John Grey
Blutrache Ronco Band Nr. 170/15
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen B...
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John Grey
Blutrache Ronco Band Nr. 170/15
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack. Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte. Er nannte sich RONCO. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, daß er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pioniergeschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauher und wilder, als wir sie bisher gesehen haben. Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe RONCO gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes RONCO offenzulegen, haben wir uns entschlossen, in Abständen von fünf Wochen die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. Bearbeitet von den Autoren der RONCO-Serie. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich RONCO nannte, seine
eigene Geschichte.
Die Hauptpersonen des Romans Ronco – Dreizehneinhalb Jahre alt und kräftig wie ein Siebzehnjähriger, dem in der Welt der Weißen allerlei abverlangt wird. Cavalho – Ein Junger Zigeuner, der als Mörder gesucht wird, weil er die Schande seiner Schwester gerächt hat. Fangio – Angehöriger eines anderen Zigeunerstamms, der nach dem Gesetz der Blutrache lebt.
Blutrache 23. Februar 1879 Wir befinden uns weit im Norden New Mexicos und reiten auf Colorado zu, Lobo und ich. Überall liegt noch Schnee. Es ist kalt. Der Wind von den nahen Bergen ist schneidend und eisig. In ein paar Wochen aber wird auch hier die Schneeschmelze einsetzen. Hinter uns liegen schlimme Tage, und vor uns ist nichts als Ungewißheit. Vielleicht verläuft unser weiterer Weg ruhiger, wahrscheinlich ist das nicht, und ich kann es auch nicht glauben. Colorado ist eine neue Hoffnung. Wieviel sie wert ist, wird sich zeigen. Es wird schon schwer genug sein, die Staatsgrenze zu erreichen und dafür zu sorgen, daß sich nicht neue Verfolger auf meine Fährte setzen. Nur wenn ich mir meine Feinde lange genug vom Leibe halten kann, habe ich die Chance, meinem Ziel etwas näher zu rücken. Im Windschatten eines überhängenden Felsens haben wir unser Lager aufgeschlagen. Ein Feuer brennt. Es dämmert, und solange das Tageslicht noch ausreicht, will ich weiter an der Geschichte meines Lebens schreiben. Die Nähe der Coloradogrenze trägt dazu bei, daß mir alle Einzelheiten aus der Zeit, in der ich meine ersten unsicheren Schritte zurück in die Welt der Weißen unternahm, klar und deutlich vor Augen stehen. Ich brauche mich nicht zu bemühen, die Erinnerung an diese Zeit in meinem Leben erst zu wecken. Sie ist da, gegenwärtig, und im Moment drängt sie sich mir geradezu auf. Denn es war in Colorado, wo ich damals, 1859, vor zwanzig Jahren, meinen Weg in die neue Welt begann …
1. Ein kühler Wind strich über die Ebene am Fuße der La-Plata-Berge. Der Himmel hatte die Farbe von abgestandener Seifenlauge. Es war
kurz vor Mittag, und es sah nach Regen aus. Ich blieb im Schatten eines riesigen Granitfindlings stehen, der sich wie ein Monument aus dem kniehohen Büffelgras erhob. Ich schaute zum Himmel. Von Norden schob sich eine breite Wolkenbank heran. Im selben Moment fielen die ersten Tropfen, kalt und schwer. Ich fröstelte und blickte mich um. Weit und breit gab es nichts, wo ich mich hätte verkriechen und den Regen abwarten können. Die Ebene um mich herum dehnte sich endlos, wie es mir schien, und ich befand mich mitten in der weiten Grasfläche, jämmerlich klein und verloren. Ich setzte mich wieder in Bewegung, obwohl meine Glieder schmerzten und ich die Füße kaum noch hochkriegte. Seit Stunden war ich unterwegs und auf der Suche nach etwas Eßbarem. Der Proviant, den ich mitgenommen hatte, als ich vor über einer Woche Silverston verlassen hatte, war längst aufgebraucht. Seit gestern ernährte ich mich von wilden Beeren und Früchten, um den ärgsten Hunger zu stillen. Aber das hielt nie sehr lange vor. Der Regen fiel jetzt in dichten, bleigrauen Fäden. Der Wind von den Bergen ließ nicht nach und trieb ihn in Böen seitlich gegen mich. Binnen weniger Minuten war ich völlig durchnäßt und fror. Trotzdem lief ich weiter. Ein paar flache Hügel erhoben sich plötzlich wie Inseln aus der Sturzflut des Regens vor mir. Wie lange ich gelaufen war, wußte ich nicht. Ich stapfte hinauf, den Kopf eingezogen, während der Regen mir ins Gesicht peitschte. Ein Stück unterhalb sah ich einen Handelsposten unmittelbar neben einer ausgefahrenen Wagenstraße, auf der sich große Pfützen bildeten und die zum Teil bereits völlig unter Wasserlachen verschwunden war. Ich spürte die Erschöpfung und den wühlenden Hunger in mir in diesem Moment nicht mehr so stark. Trotz meiner schmerzenden Füße lief ich durch das immer heftiger tobende Unwetter auf die Gebäude zu. Wie ausgestorben lag der Handelsposten im strömenden Regen vor mir. Ich erreichte den Hofeingang, der durch zwei hohe Pfähle gebildet wurde, zwischen denen an rostigen Ketten ein Schild aus
starkem Holz hing, das vom Wetter heftig hin und her gerissen wurde. Erst da sah ich hinter einem Fenster des flachen Hauptgebäudes ein schwaches Licht. Sturmböen trieben mich über den Hof zum Stall hinüber. Sie drückten wie mit tausend Fäusten gegen das hohe Tor, so daß ich alle Mühe hatte, es einen Spalt zu öffnen und hineinzuschlüpfen. Das Tor schlug hinter mir zu. Ich hörte den Regen dagegenprasseln und lehnte mich erschöpft mit dem Rücken an die Wand. Nach und nach gewöhnten sich meine Augen an das Zwielicht, das im Stall herrschte. Die Luft war dumpf und erfüllt von intensivem Heugeruch, von Pferdeschweiß und Lederfett. Aber es war auch warm und trocken, und draußen schüttete es wie aus Kübeln. Stroh knisterte unter meinen Füßen, als ich den Gang zwischen den Pferdeboxen durchquerte. Nur vier der Boxen waren besetzt. Ich sah mit einem Blick, daß es sich bei den Tieren um Wagenpferde handelte. Eins wandte den Kopf und schnaubte nervös, als ich hinter ihm vorbeiging. In einer leeren Box hockte ich mich ins weiche Heu, zog die Beine an den Leib und lehnte meinen Kopf gegen das rauhe Holz der Boxwand. Müdigkeit stieg in mir auf, und der Hunger erschien mir auf einmal nicht mehr so schlimm. Ich öffnete die Feldflasche, die ich am Gürtel trug, und trank einen Schluck von dem abgestandenen Wasser und schloß die Augen. Draußen heulte der Wind um die Ecken des Gebäudes, monoton rauschte der Regen. Das Unwetter schien endlos weit weg zu sein. Wohlige Wärme erfüllte mich, der Duft des Heus wirkte betäubend. Meine nasse Kleidung begann zu trocknen, ich spürte sie kaum noch. Die Spannung in meinem Körper wich. Eine angenehme Schwere kroch durch meine Glieder und ich schlief ein. * Das Stalltor knarrte laut in den Angeln. Ich schlug die Augen auf und wälzte mich schwerfällig herum. Ich lag im Heu. Im Schlaf war ich anscheinend zur Seite gesunken. Schritte waren auf dem Gang zwischen den Boxen zu hören. Sekundenlang lag ich wie gelähmt da und versuchte, mich zu
erinnern, wo ich mich befand. Meine Erschöpfung war größer gewesen, als mir es selbst bewußt gewesen war. Meine Reaktionen waren noch immer träge, nur tröpfchenweise kehrte die Erinnerung zurück. Schwerfällig tastete ich mit der Rechten zum Griff des NavyColts, der schräg in meinem Hosenbund steckte. Als ich den kühlen Nußbaumgriff umschloß, fühlte ich wieder Zuversicht in mir. Die bleierne Müdigkeit wich. Es war stockfinster im Stall, bis auf einen kargen Lichtschein, der mit den Schritten auf dem Gang herumwanderte, aber nicht sonderlich weit reichte. Draußen war es still. Das Unwetter schien vorbei zu sein. Ich überlegte, was ich tun sollte. Ich hatte nichts Unrechtes getan und fragte mich, was ich eigentlich zu befürchten hatte. Andererseits gab es sehr wohl Gründe für mich, vorsichtig zu sein. Ich war ein Fremder in diesem Land, ein Kind zudem, wenn ich auch älter und reifer wirkte, als ich war. Ich war allein, abgehetzt, hungrig, schmutzig. Man würde mich für einen Vagabunden halten, vielleicht sogar für einen Dieb. In jedem Fall würde ich eine Menge Fragen über mich ergehen lassen müssen. Womöglich würde man mich dann zurück nach Silverton bringen, von wo ich fortgelaufen war. Noch war ich nicht weit genug von der Stadt entfernt. Ich hielt den Atem an und lauschte. Es schien ein einzelner Mann im Stall zu sein. Er schüttete frisches Heu in die Raufen der Pferdeboxen, redete leise mit den Tieren, klopfte jedem auf den Hals und schlurfte schließlich durch den Stall. Ich kauerte mich noch mehr zusammen, machte mich so klein wie möglich und hoffte, daß er bald gehen würde. Aber er ging nicht. Er trug seine Heugabel zum hinteren Ende des Stalls und stellte sie neben andere Werkzeuge an die Wand. Als er zurückkehrte, leuchtete er mit seiner Laterne in jede Box. Ich fluchte lautlos, preßte mich hart gegen die Boxwand und hoffte, daß der Schein der Laterne über mich hinweggleiten würde. Der Mann ging an der Box vorbei, in der ich hockte. Das Licht tanzte über den staubigen Boden und streifte mich nur. Ich hörte, wie der Mann sich räusperte. Er stand als großer Schatten vor mir in der
Finsternis, nur seine Beine waren im Lichtkreis der Laterne eingefangen. Er trug ausgebeulte, abgewetzte Arbeitshosen und ausgetretene, schmutzige Stiefel. Das Licht wanderte zu mir zurück, erfaßte mich voll und blendete mich für einen Sekundenbruchteil. Ich war entdeckt. »Wer bist du? Wo kommst du her?« Die Stimme des Mannes klang dunkel und knarrend, fast wie die rostigen Angeln des Stalltores. »Ich habe hier geschlafen«, sagte ich. »Während des Regens.« »Das habe ich nicht gefragt.« Der Mann stellte die Laterne auf die Seitenwand der Box, in der ich kauerte. Jetzt erfaßte ihn der Lichtschein ganz. Er hatte ein faltiges, lederhäutiges Gesicht, das müde und abgearbeitet wirkte. Auf dem Kopf trug er einen löchrigen Strohhut. Breite Gummihosenträger preßten ein verwaschenes Baumwollhemd in seine hageren Schultern. Er war nicht rasiert. »Ich habe nichts getan«, sagte ich. »Ich habe nur geschlafen.« »Du sollst sagen, wo du herkommst und wer du bist!« Die Stimme des Mannes klang jetzt drohend. »Von Westen«, sagte ich. »Du glaubst wohl, du kannst mich auf den Arm nehmen.« Er bückte sich ein Stück zu mir herunter. »Wir werden schon rauskriegen, was du für einer bist.« Die Faust, die er nach mir ausstreckte, war groß, rissig und schwielig. Ich richtete mich jäh aus meiner zusammengekrümmten Haltung auf und zog den Navy-Colt aus dem Hosenbund. »Rühren Sie mich nicht an.« Der Daumen meiner Rechten lag auf dem Hahn des Revolvers. Der Kämpferinstinkt aus meiner Zeit bei den Apachen wurde in mir wach. Der Mann vor mir wurde blaß. Seine Faust fiel herab. Er starrte sprachlos auf die große Waffe in meiner Rechten. »Zur Seite«, sagte ich. »Schieß nicht, Junge«, sagte er. Er wich einen Schritt zurück. »Ich habe hier nur geschlafen«, sagte ich. »Ich habe nichts gestohlen und nichts zerstört.« »Ja, ja«, sagte der Mann. »Ich wollte dir ja nichts tun.« Ich trat an dem Mann vorbei auf den Gang hinaus. Mit hängenden
Schultern stand er mir gegenüber. Er war einen halben Kopf größer als ich. Natürlich war er breiter, obwohl ich mit meinen dreizehneinhalb Jahren wie siebzehn aussah, sehnig und geschmeidig war, kräftige Schultern und muskulöse Arme hatte und sich ein paar scharfe Züge in mein Gesicht gegraben hatten. Das harte Leben bei den Apachen hatte mich geprägt. Nicht nur äußerlich, auch innerlich war ich reifer als die meisten anderen in meinem Alter. Bei den Apachen war ich ein vollwertiger Krieger gewesen. Ich war unter Black Hawk und Cochise geritten und hatte an einem großen Feldzug teilgenommen. Der Kampf ums Überleben war mein tägliches Brot geworden. Ich hatte weiße Soldaten getötet. Nein, ich war kein Kind mehr, nicht nach allem, was hinter mir lag. »Steck das Ding weg«, sagte der Mann. »Du mußt doch verstehen, daß ich erschrocken war, als ich dich hier im Stall entdeckte.« »Ich will nur was zu essen«, sagte ich. »Dann ziehe ich weiter. Ich kann auch bezahlen.« »Wir reden über alles«, sagte der Mann. »Drüben im Haus, okay?« Ich schaute ihn prüfend an und nickte. Als ich den Revolver herunternahm, griff der Mann mich an. Ich hatte das erwartet. In seinen Augen, die gerade noch voll Nervosität und Angst gewesen waren, blitzte jetzt die Wut. Er hatte mich unterschätzt. Ich sprang rasch zwei Schritte zur Seite. Der Angriff des Mannes stieß ins Leere. Er verlor das Gleichgewicht, taumelte an mir vorbei und stolperte über meinen rechten Fuß, den ich ihm in den Weg stellte. Meine Rechte mit dem Revolver stieß hoch. Ich schlug zu. Der kantige Lauf des Navy-Colts traf den Hinterkopf des Mannes. Der Mann, den ich für einen Stallknecht hielt, sackte mit dumpfem Stöhnen nach vorn und fiel mit dem Gesicht in den Staub des Ganges. Der Strohhut rutschte ihm vom Kopf. Zwischen dem dünnen Haar auf dem Hinterkopf entdeckte ich etwas Blut. Ich steckte den Revolver weg und ging an dem Bewußtlosen vorbei zum Stalltor. Die Laterne ließ ich stehen. Als ich auf den Hof trat, traf mich der kühle Westwind. Fröstelnd zog ich die Schultern hoch. Es war Abend. Hinter den La-Plata-Bergen verglühte die Sonne.
Während ich über den Hof ging, fuhr ich mit der Rechten in meine Hosentasche. Darin klimperten die zehn goldenen Zwanzig-DollarStücke. Zweihundert Dollar insgesamt. Soviel Geld hatte mir die Bank von Silverton als Belohnung dafür gezahlt, daß ich einen Banküberfall vereitelt und einen Banditen erschossen hatte, während die braven feigen Bürger der Stadt angstzitternd in ihren Häusern gesessen hatten. Sie hatten mich dann als Helden gefeiert, und als später die Banditen zurückkehrten, um sich mit brutalem Terror zu rächen, da hatten sie mich ihnen ausliefern wollen, die braven feigen Bürger, um sich zu retten. Ich erreichte das Hauptgebäude des Handelspostens und blieb einen Moment zögernd stehen, dann betrat ich den überdachten Vorbau und stieß die Tür auf. Im Innern der Station war es hell und freundlich. Roh gezimmerte Tische mit sauber gescheuerten Platten standen in einem kleinen Aufenthaltsraum. Ein paar Petroleumlaternen hingen an schenkelstarken Deckenbalken und erhellten den Raum. Seitlich der Tür befand sich eine zehn Fuß lange Theke. Dahinter stand ein magerer, großer Mann mit krummem Rücken und schütterem, grauen Haar. Er schaute mich überrascht an, als ich über die Schwelle trat. Ich ging auf die Theke zu und spürte angesichts der vielen Lebensmittel, die sich dahinter in zahlreichen Regalen türmten, wie stark mein Hunger war. Meine Knie waren plötzlich weich, und mein Leib schien ein leeres Loch zu sein. Es war für mich fast ein Wunder, daß ich mich noch auf den Beinen halten konnte. »Geben Sie mir ein Brot«, sagte ich und zeigte auf einen großen, runden Laib Maisschrotbrot. »Und Trockenfleisch, Speck und Trockenobst,« sagte ich. Der Mann hinter dem Tresen starrte mich immer noch entgeistert an. An seiner Stelle hätte ich das vermutlich auch getan. Ich sah nicht gerade gut aus, mit meinem blonden strähnigen Haar, das mir fast bis auf die Schultern hing, meiner abgerissenen, verdreckten Kleidung und dem hohlwangigen, von Schrammen gezeichneten Gesicht. »Ich kann bezahlen«, sagte ich, und zog einen goldenen DoubeEagle aus der Tasche. »Also, geben Sie mir die Sachen. Ich habe seit zwei Tagen nichts gegessen.«
»Wo kommst du her?« Der Mann hinter der Theke blickte abwechselnd auf das Goldstück und auf mich. »Wo hast du das Geld her?« Ich dachte an den Mann im Stall. Ich hatte nicht unbegrenzt Zeit. Wenn er wieder zu sich kam, hatte ich zwei Gegner, und vielleicht gab es in der Station noch mehr Leute. Grund genug, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. »Es ist mein Geld«, sagte ich. »Und wo ich herkomme, geht Sie nichts an. Ich will etwas kaufen und dafür bezahlen. Also geben Sie mir jetzt die Sachen.« »Moment mal«, sagte er. »So geht das nicht. Du siehst aus, als sei jemand hinter dir her. Ich will keinen Ärger.« »Den kriegen Sie aber«, sagte ich. Ich schaute ihn drohend an. Sein mageres Gesicht nahm einen verschlagenen Ausdruck an. Seine Hände tasteten unter die Theke. Zorn erfüllte mich. Ich ließ die goldene Münze in die Tasche zurückgleiten und zog den Navy-Colt. »Zurück«, sagte ich. »Und Hände hoch.« Seine Hände zuckten hoch, als hätte er eine heiße Herdplatte berührt. Gehorsam trat er einen Schritt zurück. Ich umrundete die Theke und sah sofort die abgesägte doppelläufige Schrotflinte unter dem Tresen liegen. »Packen Sie mir sofort ein, was ich verlangt habe«, sagte ich. »Sonst schieße ich Ihnen den Kopf von den Schultern. Und glauben Sie nicht, daß Ihnen jemand beistehen wird. Im Stall liegt einer, dem hab ich auf den Kopf geklopft.« Der Stationer wurde noch blasser, als er schon war, und nahm hastig einen leeren Kaffeesack aus festem Leinen aus einem Regal. »Brot?« fragte er, und griff bereits danach, um es in den Sack zu stecken. »Trockenfleisch auch, ja?« Ich zog die Schrotflinte unter der Theke hervor und nickte nur. Die Hände des Stationers zitterten, als er alles in den Sack stopfte, was ich bestellt hatte. »Schreiben Sie auf, was es kostet«, sagte ich. »Ich bezahle.« Er warf mir einen ungläubigen Blick zu, tat aber dann, was ich verlangte. Mit einem abgekauten Bleistiftstummel kritzelte er auf dem Rand einer alten Zeitung ein paar Zahlen untereinander.
Während er rechnete, bewegten sich lautlos seine blutleeren Lippen. Mit den Ellenbogen stützte er sich auf den Tresen und schaute mich von der Seite an. »Sechs Dollar und fünfundzwanzig Cents«, sagte er. Ich nahm den Navy-Colt in die linke Faust, griff mit der Rechten in die Hosentasche und zog das Goldstück wieder heraus. Fast im selben Moment nahm ich Hufschlag und das Poltern und Knarren eines schnell fahrenden Wagens wahr. Binnen Sekunden schwoll das Geräusch an, so daß es nicht mehr zu überhören war. Ich bewegte mich rückwärts bis zu einem Fenster des Stationsraumes und warf einen Blick hinaus. Da sah ich eine große Concord-Kutsche auf den Hof rollen. Staub wirbelte unter den donnernden Hufen und den rasenden Rädern auf. Auf dem Bock zerrte ein untersetzter, bärtiger Mann an den Zügeln. Die Kutsche wurde langsamer und blieb unmittelbar vor der Tür des Stationsgebäudes stehen. Geschirrketten klirrten, feuchte Lederriemen knarrten. Eine rauhe Männerstimme hallte über den Hof, und der Kutschenschlag öffnete sich. Dann näherten sich harte Stiefelschritte dem Haus.
2. Ich lief um die Theke herum auf den Stationer zu. Der Lauf des Revolvers zeigte auf seinen Kopf. »Das ist die planmäßige Kutsche!« rief er. Seine Stimme klang hell vor Nervosität. »Sie hat Verspätung, wegen des Regens.« »Das ist mir egal«, sagte ich. »Ich will keinen Ärger, ich will nur etwas kaufen und dann wieder gehen. Sie werden keinem Menschen etwas davon sagen, daß ich hier bin, klar?« Ich ging, ohne ihn aus den Augen zu lassen, auf eine Tür hinter der Theke zu. »Was ist dahinter?« »Ein Lagerraum«, sagte er. »Gibt es noch mehr Leute hier?« »Meine Frau, aber die ist oben im Haus.« »Es liegt an Ihnen, ob es hier eine Schießerei gibt«, sagte ich. »Ich werde hinter der Tür stehen, mit dem Revolver in der Hand.«
»Wenn du nichts zu befürchten hast …« Ich merkte, wie der Stationer sicherer wurde. »Ich habe nichts zu befürchten«, sagte ich. »Aber ich weiß, daß anscheinend jeder glaubt, über mich verfügen zu können, daß jeder versucht, mich auszufragen, und daß jeder mir Ärger macht.« Etwas in meinen Blicken schien den Stationer zu warnen. Er schwieg und nickte nur. Ich stieß die Tür zum Lagerraum auf und schlüpfte hinein. Einen Fingerbreit ließ ich sie offenstehen und lehnte mich daneben an die Wand. Fast gleichzeitig schwang die Tür des Aufenthaltsraums ins Innere. Von draußen trat der Driver der Kutsche herein. Er hatte ein Gesicht wie eine Runkelrübe, sein struppiger roter Bart stand wie ein Unkrautgewächs von seinem Kinn ab. Er trug einen knielangen Regenumhang aus festem Stoff, in dem noch die Feuchtigkeit des Unwetters nistete. »Das war eine Fahrt«, sagte er lärmend. »Zweimal sind wir steckengeblieben. Dieser gottverfluchte Regen.« Er warf seinen Umhang auf einen Stuhl. Hinter ihm traten drei Fahrgäste in den Aufenthaltsraum und schlossen die Tür. Zuerst erschien eine matronenhaft wirkende Frau, die in gewaltige Mengen schwarzen Stoffes gehüllt war und eine Kapuze auf dem Kopf trug. Ihr folgten zwei Männer. Einer davon war untersetzt und hatte einen kantigen Schädel, von dem sein blondes Haar wie eine Bürste abstand. Als er seinen knöchellangen Staubmantel ablegte, blinkte im Licht der Petroleumlaternen ein silbernes, wappenförmiges Abzeichen auf seiner schwarzen Lederweste. Der andere Mann war einen halben Kopf größer als der Marshal. Er hatte breite Schultern und schmale Hüften und trug eine hüftkurze Leinenjacke. Sein Gesicht war schmal geschnitten, die Haut war dunkel, fast wie von einem Indianer. Unter einem flachen Hut quoll pechschwarzes Haar hervor. Schwarz war auch der dünne Oberlippenbart, der dem Mann ein etwas verwegenes Aussehen gab. Er war unrasiert und schien lange nicht geschlafen zu haben. Zwischen seinen Handgelenken klirrte eine kurze Kette, verbunden von zwei stählernen Reifen, die sich um die Gelenke des Mannes spannten.
