit gewusst. Das Unbehagen, das er nicht abschütteln konnte, wurde jetzt zu etwas anderem, etwas, das er noch nie verspürt hatte, zu Todesangst. Er kniff die Augen zusammen, als er weitersprach. »Wie meinst du das?« »Ich kann nicht die Geiseln bewachen und mich gleichzeitig mit euren Telefonspielchen abmühen. Also kommst du her. Du und ich sprechen Russisch, und du hast das Telefon und redest mit deinen Kollegen.« Bengt Nordwall atmete schwer. Ewert Grens hatte ihrem Gespräch zugehört, ohne etwas zu verstehen, Sven saß noch immer im Keller vor einer Wand an der Stelle, wo der Gang sich gabelte. Nordwall erklärte kurz, sagte, was sie verlangte, und Grens schüttelte energisch den Kopf. Das nicht. Nie im Leben. Die beiden Polizisten gingen zu Fuß um das Söderkrankenhaus und sahen das Auto, als sie sich dem Parkplatz vor dem Haupteingang näherten. Es war
neu, teuer und parkte falsch, zwei Räder auf dem schmalen Bürgersteig. Es war schwer, von hinten hineinzusehen bei dem strömenden Regen, aber sie sahen doch, dass auf dem Beifahrersitz ein Mann saß, während der Platz des Fahrers leer war. Sie gingen zum Auto, traten jeder vor ein Seitenfenster, klopften kurz daran. »Sie können hier nicht stehen.« Er war kräftig gebaut, kahler Schädel, unnatürlich braun. Er lächelte, gab keine Antwort. »Das ganze Gelände ist abgesperrt. Hier dürfen keine Wagen mehr stehen.« Er lächelte noch immer, das war alles. Der Polizist, der neben dem geöffneten Fenster stand, hatte bereits die Geduld verloren. Er sah seinen Kollegen an, überzeugte sich davon, dass der bereit war. »Ausweis.« Der Mann auf dem Beifahrersitz bewegte sich nicht, ob er das nun nicht gehört hatte oder ob er nicht wollte. »Ihren Ausweis. Sofort.« Er seufzte laut. »Ja, sicher.«
Er hatte die Brieftasche in der hinteren Hosentasche, reichte ihnen seinen Ausweis. Der Polizist hielt ihn in der Hand, beugte sich zur Autotür vor und informierte sich per Funk. »Hans Jochum Lang. 570725 - 0350. Seit heute Vormittag zur Fahndung ausgeschrieben.« Er lachte, als sie ihn aus dem Auto zerrten, er fragte, welche Zeugen sie zu haben glaubten, als sie ihn auf dem Bauch auf den nassen Asphalt drückten, er lachte lauter, als er durchsucht und als ihm Handschellen angelegt wurden und als er hinten in den Streifenwagen geworfen wurde, der dann mit ihm davonfuhr. Bengt Nordwall sah, wie Ewert energisch den Kopf schüttelte, registrierte dessen deutliches Nein. Und er schien sich leichter zu fühlen, seine Kraft schien zurückzukommen. Das war Ewerts Entscheidung. Es war Ewerts Nein. Er nahm wieder den Hörer. »Tut mir leid. Das geht nicht.« »Nicht?« »Wenn ich zur Leichenhalle herunterkomme ... das
verstößt gegen unsere Vorschriften für die Verhandlungen mit Geiselnehmern.« »Menschen umzubringen verstößt auch gegen Vorschriften. Das habe ich aber trotzdem gemacht. Und ich werde noch einen umbringen, wenn du nicht herkommst.« »Vielleicht gibt es eine andere Lösung.« »Ihr bekommt die übrigen Geiseln, die, die noch am Leben sind, wenn du herkommst. Drei Geiseln für eine.« Er war jetzt überzeugt. Er wusste, was bevorstand. »Nein. Leider.« »Ich will dich hier haben, weil du Russisch kannst. Ihr habt dreißig Minuten. Dann bringe ich die nächste Geisel um.« Die gehetzte Angst. Er fürchtete sich ja so sehr. »Lydia, ich ... « Ewert Grens zog die Ohrstöpsel heraus, ging zum Knopf an der Wand, machte Licht. Die Uhr an der Wand, sie zeigte genau elf Minuten nach drei. Der, der in der Tür zur Küche der Inneren Medizin stand und ein privates Gespräch führen wollte, drehte sich zur Stationsschwester um.
»Sie gehen jetzt besser.« Die Stationsschwester erhob sich, schaute Lisa Öhrström an, die nickte, sie nickte zurück und starrte dann den Boden an, als sie aus dem Raum und auf den leeren Flur hinauslief. Slobodan schaute ihr hinterher, drehte sich zu Lisa Öhrström um und lächelte, und sie wollte schon zurücklächeln, als sie sah, wie er eilig hereinkam und sich ungefähr einen Meter vor dem Tisch aufpflanzte, an dem sie saß. »Es ist so, müssen Sie wissen.« Er zögerte. »Dass Sie rein gar nichts gesehen haben. Dass Sie keine verdammte Ahnung davon haben, wer heute Oldéus besucht hat.« Sie kniff die Augen zusammen. Nicht mehr. Nicht jetzt. Der Schmerz in ihrem Magen, sie erbrach sich, über ihre Knie, über den Tisch. Dieser verdammte Hilding. Ihre Augen blockierten die ganze Zeit, sie wollte nichts sehen, nicht jetzt, nicht mehr, dieser verdammte, verdammte Hilding. »Sie. « Sie kniff noch immer die Augen zusammen, die
Magenkrämpfe, sie versuchte sich zu widersetzen, als ihr Magen sich ein weiteres Mal leeren wollte. »Sie. Sehen Sie mich an!« Sie öffnete die Augen. Langsam. »Das ist alles, was Sie zu tun haben. Die Fresse halten. Das ist doch einfach? Wenn Sie reden, sterben Sie.« Als Ewert Grens erfuhr, dass Jochum Lang festgenommen worden war, hätte er mehr empfinden müssen, er hatte so lange gewartet und hatte diesmal glaubwürdige Augen, die auf dem ganzen Weg zur lebenslänglichen Strafe den Mord bezeugen konnten. Er empfand nichts. Er war wie betäubt, Grajauskaitė saß im Keller und spielte mit Menschenleben, und das raubte ihm alle Energie. Später. Er würde später Freude empfinden, wenn das hier zu Ende wäre. Aber er verließ für eine Weile den Raum, um etwas anderes zu sehen und um von dort aus Staatsanwalt Ågestam anzurufen. Er wollte ihm erklären, dass sie eine Zeugin hatten, eine Ärztin, die gesehen hatte, wie Hilding Oldéus von Jochum Lang
misshandelt worden war, und dass sie ein Motiv hatten. Lang hatte, wie Ewert Grens von zwei Ermittlern des Landeskriminalamts erfahren hatte, im Auftrag seiner alten jugoslawischen Arbeitgeber gehandelt, die ihre eigene Meinung dazu hatten, dass Oldéus ihren Stoff mit Waschpulver streckte. Er würde unter keinen Umständen das Gespräch beenden, solange Ågestam nicht wirklich begriffen und beschlossen hatte, Lang zuerst wegen Mordverdachts festzunehmen und ihn dann gründlich nach Blutspuren und DNA zu untersuchen, das von Oldéus stammte, bei der Tat hatte es doch sicher ordentlich gespritzt. Lisa Öhrström konnte es nicht mehr aushalten, ihr Magen schien zu bersten, sie drehte den Kopf über den Tisch und erbrach sich an derselben Stelle wie vorhin. Sie registrierte, dass der Mann, der die Drohungen ausgestoßen hatte, noch näher an sie herangetreten war. »Das ist nicht gut, Lisa. Dir scheint es schlecht zu gehen. Aber du weißt ja, ich musste eine Weile warten. Erst unten im Foyer, da rannten zu viele Bullen herum. Dann hier oben, vor deinem Büro. Und
dann habe ich ein wenig telefoniert. Hast du das gewusst, Lisa? Nur ein paar kurze Anrufe bei den richtigen Leuten, mehr ist nicht nötig, wenn man König ist, kann man alles.« Er beugte sich vor, sein Gesicht war ganz nah. »Du sagst ja nichts. Dann solltest du vielleicht zuhören. Du heißt Lisa Öhrström. Fünfunddreißig Jahre. Seit sieben Jahren Ärztin. Seit zwei Jahren hier auf der Inneren Medizin im Söderkrankenhaus.« Lisa Öhrström saß still da. Sie bewegte sich nicht, und dann sah sie auch nichts. »Du bist unverheiratet. Keine Kinder. Aber an deiner Pinnwand hast du diese hier.« Er hielt zwei Fotos in der Hand. Das eine, es ist Sommer, ein sechs Jahre alter Junge liegt neben seiner älteren Schwester auf einem Badesteg, die Sonne scheint, und die Kinder sind schon ein wenig zu rot. Das zweite, vor einem Weihnachtsbaum, dieselben Kinder zwischen Bändern und Geschenkpapier, winterblasse, aber erwartungsvolle Gesichter. Sie kniff die Augen zusammen. Sie sah Sanna, sie sah Jonathan. Die Einzigen, die sie hatte. Sie war stolz auf sie. Wie eine zusätzliche
Mama. Manchmal wohnten die Kinder mehr bei ihr als bei Ylva. Bald würden sie groß sein. In dieser schrecklichen Welt. Hoffentlich würden sie nie unter der Drogensucht eines ihnen nahestehenden Menschen zu leiden haben. Hoffentlich würden sie niemals von dem krankhaften Verhalten gequält werden, das dabei herauskommt. Hoffentlich würden sie niemals diese verdammte Scheißangst verspüren müssen, die Lisa jetzt verspürte. Sie kniff die Augen zusammen, würde sie zusammenkneifen, bis alles vorüber wäre. Was man nicht sieht, gibt es nicht. »Du?« »Ja?« »Wie sieht’s aus?« »Ich weiß es nicht.« Ewert Grens hatte keine Ahnung. Er empfand noch immer nichts. Sie hatte ihnen dreißig Minuten gegeben. Warum nicht zwanzig? Oder zehn? Oder eine einzige Minute, was spielte das schon für eine Rolle, wenn man keine Wahl hatte? »Ewert?« »Ja?«
Bengt Nordwall klammerte sich an den Rand der Bahre, das Sprechen fiel ihm schwer, es fiel ihm schwer, sich überhaupt auf den Beinen zu halten. Warum frage ich? Warum mache ich weiter? Ich sage das, was ich nicht sagen will, und deshalb werde ich das tun, was ich nicht tun will. Ich brauche das hier nicht. Nicht diesen verdammten Scheiß, der meine Brust zerreißt. Nicht das Glotzen im Treppenhaus und die Peitschenhiebe auf ihrem Rücken. Nicht die Stena Baltica. Nicht das alles. »Du weißt, dass ich muss, Ewert. Wir haben keine Wahl.« Ewert Grens wusste, dass es so war. Er wusste, dass es nicht so war. Die Minuten versickerten, und es gab immer eine Lösung, nur diesmal gab es keine, ab und zu hat man einfach nichts. Grens wollte das Zimmer verlassen, aber ihm blieb nichts anderes übrig, als dort zu bleiben. Er hatte noch einmal per Telefon mit Ågestam über Lang verhandelt und sah sich jetzt um, suchte John Edvardson, der zufällig gerade irgendwo in einem anderen Zimmer saß und seinen direkten Vorgesetz-
ten informierte, er suchte Sven Sundkvist, der im Kellergang darauf wartete, dass die Tür zur Leichenhalle wieder geöffnet würde. Er hätte sie jetzt hier gebraucht. Hermansson war zwar klug, aber er kannte sie nicht so gut wie die anderen, und Bengt, um den ging es hier, und deshalb durfte er nicht mit ihm reden. »Sie will dich. Sie will alle gegen dich tauschen.« Ewert stand vor seinem Freund und Kollegen. »Hörst du mich? Ich verstehe das nicht. Verstehst du das?« Bengt Nordwall trug die Kopfhörer, er hatte schon längst aufgelegt, aber in seinem Kopf ging das Gespräch weiter, er hörte, was sie sagte, und er hörte, was er selbst sagte, und er kam einfach nicht weiter, dieselben Sätze, wieder und wieder. Er begriff. Er würde es niemals zugeben. »Ich verstehe es auch nicht. Aber wenn du willst, dann geh ich runter.« Ewert drehte sich zu dem Telefon um, das ihr Weg in die Leichenhalle war. Er ging hin, hob den Hörer ab und hörte auf den monotonen Ton, er schrie ihn an, schrie über Nutten und Körper, die mit Zündern auf dem Boden lagen, und über die Uhr
an der Wand, die die Zeit zum Denken vertickte. Die Röte in seinem Gesicht, sie verschwand nicht einmal, als er aufgelegt und einige Runden um die Pritsche gedreht hatte. »Dienstvergehen, wenn ich dich gehen lasse. Das weißt du.« »Das weiß ich.« »Und?« Bengt Nordwall zögerte. Ich kann nicht, dachte er. Ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann nicht. »Das ist deine Entscheidung, Ewert.« Grens ging immer weiter, Runde um Runde, in seinem Kreis. »Hermansson?« Er sah sie an. »Ja?« »Was meinst du?« Sie schaute auf die Uhr. Noch drei Minuten. »Du kannst die Einsatztruppe nicht einsetzen, wir haben ja das halbe Krankenhaus evakuiert, als wir wussten, dass sie Sprengstoff hat, und den hat sie schon einmal benutzt und droht, das wieder zu tun. Du kannst sie zu nichts überreden, das hast du versucht, aber sie scheint fest entschlossen zu
sein. Und du hast keine Zeit mehr, um nach anderen Möglichkeiten zu suchen.« Die Uhr, wieder. Dann redete sie weiter. »Sie hat sich für einen geschlossenen Raum entschieden, und das ist perfekt, so lange die Tür geschlossen bleibt und sie die Pistole auf die Geiseln richtet, kommen wir einfach nicht weiter. Dienstvergehen? Ja, es wäre ein grobes Dienstvergehen, Nordwall nach unten zu schicken. Alternative? Es wäre nicht das erste Mal, dass wir Kollegen schicken, um sie gegen die Geiseln auszutauschen. Und es gibt da unten drei Menschen, die gern noch eine Weile leben würden.« Ewert Grens sah, dass ihnen noch etwas über zwei Minuten blieben, bevor er seine letzte Runde begann. Er hatte gehört, was Hermansson gesagt hatte, und er sah ein, dass er ihr diese Frage schon viel früher hätte stellen müssen, er würde später mit ihr darüber sprechen. Er schaute kurz zu Bengt hinüber, der noch immer die Kopfhörer trug, der zwei Kinder und eine schöne Frau in einem Villengarten hatte, der... Das Funkgerät. Sven Sundkvists Stimme.
»Sie hat soeben geschossen. Kein Zweifel möglich. Nur ein Schuss. In der Leichenhalle.« Bengt Nordwall hörte zu, konnte jetzt aber einfach nicht mehr. Er nahm die Kopfhörer ab, das, was an seiner Brust riss, ließ nicht los, riss nur noch härter. Ewert trat einen Schritt vor, riss die Kopfhörer an sich, schrie zurück: »Zum Teufel, wir hatten doch noch fast zwei Minuten!« Sundkvist bewegte sich, das Funkgerät knackte. »Ewert?« »Kommen.« »Die Tür zur Leichenhalle steht offen. Eine Geisel steht auf dem Gang, hält sich einen Arm, ein Mensch liegt da. Sie haben noch einen herausgeschleift, Ewert. Von hier aus kann ich das nur schwer sehen, aber ich bin mir sicher, wer immer dort liegt, ist ... leblos.«
Bengt Nordwall stand mitten in einem dunklen Kellergang, der vor der Tür zur Leichenhalle endete. Er fror, es war mitten im Sommer, aber der Boden war kalt unter seinen nackten Füßen, die Kli-
maanlage war zu kühl für seine nackte Haut. Er trug nur noch eine Unterhose und hatte ein Mikrophon und einen kleinen, an seinem Ohr befestigten Hörstöpsel. Er wusste, was ihn hinter der Tür zur Leichenhalle erwartete. Er wusste, wer sie war, dass es dort drinnen um Leben und Tod ging. Für ihn. Für die anderen. Er war hier die Zielscheibe. Er trug die Verantwortung dafür, dass mehrere Menschen in Lebensgefahr schwebten. Bengt Nordwall drehte sich um, er hatte es schon zweimal getan, er überzeugte sich davon, dass die drei Angehörigen der Einsatztruppe bewaffnet dicht hinter ihm standen. »Ewert, kommen.« Er sprach mit leiser Stimme, wollte Kontakt zur Einsatzzentrale halten, so lange das möglich war. »Ich höre dich. Kommen.« Es gab nichts, woran er sich hätte klammern können. Er wusste nicht, ob er sich noch sehr viel länger auf den Beinen halten könnte. Er dachte an Lena. Daran, dass sie vermutlich jetzt irgendwo in ihrem gemeinsamen Heim saß, die
Beine angezogen und mit einem Buch in der Hand. Er sehnte sich nach ihr. Er wollte neben ihr sitzen. »Noch etwas, Ewert.« »Ja?« »Lena. Ich will, dass du mit ihr sprichst. Wenn etwas passiert.« Er wartete, keine Antwort. Er räusperte sich. »Ich bin jetzt so weit.« »Gut.« »Ewert, ich geh rein, wann du willst.« »Jetzt.« »Jetzt. Ist das korrekt?« »Ja. Du gehst zur Tür und bleibst dort stehen. Die Hände über dem Kopf.« »Ich gehe.« »Bengt?« »Ja?« »Viel Glück.« Seine Schritte waren lautlos, als die dünne Haut der Füße auf den Betonboden traf. So kalt. Es war so kalt. Er fror, als er vor der Tür zur Leichenhalle stand, die Einsatztruppe zehn, fünfzehn Meter hinter ihm. Er wartete, nicht allzu lange, er zählte die Sekunden und war noch nicht bei dreißig an-
gekommen, als die Tür geöffnet wurde und ein älterer Mann mit grauen Haaren herauskam und an ihm vorbeiging, ohne ihn anzusehen. Bengt Nordwall registrierte das Namensschild, Oberarzt Ejder, und die Sprengstoffmasse auf seinen Schultern, einen deutlichen Strang, der sich um seinen Nacken zog. In seiner Hand hielt er einen Spiegel, er hielt ihn so, dass die Person, die gleich hinter der Tür stand, die Frau, die Nordwall nicht sah, deren Atem er aber hörte, sehen konnte, ohne die Leichenhalle zu verlassen, dass der Besucher nackt und allein war. »Ejder?« Bengt Nordwall flüsterte, aber der Arzt sah noch immer an ihm vorbei, ließ den Spiegel sinken, winkte damit. Sie sollten hineingehen. Er stand still, nur noch einen kleinen Moment. Geschlossene Augen. Durch die Nase ein-, durch den Mund ausatmen. Er sperrte seine Angst aus. Seine Aufgabe war es von jetzt ab, zu beobachten. Er war für das Leben der anderen verantwortlich. Ejder war ungeduldig, wollte wieder hinein. Sie stiegen über den Menschen auf dem Boden hinweg
und verließen den Gang. Bengt Nordwall hob vorsichtig seine zitternde Hand, drückte mit einem Finger auf den kleinen elektronischen Apparat in seinem Ohr, überzeugte sich davon, dass der noch an Ort und Stelle saß. Er fror und er schwitzte. »Ewert.« »Kommen.« »Die Geisel auf dem Gang ist tot. Ich kann kein Blut sehen, kann nicht feststellen, wohin sie geschossen hat. Aber der Geruch. Der ist stark, Ewert, harsch.« Er sah sie, sowie er den Raum betrat. Sie war es wirklich. Er erkannte sie. Stena Baltica. Am Vortag war es ihm schwergefallen, ihr Gesicht zu sehen, den zerschundenen Rücken, die Decke, mit der sie auf der Bahre zugedeckt gewesen war. Jetzt war er sicher. Er versuchte, sie anzulächeln, mit einem von Krämpfen gequälten Mund. Sie stand mitten im Raum und hielt die Pistole an den Kopf eines jungen Mannes in einem weißen Arztkittel. Sie war klein, ihr Gesicht war geschwollen und zerschrammt, ein Arm in Gips, sie hinkte heftig, sie hatte Schmerzen, in einer Hüfte oder einem Bein.
Sie zeigte auf ihn, sprach. »Bengt Nordwall.« Ihre Stimme war so fest wie vorhin. »Dreh dich um, Bengt Nordwall. Halt die Hände weiter über deinem Kopf.« Er gehorchte. Er drehte sich langsam um und sah dabei die Sprengladungen, die die Türrahmen umgaben. Eine Drehung, dann stand er wieder vor ihr, sie nickte ihm zu. »Gut. Du kannst ihnen sagen, sie sollen gehen, langsam und hintereinander, aus der Tür.« Ewert Grens saß auf dem Boden der improvisierten Einsatzzentrale und lauschte auf die Stimmen in der Leichenhalle. John Edvardson war wieder da, saß neben ihm auf einem Hocker, übersetzte das Russische. Hermansson hatte ebenfalls Kopfhörer bekommen, sie wartete bei der Pritsche, notierte den absurden Dialog, in einem Versuch, ihre Unruhe zu dämpfen, manchmal brauchen Hände einfach etwas, das sie festhalten können. Bengt war in die Leichenhalle gegangen. Er hatte auf Grajauskaitės Aufforderung hin die Geiseln hinausgeschickt. Er war jetzt allein mit ihr.
Plötzlich sagte er wieder etwas, auf Schwedisch, seine Stimme klang aufgesetzt ruhig, Ewert kannte sie gut, er hörte, dass sie kurz vor dem Brechen war. »Ewert, das ist ein verdammter Bluff, das alles. Sie hat nicht geschossen. Sie waren noch hier, alle vier Geiseln. Sie leben und haben soeben den Raum verlassen. Sie hat Semtex an den Türen verteilt, aber sie kann sie nicht hochgehen lassen.« Ihre Stimme, sie fiel ihm wütend ins Wort. »Russisch reden!« Ewert Grens hatte gehört, was Bengt Nordwall gesagt hatte. Er hatte es gehört, aber nicht verstanden. Er sah die anderen an, sah in ihren Gesichtern seine eigene Verblüffung. Es mussten also noch mehr in der Leichenhalle gewesen sein. Von Anfang an. Mehr als fünf. Einem hatte sie die Kniescheiben zerschossen. Einen hatte sie in die Luft gesprengt. Und doch waren noch vier übrig, die lebten, die soeben die Leichenhalle verlassen hatten. Wieder Bengt Nordwalls Stimme, auf Schwedisch, er stand still da und schaute sie vermutlich noch immer an.
»Das Einzige, was sie hat, ist eine Pistole. Eine Neun-Millimeter-Pistolet Makarova, russische Offizierswaffe. Den Sprengstoff kann sie ohne einen Generator oder eine Batterie nicht einmal hochgehen lassen. Ich kann eine Batterie sehen, aber ich sehe keine weiteren angeschlossenen Kabel.« »Du sprichst Russisch. Oder du stirbst!« Ewert Grens saß noch immer auf dem Boden, hörte sich Edvardsons Übersetzung an. Sie wollte, dass Bengt still und stumm vor ihr stehen sollte. Sie spuckte vor ihm auf den Boden, verlangte, dass er die Unterhose auszog. Als er zögerte, zielte sie mit der Pistole auf seinen Kopf, bis die Unterhose neben seinen Füßen auf dem Boden lag. Grens erhob sich hastig, ihr Bluff und Bengts nackter Körper, er sah zu Edvardson hinüber, und der nickte. Er schnappte sich das Funkgerät und rief an, bereitete die Einsatztruppe auf unmittelbar bevorstehenden Sturm vor, gab den Scharfschützen die Erlaubnis zum Schießen. »Du bist nackt.«
»Das wolltest du so.« »Was ist das für ein Gefühl? Nackt hier zu stehen, nackt in einer Leichenhalle, vor einer Frau mit einer Waffe in der Hand?« »Ich habe getan, was du mir befohlen hast.« »Du fühlst dich geschändet. Oder was?« »Ja.« »Allein?« »Ja.« »Verängstigt?« »Ja.« »Auf die Knie.« »Warum? »Auf die Knie und die Hände hinter dem Kopf falten.« »Reicht das jetzt noch nicht?« »Auf die Knie.« »So?« »Es geht ja doch.« »Und jetzt?« »Weißt du, wer ich bin?« »Nein.« »Kannst du dich an mich erinnern?« »Wie meinst du das?«
»Ich meine das, was ich sage. Kannst du dich an mich erinnern, Bengt Nordwall?« »Nein.« »Nicht?« »Nein.« »Klaipėda. Litauen. Der 25. Juni 2002.« »Ich weiß nicht, wovon du redest.« »Die Stena Baltica. Der 25. Juni 2002. Um zwanzig Uhr fünfundzwanzig.« Ewert Grens hatte Lydia Grajauskaitė nur einmal gesehen. Etwa vierundzwanzig Stunden zuvor, bewusstlos hinter einer eingeschlagenen Wohnungstür. Er hatte jemanden aus dem Weg geschoben, der Dimitri Scheißzuhälter genannt wurde, und war eilig durch die Diele auf den nackten Körper zugegangen, ihr einer Arm war gebrochen, ihr Gesicht war geschwollen und von Blut bedeckt, ihr Rücken war von mehr Peitschenhieben zerfetzt worden, als sie hatte ertragen können. Sie war nicht die Erste ihrer Art, die ihm begegnet war, unterschiedliche Namen, aber dieselbe Geschichte, junge Frauen, die die Beine breitmachten und Prügel kassierten und verheilten, damit sie wieder die
Beine breitmachen und Prügel kassieren konnten. Oft verschwanden sie dann, so plötzlich, wie sie gekommen waren, wechselten Wohnung und Kundenkreis. Sie drehten meistens einige Runden, dann verschwanden sie endgültig, es waren immer neue zu kaufen, von denen, die Menschen verkaufen, dreitausend Euro für eine jüngere, die noch mehr Schläge aushalten konnte. Er hatte gesehen, wie sie auf einer Bahre zum Krankenwagen getragen worden war. Er konnte ihren Hass verstehen, es war nicht sonderlich schwer zu begreifen, dass eine, die genügend gekränkt wird, früher oder später untergeht oder versucht, diese Kränkungen zu erwidern. Aber er konnte weder verstehen, woher sie die Kraft nahm, zerschunden in einer Leichenhalle zu stehen und mit schwacher Stimme Menschen zu bedrohen, noch warum sie sich Mediziner in weißen Kitteln und einen Polizisten dafür ausgesucht hatte. Was wollte sie eigentlich? Nicht einmal jetzt, als er Edvardsons Übersetzung unterbrach, als er laut schrie: »Die Stena Baltica? Das ist doch ein Scheißboot! Das hier ist etwas Persönliches. Bengt, kommen.
Verdammt nochmal, Bengt, hör sofort auf. Hör jetzt auf! Die Einsatztruppe ist bereit zum Sturm. Ich wiederhole, die Einsatztruppe beginnt mit dem Sturm!« Ihre Beschreibungen fielen alle unterschiedlich aus, die Zeitperspektive, oft ist die Zeit am schwersten zu verstehen, wenn jemand zu atmen aufhört. Aber ihre Beobachtungen des Handlungsverlaufs, was und in welcher Reihenfolge es passiert war, waren mehr oder weniger identisch. In der Einsatzzentrale in einem Operationssaal der Notstation hatten sie nebeneinander gestanden und per Funk zugehört, hatten die zwei Schüsse in dichter Folge gehört, dann noch einen Schuss kurz darauf, gefolgt von dem lauten Knall, mit dem die Einsatztruppe die Tür der Leichenhalle aufriss und den Raum stürmte.
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Jeder Tod hat eine Fortsetzung. Das wusste Ewert Grens. Er war seit mehr als dreißig Jahren bei der Polizei, die meisten davon als Mordermittler, seine Arbeit begann oft mit dem Tod, und er beschäftigte sich dann sozusagen weiterhin damit, mit dessen Fortsetzung. Und es war doch so unterschiedlich, wie die Menschen weiterlebten, danach. Einige verschwanden einfach stumm, niemand fragte nach ihnen, niemand vermisste sie, es war, als ob sie niemals existiert hätten. Andere lebten danach eigentlich mehr als vorher, die Aufregung, die Jagd, die vielen Worte von Bekannten und Unbekannten, die niemals vorher formuliert worden waren, die jetzt aber wiederholt
wurden, bis sie sich in Wahrheiten verwandelten. Du atmest, und gleich darauf atmest du nicht mehr. Aber deine Fortsetzung, die Fortsetzung deines Todes, ist ganz und gar davon abhängig, wie du zu atmen aufhörst. Wie in dem Moment, als der Lärm von drei Schüssen in einer Leichenhalle in seinen Kopfhörern hallte, als er sicher war, dass alles zum Teufel gegangen war. Es war so ein Geräusch, das sich aufdrängte. Wie hätte er denn die Trauer verstehen können, die er sich nicht zu empfinden gestattete, die ihn aber verzehren sollte, bis es ihn nicht mehr gäbe? Wie hätte er denn die Einsamkeit ahnen können, die noch größer werden würde, als er befürchtet hatte? Aber Ewert Grens hätte niemals voraussehen können, trotz des seltsamen und gewaltsamen Todes, dem er soeben zugehört hatte, dass die Tage, die nun folgten, dass die Fortsetzung dieses Todes, zu einer Zeit werden sollte, die er noch viel später in seinem Leben als die schlimmste in seinem Leben betrachten würde.
Er weinte nicht. Es ist schwer zu wissen, warum, er kann keine vernünftige Erklärung geben, aber er konnte nicht weinen. Er tut es auch später nicht, er hat es nicht getan, als er durch die aufgebrochene Tür in die Leichenhalle ging, als er zwei Menschen mit durchlöcherten Köpfen auf dem Boden sah, das Blut, das noch nicht geronnen war. Bengt lag auf dem Rücken, erschossen mit zwei Schüssen. Einen durch das linke Auge. Einen in sein Geschlecht, davor die blutigen Hände. Sie hatte zuerst dorthin gezielt und er hatte instinktiv die Hände bewegt, um sich zu schützen. Er war nackt, weiße bloße Haut auf dem grauen Klinkerboden der Leichenhalle. Lydia Grajauskaitė lag neben ihm, ihr eingegipster Arm seltsam verbogen unter ihr, sie hatte sich in die Schläfe geschossen, war danach wohl auf etwas Hartes aufgeprallt, fast zurückgeworfen worden, um dann auf dem Bauch zu landen. Ewert Grens bewegte sich vorsichtig entlang der frischen Markierungslinie, die den Raum teilte, er musste sich einen Überblick verschaffen, musste
effektiv sein, das hatte er immer schon so gemacht, er hatte gearbeitet gearbeitet gearbeitet, um nicht fühlen zu müssen, er blockte ab, er brauchte verdammt nochmal keine Drogen, um Gefühle zu blockieren, er senkte den Kopf und starrte zu Boden und hob den Blick erst wieder, als es vorüber war. Er tippte mit dem Fuß ganz leicht den weißen Oberschenkel an. Du verdammter Idiot! Wie kannst du hier so liegen, ohne mich anzusehen? Sven Sundkvist stand einige Meter von ihm entfernt, er sah, wie Ewert mit dem Fuß Bengt Nordwalls Oberschenkel berührte, wie er sich über ihn beugte, ohne etwas zu sagen, einfach stumm, über einen toten, von weißen Strichen eingekreisten Körper. Er trat vor, stellte sich hinter ihn. »Ewert.« »Ja?« »Ich kann das übernehmen.« »Ich führe hier die Ermittlungen.« »Das weiß ich. Aber ich kann das hier unten übernehmen, nur für eine Weile, ich mache die Tatortbegehung fertig. Du brauchst nicht hier zu sein, nicht jetzt.«
»Ich arbeite, Sven.« »Ich weiß, dass das sicher nicht … « »Du, Sven, wie kann so eine kleine Nutte uns dermaßen austricksen?« »Ewert, geh jetzt.« »Verstehst du das, Sven? Wenn nicht, dann weg hier, vielleicht hast du etwas anderes zu tun.« Du verdammter verdammter Idiot. Sag was. Du sagst nichts. Du liegst einfach nackt auf dem Boden und hältst die Klappe. Steh jetzt auf! Grens erkannte die vier Kriminaltechniker, die in den Räumen der Leichenhalle auf den Knien lagen und das suchten, was Kriminaltechniker eben suchen. Zwei von ihnen in seinem eigenen Alter, sie trafen sich schon seit Jahren auf diese Weise, an Tatorten, wo Leben zu Tod geworden war, sie hatten Kontakt miteinander, während die Ermittlungen liefen, dann nicht mehr, zwei Monate und der nächste Tod, dann sahen sie sich wieder, sprachen wieder miteinander. Er berührte leicht Bengts Oberschenkel, zum zweiten Mal, ging dann einige
Schritte weiter, zu einem Techniker, der neben einer Plastiktüte mit einem Kaufhauslogo kniete und nach Fingerabdrücken suchte. »Nils?« »Ewert, es tut mir leid, ich meine, Bengt … « »Nicht jetzt. Ich arbeite. Gehört die ihr?« »Sieht so aus. Hatte noch jede Menge Munition. Ein bisschen Sprengstoff und ein paar Zündhütchen. Zwei Seiten aus einem Notizbuch. Und eine Videokassette.« »Wie viele haben die angerührt?« »Zwei. Kleine Hände. Zwei rechte, zwei linke. Ich bin ziemlich sicher, dass beide zu Frauen gehören.« »Zwei Frauen?« »Vermutlich ist das eine Paar von ihr.« Der Kriminaltechniker, Nils Krantz, nickte zu Lydia Grajauskaitės leblosem Körper hinüber. Ewert sah sie an, dann sah er, was Krantz in der Hand hielt. »Krieg ich die danach?« Ewert zeigte auf die Videokassette. »Ja, wenn du so weit bist, meine ich.« »Das dauert nur noch ein paar Minuten.« Munition. Sprengstoff. Eine Videokassette.
Ewert Grens betrachtete ihren zerfetzten Rücken. »Was hast du eigentlich gewollt?« Plötzlich rief jemand, eine Männerstimme auf dem Flur, irgendwo in der Nähe der nicht mehr vorhandenen Eingangstür. »Ewert?« »Ja.« »Komm doch mal kurz her.« Errfors wusste nicht, dass Grens schon dort angekommen war. Aber er war froh darüber, dass Grens zurückgekehrt war, als er ihn gebeten hatte. »Sieh mal.« Ludwig Errfors stand zwischen den Überresten eines Menschen, dem Körper, den sie aus der Tür hinaus hatte tragen lassen, und den sie dann gesprengt hatte, damit das ganz bestimmt alle sehen und die Mitteilung verstehen könnten. Er zeigte auf einen abgerissenen Arm, beugte sich vor und hob ihn hoch. »Ewert. Schau mal. Ein Toter.« »Ich hab keine Zeit für Spielereien. »Du musst aber hinschauen.« »Was ist los mit dir, zum Teufel? Ich hab gehört,
wie der Körper in die Luft gesprengt worden ist. Ich weiß, dass dieser Mensch tot ist.« »Das ist ein toter Mensch. Das war ein toter Mensch. Schon bei der Sprengung. Der lag hier schon über eine Woche.« Ewert streckte die Hand aus, berührte den Arm, den Errfors festhielt, er war kälter, als er erwartet hatte. Er hatte sich vorher … betrogen gefühlt. Ohne so recht zu wissen warum. Jetzt wusste er es. »Sieh dich um, Ewert. Kein Blut. Aber ein Geruch. Den riechst du doch?« »Ja.« »Wie riecht der?« »Scharf. Wie Bittermandel. Bengt hat versucht, einen bitteren Geruch zu beschreiben. Ehe er hineingegangen ist.« »Formalin. Was man in eine Leiche spritzt, um sie länger aufbewahren zu können.« »Formalin?« »Sie hat eine Leiche gesprengt. Und auf eine andere geschossen. Es war keine Geisel, beide Male nicht, sie waren es nicht. Nur der Erste, Larsen, der Medizinstudent, der versucht hatte, sie zu überwältigen, nur auf den hat sie geschossen.«
Errfors hielt den Arm, der schon seit über einer Woche kein Leben mehr enthielt, er schüttelte den Kopf, bückte sich und legte ihn wieder auf den Boden, an dieselbe Stelle wie vorher. Ewert Grens ließ ihn stehen, suchte auf dem Gang, ging von einem Körperteil zum anderen. Kein Blut, der gleiche Geruch. Sie hatte eine Leiche gesprengt. Sie hatte die Geiseln verschont. Sie hatte Bengt haben wollen, nur ihn. Sie hatte eigentlich nur ihn gewollt. Er ging zurück in die Leichenhalle, zu Bengts nacktem Leichnam, zu der Frau, die in ihren zu großen Krankenhauskleidern neben ihm lag. Du sagst nichts. Bengt. Sag was, zum Teufel! Das Blut, das aus ihrer Schläfe geströmt war, er wäre fast hineingetreten, als er versuchte, sich den Toten zu nähern. Auf ihn hattest du es also abgesehen. Miese Nutte! Ich kapier das nicht.
Er hörte nicht, dass Nils hinter ihn trat, auch nicht, dass er ihn bat, die verschlossene Plastiktüte mit dem Video an sich zu nehmen. Nils klopfte ihm auf den Rücken, wiederholte das, was er eben gesagt hatte. »Das Band, Ewert. Das Video. Das wolltest du doch.« Ewert Grens drehte sich um. »Sicher. Sicher. Danke. Habt ihr was gefunden?« »Wie beim Rest. Zwei Personen. Vermutlich Frauenhände. Grajauskaitė und noch eine.« »Und das lag bei der Munition?« »In einer Plastiktüte.« Er war schon unterwegs, zu dem anderen. Grens rief hinter ihm her. »Willst du das zurückhaben?« »Beschlagnahmungsprotokoll und dann zum Landeskriminalamt.« Grens sah, wie er auf eine der Türen zuging, auf die Tür zu dem Raum, der wie ein Lager aussah, wie er mit weißen Handschuhhänden vorsichtig anfing, Stränge aus beiger Masse zu untersuchen, die sie um die Rahmen geschmiert hatte. »Ewert?«
Sven Sundkvist saß auf einem Stuhl vor dem Wandtelefon, von dem sie angerufen hatte, das sie für ausgehende Gespräche gesperrt und dann wieder geöffnet hatten. Grens kniff die Augen zusammen, versuchte, sie vor sich zu sehen, die Waffe auf die Geiseln gerichtet, am Telefon, mit ihren Drohungen ohne Forderungen. Mager und eingegipst, in Krankenhauskleidung, hatte sie sie gezwungen, Teile von Schwedens größtem Krankenhaus zu evakuieren, jeden Polizisten und jeden Journalisten in erreichbarer Nähe herbeirennen zu lassen, für einige Stunden hatte die Nutte so viele Männer beschäftigt, wie sie gefickt hatte. »Ewert?« »Ja?« »Die Witwe.« Ewert Grens hörte Bengt, weit weg. Ihr Gespräch von vor wenigen Stunden. Als sein bester Freund, seine Verbindung zu dem, was einmal gewesen war, noch gelebt hatte. Er hatte in der Unterhose auf diesem verdammten Gang gestanden und Ewert gebeten, mit Lena zu sprechen. Wenn etwas passiert, hatte er gesagt, wenn etwas passiert. Ich will, dass du mit Lena sprichst. Als ob er es gewusst
hätte. Als ob er gespürt hätte, was ihn dort drinnen erwartete. »Wie meinst du das?« Sundkvist zuckte mit den Schultern. »Du kennst sie am besten. Du musst hinfahren.« Er hatte es noch nicht gesehen, jetzt sah er es, wie der weiße Körper fast ruhig dalag, die Hände nebeneinander auf dem Bauch, fast gefaltet, die Beine fast gerade, die Füße leicht zur Seite gebogen, die Angst schien in dem Moment, als die Waffe gegen seine Stirn gedrückt worden war, niemals existiert zu haben. Ich werde mit Lena sprechen. Sag doch endlich was! Ich muss hinfahren. Ich lebe. Tot! Du lebst nicht. Du bist tot! Grens wusste, dass er sie schon zu lange hatte warten lassen. Es eilte jetzt, bei Lang musste eine Leibesvisitation vorgenommen werden, und jede Minute, die verstrich, verringerte die Möglichkeit,
das zu finden, was sie finden mussten: Blut und DNA von Hilding Oldéus. Er hatte darauf bestanden, bei der Visitation zugegen zu sein, er wollte die volle Kontrolle haben, bis der Mann, den er hasste, hinter Schloss und Riegel saß, er bat deshalb um Blaulicht, und der Wagen verließ das Söderkrankenhaus, passierte in hohem Tempo Hornstull, Västerbrücke, Fridhemsplan. Die Bergsgata war leer, er bedankte sich für den Transport und ging ins Haus, fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben, in die Untersuchungshaft. Das Krankenzimmer lag ganz hinten im Gang. Ewert Grens lief an der Reihe aus dicken Metalltüren vorbei, hinter denen sich enge Arrestzellen verbargen. Seine hinkenden Schritte und die harten Absätze hallten in dem hässlichen Gang mit dem müden Licht wider. Er war schon häufiger dort gewesen. Zu der einen oder anderen Vernehmung, der einen oder anderen eiligen Besprechung. Es war ein vollständig eingerichtetes Krankenzimmer, die Bahre, die jetzt an der Wand stand, der Rolltisch mit seinen Metallinstrumenten, zwei elektronische Apparate, von deren Verwendung Grens keine Ahnung hatte.
Er schaute sich um. So viele Menschen. Er zählte. Zehn. Lang mitten im Zimmer, eine grelle Lampe war auf ihn gerichtet. Er war nackt, trug Handschellen. Der rasierte Schädel, der muskulöse Körper, die Augen, die zu glotzen schienen. Er sah zu Grens herüber, zu der Tür, die geöffnet wurde. »Du auch.« »Lang?« »Du willst also meinen Schwanz auch anstarren.« Ewert Grens lachte ihn an. Provozier du nur. Ich höre dich nicht. Nicht jetzt. Eben ist mein bester Freund ums Leben gekommen. Er nickte schweigend den anderen zu, erhielt ein Nicken als Antwort. Vier uniformierte Polizisten, drei Arrestwärter, zwei Kriminaltechniker. Grens kannte sie alle. Dann sah er die Bahre, die Papiertüten, die dort lagen und die Langs Kleider enthielten, ein Kleidungsstück pro Tüte. Ein Techniker, durchsichtige Plastikhandschuhe an den Händen, schob gerade eine schwarze Socke in die letzte Tüte. Sein Kollege stand neben ihm, hielt eine Hand in die Luft, die Finger um eine tubenförmige Lampe geschlossen.