»Kaffee für alle?« fragte der Stationer in den Raum. »Einen ganzen Topf«, sagte der Kutscher. »So heiß wie ein Fegefeuer und so schwarz wie die Hölle.« Im Hintergrund des Raumes führte eine Treppe ins obere Stockwerk des Stationsgebäudes. Von dort kam jetzt eine magere, geierköpfige Frau, die eine bunte Schürze umgebunden hatte. »Meine Frau wird Ihnen gleich den Kaffee bringen«, sagte der Stationer. Er rief zu der dürren Frau hinüber: »Kaffee für alle, Martha, stark und heiß!« Ich schloß die Augen für einen Moment und versuchte, das Gefühl der Leere in meinem Magen zu vergessen. Ich hätte auch einen Kaffee brauchen können. Meine Schwäche dauerte nur ein paar Sekunden. Noch besaß ich Energiereserven, und wer einmal durch die harte Schule der Apachen gegangen ist, den wirft so leicht nichts um. Der Kutscher erzählte draußen im Aufenthaltsraum, wie die Kutsche zweimal steckengeblieben war und im strömenden Regen angeschoben werden mußte. »Die Straße war das reinste Wasserloch«, sagte er. »Ein Wunder, daß die Achsen das ausgehalten haben. Das Gespann ist völlig fertig.« Da flog die Tür auf. Sie schlug krachend gegen die Wand des Raumes. Aus der Dunkelheit taumelte der Stallknecht herein, den ich bewußtlos im Stall liegengelassen hatte. Er blieb auf der Schwelle stehen und lehnte sich stöhnend gegen den rechten Türrahmen. Die linke Hand hatte er auf den Kopf gepreßt, in der Rechten hielt er seinen löchrigen Strohhut. »Wo ist der Junge?« sagte er mit schwacher Stimme. Er schaute auf den Stationer, der neben der Theke stand. Die Fahrgäste der Kutsche starrten auf den Stallknecht, der jetzt mit unsicheren Schritten durch den Aufenthaltsraum stolperte, immer wieder stehenblieb und sich auf Stuhllehnen stützte. Als er die linke Hand vom Kopf sinken ließ, sah ich, daß Blut an den Fingern klebte. »Was ist denn los, zum Teufel?« rief der Kutscher. Der Stallknecht antwortete nicht, und auch der Stationer sagte kein Wort.
»Wo ist der Junge, Phil«, wiederholte der Stallknecht. »Dieser verdammte Bengel.« »Was – was für ein Junge?« fragte der Stationer. »Er muß hier gewesen sein«, sagte der Stallknecht. »Er wollte Proviant kaufen. Er hat einen Revolver, Phil.« »Was ist passiert, Mister?« Der Marshal richtete sich auf und trat zur Theke. »Wer hat Sie niedergeschlagen? Von was für einem Jungen sprechen Sie?« »Keine Ahnung.« Der Stallknecht ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Ein Junge eben, sechzehn oder siebzehn Jahre alt, blond. Ein richtiger Tramp, aber mit dem Revolver konnte er umgehen …« Er blickte den Stationer wieder an. »War er hier, Phil? Hat er dich bedroht?« Der Stationer antwortete nicht, und ich hatte plötzlich einen Kloß im Hals. »Warum reden Sie nicht?« fragte der Marshal. Er schaute den Stationer scharf an. »Was ist los? Ist dieser Junge noch hier?« Ich umkrampfte den Griff meines Navy-Colts und schätzte meine Chancen ab. Sie waren schlecht. Der Stationer drehte sich halb um. Er schwieg noch immer, schaute jedoch wie zufällig in die Richtung der Tür zum Lagerraum, hinter der ich stand. Der Marshal hätte ein Trottel sein müssen, hätte er nicht begriffen, was der Stationer meinte. Der Marshal war kein Trottel. Ich aber auch nicht. Ich wußte, daß ich erledigt war und griff mit der Linken nach der Türklinke, um die Tür ganz aufzureißen. Fast geräuschlos zog ich den Hahn des Revolvers zurück. Der Marshal stieß den Stationer beiseite und umrundete die Theke. Seine rechte, stark behaarte Faust lag auf dem Griff eines mächtigen Dragoon-Colts. In diesem Moment stöhnte der Stallknecht erstickt und kippte vornüber vom Stuhl. Polternd stürzte der zu Boden. Der Marshal wandte sich um und war mit zwei schnellen Schritten neben ihm. Auch der Stationer eilte hinzu, der weibliche Fahrgast erhob sich von seinem Platz. In diesem Moment setzte ich alles auf eine Karte und riß die Tür
des Lagerraums weit auf. Niemand sah mich, als ich hinter die Theke trat und mit dem Revolver auf den Rücken des Marshals zielte. * Der Mann in Handschellen sprang plötzlich auf und stand mit einem Schritt hinter dem Marshal. Er beugte sich vor. Seine gefesselten Hände zuckten nach vorn. Seine Rechte umschloß den Griff des Dragoon-Revolvers. Er riß die Waffe aus der Halfter und schlug zu, als der Marshal herumwirbeln wollte. Der Lauf der Waffe traf ihn seitlich an den Schädel. Er stürzte wie vom Blitz getroffen zu Boden und blieb über dem bewußtlosen Stallknecht liegen. »Hände hoch! Keine Bewegung!« Die Stimme des dunkelhäutigen Mannes klang scharf durch den Aufenthaltsraum. Die Frau des Stationers trat gerade mit einem Tablett, auf dem dickwandige Kaffeetassen und ein dampfender Porzellankrug standen, in den Raum. Sie blieb wie angewurzelt stehen. Der dunkelhäutige Mann drehte sich um und beschrieb mit dem Lauf des Dragoon-Revolvers einen Halbkreis. Dann entdeckte er mich. Einen Moment lang starrte er mich überrascht an. Er schien mich abzuschätzen, so wie ich ihn. »Laß die Waffe fallen, Kleiner«, sagte er. Die Köpfe der Menschen im Raum flogen herum. Ihre Blicke richteten sich auf mich, und für einen Moment schienen sie den dunkelhäutigen Mann vergessen zu haben. »Ich denke gar nicht dran«, sagte ich, faßte den Navy fester und bewegte mich langsam auf das Ende des Tresens zu, ohne den anderen aus den Augen zu lassen. »Laß die Waffe fallen, oder ich schieße!« Der Dragoon-Colt richtete sich auf mich. Ich nahm sofort den Navy herum und zielte auf den dunkelhäutigen Mann. Ich hatte jetzt das Ende der Theke erreicht und trat in den Raum. »Ich komme in jedem Fall zum Schuß«, sagte ich. »Ich will nichts
weiter, als hier raus, verstehen Sie?« In diesem Moment schien der Stationer zu glauben, er habe eine Chance, die Situation an sich zu reißen. Er sprang mit einem Satz auf das Fenster seitlich der Theke zu. Dort hatte ich vorhin, als ich die Kutsche hatte auf den Hof rollen sehen, die Schrotflinte hingestellt. Ich feuerte aus der Hüfte, und die 36er Kugel traf den Stationer, noch bevor er den zweiten Schritt tun konnte. Sie bohrte sich in seinen linken Oberschenkel. Der Aufprall schleuderte ihn zu Boden. Brüllend wälzte er sich über die Dielen, die Hände auf die große Wunde gepreßt, während das Blut in dickem Strahl aus dem Einschuß pulste. Der weibliche Fahrgast aus der Kutsche stieß einen spitzen Schrei aus und sank auf seinen Stuhl zurück. Die Frau des Stationers ließ das Tablett mit den Tassen und dem gefüllten Krug fallen. Mit lautem Klirren zerschellte das Porzellan am Boden. Der heiße Kaffe spritzte über die Scherben und bildete eine dunkelbraune Pfütze auf dem Boden. »Lassen Sie mich durch«, sagte ich zu dem dunkelhäutigen Mann, der mich fassungslos anstarrte. »Ich will hier raus, mehr interessiert mich nicht. Von mir aus können Sie machen, was Sie wollen.« »Sie werden dich jagen«, sagte der Mann. »Genauso wie mich. Wir werden zusammen verschwinden.« Ich hörte, was er sagte, und ich wußte, daß er recht hatte. Der Stationer würde behaupten, daß ich ihn überfallen und versucht hätte, ihn umzubringen. »Kommen Sie her!« hörte ich den dunkelhäutigen Mann sagen. Er hatte seine Waffe auf die Frau des Stationers gerichtet. »Schnell, schnell, beeilen Sie sich. Der Marshal hat die Schlüssel für die Armbänder in der rechten Westentasche. Holen Sie sie raus, und schließen Sie mir die Handschellen auf.« Die Frau bewegte sich, als hinge sie an Fäden. Ihr Mann lag wimmernd auf dem Rücken und hatte das verletzte Bein an den Leib gezogen. Der Stallknecht rührte sich wieder, aber das Gewicht des auf ihm ruhenden Marshals verhinderte, daß er sich aufrichten konnte. Die Frau des Stationers fand die Schlüssel für die Handschellen.
Als sie dem dunkelhäutigen Mann die Fesseln abnahm, zitterten ihre Hände. Ich war noch einmal hinter die Theke zurückgegangen und hatte den Leinensack geholt, in den der Stationer die Lebensmittel gesteckt hatte, die ich kaufen wollte. Ich steckte noch ein paar Schachteln mit Papierpatronen dazu und eine Dose mit Zündhütchen. Dann eilte ich zur Tür. Hinter mir hörte ich den dunkelhäutigen Mann. Er ging rückwärts. Als er mit dem Rücken gegen den Türrahmen stieß, feuerte er auf die an der Wand lehnende Schrotflinte. Die 44er Kugel zerschmetterte die beiden abgesägten Läufe des Gewehrs. Dann schlug der Mann die Tür zu, drehte sich um und lief hinter mir her quer über den Hof. Ich lief auf die Wagenstraße zu. »Wo willst du hin?« hörte ich ihn hinter mir schreien. »Komm zurück, verdammt, sonst haben sie dich gleich. Auf diese Weise schaffst du es keine zwei Meilen.« Ich wandte den Kopf. Da sah ich, daß der Mann gerade auf den Bock der Kutsche kletterte und die Zügel hochnahm. Ich steckte meinen Navy-Colt ein und lief zurück. Außer Atem stieg ich über das rechte Vorderrad auf die hohe Bockbank. Die Kurbel für die Bremse befand sich direkt neben mir. Ich löste die Bremsblöcke und griff nach der Schrotflinte des Drivers, die unter mir in einer Halterung am Sitz hing. Gerade, als der Mann neben mir die Pferde antrieb, wurde die Stationstür aufgerissen. Heller Lichtschein fiel auf den Vorbau. Ich richtete die Schrotflinte auf die Tür und drückte ab. Die Schrotladung prasselte gegen den Türrahmen. Im Haus ertönte ein Schrei. Dann fiel die Tür wieder zu. Als die Detonation auf dem Hof verhallt war, raste die Kutsche bereits auf die vom Regen aufgeweichte Wagenstraße hinaus, und ich mußte mich an der Lehne des Bocks festklammern, um nicht hinuntergeschleudert zu werden. Der Fahrtwind peitschte uns in die Gesichter. Es war Nacht, die Sonne war untergegangen. Der Himmel war schwarz wie Tinte, und die Sicht war schlecht. Trotzdem lenkte der Mann neben mir die Kutsche in atemberaubendem Tempo auf der Wagenstraße
südostwärts. Der schwere Wagen schwankte wie ein Schiff im Sturm. Er polterte, knarrte und knirschte, als würde er jede Minute auseinanderbrechen. Meinen unbekannten Begleiter schien das nicht zu stören. Er hielt in der Rechten die starken Zügel des Gespanns und schwang mit der Linken die Peitsche über den Rücken der erschöpften Tiere. Staub wirbelte hoch auf. Ich schluckte den feinen Sand, pfundweise, wie mir schien, und klammerte mich noch stärker am Bock fest, während wir durch die Nacht rasten. Wohin? Ich wußte es nicht, und im Grunde war es auch egal. Ich hatte kein Ziel, und ich hatte niemanden, der auf mich wartete, niemanden, der mich vermißte. Ich hatte nur mein Leben, für das ich kämpfen wollte, obwohl ich nicht einmal sicher war, ob sich das wirklich lohnte.
3. Die Hinterachse brach gegen Mitternacht. Die Gespannpferde waren bereits langsamer geworden. Mit Schaumflocken vor den Nüstern schleppten sie sich voran, angetrieben von den gnadenlosen Peitschenhieben des dunkelhäutigen Drivers. Das vom Regen tief ausgewaschene Schlagloch tauchte unvermittelt vor uns aus der Dunkelheit auf. Es war zu spät, um auszuweichen. Das rechte Vorderrad rollte daran vorbei, das Hinterrad fuhr krachend hinein. Die Geschirriemen schienen auseinanderzureißen. Die Kutsche bäumte sich geradezu auf. Ich hörte ein häßliches, berstendes Knacken hinter mir, dann kippte der Wagen nach rechts, sackte hinten durch und begann zu schleudern und zu schlingern. Mein Nebenmann ließ die Zügel fahren und klammerte sich am Bock fest. Genauso wie ich. Die Gespannpferde schleiften den Wagen vom Weg und eine flache Böschung hoch. Jetzt kippte er wirklich um. Mit dumpfem Laut rissen die Geschirriemen. Eines der vier Gespannpferde stürzte, richtete sich schrill wiehernd wieder auf, dann verschwand das Gespann in der Nacht. Ich konnte mich nicht mehr halten, wurde durch die Luft
gewirbelt, überschlug mich, prallte hart auf den feuchten Boden und blieb benommen liegen, während die Kutsche noch einmal umschlug, die Böschung hinunterrutschte und mit den wild durchdrehenden Rädern nach oben am Rand der Wagenstraße liegenblieb. Schwerfällig richtete ich mich auf. Ich hatte Schmerzen am ganzen Körper, glühende Stiche durchzuckten meinen Brustkorb, als ich mich in Bewegung setzte und mit unsicheren Schritten auf die umgestürzte Kutsche zutappte. Von dem Mann war nichts zu sehen. Als erstes fand ich den Proviantsack, der mir beim Sturz entfallen war. Er war unversehrt. Ich riß ihn auf, hockte mich ins Gras, schnitt mir ein Stück Trockenfleisch und auch einen Kanten Brot ab und schlang beides mit Heißhunger in mich hinein. Danach ging es mir besser. Ich umrundete die Kutsche und entdeckte den dunkelhäutigen Mann unter dem Bock. Seine hüftkurze Leinenjacke war am linken Arm und an den Schultern zerrissen. Er blutete etwas aus einer breiten Schramme an der Stirn und war ohne Bewußtsein. Ich kniete mich neben ihn und nestelte die Feldflasche von meinem Gürtel. Wie durch ein Wunder war sie unbeschädigt geblieben. Ich öffnete sie und setzte sie dem Mann an die Lippen. Anfangs rann ihm das Wasser zu den Mundwinkeln wieder heraus. Dann schluckte er schwer und begann zu husten. Er schlug die Augen auf. Sie waren so schwarz wie Kohlenstücke. Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen, als er mich erkannte. »Hallo, Freund«, sagte er heiser. Ich nahm die Feldflasche weg und verkorkte sie wieder. Mir war etwas merkwürdig zumute. Am Abend in der Station und während der wilden Flucht hatte ich kaum einen klaren Gedanken fassen können. Jetzt fragte ich mich plötzlich, was für ein Mann das wohl war, mit dem ich mich zusammengetan hatte. Er war mir völlig fremd. Ich wußte weder seinen Namen noch, warum der Marshal ihn in Handschellen mit sich geführt hatte. Er richtete den Oberkörper auf und lehnte ihn stöhnend gegen den Wagenkasten der umgestürzten Kutsche.
»Jetzt müssen wir zu Fuß weiter«, sagte er. Ich stand auf und holte meinen Proviantbeutel. Schweigend hockte ich mich auf den Weg und bot dem Mann Brot und Fleisch an. Er nahm beides und musterte mich aufmerksam. »Mein Name ist Cavalho«, sagte er auf einmal. »Ich glaube, du zerbrichst dir den Kopf darüber, was ich angestellt habe, wie?« Ich schwieg und nickte. »Ich habe einen umgebracht«, sagte er. Ich blieb unbeeindruckt. Getötet hatte ich auch, mehr als gut für mich war. »Bist du Mexikaner?« fragte ich. »Ich bin Zigeuner«, sagte Cavalho. Er aß das Trockenfleisch und das Maisbrot. »Der Mann, den ich umgebracht habe, hatte meine Schwester entehrt, verstehst du?« Ich schüttelte den Kopf. »Er hat ihr Brandy gegeben und sie dann mit in die Büsche genommen«, sagte Cavalho. Ein scharfer Zug prägte sich in sein dunkles Gesicht. »Ich habe ihn dabei erwischt.« Er blickte mich voll an. »Er hatte eine Chance, aber ich habe ihm die Kehle durchgeschnitten. Seine Sippe war hinter mir her. Bei uns gibt es das noch, Junge. Blutrache, verstehst du?« »Ich habe lange bei den Apachen gelebt«, sagte ich. »So siehst du auch aus.« Cavalho schaute mich neugierig an. »Ich hatte mir schon so was gedacht, als ich in der Station sah, wie du mit deiner Kanone umgingst.« »Ich heiße Ronco«, sagte ich. »Wie hat der Marshal dich gekriegt?« Er lachte grimmig. »Das war ein sturer Hund, verdammt nochmal. Er wollte ums Verrecken nicht begreifen, daß wir unsere Streitereien allein erledigen und ihn nicht brauchen. Aber er wollte mich unbedingt an den Galgen bringen. Und wer ist hinter dir her, Ronco?« »Eigentlich keiner«, sagte ich. »Trotzdem läßt mich niemand zufrieden.« »Daran wirst du dich gewöhnen müssen«, sagte Cavalho. »Je mehr du darauf aus bist, deine Ruhe zu haben, um so weniger wird man sie
dir lassen. Wohin willst du?« »Ganz egal«, sagte ich. »Überallhin. Eigentlich hätte ich auch in der Station bleiben können.« »Da wäre es dir schlechtgegangen.« Cavalho grinste. »Die hätten dich dort auseinandergenommen, und wahrscheinlich wärst du im nächsten Jail gelandet.« Cavalho richtete sich auf. »Gehen wir«, sagte er. Ich hob den Kopf. »Wohin?« »Ich denke, das ist egal«, sagte er. Ich nickte und stand auf. Wir schauten uns noch einmal um und setzten uns dann in Bewegung. Nebeneinander schritten wir auf der Wagenstraße, auf der noch immer riesige Pfützen standen und der morastige Boden nur langsam austrocknete, ostwärts. Wir gingen Stunde um Stunde, bis der Morgen graute. Die meiste Zeit schwiegen wir. Manchmal erzählte Cavalho ein wenig von seinem Leben und von den Zigeunern, und manchmal sprach ich von den Apachen. Aber ich sprach nur wenig, denn mir war die Vergangenheit noch zu nah. Jede Erinnerung an die Zeit, als ich mit den Indianern geritten und glücklich gewesen war, als ich bei ihnen ein Zuhause und meinen festen Platz an den Stammesfeuern gehabt hatte, schmerzte mich. Als sich vor uns im Osten der Himmel aufhellte und graue Nebelbänke durch die Ebenen zogen, hörten wir Hufgeräusche hinter uns. Wir blieben stehen und schauten uns um. Zu sehen war nichts, das dumpfe Ploppen der Pferdehufe klang nur leise durch den Nebel. »Hatten sie Reitpferde auf der Station?« fragte Cavalho. Ich wußte, was er dachte und schüttelte den Kopf. »Nur Zugpferde«, sagte ich. »Ich habe im Stall geschlafen und gesehen, daß sie nur Wagenpferde hatten.« Cavalho fluchte und zog mich dann am Hemd. »Komm mit«, sagte er. »Ich glaube, es ist besser, wir suchen uns ein Versteck. Vielleicht ist der Marshal doch schon hinter uns her.« Wir verließen den Weg und eilten durch das taufeuchte Gras. Es gab weder Baum noch Strauch, und so ließen wir uns ein Stück abseits der Wagenstraße in eine Bodenvertiefung fallen.
Ich preßte mein linkes Ohr fest gegen die Erde und lauschte einen Moment schweigend. Dann hob ich den Kopf und sagte: »Zwei Reiter.« Cavalho schwieg. Er schaute mit schmalen Augen in den Nebel. Ich sah, daß er den schweren Dragoon-Colt, den er dem Marshal abgenommen hatte, in der Rechten hielt. »Vielleicht sind die Reiter nicht wegen uns unterwegs«, sagte ich. »Sie kommen aus der Richtung der Station«, sagte Cavalho. »Und um diese Zeit unternimmt niemand einen Spazierritt.« Ich stellte den Proviantsack zur Seite und griff nach meinem Navy-Colt. Da erst bemerkte ich, daß ich mein Messer nicht mehr hatte. Fluchend richtete ich mich auf die Knie und schaute mich um. »Was ist los?« Nervös blickte mich Cavalho von der Seite an. »Mein Messer ist weg«, sagte ich. »Sag bloß, du hast es auf der Straße verloren?« »Als die Kutsche umkippte, hatte ich es noch«, sagte ich. »Du hast dir selbst damit das Fleisch geschnitten.« »Zum Teufel«, sagte Cavalho. »Wenn es auf der Straße liegt, finden die Kerle, die hinter uns her sind, es bestimmt.« Ich erhob mich. »Ich seh mal nach.« Bevor er etwas erwidern konnte, eilte ich zur Wagenstraße zurück. Zwischen den tiefen Radspuren blieb ich stehen und ließ meine Blicke über den Boden gleiten. »Komm her, verdammt!« hörte ich Cavalho rufen. »Sie werden dich sehen.« Ich wollte etwas erwidern, da entdeckte ich das Messer. Die blanke Klinge glänzte matt und feucht. Das Messer lag keine zwanzig Yards von mir entfernt in der rechten Radspur, die von vielen hundert Wagen im Laufe der Jahre tief in den Weg gegraben worden war. Ich mußte es verloren haben, als wir hastig die Straße verlassen hatten und über die Böschung gesprungen waren. Eilig lief ich hin. Der Nebel war bereits nicht mehr so dicht. Der Hufschlag näherte sich schnell. Ich bückte mich und hob das Messer auf. Als ich die Böschung hinuntersprang und durch das kniehohe Gras zurück zu der
Bodensenke lief, in der Cavalho lag, tauchten von Nordwesten schemenhaft zwei Reiter aus dem Frühdunst auf. Ich bemerkte sie aus den Augenwinkeln und lief noch schneller. Das Messer in der Linken, den Navy-Colt in der Rechten, erreichte ich die Bodensenke und ließ mich einfach hineinfallen. »Sie haben dich gesehen«, flüsterte Cavalho. Seine Stimme vibrierte vor Erregung. »Bestimmt haben sie dich gesehen, verflucht noch mal.« Ich antwortete nicht. Er hatte recht, und ich verfluchte mich selbst. Aber jetzt war nichts mehr zu ändern. »Sie kommen. Was habe ich gesagt?« Cavalho umklammerte den Griff des Dragoon-Revolvers mit beiden Fäusten und hob die schwere Waffe. Da sah auch ich, daß die Reiter die Straße verlassen hatten und schräg über die Ebene auf uns zupreschten. * Die Männer ritten hochbeinige Hengste. Sie saßen geschmeidig im Sattel. Sie trugen offene Staubmäntel, die sich im Reitwind bauschten. Die breitkrempigen Hüte hatten sie tief in die Stirn gezogen. Sie hatten mich gesehen, und jetzt brauchten wir uns nicht mehr den Kopf darüber zu zerbrechen, ob sie wegen uns unterwegs waren oder nicht. Ihr Verhalten war eindeutig. Beide hielten plötzlich kurzläufige Karabiner in den Fäusten. Sie waren keine dreißig Yards mehr von uns entfernt, als die Nebeldecke aufriß und das Frühlicht grell über das Land flutete. Ich sah die Männer jetzt richtig. Sie waren schlank und sehnig, ihre Haut war genauso dunkel wie die Cavalhos. Dem einen quoll das schwarze Haar lang und glatt unter dem Hut hervor und fiel über seine Schultern. Er feuerte den ersten Schuß ab. Die Kugel schlug zwischen mir und Cavalho ein und riß eine häßliche Furche in die Grasnarbe. Ich nahm meinen Navy hoch, da feuerte Cavalho bereits. Dumpf und belfernd hallte die Detonation der riesigen Waffe über
die Ebene. Ein fußlanger Feuerstrahl schoß aus der Mündung. Das Pferd des langhaarigen Mannes bäumte sich mit grellem Wiehern auf, als das Geschoß ihm in die Brust fuhr. Es wirbelte mit den Vorderhufen durch die Luft, bäumte sich auf und krachte seitwärts zu Boden. Der Reiter verlor den Halt im Sattel und stürzte kopfüber ins Gras. Die Läufe des Pferdes zuckten noch ein paarmal, dann war das Tier tot und lag still. Der Reiter kroch auf allen vieren hinter den Pferdeleib und begann, uns von da aus unter Feuer zu nehmen. Der zweite Reiter drehte ab, als auch ich zu schießen begann. Er galoppierte bis zu einer niedrigen Buschgruppe und sprang hier aus dem Sattel. Für einen Moment trat Ruhe ein. Ich wälzte mich auf die Seite, zog meinen Proviantsack heran und holte die Papierpatronen heraus, die ich auf der Station eingesteckt hatte. »Wer sind die beiden?« fragte ich. Cavalho wandte mir das Gesicht zu. Seine Züge wirkten auf einmal viel härter, was durch die dunklen Bartschatten auf seinen Wangen und die tiefen Augenringe noch unterstützt wurde. »Das sind die Brüder des Mannes, den ich getötet habe.« Ich ließ den Navy-Colt sinken und schaute ihn fassungslos an. »Ich habe dir doch gesagt, bei uns gibt es noch Blutrache, und das nehmen wir verdammt ernst.« Cavalho blickte wieder über den Rand der Senke zu dem toten Pferd hinüber, hinter dem jetzt der Lauf eines Sharps-Karabiners sichtbar wurde. »Und wie haben sie dich gefunden?« »Sie werden gewußt haben, daß ich ins Jail von Conejos gebracht werden sollte.« Cavalho nickte grimmig. »Ich habe geahnt, daß sie sich nicht damit zufrieden geben würden, daß ich an den Galgen sollte. Sie wären mir bis zum Mond gefolgt, wenn es hätte sein müssen.« »Hörst du mich?« Die Stimme ertönte hinter dem toten Pferd. »He, Cavalho?« »Ja?« Cavalho hob den Kopf ein wenig. Ich sah, wie er die linke Faust ins Gras krallte.
Am Horizont stieg die Sonne rasch höher. Wie ein feuriger Ball erhob sie sich über der Ebene. Die kalte, feuchte Luft der Nacht erwärmte sich. Die letzten Spuren des Unwetters vom Vortage trockneten aus. »Gib auf und komm her!« rief der Mann hinter dem toten Pferd. »Du hast keine Chance. Wir finden dich überall!« »Das könnte euch so passen.« Cavalhos Stimme klang jetzt fester. Er schien die Nervosität zu überwinden. »Euer Bruder hatte meiner Schwester Gewalt angetan. Er hatte den Tod verdient, und ich würde es noch einmal tun, wenn ich die Gelegenheit dazu hätte.« »Deine Schwester war eine alte Hure!« schrie der Mann hinter dem Pferd zurück. »Du wirst für den Tod von Antonio bezahlen. Stell dich. Wir geben dir eine Chance.« »Die Chance kenn ich.« Cavalho spie wütend aus. »Eine bessere Chance, als der Sternschlepper sie dir gegeben hätte«, antwortete der andere. »Wir haben gewußt, daß du ihn früher oder später reinlegst. Wir sind der Kutsche nachgeritten. Auf der Station waren wir auch. Dort sind sie ganz schön wütend auf dich. Was hast du für einen Jungen bei dir?« »Wir sind zusammen abgehauen«, sagte Cavalho. »Er hat mit der Sache nichts zu tun!« rief der andere. »Er kann gehen.« Cavalho wandte wieder den Kopf und blickte mich an. »Du hast es gehört«, sagte er. »Du kannst gehen, und wenn du klug bist, dann tust du es.« »Wir sind zusammen abgehauen«, sagte ich. »Ich sehe keinen Grund, warum wir nicht zusammenbleiben sollten.« Ich glaubte, Erleichterung in den Augen Cavalhos zu entdecken. Trotzdem sagte er: »Du hast mit der ganzen Sache nichts zu tun.« Ich hob den Kopf etwas und rief über den Rand der Senke: »Ich bleibe hier!« Einen Moment blieb es still, dann krachten die Gewehre der beiden Zigeuner. Wir zogen in unserer Deckung die Köpfe ein. Die Projektile gruben sich unweit von uns in den Boden oder strichen über unsere Köpfe und schleuderten Fontänen aus Staub und kleinen Steinen in die Höhe. Pulverdampf stieg stinkend über der Ebene auf.
Nach ein paar Minuten verstummten die Detonationen. Ich warf einen Blick auf die Ebene hinaus und sah, daß der zweite Zigeuner auf allen vieren durch das hohe Gras kroch und versuchte, hinter unsere Deckung zu gelangen. Ich schätzte unsere Chancen ab und schaute zu dem Pferd des zweiten Mannes hinüber, das hinter den niedrigen Büschen stand. »Bleib hier«, flüsterte ich. »Gib ab und zu einen Schuß ab.« »Und du …« Cavalho wandte sich zu mir um. Da robbte ich bereits durch die Senke auf eine schmale Bodenfalte zu, die das Ziel des zweiten Zigeuners war. Hinter mir hörte ich den Dragoon-Revolver Cavalhos dumpf krachen. Der Mann hinter dem Pferd lachte. Ich preßte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und dachte, während ich durch das Gras robbte, daß ihm bald das Lachen vergehen würde.
4. Ich war ein Kämpfer. Das war Cavalho nicht, auch wenn er stark, mutig und zäh war. Er war es nicht gewöhnt, mit der Waffe in der Faust zu leben, so wie ich es in den letzten Jahren hatte tun müssen. Ich war trotz meiner weißen Haut und meiner blonden Haare ein echter Apache gewesen und hatte gelernt, wie ein Apache zu kämpfen. Diese Erfahrung hatte ich, obwohl ich jünger war, Cavalho voraus – und auch den beiden Männern, die ihn jagten. Ich lag flach in der schmalen Bodenfalte und lauschte. Nur wenige Yards von mir entfernt befand sich der zweite Zigeuner. Er hatte keine Ahnung davon, daß ich bereits vor ihm war. Ich hörte sein lautes Atmen, hörte, wie er schwerfällig durch das Gras kroch, wie er ein für meine Begriffe viel zu lautes Schleifgeräusch verursachte. Ich faßte meinen Revolver fester und robbte lautlos weiter. Wenn der Mann seitlich von mir ein Geräusch hören sollte, so würde er glauben, daß es der Wind sei, der im Grase raschelte. Ich erreichte das Ende der Bodenfalte und war jetzt kaum noch zwanzig Yards von dem Pferd des zweiten Zigeuners entfernt. In der Senke weit hinter mir feuerte Cavalho einen Schuß ab. Die Kugel schlug in den Rücken des toten Pferdes, und der Mann
dahinter lachte wieder, schob seinen Sharps-Karabiner über den Pferdeleib und gab mehrere Schüsse auf Cavalhos Deckung ab. Ich drehte mich vorsichtig um und blieb liegen, bis der zweite Zigeuner in die Bodenfalte gekrochen war und versuchte, auf die Senke zuzurobben, um Cavalho von hinten zu erwischen. Er sah mich nicht, er hatte genug mit sich selbst zu tun, und er rechnete auch nicht damit, daß seine Absicht erkannt und ihr bereits begegnet worden war. Ich wartete, bis der Mann zur Senke weiterkroch, dann hob ich meinen Revolver und spannte den Hammer. Es knackte metallisch. »Liegenbleiben!« rief ich, gerade laut genug, daß er mich, nicht aber der Mann hinter dem toten Pferd, hören konnte. »Waffe fallen lassen.« Der Mann erstarrte für Sekunden in seiner liegenden Haltung. Dann wandte er langsam den Kopf und zeigte das dümmste Gesicht, das ich je gesehen hatte. »Aufstehen!« befahl ich. »Die Hände hinter dem Nacken zusammenlegen.« Der Mann zögerte, ich hob den Revolver noch ein Stück an. Da ließ er seinen Karabiner fallen und richtete sich auf, die Hände hinter dem Nacken gefaltet. »He, was ist los, Chico?« klang die Stimme des anderen Zigeuners herüber. Ich stand ebenfalls auf und trat aus der Bodenfalte. Der Mann hinter dem toten Pferd stieß einen Fluch aus. »Waffe weg!« rief ich zu ihm hinüber. Es dauerte ein paar Sekunden, dann schleuderte er wütend seinen Sharps-Karabiner über den Pferdeleib, blieb aber selbst dahinter liegen. »Keine Dummheiten«, befahl ich. Aus den Augenwinkeln sah ich, daß sich Cavalho in der Senke erhob. Schweiß rann ihm über das Gesicht, das schwarze Haar hing ihm strähnig in die Stirn. Die Sonne stand schon ziemlich hoch. Es war heiß, und die letzte Feuchtigkeit des großen Regens war verdunstet. Auf dem Weg platzten in der ausgetrockneten Schlammkruste kleine Krater auf.
Regenwürmer wanden sich im Staub. Rückwärtsgehend bewegte ich mich zu dem Pferd des zweiten Zigeuners. Ich erreichte die Buschgruppe und trat neben das Tier, ohne den Mann auf der Ebene aus den Augen zu lassen. Leise begann ich, auf das Pferd einzureden. Ich sprach im Apachendialekt, der mir im Augenblick noch geläufiger war als die Sprache der Weißen. Das Pferd schnaubte scheu und warf den Kopf herum, aber es lief nicht weg, und es sträubte sich schließlich nicht, als ich es am Zügel nahm und mitzog. In diesem Moment ließ sich der Mann neben der Bodenfalte fallen und fuhr mit der Rechten unter seinen langen Staubmantel. Ich schoß sofort, aber die Kugel ging fehl. Der Mann wälzte sich durch das Gras, hielt plötzlich einen kurzläufigen Revolver in der Faust und feuerte auf mich. Ich spürte den heißen Luftzug des Geschosses an meiner linken Schläfe, da hatte ich mich bereits herumgeworfen und schwang mich in den Sattel des Pferdes. Es scheute und bäumte sich auf, aber ich hatte bei den Apachen Reiten gelernt und zwang dem Tier meinen Willen auf. Im vollen Galopp sprengte ich über die Ebene auf die Senke zu, wo noch immer Cavalho stand. Er schoß auf den Mann neben der Bodenfalte und traf ihn hoch in der linken Schulter. Der Mann sprang blutend auf, hielt aber seine Waffe noch immer in der Faust und zielte auf mich. Ich feuerte mit dem Navy vom Sattel aus und traf den Zigeuner in die Brust. Der Aufprall des Geschosses stieß ihn nach hinten und wirbelte ihn einmal um die eigene Achse, bevor er zusammenbrach. Der Mann hinter dem toten Pferd stieß einen wütenden Schrei aus und sprang hoch. Ich schoß auf ihn, verfehlte ihn, und er ließ sich sofort wieder fallen. Da erreichte ich die Senke, beugte mich im Sattel vor und klammerte mich mit der Linken am Pferdehals fest, während ich Cavalho die Rechte entgegenstreckte. Er zögerte nicht, faßte zu und riß mich fast aus dem Sattel. Aber ich hielt mich und schleifte Cavalho ein Stück mit, bevor es ihm
gelang, sich hinter mir auf den Rücken des Pferdes zu schwingen. Ohne das Tempo zu drosseln, zerrte ich am Zügel. Das Tier glitt auf dem weichen Untergrund fast aus, stolperte, taumelte, fing sich aber und stürmte in scharfem Bogen auf die Wagenstraße zu. Als wir den Weg erreichten, peitschte hinter uns ein Karabinerschuß. Die Kugel flog an uns vorbei, und als ich den Kopf einmal kurz wandte, sah ich den Zigeuner, der hinter dem toten Pferd in Deckung gelegen hatte, mit seinem Gewehr in der Linken am Wegrand stehen und uns mit der rechten Faust drohen. * »Jetzt wird es nie mehr Ruhe geben«, sagte Cavalho. Wir saßen im Schatten eines Cottonwoodbaumes. Ich hatte das Pferd ein Stück abseits angehobbelt. Es war erschöpft und zupfte dankbar für die Rast, an den Spitzen des Grases. »Jetzt ist auch Chico noch tot«, sagte Cavalho. »Fangio wird mich bis ans Ende der Welt jagen.« »Ich habe geschossen«, sagte ich. »Aber Fangio wird mir am Tod Chicos die Schuld geben.« Cavalho lehnte sich gegen den Baumstamm und zog die Beine an den Leib. »Fangio, das ist der andere?« »Ja, der älteste Bruder von Antonio und Chico. Jetzt sind sie beide tot.« Cavalho schloß die Augen. In diesem Moment wirkte er sehr müde, und wahrscheinlich war er es auch. »Hast du Angst?« Ich lud die abgeschossenen Kammern in meinem Navy-Colt neu auf. Ich hatte oft Angst gehabt. Keine Angst zu haben, wenn es gefährlich wurde, war Dummheit. Mut war, wenn man seine Angst überwand. »Nein«, sagte Cavalho. »Oder vielleicht doch … Ich weiß nicht. Wenn ich mit ihm kämpfen soll, habe ich keine Angst. Aber Fangio wird mir keine Gelegenheit mehr geben, zu kämpfen. Er wird mich niederschießen, wo immer er mich sieht. Er kann jeden Tag auftauchen, und ab und zu muß ich auch schlafen.« »Du mußt auch ihn töten«, sagte ich.
»Dann ist noch sein Vater da«, sagte Cavalho, »und seine Onkel.« Ich verstand, was er sagte, aber ich begriff es nicht. Wenn ein Apache ermordet wurde, setzten seine Angehörigen alles daran, den Tod zu rächen. Wenn ein Krieger aber im Kampf mit einem anderen fiel, konnte der Sieger unbehelligt seines Weges gehen. »Wann ist es passiert?« fragte ich. »Wann hast du den Mann getötet?« »Vor drei Wochen«, sagte Cavalho. »Einmal im Jahr treffen sich unsere Familien zu einem großen Fest. Dabei ist es passiert. Meine Schwester ist sehr hübsch, aber sie ist schon versprochen. Antonio hatte kein Recht auf sie. Er hat sie beschmutzt und geschändet.« Heftigkeit klang bei den letzten Worten in seiner Stimme auf. Ich hörte zu, sagte aber nichts. Er sprach von einer Welt, die mir fremd war, in der strengere Regeln und Gesetze zu herrschen schienen als bei den Apachen. Cavalho schien diese Regeln rückhaltlos zu akzeptieren, auch wenn er selbst unter ihnen litt. »Können deine Leute dir nicht helfen?« fragte ich. »Dein Vater?« »Damit sie ihn auch noch umbringen?« Cavalho schüttelte den Kopf. »Wenn Fangio mich erwischt, mischt mein Vater sich sowieso ein und jagt meine Brüder hinter Fangio her. Dann rotten sie sich gegenseitig aus. Solange es geht, will ich das vermeiden.« »Und warum ist das so? Was hat das damit zu tun, daß du einen Mann getötet hast?« »Es war immer so«, sagte Cavalho. Plötzlich wirkte er verschlossen. »Die Blutrache trifft jeden.« Ich fragte nicht weiter, es hatte keinen Sinn, ich würde es doch nicht begreifen, und ich hatte das Gefühl, daß Cavalho auch nicht weiter darüber reden wollte. Zurückblickend bin ich nicht sicher, ob Cavalho selbst so ganz von den überlieferten Regeln seines Volkes überzeugt war. Aber er konnte die Traditionen, in denen er aufgewachsen war, nicht so einfach abschütteln. Ich jedenfalls begriff die Sinnlosigkeit des Gesetzes der Blutrache, und ich war erst dreizehneinhalb Jahre alt. Aber ich hatte auch anders gelebt, und vielleicht wäre es mir an Cavalhos Stelle genauso schwer gefallen wie ihm, die alten Überlieferungen, die seit Generationen in seinem Volk als ungeschriebene Gebote festen Bestand hatten,
abzustreifen. Ich fragte ihn nach einiger Zeit, ob er nicht zu seiner Familie zurückkehren wolle. Er verneinte, nannte aber die Gründe nicht. Ich konnte sie mir denken. Vermutlich wollte er vermeiden, daß seine Familie durch seine Rückkehr mit in die Auseinandersetzung gezogen wurde. Wir redeten lange Zeit nicht mehr. Cavalho hing seinen Gedanken nach und ich auch. Ich fragte mich in diesen Stunden, was ich eigentlich anfangen sollte. Von Silverton war ich weit genug weg. Dahin würden mich keine zehn Pferde mehr bringen. Aber wohin ich mich wenden sollte, wußte ich nicht, und auch darüber, wie mein zukünftiges Leben aussehen sollte, hatte ich keine Vorstellungen. Mir wurde in diesen Stunden, in denen ich Zeit hatte, über meine Lage nachzudenken, erschreckend klar, wie hilflos und verlassen ich doch war. Ein Zurück zu den Apachen war unmöglich. Die Jagdgründe der Chiricahuas waren weit, zu weit für mich, zumal ich mich in dem Teil des Landes, in dem ich mich jetzt befand, nicht auskannte. Das gleiche galt für die Mission am Pease River, in der ich aufgewachsen war. Auch an eine Rückkehr dorthin dachte ich, aber nur kurz. Ich konnte mich nicht in die Vergangenheit retten. Das alles, die Mission und die Apachen, lag hinter mir. Ich mußte versuchen, mir allein ein neues Leben aufzubauen. Ich mußte lernen, mit der herandrängenden Zukunft fertig zu werden und das Beste für mich daraus zu machen. Ich konnte es schaffen, und wenn ich daran dachte, wie ich mich bei den Apachen durchgesetzt und mir einen Platz an ihren Feuern erkämpft hatte, wußte ich, daß ich es schaffen würde. Ich mußte hart bleiben, ich durfte nicht verzagen. Es würde schwer werden, bestimmt. Aber auch bei den Apachen war es schwer gewesen. Jeder Anfang ist schwer, besonders dann, wenn man ganz allein ist, wenn man weder Eltern noch Freunde hat, wenn man dazu noch wie ich, aus einer völlig anderen Welt kommt. Doch ich lebte nun einmal, und ich wollte weiterleben. Als Cavalho sich gegen Abend aufrichtete und mich in meinen Gedanken unterbrach, war ich einer Lösung meiner Probleme zwar
um keinen Zoll riähergerückt, aber ich hatte auch nicht das Gefühl, von ihnen erdrückt zu werden. Ich gelangte zu dem Schluß, daß es am besten war, wenn ich alles einfach auf mich zukommen ließ und mich der jeweiligen Situation stellte, um sie zu meistern, statt mir vorher schon den Kopf über Dinge zu zerbrechen, die ich noch gar nicht kannte. Die Sonne stand tief am Horizont und berührte die Spitzen der westlichen Berge. Die Felsgipfel schienen in Flammen zu stehen, sie glühten so rot wie der Sonnenball. »Reiten wir weiter«, sagte Cavalho. »Wohin?« Ich blieb am Boden hocken und schaute zu ihm hoch. »Ich kenne mich hier nicht aus.« »Am besten raus aus Colorado«, sagte Cavalho. »Überall ist es besser als hier. Hier ist das Gesetz hinter mir her – und Fangio.« Etwas leiser fügte er hinzu: »Aber der ist überall hinter mir her. Nur wird er es verdammt schwer haben, mich zu finden, wenn ich erst mal aus Colorado raus bin. Amerika ist groß.« »Weißt du denn, wie man aus Colorado rauskommt? Wo hört Colorado auf, und was ist dann?« Ich erhob mich nun ebenfalls. »Wir werden uns schon zurechtfinden«, sagte er. Sehr zuversichtlich klang das nicht. »Ich stamme aus dem Norden«, sagte er. »Wir waren mal in Nebraska, aber das ist lange her.« »Ist das weit von hier?« »Keine Ahnung.« Er schaute an mir vorbei in die Abenddämmerung. »Wenn du woanders hin willst, dann sag es.« »Ich weiß weder, wo ich jetzt im Moment bin, noch, wo ich hin soll«, sagte ich. »Mir ist alles recht.« »Gut«, sagte er. »Dann reiten wir südostwärts.« Ich nickte zustimmend und zurrte die Sattelgurte des Pferdes fest. Das Tier hatte Gelegenheit gehabt, sich gründlich auszuruhen. Es wirkte wieder frisch und stark. Wir stiegen auf und trieben es an. Hinter uns versank die Sonne. Die Dämmerung über dem Land verdichtete sich nach und nach. Die rötliche Farbe des Abendhimmels verblaßte. Ein milder Wind fächelte von den Bergen herab. Im raschen Trab ritten wir nach Südosten, verließen bald die
schnurgerade nach Süden führende Overlandstraße und lenkten das Pferd durch die Prärie, deren Gleichförmigkeit nur ab und zu von einigen flachen Hügeln unterbrochen wurde. Die Nacht sank über das Land, der dumpfe Hufschlag unseres Pferdes hallte weit in der Stille. Die Luft war klar, gereinigt vom großen Regen. Bleich lag das Mondlicht auf den Hügeln. Die Nacht war voller Schatten, die uns Leben vorgaukelten, wo es keines gab. Um uns her war nur die Weite des Landes und die Einsamkeit. Irgendwo in der Dunkelheit war das Heulen eines Kojoten zu hören. Ein anderer antwortete, dann wurde es wieder still. Wir ritten bis Mitternacht und legten dann wieder eine Rast ein, um ein paar Stunden zu schlafen. Cavalho war während des Ritts ruhiger geworden. Die Erregung des Kampfes war in ihm abgeflaut. Ich verstand ihn. Für mich war für lange Zeit der Kampf das tägliche Brot gewesen, für ihn war das eine Ausnahmesituation. Er würde sich daran gewöhnen, so wie ich mich daran gewöhnt hatte. Wir rasteten am Fuße einer Hügelkette. Der Graswuchs war hier dicht und üppig, der Boden fett und schwer, das Gras war dunkelgrün und saftig. Hier legten wir uns nieder und deckten uns mit dem Himmel zu. Erschöpft, wie wir waren, schliefen wir rasch ein.