Der Kriminaltechniker sah Ewert an. Jetzt. Er brauchte nicht mehr länger zu warten. Er schaltete die Lampe ein, richtete sie auf Langs Körper. Ein blauer Lichtschein wanderte langsam vom Gesicht zu den Füßen. Dann hielt er an, verdächtige Blutflecken, sofort wurden Wattestäbchen über die Haut gestrichen, sammelten Fragmente auf, Proben für die Analyse. Einen Körperteil nach dem anderen, ganz genau, suchten sie das, was den Unterschied zwischen einem Freispruch und einer Haftstrafe ausmachen konnte. »Was sagst du, Grens?« Jochum Lang streckte die Zunge heraus, schob seinen Unterleib hin und her. »Was sagst du? Jedes verdammte Mal. Immer dasselbe. Ihr kommt allesamt her. Jeder verdammte Schwule in der ganzen Truppe. Und haut dann ab.« Der Unterleib bewegte sich jetzt schneller, Lang stöhnte, streckte für die beiden Polizisten, die neben ihm standen, die Zunge heraus. »Wie die hier. Die sind doch keine Scheißbullen, Grens, nie im Leben. Village People, verdammt nochmal. Be proud, boys. Be gay. Sing with me now. We are going to the YMCA.«
Lang trat einen Schritt vor, stand breitbeinig da, er sang und machte Beischlafbewegungen, bis einer der beiden jüngeren Polizisten, die er dabei ansah, die Sache satt hatte und einen Schritt auf ihn zutrat. Er stand dicht vor Lang, atmete schwer. »Weg da.« Ewert Grens starrte wütend, wandte seinen Blick erst ab, als der Polizist wieder an seinen alten Platz zurückgekehrt war. Er sah Lang an. »Du fährst ein. Lebenslänglich. Das hätte schon vor fünfundzwanzig Jahren passieren müssen. Wir haben eine Zeugin.« »Lebenslänglich? Für Körperverletzung?« Lang stieß seinen Unterleib ein letztes Mal vor, be proud, be gay, einen Kuss in die Luft. »Grens, verdammt. Gegenüberstellung. Je von gehört? Weiter kommt ihr nie. Das weißt du genau.« »Drohungen.« »Davon bin ich auch schon freigesprochen worden. Sechsmal.« »Eingriffe in ein laufendes Verfahren. So nennen wir das hier oben.«
Jochum Lang stand wieder still. Die beiden Kriminaltechniker sahen Grens an, der nickte, macht weiter. Das bläuliche Licht, das Wattestäbchen, das in den Achselhaaren nach DNA-Fragmenten suchte. Ewert Grens hatte das gesehen, was er hatte sehen wollen. Einen Tag noch, vielleicht zwei, dann würden die Ergebnisse der Analysen vorliegen. Er seufzte. Dieser verdammte Tag. Er wusste, was sein nächstes Ziel war. Er musste jetzt hin, zu Lena, mit dem Tod. Für sie war Bengt noch am Leben. »Du, Grens?« Er drehte sich um. Jochum Lang noch immer nackt mitten im Zimmer, ein Techniker, der unter seinen Zehennägeln herumstocherte. »Ja?« Langs Mund, zu einem Kuss geformt, er schmatzte. »Das mit deinem Kollegen. Dem in der Leichenhalle. Ich hab das zufällig gehört. Wirklich traurig. Er liegt also einfach da auf dem Boden? Sehr traurig. Ihr habt euch doch gut gekannt? So wie damals mit der Streifenbraut? Kann ja verstehen, dass das nicht ganz … leicht ist. Oder was, Grens?«
Lang schmatzte wieder, hauchte Küsse in die Luft. Ewert Grens stand still da, atmete langsam, machte dann kehrt und ging. Er brauchte knapp fünfundzwanzig Minuten für die Fahrt nach Eriksberg, in das Villenviertel, das er erst vor wenigen Tagen besucht hatte. Sie hatten während der ganzen Fahrt geschwiegen, Sven neben ihm, der fuhr und der vor dem Aufbruch bei Anita und Jonas angerufen und erklärt hatte, dass es noch später werden würde und dass sie vielleicht das Kuchenessen auf den nächsten Tag verschieben sollten. Errfors auf der Rückbank, er hatte ihn gebeten, ein Beruhigungsmittel einzustecken und einfach dabei zu sein, wenn sie berichteten, die Menschen reagieren immer so unterschiedlich, wenn der Tod kommt. Grens war in Gedanken noch in dem Krankenzimmer, das er soeben besucht hatte. Lang stand nackt dort, machte obszöne Bewegungen, verspottete die Polizei und begriff nicht, dass er soeben weitere Schritte in Richtung einer lebenslänglichen Strafe gemacht hatte und dass, solange er sich aufführte wie alle anderen Scheißdiebe, solange er sein verdammtes Schweigen fortsetzte – alles wie besessen
abstreiten oder wie der Teufel schweigen, dieses vorhersagbare Spiel bei den Verhören solange Lang nicht zugab, Oldéus mindestens misshandelt zu haben, würde er als der verurteilt werden, der ihn außerdem umgebracht hatte. Der Arsch hatte ja keine Ahnung, dass es eine Zeugin gab, die eine Aussage wagen würde, trotz der Drohungen. Ewert Grens erkannte die Ironie, die darin lang, dass er jetzt seine Identifizierung hatte, dass es endlich jemand wagte auszusagen und damit Jochum Lang in Verbindung mit einem Gewaltverbrechen brachte, dass er in diesem Moment aber mit der Todesnachricht unterwegs zu Bengts Frau war. Ein sinnloser verdammter Tod in demselben Gebäude, in dem Lang den Fehler gemacht hatte, sich von der falschen Person sehen zu lassen. Egal was. Egal was, aber nicht das hier, nicht auf diesem Weg sein, zu einem Menschen, der noch immer nichts wusste. Er kannte sie eigentlich nicht. Er hatte in ihrem Garten oder ihrem Wohnzimmer gesessen und einmal in der Woche mit ihnen Kaffee getrunken, seit sie dort wohnten, seit sie seinen engsten Freund geheiratet hatte. Sie hatte ihn im-
mer mit Wärme und Freundlichkeit empfangen, und er hatte sich alle Mühe gegeben, aber sie waren einander nie richtig nahegekommen, ob es nun an dem großen Altersunterschied lag oder daran, dass sie zu verschieden waren. Sie hatten beide Bengt gehabt, und gemeinsame Liebe war vielleicht genug. Grens blieb im Auto sitzen und schaute die Reihenhausfassade an. Die Küchenlampe brannte, die Lampe in der Diele brannte, im Obergeschoss war alles dunkel. Sie saß sicher unten, wartete auf ihren Mann, Ewert wusste, dass sie immer spät aßen. Ich kann das nicht. Lena sitzt dort drinnen und hat keine Ahnung. Für sie lebt er. Solange sie nichts weiß, lebt er. Wenn ich alles erzählt habe, ist er tot. Er klopfte an die Tür, die Kinder waren klein, vielleicht schliefen sie, er hoffte, dass sie schliefen, wann schlafen kleine Kinder? Er wartete, Sven und Errfors hinter ihm auf dem Kiesweg unterhalb der Treppe. Sie zögerte. Er klopfte wieder, etwas lauter, etwas länger. Er hörte ihre Schritte, sah ihren raschen Blick aus dem Küchenfenster, sie schloss die Tür auf, öffnete. Er hatte es schon so oft gemacht,
Angehörige vom Tod unterrichtet, aber niemals jemanden, der ihm im Grunde wichtig war. Es ist nicht richtig, dass ich hier stehe. Wenn du noch am Leben wärst, würde ich hier nicht stehen, würde ich nicht vor einer Tür warten, mit deinem Tod in meinen Händen. Er sagte einfach nichts. Er stand nur vor ihr, zog sie fest an sich, auf dem Treppenabsatz und bei offener Tür, er hatte keine Ahnung wie lange, bis sie mit Weinen aufgehört hatte. Sie gingen hinein, in die Küche, sie setzte Kaffee auf und stellte vier Tassen auf den Tisch, und er erzählte, was sie seiner Ansicht nach wissen wollte. Sie sagte nichts, einfach nichts, erst, als sie alle getrunken und wieder eingeschenkt hatten. Sie wollte alles noch einmal hören, genau so, wie es passiert war, wer sie war, wie Bengt getötet worden war, wie er danach ausgesehen hatte, was sie eigentlich gewollt hatte. Ewert gehorchte. Er beschrieb das, was passiert war, bis es ihr reichte. Er wusste, dass es das Einzige war, was er tun konnte, mit ihr zu sprechen, es wieder und wieder zu tun, bis sie langsam anfing zu verstehen.
Dann weinte sie, sah ihn und Sven und Errfors an. Sie saß am Küchentisch und hielt seinen Arm fest und fragte, was sie wohl den Kindern sagen sollte, Ewert, was meinst du, was soll ich den Kindern sagen? Grens merkte, wie seine Wange heiß wurde. Er saß im Auto, auf der Rückfahrt, die E4 fast wie ausgestorben, die Straßenbeleuchtung, die bald aufleuchten würde. Sie hatte hart zugeschlagen. Er war nicht darauf vorbereitet gewesen, sie hatten gerade gehen wollen, sie standen irgendwo in der langen Diele, sie war auf ihn zugelaufen und hatte geschrien, das darfst du nicht sagen, und dann hatte sie seine linke Wange geschlagen. Zuerst hatte er nichts verstanden, dann hatte er sich überlegt, dass sie sicher in diesem Moment das Recht hatte, das zu tun, dann hatte sie es noch einmal geschrien, das darfst du nicht sagen, und hatte abermals den Arm gehoben. Er war stehen geblieben. Was hätte er denn sonst tun sollen? Ihre Hand packen, wie er das sonst machte, wenn jemand ihn bedrohte? Sie hatte mit Fistelstimme geschrien, und Sven war einen Schritt vorgetreten, hatte ihren
Arm mit festem Griff gepackt, hatte sie vor sich hergeschoben, zurück in die Küche. Er sah Sven an, der neben ihm saß, der in Richtung Stadt fuhr, ein wenig zu langsam auf der mittleren Fahrspur, auch er in seinen Gedanken anderswo. Er betastete seine Wange, die war fast betäubt, sie hatte hoch oben getroffen. Er konnte sie verstehen. Er hatte den Tod gebracht. Es war nach zehn, aber es war sommerhell, der Regen, der den ganzen Tag herabgeströmt war, war versiegt, eigentlich war es ein schöner Abend. Sven hatte ihn bei Kronoberg abgesetzt, so schweigsam auf der Rückfahrt wie auf der Hinfahrt, ihre Verzweiflung, sie konnten sie spüren, und sie hatte vieles, aber keine Worte. Ewert Grens ging in sein Zimmer, der Haufen aus gelben und grünen Klebezetteln, der auf seinem Schreibtisch lag, Presseleute, die angerufen hatten und noch immer anriefen. Er fegte alle Zettel in den Papierkorb. Er würde weitere Pressekonferenzen ansetzen, von hier bis zur Hölle, und er wollte einen von den Pressesprechern bitten, dabei die Fragen zu beantworten, die er selber nicht hören
wollte. Er setzte sich in seinen Schreibtischsessel, das ganze Haus war zur Ruhe gekommen, er drehte sich einige Male, hielt an, drehte sich wieder. Er dachte nicht, versuchte das durchzugehen, was in den letzten Stunden passiert war, Bengts Tod und Grajauskaitės Tod und die Geiseln, die sie nicht angerührt hatte, und Bengt, der auf dem verdammten Boden nichts sah und Lena, die am Küchentisch gesessen und sich an seinen Arm geklammert hatte, ein Geschehnis nach dem anderen. Es ging nicht. Er konnte nicht. Die Gedanken gehörten ihm nicht, er saß dort und drehte sich und brachte es nicht über sich, mit einem davon zu beginnen. Anderthalb Stunden. Einsam im Sessel, ohne zu denken. Der junge Putzmann, der lächelte und ein lustiges Schwedisch sprach, hatte angeklopft, und Ewert hatte ihn eingelassen, es war immerhin eine Abwechslung, jemand, der sich für einige Minuten in seiner Nähe bewegte, mit einem Mopp, und der im Hinausgehen den Papierkorb leerte, das war besser als die Gedanken, die er gar nicht denken konnte. Anni, hilf mir.
Ab und zu sehnte er sich nach Menschen. Ab und zu war die Einsamkeit so schrecklich. Er nahm den Telefonhörer ab, wählte die Nummer, die er auswendig konnte. Es war spät, das war ihm klar, aber sie war meistens wach, wenn das Leben ein einziger langer Schlummer war, brauchte man vielleicht nicht so viel Ruhe. Eine der jungen Pflegerinnen meldete sich. Er wusste, wer sie war, sie hatte in den vergangenen Jahren abends oft dort ausgeholfen, das Geld half ihr weiter, wenn das Studiendarlehen nicht ausreichte. »Guten Abend. Hier spricht Ewert Grens.« »Guten Abend, Ewert.« »Ich würde gern mit ihr sprechen.« Einen Augenblick, vielleicht schaute sie auf die Uhr, die in der Rezeption hinter ihr stand. »Es ist ein bisschen spät.« »Das weiß ich. Aber es ist wichtig.« Die junge Pflegerin verließ ihren Platz, und er hörte, wie ihre Schritte über einen Gang verschwanden. Zwei Minuten, dann war sie wieder da. »Sie war wach. Ich habe ihr gesagt, dass du wartest.
Jetzt ist jemand im Zimmer und hält für sie das Telefon. Ich stelle dich durch.« Er hörte den tiefen Atem. Sie lallte, wie immer, wenn er sie anrief, er hoffte, dass jemand ihr den Speichel vom Kinn wischte. »Hallo, Anni. Ich bin’s.« Ihr viel zu lautes Lachen. Ihm wurde warm, sein Körper wurde fast ruhig. »Du musst mir helfen. Ich verstehe überhaupt nichts mehr.« Er sprach eine gute Viertelstunde mit ihr. Sie keuchte, lachte ab und zu, blieb meistens stumm. Sie fehlte ihm schon, als er auflegte. Er erhob sich, sein umfangreicher Körper war schwer, aber nicht müde. Er verließ das Zimmer, ging einige Türen weiter. Das viel zu große Besprechungszimmer war wie immer unverschlossen. Grens stand eine Weile in der Dunkelheit und suchte den Lichtschalter, fand ihn höher als in seiner Erinnerung und schaltete mit einem Griff Lampen, Fernseher, Videogerät und den rauschenden Overheadprojektor ein. Er hatte diese verdammten Apparate noch nie durchschaut und
fluchte ziemlich laut, bis er einen Videokanal gefunden hatte. Er zog Plastikhandschuhe an und zog vorsichtig das Video aus der Tüte, die er in der Leichenhalle bekommen hatte und die seitdem in seiner inneren Jackentasche gesteckt hatte. Die Bilder schwammen in einem starken bläulichen Licht. Zwei Frauen saßen auf einer Küchenbank vor einem Fenster, die Sonne schien, und wer immer die Kamera hielt, hatte keine Ahnung von Weite und Schärfe. Aber sie waren deutlich genug. Er erkannte sie, alle beide. Lydia Grajauskaitė und Alena Sljusareva. In der Wohnung mit dem elektronischen Schloss, in der er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Sie warten, schweigend, vermutlich auf das Startzeichen des Kameramannes, der das Objektiv auf und ab bewegt und dabei auf das Mikrophon klopft, wie um es zu testen. Sie sehen nervös aus, wie Menschen das machen, wenn sie es nicht gewöhnt sind, in das Auge zu starren, das alles einfängt und für später aufbewahrt. Grajauskait spricht als Erste.
»Это мой повод. Моя нстория такая.« Zwei Sätze hintereinander. Sie schaut Sljusareva an, und die spricht auf Schwedisch weiter. »Das hier ist meine Gelegenheit. Das hier ist meine Geschichte.« Wieder Grajauskait, sie sieht ihre Freundin an, noch zwei Sätze. »Надеюсь что когда ты слышишь это того о ком идет речь уже нет. Что он чувствовал мой стыд.« Sie nickt, ist ernst, wartet auf Sljusareva, die sich zur Kamera hindreht, die übersetzt. »Wenn du das hörst, dann hoffe ich, dass der Mann, über den ich rede, nicht mehr da ist. Dass er meine Schande gespürt hat.« Sie sprechen langsam, sorgen dafür, dass jedes Wort auf Russisch und jedes Wort in gebrochenem Schwedisch verständlich ist. Ewert Grens saß zwanzig Minuten lang still vor dem Fernseher. Er sah und er hörte das, was es nicht gab. Abermals verwandelte sie sich jetzt, von der Täterin in das Opfer, von der Irren in die misshandelte Frau.
Er sprang auf, schlug wie so oft auf den Tisch vor ihm, mit der geballten Faust, bis es wehtat, er schrie und er schlug, ab und zu gibt es nicht viel anderes. Ich war eben noch da. Ich habe mit Lena gesprochen! Wem willst du das hier überhaupt erzählen? Das hat sie nicht verdient! Verstehst du? Sie wird das hier niemals hören. Er hatte laut geschrien, er hatte geglaubt, es sei in Gedanken geschehen, war sich sicher gewesen, dass es so war, aber er spürte es im Hals, er musste geschrien haben, sonst dürfte es sich nicht so anfühlen, sonst nicht. Er drehte sich wieder zu dem Videogerät um, sah den flimmernden Bildschirm an. Er ließ das Band zurücklaufen. »Wenn du das hörst, dann hoffe ich, dass der Mann, über den ich rede, nicht mehr da ist. Dass er meine Schande gespürt hat.« Grens hörte sich die ersten Sätze noch einmal an, dann ließ er das Video ganz zurücklaufen. Er sah sie vor sich, wie sie nebeneinander auf dem Boden
der Leichenhalle lagen, sie auf dem Bauch, den Arm unter dem Körper verdreht, Bengt nackt, sein Geschlecht zerschossen, sein linkes Auge durchlöchert. Wenn du es wenigstens zugegeben hättest, als sie dich gefragt hat. Bengt, zum Teufel!Sie hat dich doch gefragt! Wenn du nur ja gesagt hättest. Wenn du ihr gesagt hättest, dass du wusstest, wer sie war. Dann wärst du vielleicht noch am Leben. Das hätte vielleicht gereicht. Wenn du sie gesehen hättest. Wenn du verstanden hättest. Er zögerte, nur wenige Sekunden, dann drückte er den roten Knopf mit der weißen Aufschrift REC. Er wollte das löschen, was er eben gesehen hatte. Von diesem Moment an gab es das nicht mehr. Es gab nichts mehr. Er drückte noch zweimal auf den Knopf, und nichts, das Band bewegte sich weder vor noch zurück. Er nahm die schwarze Plastikkassette aus dem Videogerät, untersuchte die Rückseite, sah, dass die
Löschsperre abgebrochen war. Ihr Bericht, sie hatten getan, was sie konnten, damit man ihnen diesen Bericht nicht nehmen konnte, damit er nicht überspielt werden konnte. Ewert Grens sah sich um. Er wusste, was er zu tun hatte. Er erhob sich, steckte das Band in seine Jackentasche und verließ das Zimmer. Es war nach Mitternacht, als Lena Nordwall sich mit vier Tassen, die noch immer nach Kaffee dufteten, an das Spülbecken stellte. Sie spülte die Tassen mit heißem Wasser aus, mit kaltem, mit heißem, mit kaltem, sie spülte sie dreißig Minuten lang, dann hatte sie die Kraft, sie loszulassen. Danach wischte sie sie ab, eine nach der anderen, mit einem Geschirrhandtuch, sie mussten trocken sein, ganz trocken, noch ein Handtuch, ein neues, sie musste sicher sein. Dann stellte sie sie nebeneinander auf den Küchentisch, sie glänzten so sehr, unter dem Neonlicht der Decke. Sie hob sie hoch und schleuderte eine nach der anderen in die Diele und dort gegen die Wand. Sie stand noch immer am Spülstein, als die Kinder in ihren Schlafanzügen aus dem Obergeschoss
kamen, ein Junge, der auf die Porzellanscherben auf dem Boden zeigte und zu seiner Mama sagte, dass Tassen beim Kaputtgehen aber ganz schön viel Krach machen.
Donnerstag, der 6. Juni
Ewert Grens spürte, wie sein Rücken schmerzte. Das Sofa in seinem Büro war zu klein, er würde es austauschen müssen. Das Schlafen war ihm schwergefallen. Bengts Lügen, Grajauskaitė und die andere auf dem Video, Annis Hand, die er nicht berühren konnte, das Weinen, das ihn geleert hatte. Seine Kleidung war zerknittert, sein Atem von gestern. Er hatte noch etliche Stunden dagesessen, als die Stunden besonders lang gewesen waren, er hatte versucht, an den Ermittlungen im Fall Oldéus und Lang zu arbeiten, aber Grajauskaitė und ihre Freundin hatten Platz gefordert, sie hatten dort gesessen, bleich und verbraucht, sie hatten über seinen besten Freund gesprochen und über die Schande, die er hoffentlich am eigenen Leib spüren würde. Er hatte versucht einzuschlafen, hatte sich von einer Seite auf die andere gewälzt, bis das Licht ihn zum Aufstehen gezwungen hatte. Er zog die Plastiktüte mit dem Video aus seiner Jackentasche, spielte zerstreut daran herum. Er hatte versucht, den Dreck zu löschen, aber das war ihm
nicht gelungen. Dabei hatte er seinen Entschluss gefasst. Und der galt noch immer. Die Aufnahme sollte verschwinden. Grens verließ das Zimmer, ging durch den leeren Gang im Polizeigebäude und holte sich am Automaten ein trockenes Käsebrot und ein Glas Saft. Er ging zum Umkleideraum, zog sich aus, duschte lange. Ich will gleich wieder zu ihr. Beim vorigen Mal habe ich den Tod gebracht. Soll ich diesmal die Schande bringen? Diese verdammte Leichenhalle, er ließ sie in den Abfluss laufen. Er blieb stehen, und das Wasser prasselte ihm auf Kopf und Schultern, er blieb stehen, bis er für einen kurzen Moment spürte, dass die Gereiztheit ihn losließ. Ein Handtuch, das irgendwer vergessen hatte. Er trocknete sich ab, zog sich an, ging wieder auf den Gang und zum Automaten. Eine Tasse Kaffee. So schwarz wie immer. Er merkte, wie er langsam wach wurde. »Grens.« Er hörte ihre Stimme aus dem Zimmer, an dem er gerade vorbeikam. Sie saß auf einem Stuhl mitten im Raum, hatte Papiere auf dem Schreibtisch ver-
teilt, auf dem Besuchersofa, in den leeren Fächern des Bücherregals. »Hermansson. Du bist früh.« Sie war so jung. Eine, die etwas wollte. Das änderte sich später zumeist. »Die Vernehmungen der Zeugen im Söderkrankenhaus. Die sind interessant. Ich wollte sie in aller Ruhe durchgehen.« »Irgendwas, das ich wissen sollte?« »Ich glaube schon. Ich warte auf die Vernehmung des Wächters, den Grajauskaitė niedergeschlagen hat. Und die der Jungen, die neben ihr im Fernsehraum gesessen haben. Sie werden jetzt gerade entlassen.« »Und?« »Die Verbindung zwischen Grajauskaitė und Sljusareva. Ich glaube, die wird deutlicher.« Ob es an ihrer schonischen Aussprache lag. Oder an ihrer ruhigen Art. Er hörte zu. Wie er am Vortag zu spät zugehört hatte, in der provisorischen Einsatzzentrale in der Notaufnahme. Darüber müsste er mit ihr sprechen. Dass sie gut war. Dass er das glaubte, was sie sagte. Dass das nicht so häufig vorkam.
»Ich will mehr wissen.« »Kannst du mir noch ein paar Stunden geben? Dann sind die Bilder fertig.« »Nach der Mittagspause.« Er wollte das Zimmer schon verlassen. Er musste es sagen. »Übrigens.« »Ja?« Er sah sie an. Er musste weiterreden. »Gestern hast du gute Arbeit geleistet. Deine Analysen. Was du gesagt hast. Ich arbeite gern wieder mit dir zusammen.« Sie lachte. Damit hatte er nicht gerechnet. »Lob. Von Ewert Grens. Das wird nicht allen zuteil.« Grens blieb stehen. Dieses Gefühl. Ausgeliefert, bloßgestellt. Er erkannte es nicht wieder, bereute fast, setzte dem Gefühl ein jähes Ende, indem er über etwas anderes sprach, egal was, wenn es nur etwas anderes war. »Das Lager, das zum Videozimmer gehört.« »Was?« »Ich brauch da ein paar Dinge. War noch nie da. Weißt du, wo es liegt?«
Hermansson erhob sich. Sie lachte. Ewert Grens wusste nicht, warum, sie sah ihn an und lachte, bis er sich rundum unwohl fühlte. »Du, Grens? Unter uns?« »Ja?« »Hast du schon irgendwann einmal eine Polizistin gelobt?« Sie lachte noch immer. Zeigte auf den Gang, vorbei an den Automaten. »Und das Lager. Das liegt da hinten. Neben der Kaffeemaschine.« Sie ging wieder in ihr Zimmer, setzte sich auf ihren Stuhl, suchte unter den Papieren auf dem Boden. Ewert Grens sah ihr kurz zu, dann ging er weiter. Sie hatte über ihn gelacht. Er begriff nicht, warum. Lisa Öhrström hatte lange die Augen zugekniffen. Sie hatte gehört, wie der Dunkle, der sie bedroht hatte, gegangen war. Aber sie war auf ihrem Stuhl sitzen geblieben, sie hatte nicht gewagt, sich zu bewegen, bis Anne-Marie den Glaskasten der Stationsschwester auf dem Gang verließ und zurück in die Küche kam. Die ältere Frau hatte leise mit ihr gesprochen, hatte sie in den Arm genommen, sich zu ihr an den Tisch gesetzt. Sie hatten eine Weile
die Hände übereinanderlegt, eine über die andere, wie kleine Kinder, die sehen wollen, welche oben landet. Dann war sie nach Hause gegangen, hatte versucht, ihre Patienten zu empfangen, aber es hatte ihr an Kraft gefehlt, ihre Angst war so stark gewesen, so hatte sie sie noch nie empfunden. Es war eine lange Nacht geworden. Sie hatte versucht, den Schmerz in ihrer Brust fortzuargumentieren. Ihr Herz hatte gehämmert, sie hatte langsam geatmet, um ihm in einen normalen Rhythmus zu helfen, aber stattdessen hatte ihr Atem ihr neue Angst gemacht. Sie bekam keine Luft. Sie wagte nicht einzuschlafen, wagte es nicht, hatte Angst, nie wieder aufzuwachen, wollte nicht schlafen, nicht die Augen zukneifen, nicht mehr. Jonathan und Sanna. Sie hatten sich ihr aufgedrängt. Die ganze Nacht hatten sie sich ihr aufgedrängt. Sie hatte langsam geatmet, versucht, die beiden wegzuschieben. Sie liebte sie. Wie sie nie einen anderen Menschen geliebt hatte. Vielleicht früher einmal Hilding, bis er sie dazu gezwungen hatte,
nichts mehr zu empfinden, aber diese beiden, sie waren wie ein Teil von ihr. Er hatte ihr Foto in der Hand gehalten. Er hatte gewusst, dass es diese Kinder gab. Dieser verdammte Schmerz in der Brust. Sie waren ihre Verletzlichkeit und ihr Schutz. Sie durfte diese Kinder nicht verlieren, und seltsamerweise waren sie es auch, die sie durchhalten ließen, als die Panik zu groß zu werden drohte. Kriminalinspektor Sven Sundkvist, der sie nach Hildings Sturz auf der Treppe vernommen hatte, der ihr die Fotos vorgelegt hatte, er hatte früh angerufen. Sie hatte noch im Bett gelegen, und er hatte um Entschuldigung gebeten, aber erklärt, dass sie schnell arbeiten müssten, er hatte sie aufgefordert, sich so bald wie möglich bei der Polizei einzufinden. Jetzt wartete sie in einem dunklen Gang irgendwo im Polizeigebäude. Sie war nicht allein. Sundkvist stand zwei Meter weiter, ein Anwalt, der vermutlich den Beschuldigten vertrat, ging gerade ins Zimmer.
Sven Sundkvist bat sie, sich Zeit zu lassen. Sie hätten es nicht eilig. Es sei wichtig, dass alles seine Richtigkeit hätte. Sie ging ans Fenster. Er hatte ihr versichert, dass nur sie drei hindurchsehen könnten, nur von dieser Seite, die auf der anderen Seite sahen einen Spiegel, sonst nichts. Es waren zehn Männer. Ungefähr gleich groß, im selben Alter, alle mit rasierten Schädeln. Sie hatten große Schilder auf der Brust hängen. Schwarze Ziffern auf weißem Grund. Sie standen nebeneinander, Schulter an Schulter, sahen sie an. So kam es ihr vor, als ob sie hinter dem Glas warteten und ihre Bewegungen überwachten. Sie sah, ohne zu sehen. Einige Sekunden für jeden, von den Füßen bis zum Schädel. Ihren Augen wich sie aus. »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Keiner.« Sven Sundkvist trat einen Schritt näher an sie heran.
»Sind Sie sich da sicher?« »Es war keiner von ihnen.« Sven Sundkvist nickte zur Glasscheibe hinüber. »Sie werden sich ein wenig bewegen, im Kreis. Bitte, sehen Sie sie sich dabei noch einmal an.« Der, der am weitesten links stand, die Nummer 1 stand auf dem Zettel auf seiner Brust, drehte langsam eine Runde in dem ziemlich großen Raum. Sie schaute ihn dabei an, sah ihn an, er hatte einen wiegenden Gang, eine selbstsichere Art, sich zu bewegen. Er war es. Es war Lang. Verdammter verdammter Hilding. Sie sah, wie er an den Platz zurückkehrte und wie Nummer 2 seine Runde begann. Sie schaute ihnen hinterher, einer nach dem anderen drehte vor ihr seine Runde, vor kurzem hatten sie noch gleich ausgesehen, jetzt sah sie ihre Unterschiede deutlich, in ihrer Gänze. Sven Sundkvist hatte so stumm wie die anderen dagestanden, während zehn Männer mit zehn Nummern vorbeigegangen waren. Jetzt drehte er sich wieder zu ihr um, wartete auf ihre Antwort. »Jetzt haben Sie sie noch einmal gesehen. Gesicht,
Haltung, ihre Art sich zu bewegen. Und nun frage ich Sie, ob Sie einen erkannt haben.« Sie sah ihn nicht an. Das konnte sie nicht. »Nein.« »Keinen?« »Keinen.« Sundkvist trat einen Schritt auf sie zu, suchte ihre fliehenden Augen. »Sind Sie sich da ganz sicher? Dass keiner hier der Mann ist, der Ihren Bruder ermordet hat, Hilding Oldéus?« Er sah die Frau an, die vor ihm stand. Ihre Reaktion überraschte ihn. Der Tod ihres Bruders hatte sie nicht traurig gestimmt. Wütend, das traf schon eher zu. »Schon mal was von Geschwisterliebe gehört? Ich habe ihn durchaus geliebt. Den Hilding, mit dem ich aufgewachsen bin. Aber nicht den, der gestern gestorben ist. Nicht Hilding, den Drogensüchtigen. Den habe ich gehasst. Ich habe das gehasst, wozu er mich gemacht hat.« Sie schluckte. Alles schien sich zu vermischen. Zorn und Hass und Angst und Panik, sie schluckte alles hinunter.
»Und wie schon gesagt. Ich kenne keinen von den zehn Männern hinter der Glasscheibe.« »Sie haben also keinen davon schon einmal gesehen?« »Nein.« »Und da sind Sie sich sicher?« Der Anwalt, der zuletzt ins Zimmer gekommen war, Anzug und Schlips und Mitte vierzig, erhob zum ersten Mal die Stimme, sie war spitz, und er klang beleidigt. »Jetzt muss es ja wohl reichen. Die Zeugin hat ausgesagt, dass sie niemanden erkennt. Aber Sie versuchen, sie unter Druck zu setzen.« »Ich überprüfe eine Aussage, die mit der früheren nicht übereinstimmt.« »Sie setzen sie unter Druck.« Er beugte sich zu Sundkvist vor. »Und Sie müssen Lang freilassen. Jetzt gleich. Sie haben einfach nichts.« Sven Sundkvist nahm seinen Arm, führte ihn vom Fenster weg. »Ich weiß, worum es geht. Und wenn Sie entschuldigen, ich war noch nicht fertig.« Er brachte den Anwalt zur Tür und überzeugte sich
davon, dass die hinter ihm geschlossen wurde. Lisa Öhrström stand am Fenster, starrte es an, in den Raum, der jetzt leer war. »Ich verstehe das nicht.« Sundkvist trat ans Fenster, stellte sich zwischen das Fenster und die Frau, mit der er sprechen wollte. »Ich verstehe nicht. Sie erinnern sich doch an unser Gespräch von gestern?« Lisa Öhrströms Hals war von roten Flecken übersät. Ihre Augen flehten. »Ja.« »Dann wissen Sie noch, was ich gesagt habe.« »Ja.« »Sie haben einen Mann auf Foto Nummer 32 herausgesucht. Ich habe gesagt, dass er Jochum Lang heißt. Sie haben mehrmals gesagt, dass Sie sicher sind, dass er Hilding Oldéus umgebracht hat. Das weiß ich, und Sie wissen es auch. Deshalb verstehe ich rein gar nichts mehr, wenn Sie ihn jetzt lebend hier durch das Fenster sehen und ihn nicht einmal vage wiedererkannt haben wollen.« Sie sagte nichts, schüttelte den Kopf und schaute zu Boden. »Sind Sie bedroht worden?« Er wartete auf ihre Antwort. Die blieb aus.
»So geht er immer vor. Bringt die Zeugen durch Drohungen zum Schweigen. Um dann weiter misshandeln zu können.« Sven Sundkvist suchte ihre Augen, wartete ab. Am Ende erwiderte sie seinen Blick. Sie wandte sich nicht mehr ab, sie wollte es, tat es aber nicht, sie blieb stehen und sah Sven in die Augen. »Tut mir leid, Sundkvist. Tut mir leid. Meine Schwester hat Kinder, verstehen Sie? Ich liebe diese Kinder.« Sie räusperte sich. »Verstehen Sie das?« Der Vormittagsverkehr war weniger geworden, es war leicht, durch die Stadt zu fahren, und auf der E4 waren kaum Autos unterwegs. Eine knappe halbe Stunde, dann war er dort, zum zweiten Mal in weniger als einem halben Tag. Lena freute sich, ihn zu sehen. Schon als er noch die kurze Holztreppe hochstieg, öffnete sie die Tür und kam heraus, umarmte ihn. Ewert Grens war nicht an Körperkontakt gewöhnt, sein erster Impuls war, sich zurückzuziehen, aber
er blieb stehen, sie brauchten das hier, alle beide. Sie holte eine Jacke, es war noch immer kalt, obwohl es nicht mehr regnete, es war so ein Sommer, in dem es einfach nicht richtig warm wurde. Sie waren schweigend fast zwanzig Minuten lang nebeneinander hergegangen, über die Wiesen vor dem Wasserwerk von Norsborgs, in Gedanken verloren, als sie schließlich fragte, wer sie gewesen sei. Die Frau, die geschossen hatte. Die neben Bengt auf dem Boden gelegen hatte. Grens fragte, ob das wichtig sei, und sie nickte, sie wollte es wissen, sie hatte nicht die Kraft, das zu erklären. Er blieb stehen und sah sie an, dann erzählte er davon, wie er Grajauskaitė zum ersten Mal gesehen hatte, in einer Wohnung mit elektronischem Schloss, sie war bewusstlos gewesen und ihr Rücken rot und geschunden von Peitschenhieben. Sie hörte zu, ging dann schweigend weiter, stellte noch eine Frage. »Ich will wissen, wie sie ausgesehen hat.« »Jetzt? Als Tote?« »Vorher. Ich will ein Bild von vorher. Davon, wer sie war. Sie hat mir den Rest unseres gemeinsamen
Lebens genommen, Ewert. Ich weiß, dass gerade du verstehen kannst, was das bedeutet. Ich habe versucht, die Nachrichtensendungen anzuschauen, die ich ertragen konnte. Ich habe heute gleich nach dem Aufwachen in zwei Morgenzeitungen gesucht. Sie bringen kein Bild von ihr. Vielleicht gibt es keins. Vielleicht spielt es auch keine Rolle, wie sie ausgesehen hat, ich meine, für andere, es reicht vielleicht zu wissen, was sie getan hat, wie sie geendet ist.« Den Rest unseres gemeinsamen Lebens. Ewert Grens hatte das selbst gesagt, hatte es selbst gedacht. Ein leichter Wind wehte. Er knöpfte seine Jacke zu, während sie weitergingen. Ich habe es hier, dachte er. In meiner Jackentasche. Ich habe das Foto, das die litauischen Kollegen geschickt haben. Und Lena, ich habe das verdammte Video. Das es bald nicht mehr geben wird. Es gibt viel, das du nie erfahren wirst. »Ich habe ein Foto.« »Du?« »Ja.«
Grens blieb stehen, öffnete die Knöpfe, die er eben geschlossen hatte. Er hielt einen Umschlag in der Hand, öffnete ihn, zeigte ihr ein Schwarzweißfoto, das Bild einer jungen Frau. Sie lächelte. Lange blonde Haare, zu einem lockeren Knoten aufgesteckt. »Lydia Grajauskaitė. Sie wurde zwanzig Jahre alt. Aus Klaipėda. Dieses Bild wurde vor etwas über drei Jahren aufgenommen, unmittelbar bevor sie dort verschwunden ist.« Lena Nordwall stand ganz still da. Sie betastete das Gesicht, suchte darin, wie nach etwas, das sie erkennen könnte. »Hübsch.« Sie wollte mehr sagen. Das sah er ihr an. Sie starrte das Bild einer jungen Frau an, die vor weniger als einem Tag den Menschen erschossen hatte, der ihr am nächsten gestanden hatte. Sie sagte nichts. Sven Sundkvist war am Vortag spät nach Hause gekommen. Es war fast Mitternacht gewesen, und Anita hatte in der Küche gesessen und gelesen, sie hatte auf ihn
gewartet, wie sie es gesagt hatte. Er hatte sie umarmt, dann hatte er den silbernen Leuchter geholt, den sie beide so sehr liebten. Er hatte die weißen Kerzen angezündet, und sie hatten einander angesehen, hatten den übrig gebliebenen Kuchen gegessen, zwei Gläser Wein getrunken. Er war gerade einundvierzig geworden, ging schon auf die zweiundvierzig zu. Er war nach oben gegangen, in Jonas’ Zimmer, hatte ihn auf die Stirn geküsst und das sofort bereut, weil Jonas aufgewacht war, sich verwirrt umgeschaut und etwas Unverständliches gemurmelt hatte. Sven hatte gewartet, bis er wieder eingeschlafen war, einige Minuten, in denen er sanft seine Wange gestreichelt hatte. Dann hatte er Anita ins Badezimmer geholt, hatte ihr gesagt, wie schön sie sei, hatte ihre Hand umklammert, als sie ins Bett gegangen waren. Ihr nackter Körper, danach hatten sie sich fest aneinandergepresst. Er war früh aufgewacht. Das Reihenhaus, ganz still, als er es verlassen hatte. Er hatte eingesehen, dass er wohl zu eifrig war, er hatte doch schon eine Fotoidentifizierung, aber dennoch hatte er Lisa Öhrström vor der Ge-
genüberstellung angerufen, sowie er in seinem Zimmer gestanden hatte. Identifiziertes Foto und Gegenüberstellung, das war unprofessionell, und das wusste er, aber die Sache eilte, und er wollte sicher sein. Sie brauchten Argumente, die sie bei Ågestam vorbringen könnten, der Staatsanwalt sollte Jochum Lang nicht laufenlassen dürfen, dieses Mal nicht. Deshalb war er wütend, als er Öhrström jetzt vor der Glasscheibe stehenließ, die sie von den zehn Männern mit den Nummernzetteln auf der Brust trennte. Er versuchte, das nicht zu zeigen, er wusste ja auf irgendeine Weise, dass es nicht ihre Schuld war, eher war sie ein Opfer, verängstigt und mit dem Tod bedroht. Es gelang ihm nicht. Er war sarkastisch und herablassend, er war an diese unsinnige Wut nicht gewöhnt, sie riss an ihm, er wurde damit nicht fertig. Er rannte weg. Zum Verhörzimmer in Kronoberg. Lang sollte nicht freikommen. Eine Baustelle zwischen Skärholmen und Fruängen brachte ihn dazu, auf das Armaturenbrett ein-
zuschlagen und laut zu schreien. Ewert Grens hatte es eilig, er hatte kurz in Kronoberg und im Polizeigebäude zu tun, dann wollte er zu Fuß in die St. Eriksgata gehen, um sich mit Sven zu dem soeben verabredeten Mittagessen zu treffen. Er wusste, dass er nicht gut genug war. Er hatte den Arm um Lena gelegt und versucht, das zu sagen, was er sagen musste, aber jetzt merkte er nur, wie falsch das alles war, er konnte nicht trösten, konnte nicht in den Arm nehmen, hatte das noch nie gekonnt. Sie hatte auf der Wiese vor dem Wasserwerk gesessen, und der Wind hatte geweht, und sie hatte still gewartet, mit dem Foto von Lydia Grajauskaitė in der Hand, hatte es fest umklammert, bis er sie vorsichtig dazu gebracht hatte, zurückzugehen. Was hatte er dort eigentlich gemacht? Mitten in dem, was Trauer sein sollte. Weil Bengt ihm fehlte? Weil sie sonst niemanden hatte? Weil er sonst niemanden hatte? Der Verkehr schlich dahin, drei Fahrspuren waren zu einer geworden, und die Minuten zerrannen. Er würde zu spät kommen. Aber ihm blieb nichts an-
deres übrig. Er musste vor dem Mittagessen in den Lagerraum. Sven musste warten. Das Verhörzimmer war so kahl, wie es das immer war. Sven Sundkvist war außer Atem, als er dort ankam, die Wut hatte ihn durch das Polizeigebäude gejagt, und er war schneller gegangen, als es nötig gewesen wäre. Er sah Lang an, der am Tisch saß und rauchte, der nicht einmal aufblickte, als er zur Tür hereinkam. Vernehmungsleiter Sven Sundkvist (VL): Du hast Hilding Oldéus in der Abteilung für Innere Medizin des Söderkrankenhauses besucht, unmittelbar ehe er mit tödlichem Ausgang misshandelt worden ist. Jochum Lang (JL): Wenn du meinst. VL: Wir haben eine Zeugin. JL: Aber das ist doch hervorragend, Sundkvist. Denn dann kannst du sie herkommen lassen und für eine Gegenüberstellung sorgen.
VL: Die Zeugin hat dich in das Zimmer geführt, in dem Oldéus lag. JL: Ich meine, die könnte mich und neun andere doch durch ein Fenster angucken. Das ist ganz klasse, Sundkvist, lass uns das so machen. Sundkvist tobte innerlich. Der Mann auf der anderen Seite des Tisches versuchte, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, und das wäre ihm fast gelungen, muss ruhig bleiben, muss meine Fragen stellen und egal, was er auch antwortet, muss sie so lange stellen, bis ich zufrieden bin. Er sah Jochum Lang an, der lächelte, der schon von seinem Anwalt von der misslungenen Gegenüberstellung gehört hatte, Anwälte erzählen so etwas immer sofort. Aber einer, der Drohungen ausstieß, sollte nicht freigelassen werden. Noch nicht. Er sollte noch einmal die Fragen beantworten müssen, und er sollte mehr sagen, als er sagen wollte, und das würde dann absolut ausreichen, um Ågestam seine Voruntersuchung fortsetzen zu lassen,
während der Schuldige schon hinter Schloss und Riegel saß. VL: Wir haben dich vor dem Eingang zum Söderkrankenhaus aus einem falsch geparkten BMW geholt. JL: Ach was, Sundkvist. Du betätigst dich neuerdings auch als Politesse? VL: Warum hast du auf dem Beifahrersitz auf einem abgesperrten Gelände gesessen? JL: Ja, Scheiße, ich sitz ja wohl, wo ich will. VL: Diesmal lassen wir dich nicht laufen. JL: Sundkvist, bring mich verdammt nochmal in die Zelle zurück. Ehe ich etwas mache, wofür ihr mich wirklich unter Anklage stellen könnt! Zehn nach zwölf. Grens hielt vor dem Polizeigebäude. Sven wartete sicher schon ungeduldig im Restaurant. Aber Grens ging doch ins Haus, auf den Gang, der zu seinem Zimmer führte. Er blieb beim Kaffeeautomaten stehen, nicht, um etwas zu trinken, der Lager-
raum lag gleich daneben, der, den Hermansson ihm gezeigt hatte, der, der sein Ziel war. Die Videos lagen in einem Regal ganz hinten in dem stickigen Gelass. Ein brauner Karton, in jedem zwanzig Schachteln. Er nahm sich eine, riss die Plastikfolie ab, zog das schwarze Band heraus. Er sah es sich an. Wie die anderen. Wie sie alle aussahen. Grens zog die Tür hinter sich zu, ging auf sein Zimmer. Dort lagen ihre Besitztümer, in einem Karton auf seinem Schreibtisch. Er griff die Tüte mit dem Supermarktlogo, legte das neue Video hinein. Lenas Schande oder ihre? Lena lebte. Sie war tot. Grajauskaitės Bericht, der existierte deshalb nicht mehr. Er lag im Wasser, ein Stück weiter draußen im Mälar, bei Slagsta Strand, er hatte dort gehalten, auf dem Weg von Eriksberg. Die Schande ist verdammt viel schwerer, wenn man lebt. Ewert Grens gähnte, wiegte die Plastiktüte mit dem neuen Video langsam einige Male über dem Schreibtisch hin und her, legte sie dann zurück, in den Karton, zu ihren anderen Habseligkeiten.
Ewert Grens setzte sich in eine dunkle Ecke im Restaurant, weit hinten im Lokal, schwer zu entdecken für jemanden, der einfach durch das Foyer kam und sich eilig umsah. Es war ein richtiges Loch, fand er, gleich bei der Kreuzung St. Eriksgata und Fleminggata, außerdem ein gutes Stück von Kronoberg entfernt. Aber ihm blieb keine Wahl. Journalisten hatten ihn über Kungsholmen gejagt, sie wussten, wo er sonst zu Mittag aß, und er hatte sie schon auf dem Weg dorthin vor der Eingangstür herumlungern sehen. Sie sollten keine Antwort bekommen. Sie sollten nichts bekommen. Nicht von ihm. Wenn die Polizei schon Pressesprecher anheuerte, dann sollten die auf den Pressekonferenzen, wo die Menschen wild durcheinanderschrien, so wenig wie möglich erklären. Er hatte kehrtgemacht, hatte Sven angerufen, der dort schon wartete, war zwei Blocks weitergegangen. Er hatte schon früher hier gegessen, wenn ein Todesfall zu Wörtern und Schlagzeilen geworden war, und hier hatte er in Ruhe und Frieden elenden Fraß serviert bekommen.
Er fand auf einem Nachbartisch eine Morgenzeitung und konnte einige Minuten darin lesen, sechs Seiten über das Geiseldrama in der Leichenhalle des Söderkrankenhauses. »Und dabei war gerade das Essen serviert worden.« Sven Sundkvist klopfte ihm auf den Rücken und setzte sich. »Fünfundsechzig Eier, ohne auch nur einen Löffel essen zu können. Um dann hierherzugehen?« Sundkvist sah sich um, schüttelte den Kopf. »Tolles Lokal hast du dir da ausgesucht.« »Hier bleiben uns immerhin Fragen erspart.« »Das glaub ich dir sofort.« Schonische Frikadellen mit Roter Beete. Sie bestellten zwei Portionen. »Wie geht es ihr?« »Lena?« »Ja.« »Sie trauert.« »Sie braucht dich jetzt.« Ewert Grens seufzte laut, legte die Zeitung beiseite. Er war unruhig, wippte mit dem Stuhl. »Sven, ich hab keine Ahnung, wie man das macht. Das hegt mir einfach nicht. Vielleicht habe ich
schon einen Fehler gemacht. Sie wollte wissen, wie Grajauskaitė aussah. Ich habe ihr das Foto gezeigt.« »Wenn sie das doch wollte.« »Ich weiß nicht. Ein seltsames Gefühl. Sie schien es nicht zu begreifen. Als ob sie die Frau für einen Moment erkannt hätte. Sie starrte das Bild an, betastete es mit den Fingern, wollte das wohl, sagte aber nichts.« »Sie steht noch immer unter Schock.« »Sie braucht doch nicht zu wissen, wie die Mörderin ihres Mannes aussieht. Als ob ich ihr nicht genug Dreck ins Gesicht gerieben hätte.« Es gab sehr viel Soße. Darin hier und dort ein Stückchen Fleisch. Sie aßen, weil ihnen eigentlich nichts anderes übrig blieb. »Ewert?« »Ja.« »Die Sache vorhin ist den Bach runtergegangen.« Grens jagte ein Stück Rote Beete über seinen Teller. Er gab auf, als es im Meer aus brauner Pulverflüssigkeit verschwand. »Will ich das wissen?« »Nein.« »Dann erzähl.«
Sven Sundkvist durchlebte den Morgen ein weiteres Mal. Lisa Öhrströms Angst und der Widerwille, den er empfunden hatte, als sie gekommen war. Die zehn Männer nebeneinander hinter der Glasscheibe, ihr Nein, wie er sie gebeten hatte, sich die Männer noch einmal anzusehen, das Gefühl, dass sie sich nicht traute und im Grunde nicht wissen wollte, wer sich wirklich in dem Raum aufhielt. Seine eigene Wut, als ihm aufgegangen war, dass sie bedroht wurde, als sie ihn gebeten hatte, ihre Liebe zu den Kindern ihrer Schwester zu verstehen. Ihr Leugnen und ihr Schuldbewusstsein und der Anwalt, der Langs Freilassung verlangt hatte. Sven hatte die Reaktion vorausgesehen. Ewert Grens legte sein Besteck hin. Sein Gesicht war rot, die Augen zogen sich zusammen, und die Adern pochten in seiner Schläfe. Er wollte gerade auf den Tisch schlagen, als Sven seinen Arm packte und ihn zurückhielt. »Nicht hier, Ewert. Wir wollen doch keine Neugierigen herlocken.« Grens atmete schwer. Seine Stimme war leise, sie trug kaum, als sein Zorn noch weiter wuchs.
»Zum Teufel, Sven, weißt du überhaupt, was du da sagst?« Grens erhob sich. Er drehte eine Runde um den Tisch und versetzte dabei jedem Tischbein einen Tritt. »Ewert, ich bin genauso wütend wie du. Aber nimm dich zusammen, ich bitte dich wirklich, wir sind nicht im Büro.« Ewert stand noch immer vor ihm. »Er hat die Ärztin bedroht. Er hat die Kinder bedroht!« Sven Sundkvist zögerte, ehe er weitersprach, er sah noch immer diese seltsamen Vormittagsstunden vor sich. Er zog ein kleines Tonbandgerät aus der Jackentasche, stellte es zwischen die noch immer halb vollen Teller auf den Tisch. »Danach habe ich Lang vernommen. Hör dir das an.« Zwei Stimmen. Eine, die die Wahrheit sucht. Eine, die versucht, genau der auszuweichen. Ewert Grens stand still am Tisch, sein Gesicht, jeder Muskel war angespannt, als Jochum Lang sprach. Er sagte nichts, erst, als das Band anhielt
und Sven Sundkvist die Hand ausstreckte, um das Gerät wieder in die Tasche zu stecken. »Nochmal. Nur das Ende.« Das Geräusch von Stühlen, die über den Boden schrappen. Die wütenden Atemzüge. Langs Stimme. Sundkvist, bring mich verdammt nochmal in die Zelle zurück. Ehe ich etwas mache, wofür ihr mich wirklich unter Anklage stellen könnt! Grens schrie laut los, die wenigen Gäste, die noch im Lokal saßen, fuhren zu der Ecke des Restaurants herum, wo ein älterer hochgewachsener Mann an einem Tisch stand und die Faust in die Luft hob. »Setz dich, Ewert.« »Das hier, Sven, lass ich mir nicht bieten. Ich lass Lang jetzt nicht länger bestimmen. Jetzt fährt er ein. Und es ist mir scheißegal, was das bedeutet.« Ewert Grens stand noch immer. Er zeigte auf Sundkvist. »Lisa Öhrströms Telefonnummer.« »Weshalb?«
»Hast du sie, oder hast du sie nicht? Also her mit ihrer Nummer. Wir wollen mal ein bisschen ordentliche Polizeiarbeit leisten, du und ich, hier von diesem Lokal aus.« Die Serviererin, eine junge Frau, näherte sich vorsichtig dem Tisch. Sie holte tief Atem, wich Grens aus, sah Sven Sundkvist an und flehte um Stille, um Rücksicht auf die anderen Gäste, sie erklärte, dass sie sonst die Polizei holen müsste. Sundkvist bat um Verzeihung, versprach, dass es nicht wieder vorkommen werde, sie hätten ohnehin gerade gehen wollen, könnten sie wohl die Rechnung haben? »Hier.« Sundkvist reichte Ewert Grens sein Notizbuch. Dort war Öhrströms Nummer sorgfältig verzeichnet. Grens lächelte seinen jüngeren Kollegen an, die Telefonnummer mit dem Namen der Teilnehmerin war alphabetisch eingeordnet, so war er eben, der Sven. Grens zog sein Telefon hervor, wählte Lisa Öhrströms Nummer. Er erreichte sie irgendwo in der Inneren Medizin, sie war gleich nach der Gegenüberstellung am Morgen dorthin gegangen.
»Öhrström? Kriminalkommissar Ewert Grens. In einer Stunde schicke ich dir ein paar Bilder. Und die siehst du dir gefälligst an.« Sie zögerte, schien nicht verstanden zu haben, was er gesagt hatte. »Worum geht es?« »Mord, Überfall und Körperverletzung.« »Ich verstehe nicht.« »Deine Faxnummer.« Sie zögerte wieder, ihr Schweigen, sie wollte nicht weitersprechen. »Warum soll ich mir Bilder ansehen?« »Das wirst du verstehen, wenn du sie siehst. In einer Stunde. Ich melde mich wieder.« Ewert Grens wartete ungeduldig, während Sven Sundkvist sein Lightbier austrank und das Geld suchte, von dem er wusste, dass er es mitgebracht hatte. Grens fuchtelte mit der Hand, er hatte es eilig und bezahlte für beide, gab mehr Trinkgeld, als die Mahlzeit verdient hatte. Sie hatten die Tür zum Verkehrschaos in der St. Eriksgata schon fast erreicht, als Grens ein Stück weiter zwei von den Presseleuten sah, mit denen er nicht sprechen wollte. Er bat Sundkvist,
einen Moment stehen zu bleiben, wartete bei halb offener Tür ab und sah die beiden vorübergehen und verschwinden. Sie verließen den Geruch von schonischen Frikadellen. Eilige Schritte durch die Fleminggata, einige Minuten Spaziergang, nebeneinander, zur Bergsgata und zur Gewaltsektion, dann trennten sich ihre Wege. Grens ging in sein Zimmer, kam kurz darauf mit zwei Schwarzweißfotos in der Hand wieder zum Vorschein, steuerte das Faxgerät an, das weiter hinten im Flur stand. »Grens?« Er drehte sich um. Sie hatte ihn ausgelacht, als sie sich früher an diesem Morgen begegnet waren. »Hermansson. Du hast mir einen Bericht versprochen. Nach der Mittagspause. Jetzt ist nach der Mittagspause.« Er fragte sich, ob er wütend klang. Er war nicht wütend. »Ich bin fertig.« »Und?« »Ich habe die Reinschriften der Vernehmungen. Ich habe sie durchgesehen. Sie sind interessant.«
Ewert Grens hielt die beiden Bilder in der Hand. Hermansson zeigte darauf, fax du erst mal, ich warte, aber er legte sie nur zur Seite, bat sie zu berichten. »Die Erinnerungen des Wächters. Er spricht von einer Frau, die unmittelbar vor Grajauskaitė die Behindertentoilette aufgesucht hat. Und nach seiner Beschreibung dieser Frau bin ich sicher, dass er ihre Freundin Alena Sljusareva gesehen hat.« Ewert Grens hörte zu. Er dachte an den Morgen. Er hatte sie gelobt und sich dabei fast peinlich berührt gefühlt, preisgegeben, er hatte es da nicht begriffen und begriff es jetzt auch nicht, er war nicht daran gewöhnt. »Dann die beiden Knaben, die im Aufenthaltsraum neben Grajauskaitė gesessen haben und sich die Mittagsnachrichten ansahen. Einer davon erinnert sich auch an diese Frau. Seine Beschreibung stimmt mit der des Wächters überein. Ein klares Bild von Alena Sljusareva.« Hermansson hatte einen Ordner mit Papieren bei sich. Einige über die Ermittlung, die nun fast einen Tag alt war, über einen Mord und einen Selbst-
mord in einer Leichenhalle. Sie hielt den Ordner hoch, wollte ihn Grens geben. »Sie war es, Grens. Sie hat Lydia Grajauskaitė mit der Waffe und mit Sprengstoff versorgt. Ich bin sicher. Damit hat Alena Sljusareva sich der Mithilfe zu Menschenraub und vorsätzlichen Mordes schuldig gemacht. Wir werden sie bald haben, sie kann doch nirgendwo hin.« Ewert Grens nahm den Ordner. Er sah die junge Polizistin an, die schon weitergegangen war, räusperte sich. »Du, übrigens.« Sie blieb stehen, drehte sich um. »Du hast dich geirrt. Du bist die zweite Polizistin, die ich gelobt habe. Und ich sollte es wohl noch einmal machen.« Sie schüttelte den Kopf. »Danke. Aber jetzt reicht es.« Hermansson wollte schon wieder weitergehen, er bat sie zu warten, nur noch eine Frage. »Das, was du heute Morgen gesagt hast.« »Ja?« »Soll ich das so verstehen, dass du meinst, ich hätte Probleme mit Polizistinnen?«
»So sollst du das verstehen.« Sie hatte nicht gezögert. Sie war ruhig und sachlich geblieben, und er stand da, ebenso bloßgestellt wie wenige Stunden zuvor. Aber er begriff. Er sah Anni. Grens räusperte sich laut, direkt neben ihm stand der Kaffeeautomat, er brauchte schwarzen Automatenkaffee in einem Plastikbecher, das brauchte er, das Schlichte, es beruhigte ihn. Er leerte den Becher, füllte noch einen. Er wusste es doch, warum er Probleme mit Polizistinnen hatte. Mit Frauen überhaupt. Vor fünfundzwanzig Jahren. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte er einen anderen Menschen umarmt. Er konnte sich kaum erinnern, was das für ein Gefühl gewesen war, es fehlte ihm, aber er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Noch einen Becher. Den letzten trank er langsamer, er trank nie mehr als drei, wollte den letzten ein wenig ausdehnen, die Ruhe, die er ihm schenkte. Er trank, und er schluckte langsam, mit dem Becher in der einen Hand, als ihm aufging, dass er in der anderen noch immer die beiden Fotos hielt.
Er sah sie an. Er wusste, dass sie ihre Wirkung nicht verfehlen würden. Lisa Öhrström meldete sich nach fünfmaligem Klingeln. »Eine Stunde. Das war pünktlich.« »Geh jetzt zu deinem Faxgerät.« Ewert Grens hörte ihre Schritte auf einem Gang, er sah die Innere Medizin vor sich, er wusste, wo sie jetzt stand. »Hast du sie bekommen?« »Gerade eben.« »Und?« »Ich weiß nicht, was du willst.« »Was siehst du?« Sie seufzte. Er wartete, bis sie wieder etwas sagte. »Worum geht es hier?« »Du bist Ärztin. Sieh dir die Bilder an. Was siehst du?« Lisa Öhrström schwieg, er hörte sie atmen, aber sie sagte nichts. »Zum letzten Mal. Was siehst du?« »Eine linke Hand. Drei Finger sind gebrochen.« »Der Daumen. Korrekt?« »Korrekt.«
»Fünftausend Kronen.« »Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.« »Der Zeigefinger. Tausend Kronen. Der Kleine Finger. Tausend Kronen.« »Ich verstehe noch immer nicht.« »Jochum Lang. Das ist sein Tarif. Und seine Unterschrift. Das sind Bilder der Kriminaltechnik aus einer eingestellten Ermittlung. Dieser Mann, mit der kaum noch funktionsfähigen linken Hand, schuldete siebentausend Kronen. Eins von Langs Opfern. Und du schützt jemanden, der diesen Beruf ausübt. Und solange du ihn schützt, wird er diesen Beruf weiter ausüben.« Ewert Grens wartete, sagte nichts mehr, legte dann auf. Sollte sie doch dasitzen. Mit drei gebrochenen Fingern in Schwarzweiß vor sich. Sie würde das tun, bis er sich das nächste Mal meldete. Eine Tür wurde ein Stück weiter geöffnet. Grens drehte sich um. Sven Sundkvist, der es eilig hatte, hastige Schritte, die sich näherten. »Ewert, ich hatte gerade einen Anruf.« Grens setzte sich auf den Tisch neben dem Faxgerät, sein Bein tat weh, wie es bisweilen eben weh-
tat, und er hörte, wie der dünne Plastikdeckel unter seinem Gewicht ächzte. Sven Sundkvist hörte das auch, hatte aber keine Zeit, sah seinen Chef an. »Unten im Freihafen. Ein russischer Dolmetscher ist schon unterwegs.« »Ja?« »Sie wollte gerade auf die Fähre nach Litauen gehen.« Grens breitete ungeduldig die Arme aus. »Komm zur Sache.« »Alena Sljusareva. Wir haben sie eben festgenommen.«
Sie hatten so oft darüber gesprochen. Er hatte mit Bengt in allerlei Vernehmungsräumen oder in Lokalen oder zu Hause bei Bengt im Villengarten gesessen, und sie waren oft bei diesem Thema gelandet, bei der Wahrheit, hatten darüber gesprochen, dass die manchmal verdammt einfach ist, es gibt die Wahrheit, und es gibt Lügen, und die Wahrheit ist das Einzige, was der Mensch am Ende ertragen kann. Alles andere ist gequirlte Kacke.
Eine Lüge gebiert eine neue Lüge gebiert eine neue Lüge, und am Ende bist du dermaßen eingewickelt, dass du die Wahrheit nicht einmal mehr dann erkennst, wenn sie das Einzige ist, was du da hast. Sie hatten ihre Freundschaft auf Wahrheit aufgebaut. Darauf, immer zu sagen, was man denkt, auch wenn das Kraft verschlingt. Es war vorgekommen, dass einer gemerkt hatte, dass der andere auswich, dass er aus purer Nettigkeit die Klappe hielt, und dann hatten sie einander eine Weile lang angebrüllt, hatten die Tür zum Flur geschlossen und erst wieder geöffnet, wenn alles gesagt war, die Wahrheit. Ewert Grens schauderte es. Was für eine verdammte Lüge. Was hatte er denn geglaubt? Dass er und Bengt die reine Wahrheit besaßen und Schluss aus? Er saß an seinem Schreibtisch und dachte an ein Video, das er fast einen ganzen Tag lang in der Jackentasche mit sich herumgetragen und dann im Mälar versenkt hatte. Jetzt lüge ich. Lena zuliebe.
Unsere Scheißwahrheit. Ich lüge, um deine Lüge zu beschützen. Ewert Grens zog den Pappkarton, der ganz hinten an der Schreibtischkante stand, zu sich heran. Er beugte sich vor, hob den Deckel hoch. Er sah die Habseligkeiten, die zwei Stunden zuvor im Freihafen beschlagnahmt worden waren, als zwei Polizisten Alena Sljusareva aufgegriffen und durchsucht hatten. Er nahm den Pappkarton und stellte ihn auf den Kopf. Er enthielt nicht viel, ungefähr das, was ein Mensch auf der Flucht mitnehmen kann. Er hob ihre Besitztümer hoch, betastete sie, eins nach dem anderen. Eine Geldklammer mit einigen Tausendern, dem Lohn dafür, dass sie drei Jahre lang zwölfmal pro Tag die Beine breitgemacht hatte. Ein Tagebuch, er erbrach das Schloss und blätterte zerstreut im Buch herum, kyrillische Buchstaben und lange Wörter, die er nicht begriff. Eine billige Sonnenbrille aus Plastik, so eine, die man im Vorübergehen schnell einkauft. Ein Mobil-
telefon, ziemlich neu, mit mehr Funktionen, als irgendwer jemals begreifen könnte. Ein Ticket für die einfache Fahrt von Stockholm nach Klaipėda, für diesen Tag, den 6. Juni. Er schaute auf die Uhr. Ein Ticket, das eben erst seine Gültigkeit verloren hatte. Er sah sich noch einmal ihr Leben an, dann legte er es wieder in den Pappkarton. Er las eilig das beigelegte Beschlagnahmungsprotokoll, unterschrieb, legte es zu dem Rest. Ewert Grens wusste mehr, als er wissen wollte. Jetzt würde er sie vernehmen. Und sie würde genau das sagen, was er nicht hören wollte. Und er würde zuhören, vergessen, sie auffordern, ihren Kram zu packen und nach Hause zu fahren. Lenas wegen. Nicht deinetwegen. Ihretwegen. Grens erhob sich, lief wieder über den Gang, zu den Fahrstühlen, zur Arrestabteilung und dem dort diensthabenden Kollegen. Er wurde schon erwartet, zusammen gingen sie zu der Zelle, in der Alena Sljusareva seit anderthalb Stunden saß. Der Diensthabende machte dasselbe wie immer, beugte sich vor und schaute durch das kleine viereckige
Loch, das sich mitten in der Tür befand. Da saß sie. Auf der schmalen Pritsche, vorgebeugt, den Kopf auf die Knie gedrückt, die dunklen Haare hingen offen fast bis auf den Boden. Der Diensthabende öffnete die Tür, und Grens betrat den tristen Raum. Sie schaute auf, ihre Augen, sie hatte geweint. Er nickte ihr zu. »Du sprichst offenbar Schwedisch?« »Es geht.« »Gut. Ich soll dich vernehmen. Wir werden uns hierhin setzen, auf die Pritsche in deiner Zelle, und zwischen uns stellen wir dieses Tonbandgerät hier. Verstehst du?« »Warum?« Alena Sljusareva kroch in sich zusammen. Wie sie das manchmal getan hatte, wenn jemand zu hart in sie eingedrungen war, wenn ihr Unterleib geschmerzt hatte, wenn sie hoffte, dass niemand sie sah. Vernehmungsleiter Ewert Grens (EG): Du weißt, wer ich bin? Alena Sljusareva (AS): Die Wohnung. Sie haben ihm einen Gummiknüppel in den Bauch ge-
stoßen. Dimitri Scheißzuhälter. Er lag auf dem Boden. EG: Das hast du also gesehen? Aber du bist trotzdem weggelaufen? AS: Ich hatte auch Bengt Nordwall gesehen. Und bin in Panik geraten. Ich wollte nur noch weg. Er saß neben einer jungen Baltin auf einer schmalen Pritsche in einer Arrestzelle. Sein Rücken schmerzte nach einigen Stunden Schlaf auf einem Sofa im Büro, sein Bein schmerzte, wie es so oft schmerzte. Grens atmete langsam. Er war müde. Er wollte nicht hier sitzen und das Einzige besudeln, was es noch gab, Stolz, Identität, er hasste die Lüge, die er mit sich herumtrug, und er würde weiter lügen, denn er war ja dazu gezwungen. AS: EG: AS: EG:
Ich weiß es jetzt. Dass sie tot ist. Das ist sie. Das weiß ich jetzt. Zuerst hat sie einen unschuldigen Polizisten erschossen. Dann hat sie sich mit derselben Waffe umgebracht, ein Schuss in den Kopf
AS:
aus einer neun Millimeter Pistolet Makarova. Ich wüsste wirklich zu gern, woher sie diese Waffe hatte. Sie ist tot. Sie ist tot! Das weiß ich jetzt.
Sie hatte gehofft. Wie man immer hofft. Wenn ich es nicht weiß, ist es auch nicht passiert. Jetzt weinte sie. Sie bekreuzigte sich mit einer Hand, die in der Luft zitterte, sie weinte, wie nur die weint, die soeben eingesehen hat, dass das, was sie vermissen wird, nicht mehr existiert. Ewert Grens wartete, sie sollte sich ausweinen können, er sah das Tonband an, das sich drehte, und er schwieg, bis sie sich beruhigt hatte und er seine Frage wiederholen konnte. EG: AS: EG: AS: EG: AS: EG:
Eine Neun-Millimeter-Pistolet Makarova. (unverständlich) Und Sprengstoff. Das war ich. Die was? Die das geholt hat. Wo?
AS: Am selben Ort. EG: Wo? AS: In der Völundsgata. Da im Keller. Grens schlug wütend mit der Hand auf das Tonbandgerät, fast hätte er sie getroffen. Wie zum Teufel hatte eine erschöpfte und ängstliche junge Frau auf der Flucht sich an der Wache vor dem Haus vorbeischleichen können, wie hatte sie in den Keller gelangen und dann genug Sprengstoff wegtragen können, um Teile eines großen Krankenhauses in die Luft fliegen zu lassen? Sie hatte Angst, er hatte geschlagen, wie sie immer schlugen, sie machte sich noch kleiner. Er bat um Verzeihung. Er versprach, nicht wieder auf den Tisch zu schlagen. EG: Du hast gewusst, was sie damit vorhatte. AS: Nein. EG: Du hast ihr eine scharfgeladene Waffe ausgehändigt, ohne zu fragen warum? AS: Ich wusste nichts. Ich habe auch nicht gefragt. EG: Und sie hat nichts gesagt?
AS:
Sie wusste, wenn sie das getan hätte, dann wäre ich nicht von ihrer Seite gewichen.
Ewert Grens schaltete das Tonbandgerät aus, nahm das Band heraus. Die Lüge. Diese Vernehmung würde niemals ins Reine geschrieben werden. Er würde das Band verschwinden lassen, wie er am Vortag den gemeinsamen Bericht der Frauen hatte verschwinden lassen. Er sah sie an. Sie wich seinem Blick aus, wollte nicht mehr. »Du fährst nach Hause.« »Jetzt?« »Jetzt.« Alena Sljusareva sprang auf, fuhr sich mit der Hand durch die Haare, zog einige Male an ihrer Bluse, um sie länger wirken zu lassen, schob die Füße in die Arrestpantoffeln. Sie wollten doch gemeinsam nach Hause fahren. Das war jetzt nicht mehr möglich. Lydia war tot. Sie war allein unterwegs. Grens hatte ein Taxi bestellt. Das war besser so. Je weniger Beteiligte, desto einfacher. Er ging neben ihr über den Gang, hinaus auf die Bergsgata. Ein
älterer Mann mit seiner jüngeren Frau. Ein älterer Mann mit seiner jüngeren Tochter. Sie hätten irgendwer sein können. Nicht viele hätten auf einen Kriminalkommissar von der Gewaltsektion und eine Prostituierte kurz vor der Heimfahrt getippt. Sie saß auf dem Rücksitz, als sich der Wagen in den Nachmittagsverkehr der Innenstadt einfädelte. Norr Mälarstrand, Kungsgata und Stureplan, über den Valhallaväg und dann durch den Lingöväg zum Hafen. Sie würde niemals hierher zurückkehren. Sie würde Litauen niemals wieder verlassen. Das wusste sie. Sie hatte ihre Reise hinter sich. Grens bezahlte das Taxi und betrat den Fährterminal. Das nächste Schiff ging in knapp zwei Stunden. Er kaufte ein Ticket, gab es ihr. Sie hielt es ganz fest, würde es nicht loslassen, bis sie in Klaipėda von Bord ging, der Hafenstadt, dem Zuhause, das sie verlassen hatte. Es war schwer, sich das vorzustellen. Den Ort, den sie mit siebzehn Jahren verlassen hatte. Sie hatte nicht sonderlich lange gezögert, als die beiden Männer ihr nur eine Fährfahrt entfernt Arbeit und guten Lohn angeboten hatten. Was sie verlassen hatte, war arm gewesen und ohne große Hoffnung
auf Veränderung. Sie wollte nur einige Monate wegbleiben. Sie wollte ja zurückkommen. Sie hatte es nicht einmal Janoz erklärt. Sie konnte sich nicht erinnern, warum nicht. Sie war damals ein anderer Mensch gewesen. Es war nur drei Jahre her, aber eine andere Zeit, ein anderes Leben. Jetzt hatte sie länger gelebt als die anderen in ihrem Alter. Ob er sie gesucht hatte? Ob er sich Gedanken gemacht hatte? Sie sah Janoz vor sich, sie hatte sein Bild in sich getragen. Das hatten sie ihr niemals nehmen können. Sie waren in sie eingedrungen und sie hatten sie angespuckt, aber sie hatten nie das erreichen können, was sie sich herzugeben weigerte. Ob es ihn noch gab? Lebte er noch? Wie mochte er jetzt wohl aussehen? Ewert Grens ging mit ihr in den hinteren Teil des Terminals, wo die Cafeteria lag. Er lud sie zu Kaffee und belegten Broten ein, und sie bedankte sich und aß. Er kaufte zwei Zeitungen, und dann saßen sie am Tisch, lasen und warteten auf die nächste Abfahrt.
Nicht einmal vierundzwanzig Stunden waren vergangen. Lena Nordwall saß am Küchentisch und starrte vermutlich nichts an. Aber man starrt immer irgendetwas an. Wie lange würde es dauern? Zwei Tage? Drei? Eine Woche? Zwei Wochen? Ein Jahr? Immer? Sie brauchte es nicht zu verstehen. Das brauchte sie nicht. Noch nicht. Oder? Jemand saß hinter ihr. Das merkte sie jetzt. In der Diele, auf der Treppe, die in den ersten Stock führte. Sie drehte sich um, sah ihre Tochter, die sie schweigend musterte. »Wie lange sitzt du schon hier?« »Weiß nicht.« »Warum bist du nicht draußen?« »Es regnet.« Ihre und Bengts Tochter war fünf Jahre alt. Ihre Tochter war fünf Jahre alt. So musste sie denken. Ihre Tochter. Wenn sie sich umsah, dann gab es keine weiteren Erwachsenen im Haus. Sie war allein. Mit der Verantwortung. Mit der Zukunft. »Wie lange, Mama?« »Wie lange was?« »Wie lange bleibt Papa noch tot?«
Ihre Tochter hieß Elin. Sie trug Stiefel. Nasse, lehmige. Lena sah es nicht. Elin ging durch das Zimmer, von der Treppe in der Diele bis zum Tisch in der Küche, Spuren von feuchter Erde, und Lena sah sie nicht. »Wann kommt er nach Hause?« Elin setzte sich neben sie auf den Stuhl, das registrierte Lena, aber nur vage, sie hörte nicht, dass das Kind eine Menge Fragen stellte. »Kommt er nicht nach Hause?« Ihre Tochter streckte ihre Hand nach ihrer Wange aus, reichte gerade hin, streichelte sie. »Wo ist er?« »Papa schläft.« »Wann wird er wach?« »Er wird nicht wach.« »Wieso nicht?« Ihre Tochter saß neben ihr und schleuderte Fragen, die Fragen trafen auf ihren Körper, das spürte sie jetzt, spürte, wie sie angriffen und sozusagen über ihre Haut krochen, ehe sie eindrangen. Sie sprang auf. Sie wollte keine Worte mehr, die schlugen. Sie schrie, schrie das Kind an, das zu verstehen versuchte.
»Hör auf! Hör jetzt mit Fragen auf!« »Warum ist er tot geworden?« »Ich kann das nicht! Kannst du das nicht verstehen? Ich kann einfach nicht mehr!« Sie hätte fast ihr Kind geschlagen. Das spürte sie, es kam so schnell, der Arm in der Luft und die Fragen, die auf ihren Kopf einhämmerten, sie hob den Arm, schlug aber nicht, sie hatte noch nie geschlagen. Jetzt weinte sie, setzte sich, nahm ihre Tochter in den Arm, ihre Tochter. Sven Sundkvist hatte laut vor sich hingelacht, als er das schäbige Restaurant verlassen hatte und allein nach Kronoberg zurück gewandert war. Nicht über das Essen, auch wenn die fetten Fleischknubbel in der dünnen Pulversoße es nicht besser verdient hätten. Er hatte über Ewert gelacht. Er sah seinen Kollegen vor sich, wie er um den Tisch herumlief, wie er dabei jedem Tischbein einen Tritt verpasste, wie er aufsprang und das Tonbandgerät mit Langs drohender Stimme verfluchte, bis die Serviererin geschlichen gekommen war und ihn gebeten hatte, leiser zu sein, weil sie sonst die Polizei anrufen müsste.
Er hatte ganz unbewusst gelacht, und die beiden Damen, die ihm entgegenkamen, schauten ihn traurig an, murmelten besorgt etwas über Alkohol bei Leuten, die offenbar keinen vertragen. Über Ewert Grens konnte man sehr viel sagen. Aber langweilig war er jedenfalls nie. Ewert war losgerannt, um Alena Sljusareva zu vernehmen. Sven Sundkvist war sicher gewesen, dass sie Informationen besaß, die ihnen zu einem etwas besseren Verständnis des Falles verhelfen würden. Er machte deshalb größere Schritte, lief zu seinem Zimmer zurück. Er wollte Lang erst mal wegschieben und für eine Weile versuchen, eine Erklärung für das Geiseldrama zu finden, die Leichenhalle hatte in ihm ein starkes Unbehagen hinterlassen, und dabei ging es nicht nur um Tod. Es gab noch etwas anderes, das er nicht richtig verstanden hatte. Ihre seltsame Zielstrebigkeit und Brutalität, die Mediziner, die sie als Geiseln genommen und mit der Pistole bedroht hatte, gesprengte Leichen und Bengt Nordwall im Tausch gegen die Geiseln, den Schuss auf ihn und den auf sie selbst. Und das alles, ohne auch nur ein Wort darüber zu sagen, was sie eigentlich wollte.
Er ging den Handlungsverlauf noch einmal durch. Er zerlegte Mittwoch, den 5. Juni, in lauter Minuten, jedes neue Geschehnis erhielt seinen genauen Zeitpunkt. Um zwölf Uhr fünfzehn hatte Lydia Grajauskaitė auf dem Sofa im Aufenthaltsraum gesessen und sich die Nachrichten angesehen, um sechzehn Uhr zehn hatten dann mehrere Personen mit Kopfhörern nach einstimmiger Aussage das Geräusch von zwei Schüssen gehört, denen dann noch einer gefolgt war, danach ein lauter Knall, als die Einsatztruppe die Tür der Leichenhalle aufgebrochen hatte. Er las die Vernehmungen der Geiseln noch einmal, der ältere Arzt Ejder und die vier Studierenden vermittelten im Grunde alle das gleiche Bild von Grajauskaitė: Sie war ruhig gewesen und hatte die ganze Zeit alles unter Kontrolle gehabt, sie hatte auch niemanden verletzt, abgesehen von Larsen, als der versucht hatte, sie zu überwältigen. Ihre Beobachtungen ergaben ein gutes Bild, eigentlich sagten sie alles, nur das nicht, was er am meisten brauchte. Warum hatte sie das getan? Er sah sich am Ende das Beschlagnahmungsprotokoll an, das, was die Techniker irgendwann nach
sechzehn Uhr null sieben in der Leichenhalle des Söderkrankenhauses gefunden hatten. Dabei kam so wenig heraus, wie er befürchtet hatte. Nichts Unerwartetes. Nichts, was er nicht hätte voraussehen können. Mit einer Ausnahme. Immer wieder las er diese beiden Zeilen. In ihrer Plastiktüte hatte ein Video gelegen. Ohne Hülle. Mit kyrillischen Buchstaben auf dem Zettel, der am Rand geklebt hatte. Sie hatten Zeitungen getauscht, er hatte mehr Kaffee und für beide Apfelstrudel mit Vanillesoße geholt. Sie aß mit ebenso großem Appetit wie vorhin ihr belegtes Brot. Ewert Grens musterte die Frau, die da vor ihm saß. Sie war schön. Nicht, dass das eine Rolle gespielt hätte, aber das war sie. Sie hätte zu Hause bleiben sollen. Was für eine Verschwendung. So jung, noch so viel Zeit, und dann das hier, jeden Tag die Beine breitmachen, für geile Freier aus Reihenhäusern, die Rasenmähen und anspruchsvolle Kinder und die älter werdende Gattin satt hatten.
Grens schüttelte den Kopf. Was für eine verdammte Verschwendung. Er wartete, bis sie fertig gegessen, die Kuchengabel hingelegt hatte. Er hatte es in seiner Aktentasche gehabt. Jetzt zog er es hervor, legte es auf den Tisch. »Erkennst du das hier?« Sie sah es an. Ein blaues Notizbuch. Sie zuckte mit den Schultern. »Nein.« Grens schlug die erste Seite auf, schob es über den Tisch, bis es vor ihr lag. »Verstehst du das hier?« Alena Sljusareva sah sich das an, was dort geschrieben stand. Sie las einige Zeilen, dann suchte sie seinen Blick. »Woher kommt das?« »Das lag neben ihrem Bett im Krankenhaus. Es war das Einzige, was es dort noch gab, was ihr gehört hatte. Denn das hat es doch?« »Das ist Lydias Schrift.« Er erklärte, dass er versucht hatte, den Text übersetzen zu lassen, während Lydia mit den Geiseln in der Leichenhalle gewesen war, als sie noch gelebt
hatte, aber er hatte keinen Menschen gefunden, der Litauisch übersetzen konnte. Als Bengt noch lebte, dachte er. Als die Lüge, die er mit sich herumtrug, noch nicht existierte. Alena Sljusareva blätterte langsam im Notizbuch, las die fünf beschriebenen Seiten. Dann übersetzte sie. Alles. Alles, was einen knappen Tag früher passiert war. Detailliert. Lydia hatte genau geplant und aufgeschrieben, was sie getan hatte. Das Hinterlegen von Waffe, Sprengstoff, Schnur und einer Videokassette in einem Papierkorb auf der Behindertentoilette. Den Schlag auf den Kopf eines Wächters, den Gang zur Leichenhalle, die Geiselnahme, das Sprengen einer Leiche, den Wunsch nach einem Dolmetscher namens Bengt Nordwall. Ewert Grens hörte zu. Er hörte zu und schluckte. Da stand es doch. Alles. Wenn ich das nur gewusst hätte. Wenn jemand mir den Scheiß hätte übersetzen können. Ich hätte ihn niemals hineingehen lassen. Dann wäre er noch am Leben! Dann wärst du noch am Leben!
Wenn du nicht hineingegangen wärst, wärst du noch am Leben. Du musst es doch gewusst haben. Warum hast du nichts gesagt? Zu mir? Zu ihr? Wenn du wenigstens zugegeben hättest, dass du sie erkannt hast. Wenn du ihr wenigstens das gegeben hättest. Dann wärst du jetzt noch am Leben. Sie wollte nicht schießen. Sie wollte eine Bestätigung dafür, dass es nicht ihre Schuld war, dass es nicht ihre Entscheidung war, in einer Wohnung zu sitzen und darauf zu warten, dass sie sich für Männer ausziehen musste. Sie fragte, ob sie das Notizbuch behalten dürfe. Grens schüttelte den Kopf, streckte die Hand nach dem blauen Buch aus, steckte es wieder in seine Aktentasche. Er wartete, bis es noch zwanzig Minuten bis zur Abfahrt waren. Dann bat er sie aufzustehen, und zusammen gingen sie zum Ausgang. Alena Sljusareva hielt ihr Ticket in der Hand, zeigte es der Frau, die in der Uniform der Reederei in einem Glaskasten saß.