5. Als die Sonne aufging, waren wir bereits wieder unterwegs. Nachdem die letzten grauen Fetzen des Frühnebels sich verzogen hatten, sahen wir den Schienenstrang vor uns. Ich hatte so etwas noch nie gesehen: zwei parallel zueinander verlaufende Stahlbänder, die im Schein der Frühsonne wie schieres Silber glänzten, auf wuchtigen Holzschwellen. Als wir den flachen Bahndamm erreichten, zügelte ich staunend das Pferd und beugte mich im Sattel vor. Stumm vor Verwirrung starrte ich die Schienen an, die sich in der Weite des Landes verloren, aus der Unendlichkeit zu kommen und bis in die nächste Unendlichkeit zu führen schienen. Cavalho hinter mir lachte leise. »Was ist los?« hörte ich ihn fragen. »Du starrst die Gleise an wie ein Weltwunder.«
»Gleise?« Ich hatte das Wort noch nie gehört und wandte den Kopf. »Was ist das?« Jetzt staunte Cavalho. »Du bist ein merkwürdiger Junge. Du kannst kämpfen wie ein Revolvermann und siehst aus, als wärst du schon mit allen Wassern gewaschen. Aber eine Eisenbahn kennst du nicht.« »Eisenbahn?« Ich wurde ungeduldig. »Was, zum Teufel, ist das.« »Das ist das Ding, das auf den Schienen fährt«, sagte Cavalho. »Auf diesen eisernen Bändern? Willst du mir Witze erzählen?« »Unsinn«, sagte er. »Eine Eisenbahn ist eine Dampfmaschine. Sie fährt auf diesen Schienen und zieht eine Menge Wagen hinter sich her, in denen Menschen sitzen und von da nach dort gefahren werden.« »Ich verstehe kein Wort«, sagte ich. Cavalho seufzte. Dann sagte er: »Du brauchst nur nach Westen zu schauen, dann weißt du, was eine Eisenbahn ist.« Ich wandte den Kopf und sah im Westen feine Dampfschleier über den Stahlbändern auftauchen. Wenig später wurde ein seltsames Gefährt sichtbar, das in Windeseile näher rollte und zu einem schwarzen, dampf- und feuerspeienden Ungetüm aus Stahl und Eisen anwuchs, das eine Kette von Wagen hinter sich her zog und mir wie eine riesige Schlange erschien, wie ein Lindwurm, ein Drache, wie er in den mystischen Geschichten der Indianer geschildert wurde. Das stählerne Tier raste in einem Tempo heran, daß mir der Atem stockte. Es bewegte sich aus eigener Kraft, ohne Pferde. Und auch wenn man heute, da jedem Mann, selbst im entferntesten Westen, die Eisenbahn bekannt ist, mich auslacht, muß ich sagen, daß mich der Anblick des Zuges im ersten Moment in Angst und Schrecken versetzte. Minutenlang war ich wie gelähmt, dann zerrte ich an den Zügeln des Pferdes und trieb das Tier an. Cavalho hielt mich fest. »Laß das«, sagte er. Seine Stimme wirkte beruhigend auf mich. »Das ist eine Maschine, nichts weiter. Dir kann gar nichts passieren.« Ich glaubte ihm nicht ganz, aber ich versuchte nicht mehr, zu fliehen. Verkrampft saß ich im Sattel, als der Zug unmittelbar vor uns vorüberrollte.
Sekundenlang übertönte das wilde, rhythmische Stampfen der Kolben, das schrille Zischen der Maschine, das Rattern und Donnern der Räder jedes andere Geräusch. Ich glaubte, zwei Menschen im Führerstand des Ungeheuers zu entdecken, als es vorüberflog, war aber nicht ganz sicher, denn vor meinen Augen drehte sich alles. Dann folgten die Wagen, so groß, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Hinter den Fenstern sah ich die Gesichter von Männern und Frauen, immer nur für Sekundenbruchteile, dann waren sie vorbei. Dicke, milchigweiße Dampfwolken stiegen aus dem Schlot der Lokomotive, wurden vom Fahrtwind heruntergedrückt und hüllten Cavalho und mich für kurze Zeit ein. Feurige Funken blitzten zwischen den rasenden Kolben und ratternden Rädern auf. Das Pferd, auf dem wir saßen, scheute etwas. Dann war der Zug vorbei. Die Dampfpfeife schrillte, und das schnaubende, fauchende Ungeheuer rollte auf den glitzernden Stahlbändern davon. Es verschwand genauso schnell in der Weite des Landes, wie es urplötzlich aus ihr aufgetaucht war. Ein Spuk? »Das ist die Eisenbahn«, hörte ich Cavalho hinter mir sagen. »Eisenbahn.« Ich wiederholte das Wort langsam. »Wohin fährt sie, und woher kommt sie?« »Sie fährt von einer Stadt zur anderen«, sagte Cavalho. Er langte an mir vorbei nach den Zügeln des Pferdes und trieb das Tier wieder an. Wir ritten jetzt neben dem Schienenstrang her nach Osten. »Sie ist schneller als Pferde und Postkutschen. Man redet davon, daß bald eine Eisenbahn durch das ganze Land gebaut werden soll, vom Osten bis zum Meer im Westen, bis nach Kalifornien.« »Auch durch das Land der Indianer?« »Sicher.« »Ich glaube nicht, daß sie sich das gefallen lassen«, sagte ich. »Was können sie schon dagegen tun?« »Sie werden kämpfen«, sagte ich. »Sie kämpfen, solange sie können. So war es immer.« »Auch wenn sie wissen, daß sie nicht gewinnen werden?« »Daran denken sie nicht«, sagte ich. »Die meisten jedenfalls nicht. Darauf kommt es auch nicht an. Wir
müssen kämpfen, um zu überleben.« »Wir?« Cavalho zog das Pferd herum, als der Schienenstrang vor uns eine Biegung machte. »Du bist nicht mehr bei den Indianern, Ronco.« Ich schwieg betroffen. Ohne, daß es mir selbst aufgefallen war, hatte ich gesprochen, als gehörte ich noch zu den Apachen. Wie lange würde es noch dauern, bis ich mich auch innerlich mit der Trennung abgefunden hatte? Ich sagte lange Zeit kein Wort mehr, und auch Cavalho schwieg. Irgendwann um die Mittagszeit tauchten vor uns die Dächer einer kleinen Stadt neben der Bahnlinie aus der Ebene auf. Das erste, was wir sahen, waren riesige Wassertanks. Dahinter lag die Bahnstation, etwas abgerückt davon begann die Stadt. Wir ritten etwas langsamer und beobachteten die Ansiedlung, der wir uns stetig näherten, mit Sorgfalt und Mißtrauen. »Wir brauchen ein paar Vorräte«, sagte Cavalho hinter mir. »Die Sachen in dem Sack reichen nicht mehr lange.« Er hatte recht, trotzdem behagte mir der Gedanke nicht, eine Stadt aufzusuchen, die mich verteufelt an Silverton erinnerte, dieses feige Nest in den Bergen, wo mein Weg zurück in die Welt der Weißen begonnen hatte. Aber, so dachte ich, das war Unsinn. Wahrscheinlich sahen alle Städte so aus. Nur der Gedanke, daß die Menschen überall so sein könnten wie in Silverton, erschreckte mich. »Vielleicht können wir das Pferd verkaufen«, sagte Cavalho. »Das Geld müßte reichen, um Proviant zu kaufen und ein Stück mit der Bahn weiterzufahren.« »Ich habe Geld«, sagte ich. »Wir brauchen das Pferd nicht zu verkaufen.« »Um so besser«, sagte Cavalho. Wir passierten einen hohen Wassertank, von da hallte plötzlich eine Stimme herüber. »Hallo, Kameraden!« Ich wandte den Kopf und entdeckte einen Mann im Schatten des Tanks. Er lag lang im Gras ausgestreckt und hatte eine kalte Zigarette im Mund. Er war unrasiert, seine Kleidung war abgetragen und hatte Löcher.
»Habt ihr Feuer, Kameraden?« rief er. Cavalho zügelte das Pferd. Dann stieg er ab und schlenderte zu dem Tramp, und um einen solchen handelte es sich bei dem abgerissen wirkenden Mann zweifellos, hinüber. Ich schaute ihm überrascht nach und folgte ihm dann. Das Pferd ließ ich stehen. Es hatte sich bereits so an uns gewöhnt, daß es nicht fortlief. Cavalho hockte sich neben den Mann, der die Arme hinter dem Kopf verschränkt hatte und in die Sonne blinzelte. Ich blieb neben einer Stützsäule des Wassertanks stehen und hörte, wie Cavalho fragte: »Was ist das für eine Stadt, Freund?« »Oh, das ist San Luis, Kamerad«, sagte der Tramp, »ein verdammtes Drecknest, kann ich dir nur sagen. Dort hat man nicht mal ein lausiges Zündholz für einen armen Mann übrig, und wenn man nur für ein paar Minuten vor einem Geschäft stehenbleibt, trabt gleich ein Sternträger an, und du kannst von Glück sagen, wenn er dich nicht sofort ins Jail schleppt.« »Ich habe kein Feuer«, sagte Cavalho. »Und mein Freund auch nicht.« Er zeigte auf mich. »Aber wir können dir welches besorgen.« »Wäre furchtbar nett von euch, Kameraden«, sagte der andere. »Was tun Sie hier?« fragte ich. »Ich warte auf den nächsten Zug, Söhnchen«, sagte er. »Einen Frachtzug nach Trinidad, in dem ein Waggon für mich reserviert ist.« Ich starrte ihn ungläubig an. »Er springt heimlich auf einen Wagen auf«, sagte Cavalho zu mir. »Stimmt's, Freund?« Der Tramp grinste breit. »Ein normaler Mensch kann ja die Preise für die Fahrkarten nicht bezahlen, oder?« »Das geht?« fragte ich. »Und wie das geht, Söhnchen«, sagte er. »Am Anfang ist es nicht ganz leicht, aber mit der Zeit lernt man es. Du darfst dich nur nicht von den Bremsern erwischen lassen. Die schmeißen dich runter.« Er nahm die kalte Zigarette aus dem Mund. »Wie ist es nun mit Feuer?« »Sofort«, sagte Cavalho. »Eine Frage noch: Sind wir noch in Colorado?« »Auf dem Mond«, sagte der Tramp und wieherte vor Lachen. »Klar seid ihr in Colorado. Was seid ihr für ein komisches Paar? So
was wie euch habe ich noch nie gesehen. Was habt ihr wohl geglaubt, wo ihr seid?« Cavalho erhob sich mit wütendem Gesicht. Er schwieg aber, und ich sagte auch nichts. Als wir uns von dem Tramp abwandten, um zu dem Pferd zurückzugehen, sahen wir den Mann mit dem Stern. * Er stand breitbeinig neben dem Pferd und hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt. Mit vorgeneigtem Kopf musterte er das Tier, als habe er noch nie ein Pferd gesehen. Er war ziemlich groß und stiernackig. Sein Schädel war kantig, das Gesicht wirkte roh und ungeschlacht. Auf einer schwarzen Lederweste trug er einen sechzackigen Messingstern, dessen oberster Zacken eine Delle hatte. Wir blieben überrascht stehen. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, daß sich von Westen in langsamer Fahrt ein Zug der Station näherte. Der Anblick des dampfspeienden Ungeheuers bereitete mir ganz unwillkürlich Unbehagen, aber ich hatte keine Angst mehr. »Euer Pferd?« fragte der Marshal plötzlich herüber. Cavalho nickte fast automatisch. Ich reagierte gar nicht. Mein Instinkt signalisierte mir, daß es Ärger geben würde. Ich konnte mich auf mein Gefühl verlassen und beschloß, mich aufs Abwarten zu verlegen. »Wo kommt ihr her?« fragte der Marshal. »Von Norden«, sagte Cavalho. »Zigeuner, wie?« Der Marshal schürzte verächtlich die Lippen. Ich warf rasch einen Blick auf Cavalho. Er war beim Anblick des Beamten erschrocken gewesen. Als er dessen Geringschätzung bemerkte, trat Zorn in seine Züge. In seinen schwarzen Augen blitzte es auf, aber er beherrschte sich. »Wer ist der Junge, und wo habt ihr das Pferd her?« »Es gehört uns«, sagte Cavalho. »Und Ronco ist mein Freund.« »Auch so ein Tramp, was? So ein verlauster, dreckiger Landstreicher.« Der Marshal musterte mich hart. »Du fängst früh an, mein Junge. Wohl von zu Hause fortgelaufen, wie?«
Ich schwieg, aber auch ich spürte Zorn in mir. Die herausfordernde, anmaßende Art des Marshals gefiel mir nicht. Wir hatten nichts getan, hatten niemanden belästigt und auch sonst nichts angestellt, was ihn dazu berechtigt hätte, so mit uns zu sprechen. Hinzu kam, daß ich ohnehin Schwierigkeiten hatte, mich mit den Verhältnissen in der Welt der Weißen anzufreunden. Bei den Apachen hatte es keine Männer wie diesen Marshal gegeben, die sich in alles einmischten. Als Krieger war ich es gewöhnt gewesen, alles, was mich betraf, frei zu entscheiden. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte, solange ich dem Stamm keinen Schaden zufügte. Niemand hatte mir in meine Angelegenheiten hineingeredet. »Du kannst wohl nicht reden, was?« sagte der Marshal. »Aber das werden wir schon rauskriegen, wo du herkommst. Du solltest dich schämen. Deine Eltern weinen sich wahrscheinlich wegen dir die Augen aus, und du ziehst mit diesem – diesem Zigeuner herum.« »Ich habe keine Eltern«, sagte ich scharf. »Auch noch frech werden.« Der Marshal plusterte sich richtig auf. »Ich kann sehr ungemütlich werden, Freundchen. Und du hör zu.« Er wandte sich wieder an Cavalho. »Du sagst jetzt sofort, wo ihr das Pferd gestohlen habt.« »Das Pferd gehört uns«, sagte Cavalho. »Es gehört euch«, wiederholte der Marshal grimmig. »Da lachen ja die Hühner. Zwei Landstreicher und so ein Pferd.« Er mußte jetzt lauter sprechen, denn der Zug, der von Westen heranrollte, war schon sehr nahe. Das Stampfen und Fauchen der Kolben übertönte fast jedes andere Geräusch. »Wir haben nichts verbrochen«, sagte Cavalho. »Landstreicherei«, sagte der Marshal. »Wir sind eine anständige Stadt. Wir mögen so etwas nicht. Und Pferdediebstahl. Ich denke, ich werde euch mitnehmen.« Er setzte sich in Bewegung und marschierte auf uns zu, groß, breit, stark und sich seiner Macht, die ihm das matt schimmernde Abzeichen auf der Weste verlieh, voll bewußt. Ich schaute mich um und sah, daß sich der Landstreicher unter dem Wassertank hastig erhob, als er den Beamten näher rücken sah, und in Richtung auf die Bahnstation davoneilte. Der Zug hatte ihn
jetzt eingeholt und rollte langsam an ihm vorbei. Es war ja erst der zweite Zug, den ich in meinem Leben sah. Aber die Waggons hatten keine Fenster, sondern sahen aus wie riesige Holzschachteln. Einige hatten weit offenstehende Türen, so daß man hineinschauen und die Frachtkisten im Innern sehen konnte. »Los, kommt mit«, hörte ich den Marshal sagen. »Ich werde euch das Herumvagabundieren, das Betteln und Stehlen austreiben und euch beibringen, wie ein anständiger Mensch lebt.« »Hören Sie«, sagte Cavalho. »Ich weiß nicht …« Da schlug der Marshal ihn ins Gesicht, und Cavalho taumelte, denn er hatte den Hieb nicht erwartet. Ich fühlte einen stahlharten Griff an meinem linken Unterarm. Die Faust des Marshals umspannte ihn. Er zerrte mich mit. Jetzt packte mich erst richtig die Wut. Ich dachte an Silverton und befürchtete, daß man mich womöglich dorthin zurückschicken würde. Der Marshal wußte nicht, wo ich die letzten Jahre gelebt hatte, er wußte nicht, auf was er sich eingelassen hatte. Ich griff unter mein Hemd und zog den Navy-Colt aus dem Hosenbund. Der Griff war von meinem lose hängenden Hemd verdeckt gewesen. Als der Beamte die Waffe in meiner Faust sah, war es schon zu spät für ihn. Ich hatte blitzschnell ausgeholt und hämmerte ihm den Revolver gegen den kantigen Schädel. Seine Augen wurden glasig. Er taumelte, ging in die Knie und stürzte benommen auf den Rücken. Sein Griff lockerte sich. Ich riß mich los. Aber der Marshal hatte einen harten Schädel. Er kam rasch wieder hoch. Cavalho war neben mir und schlug mit den Fäusten zu. Der Marshal stürzte wieder, er langte trotzdem mit der Rechten zum Revolver. Da zerrte Cavalho mich mit. Wir ließen das Pferd stehen und liefen neben den Gleisen her, auf denen gerade die letzten Wagen des Zuges an uns vorbeirollten. Das Tempo des Zuges nahm bereits zu. »Los!« hörte ich Cavalho schreien, »rauf auf den letzten Waggon!« Während der letzten Stunden hatte ich, nach dem Anblick der ersten Eisenbahn meines Lebens überlegt, ob ich es wohl wagen
würde, ein solches Stahlungetüm zu besteigen. Jetzt hatte ich keine Zeit mehr zum Nachdenken und stürmte ohne zu zögern neben Cavalho den Bahndamm hinauf. Gerade rollte der letzte Waggon vorbei. Es war ein Frachtwagen mit einer offenen Tür an jeder Seite. Ich sprang hoch und konnte mit der Rechten eine rostige Eisenverstrebung seitlich der Tür umklammern. Ich wurde sofort mitgerissen und verlor den Boden unter den Füßen. Im ersten Moment glaubte ich, mir würde der Arm abreißen, Schmerzen zuckten durch meine Schultern. Aber ich hielt fest und zog mich hoch. Als ich keuchend auf den rauhen Bohlen des Waggons kniete, schwang sich gerade Cavalho in den Wagen. Ein Schuß krachte. Dicht vor uns grub sich eine Revolverkugel ins Holz. Wir sahen den Marshal mit dem Revolver in der Faust am Bahndamm stehen, aber der Zug war schon zu weit weg. Ich richtete mich auf. Erst jetzt wurde mir das monotone, rhythmische Rattern der Waggonräder bewußt, das den ganzen Wagen vibrieren ließ. Im ersten Moment fiel es mir schwer, das Gleichgewicht zu halten. Immer noch außer Atem setzte ich mich auf eine der Frachtkisten, die im Waggon standen. »Zu Pferd wären wir niemals weggekommen«, sagte Cavalho. Er hockte noch am Boden. »Dieser gottverdammte Marshal hätte uns glatt aus dem Sattel geschossen. Schade um das Pferd.« Das dachte ich auch, aber es war sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Vorbei war vorbei. Ein Schatten tauchte plötzlich an der Tür des Waggons auf. Der Zug hatte die Bahnstation von San Luis ohne Halt durchfahren und rollte bereits mit großem Tempo, immer schneller werdend, ins Land hinaus. Der Landstreicher, der unter dem Wassertank gelegen hatte und beim Auftauchen des Marshals davongelaufen war, kletterte in den Waggon. Er war außer Atem und brauchte eine Weile, bis er sprechen konnte. Für mich war es wie ein Wunder, daß es ihm überhaupt gelungen war, bei der Geschwindigkeit des Zuges aufzuspringen. Jedenfalls war ich froh, daß wir nicht mehr allein waren, sondern einen Mann bei uns hatten, der sich mit Zügen auskannte.
Wir fuhren, draußen flog die Landschaft vorbei, und mir wurde wieder etwas mulmig zumute. Das alles war viel zu neu für mich. Wir hatten es geschafft, auf den Zug aufzuspringen, und waren so dem Marshal von San Luis entgangen. Aber wie kamen wir wieder runter, wenn es erforderlich wurde? »Hey, Kameraden«, keuchte der Tramp in diesem Moment. »So trifft man sich wieder. Ich sag's ja immer, die Welt ist so klein wie ein Eisenbahnwaggon.« Er lachte, als habe er einen prächtigen Witz gerissen. »Beinahe hätte ich es nicht mehr geschafft«, brabbelte er, als er sich aufrichtete. Er tappte zu mir herüber und hockte sich neben mich. »Das war verdammt knapp. Dieser verfluchte Sternträger hätte mich fast um diese Fahrt gebracht. Viel hätte nicht gefehlt, und ich hätte unter dem Zug gelegen. Aber gelernt ist gelernt. Wenn man einmal weiß, wie man aufspringen muß, kann man es bei jedem Tempo.« Er zog die kalte Zigarette aus der Tasche, an der er schon unter dem Wassertank gekaut hatte. Sie war zerquetscht und verbogen. »Sagt bloß, ihr habt noch immer kein Feuer«, sagte er. Cavalho und ich schwiegen, und der Tramp schob, die Zigarette in die Tasche zurück.
6. »Was ist mit dem Jungen los?« fragte der Tramp. Er saß neben mir auf der Frachtkiste und musterte mich neugierig von der Seite. Ich hockte steif wie ein Ladestock da und wagte nicht, zu den offenen Türen des Waggons hinauszuschauen, an denen die Landschaft vorbeiflog, daß mir schwindlig wurde. Das Vibrieren des Zuges, das stählerne Rattern der Räder auf den Schienen, durchflutete meinen Körper, daß ich ein flaues Gefühl im Magen kriegte und mir der Kopf zu brummen begann. »Er hat noch nie in einer Eisenbahn gesessen«, sagte Cavalho. »Noch nie in einer Eisenbahn …« Dem Tramp klappte der Kiefer herunter. Ich hatte Lust, ihm eine runterzuhauen, aber mir war schlecht, und ich fühlte mich gar nicht gut in diesem rumpelnden
Gefährt, das sich mit geheimnisvollen Kräften bewegte und so schnell fuhr, wie kein Pferd laufen konnte. »Er hat bis zu diesem Tag noch nie eine Eisenbahn gesehen«, sagte Cavalho. »Er hat bei den Indianern gelebt.« »So was gibt's?« Der Tramp starrte mich noch neugieriger an. »Paßt Ihnen das nicht?« Ich erwiderte seinen Blick und gab mir alle Mühe, wütend auszusehen. Ich war es auch, aber größer als mein Zorn war das üble Gefühl in meinem Bauch. »Schon gut, schon gut, Söhnchen.« Der Tramp winkte ab. »Reg dich nicht auf. Mir ist es ganz egal, wo jemand herkommt. Ich hab allein Ärger genug. Ich tue keinem Menschen etwas, aber ständig sind die Sternträger hinter mir her. Ich nehme niemandem in der Eisenbahn den Platz weg, wenn ich mich still und friedlich auf eine Frachtkiste setze. Trotzdem muß ich mich vor den Bremsern in acht nehmen, diesen Hunden. Böse Menschen.« »Du hast ein schweres Leben«, sagte Cavalho. Er grinste etwas. »Wo hattet ihr das Pferd geklaut?« fragte der Tramp. »Es war nicht geklaut«, sagte Cavalho. Seine Stimme klang scharf. »Regt euch doch nicht so auf. Was seid ihr für komische Menschen? So schrecklich nervös.« Der Tramp schüttelte den Kopf. »Mir ist es doch egal, woher das Pferd stammt. Für mich wäre das nichts, so im Sattel sitzen und den ganzen Tag hin und her geschaukelt werden, bis man einen wunden Hintern hat.« Ich hörte nur noch das Wort »schaukeln«, alles andere versank für mich in einem Strom aus Watte, in dem Worte und Sätze ertranken. Ich erhob mich schwankend und wankte, bemüht, das Gleichgewicht zu halten, durch den Waggon hinter die Frachtkisten. Dort ging ich in die Knie und übergab mich. Mein Magen hob sich, und ich spie das karge Essen, das ich in mir hatte, wieder aus. Danach ging es mir besser. Das Schwanken und Vibrieren des Zuges setzte mir nicht mehr so zu. Schwerfällig bewegte ich mich zu meinem Platz zurück. »Du bist ja ganz grün im Gesicht, Junge«, sagte der Tramp. »Ich glaube, die Eisenbahn ist nichts für dich«, hörte ich den Tramp sagen.