Sie drehte sich um, bedankte sich, Grens wünschte ihr eine angenehme Überfahrt. Er verließ sie dort in der Schlange vor der Fahrkartenkontrolle und ging ein Stück in den Terminal hinein, blieb an einer Stelle stehen, wo er noch immer die Fahrgäste, die von der Fähre kamen, und die, die auf die Erlaubnis warteten, an Bord zu gehen, im Auge hatte. Er lehnte sich gegen einen Pfeiler, versuchte, an die andere Ermittlung zu denken, an Lang, der in U-Haft, und an Lisa Öhrström, die vorhin sein Fax bekommen hatte und bald noch weitere Bilder sehen würde, aber sie glitten davon, er war im Moment zu sehr mit den Frauen aus Klaipėda beschäftigt, und er schaute zerstreut die eintreffenden Reisenden an, die das Meer noch im Leib trugen, als sie die Fähre verließen. Das gefiel ihm doch, irgendwo zu stehen und aus der Distanz Menschen zu beobachten. Sie alle hier waren auf dem Weg nach irgendwo; die mit den roten Wangen und den großen Plastiktüten mit zollfreiem Schnaps, die gezecht und getanzt und geflirtet hatten, bis sie allein in ihrer Kabine auf dem untersten Deck eingeschlafen waren, die anderen, die in ihren feinsten Staat gekleidet waren und meh-
rere Jahre für eine Woche Ferien in dem Land Schweden auf der anderen Seite der Ostsee gespart hatten, einige wenige, die zerknittert und ohne Gepäck kamen, die in aller Eile aufgebrochen waren und nur weggewollt hatten. Er musterte sie alle und vergaß die Minuten, die nur aus Warten bestanden, das war das Einzige, was er über sich brachte, bald, ganz bald würde sie unterwegs sein. Ewert Grens wollte sich gerade umdrehen, als er die vielleicht letzte Gruppe von Fahrgästen das Schiff verlassen sah. Er erkannte ihn sofort. Es war nur knapp über vierundzwanzig Stunden her, dass er ihn in Arlanda zwischen zwei hoch gewachsenen Bewachern hatte stehen sehen, während er von einem kleinen runden litauischen Botschafter zusammengestaucht wurde, um dann unsanft zum Ausgang und zu einem einstündigen Flug nach Vilnius gestoßen zu werden. Dimitri Scheißzuhälter. Er trug denselben Anzug wie gestern, als er die Flugzeugtreppe hochgeleitet worden war, dasselbe Kostüm wie an dem Morgen, als er Lydia bis zur Bewusstlosigkeit gepeitscht und dann hinter einer
eingeschlagenen Tür im sechsten Stock im Weg gestanden hatte. Dimitri Scheißzuhälter war nicht allein. Er blieb stehen, sowie er die Passkontrolle hinter sich gebracht hatte, und wartete auf zwei junge Frauen, oder Mädchen, sechzehn, siebzehn Jahre alt. Er streckte die Hand aus, und beide gaben ihm etwas, das sie festgehalten hatten, und Ewert Grens konnte es zwar nicht sehen, wusste aber, was es war. Ihre Pässe. Ihre Schulden. Eine Frau in Trainingsanzug kam auf die Gruppe zu, sie hatte die Kapuze über den Kopf gezogen und kehrte der Stelle, an der Grens stand, den Rücken zu. Er registrierte, dass sie alle drei begrüßte, wie das im Baltikum üblich ist, mit leichten Küssen auf die Wangen. Sie zeigte auf den ersten Ausgang, der gleich daneben lag, sie folgen ihr, alle ohne Gepäck. Ewert Grens wurde es schlecht. Lydia Grajauskaitė hatte sich eben erst in die Schläfe geschossen. Alena Sljusareva war geflohen und jetzt nur noch eine Bootsreise von zu Hause entfernt. Sie waren drei Jahre lang von fremden
Männern in Wohnungen mit elektronischen Schlössern benutzt worden. Sie waren bedroht und misshandelt worden, hatten sich geil stellen müssen, während sie innerlich zerrissen wurden. Es hatte einen Tag gedauert, nur einen einzigen Tag, und schon waren sie ersetzt worden. Von zwei neuen jungen Frauen, die keine Ahnung davon hatten, was sie erwartete, die bald dazu erzogen werden sollten zu lachen, wenn jemand sie anspuckte, damit die anderen, die mit Menschen handelten, weiterhin pro Geschlecht, pro Monat, einhundertfünfzigtausend Kronen verbuchen könnten. Grens blieb stehen, noch zwei Minuten, bis die Fähre ablegte. Er sah den anderen hinterher, bis sie verschwunden waren, die Frau trug noch immer ihre Kapuze, Dimitri Scheißzuhälter ging dicht neben ihr, hinter ihnen kamen die beiden Mädchen, die ihre Pässe hergegeben hatten, sie waren noch so jung, dass sie eben erst Brüste bekommen hatten. Er konnte nichts machen. Jetzt nicht. Grajauskaitė und Sljusareva hatten gewagt, Fragen zu stellen, zurückzuschlagen, und das war ungewöhnlich, oder richtiger, er hatte nie davon gehört. Diese bei-
den hier, sie waren so klein, sie würden es nicht wagen auszusagen, voller Todesangst würden sie leugnen, so, wie der Scheißzuhälter leugnen würde. Noch lag also kein Verbrechen vor. Aber er wusste, dass er oder irgendein Kollege demnächst beiden begegnen würde, er wusste nicht wo und nicht wann, aber er wusste, dass es früher oder später zum Teufel gehen würde. Sven Sundkvist hatte, sowie er die Notiz im Protokoll gesehen hatte, die restlichen Papiere beiseite geschoben und nach der erwähnten Videokassette gesucht, die in einer Plastiktüte mit einer Supermarktreklame gelegen hatte und auf der die Fingerabdrücke beider Frauen gefunden worden waren. Er hatte sie zuerst dort gesucht, wo sie eigentlich hätte sein müssen, bei der technischen Sektion des Landeskriminalamtes. Dort war sie nicht. Er hatte sich bei den Kollegen erkundigt, die nachts Dienst gehabt hatten, dann bei den Sprachwissenschaftlern, die doch die kyrillischen Buchstaben auf der Videohülle hätten untersuchen sollen. Auch dort war das Video nicht.
Nicht einmal die letzte Möglichkeit, dass es aus irgendeinem Grund bereits im Magazin lag, nicht einmal die traf zu. Wieder krampfte sein Magen sich zusammen. Das Gefühl des Unbehagens, das größer und stärker wurde, das zu Verärgerung und dann Zorn wurde, es war fremd, und er fand es widerlich. Er ging zu dem Techniker, der zuerst in der Leichenhalle gewesen war, Nils Krantz, einem älteren Mann, der immer schon da gewesen war, an jedem Tatort, seit Sven als Ermittler arbeitete und schon lange vorher. Er fand ihn in einer Wohnung in der Regeringsgata, ein Fall von Körperverletzung, er hatte es eilig, nahm sich aber die Zeit, die Sven brauchte. Krantz beschrieb, wo die Kassette gelegen und was er darauf gefunden hatte, er bestätigte im Grunde das, was Sven bereits aus dem Protokoll wusste. »Gut. Gut, Krantz. Und der Inhalt?« »Wie meinst du das?« »Ich meine, was war auf dem Video?« »Das weiß ich nicht.« »Das weißt du nicht?« »Das ist doch eure Sache.«
»Deshalb will ich das ja gerade feststellen.« Er hörte, wie Nils Krantz sich vom Telefon abwandte, wie er mit irgendwem sprach, er verstand kein Wort. Eine halbe Minute, dann war er wieder da. »Sonst noch was?« »Ja. Weißt du, wo es sich jetzt befindet? Das Video?« Krantz lachte resigniert. »Redet ihr da drüben eigentlich je miteinander?« »Wie meinst du das?« »Sprich mit Grens.« »Ewert?« »Er wollte es haben. Ich habe es ihm gegeben, sowie wir damit fertig waren, in der Leichenhalle.« Sven Sundkvist atmete schwer. Der Schmerz im Magen, die Verärgerung, der Zorn. Er verließ seinen Schreibtisch, ging an vier Türen vorbei, klopfte an Ewert Grens’ Zimmertür. Er wusste, dass Ewert gerade Alena Sljusareva vernahm. Er drückte auf die Klinke. Die Tür war nicht abgeschlossen. Er ging hinein, schaute sich hastig um. Es war ein seltsames Gefühl, er wollte einen beschlagnahmten Gegenstand holen, war in diesem Moment aber
ein Eindringling, ungebeten und ohne dort etwas zu suchen zu haben, er war wohl noch nie allein in Ewerts Zimmer gewesen, vielleicht war das niemand je gewesen. Er sah es nach einigen Sekunden. Im Regal hinter Ewerts Schreibtischsessel, neben dem alten Tonbandgerät, das Siw Malmkvist ins Zimmer strömen ließ. Da war der Klebezettel auf der Rückseite, mit den kyrillischen Buchstaben, die er nicht lesen konnte. Er zog Plastikhandschuhe über, hob das Video hoch, wiegte es in der Hand, fingerte unschlüssig daran herum. Sie hatte ihren Einsatz gut geplant. Sie hatte niemals gezweifelt, hatte mit jedem Schritt, den sie in ihren eigenen Tod machte, eine Absicht verbunden. Sven Sundkvist drehte das Band um, betastete dessen glatte Oberfläche. Das hier war kein Zufall. Auch hiermit hatte sie einen Zweck verbunden. Sie hatte ihnen etwas zeigen wollen. Er schloss sorgfältig die Tür hinter sich, ging hinaus auf den Gang und weiter zum Besprechungsraum. Dort stand ein Videogerät, ganz hinten beim Tischende. Er schob die Kassette hinein.
Er saß auf demselben Stuhl wie Ewert Grens in der Nacht zuvor. Aber was er sah, war etwas anderes. Jonas, sein Sohn, nannte es Ameisenkrieg. Ein Band mit lautem Rauschen und keinem Bild, abgesehen von grauem Flimmern. Ein Video, das es nicht geben sollte, das im Protokoll fehlte, das nirgendwo registriert war. Ein Band ganz ohne Bild. Das Gefühl in seinem Magen, das Unbehagen gewesen war, war jetzt nur noch Zorn, plötzliche Wut, von der ihm schlecht wurde. Ewert, was zum Teufel treibst du hier eigentlich? Alena Sljusareva war an Bord gegangen, und das Schiff hatte den Freihafen verlassen. Es war jetzt auf dem Weg durch Stockholms Schärengürtel, in Richtung auf das offene Meer, sie würde über die Ostsee nach Litauen und Klaipėda fahren, einige Stunden später würde sie an Land gehen und nie mehr zurückkehren. Ewert Grens wartete auf ein Taxi, das niemals kam, rief wieder an und verlangte eine Erklärung. Die Frau von der Taxizentrale bat um Entschuldigung und sagte, es gebe keine solche Bestellung, keinen
Grens, der zur Wache in die Bergsgata wolle, aber sie könnte gerne einen Wagen schicken, wenn er wollte. Grens fluchte abermals und schrie etwas über Organisation und Clowns und regte sich immer weiter auf, weil er fand, dass das die Sache wert war, er bat um den Namen der Frau und wurde laut, obwohl nun ein Auto kam und er sich auf den Rücksitz setzte. Er schaute über das Wasser, konnte die Häuser auf der anderen Seite der Bucht ahnen. Es strömte aus ihrem Kopf. Ich lehnte mich an den Bus und hielt sie in den Armen und es hörte nie auf, aus Ohren, Nase, Mund zu strömen. Sie fehlte ihm. Er sehnte sich nach ihr, mehr als seit mehreren Jahren. Er konnte nicht bis zum nächsten Montag warten. Er wollte über die Lidingöbrücke fahren, vorbei an Millesgården, auf den leeren Parkplatz, wollte in das Pflegeheim laufen und sie bei sich haben, einfach dort sein, mit ihr zusammen. Aber es gab sie nicht. Die Frau, die ihm fehlte und nach der er sich sehnte, gab es seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr.
Du hast sie mir weggenommen, Lang. Das Taxi blieb zweimal im nachmittäglichen Stoßverkehr stecken, sie brauchten eine halbe Stunde bis Kronoberg, und er hatte Zeit genug, sich zu beruhigen, ehe er bezahlte und den Wagen verließ. Es war wärmer geworden, der ununterbrochene Regen des Vortags hatte das abgekühlt, was fast schon zum Sommer geworden war, jetzt machte es noch einen Versuch, er spürte die Sonne und den Wind, der nicht mehr so stark war, das Wetter, er verstand es nicht. Grens ging ins Haus, in sein Zimmer. Er schaltete den Kassettenrekorder ein, Siw Malmkvist, sie sangen zusammen. Hello, Mary Lou, 1968. Er öffnete den Ordner auf seinem Schreibtisch, die Ermittlungen über Jochum Lang. Er wusste, dass die Bilder dort lagen. Er musterte sie, eins nach dem anderen, einen toten Menschen auf einem Fußboden. Keine guten Aufnahmen, grobkörnig, schlecht belichtet, fast verschwommen. Krantz und seine Kriminaltechniker waren zwar gut in ihrem Fach, aber fotografieren konnten sie nicht. Er seufzte, suchte sich drei Fotos von brauchbarer Qualität aus, steckte sie in einen Umschlag.
Zwei Telefongespräche, dann wäre er bereit. Er rief zuerst Lisa Öhrström an, sie meldete sich gestresst in irgendeinem Krankenhausvorraum. Er teilte kurz mit, dass er und Sven Sundkvist sie bald auf der Station aufsuchen würden, um ihr weitere Bilder zu zeigen. Sie protestierte, sagte, sie habe auch so schon genug zu tun und kein Interesse an weiteren misshandelten Menschen in Schwarzweiß. Ewert Grens sagte, er freue sich auf das Wiedersehen, und legte auf. Das zweite Gespräch ging an die Staatsanwaltschaft und Ågestam Grens erklärte kurz, dass eine Ärztin namens Lisa Öhrström jetzt bereit sei, gegen Jochum Lang auszusagen, dass sie ihn einwandfrei als den Mörder ihres Patienten identifiziert habe. Ågestam war unvorbereitet und wollte mehr wissen, aber Grens fiel ihm ins Wort, er werde schon mehr erfahren, über den Fall Grajauskaitė und ihre Geiselnahme und über Lang und dessen Mord auf einer Treppe im selben Krankenhaus, bei nächster Gelegenheit, morgen. Sie sang noch immer, seine Siw. Er half ihr wieder, tänzelte durch das Zimmer. Mama ist wie ihre Mama, 1968, Original: Sadie the cleaning lady.
Nicht vielen Menschen fiel der Wagen auf, der vor dem Eingang zur Völundsgata 3 hielt. Er war nicht gerade groß, nicht gerade neu, nicht gerade schnell. Ein Mann, der vorne saß, öffnete die eine Vordertür, zwei Mädchen hinten, sechzehn, siebzehn Jahre alt. Sie waren hübsch, schauten sich neugierig um. Vielleicht ein Vater mit seinen beiden Töchtern. Dann öffnete er die Hintertür, die Mädchen stiegen aus, schauten zu den Reihen aus identischen Fenstern hoch. Sie schienen nicht dort zu wohnen, schienen das Haus zum ersten Mal zu sehen. Vielleicht suchten sie nach einem bekannten Gesicht, wollten jemanden besuchen. Der Mann, der den Wagen gefahren hatte, und die Mädchen gingen zusammen die Treppe hoch. Als er die Klinke der Haustür anfasste und die Tür aufzog, sagte er etwas, worauf eins der Mädchen aufschrie und dann laut weinte, schluchzte. Das andere Mädchen legte den Arm um sie, sie wirkte stärker, streichelte ihr die nasse Wange und versuchte, sie zum Weitergehen zu bewegen. Er redete weiter, als sie das Treppenhaus betreten
hatten, das Mädchen weinte noch immer, und es war unmöglich für die, denen diese kleine Gruppe trotz allem aufgefallen war, zu verstehen, was er sagte, es waren fremde Wörter in einer fremden Sprache, wenn er also sagte, dass sie von nun an Schulden hätten und dass er deshalb das Geschlecht des einen Mädchens öffnen und einweihen werde, bis es blutete, hätte es doch niemand verstanden. Sven Sundkvist verließ den Besprechungsraum mit dem leeren Video in der Hand. Er blieb beim Kaffeeautomaten stehen, Kaffee mit viel Milch, er brauchte Kraft, war aber vorsichtig, sein Magen krampfte sich vor Wut zusammen. Auf dem Video hatte es keine Bilder gegeben. Er war sicher, dass Lydia das nicht so gewollt hatte. Sie hatte alles genau geplant, sie hatte ihre letzten Stunden gelenkt. Er wusste, dass das Band einen Zweck gehabt hatte. Er ging wieder auf sein Zimmer. Er rief noch einmal Nils Krantz an. Krantz meldete sich sofort, er war beschäftigt und gereizt, und er stand noch immer in der Wohnung in der Regeringsgata.
»Das Scheißband. Schon wieder?« »Ich will wissen, ob es neu war.« »Neu?« »Ob es benutzt war.« »Sicher.« »Woher wissen wir das?« »Ich weiß es, weil darin Staub war, als ich es geöffnet habe. Ich weiß es, weil die Löschsperre auf der Rückseite abgebrochen war. Und wer so etwas macht, will verhindern, dass das Aufgenommene überspielt werden kann.« Sundkvist hielt das Band in der Hand. Er verschob die Schreibtischlampe, bis das Licht auf das Video fiel. Es war so neu, dass es glitzerte. Die Löschsperre war noch intakt, ungebrochen. Er hob wieder den Hörer hoch. »Ich komme zu dir.« »Später. Ich hab keine Zeit.« »Du musst dir das Video noch einmal ansehen. Es ist wichtig. Hier stimmt etwas nicht.« Lars Ågestam wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er hatte eben mit Ewert Grens telefoniert, und der hatte verkündet, dass er gleich Bericht erstatten würde, und zwar über die Todesfälle
von Lydia Grajauskaitė von Bengt Nordwall und Hilding Oldéus, dazu über Alena Sljusareva und Jochum Lang, über zwei Katastrophen, die nur dadurch zusammenhingen, dass sie gleichzeitig und am selben Ort geschehen waren. Seit er zuletzt mit Ewert Grens zu tun gehabt hatte, war fast ein Jahr vergangen, seit dem seltsamen Prozess gegen einen Vater, der den Mörder seiner Tochter erschossen hatte. Er war damals der jüngste Staatsanwalt überhaupt gewesen, hatte sich nach einem großen Fall gesehnt, und dann war dieser ihm in den Schoß gefallen. Er war zum Leiter der Voruntersuchung ernannt worden und damit zum offiziellen Vorgesetzten von Ewert Grens, von dem er vorher nur gehört hatte, den er aus der Ferne bewundert hatte und mit dem und gegen den er nun plötzlich arbeiten musste. Ihre Zusammenarbeit war dermaßen zum Teufel gegangen, wie das bei einer Zusammenarbeit überhaupt nur möglich ist. Grens schien schon von Anfang an entschlossen gewesen zu sein, nicht gemeinsam denken zu wollen, er hatte nicht einmal zum Besten der Ermittlungen freundlich sein mögen.
Deshalb beschloss Lars Ågestam zu lachen, das war einfacher so, jetzt, wo er wieder mit Grens zusammenarbeiten musste, ein Jahr darauf, bei beiden Ermittlungen, mit denen er zu tun hatte und bei denen es um einige Stunden im Söderkrankenhaus ging, und das Argument, der Grund, weshalb er jetzt lachte, statt zu weinen, war gewesen, dass sie bei Grens’ letzter großer Ermittlung auch zusammengearbeitet hatten, man hatte Ergebnisse gesehen und die Zusammenarbeit als Grund genommen, sie wieder zusammenzubringen. Zusammenarbeit, my ass. Ågestams schmaler Körper zitterte, als er lachte, er zog das Sakko aus, legte die blanken schwarzen Schuhe auf den Schreibtisch, fuhr sich durch die kurzgeschnittenen schwarzen Haare, er lachte, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen, Zusammenarbeit, my ass. Sven Sundkvist stand in der Regeringsgata und starrte hinauf in den Himmel, der eigentlich sommerblau sein müsste, der aber nur zurückstarrte, grau und hässlich und müde, der Regen, bald würde er wieder losbrechen. Sven stand schon eine
ganze Weile da. Er müsste jetzt zum Polizeigebäude zurückkehren, wusste aber nicht, ob er das über sich bringen würde. Wenn er dorthin zurückginge, würde er auch mit dem weitermachen müssen, was er soeben in Gang gesetzt hatte, was ihn wütend machte, was ihn innerlich platzen ließ. Nils Krantz hatte sich gestresst und gereizt mitten in einer Tatortuntersuchung in einer teuren Wohnung das Video angesehen. Zwei Sekunden, nicht mehr, dann hatte er es zurückgegeben und erklärt, es sei nicht das, was er bereits analysiert hatte. Sven hatte das ja schon gewusst, hatte aber trotzdem gehofft, sich zu irren, wie man manchmal hofft, wenn das, was vorliegt, nicht vorliegen dürfte. Jetzt wusste er es. Genauer gesagt, er hatte keinen blassen Schimmer. Der Ewert Grens, den er kannte und bewunderte, tauschte bei Ermittlungen keine Videos aus. Der Ewert Grens, den er kannte, war ein Mistkerl, aber ein gerader und ehrlicher Mistkerl. Das hier, das hier war etwas anderes. Der Himmel starrte weiterhin stur vor sich hin, als das Telefon klingelte. Ewert. Sven holte tief Luft. Er wusste nicht, ob er so weit war. Er war es nicht.
Noch nicht. Also hörte er zu. Sie würden wieder ins Söderkrankenhaus fahren. Sie würden noch einmal Lisa Öhrström aufsuchen, Ewert wollte ihr noch zwei Bilder zeigen. Nur ein paar Minuten, er sollte hier warten, Ewert würde ihn abholen. Es fiel ihm schwer, Ewert anzusehen. Sven Sundkvist wich dem Blick seines Chefs aus, er würde ihn später ansehen, das wusste er, wenn es so weit wäre, aber jetzt noch nicht. Jetzt saß er neben ihm im Auto, dankbar dafür, dass er nur durch die Windschutzscheibe ein nichtssagendes Auto einige Meter vor ihnen anzublicken brauchte, das langsam im zähen Stoßverkehr entlang Skeppsbron und dann weiter hoch in Richtung Slussen und Södermalm fuhr. Sven dachte an die Frau, die sie gleich treffen würden. Er war noch immer außer sich über die Gegenüberstellung, die mit einem Fiasko geendet hatte, über Lisa Öhrströms beharrliches Leugnen dessen, was sie vorher noch bestätigt hatte. Sie war bedroht worden, das schon, und er konnte ihre Angst verstehen. Aber das war nicht alles gewesen. Sie hatte sich nicht nur gefürchtet. Sie litt auch unter diesen Schuldgefühlen, den
Schuldgefühlen, die er zuvor Ewert zu beschreiben versucht hatte. Bei ihrer Vernehmung war klar gewesen, wie sehr sie um Hilding Oldéus trauerte, dass sie aber auch wütend war und den kleinen Bruder hasste, der sich zumindest auf indirekte Weise zu Tode gefixt hatte. Sie hatte es ja nicht verhindern können. Und deshalb fühlte sie sich schuldig, und deshalb hatte sie, neben der Bedrohung, der sie ausgesetzt worden war, noch ein weiteres Motiv dafür gehabt, bei der Gegenüberstellung Lang hinter dem Fenster nicht zu erkennen. Sven war sicher, dass sie zu denen gehörte, die sich immer unzulänglich vorkommen, zu denen, die immer helfen, die aber nie das Gefühl haben, genug getan zu haben. Und Hilding war vermutlich der Grund, weshalb sie überhaupt Medizin studiert hatte, als Angehörige glaubte sie, retten, helfen, retten, helfen zu müssen. Jetzt war er tot, trotz all ihrer Hilfe. Jetzt war ihre Schuld sozusagen ewig. Jetzt würde sie sich nie davon befreien können. Sie saß bereits im Glaskasten der Stationsschwester, als sie die Station betraten. Ihr Gesicht, sie war
blass, ihre Augen müde. Trauer und Angst und Hass zehren allesamt an den Kräften, gemeinsam zehren sie am Leben. Sie grüßte nicht einmal, als sie die Tür öffneten und hereinkamen, sie sah sie nur an, mit einem Ausdruck, der ihnen wie Abscheu vorkam. Ewert ließ sich von ihrer Haltung nicht beeindrucken, vielleicht registrierte er sie auch gar nicht, er erinnerte sie nur kurz an ihr voriges Gespräch, an die Bilder der drei gebrochenen Finger, die zusammen siebentausend Kronen gekostet hatten. Sie wandte sich ab, ob das nun demonstrativ sein sollte oder ob sie einfach nicht mehr die Kraft zum Hinschauen hatte, und Ewert bat sie mit scharfer Stimme, sich umzudrehen, sie sollte sich noch einige andere Bilder ansehen. Sie zögerte, bis sie dann den Blick von der Wand löste, bis sie sich ein schwarzweißes Foto ansah, das vor ihr auf dem runden Tisch lag. »Was siehst du?« »Ich weiß noch immer nicht, worauf du mit diesem Spiel hinauswillst.« »Ich bin nur neugierig. Was siehst du?«
Lisa Öhrström schaute zuerst Grens an, dann schüttelte sie kurz den Kopf. Sie hob das Foto hoch, berührte es, es war auf rauem unüblichen Fotopapier abgezogen worden. »Eine Fraktur. Ein linker Arm.« »Dreißigtausend Kronen.« »Bitte?« »Die Bilder, die ich dir gefaxt habe. An die erinnerst du dich doch? Drei gebrochene Finger. Ein Daumen für fünftausend und die beiden anderen jeweils für einen Tausender. Ich habe gesagt, dass es Lang war. Dass es sich dabei um seinen Tarif und seine Signatur handelt. Dass der arme Teufel mit den gebrochenen Fingern siebentausend Kronen schuldig war. Das war gelogen. Es waren siebenunddreißigtausend. Ein Arm ist dreißig wert.« Sven Sundkvist saß schräg hinter Grens. Er schämte sich. Du trampelst auf ihr herum, Ewert, dachte er. Ich weiß, was du willst, und ich weiß, dass wir ihre Aussage brauchen, aber jetzt gehst du zu weit. »Ich habe noch eins. Was sagst du dazu?« Noch ein Schwarzweißfoto. Ein nackter Mensch auf einer Bahre. Der ganze Körper, das Bild von der Seite aufgenommen, schräg von oben, wieder diese
miese Belichtung, aber es war kein Problem zu erkennen, was hier dargestellt war. »Du sagst nichts. Dann will ich dir helfen. Das hier ist eine Leiche. Der Arm, den du eben gesehen hast, hängt an dieser Leiche. Siehst du? Und die Finger hängen auch da, ganz unten am Arm der Leiche. Du verstehst schon, ich habe wieder gelogen. Der, der dort liegt, war durchaus nicht siebenunddreißigtausend Kronen schuldig. Sondern einhundertsiebenunddreißigtausend. Langs Tarif für den Tod ist genau einhunderttausend Kronen. Dieser Mann hier ist nun also schuldenfrei. Er hat alles bezahlt. Einhundertsiebenunddreißigtausend Kronen.« Lisa Öhrström biss die Zähne zusammen. Sie sagte nichts, sie bewegte sich nicht. Sie presste die Lippen aufeinander, um nicht loszuschreien. Sven sah sie an, dann sah er Ewert an. Es wird dir gelingen. Du bist jetzt kurz davor. Aber du bist zu weit gegangen. Du verletzt sie, Ewert, und gleich wirst du sie noch mehr verletzen. Aber ich kann das hinnehmen. Ich kann mich deshalb schämen, kann mich für dich schämen, kann mich vor dir schämen, aber was ich sehe, ist zugleich der beste Polizist, der mir jemals über den Weg gelaufen ist. Du
brauchst ihre Aussage, du wirst sie bekommen. Aber das andere! Die andere Ermittlung! Ich sollte mich wohl an dieser Erpressungsaktion beteiligen, mich darüber freuen, dass du sie bald da haben wirst, wo du sie haben willst, aber Ewert, Ewert! Die Ermittlungen im Fall Grajauskaitė, was treibst du da bloß? Ich war vorhin bei Krantz. Deshalb kann ich mich nicht auf das hier konzentrieren. Deshalb möchte ich mich zwischen uns auf den Tisch legen und schreien, bis du mir zuhörst. Krantz hat doch gesagt, was ich ohnehin schon wusste. Dass es ein anderes Video ist. Ein anderes Video, Ewert! Ewert Grens reckte sich. Er wartete auf Öhrströms Zusammenbruch. Er konnte noch ein wenig warten. »Übrigens habe ich hier noch eine kleine Bildkombination.« Lisa Öhrström flüsterte. Ihre Stimme würde nicht mehr lange tragen. »Ich habe schon verstanden.« »Gut. Gut. Denn diese neuen Bilder wirst du noch interessanter finden.«
»Ich will sie nicht sehen. Und ich verstehe nicht richtig. Wenn es nun so ist, wie du behauptest, wenn das hier Langs Werk ist, wenn das hier, wie hast du das noch genannt, sein ›Tarif‹ ist, warum sitzt er nicht im Gefängnis?« »Warum? Gerade du müsstest das wissen. Du bist doch bedroht worden. Oder was? Und dann weißt du ja, wie er arbeitet.« Er hatte in der Küche gestanden. Er hatte die Fotos von Sanna und Jonathan in der Hand gehabt. Sie spürte es wieder, wie ihre Brust wehtat, wie ihr Körper nicht aufhören konnte zu zittern. Grens legte einen Umschlag auf den Tisch. Er machte ihn auf, legte das oberste Bild vor sie hin. Noch eine Hand. Fünf neue Brüche. Es war keine Ausbildung zur Ärztin notwendig, um feststellen zu können, dass jeder Finger gebrochen war. Sie schwieg. Er ließ sie schweigen, zog das nächste Bild hervor, legte es neben das andere. Eine zerbrochene Kniescheibe, ebenso deutlich zu sehen. »Das hier ist wie ein Puzzle, nicht wahr? Da die Hand und hier das Knie, sie gehören zusammen, das kann man ja sehen. Aber hierbei ging es nicht um Geld. Hierbei ging es um Respekt.«
Ewert Grens hielt ihr die beiden Bilder hin, dicht vors Gesicht. »Es ging darum, dass man niemals jugoslawisches Amphetamin mit Waschpulver strecken sollte.« Die beiden Bilder hingen noch immer in der Luft, vor ihrem Gesicht, und er zog das letzte aus dem Umschlag und hielt es noch dichter vor sie hin. Es war aus Kopfhöhe aufgenommen, jemand, der zwei Treppenstufen hoch stand und durch die Linse einen soeben Verstorbenen betrachtete, neben dem Toten stand ein Rollstuhl, in der Blutlache, die sich um seinen Kopf gebildet hatte. Sie sah das Bild an, wandte sich dann eilig ab, sie weinte. »Und das hatte dieser Bursche gemacht. Er hieß übrigens Hilding Oldéus.« Sven Sundkvist hatte sich schon auf der Rückfahrt aus dem Söderkrankenhaus entschieden. Er würde warten, würde schweigen, bis sie das Polizeigebäude erreicht hätten, er würde in sein Zimmer gehen und die Tür hinter sich zuziehen und das Zimmer erst dann verlassen, wenn er es gefunden hätte. Er musterte den Stapel aus Reinschriften von Ver-
nehmungen, hob die Ausdrucke vom Boden hoch. Er wusste ja, dass er es irgendwo gesehen hatte. Er las alles noch einmal. Langsam, es war dort vorhanden, er konnte es sich nicht leisten, es zu übersehen. Es dauerte kaum länger als fünfzehn Minuten. Er hatte mit der Aussage der Medizinstudentin angefangen. Es war eine ziemlich kurze Vernehmung gewesen, sie stand noch immer unter Schock, es würde dauern, bis sie alles erfasst hätte. Er blätterte weiter zur Vernehmung von Oberarzt Gustaf Ejder. Die war um einiges länger, sie war eher wie ein Gespräch gehalten, Ejder bekam seine Angst in den Griff, indem er versuchte, logisch zu sein. So lange er intellektuell und vernunftbetont sein konnte, brauchte er nicht zu empfinden. Sundkvist hatte das schon einige Male gehört und gesehen, verdrängen, sich die Panik vom Leib halten. Alle haben ihre Methoden. Ejder war deshalb auch ein außerordentlicher Zeuge, einer, der Bilder und Worte detailliert weitergab, damit die Zuhörenden dabei wären, bei ihm, gefesselt und hilflos auf dem Boden der Leichenhalle.
Er fand es ungefähr mitten im Vernehmungsprotokoll. Die Fragen bezogen sich auf ihre Plastiktüte, in der sie ihre Waffe aufbewahrt hatte, und Ejder beschrieb plötzlich ein Video. Sven Sundkvist ließ seinen Finger langsam weiterwandern, hielt ihn unter die nächste Zeile, las jedes Wort. Ejder hatte die schwarze Kassette gesehen, als Lydia Grajauskaitė die Ränder der Plastiktüte nach unten gedrückt hatte, um den Sprengstoff herauszuholen. Das war noch in der Einleitungsphase der Geiselnahme gewesen, und er hatte Kontakt zu ihr gesucht, um ihr Vertrauen zu gewinnen, um den anderen eine Art Ruhe einzuflößen. Sie hatte sich geweigert, ihm zu antworten, aber er hatte weiterhin seine Fragen gestellt, und endlich hatte sie in ihrem begrenzten Englisch losgestottert. Sie hatte gesagt, die Kassette sei truth. Er hatte gefragt, welche Wahrheit sie meine, und sie hatte das Wort dreimal wiederholt. Truth. Truth. Truth. Danach hatte sie eine Weile geschwiegen und sich mit dem Sprengstoff beschäftigt, um sich dann endlich wieder ihm zuzuwenden und hinzuzufügen:
Two cassettes. In box station train. Twentyone. Dann hatte sie mit den Fingern gezeigt, zuerst zweimal mit beiden Händen, dann mit einem einsamen Daumen. Twentyone. Gustaf Ejder erklärte bei der Vernehmung, sich an jedes Wort erinnern zu können. Er war sicher, dass er alles wortgetreu wiedergab. Sie hatte so wenig gesprochen, es hatte ihr solche Mühe gemacht, es war nicht schwer, sich daran zu erinnern. Die Wahrheit. Zwei Kassetten. In Box Station Zug. Einundzwanzig. Sven Sundkvist blätterte zurück, las die Passage noch einmal. Er war überzeugt. Es gab so eine Kassette. Schließfach Nr. 21 im Hauptbahnhof. Mit einer Rückseite, der die Löschsperre fehlte, mit einem Inhalt, der nicht aus grauem Geflimmer bestand. Er schob die Ausdrucke beiseite, stand auf, würde bald dort sein. Sie hatte die Bilder an ihr Gesicht gedrückt. Lisa Öhrström konnte nicht hassen, sie hatte das
noch nie getan, sie hatte auch nicht geliebt, sie hatte diese beiden Gefühle als zwei Kehrseiten derselben Medaille von sich geschoben, und wenn sie das eine nicht empfinden konnte, dann konnte sie das andere auch nicht verspüren, aber diesen Polizisten, den hasste sie wirklich. Ob es an dem seltsamen Tag lag, der hinter ihr lag. Oder an der Trauer um Hilding, die eigentlich keine Trauer war, um die Angst vor einer ausgesprochenen Drohung gegen die Kinder ihrer Schwester. Als müsste sie alle ihre Gefühle in einem Alter von fünfunddreißig für einige Stunden hervorholen, verdräng den Dreck, schieb ihn weg, versteck dich hinter der Schande und verkneif dir das Selberfühlen. Sie wusste doch nicht, wie sich das anfühlte! Sie hatte ja solche Gefühle noch nie verspürt, so starke, so nackte, vor denen sie sich so unmöglich verstecken konnte. Und dann sitzt ein hinkender Polizist vor ihr und reibt sie ihr ins Gesicht. Sie hatte sofort gesehen, dass das Foto Hilding zeigte, und dass er vor der Treppe lag, und sie war aufgesprungen, hatte die Bilder an sich gerissen und
sie zerfetzt, hatte die Fetzen gegen die Glaswand des Glaskastens der Stationsschwester geworfen. Sie wusste, wohin sie unterwegs war. Sie rannte durch die Gänge, zum Ausgang des Söderkrankenhauses. Sie hatte noch mehrere Stunden zu arbeiten, und zum ersten Mal in ihrem Leben war ihr das egal. Sie rannte auf die Asphaltfläche vor dem Eingang hinaus, in Richtung Tantolunden, sie überquerte die Eisenbahnlinie und fürchtete sich nicht einmal vor den frei laufenden Hunden, die auf gehetzte Menschen panisch reagierten, sie rannte weiter an den Mietshäusern beim Zinkensdamm vorbei, über die Hornsgata, und blieb erst im Schatten der hohen Högalidskirche stehen. Sie war nicht einmal erschöpft, sie spürte nicht, wie der Schweiß ihr von der Stirn über die Wangen lief. Sie stand nur für eine Weile da, bis sie so weit war, dann ging sie über den Rasen und den Hang hinauf auf das Haus zu, das sie so oft besuchte wie ihr eigenes. Die Tür zur Wohnung im sechsten Stock in der Völundsgata war ausgewechselt waren. Das große Loch, das sich dort noch kurz zuvor befunden hat-
te, war nicht mehr da, wer nichts wusste, konnte auch nicht sehen, dass die Polizei die Tür aufgebrochen und schwere Körperverletzungen unterbrochen hatte, eine Peitsche, die fünfunddreißig Mal den nackten Rücken einer Frau getroffen hatte. Die beiden Mädchen, die sechzehn, siebzehn Jahre waren, standen hinter dem Mann, der aussah wie ihr Vater, und warteten, während er aufschloss. Als sie die Diele betraten, sahen sie die elektronischen Schlösser, ohne zu begreifen, was das war. Der Mann schloss die Tür und zeigte ihnen dann ihre Pässe. Er erklärte ihnen abermals, dass ein Pass Geld kostet, dass sie jetzt Schulden hätten, dass sie deshalb arbeiten müssten und dass die ersten Kunden in ungefähr zwei Stunden eintreffen würden. Die, die unten vor dem Haus geweint hatte, weinte noch immer, sie versuchte zu protestieren, bis der Mann, der noch vor wenigen Tagen von zwei anderen jungen Frauen Dimitri Scheißzuhälter genannt worden war, ihr eine Pistole an die Schläfe hielt und sie für einen Moment damit rechnete, dass er gleich abdrücken würde. Er befahl den beiden, sich auszuziehen. Für einen
Probefick. Das sei wichtig, von jetzt an müssten sie wissen, was ein Mann haben wollte. Lisa Öhrström war es heiß, sie war vom Krankenhaus weggerannt und erst stehen geblieben, als sie Ylvas Haus in der Högalidsgata gesehen hatte. Sie hatte sich bisher geirrt. Sie konnte ja doch lieben. Keinen Mann, aber sie liebte die Kinder ihrer Schwester mehr als sich selbst. Sie hatte gezögert, zu ihnen zu gehen, sie, die sie sonst jeden Tag aufsuchte, hatte nicht die Kraft gehabt, ihre Tür zu öffnen, ihnen zu sagen, dass ihr Onkel tot war, dass er einen Tag zuvor auf einer Treppe ums Leben gekommen war. Sie hatten ihren Onkel heiß geliebt. Für sie war er kein Junkie gewesen, sie hatten immer einen anderen Hilding erlebt, frisch entlassen mit rundem Gesicht, mit einer Ruhe, die immer schon nach einigen Tagen verschwand, wenn das, was sich um ihn herum zutrug, gefährlich wurde, wenn er das, was er nicht ertragen musste, zu verdrängen versuchte. Sie hatten die verdammten Drogen nie gesehen, hatten nie die Veränderung gesehen, er war einige Tage hintereinander für sie da gewesen,
dann war er verschwunden, wenn er sich in einen anderen verwandelt hatte. Jetzt würde sie erzählen. Aber sie würden nichts von dem Schwarzweißfoto erfahren, das ihr vors Gesicht gehalten worden war. Sie hielt Ylvas Hand. Sie hatten einander in der Diele schweigend umarmt, jetzt saßen sie in dem kleinen Wohnzimmer auf dem Sofa. Sie hatten dasselbe Gefühl, das nicht Trauer war, sondern fast Erleichterung, sie wussten ja, wo er jetzt war, wo er nicht war. Sie waren nicht sicher, ob dieses Gefühl erlaubt war, aber sie wussten jetzt, dass es leichter war, das zu empfinden, was man nicht empfinden durfte, wenn man zu zweit war. Jonathan und Sanna saßen vor ihnen, in zwei Sesseln. Sie hatten schon begriffen, dass das hier kein normaler Tag war. Sie hatte noch nicht einmal mit ihrem Bericht begonnen, aber sie hatten schon, als Lisa die Wohnungstür geöffnet hatte, sich darauf vorbereitet, ihn entgegenzunehmen, die Art, wie sie auf die Klinke gedrückt hatte, die Art, wie sie hallo gesagt hatte, die Art, wie sie durch die Diele gegangen war, es war zu sehen gewesen und es war zu spüren gewesen, dass das, was normal war, zu
einem anderen Tag gehörte. Sie wusste nicht, wie anfangen. Aber das war nicht nötig. »Was ist los?« Sanna war zwölf Jahre alt, im Land zwischen Mädchen und größerem Mädchen, sie schaute die beiden erwachsenen Frauen an, denen sie vertraute, und sie wiederholte ihre Frage. »Was ist los? Ich merk doch, dass etwas los ist.« Lisa beugte sich vor, legte ihr eine Hand auf das Knie, die andere Hand auf Jonathans Knie, er war noch so klein, sie konnte mit den Fingern sein ganzes Bein umschließen. »Du hast Recht. Es ist etwas passiert. Es geht um Onkel Hilding.« »Er ist tot.« Sanna hatte nicht gezweifelt. Als habe sie nur darauf gewartet, das sagen zu können. Lisa drückte mit der Hand fester zu, nickte. »Er ist gestern gestorben. Im Krankenhaus. Auf meiner Station.« Jonathan, sechs Jahre in diesem kleinen Körper, er sah Mama an, die weinte, und Lisa, die weinte, und er begriff nicht richtig, noch nicht.
»Onkel Hilding war nicht alt. Oder doch? War er schon so alt, dass er sterben musste?« »Du bist doch blöd. Das musst du ja wohl kapieren. Der hat sich totgefixt.« Sanna sah ihren kleinen Bruder an, schleuderte ihm die Gedanken hin, mit denen sie selbst nichts mehr zu tun haben wollte. Lisa hob die Hand, streichelte die Wange ihrer Nichte. »Sag so was nicht.« »Aber es ist doch wahr.« »So war das nicht. Es war ein Unfall. Er ist auf einer Treppe gestorben. Er saß in einem Rollstuhl, der ins Schleudern gekommen ist. Sag jetzt nichts mehr.« »Mir doch egal, was du sagst. Ich weiß, dass er gefixt hat. Ich weiß, dass er deshalb jetzt tot ist. Ich weiß es, egal, was ihr behauptet.« Jonathan hörte zu, er hörte, kam aber nicht mit. Er sprang aus dem Sessel auf, er weinte, sein Onkel war nicht tot, so war das nicht, er beugte sich vor, schrie. »Du bist schuld!«
Er stürzte aus dem Zimmer, durch die Wohnungstür und barfuß über die viereckigen Betonplatten des Innenhofs, und er schrie die ganze Zeit. »Du bist schuld! Du bist nur blöd! Wenn du das sagst, dann bist du schuld!« Der Nachmittag ging langsam in den Abend über, und Lars Ågestam schaute überrascht auf, als Ewert Grens seine Bürotür öffnete, ohne anzuklopfen, er stellte fest, dass Grens aussah wie immer, sein umfangreicher Körper, die schütteren grauen Haare, das steife Bein, auf dem er hinkte. »Du wolltest doch erst morgen kommen.« »Ich komme jetzt. Ich hab ein paar Tatsachen.« »Ach?« »Über die Morde. Über die Ermittlungen im Söderkrankenhaus. Über alle beide.« Er wartete nicht darauf, dass Ågestam ihm einen Sessel anbot. Er nahm sich einen mit Unterlagen voll beladenen Stuhl, der neben der Tür stand. Er legte die Unterlagen achtlos auf den Boden, zog den Stuhl zu sich und setzte sich vor einen der vielen jungen Staatsanwälte, die er schon vor langer Zeit kollektiv zu jungen Schnöseln erklärt hatte.
»Zuerst Alena Sljusareva. Die andere Baltin. Sie sitzt jetzt auf einer Fähre. Auf dem Heimweg über die Ostsee. Ich habe mit ihr gesprochen. Sie weiß nichts. Sie hatte keine Ahnung, wer Bengt Nordwall war. Sie wusste auch nicht, woher Grajauskaitė Waffen und Sprengstoff hatte. Sie wusste auch nichts von irgendwelchen Geiselnahmeplänen. Also habe ich ihr geholfen, nach Hause zu fahren. Nach Klaipėda, nach Litauen. Das braucht sie. Und wir brauchen sie nicht.« »Du hast sie nach Hause geschickt?« »Hast du etwas dagegen?« »Du hättest mich zuerst informieren müssen. Dann hätten wir darüber gesprochen. Und wenn wir zu dem Schluss gekommen wären, dass das eine machbare Lösung sein könnte, hätte ich beschlossen, sie nach Hause zu schicken.« Ewert Grens musterte den jungen Schnösel voller Widerwillen. Er merkte, wie sehr sich alles in ihm zu einem Schrei aufbaute. Aber er widerstand. Er hatte gerade eine Lüge erzählt und sie auf den Tisch eines Staatsanwalts gelegt. Dieses eine Mal beschloss er, seine Wut hinunterzuschlucken, seine Wut zu vergessen.