Zum erstenmal gab ich ihm recht. Ich muß dazu sagen, daß ich mich mit der Zeit an die Eisenbahn gewöhnte, und heute machen mir Zugfahrten nichts mehr aus. Aber wohler fühle ich mich auch jetzt noch im Sattel eines Pferdes inmitten des freien Landes. Damals war die Eisenbahn zu neu für mich. Die ungewohnte Geschwindigkeit, die ungewohnten Geräusche waren mir nicht geheuer und erzeugten ein körperliches Unwohlsein bei mir. »An eurer Stelle würde ich solange wie möglich mit dem Zug mitfahren«, sagte der Tramp. »Der Marshal von San Luis wird euch nicht so schnell vergessen.« »Wann hält der Zug wieder?« fragte Cavalho. »In Trinidad«, sagte der Tramp »Gegen Abend werden wir da sein. Ich steige dort aus. Trinidad ist eine gute Stadt. Die Leute dort sind wahre Christenmenschen, die ein Herz für einen armen Mann haben. Ich bin noch nie aus Trinidad weggefahren, ohne nicht von irgendeiner barmherzigen Seele ein prächtiges Essen bekommen zu haben.« »Sie betteln um Essen?« Ich mischte mich jetzt in das Gespräch ein und musterte den Mann von der Seite. »Das ist ein hartes Wort, Söhnchen. Jeder Mensch muß essen, um zu leben. Auch ich habe ab und zu Hunger, und ich bin ein armer Mann. Warum sollen nicht die, die im Überfluß haben, mir ein paar Brotsamen von ihrem Tisch geben?« »Von Arbeiten hältst du wohl nichts?« fragte Cavalho. »Ich habe zwei linke Hände, Kamerad«, sagte der Tramp. Er wurde nicht mal rot dabei. »Ich habe vieles versucht, aber die Leute, die mir Arbeit geben wollten, haben am Ende immer einsehen müssen, daß es für sie besser ist, mir eine warme Mahlzeit, statt Arbeit zu geben.« »Das muß ich mir merken«, sagte Cavalho. Ich dachte bei mir, daß der Tramp um seinen Optimismus zu beneiden war, um die Leichtigkeit, mit der er das Leben nahm. Hätte ich so denken können wie er, hätte ich weniger Sorgen gehabt. Allerdings dachte ich auch, daß ich lieber verhungern würde, als herumzuziehen und andere Leute um Essen anzubetteln. Es ging mir jetzt merklich besser. Ich fühlte mich längst nicht
mehr so schlecht und wagte auch ab und zu, einen Blick hinaus zu werfen, wo die Landschaft vorbeiflog. Hauptsächlich waren es Gebirgsmassive, die sich aneinanderreihten und die ich durch die offene Waggontüren sehen konnte. Ab und zu entdeckte ich in den Ebenen beiderseits der Bahngleise eine einsame Farm. Cavalho hatte sich auf dem harten Boden des Waggons ausgestreckt, um etwas zu schlafen. Auch der Tramp schlief. Ich konnte nicht schlafen, ich schlug mich wieder mit der Frage herum, was ich in Zukunft anfangen sollte, wo und wie ich leben sollte. Es hatte keinen Sinn zu versuchen, diese Probleme zu verdrängen. Sie ließen mir keine Ruhe, obwohl ich mir fest vornahm, nicht mehr darüber nachzugrübeln. Aber vielleicht war das einfach zuviel, was ich mir selbst abverlangte. Ohne Pläne und ohne Ziel in einer fremden Welt – das hätte auch erwachsenen Männern Kopfzerbrechen bereitet. Da hatte auch ich das Recht, mir Sorgen zu machen. Nach und nach wurde es draußen dunkler. Die Dämmerung sank auf das Land, und der Himmel färbte sich rötlich. Lange Schatten krochen als Vorboten der nahenden Nacht aus dem schwächer werdenden Schein der Abendsonne. Ich hatte das Gefühl, daß der Zug langsamer wurde. Zögernd erhob ich mich und trat an die rechte Tür des Fracht Waggons. Der Fahrtwind schlug mir kühl ins Gesicht, und ich wandte mich rasch wieder ab, denn der Blick hinaus löste wieder Schwindelgefühle in mir aus. Aber ich war jetzt sicher, daß wir an Fahrt verloren. Als ich mich wieder auf die Frachtkiste setzte, hörte ich von der Spitze des Zuges das schrille Signal der Dampfpfeife. Der grelle, durchdringende Ton weckte Cavalho und den Tramp. * Der Zug rollte langsam auf die Station zu. Fasziniert blickte ich zur Stadt hinüber, die aus dem Abend vor uns auftauchte. Noch nie hatte ich eine so große Ansiedlung gesehen. Ich schätzte mindestens dreihundert Häuser, die Straßen erschienen mir wie ein Labyrinth. Die Lichter der Stadt wirkten in der Abenddämmerung wie eine
Perlenschnur. »Der Zug hält vor der Station an, um Holz und Wasser aufzunehmen«, sagte der Tramp, dessen Namen wir bis jetzt nicht kannten und auch nie kennenlernen würden. »Dann springe ich raus. Macht's gut, ihr beiden, und nehmt euch vor den Sternträgern in acht.« Wieder schrillte die Dampfpfeife, dann preßten sich die Bremsbacken mit lautem Qietschen auf die Räder des Zuges. Schnaufend und zischend hielt er ein Stück vor der Stadt an wie ein erschöpftes großes Tier, das Atem holen will. Grauweißer Dampf stieg zwischen den Rädern auf. Der Tramp sprang ab. Er landete auf dem Schotter des Bahndamms, rutschte aus und war sofort wieder hoch. Eilig hastete er auf die Stadt zu. Ich wandte mich von der Tür ab und ging zu der Kiste zurück, auf der ich bis jetzt gesessen hatte. Unwillkürlich fuhr ich mit der Rechten in meine Hosentasche. Eisig durchfuhr mich der Schreck, sekundenlang stand ich wie gelähmt da, und obwohl ich kein Wort sagte, schien auch Cavalho zu merken, daß etwas nicht stimmte. Er drehte sich an der Waggontür um und schaute mich fragend an. »Was ist los? Was machst du für ein Gesicht?« Mein Geld war weg, die ganzen zehn Goldstücke. Zweihundert Dollar! Ich blickte Cavalho verstört an. »Mein Geld«, sagte ich und erkannte meine Stimme kaum wieder. Sie klang beklommen und schwach. »Es ist weg«, sagte ich. »Ich weiß nicht …« Cavalhos dunkles, scharfgeschnittenes Gesicht verzog sich zu einer wütenden Grimasse. »Dieses Schwein«, flüsterte er. Seine Lippen bewegten sich kaum. »So ein mieses Dreckstück.« Ich wußte, wen er meinte. So jäh, wie mich die Betroffenheit gepackt hatte, fiel sie wieder von mir ab und wurde von wild aufkeimender Wut verdrängt. Der Tramp hatte mich bestohlen, während ich geglaubt hatte, daß er schlief. Anders konnte es nicht gewesen sein. Ich war ja noch so unerfahren in der für mich neuen Welt. Ich hatte nichts von dem
Diebstahl bemerkt. Ich drehte mich um und sprang aus dem Waggon. Auf dem Schotter des Bahndamms rutschte ich aus, aber ich stürzte nicht. Ich fing mich und lief in die Richtung, in der der Tramp verschwunden war. Cavalho rief etwas hinter mir her. Ich hörte nicht hin. Ich sah den Tramp plötzlich vor mir. Er stand im Schatten eines Frachtschuppens. Im Laufen zog ich meinen Colt aus dem Hosenbund. Da drehte sich der Tramp um und sah mich. Obwohl es bereits ziemlich dunkel war, konnte ich sein entsetztes Gesicht sehen. Mit großen Sätzen hastete er davon. Ich folgte ihm, als seitlich von mir einige Männer mit Laternen auftauchten. Zu spät begriff ich, daß sie es auf mich abgesehen hatten. »Da ist einer!« hörte ich Männerstimmen schreien. »Da vorn läuft er.« Ich blieb stehen und schaute mich um. Hinter mir sah ich Cavalho. Er mußte mir gefolgt sein und winkte mir jetzt aufgeregt zu. Von der Seite stürmten die Männer heran. Im Schein der Laternen sah ich auf dem Hemd des einen einen Stern blinken. Sofort begann ich wieder zu laufen, zurück zu dem Zug. »Er hat eine Waffe!« brüllte jemand hinter mir. Ein Schuß krachte. Sengend strich eine Kugel an meinem Hals vorbei. Ich zog den Kopf ein und stürmte im Zickzack weiter. Mein Herz schlug wild, ich rang nach Atem und glaubte, Blei in den Füßen zu haben. Unvermittelt stolperte ich in der Dunkelheit über einen Draht. Ich stürzte der Länge nach zu Boden und schrammte mir die Handgelenke auf. Fluchend und mit zitternden Knien kam ich wieder auf die Beine. Abermals krachte ein Schuß hinter mir. Ein Stück vor mir lief Cavalho. Er drehte sich immer wieder um und schrie mir zu, ich solle schneller laufen. Aber ich lief schon so schnell ich konnte, schneller ging es nicht, und wenn der Leibhaftige hinter mir hergewesen wäre. Vor uns rollte der Zug bereits an. Verzweiflung stieg in mir auf. Ich dachte nicht mehr an den Tramp, dachte nicht mehr an mein Geld und den gemeinen Diebstahl. Cavalho erreichte vor mir den fahrenden Zug. Die Geschwindigkeit war bereits sehr groß. Cavalho sprintete den
Bahndamm hoch und versuchte, wieder auf den letzten Waggon zu springen. Er glitt aus und warf sich instinktiv nach hinten, als seine rechte Faust von der Eisenverstrebung neben der offenen Tür abglitt. Er schrie vor Schmerzen, als er hart zu Boden stürzte. Da erreichte ich ihn und blieb neben ihm stehen. Der Zug rollte davon. Aus brennenden Augen starrte ich ihm nach. Mit ihm schwand meine Hoffnung. Hinter uns stürmten die Verfolger heran. Cavalho stand schwerfällig auf. Sein rechtes Hosenbein war bis zum Knie hinauf zerrissen. »Dieser verdammte Tramp«, flüsterte er. »Dieser gottverdammte Tramp …« »Komm«, sagte ich, obwohl mir bereits klar war, daß es sinnlos war. Dann rannten wir nebeneinander her, überquerten die Bahngleise und versuchten, in der sich verdichtenden Dunkelheit zu entwischen. Als wir den Südteil der Stadt erreichten, tauchten unsere Verfolger von allen Seiten auf. Sie kannten sich hier aus, sie waren hier zu Hause und uns bei der Verfolgungsjagd haushoch überlegen. Der Schein ihrer Laternen näherte sich mehr und mehr, und dann war wieder der Marshal da. Mit lauter Stimme trieb er seine Männer an. Sie hetzten uns wie Raubtiere. Knapp hundert Yards hinter der Bahnstation hatten sie uns und trieben uns nahe einer Wagenremise in die Enge.
7. Ich hielt noch immer meinen Navy-Colt in der Faust, aber ich wußte, es war aus. Cavalho schien das auch zu begreifen. Mit der Linken drückte er mir resigniert den Arm herunter. Männer drängten auf uns zu. Gewehrmündungen richteten sich auf uns. Eine scharfe Stimme befahl: »Waffen fallen lassen.« Mein Navy fiel in den Staub. Cavalho zog seinen Dragoon-Colt aus dem Gürtel und warf ihn zu Boden. Sekunden später umringten uns Männer, packten uns an den Armen und hielten uns fest. Der Mann mit dem Stern auf dem Hemd trat vor uns hin und musterte uns.
Ein anderer sagte: »Das sind sie, Marshal. Sie sehen genauso aus, wie Marshal Huster sie uns über den Telegraphen beschrieben hat. Ein blonder Junge und ein Zigeuner.« »Was wollen Sie von uns?« fragte Cavalho. »Wir haben nichts getan. Wir suchen einen Tramp, der uns unser Geld gestohlen hat.« Jemand lachte höhnisch. Ein anderer versetzte Cavalho einen Fausthieb, daß er sich vornüberbeugte und sich beinahe übergab. »Ihr seid verhaftet«, sagte der Marshal. »Wir haben ein Telegramm aus San Luis erhalten. Ihr habt einen Marshal zusammengeschlagen, habt ein Pferd gestohlen und seid als blinde Passagiere mit der Eisenbahn gefahren.« »Wir haben kein Pferd gestohlen«, sagte ich. Der Marshal holte aus und schlug mir die flache Rechte ins Gesicht. Mein Kopf wurde zur Seite geschleudert. Meine linke Wange, wo der Hieb mich getroffen hatte, brannte wie Feuer. »Du redest, wenn du gefragt wirst, sonst hältst du die Schnauze«, sagte der Marshal, »wir werden euch schon beibringen, wie ihr euch zu verhalten habt. So weit sind wir noch nicht, daß jeder Landstreicher ungestraft einen Vertreter von Recht und Gesetz zusammenschlagen darf.« Ich warf einen raschen Blick auf Cavalho. Er hatte sich wieder aufgerichtet und war käsebleich. Er sagte kein Wort mehr, beobachtete den Marshal nur ängstlich. »Ab mit den Kerlen«, sagte der Beamte. »Morgen früh werdet ihr dem Richter vorgeführt.« Unsanft wurden wir mitgeschleift. Immer wieder trafen uns Tritte oder Fausthiebe. Cavalho wurde einmal mutwillig in den Dreck geworfen. Aber er wehrte sich nicht mehr, und ich leistete auch keinen Widerstand. Wir wurden zu einem großen Steingebäude geschafft. In den Granit über dem Eingang waren die Worte »Trinidad Court-House« eingemeißelt worden. Man führte uns durch hohe, kahle Gänge in einen Seitentrakt zum Office des Marshals. Als wir in den Raum gestoßen wurden, erhob sich hinter einem Schreibtisch ein junger Deputy und nahm einen Schlüsselbund von einem Wandhaken. Er ging vor uns her in einen Zellengang und
öffnete eine Gittertür. Ein letztes Mal erhielt ich eine Ohrfeige, dann taumelte ich in die Zelle, und die Gittertür flog klirrend zu. Neben mir sank Cavalho in die Knie und preßte beide Hände gegen die linke Seite, wo ihn ein Tritt getroffen hatte. Im Gang vor den Zellen wurde es wieder still. Die Männer des Marshals verschwanden. Mit ihnen verschwand auch das Licht. Als sie die Verbindungstür zum Office geschlossen hatten, wurde es stockduster. Ich tastete mich zu einer Pritsche, die ich beim Betreten der Zelle entdeckt hatte, und hockte mich auf den Rand. Es war ein einfaches, hartes Brett. Darauf lag eine zusammengefaltete Wolldecke. Kurz darauf ertastete ich auch ein dünnes, lederüberzogenes Kopfkissen. Cavalho war auf einmal neben mir und ließ sich auf der Pritsche nieder. Er atmete schwer, und ich vermutete, daß er erhebliche Schmerzen hatte. »Diese Schweine«, flüsterte er. »Was haben wir ihnen getan. Wahrscheinlich hat dieser verfluchte Marshal in San Luis telegraphiert, wir hätten ihn umbringen wollen.« »Wenn der Tramp nicht gewesen wäre und mir nicht das Geld geklaut hätte, wäre das nicht passiert«, sagte ich. »Unsinn.« Cavalhos Stimme klang jetzt wieder ruhiger. »Sie waren doch ohnehin unterwegs, um uns aus dem Zug zu holen. Sie hätten uns so oder so gekriegt. Aber wenn mir diese Ratte von einem Tramp noch mal über den Weg läuft, dreh ich ihm mit bloßen Händen den Hals um.« »Das erledige ich«, sagte ich. »Es war mein Geld. Was werden sie mit uns machen?« »Du hast doch gehört, was der Marshal gesagt hat. Morgen früh kommen wir vor Gericht.« »Und dann?« »Dann buchten sie uns erst richtig ein«, sagte Cavalho. »In Colorado gibt es feine Arbeitslager. Steinbrüche. Da können wir uns den eigenen Grabstein aus dem Fels schlagen.« »Aber was haben wir denn getan?« Ich sprang auf und lief aufgeregt in der finsteren Zelle auf und ab, bis ich mit dem Kopf hart
gegen ein Gitter stieß. Dann blieb ich stehen. »Wir sind mit dem Zug gefahren, ohne zu bezahlen. Und sonst ?« »Du hast nichts weiter getan, das stimmt schon.« Cavalhos Stimme klang seltsam hohl in der Dunkelheit. »Aber ich bin ein entlaufener Mörder.« »Das wissen die hier aber nicht«, sagte ich. »Gott sei Dank«, sagte Cavalho. »Sonst bin ich dran. Die hängen mich glatt auf.« Ich tastete mich durch die Zelle und suchte nach einem Fenster. Es gab eins, es befand sich fast unter der Decke und war so schmal wie ein Handtuch, außerdem vergittert. Flucht war unmöglich. »Ich scheiße auf diese Gesetze«, sagte ich laut. »Man wird bestraft, obwohl man nichts angestellt hat, nur weil anderen nicht paßt, was für ein Leben man führt. Ich weiß nicht, warum ich hier bin, und das werde ich dem Richter morgen früh sagen. Wenn er ein kluger Mann ist, wird er das einsehen.« »Du bist naiv, Kleiner«, sagte Cavalho. »Nenn mich nicht Kleiner«, sagte ich gereizt. »Es gibt keine Gerechtigkeit«, erklärte Cavalho. »Der Richter hört dir gar nicht zu. Für den bist du ein schmutziger Landstreicher, der außerdem einen pflichtbewußten Beamten mißhandelt hat.« »Wir haben uns nur gewehrt«, sagte ich. »Gegen einen Sternträger wehrt man sich nicht«, sagte Cavalho. »Wenn man es tut, geht es einem so wie uns jetzt.« »Ich lasse mich nicht einsperren und für nichts bestrafen.« »Du mußt noch viel lernen«, sagte Cavalho. »Je mehr du dich auflehnst, je härter bestrafen sie dich. Du kannst mir glauben. Ich habe es erlebt. Als ich dieses Schwein umgebracht hatte, das über meine Schwester hergefallen war, da habe ich auch versucht, vor Gericht eine große Schau abzuziehen. Ich hätte die Klappe halten sollen. Dann wäre ich vielleicht mit ein paar Jahren Arbeitslager davongekommen. So haben sie mich zum Tode verurteilt, und wenn die das hier rauskriegen …« Er sprach nicht weiter. Ich setzte mich wieder neben ihn. »Bei den Apachen war ich ein freier Mann«, sagte ich. »Niemand hat mir nachgeschnüffelt. Ich hatte meine Ruhe, und niemand wurde
ohne Grund bestraft.« »Du bist nicht mehr bei den Apachen«, sagte Cavalho. »Ich habe die Rothäute immer für Wilde gehalten. Nach allem, was du erzählst, scheinst du aus einer besseren Welt zu kommen. Aber jetzt gehörst du wieder zu den Weißen, und hier gelten andere Gesetze. Daran führt kein Weg vorbei.« »Wir werden sehen«, sagte ich. Ich schwang meine Beine auf die Pritsche und streckte mich aus. Stumm schaute ich in die Dunkelheit und versuchte, innerlich ruhiger zu werden. Nach und nach gelang es mir. Ich zwang mich dazu, denn ich dachte daran, daß ich am nächsten Tag Energie und Kraft brauchen würde. Cavalho schwieg ebenfalls. Er hatte sich zu der zweiten Pritsche in der Zelle getastet und sich darauf ausgestreckt. Aber er schlief nicht. Er atmete laut und nervös und wälzte sich unruhig hin und her. Ich konnte ihn verstehen. Bei ihm ging es um den Kopf, bei mir nur um die Freiheit. Doch das war schon schlimm genug. Ich erinnerte mich in diesen Stunden an die eiserne Selbstdisziplin, die ich bei den Apachen gelernt und die mir immer geholfen hatte, in kritischen Situationen die Nerven zu behalten. Auch diese Erfahrung hatte ich Cavalho voraus. Deshalb schlief ich nach kurzer Zeit ein, als sei nichts geschehen, während Cavalho bis zum Morgen wach lag, bevor sein übermüdeter Körper sein Recht forderte. * Die Fenster der Gefängniszellen schienen auf einen finsteren Hinterhof hinauszuführen. Es wurde Tag, aber kein Sonnenstrahl fiel durch die handtuchschmale Öffnung über unseren Pritschen in die Zelle. Ich erwachte, als ich das Klirren von Schlüsseln hörte, das in dem hohen Zellengang seltsam hohl und drohend klang. Ich fühlte mich ausgeruht und war innerlich ruhig. Der Schlaf hatte mir gutgetan. Das war nicht von der Umgebung abhängig. Cavalho wälzte sich noch immer unruhig auf seiner Pritsche hin und her. Sein Gesicht hatte selbst im Schlaf einen verängstigten Ausdruck angenommen. Dunkle Bartschatten ließen ihn noch
hohlwangiger erscheinen. Ich schwang die Beine auf den Boden und blieb auf dem Rand der Pritsche sitzen, als ich uniformierte Wärter vor der Tür unserer Zelle auftauchen sah. Schlüssel klirrten im Schloß. Die Gittertür schwang auf. »Aufstehen!« schrie einer der beiden Wärter. »Hoch mit euch, ihr Bastarde!« Cavalho fuhr auf seiner Pritsche hoch und blickte die Wärter verstört an. Die Decke rutschte ihm vom Leib zu Boden. »Aufheben!« schrie der Wärter. »Wir sind hier nicht im Hühnerstall. Wenn du glaubst, daß du hier alles versauen kannst, irrst du dich.« Cavalho sagte kein Wort. Er bückte sich hastig, hob die Decke auf und faltete sie mit zitternden Händen zusammen. Ich hätte nie gedacht, daß er solche Angst haben könnte. Ich erhob mich nun auch von meiner Pritsche. Meine Decke lag unbenutzt am Fußende des Lagers. Als die Wärter uns zum Mitkommen aufforderten, ging ich widerspruchslos zur Tür. Cavalho folgte mir. Wir wechselten ein paar stumme Blicke, wagten aber nicht zu reden. Wir waren sicher, daß die Wachen nur darauf warteten, uns mißhandeln zu können. Wir wollten ihnen keinen Vorwand dafür liefern. Die Wachen trieben uns durch den Gang, an den Zellen vorbei, in das Office des Marshals. Er erwartete uns schon. Als wir eintraten, erhob er sich hinter seinem Schreibtisch und griff nach einer Schrotflinte mit abgesägten Läufen, die unweit an der Wand lehnte. »Da seid ihr ja.« Er musterte uns neugierig. Mit Cavalhos jämmerlichem Zustand schien er zufrieden zu sein. Mit mir nicht. Ich wirkte wahrscheinlich zu ruhig und zu erholt. Er sagte nichts, aber ich las in seinen Blicken, wie er mich abschätzte. »Vorwärts«, sagte er. Er ging uns voran, die beiden Wärter, die uns geholt hatten, rahmten uns ein. Wir verließen das Office und schritten durch die Gänge des Gerichtsgebäudes. In der Nacht war es hier still und leer wie in einem Gewölbe gewesen. Jetzt sahen wir überall Menschen, die
geschäftig herumeilten und, wenn sie uns erblickten, stehenblieben und uns anglotzten. Wenig später erreichten wir eine breite Tür aus dunkler Eiche. Der Marshal öffnete sie. Wir wurden in den Raum dahinter getrieben. Es war ein kleiner Saal, die Wände waren zur Hälfte holzgetäfelt. Am Kopf des Saales stand auf einem Podest ein breiter wuchtiger Tisch aus schwarzer Mooreiche. Dahinter saß ein lächerlich kleiner Mann, der im Verhältnis zu dem riesigen Tisch wie ein häßlicher, mickriger Zwerg wirkte. Er hatte einen Schädel, der so kahl war wie eine polierte Billardkugel. Da er aber außerdem sehr mager war, wirkte der Schädel eher wie ein von faltigem Fleisch überzogener Totenkopf. Der Totenkopf setzte, als wir hereingetrieben wurden, einen randlosen Zwicker auf die Nase und beäugte uns durch die dicken Gläser wie ein böser, alter Uhu. Er griff nach einer seltsam schwarzen Kappe, die wie ein abgeschnittener Topf aussah, und stülpte sie sich auf den Kopf. Dann erhob er sich. Seitlich des riesigen Tisches tauchte unvermittelt ein weiterer Mann auf, klein und dick, mit puterrotem Gesicht. Er hielt eine große Glocke in der rechten Faust. Ihr Klang erfüllte den Raum. Er war der Qerichtsdiener und verkündete, daß die Verhandlung vor dem Stadtgericht von Trinidad, Colorado, hiermit eröffnet sei. Das Totenkopfmännchen, das außerdem eine schwarze Robe trug, setzte sich ebenfalls. Nur wir, Cavalho und ich, mußten stehen bleiben, und zwar vor einer seltsamen Schranke aus gedrechseltem Holz, zu der der Marshal uns unsanft schob. Rechts und links blieben die Wachen stehen. »Anklage?« fragte das Männchen hinter dem Tisch. Seine Stimme klang dünn und scharf. »Landstreicherei, Pferdediebstahl, Betrug durch Benutzen der Eisenbahn ohne Fahrkarte und Körperverletzung eines Gesetzesbeamten«, sagte der Marshal. »Haben die beiden Sie angegriffen?« fragte der Richter. »Nein, Euer Ehren. Den Marshal von San Luis, der sie mit einem gestohlenen Pferd erwischte und sie mitnehmen wollte. Sie waren beide bewaffnet.«