»Bist du so weit?« »Du hast also eine Person nach Hause geschickt, die sich vermutlich eines groben Verstoßes gegen das Waffengesetz, der Vorbereitung von schwerer, der Allgemeinheit gefährdender Zerstörung und der Mithilfe an schwerem Menschenraub schuldig gemacht hatte.« Lars Ågestam zuckte mit den Schultern. »Aber natürlich. Wenn du meinst. Wenn sie an Bord ist, dann ist sie eben an Bord.« Grens rang mit der Verachtung, die er für den jungen Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches empfand, er wusste eigentlich nicht, warum, so war es eben, er konnte Leute nicht ertragen, die die Universität als ihren Wirklichkeitsbezug nahmen, die nicht gelebt hatten, die aber versuchten, Erfahrung vorzugaukeln. »Jochum Lang dagegen.« »Ja?« »Wird Zeit, ihn richtig hinter Schloss und Riegel zu bringen.« Ågestam zeigte auf die Unterlagen, die Ewert Grens soeben vom Stuhl auf den Boden befördert hatte. »Da, Grens. Eine Vernehmung nach der anderen.
Und nichts. Sehr viel länger kann ich ihn nicht mehr festhalten.« »Das kannst du.« »Das kann ich nicht.« »Du kannst ihn sogar wegen des Verdachts der Ermordung von Hilding Oldéus festhalten. Wir haben eine Person, die ihn identifiziert hat.« »Wer ist das?« Lars Ågestam war mager, er hatte eine kleine runde Brille und einen Pony, er war soeben dreißig geworden, aber als er sich jetzt in seinem zu großen Ledersessel vorbeugte, sah er mehr denn je wie ein kleiner Junge aus. »Lisa Öhrström. Ärztin auf der Station, wo er gelegen hat. Sie ist außerdem Oldéus’ Schwester.« Ågestam schwieg. Er schob seinen Sessel zurück, erhob sich, sah Grens an. »Dem Bericht nach, den ich von deinem Kollegen Sundkvist bekommen habe, ist die Gegenüberstellung nicht gerade gut verlaufen. Sein Anwalt war auch schon hier, er verlangt natürlich, dass ich Lang unverzüglich auf freien Fuß setze, weil niemand ihn identifiziert hat.«
»Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Du hast eine Identifizierung. Ich bringe sie dir morgen früh.« Lars Ågestam setzte sich wieder, zog mit den Füßen seinen Sessel zurück an den Schreibtisch. Er hob die Arme, wie im Film, wenn jemand soeben eine Bedrohung ausgesprochen hat. »Ich gebe mich geschlagen. Grens. Erklär dich. Erklär, was du eigentlich treibst.« »Du bekommst deine Identifizierung morgen. Mehr gibt es nicht zu erklären.« Ågestam saß still da, versuchte, das soeben Gehörte zu verstehen. Er leitete die Voruntersuchungen bei zwei überaus unterschiedlichen Ermittlungen, mit denen Ewert Grens beschäftigt war, Vorfälle, die beide in denselben Stunden am selben Ort stattgefunden hatten. Aber die Antworten, die er jetzt bekam, waren sozusagen zu einfach. Dieses Gespräch jetzt, Sljusareva bereits nach Hause geschickt, Lang identifiziert, er müsste jetzt ganz ruhig sein können, der ermittelnde Kommissar hatte ihm doch soeben erklärt, dass er alles unter Kontrolle hatte. Aber das
hatte er nicht, es stimmte nicht, etwas stimmte hier verdammt nochmal überhaupt nicht. »Die Presseleute lassen nicht locker.« »Scheiß auf die.« »Ich bekomme Fragen nach Grajauskaitės Motiv. Warum eine Prostituierte einen Polizisten und sich selbst in einer abgesperrten Leichenhalle erschießt. Ich habe keine Antwort. Und ich will eine haben.« »Wir haben noch keine. Wir ermitteln.« »Jetzt geht das wieder los, Grens. Ich verstehe das nicht. Wenn ihr kein Motiv habt – warum hast du dann Alena Sljusareva nach Hause fahren lassen? Vielleicht ist sie der einzige Mensch, der etwas weiß.« Ewert Grens wollte schon laut werden, aber er trug doch Bengts verdammte Lüge mit sich herum, die hielt ihn zurück, verwandelte ihn vorübergehend in jemanden, der er nicht war, er musste vorsichtig auftreten, dieses eine Mal. Er senkte die Stimme, fauchte fast. »Du, komm mir hier nicht wie ein verdammter Verhörsleiter.«
»Ich habe mir angehört, was ihr da unten gesagt habt, vor den Schüssen.« Ågestam gab vor, die Stimme nicht zu hören, die gefährlich klingen sollte, vermied es, den hochgewachsenen Polizisten anzusehen, als er einige Seiten aus dem Papierstapel auf seinem Schreibtisch zog, mitten aus dem Stapel, er wusste genau, was er suchte, er hielt den Finger auf zwei Zeilen irgendwo in der Mitte, las laut vor. »Du sagst es doch selbst, Grens, du rufst sogar, und ich zitiere: Das ist etwas Persönliches. Bengt, kommen. Zum Teufel, Bengt, hör auf! Hör jetzt auf! Einsatztruppen, bereit zum Sturm. Ich wiederhole, Einsatztruppen bereit zum Sturm.« Ågestam sah Grens an, breitete die mageren Sakkoarme aus. »Zitatende.« Das Telefon mitten auf dem Schreibtisch klingelte plötzlich, sie sahen es beide an, zählten jeder für sich sieben Klingeltöne, dann verstummte es wieder und machte Platz für Ewert Grens und ihr Gespräch. »Du kannst so viel zitieren, wie du willst. Du warst ja nicht dabei. Oder? Ja, da hatte ich dieses Gefühl.
Dass es um etwas Persönliches ging. Ich glaube noch immer, dass es so sein kann. Aber ich weiß nicht, was es ist.« Lars Ågestam versuchte, Grens’ Blick zu erwidern, das ging eine Weile, dann aber wandte er sich ab und schaute aus dem Fenster, auf eine Stadt, die niemals Ruhe gab, sie war zu groß, um das jemals zu erreichen. Er zögerte. Da war dieses seltsame Gefühl, diese aufdringlichen Gedanken. Er wusste, dass er in Gedanken gerade etwas formulierte, das als Anklage gegen den Mann gedeutet werden konnte, der im Haus die größte inoffizielle Macht innehatte, aber wenn er es nicht sagte, er musste es sagen, er musste einfach. Er drehte sich wieder um, sah ihn wieder an. »Du hast also… nichts? Ich weiß nicht, was das hier soll, ich bekomme es nicht zu fassen, aber Ewert, ich glaube, ich nenne dich zum ersten Mal so, Ewert, weißt du, was du da tust? Ich meine, du ermittelst über deinen besten Freund. Über den Mord an deinem besten Freund. Und ich frage mich, ich weiß nicht, ob das eigentlich so sinnvoll ist. Deine Trauer, du musst doch Trauer empfin-
den, du hast ihm so nahegestanden, das musst du doch spüren.« Ågestam holte tief Luft, nahm Anlauf. »Was ich meine, ist… willst du abgelöst werden?« Ewert Grens sprang auf, machte sich bereit, den Raum zu verlassen. »Du sitzt da hinter deinem Schreibtisch und liest Papiere. Aber verstehst du, du Streberlein, ich habe schon Verbrechen aufgeklärt, richtige Verbrechen, als deine Mama zum ersten Mal für deinen Papa den Rock gehoben hat. Und das mache ich immer noch.« Grens zeigte auf die Tür. »Jetzt gehe ich zurück. Zum Torpedo und der Irren. Oder hast du noch mehr?« Lars Ågestam schüttelte den Kopf, sah ihn gehen, seufzte. Er wusste, dass der Kriminalkommissar, der ihm eben noch gegenübergesessen hatte, fast immer den Erfolg davontrug. Ihm unterliefen ganz einfach keine dummen Patzer. Es war einfach so, und ansonsten sollten alle über seine Art und seine nicht vorhandene Kommunikationsfähigkeit denken, was sie wollten.
Er vertraute Ewert Grens. Er beschloss, das auch weiterhin zu tun. Der Abend hatte geduldig diejenigen verdrängt, die Stunden ihres Lebens zwischen ihrem Zuhause in den Vororten und der Arbeit in der Stadt hinund herpendelten. Der Stockholmer Hauptbahnhof kam jetzt langsam zur Ruhe, um Kraft für den nächsten Morgen zu sammeln, für Stunden von neuen Pendlern, die von einem Gleis zum anderen über den Bahnhofsboden wimmeln würden. Sven Sundkvist saß auf einer Bank, sah, ohne zu wissen, warum, auf die elektronische Tafel, die Ankunft und Abfahrt mitteilte. Er hatte dreißig Minuten zuvor, als er die große Bahnhofshalle verlassen und den Raum mit den Schließfächern aufgesucht hatte, das Fach Nr. 21 gefunden, ganz unten und mitten in einer langen Reihe abgeschlossener Türen. Er kannte diese Schließfächer gut, hatte eine Weile davorgestanden, hatte die Tür mit der Hand berührt, hatte mit dem Gedanken gespielt, wieder zu gehen, zu vergessen, dass er jemals zum zweiten Mal in den Verhörprotokollen geblättert hatte.
Niemand außer ihm sollte sie lesen. Er könnte zu Anita und Jonas nach Hause fahren. Niemand anders sollte nachdenken. Nach Hause, es wäre so leicht, sich den Scheiß zu ersparen. Er war stehen geblieben. Er hatte wieder den Zorn verspürt, den Schmerz im Magen, der jetzt mehr war als nur ein Gefühl. Er dachte an das Gespräch, das er früher an diesem Tag geführt hatte, mit Krantz, wie sicher der gealterte Kriminaltechniker sich gewesen war. Das Video war bespielt gewesen. Es hatte eine gebrochene Löschsperre gehabt. Jetzt war das Video nirgendwo aufzufinden. Du setzt dreißig Jahre treue Dienste aufs Spiel. Ich verstehe das nicht. Deshalb stehe ich hier. Vor einem Schließfach im Stockholmer Hauptbahnhof. Ich habe keine Ahnung, was ich bald erfahren werde, was Lydia Grajauskaitė erzählen wollte. Aber ich sehe ein, dass ich sehr gut ohne dieses Wissen leben könnte. Er hatte eine Viertelstunde gebraucht, um der Frau in dem Loch in der Wand, über dem »Schließfachaufsicht« stand, klarzumachen, dass er wirklich
Polizist bei der Gewaltsektion war und dass er wirklich ihre Hilfe brauchte, um ein Schließfach zu öffnen, das nicht ihm gehörte. Sie hatte mehrere Male den Kopf geschüttelt und dann widerwillig, als er die Diskussionen satt hatte und mit lauter Stimme mit seinem Recht gedroht hatte, ihr Befehle zu erteilen, und dass es ihre Pflicht als Staatsbürgerin sei, den Anweisungen der Polizei nachzukommen, erst da hatte sie den Mann informiert, der bei einer Wachgesellschaft arbeitete und die Reserveschlüssel für die Schließfächer in seiner Obhut hatte. Sven Sundkvist sah die grüne Uniform schon, als der Mann durch den Haupteingang kam. Er erhob sich von der Bank, ging auf den Mann zu, blieb vor ihm stehen, wies sich aus und grüßte. Sie gingen nebeneinander zu den nummerierten Schließfächern. Ein schwerer Schlüsselbund. Nummer 21 sah genauso aus wie die anderen. Der Wachmann trat zur Seite, als er den Schlüssel umgedreht hatte, das Schloss war leicht zu öffnen. Sven Sundkvist stand vor zwei Schrankfächern, die an den Metallwänden befestigt waren. Im Schließ-
fach war es ziemlich dunkel, er trat einen Schritt näher, um sehen zu können. Es gab nicht gerade viel zu sehen. Eine Plastiktüte mit zwei Kleidern. Ein Fotoalbum mit schwarzweißen Fotos, offenbar von einer Familie, in einem Studio aufgenommen, alle fein angezogen und nervös lächelnd. Eine Zigarrenkiste mit schwedischen Banknoten, Hunderter und Fünfhunderter, er rechnete kurz, vierzigtausend Kronen. Lydia Grajauskaitės Habseligkeiten. Er hielt die Metalltür fest und erkannte plötzlich, dass das Schließfach 21 ein Menschenleben enthalten hatte. Die einzige Vergangenheit, die ihr geblieben war. Die einzige Zukunft, die sie hatte sehen können. Diese Zukunft war Hoffnung gewesen, Flucht, das Gefühl, auch jenseits der verschlossenen Wohnung noch richtig zu existieren. Sven Sundkvist öffnete seine Aktentasche, steckte Kleider, Album, Zigarrenkiste in Tüten. Dann streckte er noch einmal die Hand in das Schließfach, in das obere Fach, fasste nach der Videokassette, die dort lag und auf deren Rückseite ein Zettel mit kyrillischen Buchstaben klebte.
Sie war hinter ihm hergerannt, über den Innenhof, durch das Treppenhaus und dann auf den Bürgersteig der Högalidsgata. Dort war er stehen geblieben, barfuß und mit tränenüberströmten Wangen. Sie liebte ihn. Sie hatte ihn in den Arm genommen, ihn hochgehoben und an sich gedrückt, sie hatte wieder und wieder seinen Namen genannt, er hieß Jonathan und war ihr Neffe, aber auch ein eigenes Kind hätte sie nicht inniger lieben können. Lisa Öhrström fuhr ihm über die Haare, sie musste gehen, es war spät und dunkel, so dunkel, wie es jetzt, zwei Wochen vor Mittsommer, überhaupt werden konnte, die Dunkelheit verdrängte langsam das, was eben noch Tag gewesen war. Sie küsste seine Wange. Sanna war schon schlafen gegangen, sie sah Ylva an, ihre Schwester, zog die Wohnungstür hinter sich zu und ging. Sie waren jetzt weniger. Der Vater nicht mehr da, Hilding nicht mehr da. Sie hatte es ja schon lange gewusst, jetzt war sie dort, in dem, was immer mehr zu Einsamkeit wurde. Sie hatte beschlossen, zu Fuß zu gehen. Über die Västerbrücke, entlang Norr Mälarstrand und dann
durch die Querstraßen, es war nicht weit, eine halbe Stunde am Stockholmer Abend, sie war schon einige Male dort gewesen, im Polizeigebäude. Sie wusste, dass er abends lange arbeitete. Er hatte es gesagt, und er war so einer, der nichts anderes hatte. Er würde dort sitzen, über der Ermittlung, die abgeschlossen werden musste, eine Woche zuvor war es eine andere Ermittlung gewesen, die abgeschlossen werden musste, nächste Woche würde es eine neue sein, es gab immer einen Grund, nicht nach Hause zu gehen. Sie rief an, um ihn vorzuwarnen. Er meldete sich sofort. Er hatte es gewusst. Er wartete schon auf sie. Er empfing sie im Foyer und ging vor ihr her über den dunklen Gang. Es roch stickig, seine hinkenden Schritte hallten von den Wänden wider, es war unbehaglich, dass Leute sich hier freiwillig aufhielten. Sie sah seinen Rücken an, er war breit, übergewichtig, seine Schädelspitze kahl. Er dürfte nicht so stark sein, aber er strahlte hier in diesem staubigen Haus eine Kraft aus, eine solche Kraft, wie nur die sie haben, die Sicherheit kennen, die sich entschieden haben, und er hatte sich wirklich dafür entschieden, dort zu leben.
Ewert Grens öffnete die Tür zu seinem Zimmer, ließ sie eintreten. Er bat sie, sich zu setzen, zeigte auf einen Besuchersessel vor seinem Schreibtisch. Sie sah sich im Zimmer um. Es war ein trister Raum. Das Einzige, was von Leben erzählte, das mehr war als ein Großeinkauf bei einem Büromöbelhändler, waren ein Kassettenrekorder hinter seinem Rücken, ein Ungeheuer, das hundert Jahre alt zu sein schien, und ein Sofa hinter ihr, hässlich und durchgesessen, sie war sicher, dass er dort schlief. »Kaffee?« Das war nicht ernst gemeint. Aber er wusste, dass man so etwas sagen musste. »Nein. Danke. Ich bin nicht zum Kaffeetrinken hergekommen.« »Das habe ich mir schon gedacht. Aber dennoch.« Er hob einen Plastikbecher hoch, der zur Hälfte mit etwas gefüllt war, das aussah wie schwarzer Automatenkaffee, und leerte ihn. »Also?« »Du siehst gar nicht überrascht aus. Darüber, mich hier zu sehen.« »Nicht überrascht. Aber froh.«
Lisa Öhrström sah ein, dass das, was sie verspürte, was an ihr zerrte, Müdigkeit war. Sie war so angespannt gewesen. Jetzt entspannte sie sich, sie setzte so viel aufs Spiel, und die vergangenen Tage zehrten an ihr. »Ich will nicht noch mehr von deinen Bildern sehen. Ich will keinen Menschen mehr ins Gesicht gedrückt bekommen, den ich nicht kenne und den ich niemals kennenlernen wollte. Jetzt reicht es. Ich werde aussagen. Ich werde Lang als den Mann identifizieren, der gestern meinen Bruder aufgesucht hat.« Lisa Öhrström beugte sich vor, die Ellbogen auf den Schreibtisch gestemmt, das Kinn in die Hände. Sie war so müde. Sie würde gleich nach Hause gehen. »Aber eins musst du wissen. Es war mehr als nur eine Bedrohung, die mich vorhin davon abgehalten hat. Es ist schon ziemlich lange her, dass ich beschlossen hatte, dass Hilding und seine Drogen nie mehr mein Leben lenken sollten. Ich habe dieses letzte Jahr entsprechend gelebt, ich war nicht mehr für ihn da. Aber das scheint ja keine Rolle zu spielen. Er wird mich trotzdem niemals loslassen.
Jetzt ist er tot. Und er nimmt trotzdem meinem Leben mehr Kraft denn je. Und da kann ich doch auch gleich aussagen.« Ewert Grens versuchte, nicht zu lächeln. Er wusste, dass es jetzt so weit war. Anni, es ist so weit. Jetzt war es vorbei. »Niemand macht dir Vorwürfe.« »Ich will dein Mitleid nicht.« »Das ist deine Entscheidung. Aber es ist also so. Niemand macht dir einen Vorwurf, weil du nicht gewusst hast, was du tun solltest.« Grens erhob sich, suchte zwischen seinen Kassetten. Er fand das Gesuchte, schaltete den Rekorder ein. Siw Malmkvist. Da war sie sich sicher. »Jetzt will ich eins wissen. Wer hat dich bedroht?« Siw Malmkvist. Sie hatte soeben den schwersten Entschluss ihres Lebens gefasst, und er hörte Siw Malmkvist. »Das spielt keine Rolle. Ich werde aussagen. Aber nur unter einer Bedingung.« Lisa Öhrström saß noch immer da, das Kinn in die Hände gestützt. Sie war ihm nah, sie schaute auf. »Die Kinder meiner Schwester. Die müssen unter Schutz gestellt werden.«
»Das sind sie schon.« »Ich verstehe nicht.« »Sie stehen seit der Gegenüberstellung unter Schutz. Ich weiß zum Beispiel, dass du heute dort warst, dass eins der Kinder barfuß auf die Straße gerannt ist. Und dieser Schutz wird natürlich weiterbestehen.« Die Müdigkeit lähmte sie. Sie gähnte, machte nicht einmal den Versuch, dieses Gähnen zu unterdrücken. »Ich will jetzt nach Hause.« »Ich lass dich bringen. Mit einem zivilen Wagen.« »In die Högalidsgata. Zu Jonathan und Sanna. Die schlafen jetzt.« »Ich schlage vor, dass wir den Schutz verstärken. Und dass wir auch einen Mann in der Wohnung postieren. Wenn dir das recht ist.« Es war wirklich Abend. Die Dunkelheit, die Stille, das ganze große Gebäude schien leer zu sein. Sie sah den Polizisten an, der neben dem Rekorder stand, er schien sozusagen mitzusingen, die glatte Melodie und den albernen Text, er sang in Gedanken mit, und in Gedanken tat er ihr leid.
Freitag, der 7. Juni
Er hatte die Dunkelheit noch nie gemocht. Er war in einem kargen Kiruna mit seiner ewigkeitslangen Winterdunkelheit aufgewachsen, er war nach Stockholm und auf die Polizeihochschule gegangen und hatte Nacht für Nacht gearbeitet, aber er schien es trotz allem niemals richtig akzeptiert zu haben, schien sich nicht daran gewöhnen zu wollen, in seiner Welt konnte Dunkelheit niemals schön sein. Er schaute aus dem Wohnzimmerfenster. Die Juninacht herrschte draußen im Wald, es war so dunkel, wie es jetzt im Sommer in einem dichtwachsenden Wald werden konnte. Er war kurz nach zehn nach Hause gekommen, hatte das Video zwischen ihren anderen Habseligkeiten in seiner Aktentasche mitgebracht. Jonas schlief bereits, und Sven Sundkvist hatte dasselbe gemacht wie immer, hatte seine Stirn geküsst und war dann eine Weile stehen geblieben, um den regelmäßigen Atemzügen zu lauschen. Anita saß in der Küche, vor einem Kreuzworträtsel, er hatte sich auf denselben Stuhl
dicht neben sie gesetzt. Ungefähr eine Stunde, drei leere Karos in drei Ecken waren am Ende noch übrig geblieben, so sah es immer aus, einige Buchstaben fehlten, um das Rätsel ausschneiden, in einen Briefumschlag stecken und an die Lokalzeitung schicken zu können, in der Hoffnung, drei Prämienlose zu gewinnen. Danach hatten sie sich geliebt. Sie hatte zuerst ihn und dann sich ausgezogen, hatte verlangt, dass er auf dem Küchenstuhl sitzen blieb, hatte sich nackt auf seine Knie sinken lassen, ihre Körper, sie brauchten Nähe. Später hatte er gewartet, bis sie eingeschlafen war. Um Viertel nach zwölf war er aufgestanden und hatte ein T-Shirt und eine Trainingshose angezogen. Die Aktentasche hatte noch in der Küche gestanden, er hatte sie geholt und war damit ins Wohnzimmer und zum Fernsehsofa gegangen. Er hatte allein sein wollen, wenn er das Video auspackte. Allein mit dem starken Gefühl von Unbehagen im Bauch. Was Anita und Jonas nicht wussten, konnte ihnen auch nicht wehtun.
Die Dunkelheit draußen. Er starrte hinein, ahnte die Umrisse der Bäume, mehr nicht. Er konnte es nicht mehr sehr viel länger hinauszögern. Sie hatte zu Ejder gesagt, dass es zwei Videos gab. Sie hatte eine Kopie gemacht. Für den Fall, dass etwas passierte, dass jemand versuchte, das Video zu überspielen, das sie bei sich gehabt hatte, oder dass jemand versuchte, den Inhalt verschwinden zu lassen, indem er es gegen ein anderes vertauschte. Sven Sundkvist wusste nicht, ob das, was er jetzt zu sehen und zu hören bekommen würde, identisch mit dem war, was sich auf der anderen Kassette befunden hatte. Aber er ging davon aus. Sie sehen nervös aus, wie Menschen das machen, wenn sie es nicht gewöhnt sind, in das Auge zu starren, das alles einfängt und für später aufbewahrt. Grajauskait spricht als Erste. »Это мой повод. Моя история такая.« Zwei Sätze hintereinander. Sie schaut Sljusareva an, und die spricht auf Schwedisch weiten »Das hier ist meine Gelegenheit. Das
hier ist meine Geschichte.« Wieder Grajauskait, sie sieht ihre Freundin an, noch zwei Sätze. »Надеюсъ что когда ты слышишь это того о ком идет речь уже нет. Что он чувствовал мой стыдл.« Sie nickt, ist ernst, wartet auf Sljusareva, die sich zur Kamera hindreht, die übersetzt. »Wenn du das hörst, dann hoffe ich, dass der Mann, über den ich rede, nicht mehr da ist. Dass er meine Schande gespürt hat.« Sie sprechen langsam, sorgen dafür, dass jedes Wort auf Russisch und jedes Wort auf gebrochenem Schwedisch verständlich ist. Er beugte sich vor, hielt das Video an. Er wollte nicht weitermachen. Was er empfand, war kein Unbehagen mehr, keine Angst, nur Zorn, der in ihm hochquoll und mit dem er sich nur selten vertraut machen musste. Es gab keine Zweifel mehr. Er hatte gehofft, wie man immer hofft. Aber jetzt wusste er, er wusste, dass Ewert das Video manipuliert und dass er dazu ein Motiv gehabt hatte. Sven Sundkvist erhob sich, ging in die Küche, schaltete die Kaffeemaschine ein, goss Kaffee in die
Filtertüte, er musste denken können, es würde eine lange Nacht werden. Das Kreuzworträtsel lag noch immer auf dem Tisch. Er schob es weg, nahm einen Zeichenblock von Jonas, der auf einem Stapel auf der Fensterbank lag, sah das leere Papier an. Ein Stift von Jonas, ein lila Filzstift, er zog ihn planlos über die weiße Fläche. Ein Mann. Ein älterer Mann. Großer Oberkörper, nicht mehr viele Haare, starrende Augen. Ewert. Er lächelte vor sich hin, als er das sah, er hatte doch verdammt nochmal Ewert mit lila Filzstift gezeichnet. Er wusste auch warum. Es war seine lange Nacht, die da vor ihm auf dem Tisch lag. Er kannte Ewert Grens jetzt seit fast zehn Jahren. Er war genau wie die anderen gewesen, einer, den Grens anbrüllte, bis er dann plötzlich gemerkt hatte, dass sich zwischen ihnen so etwas wie Freundschaft entwickelte. Sven war einer der wenigen geworden, mit denen Ewert redete, die er an sich heranließ, soweit er überhaupt jemanden an sich heranlassen konnte. Er hatte während dieser Jahre
Ewert Grens gut kennengelernt, aber nicht gut genug. Er hatte ihn nie zu Hause besucht. Und Menschen, die man nicht zu Hause besucht, kennt man ja wohl nicht gut. Ewert war hier bei ihm gewesen, hatte hier an diesem Küchentisch gesessen, mit Anita auf der einen und Jonas auf der anderen Seite. Er hatte hier Kaffee getrunken, er hatte hier zu Abend gegessen. Sven hatte Ewert an einen Ort eingeladen, an dem er nur er selbst war. Aber Ewert hatte das nie umgekehrt gemacht. Er sah die Zeichnung an, die vor ihm lag, zog weiterhin Striche, der lila Mann bekam lila Schuhe und eine lila Jacke. Er hatte von der Privatperson Ewert Grens keine Ahnung. Er kannte den Polizisten Ewert Grens, den, der in der Morgendämmerung als Erster an seinem Schreibtisch saß und Siw Malmkvist so laut laufen ließ, dass es auf dem ganzen Gang zu hören war, der dann bis zum späten Abend arbeitete, der sich dort in seinem Büro oft aufs Sofa legte und übernachtete, um in der nächsten Morgendämmerung an der Ermittlung weiterzuarbeiten, die er am Vorabend nicht hatte abschließen können.
Er wusste, dass dieser Polizist der beste war, der ihm jemals über den Weg gelaufen war. Er wusste, dass dieser Polizist nie irgendwelche einfachen Fehler beging. Er wusste, dass dieser Polizist nie auf die Folgen achtete, die eine Ermittlung möglicherweise haben konnte, für ihn gab es die Ermittlung und nur die Ermittlung, für mehr war sozusagen kein Platz. Jetzt wusste er nichts. Sven Sundkvist leerte seine Tasse, holte die Glaskanne von der Wärmefläche, er brauchte mehr Kaffee. Einen anderen Stift, noch immer ein Filzstift, hysterisches Grün. Er schrieb auf die leere Fläche neben das lila Männlein: Gustaf Ejder sieht in Lydia Grajauskaits Tüte ein Video. Nils Krantz findet es am Tatort, stellt fest, dass es unversehrt ist und sogar Fingerabdrücke von zwei verschiedenen Handpaaren aufweist, die es angefasst haben, eins davon gehört Lydia Grajauskait. Nils Krantz übergibt es in der Leichenhalle an Ewert Grens.
Ewert Grens nimmt es entgegen, registriert es aber nirgendwo, nicht bei der Kripo, nicht beim technischen Abschnitt des Landeskriminalamts. Sven Sundkvist findet es im Regal in Ewert Grens’ Zimmer und stellt fest, dass es leer ist. Gustav Ejder hat in einer frühen Vernehmung erwähnt, dass Lydia Grajauskait gesagt hat, es gebe ein weiteres Video, eine Kopie, in einem Schließfach im Stockholmer Hauptbahnhof. Sven Sundkvist lässt das Schließfach öffnen, nimmt das Video in seiner Aktentasche mit nach Hause, steht mitten in der Nacht heimlich auf und sieht, dass es durchaus nicht leer ist. Er hörte auf zu schreiben. Er hätte noch hinzufügen können, und ist zu feige, um sich alles anzusehen, aber stattdessen betrachtete er Ewerts Filzstiftporträt. Was hast du getan? Ich weiß, dass du Beweismaterial entfernt hast, und ich weiß, warum. Er knüllte das Blatt zusammen, warf es über den Tisch, in Richtung Spülstein. Er zog das Kreuzworträtsel an sich heran, sah sich die drei leeren Kästchen an, versuchte einen Buchstaben nach dem anderen, ohne den richtigen finden zu können,
gab nach einer Viertelstunde auf. Er verließ die Küche und ging wieder ins Wohnzimmer. Das schreckliche Video. Er hätte es nicht holen müssen. Er hätte es nicht mit nach Hause nehmen müssen. Jetzt blieb ihm keine Wahl. Jetzt musste er es sehen. Wieder Lydia Grajauskait. Die Kamera unscharf einige Sekunden lang, dann kommt das Jetztzeichen des Kameramannes, und sie kann sprechen. »Когда Бенгт Нордвалл встретил меня в Клайпейде сказал он что это была хорошая высокооплачивая работал.« Sie sieht noch immer ihre Freundin an, wartet darauf, dass die übersetzt. Sljusareva streichelt ihre Wange, dreht sich zur Kamera hin. »Als ich in Klaip da Bengt Nordwall kennengelernt habe, sagte er, es handele sich um gute, gut bezahlte Arbeit.« Wieder fluchte Sven Sundkvist. Er ging aus dem Wohnzimmer, floh abermals in die Küche. Er öffnete den Kühlschrank, trank direkt aus einem
Milchkarton, schloss vorsichtig die Tür, wollte Anita nicht wecken. Er hatte es nicht formulieren können. Aber es war genau das, was er befürchtet hatte. Eine andere Wahrheit. Mit einer anderen Wahrheit kommen die Lügen. Und so lange niemand eine Lüge entlarvt, gibt es sie nicht. Er ging wieder ins Wohnzimmer, saß ganz still auf dem Sofa. Er hatte angefangen, sich an Bengt Nordwalls Lüge zu beteiligen. Er war sicher, dass Ewert das auch gemacht hatte. Er war sicher, dass das von Ewert entfernte Video genau das enthalten hatte, was er soeben gesehen hatte. Ewert hatte es gesehen, verschwinden lassen, einen Freund geschützt. Jetzt saß er hier. Mit Bengt Nordwalls Lüge, die zu Ewerts Lüge geworden war. Wenn er selbst sie nun nicht entlarvte, würde sie auch zu seiner werden, er würde sich dann wie Ewert verhalten, zuerst sehen, sich dann abwenden, einen Freund schützen. Er ließ das Video wieder laufen, spulte im Schnelldurchgang vor. Es ging noch zwanzig Minuten wei-
ter. Er schaute auf die Uhr. Halb drei. Wenn er zurückspulte, würde er bis drei Uhr Lydia Grajauskaitės ganze Geschichte gehört haben. Dann würde er sich ins Schlafzimmer schleichen, auf das Kissen neben Anita einen Zettel legen und erklären können, dass er nachts noch zur Arbeit gerufen worden sei, er könnte sich anziehen, zu seinem Auto gehen, um diese Zeit brauchte er nur zwanzig Minuten bis in die Stadt.
Es war Viertel vor vier, als er die Tür zu seinem Arbeitszimmer öffnete. Der Morgen war schon da, das Licht kam irgendwoher vom Meer, von Osten, als er über die leere Autobahn zwischen Gustavsberg und der Stockholmer Innenstadt gefahren war. Er trank noch mehr Kaffee. Weniger, um sich wachzuhalten, die Gedanken wirbelten durch seinen Kopf, und das Einzige, was nicht möglich gewesen wäre, war zu schlafen, sondern eher, um klar im Kopf zu sein, das Gewirbel fassen zu können, ehe es davonjagte und seine eigenen Analysen
anstellte, wie Gedanken das nachts bisweilen so machen. Er räumte auf seinem Schreibtisch auf, legte Papierstapel und Fotos und Ordner auf den Boden. Die Holzplatte war ganz leer, er hatte sie wohl noch nie gesehen, höchstens bei seinem Einzug hier, in dieses Zimmer, er hatte das Zimmer sicher schon seit fünf, sechs Jahren. Dann zog er den Papierball aus seiner Brusttasche, er hatte ihn, ehe er von zu Hause losgefahren war, aus dem Spülbecken gefischt. Er faltete ihn auseinander, legte ihn mitten auf den leeren Tisch. Er wusste jetzt, dass der, der in lila Filzstift vor ihm lag, soeben eine Grenze überschritten hatte, er hatte die Beweislage in einer Ermittlung manipuliert, um seine eigenen Interessen zu schützen, er schützte eine Lüge, die nicht ihm gehörte. Sven Sundkvist ließ zerstreut einen Finger an den Filzstiftstrichen entlangwandern, verspürte die Wut, hatte keine Ahnung, was er mit seinem Wissen anfangen sollte. Lars Ågestam hatte dasselbe gemacht wie immer, wenn er nicht einschlafen konnte. Er hatte sich sei-
nen Anzug und seine schwarzen Schuhe angezogen, hatte dafür gesorgt, dass seine Aktentasche so leicht wie möglich war, und hatte dann den Spaziergang durch die Dämmerung begonnen, drei Stunden durch Stockholms westliche Vororte zum Büro bei der Staatsanwaltschaft. Es war ein seltsames Gespräch gewesen. Er hatte ihm nur schwer folgen können, und sonst ging ihm das nicht so. Ewert Grens, den er bewunderte und bemitleidete, hatte vor ihm gesessen und ihm einerseits erklärt, dass ihnen noch immer das Motiv fehlte, aus dem Grajauskaitė einen Wächter niedergeschlagen, Geiseln genommen, einen Polizisten ermordet und sich am Ende selbst erschossen hatte, und andererseits, dass ihre Freundin Sljusareva absolut nichts zu erzählen gehabt hatte und deshalb jetzt in einer Hafenstadt auf der anderen Seite der Ostsee frei herumlief. Er hatte nicht schlafen können. Er hatte, mit Grens vor Augen, beschlossen, ihm zu vertrauen. Jetzt ging er zusammen mit der aufgehenden Sonne, er hatte schon im Söderkrankenhaus angerufen und angekündigt, dass er die Leichenhalle noch einmal besuchen wollte.
Er hatte nicht angeklopft. Das machte er eben so. Das machte Ewert Grens immer so. Sven Sundkvist fuhr zusammen, schaute zur Tür hinüber. »Ewert?« »Scheiße, Sven, schon hier?« Sven wurde rot. Er wusste, dass das deutlich zu sehen war, und beschämt starrte er die Tischplatte an, wie bloßgestellt, schließlich hatte er den lila Strich-Ewert angeschaut. »Das hat sich eben so ergeben.« »Aber es ist doch noch nicht mal halb sechs. Ich bin um diese Zeit sonst allein hier auf dem Gang.« Grens stand in der Türöffnung. Er schien hereinkommen zu wollen. Sven Sundkvist schaute eilig auf das Blatt mit dem Strichmännlein, das vor ihm lag, bedeckte es mit der Hand. »Was machst du eigentlich hier, Junge?« Er war kein guter Lügner. Jedenfalls nicht bei Menschen, die er gern mochte. »Ich weiß nicht. Es ist jetzt einfach so viel.« Als müsse er ersticken. Seine Wangen waren jetzt sicher knallrot.
»Ewert, du weißt, wie das ist. Das Söderkrankenhaus. Quengelnde Presseleute. Du willst damit ja nichts zu tun haben. Informationen. Unsere Pressesprecher brauchen welche.« Er schaute wieder die Schreibtischplatte an. Nicht noch einmal. Noch einmal halte ich das nicht aus. Ewert Grens trat einen Schritt auf ihn zu, blieb stehen, zögerte, machte dann kehrt, er sprach laut, den Rücken zur offenen Tür, als er das Zimmer verließ. »Gut, Sven. Sicher weißt du, was du tust. Und ich bin froh, wenn du das übernimmst, das mit der Presse.« Das Söderkrankenhaus war groß, klobig, hässlich, aber in der Morgensonne fast schön, das Hellrote, das Fenster und Blechdach glänzen ließ. Lars Ågestam ging durch den leeren Gang, es war noch keine sechs, bald würde das Haus zum Leben erwachen. Mit dem Fahrstuhl in den Keller, er ging hinaus, ging denselben Weg wie Grajauskaitė knapp zwei Tage zuvor, in Krankenhauskleidung, mit einer Plastiktüte unter dem Hemd, zerschunden, niemand sollte sie niederschlagen können.
Das blauweiße Band versperrte das Flurende, ungefähr dort, wo Edvardson gelegen hatte, dreißig Meter entfernt, aber doch nahe genug, um die Tür zu sehen, die es nicht mehr gab. Er bückte sich unter der ersten Absperrung, lief im Zickzack zwischen den Resten einer gesprengten Mauer weiter, zu dem Loch, wo die Tür gewesen war. Das Loch war versiegelt, mehrere Meter Absperrband zogen sich hin und her, befestigt an den Resten des Türrahmens. Er riss es ab, ging hinein. Die längliche Halle, dann der Raum, in dem sie gelegen hatten. Die weißen Kreidestriche zeigten sie noch immer nebeneinander auf dem kalten Klinkerboden. Ihr Körper, dicht bei seinem. Ihr Blut, vermischt. Er war mit ihr gestorben. Sie war mit ihm gestorben. Ågestam war sicher, dass sie damit ein Ziel verbunden hatte, mit ihrer letzten Ruhe, zusammen. Es war still. Er stand mitten im Zimmer, sah sich um. Er hatte panische Angst vor dem Tod, er trug nicht einmal mehr eine Uhr, die die Zeit im Countdown zu zählen schien. Jetzt stand er in einer Leichenhalle, allein, versuchte zu verstehen. Das Tonbandgerät, mitten auf dem Boden.
Er wollte hören, was sie gesagt hatten. Er wollte teilnehmen, wie er immer teilnahm, hinterher. »Ewert.« »Kommen.« »Die Geisel auf dem Gang ist tot. Ich kann kein Blut sehen, kann nicht feststellen, wohin sie geschossen hat. Aber der Geruch. Der ist stark, Ewert, harsch.« Bengt Nordwalls Stimme. Sie klang fest. Sie klang immerhin fest. Lars Ågestam hatte ihn niemals kennengelernt, hatte ihn niemals sprechen hören. Er wollte versuchen, einen toten Menschen kennenzulernen. »Ewert, das ist ein verdammter Bluff, das alles. Sie hat nicht geschossen. Sie waren noch hier, alle vier Geiseln. Sie leben und haben soeben den Raum verlassen. Sie hat Semtex an den Türen verteilt, aber sie kann sie nicht hochgehen lassen.« Er hörte jetzt die Angst. Nordwall hatte weiter beobachtet, beschrieben, aber seine Stimme war eine
andere gewesen, er hatte etwas verstanden, er hatte das verstanden, was die, die nur zuhörten, noch nicht verstanden hatten, das, was er jetzt zu verstehen versuchte. »Was ist das für ein Gefühl? Nackt hier zu stehen, in einer Leichenhalle, vor einer Frau mit einer Waffe in der Hand?« »Ich habe getan, was du mir befohlen hast.« »Du fühlst dich geschändet. Oder was?« »Ja.« »Allein?« »Ja.« »Verängstigt?« »Ja.« »Auf die Knie.« Nicht einmal zwei Tage waren vergangen. Die Stimmen auf dem Band, sie lebten, auch in der Version des Dolmetschers. Jedes Wort, deutlich, in einem geschlossenen Raum. Sie hatte sich entschieden. Da war Lars Ågestam sich sicher. Sie war von Anfang an entschlossen gewesen. Sie würde dort sterben. Er würde dort sterben.
Sie würde ihn erniedrigen, danach würden sie aufhören zu atmen. Sie würden nebeneinander auf dem Boden einer Leichenhalle liegen, zusammen in Ewigkeit. Ågestam stand an der Stelle, an der Nordwall gestanden hatte, er fragte sich, ob Nordwall es gewusst hatte, ob er begriffen hatte, dass ihm nur noch einige Sekunden blieben, einige Augenblicke, dann nichts mehr. Ewert Grens fiel es schwer, sich zu konzentrieren. Er hatte überhaupt nicht geschlafen, er hätte im Büro und auf seinem Besuchersofa bleiben sollen, es gab zu viel, das Aufmerksamkeit forderte, das bis zum Gehtnichtmehr durch seinen Kopf gehen musste, zu Hause zu schlafen, das ging nicht. Er hatte versprochen, sich zum Mittagessen mit Lena zu treffen. Sie würde weiter über Bengt reden. Er hatte zuerst abgelehnt, er hatte keine Lust. Bengt fehlte ihm, das schon, aber er hatte auch eingesehen, dass ihm ein anderer Bengt fehlte als der, dem er jetzt begegnet war. Wenn ich es nur gewusst hätte. Hast du an sie gedacht? Irgendwann einmal? Bist du
danach zu ihr nach Hause gegangen und hast sie geliebt? Ich meine, danach? Ich tue es für Lena. Du bist nicht mehr am Leben. Später hatte er dann ja gesagt. Als sie ihn zum zweiten Mal gebeten hatte. Sie hatte nichts gegessen. Sie hatte im Essen herumgestochert, hatte Mineralwasser getrunken, zwei Flaschen. Sie hatte geweint, vor allem die Kinder, so hatte sie das gesagt, vor allem sind es die Kinder, sie begreifen nicht, und wenn ich es nicht begreife, Ewert, wie soll ich es ihnen erklären können? Er war danach froh darüber gewesen, dass er hingegangen war. Sie brauchte ihn. Sie musste dasselbe immer wieder sagen können, bis sie dann langsam begreifen würde. Es lag ihm nicht so sehr, selber zu trauern. Aber es war ein gutes Gefühl zu sehen, dass ein anderer Mensch das wagte. Lars Ågestam hatte das Band immer wieder zurücklaufen lassen. Er hatte mitten in der Halle gestanden und gelauscht, er hatte auf dem Boden gesessen, mit dem Rücken zur Wand, vor der die Gei-
seln gesessen hatten, er hatte sich ein letztes Mal an die Stelle gelegt, an der Bengt Nordwall gelegen hatte, die weißen Kreidestriche auf dem Boden hatten ihn umgeben, er war kleiner, als Nordwall es gewesen war, er hatte Platz genug gehabt, hatte die Hände vor sein Geschlecht gehalten, wie Nordwall das gemacht hatte, hatte wie Nordwall die Decke angestarrt. Er hatte sich den ganzen Wortwechsel mit Ewert Grens angehört und war jetzt sicher, dass der Bengt Nordwall, der an dieser Stelle geendet war, genau gewusst hatte, wer Lydia Grajauskaitė war, dass die beiden auf irgendeine Weise zusammengehört hatten und dass Grens das geahnt hatte, dass Grens es jetzt sogar wusste, dass er aus irgendeinem Grund dazu bereit war, ein ganzes Leben als Polizist wegzuwerfen, um diese Wahrheit zu schützen. Ågestam war seit genau zwei Stunden in der Leichenhalle, als er sich zum Gehen bereit machte, er hatte Hunger, wollte ein Frühstück in einem Café mit vielen Menschen, die sich ganz normal verhielten und kauten und lebten, er musste weg, die panische Angst vor dem Tod brach plötzlich wieder über ihn herein.
»Ich hatte hier abgesperrt.« Er hatte ihn nicht kommen hören. Nils Krantz, den Kriminaltechniker. Sie waren sich schon früher begegnet, kannten einander. »Ich bitte um Verzeihung. Es musste sein. Ich suche Antworten.« »Du trampelst an einem Tatort herum.« »Ich leite die Voruntersuchung.« »Das weiß ich, aber mir ist das scheißegal. Du hast auf den Kreidestrichen zu gehen wie alle anderen. Ich trage die Verantwortung dafür, dass die Spuren hier auch zu lesen sind.« Ågestam seufzte laut, Krantz sollte es hören, er hatte keine Lust, über Selbstverständlichkeiten zu argumentieren. Er drehte sich um, hob das Tonbandgerät vom Boden auf, steckte seine Notizen ein, griff nach seiner Aktentasche und war fast wieder auf dem Weg zum Frühstück. »Du scheinst es eilig zu haben.« »Ich dachte, du wolltest das so.« Nils Krantz zuckte mit den Schultern, ging langsam durch die Leichenhalle, musterte den Türrahmen vor dem Lagerraum, in dem zum Schluss die Geiseln gesessen hatten, noch immer klebten Reste
von Sprengstoff um die Leisten. Er sprach laut, den Rücken zu Ågestam gedreht. »Wir haben übrigens die ersten Ergebnisse. Ich dachte, das interessiert dich vielleicht.« »Was für Ergebnisse?« »Die von der anderen Ermittlung, Lang. Wir haben eine Leibesvisitation vorgenommen.« »Ja?« »Nichts.« »Nichts?« »An seinem ganzen Körper, nicht eine Spur von Oldéus.« Lars Ågestam war schon auf dem Weg hinaus gewesen, hielt aber inne, als Krantz jetzt lauter wurde. Jetzt blieb er stehen, brachte es nicht über sich, sich zu bewegen, war leer. »Da sieht man’s.« Er stand da, sah Krantz an, der noch immer mit Plastikhandschuhen den Türrahmen abtastete. Ågestam starrte ihn eine Weile lang hilflos an, dann griff er wieder zu seiner Aktentasche, machte einige Schritte auf das zu, was vor kurzem noch eine Tür gewesen war. Er wollte gerade das Loch
durchqueren, als Nils Krantz abermals lauter wurde. »Aber weißt du was?« »Ja?« »Langs Kleidung. Die haben wir uns auch vorgenommen. An den Schuhen. Da sind wir fündig geworden. Blut und DNA. Von Oldéus.« Ewert Grens hatte Lena im Restaurant sitzen lassen. Sie hatte behauptet, noch bleiben zu wollen, hatte eine dritte Flasche Mineralwasser bestellt und ihn an sich gedrückt, als er gegangen war. Er war zu Fuß gegangen, hatte zur Gewaltsektion zurückgewollt, hatte sich die Sache aber anders überlegt und den kurzen Umweg zum Gefängnis gemacht. Das hatte er sich nicht verkneifen können. Es würde ja nicht reichen, dass eine glaubwürdige Ärztin mit Hilfe von Fotos sich für hundertprozentig sicher erklärte, einen Mörder identifizieren zu können. Wenn es dem Mörder danach rechtzeitig zur Gegenüberstellung gelungen war, dieselbe glaubwürdige Ärztin durch Drohungen dermaßen einzuschüchtern, dass sie es nicht gewagt hatte,
ihn ein weiteres Mal zu identifizieren, würde er mit Hilfe des Gesetzes freikommen und abermals zuschlagen dürfen. Aber diesmal nicht. Diesmal reichte es. Grens fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben, hielt im zweiten Stock. Er teilte der Wache mit, dass er mit Jochum Lang sprechen wolle, er solle ihn holen und in einen Vernehmungsraum bringen. Zusammen gingen sie über den Gang, der Wärter zwei Schritte vor ihm, vorbei an stummen Zellentüren. Nummer 8, verschlossen, wie die anderen. Grens nickte dem Wärter zu, und der öffnete das kleine Viereck in der Tür, die Luke, durch die man hineinschaute. Er lag dort drinnen. Auf der Pritsche, auf dem Rücken, mit geschlossenen Augen. Er schlief, was hätte er sonst auch tun sollen, dreiundzwanzig Stunden am Tag auf wenigen verdreckten Quadratmetern ohne Zeitungen, Radio, Fernsehen. Ewert Grens rief durch die Luke: »Lang. Du kannst jetzt aufwachen.« Lang hörte ihn. Er bewegte sich jedoch nicht. »Jetzt. Ein kleiner Plausch. Du und ich.«
Lang lag still da, drehte sich um, als Grens rief, legte sich auf die Seite, den Rücken zur Tür. Grens schlug gereizt die Luke zu. Er nickte dem Wärter zu, die Tür sollte geöffnet werden. Er ging hinein, blieb gleich vor der Schwelle stehen, bat darum, allein gelassen zu werden. Der Wärter zögerte. Jochum Lang galt als gefährlich. Deshalb blieb er stehen. Ewert Grens erklärte so geduldig er konnte, dass er jetzt die Verantwortung übernehmen werde, dass es jetzt seine Schuld wäre, wenn etwas zum Teufel ginge. Der Wärter zuckte mit seinen uniformierten Schultern. Er ging hinaus, schloss die Tür hinter sich. Grens machte einen Schritt in die Zelle, ihn trennten noch einige Meter von der Pritsche. »Ich weiß, dass du mich hörst. Steh auf.« »Grens, geil dich runter.« Einen letzten Schritt, er hätte den Körper berühren können, der dort lag und sich verweigerte, aber das verkniff er sich, er zog stattdessen an der Pritschenkante, schüttelte sie, bis Lang sich plötzlich erhob. Sie standen ganz dicht voreinander.
Sie waren gleich groß, sie starrten, starrten. »Zum Verhör, Lang. Jetzt.« »Du kannst dich zum Teufel scheren.« »Wir haben deine Blutgruppe. Deine DNA. Wir haben eine Identifizierung. Jetzt wirst du verknackt. Wegen Mordes.« Einige Dezimeter. Zwischen ihren Gesichtern. »Du, Scheißgrens. Ich habe keine Ahnung, was du da für einen verdammten Dreck faselst. Aber du solltest vielleicht mal nachdenken. Es ist doch schon vorgekommen, dass Bullen aus Polizeiautos gekullert sind und sich wehgetan haben.« Ewert Grens lächelte, zeigte Zähne, die nicht mehr weiß waren. »Du kannst mich bedrohen, so viel du willst. Ich habe nichts mehr zu verlieren, was mehr wert wäre, als dass du hinter Gittern wichsen darfst, bis du sechzig bist.« Es war schwer zu sagen, wer hier mehr hasste. Jeder suchte den Blick des anderen, jagte das, was es dort geben müsste. Langs Atemzüge, heiß, als er seine Stimme senkte. »Ich mach bei keinem Verhör mehr mit. So ist das, Scheißgrens. Wenn du oder sonstwer noch mal
herkommt und behauptet, ich sollte zum Verhör, werde ich mein Bestes tun, um diese Person verdammt übel zuzurichten. Ich sag das nur einmal Scher dich zum Teufel. Und mach die Tür hinter dir zu.« Sven Sundkvist hatte zu Hause angerufen und zu erklären versucht, warum er mitten in der Nacht verschwunden war, warum er auf dem Kissen einen Zettel hinterlassen hatte, ohne sie zu wecken, ehe er gegangen war. Anita war außer sich gewesen, sie fand es schrecklich, wenn er nicht mit ihr redete, er hatte versprochen, dass sie niemals voneinander verschwinden würden, ohne vorher darüber zu sprechen. Am Ende hatten sie sich gestritten. Sven hatte angerufen und gehofft, die Sache wieder gutzumachen, aber er hatte nur alles verschlimmert. Er war deshalb auf dem Heimweg gewesen, war in seiner Verärgerung ziemlich schnell gefahren, es hatte nicht viele Staus gegeben, nicht einmal bei Slussen, er war soeben an den lächerlich großen Booten beim Viking-Line-Terminal vorbeigefahren, als Lars Ågestam angerufen und mit leiser Stimme zu ihm gesprochen hatte.
Er hatte Sven gebeten, zur Staatsanwaltschaft zu kommen. Zu einem Gespräch unter vier Augen. Lange nach Büroschluss, wenn die anderen nach Hause gegangen waren. Sven Sundkvist hatte angehalten, noch einmal Anita angerufen und alles noch schlimmer gemacht. Jetzt war er wieder in der Stadt, allein, ohne zu wissen, was er mit der vielen Zeit anfangen sollte, es waren eigentlich nur zwei Stunden, aber gerade darum kamen sie ihm vor wie eine Ewigkeit. Es war vermutlich ein schöner Abend, so schwül, wie Juniabende das bisweilen sein können. Er spazierte langsam von Kronoberg los, drehte Runden über Kungsholmen, die Musik war schon aus der Ferne zu hören, und er nahm die Düfte eines Straßenlokals wahr, als er vorüberging, er war von Leben umgeben und hätte es anlächeln sollen, hätte sich eine Stunde daran beteiligen müssen, nahm es aber kaum wahr. Er wurde langsam müde. Es war eine lange Nacht gewesen und ein noch längerer Tag.
Er hatte einfach keine Kraft mehr, noch an das Video zu denken, das er gesehen hatte, und an die widerwärtige Wahrheit, die er jetzt mit sich herumschleppte. Worüber Ågestam wohl mit ihm sprechen wollte? Wollte er Svens Loyalität auf die Probe stellen? Er war zu müde, nicht solche Entscheidungen, nicht jetzt. Sie trafen sich zwei Minuten nach acht auf Kungsbron. Lars Ågestam wartete vor der Tür auf ihn. Er sah aus wie immer, Pony, Anzug und blanke Schuhe, er gab Sven die Hand und hieß ihn willkommen, öffnete die Eingangstür mit seiner Schlüsselkarte. Sie sagten nicht viel, standen nebeneinander im Fahrstuhl, sie würden schon früh genug miteinander reden. Sie gingen durch die offenen Fahrstuhltüren in den neunten Stock hinaus. Lars Ågestam führte ihn in sein Zimmer, Sven ahnte hinter dem Fenster die Stadt, die sommerliche Dunkelheit versuchte langsam, den Tag zu verdrängen. Er setzte sich in einen der beiden Besuchersessel an der Querseite des Schreibtisches. Ågestam bat um
Entschuldigung, ging zurück auf den Gang, kam nach einigen Minuten mit zwei Tassen Kaffee und einer Lage Butterkuchen auf einem Tablett zurück, stellte das Tablett zwischen zwei dicke Ordner auf einen Beistelltisch. »Zucker?« »Milch.« Er gab sich alle Mühe, dieser Ågestam, um der Situation das Dramatische zu nehmen, um die Spannung zu mindern, die für beide zum Greifen stark war. Es gelang ihm nicht gerade gut. Sie wussten, dass sie hier nicht saßen, um Butterkuchen zu essen, es war spät, alle anderen waren schon längst nach Hause gegangen, sie würden über Dinge sprechen, über die man unter vier Augen spricht, ohne dass jemand zuhört, ohne dass das Gesagte weitergetragen wird. »Ich konnte heute Nacht nicht schlafen.« Ågestam reckte sich, hob die Arme über den Kopf, wie um zu zeigen, wie müde er noch immer war. Ich auch nicht, dachte Sven. Ich nun wirklich nicht. Dieses verdammte Video, und Ewert, willst du darüber reden, ich weiß es doch noch nicht.
»Ich habe an deinen Freund gedacht. An deinen Kollegen. Ewert Grens.« Nicht jetzt. Noch nicht. »Ich muss mit dir reden, Sven. Hier stimmt etwas nicht.« Ågestam räusperte sich, schien aufstehen zu wollen, blieb dann aber sitzen, redete weiter. »Du weißt, dass wir einander nicht gerade lieben.« »Dieses Gefühl teilst du noch mit anderen.« »Das weiß ich. Aber trotzdem. Ich wollte das betonen. Es geht hier nicht darum, was ich möglicherweise über Ewert Grens als Menschen denke. Das hier ist eine Dienstangelegenheit. Seine Aufgabe als polizeilicher Ermittler in einer Ermittlung, bei der ich als Leiter der Voruntersuchung fungiere.« Abermals machte er Anstalten sich zu erheben. Diesmal tat er es dann wirklich. Er sah Sven an, dann lief er unruhig im Raum hin und her. »Gestern. Gestern hatte ich eine seltsame Begegnung mit Grens. Er hatte soeben Alena Sljusareva zu einer Fähre nach Klaipėda in Litauen gebracht. Ohne sich vorher mit mir zu besprechen.« Er stand still da, mitten im Zimmer. Er wartete, auf eine Reaktion. Er bekam keine.
»Ich war heute Morgen früh in der Leichenhalle. Ich wollte verstehen. Später habe ich dann noch mit einigen von deinen Kollegen gesprochen. Kriminalassistentin Hermansson zufolge, einer sehr klugen Frau, mit der ich noch nie gesprochen hatte, haben zwei voneinander unabhängige Zeugen eine Person beschrieben, die Ähnlichkeit mit Alena Sljusareva hat, eine Person, die die Behindertentoilette aufgesucht hat, die auch Lydia Grajauskaitė besucht hat, unmittelbar, ehe sie eine Pistole in der Hand hielt und in der Leichenhalle Geiseln nahm. Es ist nicht schwer sich vorzustellen, dass sie Grajauskaitė mit Sprengstoff und Waffen versorgt hat. Warum hatte Grens es also so eilig damit, sie nach Hause zu schicken?« Sven Sundkvist schwieg. Das Video. Er hatte befürchtet, dass es um ein Video gehen würde, das ein Polizist im Dienst ausgetauscht hatte, um einen Kollegen zu schützen. Um das Band, das er nun auch kannte. Das Band, das ihn gleich dazu zwingen würde, zu reden oder die Lüge mitzutragen. »Sven, ich bitte dich. Weißt du etwas, über das ich ebenfalls Bescheid wissen müsste?«
Sundkvist schwieg noch immer, da er keine Ahnung hatte, was er sagen sollte. Lars Ågestam wiederholte seine Frage. »Ist das so?« Er musste antworten. Er antwortete. »Nein. Ich weiß nicht, wovon du hier redest.« Ågestam bewegte sich jetzt wieder, holte nervös Atem, er hatte gerade erst angefangen. »Einer unserer wichtigsten Polizisten. Also sollte ich wohl ruhig bleiben, den Fortgang der Ermittlungen abwarten.« Einige heftige Atemzüge, dann trug seine Stimme wieder. »Aber das stimmt nicht. Verstehst du? Und deshalb kann ich nicht schlafen. Deshalb gehe ich mitten in der Nacht zur Arbeit und lege mich zwischen die Kreidestriche, die auf dem Boden einer Leichenhalle einen Toten umgeben haben.« Er trat jetzt vor Sven hin, sah ihn an. Sven erwiderte seinen Blick, schwieg aber weiter, was immer er sagen könnte, wäre ja doch nicht gut genug. »Dann habe ich in Vilnius angerufen.« Er stand noch immer da, vor ihm.
»Ich habe unsere litauischen Kollegen gebeten, Alena Sljusareva ausfindig zu machen. Sie haben sie gefunden. Sie ist bei ihren Eltern in Klaipėda.« Er setzte sich auf die Schreibtischkante, hob einen Stapel Papier hoch, der hinter ihm gelegen hatte, die Ermittlung, von der hier die Rede war, hielt sie vor sich hin. »Hier gibt es nichts über die Vernehmung, die Grens mit Sljusareva durchgeführt hat. Er hat aus eigener Machtvollkommenheit beschlossen, dass sie das Land verlassen sollte. Was er sagt, ist auch das, was wir wissen.« Seine Stimme versagte, er wusste, dass das, was er jetzt sagen würde, das Einzige war, was er nicht sagen durfte, nicht zu einem Polizisten, nicht über einen Kollegen. »Ewert Grens’ Geschichte ist nicht gut genug.« Eine Pause, dann sprach er weiter. »Ich verstehe nicht, warum, aber ich glaube, dass er die Ermittlung manipuliert.« Ågestam schaltete das Tonbandgerät auf dem Schreibtisch ein. Sie lauschten, hörten das Ende eines Wortwechsels, den sie bereits kannten.
»Die Stena Baltica? Das ist doch ein Scheißboot! Das hier ist etwas Persönliches. Bengt, kommen. Verdammt nochmal, Bengt, hör sofort auf. Hör jetzt auf!« Kein Wort. Keine Entscheidung über Loyalität und Wahrheit. Noch nicht. »Sven?« »Ja.« »Du musst hinfahren. Nach Klaipėda. Ich will, dass du, ohne mit jemand anderem darüber zu sprechen, Alena Sljusareva vernimmst und dass du mir danach Bericht erstattest. Ich will wissen, was sie wirklich gesagt hat.«
Samstag, der 8. Juni
Der Flugplatz von Palanga stank. Als er zur Gepäckausgabe ging, schlug ihm der Geruch eines parfümierten Scheuermittels entgegen, der Boden war noch immer feucht und roch nach Ausland, weit weg, andere Chemikalien, andere Parfümierung, in Schweden schon längst verboten. Eine Stunde und zwanzig Minuten, dachte er. Eine Scheißstunde, und sogar die Putzmittel sind andere. Er war zum zweiten Mal in Litauen oder überhaupt im Baltikum. Er konnte sich von seinem ersten Besuch her an nicht viel erinnern, er war damals ein ziemlich frischgebackener Polizist gewesen, er konnte sich nicht einmal an die Landung erinnern. Es war ein Sondertransport eines Häftlings zum Gefängnis in Vilnius gewesen. Es war so großartig gewesen, Schwedens Grenzen verlassen zu dürfen, mit einem berüchtigten Gewaltverbrecher, die einzige Gegenwart, die noch vorhanden gewesen war, war eben das Gefängnis gewesen. Es war wie eine Reise in eine andere Zeit. Die bellenden
Hunde, die feuchten Gänge, die geschorenen bleichen Gefangenen, die in sich zusammengekrochen und stumm in viel zu kleinen Zellen hockten, die Luft, bei der das Atmen schwerfiel, die Schilder, die vor Tbc warnten. Es war ein seltsames Erlebnis gewesen, er hatte wohl mit niemandem darüber gesprochen, nicht einmal mit Anita. Er ging durch die Ausgangstüren des Flughafengebäudes und winkte eins der gelben Taxis heran. Sechsundzwanzig Kilometer nach Süden. Nach Klaipėda. Zu Alena Sljusareva. Zu dem, was er nicht wissen wollte. Er hatte von Arlanda aus zu Hause bei Jonas angerufen, hatte ihm guten Tag gesagt und versprochen, ihm etwas zu kaufen, etwas Geheimes, es solle doch eine Überraschung sein. Süßigkeiten. In irgendeinem Kiosk, in aller Eile, das war das Einzige, was er schaffen würde. Er hatte nur wenig Zeit in Litauen, am nächsten Morgen würde er ganz früh zurückfliegen, er wusste, was er bis dahin zu tun hatte. Das Auto fuhr langsam über die Chaussee zwischen Palanga und Klaipėda. Sven Sundkvist wollte schon protestieren, wollte den Fahrer bitten,
sein Tempo ein wenig zu steigern, aber das ließ er dann doch, er ließ sich zurücksinken, die wenigen Minuten, die er verlor, es würde mehr Kraft fordern, das zu erklären, als er an Zeit möglicherweise gewinnen könnte. Es war schön, das fand er, die Sonne hing niedrig über der Landschaft. Arm, das wusste er, acht von zehn balancierten an der Grenze dessen, was Existenzminimum genannt wird, aber es gab doch eine Art Würde, ihm gefiel das hier, was er noch nie gesehen hatte, was kein Gefängnis war. Er hatte in einer Nachrichtensendung nach der anderen die Klischees kennengelernt, so, wie wir glauben, dass es aussieht, weil wir vorher damit gefüttert worden sind, graue Menschen in grauer Kleidung in einer grauen Jahreszeit, aber hier war Sommer, da waren richtige Menschen, richtige Farben, da war richtiges Leben. Er bat, direkt zum Hotel gefahren zu werden. Er war früh dran, Einchecken war eigentlich erst nach zwölf Uhr möglich, aber das Hotel Aribė war längst nicht ausgebucht, und er wurde in ein Zimmer geführt, das leer und mit frisch bezogenem Bett bereitstand.
Er legte sich für eine Weile hin, es war das schmalste Hotelbett, das er je gesehen hatte. Nur für einige Minuten, er versuchte, sie vor sich zu sehen, die Frau, die er bald treffen würde, wie sie aussah, wie sie sprach. In der Wohnung hatte das Chaos geherrscht. Sie war außer sich gewesen, hatte geschrien, weil ihre Freundin bewusstlos auf dem Boden gelegen hatte, und weil der Mann, den sie Dimitri Scheißzuhälter nannte, nur wenige Meter danebenstand, in glänzendem Anzug und vor einem Loch in der Wohnungstür. Sven Sundkvist hatte sie dabei nicht näher mustern können, hatte keine Ahnung davon gehabt, dass er sie eine Woche darauf auf einer Videokassette wiedersehen und dass er ihr dann in einer fremden Stadt auf der anderen Seite der Ostsee gegenübertreten würde. Sie hatte dort gestanden, ein Stück von ihm entfernt, in einem Nebenzimmer, so nackt wie die Frau, die auf dem Boden gelegen hatte. Sie war dunkel gewesen, dunkler als die üblichen Prostituierten aus Osteuropa, die ihnen bei den Ermittlungen oft begegneten.
Dann war sie plötzlich verschwunden, während sie sich zuerst um die misshandelte Frau gekümmert hatten, und dann um den Zuhälter, der mit seinem Diplomatenpass herumgewedelt hatte und litauischen Boden geltend machen wollte. Seit diesem Moment war sie verschwunden gewesen. Bis sie dann im Freihafen aufgegriffen worden war, unmittelbar vor Abfahrt, auf dem Weg an Bord einer Fähre. Ewert hatte sie vernommen, einige Stunden später hatte er beschlossen, dass sie trotz allem nach Hause fahren dürfe. Sven Sundkvist stand auf, duschte, zog sich dünnere Kleidung an. Er hatte nicht gewusst, dass es so heiß sein würde, wieder hatte das graue Klischee in seinem Kopf herumgespukt. Er schaute eine Weile in seine offene Aktentasche, sah das kleine Tonbandgerät, das dort lag. Er schloss die Tasche wieder, ohne sie hochzuheben. Er würde die Frau vernehmen. Aber er würde dabei Notizen machen, Stift und Papier, er war nicht sicher, warum, hatte Angst davor, was sie sagen würde, vor ihrer Stimme, die vielleicht das erklären würde, was er nicht hören wollte.
Er spazierte durch die Stadt, die Häuser waren schön, aber sprachen von einer anderen Zeit, wie die Menschen, die ihm begegneten, er sah Lydia Grajauskaitė in ihren Gesichtern, wieder und wieder. Sie hatte ihn zum Wasser bestellt, zur Kurischen Nehrung, wo er die kleine Fähre nach Smyltinė nehmen sollte. Die Hitze, die ihn schon in Palanga empfangen hatte und ihm nach Klaipėda gefolgt war, hatte sich noch gesteigert, jetzt auf der kurzen Überfahrt merkte er, wie die Sonne in seinem Nacken brannte, er hätte sich davor schützen müssen, er musste damit rechnen, dass er am Abend knallrot verbrannt sein würde. Er sollte an Land nach rechts abbiegen, am Ufer entlanggehen, so hatte sie es ihm beschrieben. Das große Aquarium lag in einer alten Festung, achthundert Arten von Ostseefischen und ein Delphinarium, er sah die Plakate, als er das Boot verließ. Sie wollte unter Menschen sein, sie hatte gesagt, um die Mittagszeit kämen immer viele Besucher, Schulklassen, sie könnten umherlaufen und sich das ansehen, was man sich hier ansehen sollte, sie
könnten in Ruhe miteinander reden, ohne dass das irgendwem auffallen würde. Er stellte sich vor den Eingang, an die Stelle, die ihm am sinnvollsten erschien. Er schaute auf die Uhr. Er war zu früh, fast zwanzig Minuten. Er hatte nicht berechnen können, wie lange er für den Weg aus der Innenstadt zu einer Mischung aus Aquarium und Museum in einem Ort namens Smyltinė brauchen würde. Er setzte sich auf eine Bank, die nur wenige Meter von dem vereinbarten Treffpunkt entfernt stand. Die Sonne suchte sein Gesicht, er schaute die Menschen, die ihm entgegenkamen, aus zusammengekniffenen Augen an, verhielt sich wie immer, wenn er Fremde betrachtete, er suchte sich selbst. Irgendwo in dem Strom von Unbekannten war er, oder zumindest jemand wie er. Ungefähr gleich alt, eine geliebte Frau an seiner Seite, mit einem Kind, das ihr Ein und Alles war und das ein wenig vor ihnen herlief. Polizist vielleicht, vielleicht auch ein anderer Beruf, der Pflichtbewusstsein und lange Abende erforderte. So einer, der am liebsten zu Hause war und große Teile seiner Zeit fort war. So einer irgendwo in der Menge, ohne Ewerts Aggressivität,
ohne Langs Kompromisslosigkeit, ohne Grajauskaitės Fähigkeit, sich nach einer schrecklichen Kränkung zu erheben und dann Rache zu verlangen, ohne alle diese Eigenschaften, die einen Menschen zu etwas anderem machen als ziemlich vorhersagbar, ziemlich trist, ziemlich gewöhnlich. Er sah sich selbst. In mehreren Varianten. So, wie er vielleicht gewesen wäre, wenn er zufällig hier auf die Welt gekommen wäre. Er musterte gerade einen von ihnen und lächelte ihm zu, einem Mann mit kurzärmligem Hemd und dünner Anzughose, der soeben das Aquarium betrat, als sie ihm auf die Schulter tippte. Er hatte sie nicht gesehen, nicht gehört, er war in sein Suchspiel vertieft gewesen. Sie stand vor ihm, mit Sonnenbrille, T-Shirt und etwas zu großen Jeans. Ansonsten sah sie ungefähr so aus wie in seiner Erinnerung. Lange dunkle Haare, ein schönes Gesicht, nicht besonders groß. Drei Jahre als Handelsware, jeden Tag mehrmals vergewaltigt. Es war ihr nicht anzusehen, nicht von außen. Sie sah aus wie Frauen mit zwanzig eben aussehen, wenn das Leben gerade erst angefangen hat. Von außen. Das war ihm klar. Von innen war sie alt. Dort saßen die
Wunden. Das hier war die Frau, die niemals mehr wirklich heil sein würde. »Sundkvist?« »Sundkvist.« Er nickte ihr zu, stand von der Bank auf. Sie verstanden einander gut, er mit seinem noch immer angestrengten Schulenglisch, sie mit einer reicheren Sprache, einem Englisch, dessen Grundlage zwar in der Schule gelegt worden war, das sich dann aber in drei Jahren in fremder Umgebung geformt hatte und das sie dem Schwedischen vorzog. »Du hast gewusst, wer ich bin?« »Ich habe dich erkannt. Von der Wohnung her.« »Da war aber alles ziemlich chaotisch.« »Ich hätte dich trotzdem erkannt, auch wenn ich dich noch nie gesehen hätte. Ich habe gelernt, wie schwedische Männer aussehen.« Sie zeigte auf den Eingang, sie gingen hin, nebeneinander. Er bezahlte für beide, sie gingen weiter. Es fiel ihm schwer zu entscheiden, was der richtige Moment sein würde, wann er anfangen könnte, mit seinen Fragen. Sie kam ihm zu Hilfe. »Ich weiß nicht, was du wissen willst. Aber ich werde dir antworten, wenn ich kann. Ich wäre dank-
bar, wenn wir jetzt anfangen könnten, ich habe Vertrauen zu dir, ich habe in der Wohnung gesehen, wie du arbeitest, aber ich möchte es gern hinter mich bringen. Ich will nach Hause. Ich will vergessen. Verstehst du?« Sie stand vor einer Glaswand, hinter ihr gab es Wasser und einige Fische. Sie sah ihn an, bittend. Er versuchte ruhig auszusehen, ruhiger als er war, ihre Antworten, er wusste doch nichts, er hatte Angst. »Ich weiß nicht, wie lange das dauern wird. Es kommt darauf an, wie unser Gespräch ausfällt. Aber ich verstehe, was du meinst. Ich werde mir alle Mühe geben, um es kurz zu machen.« Er verstand nicht, wozu Aquarien gut sein sollen. Er verstand auch nicht, wozu Zoos gut sein sollen, eingesperrte Tiere, das sagte ihm nicht zu. Das, was sie hier umgab, die Menschen, die in Gruppen umherschlenderten, die Fische, die angeschaut werden sollten, das alles konnte er also problemlos verdrängen, er konnte Alena Sljusareva zuhören, er konnte sich auf sie und auf ihre Antworten konzentrieren.
Auf den Bericht, vor dem er sich gefürchtet hatte. Auf die Ereignisse, von denen er wünschte, dass sie niemals geschehen wären. Sie sprachen fast drei Stunden miteinander, es war eher ein Gespräch als ein Verhör. Sie erzählte von dem Tag in der Stadt, nachdem sie aus der Wohnung geflohen war, von der Freiheit, die in ihr laut wurde, von der Angst, festgenommen zu werden, von der Sorge um Lydia, die sie bewusstlos und mit zerschundenem Rücken verlassen hatte. Sie hatten geschworen, einander erst zu verlassen, wenn sie zusammen frei wären, aber in diesem Moment, als sie die Treppe hinunter und aus dem Eingang gerannt war, war sie sicher gewesen, dass sie Lydia besser helfen könnte, wenn sie weg von der Wohnung im sechsten Stock war, in der Lydia sich befand. Er unterbrach sie, wenn er etwas nicht verstand, sie erklärte, machte nie einen Versuch, ihre Geschichte zu ändern, jedenfalls hatte er nicht diesen Eindruck. Sie gingen langsam, trafen noch mehr Menschen, die noch mehr Fische anstarrten, die vor den Fens-
tern des Aquariums standen, und sie erzählte, wie sie schon nach einem Tag auf der Flucht im Hafen gestanden hatte und auf dem Weg nach Hause gewesen war, aber dass Lydia sie da aus dem Krankenhaus angerufen und sie um die Dinge gebeten hatte, die sie dann später in der Leichenhalle benutzt hatte. Sie bat mit leiser Stimme, er möge ihr glauben, als sie beteuerte, keine Ahnung gehabt zu haben, was Lydia damit vorhatte. Er blieb stehen, sah sie an, erklärte ihr, dieses Gespräch diene nicht dazu festzustellen, ob sie sich der Mithilfe zu Geiselnahme oder Mord schuldig gemacht habe. Sie erwiderte seinen Blick, fragte, worum es denn sonst gehe. »Um nichts. Und alles. Einfach darum.« Einfache Stühle und ein kleiner runder Tisch, er holte zwei Tassen Kaffee, sie setzten sich zwischen einige kinderreiche Familien mitten ins Café, große Fische auf dem blauen Wachstuch. Sie erzählte von dem Schließfach im Hauptbahnhof und von der Plastiktüte, die sie auf der Toilette der Chirurgie in einen Papierkorb gelegt hatte. Er
unterbrach sie, wollte wissen, wie viel Wahrheit sie sagte. »Welche Nummer?« »Nummer?« »Das Schließfach.« »Einundzwanzig.« »Was lag darin?« »Vor allem meine Sachen. Sie hat fast immer nur Geld genommen, wenn sie Sonderwünsche hatten.« »Sonderwünsche?« »Schlagen. Spucken. Filmen. Phantasieren.« Sven Sundkvist schluckte, er spürte ihr Unbehagen. »Und sie? Was hat Lydia dort aufbewahrt?« »Ihr Geld. In einem Karton. Und zwei Videokassetten.« »Was für Kassetten?« »Die Wahrheit. So hat sie sie genannt. Meine Wahrheit.« »Was bedeutet?« »Sie hat alles erzählt. Ich habe ihr geholfen, habe übersetzt. Wie wir nach Schweden gekommen sind. Wer mit uns gehandelt hat wie mit Gegen-
ständen. Warum sie den Polizisten gehasst hat, den sie in der Leichenhalle erschossen hat.« »Nordwall?« »Bengt Nordwall.« Sven Sundkvist erwähnte nicht, dass er zum Schließfach Nr. 21 gegangen war, dass er das Video gesehen hatte, dass er auf seinem Wohnzimmersofa gesessen und ihnen zugehört hatte. Er erwähnte nicht, dass niemand das Video sehen würde, das Lydia Grajauskaitė mit in die Leichenhalle genommen hatte, dass ein Polizist ihren Bericht hatte verschwinden lassen, um einen anderen Polizisten zu schützen. Er erzählte nicht, dass er sich schämte, weil er sich noch immer nicht entschieden hatte, ob das Verbrechen an den beiden Frauen wichtiger war als einen Kollegen und Freund anzuzeigen, ob er jemals über das sprechen könnte, was er allein wusste, dass es eine Kopie gab, dass es eine weitere Wahrheit gab. »Ich habe ihn gesehen.« »Wen?« »Ich habe ihn da in der Wohnung gesehen. Bengt Nordwall.« »Du hast ihn gesehen?«
»Und er hat mich gesehen. Ich weiß, dass er mich erkannt hat. Ich weiß, dass er Lydia erkannt hat.« Danach war es ihm schwergefallen, ihr weiter zuzuhören. Sie setzte ihren Bericht fort, und er stellte seine Fragen, war aber in Gedanken ganz woanders. Er tobte. Wie er noch nie getobt hatte. Er musste schreien. Er tat es nicht. Er war doch einer von den Tristen, den Gewöhnlichen. Er erstickte den Schrei, spürte, wie er selbst daran zu ersticken drohte. Er verstellte sich weiter, gab vor, ruhig zu sein, sich nicht vor dem zu fürchten, was sie sagte. Er wollte ihr keine Angst machen, er begriff, wie ihr Bericht an ihr fraß, wie mutig sie war. Er schrie. Er schrie und bat sie dann um Entschuldigung. Er habe Schmerzen, versicherte er, er habe nicht sie angeschrien, er habe einfach Schmerzen, hier, in der Brust. Als sie mit der Fähre zurück nach Klaipėda fuhren, wusste er alles über ihre Stunden in Freiheit, von der Flucht aus der Wohnung in der Völundsgata
bis zu ihrer Festnahme im Freihafen. Die Wut tobte ihm noch immer in Magen und Brust, und er hatte das Gefühl, dass ihr Gespräch noch immer nicht beendet war. Er wollte mehr wissen. Über die drei Jahre, darüber, wie der Menschenhandel ablief, das Geschlecht einer Frau mehrere Male am Tag zum Verkauf, damit jemand anders sich ein Auto kaufen oder das Geld auf die Bank bringen konnte. Er fragte sie, ob er sie zum Essen einladen dürfte. Sie lächelte. »Ich glaube, ich kann nicht mehr ertragen. Ich will nach Hause. Nur nach Hause. Ich war seit drei Jahren nicht mehr zu Hause.« »Du wirst in dieser Angelegenheit nie wieder von einem schwedischen Polizisten belästigt werden. Das verspreche ich dir.« »Ich verstehe nicht, warum willst du mehr wissen?« »Ich habe vor einigen Tagen mit dem litauischen Botschafter in Schweden gesprochen. Er war in Arlanda, als der Mann, den du Dimitri Scheißzuhälter genannt hast, nach Hause geschickt wurde. Er war verzweifelt. Er hat mir ein Bild davon vermit-
telt, wie groß sie ist, die Welt, aus der du jetzt geflohen bist. Ich will, dass du erzählst. Ich will lernen.« »Ich bin so müde.« »Ein Abend. Ein Gespräch.« Er wurde plötzlich rot, erkannte, dass er hier vor ihr stand, dass er ihre Aufmerksamkeit forderte, wie einer von den Schweden, die sie zu hassen gelernt hatte. »Ich bitte um Verzeihung. Das war keine Aufforderung zu mehr. Fass es bitte nicht so auf. Ich will es wirklich wissen. Und ich habe ein Kind. Ich bin verheiratet.« »Das sind sie immer.« Er ging an der alten Bierbrauerei vorbei, ging mit eiligen Schritten zurück zum Hotel Aribė. Noch eine Dusche, die Hitze musste weggespült werden. Er zog sich zum zweiten Mal um, seit er acht Stunden vorher eingecheckt hatte. Sie hatte zwei ältere Frauen, die ihnen am Fähranleger begegnet waren, um eine Restaurantempfehlung gebeten, und sie hatten einen Chinesen vorgeschlagen, Taravos Aniko, große Portionen und
man konnte in die Küche schauen und sehen, wie das Essen zubereitet wurde, wenn man einen der nächststehenden Tische erwischte. Sie saß schon da, als er kam. Dieselbe Kleidung wie im Aquarium. Sie lächelte, er lächelte, sie baten um Mineralwasser und zwei Speisekarten, in denen jemand anders schon Vorschläge machte, Vorspeise, Hauptgericht, Nachtisch, Inhalt und Preis bereits festgelegt. Sie suchte lange nach Worten, und er wollte sie nicht bedrängen. Dann fing sie irgendwo in der Mitte an und suchte sich langsam von dort ihren Weg, sie nahm ihn mit auf eine Reise in eine Welt, die er zu kennen geglaubt hatte, von der er jedoch keine Ahnung hatte, sie weinte und sie flüsterte, und schließlich sprach sie ohne Unterbrechung, zum ersten Mal beschrieb sie für einen anderen Menschen das, was ihr Erwachsenenleben gewesen war, zum ersten Mal hörte sie ihre eigenen Worte, er hörte zu und staunte über ihre Kraft, darüber, dass sie trotz allem so heil geblieben war. Er wartete, bis sie fertig war. Bis sie nicht mehr konnte. Bis sie stumm dasaß, vor sich hinstarrte.
Es war vorüber, sie war fertig, sie würde niemals mehr jemandem, der das verlangte, ihre Geschichte erzählen. Sven bückte sich, zu der Aktentasche, die zu seinen Füßen gelegen hatte. Er hob sie auf, legte sie neben einen leeren Teller auf den Tisch. »Ich habe etwas, das nicht mir gehört.« Er öffnete die Aktentasche, zog einen kleinen braunen Karton und zwei ordentlich zusammengelegte Kleider heraus. »Ich glaube, das hat Lydia gehört.« Sie sah den Karton an, die Kleider, sie wusste, woher das alles kam, trotzdem schaute sie Sven fragend an, er nickte, es war so, wie sie vermutet hatte. »Es ist jetzt leer, das Schließfach. Oder neu belegt. Ich gebe dir das hier. Ich nehme an, dass das ihre Kleider waren. Und ihr Karton. Darin liegen vierzigtausend. In Hundertern.« Alena bewegte sich nicht, sie schwieg noch immer. »Mach damit, was du willst. Behalte es oder gib es ihrer Familie, wenn sie noch eine hat.« Sie beugte sich vor und fuhr mit der Hand über den schwarzen, glänzenden Stoff.
Das Einzige, was noch übrig war. »Ich war gestern da. Ich habe ihre Mutter gesucht, Lydia hat oft von ihr gesprochen.« Sie schaute die Tischplatte an. »Sie ist tot. Sie ist vor zwei Monaten gestorben.« Sven zögerte, dann schob er Karton und Kleider über den Tisch, auf Alena zu. Er schloss seine Aktentasche, stellte sie auf den Boden. »Ich würde gern mehr über sie wissen. Wer sie eigentlich war. Ich habe einen Menschen gesehen, dessen Rücken von fünfunddreißig Peitschenhieben zerfetzt war, einen Menschen, der dann Geiseln genommen hat. Das ist alles.« Alena schüttelte den Kopf. »Nicht mehr.« »Ich kann ja irgendwie verstehen, was sie getan hat.« »Nicht heute, und auch sonst nicht mehr.« Sie blieben noch sitzen, ohne viel zu sagen, bis der Kellner sie freundlich bat, den Tisch zu verlassen, sie wollten schließen. Sie erhoben sich, wollten gerade gehen, als ein Mann von Anfang zwanzig zur Tür hereinkam und auf ihren Tisch zuging. Sven
musterte ihn eilig, groß, blond, sonnengebräunt, er trat ruhig auf, suchte keinen Konflikt. Alena ging zu ihm, küsste seine Wange, hakte sich bei ihm ein. »Janoz. Von ihm war ich weggefahren. Er war noch hier. Und dafür bin ich so ungeheuer dankbar.« Sie küsste noch einmal seine Wange, zog ihn an sich. Sie erzählte kurz, wie er in den ersten sieben Monaten nach ihr gesucht hatte, er hatte Zeit und Geld investiert, dann hatte er aufgegeben. Sie lachte. Zum ersten Mal an diesem Abend lachte sie. Sven lächelte, für einen Moment war nicht alles nur Hoffnungslosigkeit. »Lydia? Hatte sie niemanden?« »Er hieß Vladi.« »Und?« »Er hat sein Geld mit ihr verdient.« Sie sagte nicht mehr, er fragte nicht mehr. Sie trennten sich vor dem Eingang, und Sven Sundkvist wiederholte sein Versprechen, dass sie in dieser Angelegenheit nun niemals wieder mit einem schwedischen Polizisten sprechen müsste. Sie ging einige Schritte, dann drehte sie sich um.