Die Blicke des Totenkopfes richteten sich wieder auf uns. »Name?« schnarrte er. »Ronco«, sagte ich. »Und ich bin unschuldig, ich habe kein Pferd gestohlen und …« »Sind Sie nicht in der Lage, den Angeklagten zur Ordnung zu rufen?« kreischte das Männchen hinter seinem Tisch. Sein Totenschädel lief kirschrot an. Der Marshal wirbelte herum und ließ seine rechte Faust vorschießen. Sie krallte sich in den Kragen meines Hemdes. Er schnürte mir fast die Luft ab. »Halt die Schnauze«, zischte er. »Sonst breche ich dir alle Knochen, wenn wir hier wieder raus sind.« Mit meiner inneren Ruhe war es dahin. Nackte Wut stieg in mir auf. Waren das hier Verrückte? Hatte ich nicht mal das Recht, mich zu den erhobenen Vorwürfen zu äußern? Durfte ich mich nicht verteidigen? Ich schwieg verbissen, und der Marshal ließ mich los. »Alles in Ordnung, Euer Ehren«, sagte er. Das Männchen aber hatte sich noch nicht beruhigt. »Dreißig Tage Haft wegen Landstreicherei und Pferdediebstahl. Dreißig Tage Haft wegen Betrug und Körperverletzung und dreißig Tage Haft wegen ungebührlichen Betragens vor Gericht!« schrie der Totenkopf. »Insgesamt neunzig Tage. Der Angeklagte wird zur Strafverbüßung nach El Moro überstellt. Der nächste! Name?« »Ich lasse mich nicht für nichts einsperren!« schrie ich. »Ich habe niemandem etwas getan. Aber mir hat man gestern abend mein ganzes Geld gestohlen. Ich …« Der Marshal drehte sich wieder um und schlug wortlos zu. Seine flache Rechte traf mich voll ins Gesicht. Fast wäre ich gestürzt. Ich schmeckte Blut auf meinen Lippen und schwankte benommen. Vor meinen Augen drehte sich alles. Der Richter hatte sich hinter seinem Tisch erhoben und hielt einen kleinen Holzhammer in der Hand, mit dem er ein wildes Stakkato auf die Tischplatte hämmerte. Sein Gesicht sah aus, als platze der kahle Schädel. »Das hat es ja noch nie gegeben!« kreischte er mit
überschnappender Stimme. »Ist es nicht mehr möglich, vor einem freien amerikanischen Gericht die Ordnung zu gewährleisten, so daß ein Richter nicht in der Ausübung seiner Pflicht gehindert wird?« »Ich bitte um Entschuldigung, Euer Ehren«, stammelte der Marshal. »Ich meine – ich weiß doch nicht, was in den Köpfen von solchen Schurken vorgeht und …« »Sind Sie fähig, Ihr Amt auszuüben oder nicht, Marshal?« schrie der Richter. »Ich denke doch, Euer Ehren.« »Dann sorgen Sie dafür, daß so etwas nicht passiert!« Keuchend sank er auf seinen Stuhl zurück und wandte sich mir wieder zu. Seine Lippen zitterten vor Wut, als er sagte: »Noch einmal dreißig Tage Haft, wegen eines Angriffs auf die freie Entscheidung eines amerikanischen Richters.« Zur Bekräftigung schlug er noch einmal mit dem Hammer auf die Tischplatte. Ich wunderte mich, daß der Stiel nicht zerbrach. Diesmal hielt ich den Mund. Aber der Zorn, der mich erfüllte, ist nicht zu beschreiben. Ich war wild entschlossen, diese ungerechte Strafe auf keinen Fall hinzunehmen, auch wenn ich noch nicht wußte, was ich dagegen tun sollte. »Name?« schnautzte der Richter inzwischen Cavalho an. »Djergo Rinehold«, sagte Cavalho. Seine Stimme klang unsicher und schwach und er mußte den Namen wiederholen, weil der Gerichtsdiener, der das Protokoll schrieb, ihn nicht verstanden hatte. Für einen Moment vergaß ich meine Wut und staunte, dann begriff ich, warum Cavalho einen falschen Namen angegeben hatte. Wahrscheinlich hoffte er, daß die Behörden auf diese Weise nicht herausbekommen würden, daß er weiter westlich von hier als Mörder gesucht wurde. »Sechzig Tage«, verkündete der kleine Richter. »Der Angeklagte wird zur Verbüßung der Strafe nach El Moro überstellt. Abführen! Bringen Sie die nächsten, Marshal. Und sorgen Sie dafür, daß nichts mehr geschieht, was die unabhängige Entscheidungsfindung des Gerichts beeinträchtigt. Andernfalls werde ich der Stadtverwaltung Ihre Entlassung anraten.« »Jawohl, Euer Ehren. Sie können sich auf mich verlassen, Euer
Ehren.« Der großmäulige Marshal schien vor dem Zwerg hinter dem Richtertisch zu schrumpfen. Er drehte sich hastig um und wies unsere Wärter an, uns abzuführen. Ein heftiger Hieb mit einem Gewehrkolben traf mich in den Rücken. Ich taumelte hinter Cavalho her, der etwas erleichterter aussah und sich beeilte, den Anweisungen der Wärter zu folgen. Wir traten auf den Gang hinaus und wurden zum Office des Marshals zurückgeführt. Kaum hatten wir es betreten, als mich ein Schlag mit der flachen Hand auf den Hinterkopf traf, der mich mit dem Gesicht voraus zu Boden stürzen ließ. Ich hatte den Angriff nicht erwartet und konnte den Sturz nicht so schnell abfangen. So schlug ich mit der Stirn hart auf die Bodendielen. Als ich mich aufrichten wollte, war der Marshal schon über mir und riß mich an den Schultern hoch. Sein breites Gesicht wirkte so hart wie Stein. Er versetzte mir einen Stoß, daß ich rückwärts gegen den Schreibtisch, der mir am nächsten war, flog. Ich dachte, mein Kreuz würde durchbrechen, als ich mit dem Rücken gegen die Schreibtischkante prallte. Betäubungsschleier stiegen in mir auf. Die Schmerzen erfüllten mich wie ein innerlich brennendes Feuer, das mich verzehren wollte. Wortlos stampfte der Marshal auf mich los. Rötliche Schleier wallten vor meinen Augen. Ich sah den Mann nur schemenhaft auf mich zutreten. Einen Sekundenbruchteil später traf mich sein nächster Schlag. Die Faust riß mir fast das Kinn ab. Ich dachte, daß mein Kiefer gebrochen sei, torkelte benommen und halbverrückt vor Schmerzen am Schreibtisch entlang und versuchte, mich an der Kante festzuklammern, um nicht zu stürzen. An Gegenwehr war gar nicht zu denken. Dazu hätte ich einigermaßen klar denken müssen, aber dazu ließ mich der Marshal nicht kommen. Außerdem bin ich nachträglich sicher, daß er mich, wenn ich mich zur Wehr gesetzt hätte, zum Krüppel geschlagen hätte. Ein Hieb in den Magen ließ mich zusammenklappen wie ein Taschenmesser. Ich würgte und rang nach Atem. Wahrscheinlich hätte ich mich übergeben, wenn ich etwas im Magen gehabt hätte. Aber seit gestern, seit ich mich im Zug übergeben hatte, hatte ich
nichts mehr gegessen. Trotzdem waren die Schmerzen kaum noch zu ertragen. Ich schrie jetzt, und eine schallende Ohrfeige warf mich wieder zu Boden. Aber ich hörte nicht auf zu schreien, und das war gut so, denn die Schreie hallten hinaus in die Gänge des Gerichtsgebäudes. Das schien dem Marshal nicht zu gefallen. Er ließ schnaubend von mir ab und befahl den beiden Wärtern, uns einzusperren. Ich konnte mich nicht allein erheben. Die Wärter packten mich an den Armen und schleiften mich hinter Cavalho her den Zellengang hinunter. In unserer Zelle ließen sie mich einfach auf den Boden fallen und gingen hinaus. Klirrend fiel die Gittertür zu.
8. Ich lag flach auf der Pritsche, als die Betäubungsschleier nach und nach wichen und die Schmerzen nachließen. Langsam wandte ich den Kopf. Cavalho hockte auf dem Rand meiner Pritsche und schaute mich besorgt an. In seinen schwarzen Augen lag grenzenlose Traurigkeit. »Du – du hattest recht«, sagte ich schwach. »Gestern abend, weißt du noch, was du über das Gericht gesagt hast und so …« »Schon gut«, sagte er. »Es ist alles Scheiße.« »Sei froh«, sagte ich. »Du brauchst bloß sechzig Tage brummen, ich hundertfünfzig Tage.« »Du hättest den Mund halten sollen«, sagte Cavalho. »Vielleicht. Aber ich glaube, daß man nicht den Mund halten sollte, wenn einem Unrecht geschieht.« »So ist alles nur schlimmer geworden«, sagte er. »Ich hab dir doch von meinem Mordprozeß erzählt. Hätte ich den Mund gehalten, wäre ich nicht zum Tode verurteilt worden.« »Aber du bist nicht tot«, sagte ich. »Es war eine gute Idee, einen falschen Namen anzugeben.« »Fragt sich nur, wie lange das gutgeht«, sagte er. »Hoffentlich werden keine Steckbriefe von mir gedruckt. Dann platzt der Schwindel früher oder später.« »Wo ist El Moro?« fragte ich.
»Keine Ahnung«, sagte Cavalho. »Das wird ein Straflager sein.« Ich betastete vorsichtig mein Gesicht und mein Kinn. Es schien alles in Ordnung zu sein. Offenbar bestätigte sich wieder einmal, was mir schon während der Jahre bei den Apachen aufgefallen war: Ich hielt eine ganze Menge aus. Vorsichtig richtete ich mich auf und schwang die Beine von der Pritsche. Cavalho rückte ein Stück zur Seite. Die Bewegungen bereiteten mir zwar erneut Schmerzen, aber das war auszuhalten. »Ich habe gedacht, der Marshal würde dich totprügeln«, sagte Cavalho. »Ich auch«, sagte ich. »Aber so schnell kriegt man mich nicht tot.« Auf dem Gang vor den Zellen ertönte das Scheppern von Schüsseln und Kannen. Cavalho stand auf und ging zur Gittertür. Als er zurückkehrte, sagte er: »Es gibt Essen.« Das wurde Zeit. Trotz der brutalen Schläge, die meinen Leib getroffen hatten, meldete sich jetzt auch der Hunger, und meine Kehle war trocken wie die Wüste von Mexiko. Ich brauchte dringend etwas Flüssigkeit. Wenig später erreichten die Posten mit einem Essenskübel, der auf einem fahrbaren Untersatz stand, auch unsere Zelle. Eine schmale quadratische Klappe in unserer Gittertür wurde heruntergeklappt. Cavalho nahm das Essen in Empfang. Es war ein Kanten Brot für jeden, ein Napf Fleischbrühe und je ein Becher mit Kaffee. Wir aßen mit Heißhunger. Das Brot war frisch, und die Suppe war kräftig, nur der Kaffee war ein bißchen dünn. Alles in allem aber war das Essen nicht schlecht. Wir stellten das einfache Blechgeschirr nach dem Essen zusammen. Knapp eine halbe Stunde später wurde es abgeholt. Eine weitere Stunde danach holte man uns. * Wir wurden durch eine Hintertür auf den Hof des Gerichtsgebäudes gebracht. Hier standen bereits zehn andere Männer. Sie trugen Stahlfesseln an den Handgelenken. Mit Kolbenhieben wurden Cavalho und ich neben sie getrieben.
»Rinehold und Ronco!« rief einer der Wärter. Ein anderer Mann stand neben einem Frachtwagen und hielt eine Liste in den Händen. Er schaute kurz auf und kritzelte dann etwas aufs Papier. »Das sind alle«, sagte der Marshal. Er stand ein Stück abseits, die abgesägte Schrotflinte in der Armbeuge, und beobachtete uns aus kalt glitzernden Augen. Ein Wärter trat auf Cavalho und mich zu und legte uns Handschellen an. Ein anderer Wachmann jagte uns zu dem Wagen auf dem Hof. Wir mußten aufsteigen. Ein Wärter kletterte auf den Bock, die anderen Posten bestiegen Pferde. Der Marshal blieb zurück, als sich der kleine Troß in Bewegung setzte und der Wagen aus dem Hof rollte. Es war Mittag. Die Sonne stand hoch und brannte gnadenlos auf das Land herunter. Die Wärter geleiteten den Wagen durch einige finstere Gassen aus Trinidad hinaus. Als wir einen ausgefahrenen Karrenweg erreichen, der nach Nordosten führte, trieb der Kutscher die Gespannpferde zu rascherem Tempo an. Auch die Posten rechts und links vom Wagen ritten schneller. Staub wallte unter den Hufen ihrer Pferde auf. Ich hatte wieder Schmerzen. Da, wo mich die harten Fäuste des Marshals getroffen hatten, spannte sich die Haut. Als im Verlauf der Fahrt die Sonne immer heißer brannte und das Land immer staubiger wurde, wurden auch die Schmerzen schlimmer, und der Durst stellte sich wieder ein. Ich ließ meine Blicke über die anderen Gefangenen wandern. Es waren durchwegs Männer mit harten Gesichtern – ob hager, ob breitflächig, ob kantig, die die Zeichen eines rauhen, wilden Lebens trugen. Sie wirkten gleichmütig und abgestumpft. Ich war sicher, daß die meisten von ihnen schon oft im Gefängnis gesessen hatten. Ob sie es verdient hatten, konnte ich nicht beurteilen, dafür kannte ich sie nicht. Ich jedenfalls hatte es nicht verdient, da war ich ganz sicher. Zorn stieg wieder in mir auf, als ich meinen Blick senkte und auf die Stahlbänder schaute, die meine Hände fesselten. Was hatte ich getan, daß ich wie ein wildes Tier behandelt wurde? Ich glaubte auch nicht, daß Cavalho eine solche Behandlung
verdient hatte. Solange wir zusammengewesen waren, hatte er nichts angestellt, außer, daß er einem Marshal fortgelaufen war. Er hatte – nach seiner Aussage – einen Mann im Zweikampf getötet. Warum man ihn dafür bestrafte, konnte ich nicht verstehen. Ein Zweikampf wurde bei den Indianern als etwas Selbstverständliches betrachtet. Ich selbst hatte meinen Weg als weißer Apache mit einem Zweikampf begonnen, in dem ich einen Apachenjungen getötet und sogar skalpiert hatte. Es wurde Zeit, daß ich meine Denkweise änderte. Bei den Weißen galten andere Gesetze, und wenn alle Richter so waren wie der, der uns nach El Moro geschickt hatte, wunderte ich mich nicht, daß Cavalho zum Tode verurteilt worden war. El Moro … Ich fragte mich, wie es dort aussehen mochte. War es eine Hölle auf Erden? In jedem Fall war es ein Gefängnis. Ich haßte Gefängnisse, ich haßte Gitter, Mauern und verschlossene Türen. Ich war die Freiheit gewöhnt. Gefangen zu sein, das war so gut wie tot. Als die Sonne den Zenit überschritten hatte, wurde gerastet. Wir Gefangenen erhielten eine karge Ration. Kurz darauf ging die Fahrt weiter. Wir fuhren auf die Berge zu. Der Weg wurde immer unebener. Es wurde bereits Abend, als vor uns die Dächer von Häusern aus den Ausläufern eines Gebirges auftauchten, dessen Namen ich nicht kannte und nie erfahren würde. Die Gefangenen von El Moro nannten es die »Teufelsberge«, aber das war nicht der richtige Name. Es waren schäbige Hütten. Sie standen rechts und links einer steinigen breiten Main Street, die nichts als eine Verlängerung des Karrenweges darstellte. Ein paar finstere Gestalten standen am Rand der Straße, als wir vorüberfuhren. Wir rollten auf der anderen Seite des Ortes wieder hinaus und wichen dann vom Weg ab. Die Wärter ritten jetzt hinter uns, da die Straße zu schmal war und neben dem Wagen keinen Platz mehr für die Pferde ließ. Vor uns erhoben sich zwei oder drei Wachttürme. Dazwischen waren hohe Stacheldrahtzäune errichtet worden. Die Drahtreihen waren so eng gezogen, daß sich selbst eine fette Ratte schlecht hätte hindurchzwängen können. Hinter dem Stacheldraht entdeckte ich
flache Baracken, und noch weiter dahinter erhoben sich steile Felswände. Wir fuhren auf ein Tor im Zaun zu. Von einem Wachtturm schrie ein Mann etwas. Ich verstand es nicht, aber unten am Zaun tauchten ein paar andere Wärter auf, die das Tor öffneten, so daß der Wagen mit uns in das Straflager fahren konnte. Im Westen ging gerade die Sonne unter. * Unsere Handfesseln klirrten, als wir vom Wagen sprangen. Die Wärter des Straflagers übernahmen uns jetzt, bullige, ungeschlachte Typen, deren Gesichter selbst gut hinter Gefängnisgitter gepaßt hätten. Sie trieben uns wie eine Viehherde über den großen Vorplatz des Lagers. Es war nicht mehr hell, das letzte Tageslicht verblaßte, aber ich konnte erkennen, daß im ganzen Lager kein Baum und kein Strauch stand. Hier gab es nur Staub und Steine und unüberwindlichen Stacheldraht. Wir wurden aufgefordert, uns unweit eines hölzernen Gerüstes, das den Mittelpunkt des geräumigen Platzes bildete, in einer Reihe aufzustellen. Ein muskelbepackter Riese in grauer Uniform, wie alle Wärter sie hier trugen, trat vor uns hin. Er hielt eine mehrschwänzige Peitsche in der rechten Faust, mit der er ständig spielte, während er redete. »Hört zu!« rief er. »Ihr werdet jetzt eine Zeitlang bei uns bleiben, und ich denke, es ist in unser aller Interesse, wenn wir einigermaßen miteinander auskommen. Die anderen Jungs, die schon hier sind, halten sich auch an diesen Grundsatz, und sie fahren nicht schlecht dabei.« Er legte eine kurze Pause ein, um seine Worte auf uns wirkten zu lassen. Von den steilen Hängen strich ein kühler Wind herunter. Die Hitze des Tages ließ jetzt, nachdem die Sonne gesunken war, rasch nach. »Ihr seid hier nicht zur Sommerfrische. Ihr habt euch an bestimmte Regeln zu halten. Wenn ihr das tut, werden wir keinen
Ärger miteinander haben. Bei Sonnenaufgang ist Wecken. Dann erhaltet ihr euer Frühstück. Danach geht es in den Steinbruch. Mittags ist eine halbe Stunde Pause. Dann wird bis zum Abend weitergearbeitet. Wenn die Sonne untergeht, seid ihr in euren Quartieren und habt euch ruhig zu verhalten. Am Sonntag wird nicht gearbeitet. Den Anordnungen von mir oder meinen Leuten vom Wachpersonal ist widerspruchslos zu folgen. Wer sich einer Anweisung widersetzt, wird mit Essensentzug oder Dunkelhaft bestraft – in einer Zelle, in der ein Mann weder richtig stehen noch liegen kann. Wer einen Wärter angreift, wird mit Peitschenhieben bestraft.« Er deutete auf das Holzgerüst, neben dem wir standen, und erst jetzt fielen mir die Lederriemen auf, die an den Balken befestigt waren. »Die Strafe wird vor versammelter Mannschaft zugeteilt. Ist alles klar?« Wir schwiegen, und der Boß der Lagerwache schien auch gar keine Antwort zu erwarten. Er wandte sich ab, immer noch mit der Peitsche in der Rechten spielend, und gab den anderen Wärtern eine Anweisung. Wenig später traten die auf uns zu und nahmen uns die Handschellen ab. Dann mußten wir uns wieder in Marsch setzen und wurden zu einer Baracke geführt. Ein Wärter schloß die Tür auf. Er betrat die Hütte vor uns und zündete drinnen eine Laterne an. Als wir eintraten, starrten uns hohlwangige, ausgemergelte Gestalten mit tiefliegenden, hungrigen Augen entgegen. Ich weiß nicht mehr, wie viele sich schon in der Baracke befanden, aber es waren eine ganze Menge, und sie sahen jämmerlich aus. Genauso jämmerlich wie die ganze Hütte. Sie starrte vor Dreck, wohin ich auch blickte. Zwischen den Pritschen, die dicht an dicht an den Längsseiten der Hütte standen, führte ein schmaler Gang hindurch. Wir Neuen wurden in den hinteren Teil der Baracke getrieben, wo es noch unbelegte Pritschen gab. Sie trugen Nummern, und die Wärter verteilten uns auf die verschiedenen Pritschen. Ich erhielt die Nummer 235. Wir mußten uns sofort hinlegen. Ich bemerkte erleichtert, daß Cavalho die Pritsche neben mir erhielt. Da die Pritschen dicht nebeneinander standen, würden wir uns leise unterhalten können.
An den Fußenden der Pritschen waren Ketten mit einem stählernen Ring angeschraubt. Die Wärter legten uns die Ringe ums Bein, so daß wir in der Nacht die Pritschen nicht verlassen konnten. Ohne ein weiteres Wort gingen die Wachen hinaus. Das Licht nahmen sie mit. Es wurde dunkel in der nach Schweiß, Urin, Kot, Fäulnis, Schmutz und Erbrochenem stinkenden Hütte. Noch waren das Klappen der Tür und das Klirren der Schlüssel im Schloß zu hören. Dann verstummte auch das, und Stille trat ein. Ich wälzte mich auf die Seite, wenigstens das konnte man mit der Kette am Fuß, und versuchte, mit Blicken die Finsternis zu durchdringen und zu Cavalho auf die Nachbarpritsche hinüberzuschauen. Es war fast unmöglich. Ich konnte nur ganz schwach die Umrisse seines Körpers erkennen, und ich hörte sein schweres Atmen. »Wie ist es?« flüsterte ich. »Beschissen«, flüsterte er zurück. Seine Stimme zitterte etwas. Unterdrückte Angst schwang darin mit. »Es ist alles gutgegangen«, sagte ich. »Bis jetzt. Aber wenn sie mich genauer überprüfen, wenn der Marshal, dem ich davongelaufen bin, eine Fahndung nach mir startet und der Marshal von Trinidad so einen Steckbrief auf seinen Schreibtisch kriegt … Es gibt nicht so viele Zigeuner in dieser Gegend. An mich erinnert er sich bestimmt.« »Ruhe!« sagte eine Stimme in der Dunkelheit des Raumes. »Schlaft lieber. Ihr werdet morgen alle Kraft brauchen. Da ist jede Minute Schlaf wichtig.« Ich schwieg, und auch Cavalho sagte nichts. Wir würden am Tage noch Gelegenheit haben, zu sprechen, glaubte ich. Ich war ganz schön naiv. Ich wußte ja auch nicht, wie es in einem Straflager zuging. Bevor ich einschlief, bäumte sich noch einmal alles in mir gegen die ungerechte Behandlung auf, doch ich zwang mich zur Ruhe. Im Moment konnte ich doch nichts unternehmen. Meine Stunde würde kommen. So war es immer gewesen. Es galt, nicht zu verzweifeln und durchzuhalten. Wenn ich jedoch in aller Ruhe über die Wochen nachdachte, die hinter mir lagen, so gelangte ich zu dem Schluß, daß
der Beginn meines Lebens unter den Weißen nicht gerade unter einem guten Stern stand. Wenn es so weiterging, stand mir noch Schlimmes bevor.
9. Als ich erwachte, hatte ich das Gefühl, keine zehn Minuten geschlafen zu haben. Ich fühlte mich wie zerschlagen. Ich hatte Kopfschmerzen, was wahrscheinlich an der abgestandenen, schlechten Luft im Raum lag, und spürte jeden Knochen im Körper. Durch zwei schmale Fenster flutete Tageslicht herein. Auf dem Hof waren die harten Stiefeltritte der Posten zu hören. Kurz darauf wurde die Tür unserer Baracke geöffnet. Wärter traten ein und befreiten uns von den Ketten, die uns an die Pritschen fesselten. Wir mußten aufstehen und hintereinander die Hütte verlassen. Im Gänsemarsch zogen wir auf den großen Platz zwischen den Baracken und wurden zu einer Reihe von länglichen Holztrögen geführt, in die ein Windrad aus einem Brunnen Wasser pumpte. Hier mußten wir uns waschen. Danach ging es zum Essenfassen. Als wir die Waschtröge verließen, zogen die Häftlinge, die in einer anderen Hütte hausten, heran. Wir erhielten unser Essen, das wir neben unserer Baracke stehend einnehmen mußten. Es gab einen bitter schmeckenden Haferbrei, ein Stück Brot und dünnen Kaffee. Nachdem wir gegessen hatten, übernahmen jeweils zwei Wärter die Gefangenen einer Baracke. Getrennt marschierten die einzelnen Züge los. Wir waren die ersten, die zum Nordende des Lagers zogen. Hier befand sich ein Canyon-Eingang. Oberhalb davon, auf einer vorgelagerten Felsklippe, stand ein Wachtturm. Wir marschierten durch den Canyon, der sich alsbald vor uns öffnete. Wir wurden in einen Felskessel geführt. An dessen Ostende war unsere Arbeitsstelle – ein Steinbruch, in dem roter Sandstein gebrochen wurde. Wir empfingen hier Werkzeuge, Spitzhacken und Schaufeln, keine schlechten Waffen, wenn man es genau bedachte. Aber die Wärter trugen Gewehre und Revolver. Das waren in jedem Fall bessere
Waffen als Hacken und Schaufeln. Die Wärter sprachen nicht viel. Sie hielten etwas Abstand von uns, als sie uns die Werkzeuge ausgehändigt hatten, vermutlich, um notfalls besseres Schußfeld zu haben, und hielten ihre Schrotflinten schußbereit in den Fäusten. Sie trieben uns in den Steinbruch. Wir begannen mit der Arbeit. Cavalho und ich arbeiteten nebeneinander. Wir hatten einen mächtigen Gesteinsbrocken zu bearbeiten und, zu zerschlagen. Ein dritter Mann arbeitete mit uns. Er warf mit einer Schaufel die zerkleinerten Gesteinstrümmer auf eine hölzerne Rutsche, die den Berg hinunterführte. Unterhalb dieser Rutsche wurden von anderen Gefangenen die Wagen beladen, die aber von anderen Gefangenen gefahren wurden. Sie genossen eine bevorzugte Stellung. Die Sonne stieg höher. Es wurde rasch heiß. In dem Talkessel, in dem sich der Steinbruch befand, staute sich die Luft, kein Windhauch regte sich, und noch bevor es Mittag wurde und die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, herrschte im Felskessel eine Hitze wie in einem Ofenrohr. Ich schwang die Spitzhacke, die man mir in die Hand gedrückt hatte, während mir der Schweiß in Strömen über das Gesicht rann und mir die Kleider am Körper klebten. Steinstaub erhob sich nach jedem Schlag, blieb in der heißen Luft hängen und wurde mit eingeatmet. Er ließ sich aber auch auf der Haut nieder, wo er sich mit dem Schweiß zu einer rötlich schimmernden Kruste vereinigte, die die Poren verstopfte und die Hitze noch unerträglicher werden ließ. Einmal hielt ich in der Arbeit inne, setzte die Spitzhacke ab und zog mein Hemd aus. Da näherte sich bereits einer der Wärter. »Weiterarbeiten«, schrie er. »Es ist noch nicht Pause.« Ich richtete mich auf, nachdem ich mein Hemd zu Boden gelegt hatte, und blickte ihn an. Wilder Zorn erfaßte mich. Ich griff nach der Spitzhacke. Meine Fäuste umkrampften den wuchtigen Stiel und es hätte nicht viel gefehlt, dann hätte ich das schwere Werkzeug hochgerissen und dem Wärter an den Schädel geschleudert. Dann dachte ich an das Holzgerüst auf dem Vorplatz des Straflagers, und an die mehrschwänzige Peitsche des Oberaufsehers. Ich riß mich zusammen und wandte mich wieder der Arbeit zu.
Cavalho, dem die Worte des Wärters gar nicht gegolten hatten, hatte beim Erklingen der rauhen, harten Stimme unwillkürlich den Kopf eingezogen. Er arbeitete jetzt noch schneller und bearbeitete den riesigen Gesteinsbrocken mit gewaltigen Schlägen, daß die Splitter nur so flogen. Es war die Angst, die ihn so trieb. Die Angst, aufzufallen, näher untersucht und womöglich entlarvt zu werden. Hier im Lager war er Djergo Rinehold oder Nummer 234. Für sechzig lange Tage. Heute war der erste. Er hatte sich verändert, seit wir in Trinidad festgenommen worden waren. Vorher war er ein stolzer und auch ein kühner Mann gewesen, der kämpfte, wenn es sein mußte. Seit der Gefangennahme war er nur noch ein Nervenbündel, von ständiger Angst gepeinigt. Ich hatte ein paarmal versucht, ihn während der Arbeit anzusprechen. Aber er hatte nicht geantwortet, er hatte nur den Kopf eingezogen und stur auf den großen Stein gestarrt, den wir zu bearbeiten hatten. Sogar der dritte Gefangene, der an unserer Seite arbeitete und uns beide nicht kannte, hatte Cavalho daraufhin merkwürdig und verwundert angeschaut. Er war ein Mann Mitte der Dreißig, hager, etwas ausgemergelt, hohlwangig und sehnig. Er war schon seit einem Jahr hier – wegen eines Postkutschenüberfalls – und hatte weitere drei Jahre vor sich. Vorher hatte er bereits ein halbes Jahr in einem Straflager in Kansas gesessen. Er kannte sich aus, er lehnte sich nicht gegen das brutale Regiment in den Straflagern auf. Für ihn waren diese Lager bereits zu einem Teil seines Lebens geworden. Freiheit bedeutete ihm nichts, wenn er sprach, dann von Geld, Whisky und Frauen. Ich war sicher, daß er eines Tages am Galgen enden würde, und er schien das sogar selbst zu glauben, erweckte jedoch nicht den Eindruck, als würde ihn diese Aussicht irgendwie belasten und zu einer Änderung seines Lebens beitragen. »Hat schon mal jemand versucht, von hier abzuhauen?« fragte ich ihn gegen Mittag, als ich sicher war, daß er über alles, was unter den Gefangenen gesprochen wurde, den Mund hielt. »Im letzten Jahr, seit ich hier bin, dreimal«, sagte er. »Hat's geklappt?« »Einmal«, sagte er. »Der letzte, vor zwei Monaten, der ist
durchgekommen. Jedenfalls haben wir nichts mehr von ihm gehört. Die beiden anderen sind geschnappt worden. Einen haben sie halb tot geschlagen, unten auf dem Hof. Der andere war schon tot, als er gebracht wurde. In den Rücken geschossen.« »Was haben sie falsch angepackt?« Er blickte mich unsicher an. »Willst du etwa auch abhauen?« »Ich will nur wissen, wie groß die Chance ist«, sagte ich und musterte ihn scharf. »Geht mich ja auch nichts an«, sagte er und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. »Ich erzähl dir, was du wissen willst. Warum du fragst, interessiert mich nicht. Aber ich sag dir, die Chance ist gering. Ich habe noch drei Jahre vor mir. Das steh ich durch. Hier sind andere, die müssen noch länger hier schuften. Du hast nur hundertfünfzig Tage abzureißen. Das schaffst du mit geschlossenen Augen. So wie du aussiehst, gehörst du nicht zu denen, die schnell schlapp machen.« »Habe ich gesagt, daß ich abhauen will? Ich frage ja nur.« »Okay, Freund. Der eine, der es geschafft hat, ist über die Berge gegangen. Aber da oben wird es verdammt steil, da muß man klettern können wie ein Affe. Bei Regen ist das Gestein so glatt wie eine Eisfläche. Außerdem gibt es dort oben kein Wasser, und der Weg zur nächsten Quelle ist verdammt weit.« »Für einen, der sich nicht dafür interessiert, weißt du gut Bescheid«, sagte ich. »Es wird darüber geredet«, erwiderte er. »Im ganzen Lager. Immer wieder reden sie darüber, diese Idioten.« Er schaute mich dabei nicht an, aber ich hatte durchaus das Gefühl, daß er mich in diesen Begriff miteinbezog. »Es läßt sich alles aushalten«, sagte er. »Eines Tages kommt jeder hier raus. Warum soll man seinen Hals riskieren?« Ich antwortete nicht, und da schlenderte einer der Wärter unserer Abteilung vorbei, blieb stehen und schnauzte: »Nicht sprechen. Ihr sollt arbeiten, ihr Drecksäcke, und nicht herumquatschen.« In diesem Moment wurde unten auf dem Vorhof des Lagers ein riesiges Triangel geschlagen. Das schrille Klirren hallte bis durch den Canyon in den Felskessel und war hier bis in die entlegensten
Ecken des Steinbruches zu hören. Es war das Signal zur Mittagspause. Wir stellten die Werkzeuge ab und wurden in den Felskessel hinuntergeführt. Durch den Canyon rollte ein Wagen mit dem Essen. Ein paar Gefangene wurden abkommandiert, um die riesigen Essenkübel abzuladen und das Eßgeschirr auszuteilen. Nach der Arbeit im Steinbruch war jeder hungrig, und auch mir war es ganz egal, wie das Essen war. Hauptsache, es füllte meinen Magen und machte mich satt. Es gab einen etwas angebrannt riechenden Brei aus Bohnen und Fleisch, dazu Brot und Wasser. Die Verteilung der Rationen war gerecht, was aber nichts daran änderte, daß die Rationen dürftig waren und man kaum davon satt werden konnte. Mit Heißhunger schlang ich die Mahlzeit in mich hinein und trank dann schluckweise, mit jedem Schluck sorgfältig meine Mundhöhle ausspülend, mein Wasser. Die Sonne stand jetzt senkrecht über dem Felskessel. Die Luft im Steinbruch flimmerte, stellenweise war das Gestein so heiß, daß man darauf hätte Eier braten können. Die Hitze war fast unerträglich, zumal in den Felskessel kein Windhauch gelangte, der etwas Kühlung hätte bringen können. Ich saß neben Cavalho. Er hatte sein Essen noch schneller hinuntergeschlungen als ich, und er trank auch sein Wasser mit zwei oder drei Schlucken. Das war ein Fehler, er würde sehr schnell wieder durstig werden, und bis zum Abend war es noch lang. Aber er würde das alles noch lernen. »Wir könnten versuchen, von hier abzuhauen«, sagte ich zu ihm, als sich ein paar Gefangene, die neben uns gehockt und ihr Essen eingenommen hatten, ein Stück abseits in den Schatten gelegt hatten. »Ich habe gehört, was du mit dem Kerl gesprochen hast, der die Kutsche ausgeraubt hat«, erwiderte er. »Und?« »Ich weiß nicht«, sagte er. Er starrte zu Boden. Seine Haltung, seine Worte, selbst der Klang seiner Stimme verrieten seine Mutlosigkeit. »Vielleicht wäre es besser gewesen, ich wäre nicht
davongelaufen«, sagte er. »Vielleicht hätte ich mich hängen lassen sollen.« »Unsinn«, sagte ich. »Nein, nein«, widersprach er, ohne aufzuschauen. »Mir wäre eine Menge erspart geblieben und dir auch. Ohne mich wärst du nie in den Kampf mit Fangio und Chico verwickelt worden, du hättest nie Ärger mit dem Marshal von San Luis bekommen, und du würdest nicht hier sitzen.« »Blödsinn«, sagte ich. »Vielleicht würde ich wirklich nicht hier sitzen, aber Ärger mit irgendwelchen Sternträgern hätte ich früher oder später bestimmt gekriegt. Außerdem hat es keinen Sinn, sich über Dinge den Kopf zu zerbrechen, die hätten sein können, wenn … Die Dinge sind nicht so. Wir müssen sehen, daß wir mit unserer Lage, so wie sie jetzt ist, fertig werden. Ich habe keine Lust, monatelang in diesem Loch zu sitzen und zu schuften, bis ich einen Sonnenstich und eine rote Haut kriege. Hast du dir die Hände der Gefangenen angesehen, die schon lange hier sind? Ihre Hände sind ganz rot vom Sandstein. Das frißt sich in die Haut, und man wird es so schnell nicht mehr los. Überall wird einem dann angesehen, wo man herkommt. Und hast du die Männer husten hören? Das ist der Steinstaub. Der wird eingeatmet und dringt in die Lunge. Dann zerstört er dich von innen heraus.« »Vielleicht hau ich mit ab«, sagte Cavalho schwach. »Ich weiß es aber nicht.« »Sie können eines Tages entdecken, daß dein Name falsch ist«, sagte ich, »vergiß das nicht.« »Ja«, sagte er. Er hob den Kopf und blickte mich mit glanzlosen, traurigen Augen an. »Wenn ich mitgehe, dann wäre das ein Grund, denn dann ist sowieso alles egal.« »Ich werd mir was überlegen und mich noch ein bißchen umhören«, sagte ich. »Der Weg über die Berge scheint der sicherste zu sein, aber er ist auch gefährlich.« Die Pause war zu Ende. Wir erhoben uns. »Hundertfünfzig Tage gefangen, in diesem Loch, ich würde verrückt werden«, sagte ich. »Wenn ich daran denke, dann schaffe ich es. Und wenn du daran denkst, daß die Wärter dich eines Tages
entlarven könnten, dann schaffst du es auch.« Cavalho sagte nichts. Er blickte mich nur zweifelnd und ängstlich an. Dann beeilte er sich, der Anweisung eines Wärters Folge zu leisten, der uns befahl, in einer Reihe Aufstellung zu nehmen und zurück zu unseren Arbeitsplätzen zu marschieren. Als wir zum Steinbruch hinaufstiegen, geschah es. Der Mann vor mir brach plötzlich zusammen. Sein Gesicht war ganz rot, er sah aus, als würde sein Kopf platzen. Er sackte unvermittelt zu Boden. Beinahe wäre ich über ihn gestolpert. Ich blieb stehen, und hinter mir geriet die Reihe der anderen Gefangenen ins Stocken. Der Mann vor mir sah aus, als sei er tot. Er lag auf dem Rücken, Arme und Beine hatte er von sich gestreckt. Sein Mund stand ein Stück offen, seine Lippen hatten einen schwachen bläulichen Schimmer angenommen. »Was ist los, zum Teufel?« brüllte einer der Wärter von hinten. Dann stampften sie heran. Wir anderen standen bewegungslos in der sengenden Sonne. Der Schweiß lief uns in dichten Bahnen über die Gesichter. Die Luft wurde immer stickiger. Drei Wärter standen um den Gestürzten herum. Sie hatten die Fäuste in die Hüften gestemmt und starrten auf ihn hinunter. »Steh auf!« sagte einer, ein widerlicher Kerl mit rohen Gesichtszügen, der die Aufsicht über eine andere Baracke des Lagers hatte. »Hörst du nicht, du faules Aas. Wenn du denkst, daß du dich auf diese Weise drücken kannst, bist du schief gewickelt.« Ich schwieg, obwohl ich wieder Zorn in mir aufsteigen fühlte. Der Mann hatte mindestens einen Schwächeanfall, wenn nicht einen Hitzschlag. Ähnliches hatte ich einmal bei den Apachen erlebt. Der Wärter bückte sich und stieß rücksichtslos mit dem Kolben seines Gewehres zu. Der Schlag traf den liegenden Gefangenen in den ungeschützten Leib. Stöhnend wälzte sich der Mann herum und krümmte sich zusammen. Er röchelte leise. Da hockte ich mich neben ihn und legte ihn auf die Seite. Er war schwer, und von den Wärtern half mir keiner. Ich hob den Kopf und schaute sie an.
»Ein bißchen Wasser«, sagte ich. »Er braucht etwas Wasser, und dann muß er in den Schatten.« »Er hat doch gerade Wasser gehabt«, sagte einer der Wärter, und ein anderer sagte: »Wer hat dich aufgefordert, sich einzumischen. Steh sofort auf und nimm deinen Platz in der Reihe wieder ein. Du hast dich nur an das zu halten, was wir sagen. Alles andere geht dich nichts an.« »Der Mann stirbt«, sagte ich, ohne mich zu erheben. »Dann verreckt er eben«, sagte einer der Wärter. Im nächsten Moment erhielt ich einen Tritt, daß ich auf den Rücken stürzte und das Gefühl hatte, mir seien sämtliche Rippen zerschmettert. »Aufstehen und Schnauze halten!« schrie der Mann, der mich getreten hatte. Mühsam und unter Schmerzen richtete ich mich auf. In diesem Moment hätte ich den Mann umbringen können, wenn ich eine Waffe gehabt hätte. »Hebt den Kerl hoch!« schrie ein Wärter zwei andere Gefangene an. »Wir werden es euch schon zeigen. Hier gibt es kein Simulieren. Hier wird gearbeitet und nicht gefaulenzt.« Zwei Männer beeilten sich, den Gestürzten aufzuheben. Sie nahmen ihn zwischen sich. Kraftlos hing er in ihren Griffen. Als sie sich in Bewegung setzten, schleiften seine Füße über den Boden. Wir anderen marschierten hinterher. Rechts und links von uns schritten die Wärter. Als wir unsere Arbeitsplätze wieder erreichten, griff ich nach meiner Spitzhacke und begann, wild auf den Fels einzuschlagen. In mir kochte die Wut, und es fiel mir schwer, mich zu beherrschen. Nicht nur, daß ich ungerechterweise in dieses Arbeitslager gesteckt worden war. Jetzt wurde ich auch noch mißhandelt, nur weil ich einem anderen Mann, den ich nicht einmal kannte, helfen wollte. Der Mann, der auf dem Weg in den Steinbruch zusammengebrochen war, konnte sich jetzt wieder allein auf den Beinen halten. Er hatte seinen Arbeitsplatz ganz in meiner Nähe, torkelte herum wie ein Betrunkener und war nicht in der Lage, sein Werkzeug aufzunehmen. Er taumelte plötzlich auf mich zu und blieb zwischen mir und
Cavalho stehen. Der dritte Mann, der mit uns arbeitete, zog sich etwas zurück und war plötzlich sehr damit beschäftigt, nicht vorhandenes Geröll mit seiner Schaufel aus dem Weg zu räumen. »Geh doch weg«, flüsterte Cavalho. Er starrte den Gefangenen verzweifelt an. Ich las die Angst in seinen Augen, aufzufallen, in eine Sache hineingezogen zu werden, die nur Ärger bedeuten konnte. »Geh doch, verdammt«, flüsterte er. Der Gefangene hörte nicht. Er schien uns auch nicht zu sehen. Seine Augen schimmerten glasig. Ein Wachtposten war plötzlich da. Mit kalten Augen musterte er den Gefangenen, hob dann sein Gewehr und schlug mit dem Kolben zu. Der Mann riß schreiend die Arme hoch. Er stolperte an mir vorbei und sackte zu Boden. Mit dem Gesicht nach vorn stürzte er auf den Rand der Holzrutsche, auf denen die Gesteinssplitter zu Tal befördert wurden. An der Kante der rissigen Bretter schlug er sich die Stirn auf. Reglos blieb er liegen. Ein dünner Blutfaden rann aus der Platzwunde an seinem Schädel über sein verquollen wirkendes rotes Gesicht. »Steh auf, verdammt!« schnauzte der Wärter, der ihn geschlagen hatte. Er stand jetzt neben mir, breitbeinig, die abgesägte Schrotflinte fest in den großen, stark behaarten Fäusten. Der Gefangene konnte ihn gar nicht hören. Er war bewußtlos. Ich warf einen Seitenblick auf den Wärter. Woher nahm er das Recht, diesen Mann so zu behandeln? Nun gut, er war ein Gefangener, ein Sträfling, genau wie ich. Ich wußte nicht, was er getan hatte. Vielleicht war er ein Mörder, vielleicht aber hatte er nicht mehr verbrochen als ich. Es war egal. Er war in jedem Fall ein Mensch. Gewalt gegen Wehrlose, das war ein Verbrechen. Das hatte Little Friend, mein Blutsbruder bei den Apachen, mir beigebracht. Dieser Gefangene war wehrlos, und er war krank. Ich wog die schwere Spitzhacke in meinen Händen und hätte sie gern dem Wärter auf den Schädel geschlagen. Aber ich beherrschte mich, stellte die Spitzhacke ab und ging zu dem gestürzten Mann hin, ungeachtet der Tatsache, daß ich schon einmal geschlagen worden war, weil ich versucht hatte, ihm zu helfen. Der Mann brauchte Hilfe,
und wenn alle zu feige waren, sie ihm zu geben, dann würde ich es tun, zumal es schon immer so gewesen war, daß der Versuch, mir einen anderen Willen aufzuzwingen, mich ungeachtet der Folgen, eher zum Widerstand gereizt hatte. Ich ging an dem Wärter vorbei und kniete mich neben den Gefangenen. Als ich seinen Körper herumwälzte und in seine Augen blickte, wußte ich, daß er tot war. Blicklos und starr schauten mich die Augen des toten Sträflings an. Der Tod war nichts Ungewöhnliches für mich, dennoch war ich erschrocken, denn ich war sicher, daß dem Mann hätte geholfen werden können. Hätten die Wärter ihn nicht mit in den Steinbruch schleppen, sondern ihn gleich in den Schatten legen lassen, wäre er nicht gestorben, da war ich ganz sicher. In diesem Moment traf mich ein Kolbenhieb ins Genick und riß mir fast den Kopf ab. Ich war für einen Moment gelähmt und stürzte über den Toten, unfähig, meine Arme zu bewegen, um den Sturz abzufangen. Der Schmerz, der meinen Körper bis in die Haarspitzen durchzuckte, raubte mir fast die Besinnung. Wie durch dicke Mauern hörte ich die Stimme des Wärters. Mühsam richtete ich mich auf, kam aber nur bis auf die Knie hoch, dann warf mich ein Tritt gegen meine linke Schulter wieder zu Boden. »Hoch mit dir!« schrie der Wärter. »Steh auf, damit ich dir die Schnauze einschlagen kann.« Als die Betäubungsschleier vor meinen Augen wichen, sah ich, daß ein zweiter Wärter hinzugetreten war. Dahinter konnte ich Cavalho sehen, dessen Gesicht vor Angst ganz grau war und der nicht wagte, zu mir hinzuschauen. »Hat er sich schon wieder eingemischt«, hörte ich den zweiten Posten sagen. »Er hat einfach seine Hacke hingelegt und sich um diesen Simulanten gekümmert.« Die Schmerzen in mir ließen nach. Langsam erhob ich mich. Ich konnte meinen Zorn nur schwer unterdrücken, aber ich dachte an das Holzgerüst auf dem Vorplatz des Straflagers. Ich hatte keine Lust, mich halbtot peitschen zu lassen.