»Noch etwas.« »Ja, sicher.« »Da draußen beim Aquarium. Die Vernehmung. Ich habe eigentlich nicht verstanden, wozu die gut sein sollte.« »Es geht um ein Verbrechen. Die Polizei, wir untersuchen immer, wenn so etwas geschehen ist.« »Das kann ich schon verstehen. Dass ihr wissen wollt. Aber das andere, ihr wisst schon.« »Was meinst du?« »Es war doch die gleiche Vernehmung wie mit dem anderen Polizisten.« »Wem?« »Dem Älteren. Dem, der mit dir in der Wohnung war.« »Der heißt Grens.« »Ja, der.« »Die gleiche Vernehmung?« »Alles, was ich dir beim Aquarium erzählt habe, habe ich auch ihm erzählt. Dieselben Fragen, dieselben Antworten.« »Alles?« »Alles.«
»Über deinen Kontakt zu Lydia? Über euer Gespräch, als sie in der Leichenhalle war? Wie du das Video aus dem Schließfach geholt hast? Wie du Waffe und Sprengstoff geholt hast? Wie du eine Plastiktüte auf der Toilette der Chirurgie hinterlegt hast?« »Alles.« Es war zwei Uhr, als er sich in das kleine Bett legte. Er hatte nichts für Jonas gekauft. Er würde zwei Stunden schlafen, dann in die Johanniskirche gehen, um dort, wo Lydia Grajauskaitės Mutter begraben war, eine Kerze anzuzünden, dann wollte er zum Flugplatz fahren und die erste Maschine nach Stockholm nehmen. Auf dem Flugplatz gab es Süßigkeiten, im zollfreien Laden, er würde Gummibärchen und Schokolade in knallbuntem Papier kaufen können. Er lag still in der Dunkelheit, das Fenster war geöffnet. Klaipėda verstummte. Er wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Er musste sich entscheiden. Er hatte die Wahrheit, jetzt musste er entscheiden, was er damit anfangen wollte.
Sonntag, 9. Juni
Die beiden Neuen waren kein überwältigender Probefick gewesen. Noch fast so unschuldig wie in der kleinen Kabine auf der Fähre. Aber sie machten sich. Es war jetzt der dritte Tag in der Wohnung in der Völundsgata. Sie würden es bald jede auf zwölf bringen, wie diese verrückte Grajauskaitė und ihre verdammte Freundin es geschafft hatten, ehe sie durchgedreht und Amok gelaufen waren. Aber es fehlte noch etwas, wie er fand. Sie mussten besser spielen. Geilheit. Das war wichtig. Die, die bezahlten, mussten auch spüren, dass sie begehrt wurden, dass sie schön waren. Sie mussten das Gefühl haben, dass sie für eine Weile zu zweit waren, zusammen, sonst könnten die Männer ja auch gleich ins Waschbecken wichsen. Er schlug sie ein wenig, das schon, das machte sie sanfter. Nur noch ein paar Tage, dann würden sie nicht mehr so verdammt viel weinen, er konnte das nicht ertragen, alle Neuen, immer dieses Scheißflennen.
Er vermisste die Professionalität von Grajauskaitė und Sljusareva. Sie zogen sich aus, und sie machten es gut. Aber es war schön, von ihrem höhnischen Grinsen verschont zu bleiben, das hatte er immer häufiger gesehen, es war schön, nicht mehr Dimitri Scheißzuhälter hören zu müssen, sobald er zuschlug. Bald würden die Ersten kommen. Gleich nach acht. Sie kamen direkt von zu Hause, von ihrer Frau, die langsam fett wurde, und sie wollten etwas anderes erleben, ehe sie zur Arbeit gingen. An diesem Tag würde er ihnen zusehen. Es sollte ihr Examen sein. Danach würde er wissen, ob sie endlich richtig ficken konnten oder ob er sie noch weiter unterrichten musste. Er würde mit der anfangen, die Grajauskaitės Zimmer bezogen hatte. Er hatte sie ganz bewusst dort untergebracht, sie ähnelten einander, das machte den Kunden den Übergang leichter. Sie machte sich fein, genau, wie er ihr das befohlen hatte. Sie zog die Unterwäsche an, die der Freier bestellt hatte. Das sah gut aus.
Es wurde an die Tür geklopft. Sie schaute in den Spiegel, sie ging zu dem elektronischen Schloss, das ausgeschaltet war, jetzt, wo er sie überwachte, sie öffnete. Sie lächelte den Freier an, er trug einen grauen Anzug, der zu glänzen schien, hellblaues Hemd, schwarzer Schlips. Das Lächeln. Sie lächelte, auch als er spuckte. Genauer gesagt, er ließ es fallen, vor ihre Füße, vor die schwarzen Schuhe mit den hohen Absätzen. Er zeigte darauf. Mit geradem Finger, nach unten. Sie bückte sich, lächelte noch immer zu ihm hoch, wie es ihr befohlen worden war. Langsam stützte sie sich mit den Armen ab, sank fast in sich zusammen, ihre Nase streifte den Boden, die Zunge auf dem Kalten, als sie den Speichelklumpen in den Mund nahm, hinunterschluckte. Dann erhob sie sich, blinzelte. Er schlug mit offener Hand zu. Sie lächelte, die ganze Zeit lächelte sie den Freier an, wie Dimitri es ihr beigebracht hatte. Dimitri war zufrieden mit dem, was er da sah, er hob für den Mann im grauen Anzug den Daumen, und der Mann erwiderte die Geste. Sie war akzeptiert.
Jetzt konnte er richtige Buchungen vornehmen. Lydia Grajauskaitė existierte nicht mehr, nicht einmal hier. Er hatte immer in dem Augenblick Angst, in dem das Flugzeug zur Landung ansetzte. Der Knall, wenn das Fahrgestell ausgefahren wurde, der Boden, der durch die schmalen Fenster jetzt deutlich zu sehen war, der erste Kontakt mit dem Asphalt. Und es wurde nicht besser. Die Furcht wuchs mit jedem Flug, und solche Maschinen, fünfunddreißig Sitzplätze, zu eng, um sich aufzurichten, er bereute immer schon, noch ehe das Fahrgestell zu etwas geworden war, das eilig über eine Landebahn rollte. Sven Sundkvist atmete auf. Er verließ das Flugzeug, verließ Arlanda, gute anderthalb Stunden Autofahrt nach Stockholm, wenn die nördlichen Vororte einigermaßen leicht zu passieren waren. Seine Gedanken bekam er nur schwer in den Griff. Er war für eine Weile sechzehn Jahre alt und bei Anita, die er eben kennengelernt und zum ersten Mal nackt umarmt hatte, und er war bei Jochum Lang, der im Treppenhaus im Söderkrankenhaus
stand und Hilding Oldéus umbrachte, und bei Lydia Grajauskaitė, die neben dem Mann, den sie hasste, auf dem Boden der Leichenhalle lag, und bei Jonas, als sie ihn in Phnom Penh geholt hatten, als er ein Jahr alt war, und der zwei Wochen darauf Papa zu ihm gesagt hatte, und bei Alena Sljusareva, die in einem weiten roten T-Shirt in einem chinesischen Restaurant in Klaipėda saß und über eine drei Jahre lange Erniedrigung berichtete und ... Überall, nur um nicht an Ewert denken zu müssen. Bei Sollentuna Straßenarbeiten, zwei Fahrspuren wurden zu einer und zu einer langen Schlange. Er schaltete in einen niedrigeren Gang, schaltete höher, schaltete niedriger, blieb stehen. Er sah die Leute in seiner Umgebung an, die das Gleiche machten, die in ihren Autos saßen und darauf warteten, dass die Zeit verging. Sie starrten allesamt geradeaus, hatten sicher ihre eigenen Rechnungen aufzustellen, mussten an ihren eigenen Ewert denken. Er zitterte am ganzen Leib, wie man das manchmal vor Widerwillen macht. Er beschloss, weiter zu fahren als geplant, weiter durch die Stadt nach Süden zu fahren, da wohnte sie doch, Lena Nordwall.
Er brauchte mehr Zeit. Die Holzbank war hart, er hatte schon früher dort gesessen, immer mehrere Stunden am Stück, bei sinnlosen Überredungsversuchen, bei leugnenden Gaunern. Jetzt war es still in dem heruntergekommenen Gerichtssaal, sie waren allein, saßen ganz hinten und warteten. Ewert Grens fühlte sich wohl in dem alten Hochsicherheitssaal im Gerichtsgebäude, trotz der harten Bänke und der plappernden Juristen, wenn er hergekommen war, sozusagen als Quittung, seine Ermittlungsarbeiten hatten ein Ergebnis erbracht, würden einen Abschluss finden. Er schaute auf die Uhr. Noch fünf Minuten. Dann würden die Wärter die Türen öffnen, sie würden Lang herausholen, ihm erklären, dass er sich zu der Haftprüfung hinsetzen sollte, die der Anfang einer langen Gefängnisstrafe sein würde. Grens drehte sich zu Hermansson um, die hinter ihm saß. »Gutes Gefühl, was?« Er hatte sie um ihre Begleitung gebeten, Sven, der spurlos verschwunden war, meldete sich auch
nicht am Telefon, Bengt, der auf dem Boden gelegen hatte, und Lena, die er nicht richtig trösten konnte, es tat gut, hier mit einem anderen Menschen zu sitzen, und es tat gut, dass dieser Mensch Hermansson war. Er musste es sich widerwillig eingestehen, er mochte sie. Sie hätte ihn mit ihren Andeutungen, dass er Probleme mit Polizistinnen oder mit Frauen überhaupt habe, wütend machen sollen, aber sie war dabei so ruhig gewesen, so sachlich, vielleicht ganz einfach, weil sie Recht hatte. Er wollte sie auffordern, sich zu überlegen, ob sie nach Ablauf ihrer Vertretungszeit nicht in Stockholm bleiben wollte, er hoffte, mehr mit ihr arbeiten zu können, vielleicht auch mehr mit ihr zu sprechen: Sie war so jung, und er kam sich fast schmierig vor, als er das dachte, aber es ging hier nicht um einen alten Sack, der eine junge Frau begrabschen möchte, er war eher darüber überrascht, dass es doch noch Menschen gab, die er kennenlernen wollte. »Gutes Gefühl, ja. Ich weiß ja, was wir haben, es wird reichen. Lang und die Geiselnahme in der Leichenhalle, es hat sich wirklich gelohnt hierherzukommen, nach Stockholm.«
Ein Gerichtssaal wirkt nackt ohne Richter, Jury, Staatsanwälte, Verteidiger, Angeklagte, Geschädigte, neugieriges Publikum. Ohne das Drama, das zu einem Verbrechen gehört und das nun in Worte gekleidet werden sollte, das zu Übergriffen und Hilflosigkeit gehörte, jedes Wort soll eigentlich dazu führen, die Erniedrigung noch einmal zu empfinden und sie auszumessen. Ohne das alles ist der Saal tot. Grens sah sich um, die düsteren Holzwände, die großen verdreckten Fenster zur Scheelegata, der viel zu schöne Kronleuchter, der Geruch wie von alten Gesetzbüchern. »Es ist schon komisch, Hermansson. Berufsverbrecher wie Lang. Ich arbeite schon mein ganzes Leben mit ihnen, aber ich begreife jetzt nicht mehr als zu Anfang. Sie haben ihr Verhalten, bei Vernehmungen, vor Gericht. Sie schweigen. Egal, was wir sagen, egal, was wir fragen, sie schweigen. Weiß ich nicht. Nie von gehört. Sie streiten alles ab. Und ich glaube verdammt nochmal, dass diese Strategie sich bezahlt macht. Es ist doch unsere Aufgabe zu beweisen, dass sie das getan haben, was sie unserer Ansicht nach eben getan haben.«
Ewert Grens hob den Arm, zeigte auf die Wand, die ihnen gegenüberlag, auf eine Tür aus dem gleichen dunklen, schweren Holz wie die Wandtäfelung. »In einigen Minuten wird Lang dort hereinkommen. Er wird sein verdammtes Spiel spielen. Er wird schweigen, alles abstreiten, murmeln, ich weiß nicht, und deshalb, deshalb Hermansson, wird er gerade dieses Mal verlieren. Gerade dieses Mal wird sein Spiel sich als der größte Irrtum seines Lebens erweisen. Denn so ist es eben. Ich glaube, dass er unschuldig ist, jedenfalls war es kein Mord.« Sie schaute ihn überrascht an, und er wollte gerade erklären, als die Holztür geöffnet wurde und vier Wärter zusammen mit zwei bewaffneten uniformierten Polizisten hereinkamen. Sie führten Jochum Lang zwischen sich, er trug Handschellen und die blaue Anstaltskleidung, die schlotternd an ihm nach unten hing. Lang sah sie sofort, und Ewert Grens hob die Hand, winkte und lächelte. Dann drehte er sich zu Hermansson um, senkte die Stimme. »Ich habe ja den technischen Bericht und Errfors’ Obduktionsrapport gelesen, und ich glaube nicht
mehr, dass es Mord war. Ich glaube, es waren fünf gebrochene Finger und eine Kniescheibe, das war sein Auftrag. Ein Tod war weder bestellt noch bezahlt worden, ich glaube, dass Hilding Oldéus selbst diese Treppen hinunter und gegen die Wand gefahren ist.« Ewert zeigte demonstrativ in Jochum Langs Richtung. »Aber nun sieh dir Lang an, diesen Dummkopf. Diesmal wird er sich zehn Jahre Gefängnis wegen Mordes erschweigen, während er sich eigentlich zweieinhalb wegen schwerer Körperverletzung herbeireden könnte.« Wieder winkte Grens in die Richtung, die er hasste. Langs Blick, dieselbe Kraft wie am Vortag, als sie in der Zelle ihre Kräfte miteinander gemessen hatten. Hinter ihm, hinter dem rasierten Schädel, kamen weitere Menschen in den Saal, Ågestam zuletzt, er nickte Grens zu, und der nickte zurück. Für einen Moment fragte Grens sich, was der junge Staatsanwalt wohl dachte, er dachte an ihre Begegnung, an die Lüge, die er ihm serviert hatte. Er verdrängte diesen Gedanken, er musste ihn doch ver-
drängen, jetzt flüsterte er, beugte sich zu ihr hinüber, ehe er weiterredete. »Ich weiß, dass es so ist, Hermansson. Das war verdammt nochmal kein Mord. Aber du kannst mir glauben, ich werde keinen Finger rühren, um irgendwen davon zu überzeugen. Der soll eingebuchtet werden, Herrgott, und wie der eingebuchtet werden soll.« Dimitri war zufrieden. Beide waren jung, ihre Haut war glatt und weich, und sie fickten richtig gut. Er hatte sie auf Ratenzahlung gekauft und hatte schon frühzeitig beschlossen, die Zahlungen einzustellen, wenn sie nicht funktionierten. Aber sie funktionierten. Und er würde weiter bezahlen. Der Bulle war jetzt weg. Aber die Frau, die mit ihm zusammengearbeitet hatte, hatte ihre Sache auch ohne ihn sehr gut gemacht. Sie hatte zwei neue Nutten geliefert, genau wie abgemacht. Sie wartete auf ihn. Sie wollte die zweite Rate. Die Nutten kosteten dreitausend Euro pro Stück. Sie würde jetzt ein Drittel erhalten. Er öffnete die Tür des Eden. Eine nackte Frau auf einer Bühne, die Brüste an eine aufblasbare Puppe
geschmiegt, Beischlafbewegungen mit dem Unterleib, sie stöhnte, sie wimmerte ein wenig, und die Männer im Publikum, und mit einer Ausnahme bestand das Publikum nur aus Männern, saßen an ihren Tischen und griffen sich in den Schritt. Sie saß an ihrem üblichen Platz. Ganz hinten, in einer Ecke, bei der Tür zum Notausgang. Er ging zu ihr, sie nickten einander zu. Immer derselbe Trainingsanzug. Immer dieselbe Kapuze über dem Kopf. Sie wollte von ihm Ilona genannt werden. Das tat er, auch wenn es ihm auf die Nerven ging. So hieß sie ja schließlich nicht. Er reichte ihr den Umschlag mit dem Geld. Sie zählte nicht nach, nahm den Umschlag einfach und steckte ihn in ihre Handtasche. In einem Monat. In einem Monat, die nächste Rate. Und danach würden sie ihm gehören, wären sein Eigentum, alle beide. Ewert Grens erhob sich, machte Hermansson durch eine Handbewegung klar, dass sie mit ihm kommen sollte, dann verließ er gleich nach Ende
des Haftprüfungstermins den Gerichtssaal. Er lief über die Steintreppen drei Stockwerke hinunter, durch den Gang, der zur Tiefgarage führte. Hermansson fragte, wohin es denn gehen sollte, und er antwortete, gleich, gleich wirst du es verstehen. Er keuchte vor Anstrengung, aber er blieb erst stehen, als der warme Staub der Garage ihn umgab. Er suchte etwas, fand es, ging zu der Metalltür, die auch zu den Fahrstühlen zur U-Haft führte. Dann blieb er vor dem Ausgang stehen. Er wusste ja, dass sie hier vorbeikommen würden, dass Jochum Lang aus dem alten Hochsicherheitssaal hier vorbeigeführt werden musste, um in seine Zelle gebracht zu werden. Er brauchte nur einige Minuten zu warten. Lang, die vier Wärter, die beiden Polizisten, alle gingen durch die Garage und steuerten die Metalltür an. Ewert Grens ging ihnen einige Schritte entgegen, er bat sie alle, Lang für einen Moment allein zu lassen, nur einige Meter weiterzugehen. Sie erfüllten seinen Wunsch, der verantwortliche Wärter tat es nicht gern, aber er kannte Grens und wusste, dass der immer seinen Willen durchsetzte.
Sie starrten einander an, wie sie es sich zur Gewohnheit gemacht hatten. Grens wartete auf eine Reaktion von Lang, aber der blieb einfach nur stehen, mit Handschellen, sein hoch gewachsener Körper wiegte sich hin und her, als ob er sich nicht entscheiden könnte, ob er weitergehen oder bleiben wollte. »Du blöder Arsch.« Sie standen so nah beieinander, Grens brauchte nur zu flüstern, um von Lang gehört zu werden. »Du hast die Klappe gehalten. Wie du es immer machst. Aber in U-Haft musst du trotzdem. Und danach wirst du verurteilt werden. Ich weiß ja, dass du Oldéus nicht ermordet hast. Aber was werden die Leute wohl glauben, verdammt nochmal? Solange du dich wie ein Dieb aufführst und wie ein Dieb denkst, solange du leugnest und schweigst, wird dich das wohl so an die sechs, sieben Jahre mehr kosten, als du sonst gekriegt hättest. Meinen Glückwunsch.« Ewert Grens blieb stehen und winkte die Wärter wieder herbei. »Das wollte ich nur kurz sagen, Lang.« Jochum Lang sagte nichts, bewegte sich nicht,
schaute Grens nicht hinterher, als der weiterging. Erst als die Wärter die Metalltür geöffnet hatten und er hinausgeführt wurde, als Grens rief, er solle sich umdrehen. Lang drehte sich um und spuckte aus, als der Kriminalkommissar schrie und fragte, ob er sich an die Leibesvisitation einige Tage zuvor erinnern könne, ob er noch wisse, wie er Grens wegen eines toten Kollegen verspottet und wie er danach einen Kussmund gemacht hatte. Grens schrie, weißt du noch, und dann kamen sie, die Küsse, als Retoursendung durch die Luft, Grens verzog den Mund und schmatzte laut, während Lang zum Fahrstuhl und zur Zelle geführt wurde. Sven Sundkvist hielt in einer Reihenhausstraße voller Hockey spielender Kinder, zwischen zwei selbst gebastelten Toren, die jeglichen Verkehr blockierten. Sie hatten den Wagen näher kommen sehen, aber sie achteten nicht weiter darauf, er hatte gewartet, während zwei Wichte von vielleicht neun Jahren am Ende laut geseufzt und dem alten Kerl, der unbedingt vorbeiwollte, Platz gemacht hatten.
Er wusste es jetzt. Lydia Grajauskaitė hatte töten wollen. Und dann selbst sterben wollen. Als sie zeigen wollte, warum, als sie ihre Schande beschreiben wollte, hatte Ewert sie daran gehindert. Wer hatte ihm dieses Recht gegeben? Lena Nordwall saß im Garten. Die Augen geschlossen, ein Radio auf dem Tisch, Musik von einem Dudelsender mit Jingles, die fast ununterbrochen Frequenz und Sendernamen wiederholten. Er hatte sie seit dem Abend, an dem sie die Todesnachricht überbracht hatten, nicht mehr gesehen. Ewert wollte die Frau eines Freundes und ihre Kinder beschützen. Aber er hat einer Toten das Recht genommen, zu sprechen. »Hallo.« Es war warm, er schwitzte, aber sie saß in einer dunklen langen Hose und einer Jeansjacke über einem langärmligen Pullover in der Sonne. Sie hatte ihn nicht gehört, er ging auf sie zu, und sie fuhr zusammen. »Du hast mich erschreckt.« »Verzeihung.« Sie bewegte einen Arm, forderte ihn zum Sitzen auf. Er verschob den Stuhl, auf den sie gezeigt
hatte, stellte ihn so, dass er vor ihr sitzen konnte und die stechende Sonne im Rücken hatte. Sie sahen einander an, er hatte angerufen und gebeten, sie besuchen zu dürfen, er musste sprechen. Es war schwer. Er kannte sie ja eigentlich nicht. Sie waren sich begegnet, das aber immer zusammen mit Bengt und Ewert, auf irgendwelchen Geburtstagsfeiern oder zu ähnlichen Anlässen. Sie war eine von den Frauen, bei denen er sich dumm und hässlich vorkam, die ihn verlegen machten und nach Worten suchen ließen, die er eben noch gewusst hatte. Er wusste nicht, warum, sie war zwar schön, aber er hatte sonst keine Probleme damit, mit schönen Frauen zu sprechen, sie strahlte jedoch etwas aus, das ihn unsicher und klein werden ließ, bei manchen Menschen war das eben so. »Es tut mir leid, dass ich störe.« »Jetzt bist du hier.« Er sah sich um. Er hatte schon einmal in diesem Garten gesessen, einige Jahre zuvor, Ewert war fünfzig geworden, und Bengt und Lena hatten zum Geburtstagsessen eingeladen, es war die einzige Feier gewesen, die Ewert gestattet hatte. Er hatte zwischen Sven und Anita gesessen, Jonas war klein
gewesen und hatte mit den Kindern der Nordwalls im Gras getobt. Sonst waren keine Gäste da gewesen. Ewert war den ganzen Abend ziemlich schweigsam gewesen, er hatte sich aber über dieses Fest gefreut, das hatte Sven gespürt, trotzdem hatte er sich unbehaglich gefühlt in der Rolle dessen, dem hier zugejubelt wurde. Sie fuhr immer wieder mit der Hand über den Ärmel ihrer Jeansjacke. »Ich friere so.« »Jetzt?« »Ich friere, seit ihr vor vier Tagen hier wart.« Er seufzte. »Verzeihung. Das hätte ich begreifen müssen.« »Ich sitze dick angezogen in der Sonne, bei fast dreißig Grad, und ich friere. Verstehst du das?« »Ja. Ich kann das wohl verstehen.« »Ich will nicht frieren.« Plötzlich sprang sie auf. »Möchtest du einen Kaffee?« »Das ist nicht nötig.« »Nein. Aber möchtest du?« »Danke.« Sie lief durch die Verandatür, er hörte, wie sie
Wasser aufsetzte und Tassen hervorholte. Die Hockeykinder johlten auf der Straße, vielleicht war ein Tor gefallen, vielleicht hatte sich ein weiterer alter Kerl mit seiner Karre den Weg durch ihr Stadion erzwungen. Große Gläser, die Milch wie Schaum oben, wie man es in solchen Cafés serviert bekam, die zu besuchen er keine Zeit hatte. Er trank, stellte das Glas auf den Tisch. »Wie gut kennst du Ewert eigentlich?« Sie sah ihn an, musterte ihn, mit diesem Blick, der ihn unsicher machte. »Sitzen wir deshalb hier? Um über Ewert zu reden?« »Ja.« »Ist das hier eine Art Vernehmung?« »Durchaus nicht.« »Was ist es denn dann?« »Ich weiß nicht.« »Du weißt nicht?« »Nein.« Sie fuhr wieder mit den Händen über ihre Ärmel, sie schien noch immer zu frieren. »Ich verstehe nicht, wovon du redest.«
»Ich wünschte, ich könnte deutlicher sein. Aber das kann ich nicht. Du musst das hier als meine privaten Überlegungen betrachten. So weit entfernt von polizeilicher Arbeit, wie das überhaupt nur möglich ist.« Sie trank, wartete, bis ihr Glas ganz leer war. Er war der älteste Freund meines Mannes.« »Das weiß ich. Aber wie gut kennst du ihn?« »Es ist nicht so leicht, ihn kennenzulernen.« Sie wollte, dass er ging. Sie konnte ihn nicht leiden. Das wusste er. »Nur noch einen Moment. Bitte, versuch es.« »Weiß Ewert, dass du hier bist?« »Nein.« »Warum nicht?« »Wenn er es wüsste, würde ich deine Antworten nicht brauchen.« Die Sonne brannte weiter. Sein Rücken war schon durchweicht. Er hätte lieber anderswo gesessen, aber er blieb sitzen, die Anspannung zwischen ihnen war auch so schon groß genug. »Hat Ewert mit dir gesprochen? Über das, was in der Leichenhalle passiert ist? Das, was mit Bengt geschehen ist?«
Sie hatte ihn nicht gehört, Sven sah sie an. Sie zeigte auf ihn, hielt die Hand in der Luft, bis er sich überaus unwohl fühlte. »Da hat er gesessen.« »Was?« »Bengt. Als ihr ihn geholt habt. In die Leichenhalle.« Er hätte nicht herkommen dürfen. Sie hätten sie in Ruhe lassen müssen, mit ihrer Trauer. Aber er suchte ein anderes Bild von Ewert, das gute Bild, sie müsste es ihm geben können. Er wiederholte seine Frage. »Hat Ewert mit dir gesprochen? Über das, was mit Bengt passiert ist?« »Ich habe keine Fragen gestellt. Er hat nicht mehr gesagt, als ich auch in der Zeitung lesen konnte.« »Sonst nichts?« »Ich will dieses Gespräch nicht mehr fortsetzen.« »Du hast nicht gefragt, warum sie gerade auf Bengt geschossen hat, diese Prostituierte?« Sie schwieg, lange. Er hatte mit seiner Frage gezögert, er war gekommen, um diese Frage zu stellen, jetzt war es geschehen.
»Was sagst du da?« »Hat Ewert mit dir darüber gesprochen, warum sie gerade Bengt ermordet hat?« »Weißt du etwas?« »Ich habe dich gefragt.« Sie sah ihn an, mit Augen, die seine nicht losließen. »Nein.« »Und du hast das auch nicht wissen wollen?« Es kam plötzlich, ihr Weinen. Sie saß in ihrem Gartensessel, in sich zusammengesunken, klein, sie zitterte vor Trauer. »Ich habe es wissen wollen. Und ich habe ihn gefragt. Aber er hat nichts gesagt. Einfach nichts. Es war ein Zufall. Das hat er gesagt. Es hätte jeder sein können. Es wurde Bengt.« Etwas bewegte sich hinter ihm. Sven Sundkvist drehte sich um, das Mädchen war nicht alt, jünger als Jonas, vielleicht fünf, vielleicht sechs Jahre. Sie war aus dem Haus gekommen, in weißem, kurzärmligem Hemd und rosa Shorts. Sie blieb vor ihrer Mama stehen, begriff, dass die außer sich war. »Was ist los, Mama?« Lena Nordwall beugte sich vor, zog sie an sich.
»Nichts, Herzchen.« »Du weinst. War der Mann das? Ist der gemein?« »Nein. Er ist nicht gemein. Wir unterhalten uns nur.« Das weiße T-Shirt und die rosa Shorts drehten sich um, große Augen schauten Sven lange an. »Mama ist traurig. Papa ist tot.« Er schluckte, er lächelte, versuchte, ernst und lieb zugleich auszusehen. »Ich habe deinen Papa gekannt.« Sven Sundkvist sah schweigend die Frau an, die seit vier Tagen mit ihren beiden Kindern allein war. Er ahnte den Schmerz, den sie empfand. Er begriff, warum Ewert sich dafür entschieden hatte, sie zu beschützen, warum er zu dem Entschluss gelangt war, dass sie das, was die Wahrheit war, nicht brauchte. Ewert Grens konnte nicht bis zum nächsten Tag warten. Er sehnte sich nach ihr. An diesem Sonntag war nicht viel Verkehr, und er hatte die Stadt bald hinter sich gebracht. Der Värtaväg war fast verlassen, und er hörte sich mit dem Kassettenrekorder des Autos Siw an, er sang mit lauter Stimme den Refrain mit, als er über die
Lidingöbrücke fuhr, aber er sah nicht den Regen, der plötzlich wieder zu Boden fiel. Der sonst leere Parkplatz war voll besetzt. Er verstand das nicht sofort, bildete sich ein, sich verfahren zu haben, aber dann ging ihm auf, dass er noch nie an einem Sonntag hier gewesen war, am üblichen Besuchstag. Ein überraschter Blick in der Rezeption, die Pflegerin kannte ihn und erkannte ihn doch nicht, es war der falsche Tag, er hatte doch am nächsten Tag kommen wollen. Er lächelte sie an und freute sich über ihre Überraschung, dann ging er weiter in die übliche Richtung. Sie rief hinter ihm her, bat ihn, stehen zu bleiben. »Sie ist nicht da.« Er hörte zuerst nicht, was sie gesagt hatte. »Sie ist nicht da. In ihrem Zimmer.« Er stand ganz still da. Sie brauchte einen Moment, um Atem zu holen und weiterzusprechen, er hatte wieder dieses Gefühl, das er nur damals verspürt hatte, zu sterben. »Auf der Terrasse. Es ist doch Sonntag. Nachmittagskaffee. Wir versuchen, draußen zu sitzen,
Sommer ist schließlich Sommer, und wir haben ja große Sonnenschirme.« Er hörte nicht. Die junge Pflegerin redete, und er hörte nicht. »Gehen Sie doch einfach nach draußen. Sie wird sich freuen.« »Warum ist sie nicht in ihrem Zimmer?« Ihm war schwindlig. Die Sonne gleißte unmittelbar vor der Eingangstür, er setzte sich, zog sein Jackett aus, legte es sich aufs Knie. »Ist alles gut?« Die Pflegerin hockte vor ihm. Er sah sie. »Auf der Terrasse?« »Ja.« Vier große Sonnenschirme mit Eisreklame überdachten einen großen Teil des Holzbodens. Ewert erkannte zwei Angehörige des Personals und alle, die in Rollstühlen oder mit einem Gehgerät warteten. Sie saß fast in der Mitte. Vor sich eine Kaffeetasse, in der Hand ein halbes Zimtbrötchen. Sie lachte, wie ein Kind lacht, er konnte es hören, obwohl der Regen auf die Sonnenschirme prasselte und obwohl einige andere zusammen ein Lied sangen. Er
wartete, bis sie mit Singen fertig waren, es hörte sich an wie ein Stück von Taube. Er ging weiter, seine Schultern waren jetzt nass, sein Rücken auch. »Hallo.« Er hatte eine von denen in den weißen Kitteln gesucht, eine Frau in seinem Alter, die freundlich lächelte. »Willkommen. Und noch dazu an einem Sonntag.« Sie drehte sich zu Anni um, die sie ansah, ohne sie zu erkennen. »Anni. Besuch für dich.« Ewert ging zu ihr, berührte ihre Wange mit der Hand, wie er das immer machte. »Kann ich ein Stück mit ihr zur Seite gehen? Wir haben etwas zu besprechen. Gute Nachrichten.« Die Pflegerin erhob sich, schob den Hebel zurück, der die Räder an Annis Rollstuhl blockierte. »Natürlich. Wir sind schon eine ganze Weile hier. Und wer Herrenbesuch hat, soll doch nicht zwischen uns Frauenzimmern sitzen müssen.« Sie trug heute ein anderes Kleid, ein rotes, er hatte es vor langer Zeit gekauft. Es regnete noch immer, aber nicht mehr so heftig, sie wurde auf der kurzen Strecke unter freiem Himmel zwischen den Son-
nenschirmen und dem Dachvorsprung am Haupthaus kaum nass. Er ging hinter ihr, schob den Rollstuhl durch die Eingangstür und durch das Foyer und auf ihr Zimmer. Sie saßen da wie immer. Sie mitten im Zimmer, er auf dem Stuhl neben ihr. Er streichelte wieder ihre Wange, küsste ihre Stirn. Er suchte ihre Hand, drückte sie und hatte fast das Gefühl, dass sie diesen Druck erwiderte. »Anni.« Er sah sie an, wollte sicher sein, dass sie ihn ansah, ehe er weitersprach. »Jetzt ist es vorbei.« Es war ein Uhr, und Dimitri hatte ihr eine Stunde Pause versprochen. Sie hatte seit dem Morgen die Beine breitgemacht, seit der Mann gekommen war, der auf den Boden gespuckt hatte, den sie anlächeln musste, während sie die Spucke aufleckte. Sie weinte. Sieben Männer waren nach ihm in sie eingedrungen. Vier standen noch aus. Zwölf Stück an jedem Tag. Der letzte würde kurz nach halb sieben kommen. Eine Stunde Pause.
Sie lag auf dem Bett in dem Zimmer, das sie jetzt für ihres hielt. Es war eine schöne Wohnung im sechsten Stock, in einem ganz normalen Wohnhaus. Zwei Männer hatten sie Lydia genannt. Sie hatte gesagt, dass sie so nicht hieß, aber die Männer hatten erklärt, dass sie für sie eben doch so hieß. Sie wusste jetzt, dass Lydia die Frau war, die vor ihr dieses Zimmer bewohnt hatte. Dass diese Männer Lydias Kunden gewesen waren. Und dass sie sie geerbt hatte. Dimitri schlug sie nicht mehr so oft. Er hatte gesagt, dass sie jetzt langsam lernte. Sie musste mehr lernen, das sagte er, es fehlte wohl noch etwas, sie sollte stöhnen, wenn sie das Organ der Männer in sich aufnahm, zwischendurch auch mal ein wenig wimmern, das gefiel den Freiern, dann hatten sie das Gefühl, nicht bezahlt zu haben. Sie weinte nur, wenn sie allein war. Er schlug sie, wenn er das sah. Sie hatte eine Stunde Pause, sie hatte die Tür geschlossen, sie wollte weinen, bis die Pause zu Ende wäre, bis sie wieder schön sein musste, bis sie den
Spiegel anlächeln und die Hand auf ihr Geschlecht legen musste, wie der, der um zwei Uhr kam, das wollte. Ewert Grens saß erst seit etwa einer Stunde in seinem Zimmer. Trotzdem war er unruhig, konnte sich nicht konzentrieren. Er ging zur Toilette, er holte sich Kaffee aus dem Automaten auf dem Flur, er war zweimal in der Rezeption gewesen und hatte sich eine Pizza bestellt, sonst nichts, nur das enge Bürozimmer mit der geschlossenen Tür. Er schien zu warten. Er tanzte zu Siw Malmkvist über die Bodenfläche zwischen Schreibtisch und Besuchersessel und hörte nur ihre weiche Stimme. Er hatte keine Ahnung, wo Sven sich herumtreiben mochte. Von Ågestam hatte er kein Wort gehört. Er drehte lauter, bald würde es wieder Abend sein, und er begriff kaum, wie das vor sich gegangen war, das Zimmer war heiß durch die Sonne, die fast den ganzen Tag durch das Fenster geschienen hatte, und er schwitzte, als er sich im Rhythmus der sechziger Jahre bewegte.
Du fehlst mir, Bengt. Du hast auf uns geschissen. Kapierst du das! Lena weiß nichts. Nichts weiß sie. Du hattest sie. Du hattest die Kinder. Du hattest etwas! Er ging zum Kassettenrekorder, schaltete ihn aus, nahm die Kassette heraus. Er schaute sich um. Nicht heute Nacht. Nicht hier heute Nacht. Er verließ das Zimmer, den menschenleeren Gang, er öffnete die Eingangstür, schnappte frische Luft. Er ging zum Parkplatz, zu dem Auto, das dort wie immer unverschlossen stand. Er setzte sich auf den Fahrersitz, legte die Hände auf das Lenkrad, kam aber nicht zurück. Er wollte eine Weile fahren. Es war lange her, dass er eine Weile einfach gefahren war.
Es war halb sieben, und sie hatte zum letzten und zwölften Mal an diesem Tag die Beine breitgemacht. Es war schnell gegangen, und er hatte sie nicht geschlagen, nicht gespuckt, er war einfach nur ein kleines Stück anal in sie eingedrungen, und sie hatte flüstern müssen, dass sie geil sei, es hatte fast nicht wehgetan. Sie duschte lange, obwohl sie das seit dem Morgen schon mehrmals gemacht hatte. Es war hier, unter dem strömenden Wasser, dass sie am heftigsten weinte. Dimitri hatte ihr gesagt, sie solle um sieben Uhr angezogen und mit fröhlichem Gesicht auf ihrem Bett sitzen. Die Frau, die sich als Ilona vorgestellt hatte, die sie von der Fähre abgeholt und in die Wohnung gebracht hatte, würde herkommen, sie wollte sich davon überzeugen, dass es ihnen gut ging. Dimitri hatte erklärt, dass dieser Frau noch immer ein Drittel von ihnen gehörte, also war ihre Meinung wichtig, noch für einen Monat. Sie kam pünktlich. Auf der Uhr in der Küche fehlten nur noch dreißig Sekunden bis sieben. Sie sah aus wie schon am Hafen, hatte die Kapuze ihrer
Trainingsjacke über Nacken und Kopf gezogen. Sie streifte sie nicht einmal ab, als sie das elektronische Schloss passiert hatte und in der Wohnung stand. Dimitri hatte sie begrüßt, hatte ihr etwas zu trinken angeboten, sie hatte den Kopf geschüttelt. Die Frau fragte, mit wie vielen Männern sie an diesem Tag gearbeitet hatte, und sie antwortete: zwölf. Die Frau sah zufrieden aus, sie sagte, das sei gut, gut für so eine junge Baltenfotze. Sie legte sich aufs Bett und weinte. Sie wusste, dass Dimitri das verboten hatte, dass er bald zu ihr kommen und sie schlagen würde, aber sie konnte nicht dagegen an. Sie dachte an die Frau mit der Kapuze und die Männer und daran, dass Dimitri erklärt hatte, sie müssten wieder ihre Taschen packen, sie würden in eine Wohnung in Kopenhagen verlegt werden, und sie wollte nur noch weinen. Er war fast zwei Stunden lang planlos durch die Stadt gefahren. Zuerst durch die Innenstadt, durch die Straßen mit dem ärgsten Verkehr, rote Ampeln und Leute, die einfach auf die Straße rannten, und Idioten, die ununterbrochen hupten. Dann ging es
über Slussen, durch Hornsgata, Ringväg, Götgata, die Gegend, in der Södermalm angeblich so wahnsinnig bohėmehaft war, die aber aussah wie jedes andere blöde Kaff. Auf die andere Seite, vorbei an den Fassaden des leblosen Östermalm, eine Kurve um das Fernsehgebäude auf Gärdet, hinab in den Värtahafen zu den großen Pötten mit den Nutten aus dem Baltikum. Er gähnte, dann fuhr er noch durch den Valhallaväg und nach Roslagstull und zu den Verteilerkreiseln, die die Ewigkeit waren. Alle diese Menschen. Alle diese Leben, die irgendwohin wollten. Ewert Grens beneidete sie, er selbst hatte keine Ahnung, wohin er unterwegs war. Er fuhr zum St. Eriksplan. Es gab hier keinen Verkehr, mit dem Abend kam immer die Ruhe. Einige kleine Straßen, hin und her. Beim Bonnierhaus bog er nach links in die Atlasgata ein. Den Hang hinab, dann nach links, er hielt vor dem Tor, staunte, als ihm aufging, dass sein erster Besuch hier erst eine Woche zurücklag. Er schaltete den Motor aus. Es war still, so still, wie es in einer Großstadt, wenn der Tag fertig gespielt hat, eben werden kann. Die-
se vielen Fenster, die Wohnung mit den Spitzengardinen und den großen Topfblumen. Hier wohnten sie, die Menschen. Er blieb im Auto sitzen, vor dem Tor. Einige Minuten vergingen. Vielleicht zehn. Vielleicht sechzig. Ihr Rücken war von Peitschenhieben zerfetzt gewesen. Sie hatte nackt auf dem Boden gelegen, bewusstlos. Alena Sljusareva hatte im Nachbarraum gestanden, hatte den Mann im Anzug angeschrien, den Mann, der geschlagen hatte, den sie Dimitri Scheißzuhälter nannte. Bengt hatte fast eine Stunde vor der Tür gewartet. Grens sah es wieder vor sich. Bengt hatte vor der Tür gestanden. Schon da musst du es gewusst haben. Ewert Grens saß noch immer im Auto. Noch nicht. Noch ein paar Minuten. Er wollte warten, bis er sich beruhigt hätte. Dann wollte er weiterfahren. Zu der Wohnung, die er noch immer sein Zuhause nannte, die er jetzt nur noch selten aufsuchen mochte. Nur noch einige Minuten. Plötzlich wurde die dunkle Tür geöffnet.
Vier Personen kamen heraus. Er sah sie an, erkannte sie. Zwei Tage zuvor, er hatte zugesehen, wie Alena Sljusareva an Bord der Fähre gegangen war, die sie quer über die Ostsee nach Klaipėda in Litauen bringen sollte. Und da hatten sie dieselbe Fähre verlassen, waren auf schwedischem Boden eingetroffen. Der Mann hatte denselben Anzug getragen wie vorher in der Völundsgata. Dimitri Scheißzuhälter. Als er durch die Passkontrolle gegangen war, hatte er sich umgedreht und auf zwei junge Frauen gewartet, sechzehn, siebzehn Jahre. Er hatte eine Hand ausgestreckt und ihre Pässe verlangt, ihre Schulden. Eine Frau im Trainingsanzug, die die Kapuze über den Kopf gezogen hatte, war gleichzeitig auf sie zugekommen, hatte sie nach baltischer Art begrüßt, mit leichten Küssen auf ihre Wangen. Jetzt kamen sie vor ihm aus der Tür, Dimitri Scheißzuhälter zuerst, seine beiden neuen Mädchen hinter ihm, mit Taschen in den Händen, zuletzt die Frau, die sich unter einer Kapuze versteckte. Grens saß still da, sah sie über den Bürgersteig gehen.
Er rief im Außenministerium an, erreichte den Gesuchten und stellte seine Fragen in Bezug auf Dimitri Simait. Im Moment hatte er mit seinen eigenen Angelegenheiten genug zu tun. Aber er wollte wissen, ob der Scheißzuhälter noch immer diplomatische Immunität genoss, er bat festzustellen, wer die Frau sein konnte, mit der er zusammenarbeitete. Und dann würde er sie sich schnappen. Alle beide. Wenn das hier vorbei wäre. Wenn Lang seine Strafe angetreten hätte. Wenn Bengt beerdigt worden wäre. Wenn er sicher wäre, dass Lena weitergehen könnte, ohne Lügen.
Der Tag war vergangen, ohne dass er das bemerkt hätte. Er war in einem schmalen Hotelbett in Klaipėda aufgestanden, war mit dem Wagen von Arlanda zu Lena Nordwall gefahren, die dick angezogen in der Sonne gefroren hatte, dann nach Kronoberg und in sein dortiges Arbeitszimmer, zur Staatsanwalt-
schaft und Ågestam, der länger gewartet hatte, als seine Geduld reichte. Sven Sundkvist wollte nach Hause. Er war müde, aber der Tag, der fast schon zu Ende war, wollte ihn nicht in Ruhe lassen, hatte seine längsten Stunden aufbewahrt. Lena Nordwall war hinter ihm hergerannt, als ihr inhaltsloses Gespräch versandet war und er zurück zu den Hockeykindern und seinem Auto gehen wollte. Sie hatte gekeucht, als sie seinen Arm gepackt und ihn gefragt hatte, ob er von Anni wisse. Sven hatte diesen Namen noch nie gehört. Er kannte Ewert seit zehn Jahren, arbeitete mit ihm zusammen, betrachtete ihn als Freund, aber diesen Namen hatte er noch nie gehört. Lena Nordwall hatte von einer Zeit erzählt, in der Ewert eine Streife geleitet hatte, über Anni und Bengt und Ewert, und über eine Festnahme, die dermaßen zum Teufel gegangen war, wie das bei einer Festnahme überhaupt nur möglich ist. Sven Sundkvist versuchte stillzustehen, spürte aber, wie sein Körper zitterte. Es gab so viel in diesem Leben, das er nicht verstand.
Er hatte nicht einmal eine Ahnung, wo Ewert wohnte. Er hatte ihn nie, kein einziges Mal, zu Hause besucht. Irgendwo in der Stockholmer Innenstadt, mehr wusste er nicht. Er lachte kurz, aber sein Gesicht lachte nicht. Es war seltsam, wie einseitig ihre Freundschaft gewesen war. Wie er eingeladen hatte, wie Ewert eingeladen worden war. Er hatte geglaubt, Gedanken, Wärme, Kraft zu teilen, und Ewert hatte sich hinter seinem Recht versteckt, sein Privatleben zu haben. Sven Sundkvist hatte sich im Personalregister der Polizei die Adresse verschafft. Jetzt stand er ein Stück vor der Tür eines ziemlich schönen Hauses, ungefähr dort, wo der Sveaväg ganz besonders befahren ist. Er wartete seit fast zwei Stunden. Er hatte sich damit amüsiert, sich die Fenster im dritten Stock anzusehen, dort wohnte er angeblich, aber es war schwer gewesen, etwas zu erkennen, alle sahen gleich aus, aus der Entfernung schien im ganzen Haus ein und dieselbe Person zu wohnen. Ewert kam kurz nach acht. Groß wie er war, das steife Bein verursachte einen hinkenden, wat-
schelnden Gang. Er öffnete die Haustür, schaute sich nicht um, verschwand hinter der Tür, die dann ins Schloss fiel. Sven Sundkvist ließ noch zehn Minuten verstreichen. Er holte tief Atem. Er war nervös. Er hatte sich schon lange nicht mehr so einsam gefühlt. Er betätigte die Gegensprechanlage. Er wartete. Keine Antwort. Er drückte noch einmal, diesmal länger. Der Lautsprecher knackte, als klobige Finger im vierten Stock einen Hörer hochhoben. »Ja?« Die Stimme klang gereizt. »Ewert?« »Wer ist da?« »Ich bin’s, Sven.« Er konnte die Stille hören. »Ewert, ich bin das.« »Was willst du hier?« »Ich würde gern einen Moment nach oben kommen.« »Hierher?« »Ja.« »Jetzt?«
»Jetzt.« »Und warum willst du das?« »Wir müssen reden.« »Wir können morgen reden. In meinem Zimmer.« »Dann ist es zu spät. Wir müssen heute Abend miteinander reden. Mach jetzt auf.« Wieder Stille. Er sah die Gegensprechanlage an, die noch immer eingeschaltet war. Eine lange Zeit verging. So kam es ihm zumindest vor. Ewert Stimme klang leise, war nur schwer zu hören. »Vierter Stock. Auf der Tür steht Grens.« Der Schmerz im Magen, den er mit sich herumgetragen hatte und den er auf irgendeine Weise gleich loswerden würde, war stark, wie in dem Moment, als er sich das Video angesehen hatte. Er klingelte nicht, das war nicht nötig, die Tür stand offen. Er schaute in eine lange Diele. »Hallo?« »Du kannst reinkommen.« Er sah ihn nicht, aber es war Ewerts Stimme, aus einem der weiter hinten liegenden Zimmer.
Er ging hinein, blieb auf der Fußmatte stehen. »Links. Durch die Diele und dann die zweite Tür.« Sven Sundkvist wusste nicht so recht, was er sich vorgestellt hatte. Aber was auch immer, das hier jedenfalls nicht. Es war die größte Wohnung, die er je gesehen hatte. Er schaute sich um, während er durch eine Diele ging, die einfach kein Ende nehmen wollte. Sechs, vielleicht sieben Zimmer. Hohe Wände, Kachelöfen in fast jeder Ecke, dicke Teppiche auf makellosem Parkettboden. Aber vor allem war die Wohnung leer. Sven wagte kaum zu atmen. Er hatte das Gefühl zu stören. Obwohl niemand da war. Er hatte sich noch nie so verloren gefühlt, es war so groß, so sauber, so unerhört einsam. Ewert saß in einem Raum, den man vielleicht Bibliothek hätte nennen können. Es war eines der kleineren Zimmer, Bücherregale vor zwei Wänden, von der Decke bis zum Boden gefüllt, ein alter Sessel aus schwarzem Leder und daneben eine eingeschaltete Stehlampe.
Sven sah es kaum. Es war das andere. An der Wand neben der Tür. Ein gewebter und gerahmter Wandteppich, roter Stoff mit gelben Buchstaben, FRÖHLICHE WEIHNACHTEN. Daneben zwei Schwarzweißfotos, ein Mann und eine Frau in Uniform, beide vielleicht Mitte zwanzig. Die große Wohnung ohne Ende. Aber es war deutlich. Die beiden Fotos und der gewebte Weihnachtsteppich, sie hingen sozusagen in der Mitte. Ewert sah ihn an, seufzte. Und winkte mit dem Arm, bat Sven, das Zimmer zu betreten. Er schob Sven den Schemel hin, auf dem eben noch seine Füße gestanden hatten, Sven nahm ihn, setzte sich. Er hatte in einem Buch gelesen, als Sven angerufen und ihn dabei unterbrochen hatte. Sven versuchte, den Titel zu lesen, suchte irgendeine Möglichkeit, um ein Gespräch zu beginnen, aber das Buch lag mit dem Titel nach unten auf einem Beistelltischchen. Deshalb stand er wieder auf und zeigte in die Richtung, aus der er eben erst gekommen war. »Ewert, was ist das hier?« »Wie meinst du das?« »Wohnst du immer schon so?« »Ja.«
»So etwas habe ich noch nie gesehen.« »Ich verbringe hier immer weniger Zeit.« »Diese Diele, die ist so groß wie unser ganzes Reihenhaus.« Ewert Grens nickte ihm zu, wollte, dass er sich setzte. Er schlug sein Buch auf, beugte sich vor, sein Gesicht war rot. Er hatte keine Lust auf sinnloses Geplauder. »Es ist Sonntagabend. Oder was?« Sven gab keine Antwort. »Es ist schon nach acht. Oder was?« Er wollte gar keine Antwort. »Es ist mein verdammtes Recht, allein zu sein. Oder was?« Schweigen. Sonst nichts. »Warum drängst du dich hier also auf?« Sven Sundkvist versuchte, langsam zu atmen. Er sah diesen Zorn nicht zum ersten Mal. Anders als die Angst. Da war er sich sicher. Ewert hatte ihm diese Angst noch nie gezeigt. Aber hier, in seinem eigenen Ledersessel, gab es nur Angst, versteckt unter Aggressivität. Er sah seinen älteren Kollegen an.
»Die Wahrheit, Ewert, weißt du, wie schwer die sein kann?« Es war ihm egal, dass Ewert ihn zum Hinsetzen aufforderte. Er blieb stehen. Er schaute aus dem Fenster, sah den Autos zu, die von einer roten Ampel zur nächsten jagten. Er ging ein Stück weiter, lehnte sich an ein Bücherregal. »Du bist der Mensch, mit dem ich tagsüber am meisten Zeit verbringe. Mehr als mit meiner Frau, mehr als mit meinem Sohn. Ich bin nicht aus Jux hier. Ich bin hier, weil mir nichts anderes übrigbleibt.« Ewert Grens blieb sitzen, ließ sich zurücksinken, starrte ihn an. »Eine Lüge, Ewert, eine große verdammte Lüge.« Er bewegte sich nicht, starrte. »Du hast gelogen. Und ich will wissen, warum.« Ewert Grens schnaubte. »Ich habe es hier also mit dem Vernehmungsleiter zu tun?« »Ich will, dass du meine Fragen beantwortest. Du kannst schnauben und mich nennen, wie du willst. Daran bin ich gewöhnt.« Er ging zurück zum Fenster. Zu den Autos da drau-
ßen, die immer weniger wurden, die immer langsamer fuhren. Er sehnte sich dorthin, sehnte sich danach, dass alles vorbei wäre. »Ich war zwei Tage krankgeschrieben.« »Und doch bist du gesund genug, um hier zu stehen und Verhör zu spielen.« »Ich war nicht krank. Ich war in Litauen. In Klaipėda. Ågestam wollte das so.« Sven Sundkvist hatte damit gerechnet. Er hatte gewusst, dass Ewert hochgehen und brüllen würde. »Dieser kleine Schnösel von Staatsanwalt! Bist du hinter meinem Rücken auf seinen Befehl nach Klaipėda gefahren?« Sven wartete, bis er fertig gebrüllt hatte. »Setz dich wieder, Ewert.« »Zum Teufel!« »Setz dich.« Ewert Grens zögerte, er sah Sven an, dann setzte er sich und legte die Füße auf den Schemel. »Ich habe mich mit Alena Sljusareva getroffen. In einem Aquarium, einer Touristenfalle in Klaipėda. Ihre Geschichte, die Antworten, die wir gebraucht hätten, wie sie auf Lydia Grajauskaitės Wunsch ins
Söderkrankenhaus gekommen ist, um ihr Waffe und Sprengstoff zu bringen.« Sven wartete. Keine Reaktion. »Wie sie vor und während des Geiseldramas Kontakt zueinander hatten, über ein Mobiltelefon.« Er sah den Mann im Sessel an. Sag was! Zeig eine Reaktion! Starr mich nicht einfach nur an! »Ehe wir uns am späten Abend vor einem chinesischen Restaurant getrennt haben, ist etwas Seltsames passiert. Sie hat mich gefragt, warum ich diese ganzen Fragen gestellt hätte. Schließlich hatte sie sie alle schon beantwortet. Bei der Vernehmung durch einen anderen schwedischen Polizisten.« Schweigen. »Sag was, Ewert!« Nichts. »Sag endlich was!« Ewert Grens lachte, er lachte so sehr, dass ihm die Tränen kamen. »Ich soll reden? Und worüber soll ich reden? Über zwei verdammte Rotzbengel, die rein gar nichts kapiert haben?«
Er lachte noch lauter und wischte sich mit dem Hemdsärmel die Tränen ab. »Ågestam, bei dem hätte ich mir das ja denken können. Aber du, Sven, du als kleiner Rotzbengel!« Er sah den Gast an, den er niemals gebeten hatte, der um acht Uhr abends bei ihm geklingelt hatte, mitten in seinem Recht, allein zu sein. Er lachte weiter, jetzt leiser, und schüttelte den Kopf. »Die Täterin, Grajauskaitė, ist tot. Der Geschädigte, Nordwall, ist tot. Was glaubst du verdammt nochmal, wer sich für das Wie und Warum interessiert? Die Öffentlichkeit nicht, die, die dein Gehalt bezahlen, Sven, bild dir das bloß nicht ein.« Sven Sundkvist blieb am Fenster stehen. Er wollte schreien, wollte Ewert übertönen und nichts mehr hören müssen, aber er wusste ja, was es war, Aggressivität, die Angst versteckte. »Ewert, ist das deine Wirklichkeit?« »Das ist deine Wirklichkeit, Sven.« »Das wird sie niemals sein. Verstehst du, wir haben danach noch weitergeredet. In einem Restaurant mitten in Klaipėda. Alena Sljusareva hat erzählt, ich habe sie gebeten zu erzählen, über drei Jahre,
in der sie und Grajauskaitė wie Waren durch Skandinavien verfrachtet worden sind. Über zwölf Freier pro Tag. Über Gefängnis, Sklaverei, Erniedrigung, von denen ich zu wissen glaubte, was ich aber niemals wirklich verstanden hatte. Über Rohypnol, um es auszuhalten, und Wodka, um es auszusperren. Um leben zu können, mit der Schande, damit die sie niemals einholen könnte.« Ewert erhob sich, ging zur Tür. Er winkte Sven zu, wollte, dass der ihn begleitete. Sven nickte, blieb aber stehen, sah sich wieder die beiden Fotos an, junge Menschen, die hofften. Vor allem waren es die Augen des Mannes, Sven konnte nicht aufhören, sie anzusehen, sie lebten, es waren andere Augen, er hatte sie noch nie gesehen. Sie gehörten nicht in diese Wohnung hier. Sie hatten Lüste, waren voller Leben. Er verließ Augen und Zimmer, ging durch die lange Diele, vorbei an zwei Räumen, dann in einen dritten, die Küche. So eine, wie Anita sie sich wünschte. Groß genug zum Kochen, groß genug, um sich darin aufzuhalten und Jonas um sich zu haben. »Hunger?« »Nein.«
»Kaffee?« »Nein.« »Dann trinke ich allein.« Wasser in einem Topf auf dem Herd, die Platte leuchtete neonrot. »Ich scheiß ja wohl auf deinen Kaffee, Ewert.« »Du bist nicht besser als wir anderen, Sven.« Sven Sundkvist wartete, er suchte nach Kraft, musste es aushalten, hier musste er durch. »Sie hat auch erzählt, wie sie hergekommen sind. Eine lange Bootsreise. Darüber, wer sie hergeholt hat. Und ich weiß, Ewert, ich weiß, dass du weißt, wer das war.« Das Wasser kochte. Ewert Grens drehte die Platte aus, füllte eine Tasse. Zwei Teelöffel Pulverkaffee, dann rührte er um. »Das sagst du?« »Stimmt es nicht?« Grens nahm die Tasse in die Hand, ging in den nächsten Teil der Küche, eine Essecke, sechs Stühle um einen runden Tisch. Sein Gesicht war rot, Sven fragte sich, ob er wütend war oder ob es an seiner Angst lag. »Verstehst du, Ewert, das reichte nicht! Rohypnol
und Wodka haben nicht gereicht, um auszusperren! Also haben sie sich andere Möglichkeiten überlegt. Lydia Grajauskaitė hatte keinen Körper. Sie nahm ihn nicht wahr. Wenn sie in sie eindrangen, war sie nicht in ihrem Körper.« Ewert Grens musterte die Kaffeetasse, er leerte sie zur Hälfte, sagte nichts. »Und Alena Sljusareva. Sie hat genau das Gegenteil gemacht. Sie hat ihren Körper gespürt, hat gespürt, wie sie ausgenutzt wurde. Aber sie hat ihre Gesichter nicht gesehen. Sie hatten keine.« Sven trat einen Schritt vor, legte die Hand um Ewerts Tasse, er zog sie weg, zwang ihn, aufzuschauen. »Aber das hast du doch sicher schon gewusst, Ewert? Sie haben es ja gesagt, auf dem Video.« Grens sah seine Tasse an, sah Svens Hand an, er schwieg weiterhin. »Ich habe die Ermittlungsunterlagen durchgesehen. Ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte doch ein Video gehabt, in der Plastiktüte. Ich konnte dann das Video auch sehen, auf den Bildern der Techniker, es lag auf dem Boden. Ich habe
Nils Krantz gefragt, er hat bestätigt, dass er es dir gegeben hat.« Ewert Grens streckte die Hand aus, nach der Tasse. Er bekam sie, trank seinen Kaffee. Er fragte noch einmal, ob Sven Kaffee wollte, und Sven lehnte noch einmal ab. Sie standen noch immer in der Küche, jeder auf seiner Seite der großen Insel mit Messern und Holzlöffeln und Platz für Schnittbrettchen. »Wo steht dein Fernseher?« »Wieso?« Sven verließ die Küche, ging zur Diele, zur Wohnungstür. Er holte die Tasche, die er neben seine Schuhe gestellt hatte, kam zurück. »Wo steht er?« »Da hinten.« Ewert zeigte auf ein Zimmer, das auf der gegenüberliegenden Seite der Diele lag. Sven ging hin, bat Ewert, ihm zu folgen. »Wir werden uns jetzt ein Video ansehen.« »Ich habe kein Videogerät.« »Hab ich mir gedacht, ich hab eins mitgebracht.« Er packte es aus und schloss es an Ewerts Fernseher an.
»Wir werden uns das hier ansehen. Zusammen.« Sie setzten sich möglichst weit auseinander auf das Sofa, das in diesem Zimmer stand. Sven hielt die Fernbedienung in der Hand, er ließ die Kassette laufen, die er soeben eingelegt hatte. Schwarzes Bild mit weißem Geflimmer. Ameisenkrieg. Sven sah Ewert an. »Die scheint leer zu sein.« Grens gab keine Antwort. »Und so ist es ja auch richtig. Da das nicht das Video ist, das du von Nils Krantz bekommen hast. Oder was?« Das Rauschen, ein aufreizendes Geräusch, so eins, das im Kopf immer weiter dröhnte und dröhnte. »Ich weiß das, weil Nils Krantz bestätigt hat, dass das Video, das er dir gegeben hat, benutzt war, staubig, und dass zwei Sätze von Fingerabdrücken drauf waren. Dieses Video aber zeigt vermutlich nur deine und meine.« Ewert Grens wandte sich jetzt ab, brachte es nicht über sich, den Kollegen anzusehen, dessen Chef er war.
»Ich bin neugierig, Ewert, was war denn nun auf dem ursprünglichen Video?« Die Fernbedienung war auf den Fernseher gerichtet, er drehte das aufdringliche Rauschen ab. »Na gut. Dann eben so. Ein wenig deutlicher. Was war auf dem Band, das es wert war, dreiunddreißig Dienstjahre dafür aufs Spiel zu setzen?« Sven Sundkvist bückte sich wieder über seine Tasche, er zog noch ein Video heraus. Nahm das erste aus dem Gerät, schob das andere hinein. Zwei Frauen. Der Mann hält die Kamera seitlich, während er am Objektiv dreht. Die Frauen sehen nervös aus, sie warten auf das Startsignal. Eine von ihnen, blond mit ängstlichen Augen, spricht zuerst Russisch, immer zwei Sätze hintereinander. Dann wendet sie sich an die andere, die dunkle, die dann auf Schwedisch übersetzt. Sie sind ernst, ihre Stimmen klingen angespannt, sie haben das hier noch nie gemacht. Sie sprechen an die zwanzig Minuten lang. Es ist ihr drei Jahre langer Bericht. Sven schaute vor sich hin. Er wartete auf Ewerts Reaktion. Die dauerte, aber dann kam sie doch, als
die beiden Frauen auf dem Video fertig gesprochen hatten. Er weinte. Er schlug die Hände vors Gesicht und ließ dem Weinen freien Lauf, dem Weinen, das sich in fast dreißig Jahren angesammelt hatte, vor dem er solche Angst gehabt hatte, er wagte doch nicht, sich zu leeren, zu verschwinden. Sven brachte es nicht über sich, ihn anzusehen. So nicht. Unbehagen, Wut jagten durch seinen Körper. Er stand auf, ging zum Videogerät, nahm das Band heraus und legte es vor ihnen auf den Tisch. »Du hast einfach das eine Exemplar ausgetauscht.« Sven tippte es mit einem Finger an, schob es ein Stück weiter zu Ewert hin. »Ich habe mir die Vernehmungen über die Ereignisse in der Leichenhalle angesehen. Gustaf Ejder hat von zwei Videos gesprochen. Und von einem Schließfach im Hauptbahnhof.« Ewert holte tief Luft, sah Sven an, sagte aber nichts, sein Weinen, das dauerte noch immer an. »Und darin habe ich das hier gefunden.« Er tippte wieder das Band an, schob es über den Tisch, vorbei an einer Blumenvase, bis es vor Ewert lag. Die Wut, die einfach herausmusste.
»Wie zum Teufel kannst du ihnen ihr Recht nehmen, ihr verdammtes Recht, das hier zu erzählen? Um deinen besten Freund vor der Wahrheit zu schützen?« Ewert schaute das Video an, nahm es in die Hand, schwieg noch immer. »Und damit nicht genug. Du machst dich auch selber schuldig. Du unterschlägst und zerstörst Beweise, du beschützt einen Verbrecher, indem du sie nach Hause schickst, du hast Angst vor dem, was sie zu sagen hat. Wie weit hast du eigentlich gehen wollen? Wie viel ist die Lüge wert, Ewert?« Grens spielte an der Plastikhülle herum. »Für das hier?« »Ja.« »Glaubst du, das war meinetwegen?« »Ja.« »Was?« »Deinetwegen.« »Es reicht also nicht, dass sie Witwe geworden ist? Soll sie das auch noch ertragen müssen? Seine verdammten Lügen?« Er schleuderte das Video zurück auf den Tisch.
»Sie hat genug mit der Leere! Lena braucht seinen Dreck nicht auch noch! Sie braucht es nie zu erfahren!« Sven Sundkvist wollte nicht mehr. Er hatte seinen Freund zur Rede gestellt. Er hatte ihn weinen sehen. Er wusste jetzt auch von seiner lebenslangen Trauer. Er wollte nur noch weg, dieser Tag, von diesem Tag brauchte er wirklich nicht mehr. »Alena Sljusareva.« Er drehte sich zu Grens um. »Verstehst du, Ewert, sie hat über ihre Schande gesprochen. Die sie versucht hat abzuspülen, zwölfmal jeden Tag. Aber das hier. Das hier!« Sven schlug gegen den Bildschirm, gegen das, was sich eben noch dort befunden hatte. »Das hier, das war, weil du es nicht ertragen konntest. Weil, Ewert, du dich schuldig für das fühlst, was du anderen angetan hast. Weil du dich schämst für das, was du dir selber angetan hast. Schuld kannst du ertragen. Dich zu schämen, das ist unerträglich.« Ewert schwieg, sah den Menschen an, der da auf ihn einredete.
»Du hast dich schuldig gefühlt, weil du Bengt in die Leichenhalle geschickt hast, in den Tod. Das kann man verstehen. Schuldgefühle kann man immer verstehen.« Sven hob die Stimme, wie man das manchmal macht, wenn man nicht zeigen will, dass man keine Kraft mehr hat. »Aber die Scham, Ewert. Scham kann man nicht verstehen. Du hast dich geschämt, weil du zugelassen hast, dass Bengt dich an der Nase herumgeführt hat. Und du hast dich geschämt, Lena zu sagen, zu wem Bengt geworden war.« Er redete weiter, jetzt noch lauter. »Ewert, du hast nicht versucht, Lena zu schützen. Du hast nur versucht, selbst zu entkommen. Deiner eigenen Scham.« Draußen war es seltsam kalt. Der Juni, das sollte doch eigentlich der wärmste Monat sein. Er wartete vor Ewert Grens’ Haus im Sveaväg vor der roten Ampel. Es dauerte, bis es endlich grün wurde. Er hatte soeben die Lüge abgeworfen, die er mit sich herumgetragen hatte. Die Geschichte von zwei
jungen Menschen. Ausgelöscht, um einem dritten Menschen die Wahrheit zu ersparen. Bengt Nordwall, ein Schwein, so eins, das auch Sven Sundkvist hassen konnte. Noch im Tod ein Schwein, dort in der Leichenhalle, nicht einmal dort, nackt und mit einer russischen Pistole am Kopf, war er ein anderer, er weigerte sich, verweigerte ihr sein Geständnis, wollte nicht zeigen, dass er sich schämte, nicht einmal dort. Und Ewert machte weiter, ihre Schande, er machte daraus ein schwarzweißes Rauschen, den Ameisenkrieg. Die Ampel sprang um. Er überquerte den Sveaväg, ging weiter nach Norden, irgendwohin. Durch den Sommerabendverkehr, vorbei am Vanadispark, durchquerte das Wenner-Gren-Center in Richtung Haga. Lydia Grajauskaitė war tot. Bengt Nordwall war tot. Ewert hatte es klar vor sich gesehen. Kein Geschädigter. Keine Täterin. Er mochte den Hagapark, so dicht beim Asphalt, so still. Ein Hundebesitzer, der verzweifelt nach einem riesigen Schäferhund rief, ein Paar, das sich auf dem Rasen heftig umarmte, ansonsten war der
Park leer, so leer, wie nur die Großstadt sein konnte, wenn das Leben während einiger hektischer Urlaubswochen anderswo vor sich ging. Niemand führt die Reden der Toten. Sonst nicht, jetzt nicht. Er atmete schwer, wenn er den besten Polizisten anzeigte, der ihm jemals über den Weg gelaufen war, was würde das im Grunde für eine Rolle spielen? Die anderen, die noch lebten, wenn er von denen eine Antwort verlangte? Ewert Grens, der im Polizeigebäude arbeitete, wie er das immer gemacht hatte, oder Ewert Grens, der ausgestoßen zu Hause umherlief, in seiner Leere? Das Wasser, er hatte es erreicht, die Abendsonne spiegelte sich dort, wo sie sich immer spiegelte. Sven Sundkvist hielt noch immer die Tasche in der Hand. Ein Video, ein wenig Papier, zwei Kassetten. Er öffnete sie, nahm das Band heraus, das einmal im Schließfach 21 im Hauptbahnhof gelegen hatte, auf der Rückseite klebte ein Zettel mit kyrillischen Buchstaben. Er ließ es fallen, trampelte darauf herum, bis der Kunststoff zerbrach, hob es dann hoch und fischte mit den Fingern das braune Magnetband heraus. Er zog daran, Meter um Me-
ter, wie an einer gekräuselten Schnur, die zu einem soeben ausgepackten Geschenk gehört hatte. Das Wasser von Brunnsviken lag fast still da, mit dieser Stille, die es manchmal einfach gibt. Er trat zwei Schritte vor, wickelte das schmale Band um die Kassette, drückte es dann gegen seine Handfläche, hob den Arm und warf, so weit er konnte. Er fühlte sich schwer und leicht, er weinte vielleicht, oder vielleicht weinte Lydia Grajauskaitė, er stand ein Stück entfernt und sah sich das tun, was er eben noch verurteilt hatte; er nahm ihr das Recht, zu berichten. Ågestam würde nie erfahren, was Sljusareva wirklich gesagt hatte. Er schämte sich.
Drei Jahre zuvor
Die Wohnung ist klein. Zwei Zimmer und Küche. Sie wohnen da zu fünft, ihre Mutter, ihr älterer Bruder, die kleine Schwester, die Großmutter. Sie hat bisher nicht weiter darüber nachgedacht. So war es doch immer schon. Sie ist siebzehn. Sie heißt Lydia Grajauskaitė. Sie sehnt sich anderswohin. Sie möchte ein eigenes Zimmer, ein eigenes Leben. Das hier, das ist einfach nur eng. Sie ist jetzt eine Frau. Oder wird bald eine sein. Bald wird sie eine Frau sein, sie ist groß, sie braucht mehr Platz. Er fehlt ihr. Sie denkt oft an ihn. Ihr Vater, immer hat er ihr gefehlt. Er war eigentlich immer da. Sie hat gefragt, das schon, aber sie versteht noch immer nicht, warum er sterben musste. Vor allem fehlen ihr wohl ihre Spaziergänge. Seine Hand, wenn sie ihre hielt, wenn sie weit gingen, wenn sie den Tag planten, an dem sie Klaipėda verlassen würden. Sie gingen oft an den Stadtrand, ge-
nau wie sie es mit Vladi gemacht hat, sie blieben dort immer stehen und drehten sich um, sahen die Stadt an, sahen sie wirklich an, Papa sang dann für sie, Lieder, die er als kleiner Junge gelernt und die sie nie von einem anderen gehört hatte, sie sehnten sich zusammen, so war das, sie sehnten sich. Diese Wohnung. Sie ist so eng! Immer ist jemand hier. Immer. Sie denkt an gestern Abend. An die Männer, die im Café waren. Sie hatte sie noch nie gesehen. Sie waren freundlich. Sie begrüßten Vladi, ihren Vladi, den sie immer gehabt hat, der sogar neben ihr auf dem Sofa gelegen hatte, als die Militärpolizei die Tür einschlug und zatknis schrie, während sie Papa zu Boden drückten. Die beiden Männer lächelten, als sie bestellten, jeder einen Kaffee, jeder ein belegtes Brot. Sie sprachen Russisch, aber der eine, der etwas Ältere, sah nicht russisch aus, sondern eher wie jemand aus Schweden oder Dänemark. Sie blieben ziemlich lange sitzen. Sie füllte ihre Tassen zweimal. Dann ging Vladi, und die Männer sprachen mit ihr, zuerst nur »hallo« und so, später,
als nicht mehr so viele Gäste etwas bestellen wollten, fragten sie, wie sie hieß, wie lange sie schon hier arbeitete, was sie als Serviererin im Café verdiente. Sie waren nett, nicht wie viele andere, nicht zudringlich, sie versuchten nicht zu flirten, nichts davon. Sie setzte sich eine Weile zu ihnen, eigentlich durfte sie das nicht, aber es waren nicht viele Gäste da, sie hatte ohnehin kaum etwas zu tun. Sie sprachen über alles Mögliche. So war das wirklich. Sie konnte es nicht fassen, zwei Männer, so sympathisch waren sie, ganz ehrlich. Sie lachte ziemlich viel, sie hatte lange nicht mehr so gelacht, bei ihr zu Hause kam das nicht oft vor. Sie kamen zurück. Heute, als sie schließen wollten, kamen die beiden Männer wieder. Sie weiß jetzt, dass sie Dimitri und Bengt heißen. Dimitri wohnt in Vilnius und Bengt in Schweden. Er ist bei der Polizei, dieser Bengt, und im Moment ist er in Klaipėda mit einer Ermittlung beschäftigt. Die beiden sind gute Bekannte. Sie kennen sich seit vielen Jahren. Sie ist sich nicht sicher, aber sie geht
davon aus, dass Dimitri auf irgendeine Weise mit der litauischen Polizei verbunden ist. Sie sind noch immer so sympathisch. Und sie fielen aus allen Wolken, als sie ihnen erzählte, was sie im Café verdient. Sie verglichen das damit, was sie in Schweden verdienen könnte. Zwanzigmal so viel. Jeden Monat! Sie kann es nicht fassen. Zwanzigmal so viel! Sie erzählte ihnen von ihrer Sehnsucht. Von der engen Zweizimmerwohnung, von den Spaziergängen mit Vladi, von Klaipėda, das ihr nicht mehr genug ist. Sie bestellten noch mehr belegte Brote, baten sie, sich zu ihnen zu setzen. Wieder lachten sie ziemlich viel miteinander, es war schön, das Lachen kam ihr sozusagen vor wie eine Läuterung.
Drei Tage hintereinander. Fast hat sie auf sie gewartet. Hat ihnen Kaffee und belegte Brote aufgetischt, noch ehe sie bestellen konnten. Am Vortag haben sie gefragt, ob sie Hilfe wollte, sie könnten alles regeln, was geregelt wer-
den musste, falls sie das wirklich wollte, einen Job in Schweden, zwanzigmal so viel Lohn. Sie lachte und sagte: »Ihr spinnt.« Heute fragt sie selber. Wie das denn möglich sein soll. Sie braucht einen Pass. Der sie ein wenig älter macht. Den können sie besorgen, das kostet, aber sie können es erst einmal vorlegen. Sie kann ihre Schulden abarbeiten, kann sie zurückbezahlen, wenn sie in Schweden ihren Lohn bekommt. Sie haben auch schon anderen Litauerinnen geholfen. Keine, die Lydia kennt, sie fragt, wie die anderen heißen, und die Männer nennen ein paar Namen. Eine Frau in Schweden hilft auch, sie sorgt dafür, dass die Mädchen sich willkommen fühlen. Sie bleiben lange am Tisch sitzen, sie lädt sie zum Kaffee ein. Sie erklären ihr, dass sie sich erst entscheiden soll, wenn sie ganz sicher ist, sie soll sich die Sache genau überlegen. Aber wenn sie will, wenn sie sich wirklich nicht mehr nur fort sehnen will, dann kann sie den Pass schon in zwei Tagen bekommen, wenn die Fähre nach Stockholm fährt, denn dann fahren die Männer ebenfalls.
Es ist warm, als sie im Hafen ankommt. Vladi hält ihre Hand, er scheint sich zu freuen, ihretwegen. Es regnet nicht mehr so stark wie vorhin, die Sonne scheint, es ist fast windstill. Sie hat eine Tasche gepackt, vor allem Kleider, ein paar Fotos, ein Tagebuch, so viele Toilettensachen, wie sie mitzunehmen wagte. Sie hat nichts gesagt. Ihre Mutter hätte das nicht verstanden. Sie wird sie anrufen, wenn sie angekommen ist. Sie wird von der Arbeit aus anrufen. Sie wird ihr sagen, dass sie Geld schicken wird. Jeden Monat. Dann wird die Mutter vielleicht verstehen. Worum es hier geht. Um ein anderes Leben. Sie sind am Terminal verabredet, gleich beim Eingang. Sie sieht sie schon von weitem, den dunklen Dimitri in seinem grauen Anzug, den blonden Bengt, ein wenig kleiner, freundliche Augen, er reicht Vladi einen Umschlag, das sieht sie, sie sieht, wie Vladi den Umschlag annimmt, er sieht froh aus, erwidert ihren Blick aber nicht mehr, er umarmt sie, dann
geht er. Zugleich ist eine junge Frau neben sie getreten. Ungefähr so alt wie sie selbst. Dunkle Haare, sie sieht nett aus. Sie begrüßen einander, die andere heißt Alena, auch sie hat eine Tasche bei sich, auch sie hat einen falschen Pass. Es ist ein schönes Schiff. Das größte, auf dem sie je gewesen ist. Sehr viele Schweden, einige Litauer, einige, die sie nicht einordnen kann. Sie lächelt, als sie an Bord geht, als sie ihr voriges Leben verlässt. Sie und Alena teilen eine Kabine. Es geht schnell, Alena kennenzulernen, sie ist eine, die dazu einlädt, sie ist neugierig, sie will zuhören. Sie lacht oft, und es ist leicht, mit ihr zu lachen, so ist es eben, man spürt es im ganzen Leib, wenn man unterwegs ist. In einer Weile werden sie essen gehen. Aber zuerst wollen sie ein Stock höher, aufs nächste Deck, zu Dimitri und Bengt, und von dort aus werden sie zusammen, alle vier, ins Restaurant weitergehen.
Sie klopfen an die Kabinentür. Sie warten, es dauert eine Weile. Bengt macht auf, er lächelt und winkt sie herein. Sie wechseln einen Blick, sie sind ein wenig verlegen, zu zwei Männern in die Kabine zu gehen, das kommt ihnen ein wenig seltsam vor. Und dann zerbricht alles. In einem einzigen Atemzug. Mehr ist dazu nicht nötig. Die beiden Männer heben die Hände und schlagen ihnen hart ins Gesicht. Sie schlagen, bis sie zu Boden fallen. Sie reißen an ihren schönen Kleidern, zerfetzen sie, stopfen ihnen den Stoff in den Mund. Mit Gewalt pressen sie ihre Oberschenkel auseinander, dringen in sie ein. Lydia wird sich immer an dieses Geräusch erinnern, an seinen Atem in ihrem Gesicht.
In dieser Nacht schläft sie nicht eine Sekunde. Sie liegt einige Stunden auf dem Bett in ihrer Kabine und drückt ein Kissen an sich. Sie haben sie angeschrien. Sie haben sie geschlagen. Sie haben das kalte Metall einer Pistole an ihren Kopf gehalten und erklärt, sie habe die Wahl zwischen Schweigen und Tod. Sie versteht das nicht. Sie will nur nach Hause. Alena liegt im Bett unter ihrem. Sie weint nicht ganz so viel. Sie sagt nichts. Von ihr ist überhaupt nichts zu hören. Lydia schaut ihre Tasche an, die steht auf dem Boden, neben dem Waschbecken. Sie hat sie gepackt, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Sie ist von zu Hause weggegangen, das liegt nicht einmal vierundzwanzig Stunden zurück. Sie hörte, wie das Wasser gegen den Schiffsrumpf schlägt. Sie hört es durch das Fenster, das sich öffnen lässt, das aber zu klein ist, um hindurchzusteigen.
Am Vormittag ist die Reise zu Ende. Sie liegt noch immer da. Sie wagt nicht, sich zu bewegen. Sie versucht, nicht auf die zu achten, die mit den Händen gegen ihre Tür schlagen, die schreien, sie mussten ihre Kabine verlassen und an Land gehen.
Dimitri geht zwei Schritte vor ihr, Bengt gleich hinter ihr. Sie muss zum Ausgang, durch die Passkontrolle. Sie will nur schreien. Aber sie traut sich nicht. Sie denkt an die Schläge in ihr Gesicht. Den Schmerz in ihrem Unterleib, als sie weiter in sie eingedrungen sind, obwohl sie sie angefleht hat, aufzuhören. Es ist ein großer Terminal, größer als der in Klaipėda. Menschen, die sich begegnen, die einander umarmen, die sich gesehnt haben. Sie empfindet nichts. Sie schämt sich nur. Sie weiß nicht, warum. Sie zeigt einem uniformierten Mann in einem Glaskasten ihren Pass. Schweig. Der Mann blättert
darin, sieht sie an, nickt. Oder stirb. Sie kann weitergehen. Alena hält dem Mann ihren Pass hin. Als Lydia vor dem Gitter steht, dreht Dimitri sich um, sagt ihr, dass er ihren Pass haben will, sie hat Schulden, und von diesem Moment an wird sie anfangen, diese Schulden abzubezahlen. Sie hört nicht, was er sagt. Die Menschen um sie herum verschwinden, die große Terminalhalle leert sich langsam. Sie wartet, sie sind ein Stück von der Passkontrolle entfernt stehen geblieben, bei einem Zeitungskiosk. Nach einer Weile kommt sie dann. Die Frau, auf die sie gewartet haben. Die Frau, mit der Dimitri und Bengt zusammenarbeiten. Sie trägt einen Trainingsanzug. Eine graue Kapuze über den Kopf gezogen. Sie ist ziemlich jung, lächelt Dimitri an, küsst ihn auf die Wange, lächelt Bengt an, küsst ihn auf den Mund, als gehörten die beiden zusammen. Dann dreht sie sich zu Lydia und Alena um, lächelt noch immer, sagt etwas, das sie nicht verstehen, sicher ist das Schwedisch. »Ihr seid das also. Unsere neuen Baltennutten.« Sie geht zu ihnen, küsst Lydia auf die Wange, küsst
Alena auf die Wange, sie lächelt, und die beiden versuchen, das Lächeln zu erwidern. Sie sehen nicht, dass Bengt Nordwall sich zu ihr vorbeugt, dass er vorsichtig die Hand unter ihre Kapuze schiebt, dass er flüstert: »Du hast mir gefehlt, Lena.« Sie hören nur, was die Frau sagt, sie lächelt sie noch immer an, jetzt spricht sie Russisch. »Willkommen in Schweden. Ich hoffe, ihr werdet euch hier wohl fühlen.«
Nachwort der Autoren
Blasse Engel beschreibt eine Wirklichkeit, die uns umgibt, Frauen als Ware, Investitionen, die Ertrag bringen sollen, eine Wirklichkeit, die in der Wohnung nebenan existiert, solange ein Mann bereit ist, dafür zu bezahlen. Das Buch beschreibt auch die Schuldgefühle, die ausagierenden oder die nach innen agierenden, die, gegen die so viele kämpfen, denen sie zu entkommen versuchen oder die sie zumindest verstehen wollen. Wir halten nichts von Kollektivschuld, aber dennoch, wir schämen uns für die, die probeficken, die drohen und die einen hochkriegen, obwohl die Frau gezwungen wird, sich für sie auszuziehen, als Männer schämen wir uns. Das andere ist natürlich nicht die Wahrheit. Die Leichenhalle ist am falschen Ort untergebracht, die Krankenhausetagen sind vertauscht worden, die Büroräume bei der Stockholmer Polizei hat es nie gegeben.
Aber das darf so sein, in einem Roman ist die Geschichte wichtiger als der Stadtplan. Unser herzlicher Dank geht An Damila und Irena, die uns an ihrem Höllenalltag als Prostituierte in Vilnius teilhaben ließen, wir hoffen, ihr seid noch immer am Leben, Mai, Sally, Nilla und Viv, die in ganz normalen Wohnungen in schwedischen Orten als Prostituierte arbeiten und die uns erklären konnten, was es für ein Gefühl ist, gekauft zu werden, Lasse Lagergren und Håkan Sandler für ihre Kenntnisse sowohl lebender als auch toter Körper, Kriminalinspektor Jan Stålhamre für detaillierte Auskünfte über polizeiliche Arbeit, Kriminalinspektorin Kajsa Wahlberg, Leiterin der Gruppe bei der schwedischen Polizei, die sich mit Frauenhandel befasst, und Kriminalinspektorin Karin Svedlund, Ermittlerin bei dieser Gruppe, für ihre Kenntnisse über Menschenhandel, Anders Göransson, weil du besser Russisch sprichst als wir, Rolle Eriksson, weil du uns beschrieben hast, wie eine Zelle riecht, Fia Svensson,
weil du unsere erste Leserin bist und wieder und wieder liest und es dir gefällt, Eric Thunfors, für den Einband, der uns so gut gefällt, Astrid Sivander, weil du immer das siehst, was wir nicht sehen, und an unseren Agenten Niclas Salomonsson, weil du zu den Menschen gehörst, die Kraft geben. An Mikael Nyman, Ewa Eiman, Vanja Svensson, Anna Nyman und Jan Guillou für kluge Beiträge zum Lektorat. An Anna Borné Minberger, Mattias Boström, Lotta Byqvist Lennartson, Cherie Fusser, Madeleine Lawass, Anna Carin Siging, Ann-Marie Skarp und Boel Wikberg von Piratförlaget – Herrgott, was seid ihr für Profis! Besonderer Dank gilt schließlich unserer Verlegerin Sofia Brattselius Thunfors. Stockholm, Mai 2005 Anders Roslund Börge Hellström
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