»Er ist tot«, sagte ich und behielt das Gewehr des Wärters im Auge, um einem eventuellen Schlag auszuweichen. »Er ist tot«, wiederholte ich. Die Gesichter der beiden Wärter wirkten sekundenlang wie versteinert, dann sagte der eine: »Und wenn es so ist, es ist nicht deine Sache.« »Ihr habt ihn umgebracht«, sagte ich. Ich konnte es nicht zurückhalten. »Ihr seid schuld daran, daß er tot ist.« Der Wärter mit dem Gewehr schlug unvermittelt zu. Es gelang mir dennoch, mich zur Seite zu werfen. So streifte mich der Gewehrkolben nur leicht. Blitzschnell sprang ich auf die Beine. Da traf mich der zweite Schlag. Diesmal war ich nicht schnell genug. Die Läufe der Schrotflinte bohrten sich mir in den Leib. Ich krümmte mich zusammen, hielt mich aber auf den Beinen und richtete mich stöhnend wieder auf. Der Schmerz trieb mir das Wasser in die Augen. »Was hast du gesagt?« hörte ich den Wärter, der mich geschlagen hatte, fragen. »Na los, sag es noch einmal.« Ich wollte es wirklich tun, aber ich kriegte kein Wort heraus. Die Schmerzen in meinem Körper waren zu stark. So konnte ich nur die Lippen bewegen, nur lautlos Worte formen. »Dunkelhaft«, sagte der zweite Wärter. »Das ist es, was der Bursche braucht, damit ihm das Maul gestopft wird. Der wiegelt uns sonst die anderen Kerle auf.« »Und der Tote?« »Was soll damit sein? Der wird verscharrt. Einer weniger von diesen gottverdammten Schurken auf der Welt. Komm mit, Junge.« Er trat auf mich zu und streckte die linke Faust nach mir aus. Im ersten Moment wollte ich zurückspringen und versuchen, davonzulaufen. Dann aber dachte ich, daß es sinnlos war. Die Wärter hätten mich doch gekriegt, und dann wäre es mir womöglich noch schlechter ergangen. Ich wehrte mich nicht, als mich der eine Wärter an der Schulter packte. Seine Faust umspannte meinen rechten Oberarm wie eine Schraubenzwinge, als er mich wegführte und vor sich her den Berghang hinunter stieß.
10. Als wir auf den Canyon, der aus dem Felskessel hinausführte, zugingen, rollte ein Wagen, hoch mit Geröll beladen, vorbei. Der Wärter hielt ihn an und stieg mit mir auf. Dann fuhren wir durch den Canyon zurück ins Lager. Auf dem weiträumigen Vorplatz zwischen den Baracken stiegen wir ab. Von den Wachttürmen schauten die Wärter herunter, als mich mein Bewacher quer über den Platz stieß, auf eine abseits stehende Hütte zu. Er sprach kein Wort mit mir. Ab und zu stieß er mit dem Kolben seines Gewehres zu, so daß ich Mühe hatte, nicht zu stürzen und die meiste Zeit schmerzverkrümmt vor ihm her stolperte. Wir erreichten die kleine Hütte. Es war ein Geräteschuppen, wie ich jetzt erkannte. Aber er hatte einen noch kleineren Anbau ohne Fenster. Als der Wärter die Tür dieses Anbaus öffnete, schaute ich in ein finsteres, kleines Loch, aus dem mir muffige, abgestandene Luft entgegenschlug. Ich blieb stehen. Da traf mich ein Kolbenhieb ins Kreuz, daß ich glaubte, mein Rückgrat würde zerbrechen. Die Wucht des Schlages ließ mich nach vorn taumeln. Ich stürzte in das stickige, dunkle Loch, stieß hart mit dem Kopf gegen die Rückwand und wollte mich aufrichten und umdrehen. Da knallte die Tür hinter mir zu, und um mich herum war es plötzlich so schwarz, wie in der Hölle. Mit dem Schädel donnerte ich gegen die Decke, die so niedrig war, daß ich nicht in der Zelle stehen konnte. Fluchend tastete ich nach der Tür. Ich fand sie nicht. Die Ritzen im Holz mußten abgedichtet worden sein. Es gab nicht den kleinsten Spalt, durch den ein wenig Tageslicht hätte fallen können. Im ersten Impuls wollte ich mit den Fäusten gegen die Wand hämmern. Dann ließ ich es und sank mutlos an der Wand, an der ich lehnte, hinunter in die Hocke. Es wäre sinnlos gewesen. Ich hätte mir nur die Fäuste wundgeschlagen. Ich ließ die Schultern nach vorn sinken und versuchte, die Beine auszustrecken. Es ging nicht. Es fehlte nur ein kleines Stück. Wenn die Zelle nur zehn Zoll länger gewesen wäre, hätte ich einigermaßen bequem sitzen können. Ich verfluchte den Menschen, der diese Zelle
gebaut und mit teuflischer Präzision die Maße berechnet hatte. Ich zog die Beine an den Leib und verharrte in der Hockstellung. Im Moment machte mir das noch nichts aus, aber ich mußte meine Phantasie nicht sonderlich anstrengen, um zu begreifen, daß die jetzige Sitzhaltung mir in einiger Zeit zur Qual werden würde. Wie ich in diesem Loch schlafen sollte, war mir ohnehin schleierhaft. Dazu die ständige Dunkelheit, in der mir die Hitze, die in dieser kleinen Zelle herrschte, noch unerträglicher erschien. Ich war sicher, über kurz oder lang ersticken zu müssen. Allein bei dem Gedanken daran, wurde mir die Luft noch knapper. Der Schweiß rann mir in dichten Bahnen über das Gesicht und den Oberkörper. Reglos blieb ich hocken. Schon bald plagte mich die Vorstellung, daß jede Bewegung von mir dazu führen müsse, die wenigen Sauerstoffvorräte in der Zelle noch schneller aufzubrauchen. Langsam kroch Panik in mir hoch, hämmernder Kopfschmerz setzte ein, tausend unerklärliche Ängste begannen mich zu erfüllen. Mir fiel lange nicht auf, daß ich am ganzen Körper zitterte, und irgendwann glaubte ich, verrückt zu werden. Ich war nahe daran, durchzudrehen. Die absolute Dunkelheit, die Enge der Zelle, die Hitze, die so stark war wie in einer Bratröhre, die stickige, schlechte Luft – es war einfach nicht zu ertragen, nicht auszuhalten. Unvermittelt sprang ich auf, um die Wände der Zelle einzuschlagen, zu durchbrechen, alles niederzureißen. Ich knallte mit dem Schädel so hart gegen die niedrige Decke, daß ich sofort wieder zu Boden stürzte und mit beiden Schultern heftig gegen eine Wand schlug. Stöhnend und in verkrümmter Haltung lag ich am Boden, konnte mich kaum bewegen, ohne nicht irgendwo anzustoßen, und hatte wahnsinnige Schmerzen im Kopf. Aber die Schmerzen hatten etwas Gutes. Sie verdrängten fürs erste die Ängste in mir, ließen mich wieder etwas klarer denken und zwangen mich, ruhig liegenzubleiben. Ich durfte jetzt nicht schlappmachen. Immer wieder hämmerte ich mir diesen Satz ein. Ich mußte die Quälerei der Dunkelhaft durchhalten, so schwer es auch sein mochte. Schläge wären mir lieber gewesen, Essensentzug, jede andere Mißhandlung. Aber diese dunkle Zelle, die mir das Gefühl vermittelte, lebendig begraben zu
sein, die mich jeglicher Bewegungsfreiheit beraubte und mir das Tageslicht entzog, das war schlimmer als alles andere für mich. Trotzdem, ich mußte durchhalten, sonst würde ich die Zeit in diesem Straflager nicht unbeschadet überstehen, sonst würde ich vielleicht zerbrechen und für den Rest meines Lebens gezeichnet sein. Ich zwang mich zur Ruhe, nahm meine Hockstellung wieder ein, die inzwischen längst nicht mehr so bequem war wie am Anfang, und begann, leise mit mir selbst zu reden, um mich von meiner Lage abzulenken. Ich rief die vergangenen Jahre in meine Erinnerung zurück, ich dachte an alles mögliche, an Gott und die Welt, nur nicht an meine beschissene Lage. Und nach einiger Zeit merkte ich, daß es ging. Meine Ängste wichen. Ich fühlte mich wieder besser, trotz der Unbequemlichkeit der Haltung, die ich gezwungen war, einzunehmen. Zwar hatte ich mein Zeitgefühl längst verloren und kämpfte inzwischen auch mit aufkeimendem Hunger und Durst, aber ich ertrug es. Solange ich es schaffte, nicht durchzudrehen, war alles halb so schlimm. * Die Hitze, die Stille und die stickige Luft ließen mich in einen betäubungsähnlichen Schlaf fallen. Mein Kopf sank auf die Brust und mit der Zeit sackte mein Oberkörper nach vorn, ohne daß ich es merkte. Das Geräusch des knarrenden Riegels vor der Tür weckte mich. Trägheit erfüllte meine Glieder, der Sauerstoffmangel trug dazu bei, daß der Schlaf bleiern in meinem Körper lag. Schwerfällig hob ich den Kopf, als die Tür aufging. Ein kühler Luftstrom floß in mein dreckiges Loch. Er erschien mir wie ein Odem des Himmels. Gierig sog ich die frische Luft in meine Lungen, dann erst sah ich den Mann, der im Türrahmen stand. Es war ein großer, breitschultriger Wärter. Er hielt einen Blechteller und einen Blechbecher in den Händen. »Essen«, sagte er und drückte mir ein Stück trockenes Brot in die Hand. »Sofort. Du hast fünf Minuten.«
Ich griff nach dem Brot und schlang es in mich hinein. Es war Nacht, denn draußen war es dunkel, aber welche Zeit es war, konnte ich nicht erkennen. Den Mond konnte ich nicht sehen. Als ich das Brot gegessen hatte, erhielt ich den Becher mit Wasser. »Wie lange muß ich hierbleiben?« fragte ich. »Bis du gelernt hast, daß du hier zu arbeiten und die Schnauze zu halten hast«, sagte der Wärter. Dann flog die Tür krachend zu. Der Riegel rasselte in seine Verankerung zurück. Ich war wieder allein in der finsteren Enge meiner Zelle. Wenigstens war die Luft jetzt besser, und mein Hunger und mein Durst waren vorerst gestillt. Ich versuchte, wieder einzuschlafen, aber es gelang mir nicht. Wie lange ich wach in meinem Loch hockte, wußte ich nicht. Wieder kamen Momente, in denen Verzweiflung in mir keimte, die schlimmste Phase meiner Gefangenschaft aber hatte ich überwunden, auch wenn die Ungewißheit, wie lange ich in diesem dreckigen Loch zubringen mußte, mich belastete. Schließlich schlief ich doch wieder ein, obwohl mir von der unnatürlichen Haltung, die ich dabei annehmen mußte, bereits sämtliche Knochen schmerzten.
11. Ich hatte aufgehört zu denken. An die Schmerzen hatte ich mich gewöhnt, daß sie mir schon gar nicht mehr auffielen. Ich bezweifelte, daß ich jemals wieder richtig würde laufen können, und wie die Sonne aussah, hatte ich vergessen. Anfangs hatte ich gezählt, wie oft ich meine Mahlzeiten erhielt. Jede Nacht erschien ein Wärter mit Wasser und Brot. Inzwischen hatte ich auch das aufgegeben. Ich war sicher, daß die finstere Zelle mein Grab werden würde. Erstaunlich war nur, daß mich das nicht im geringsten mehr beunruhigte. Da ich weder Stunden noch Tage wußte, glaubte ich inzwischen, seit einer Ewigkeit in der Zelle zu sitzen. Ich fühlte mich ungeheuer alt, eine große Lethargie hatte sich meiner bemächtigt. Als plötzlich die Tür meiner Zelle geöffnet wurde, reagierte ich
zunächst nicht auf das klirrende Geräusch des Riegels. Dann aber flutete grelles Sonnenlicht in mein dunkles Loch und setzte meine an die Finsternis gewöhnten Augen in Brand. Der Schmerz, der mich durchschoß, als das gleißende Tageslicht mich traf, ließ mich aufschreien, Ich barg das Gesicht in meinen Händen und krümmte mich stöhnend zusammen. Mein ganzer Kopf schien in Flammen zu stehen, und meine Augen schienen langsam zu verglühen. Harte Fäuste packten mich und zerrten mich aus dem dreckigen Loch. Aber ich vermochte nicht zu stehen. Während der ganzen Zeit der Gefangenschaft hatte ich meine Beine nicht ein einziges Mal richtig ausstrecken können. Muskeln und Sehnen waren durch die unnatürlichen Stellungen, die ich ständig hatte einnehmen müssen, völlig verhärtet und zu schwach, mich sofort wieder zu tragen. Ich sackte zu Boden, kniete minutenlang hilflos da und wagte nicht, die Hände von den Augen zu nehmen. Langsam ließ der furchtbare Schmerz nach. »Steh auf, und stell dich nicht so an«, sagte eine Stimme. Vorsichtig zog ich meine Hände vom Gesicht und blinzelte in die Sonne. Der Schmerz kehrte sofort zurück, aber nicht mehr ganz so stark wie am Anfang. Ich konnte nicht verhindern, daß Tränen aus meinen Augen rannen. Mühsam richtete ich mich auf. Meine Knie gaben immer wieder nach, aber ich brach nicht noch einmal zusammen. »Du hast lange Zeit gehabt, dich auszuruhen«, sagte der Wärter, der mich herausgeholt hatte. »Du müßtest jetzt doppelt soviel arbeiten wie die anderen. Na, was ist denn, Junge, was ist denn? Warum wackelst du denn so?« Ich schwankte tatsächlich wie ein Halm im Sturm, und in meinen Knien und meinen Fußknöcheln tobten tausend glühende Nadeln. Unwillkürlich hielt ich noch immer den Kopf etwas gesenkt, aus Furcht, ich könnte wieder an irgendeine Decke stoßen. Vor meinen tränenden, schmerzenden Augen sah ich in verwaschenen Umrissen einen Mann. Nach und nach gewöhnten sich meine Augen wieder an das Tageslicht. Die Schmerzen ebbten ab, mein Blick wurde klarer. Trotzdem lastete noch ein ungeheuerer
Druck auf meinem Kopf. Das Blut in meinen Schläfen raste. »Du siehst aus, als seist du friedlich geworden«, sagte der Wärter. »So ein paar Tage Dunkelhaft wirken sich immer gut aus. In Zukunft wirst du deine Nase nicht mehr in Dinge stecken, die dich nichts angehen. In Zukunft wirst du dich auch anständig benehmen.« Ich hätte ihn gerne angespuckt, aber ich ließ es. Erstens glaubte ich nicht, daß ich im Augenblick besonders gut spucken konnte, zweitens hatte ich keine Lust, wieder in die winzige Zelle in der ständig Nacht war und eine Hitze wie im Backofen herrschte, zurückzukehren. So hielt ich den Mund und reagierte nicht auf das, was der Wärter sagte. »Die anderen sind schon im Steinbruch«, sagte er. »Du hast eine Menge nachzuholen. Die Ruhepause ist jetzt vorbei.« Er packte mich an der linken Schulter und schob mich unsanft vor sich her. Ich konnte noch nicht richtig laufen. Meine Beine schienen bei jedem Schritt zerbrechen zu wollen. Ich taumelte und torkelte, als hingen meine Beine an Fäden. Darauf nahm der Wärter keine Rücksicht. Er stieß mich über den Vorplatz des Straflagers auf einen wartenden Frachtwagen zu. Es fiel mir schwer, auf den Bock zu steigen, aber ich spürte, wie nach und nach meine alte Geschmeidigkeit zurückkehrte. Der Wagen rollte an und fuhr auf den Canyon zu, durch den der Steinbruch erreicht wurde. Es war früher Vormittag, die Sonne stand schon hoch am Himmel. Überall im Steinbruch arbeiteten bereits wieder die Gefangenen. Das Klirren der Spitzhacken auf dem roten Sandstein hallte mir schon entgegen, als der Wagen durch den Canyon fuhr. Wenig später rollte das Gefährt in den Felskessel und hielt unterhalb einer der Holzrutschen an, über die das zerkleinerte Gestein in den Felskessel hinuntergelangte. »Absteigen«, sagte der Wärter neben mir. »Jetzt fängt der Ernst des Lebens wieder an.« Ich stieg über das linke Wagenrad ab. Der Wärter folgte mir und führte mich in den Steinbruch hinauf. Von weitem schon sah ich Cavalho. Er arbeitete mit zwei anderen Gefangenen an einer der Holzrutschen, schaute kurz auf und wandte sich sofort wieder seiner
Arbeit zu. Seine Angst war er offensichtlich noch immer nicht losgeworden. Wenig später stand ich dem Wärter gegenüber, den ich einen Mörder genannt hatte. Er musterte mich mit kalten Augen. »Da hast du ihn wieder«, sagte der Wärter, der mich gebracht hatte. »Ich glaube, er ist weich.« »Hoffentlich. Das nächstemal zerbreche ich ihm alle Knochen im Leib.« Der andere Aufseher deutete mit seinem Gewehr auf eine Steilwand, an der zehn oder zwölf Männer standen, die größere Gesteinsbrocken aus dem Fels schlugen, die dann von anderen Gefangenen zerkleinert wurden. Das Brechen des groben Gesteins war die schwerste Arbeit. Heute weiß ich, daß man in anderen Steinbrüchen schon damals Sprengstoff dazu benutzte. In El Moro mußten die Gefangenen die Dynamitpatronen ersetzen. Das wußte ich damals noch nicht, weil ich nie vorher einen Steinbruch gesehen hatte, aber daß die Arbeit mörderisch war, das wußte ich. Trotzdem widersetzte ich mich nicht, es hätte ohnehin nichts genützt. Ich erhielt meinen Arbeitsplatz an der Steilwand und eine Spitzhacke. Also begann ich mit der Arbeit, scharf beobachtet von den Aufsehern, die alle wußten, daß ich in Dunkelhaft gewesen war, und die mich vermutlich gern noch mehr schikaniert hätten. Ich gab ihnen keinen Anlaß dazu. Die Arbeit war hart, besonders für mich, der ich so lange bewegungslos in einem finsteren Loch gehockt hatte. Noch immer wußte ich nicht, wie lange ich lebendig begraben gewesen war. Ich schwang meine Spitzhacke und spürte die Anstrengung schon bald in meinen Schultern und Armen, aber ich hielt nicht inne und biß die Zähne zusammen. Es kam jetzt darauf an, durchzuhalten, bis die Aufmerksamkeit der Wärter nachließ. Schon in ein paar Tagen würden sie mich wahrscheinlich nicht mehr beachten als jeden anderen Gefangenen. Dann konnte ich wieder daran denken, einen Fluchtplan zu entwickeln. Als es Mittag wurde, schmerzten meine Muskeln und Sehnen, aber ich spürte auch, daß die Bewegung mir nach der langen erzwungenen Pause gut tat. Trotzdem war ich froh, als das Pausenzeichen ertönte
und die Arbeit unterbrochen wurde. Im Gänsemarsch zogen wir hinunter in den Felskessel zur Essensausgabe. Hier endlich hatte ich Gelegenheit, mit Cavalho zu sprechen. Ich setzte mich neben ihn, als ich das Essen einnahm. Er sah schlecht aus. Er hatte abgenommen, aber das hatte ich auch während der Dunkelhaft. Sein Gesicht war noch hohlwangiger geworden, seine Augen lagen in tiefen Höhlen. Das schwarze Haar hing ihm strähnig um den Kopf. »Du siehst nicht gut aus«, sagte ich kauend. Er musterte mich schweigend, und ich hatte den Eindruck, daß es Zeit wurde, mit ihm zu fliehen, sonst würde er El Moro als gebrochener Mann verlassen. Auch danach würde er vor Angst, daß er eines Tages gefaßt und als Mörder entlarvt werden konnte, nicht mehr zur Ruhe kommen. »Du siehst auch nicht gut aus«, sagte er. »Es geht aber«, erwiderte ich. »Wie lange war ich weg?« »Weißt du das nicht?« »Sonst würde ich nicht fragen. Es war absolut dunkel in dem Loch, in dem ich gesessen habe«, sagte ich. »Mein Essen habe ich erhalten, wenn es Nacht war.« »Sieben Tage«, sagte Cavalho. »Ich habe gedacht, sie hätten dich fertiggemacht und längst irgendwo verscharrt wie den armen Hund, der an Hitzschlag gestorben ist.« Ich erschrak. Sieben Tage hatte ich in diesem Loch zugebracht, sieben lange Tage und sieben lange Nächte. Während der Gefangenschaft war mir diese Zeit wie eine Ewigkeit erschienen. Zurückblickend fragte ich mich, wie ich das nur ausgehalten hatte. »Hoffentlich bist du jetzt klüger«, hörte ich Cavalho sagen. »Misch dich in nichts ein. Halt den Mund, tu die Arbeit, die sie dir auftragen, und beiß die Zähne zusammen, dann kommst du auf ganz normale Weise hier wieder raus.« »Du hast dich sehr verändert«, sagte ich. »Nein«, sagte er. »Ich nicht. Ich kann noch immer nicht richtig schlafen, wenn ich bloß daran denke, daß bald ein Steckbrief von mir an jedem Baum hängt und die Behörden merken, daß ich nicht Djergo Rinehold bin. Aber du, du hast doch nichts zu befürchten. Du
sitzt deine Zeit hier ab und bist frei.« »Ich habe nichts getan«, sagte ich. »Ich weiß nicht, warum ich hier sitzen soll. Ich gehöre nicht hierher, und deshalb bleibe ich nicht hier.« Er seufzte. »Ich glaube, dich werden sie doch noch hier eingraben.« Ich antwortete nicht. Ich nahm meine Mahlzeit ein und trank meine Wasserration. Wenig später war die Pause bereits zu Ende und wir wurden wieder zur Arbeit getrieben. Ich schaute Cavalho nach, als er sich in seine Kolonne einreihte. Dann zogen wir wieder in den Steinbruch. Brütende Hitze ließ jede Bewegung zur Qual werden, Durst stellte sich rasch wieder ein, und die in der kurzen Pause gesammelten Energien waren schnell wieder verbraucht. Darauf aber nahm hier niemand Rücksicht. Die Arbeit ging weiter. * Der Reiter kam durch den Canyon in den Felskessel. Hier hatte sich die heiße Luft des Nachmittags gestaut wie in einem Backofen, obwohl die Sonne bereits tief im Westen stand und sich außerhalb des Kessels die Luft wahrscheinlich längst abgekühlt hatte. Die Schatten waren lang, und die Dämmerung hatte sich wie ein feiner Filter über den rötlich schimmernden Himmel gelegt. Die Gefangenen wandten alle die Köpfe und schauten zu dem Reiter hinunter, der sein Pferd neben den Wagen für das zerkleinerte Gestein zügelte und aus dem Sattel glitt. Aus dem Verhalten der Gefangenen, die allesamt länger hier waren als wir, schloß ich, daß dieser Vorfall ungewöhnlich war, und plötzlich hatte ich ein merkwürdiges Kribbeln im Magen. Ein Gefühl der Unsicherheit befiel mich für einige Augenblicke. Ich vermochte nicht, es zu erklären, aber es löste in mir eine Anspannung aus, die immer eintrat, wenn Gefahr drohte. »Wollt ihr wohl weiterarbeiten, ihr Drecksäcke!« brüllte einer der Wärter. Er rannte wie ein gereizter Stier herum und schrie, daß seine Stimme sich fast überschlug. »Ihr seid hier nicht im Zirkus. Hier
gibt's keine Gratisvorstellungen. Hier wird gearbeitet. Los, los! Die Zeit, die ihr herumgegafft habt, wird nachgeholt.« Murrend gingen wir wieder an die Arbeit, aber ich spähte alle Augenblicke nach hinten, um mitzukriegen, was dort vorging. Der Reiter sprach einen Aufseher ein Stück unterhalb des Steinbruchs an. Der Wärter wandte plötzlich den Kopf und schaute in die Richtung von Cavalho. Da überlief es mich eiskalt. Der Wärter, der uns beaufsichtigte, beobachtete den Reiter und den anderen Aufseher und schaute nicht her. Ich konnte die Spitzhacke für einen Moment sinken lassen und mich umdrehen. Reiter und Aufseher hatten sich inzwischen in Bewegung gesetzt und stiegen zu uns herauf. Sie gingen zu Cavalho hinüber. Der Reiter hielt ein zusammengefaltetes Papier in den Händen. Cavalho hatte ebenfalls aufgehört, zu arbeiten. Er hatte seine Spitzhacke sinken lassen. Trotz der Entfernung zwischen ihm und mir glaubte ich die Angst in seinem Gesicht zu sehen. Alle Wärter schauten jetzt hinüber, nur wenige Gefangene arbeiteten noch. Der Aufseher, der den Reiter begleitet hatte, packte Cavalho am linken Arm, als der Reiter das Papier in seinen Händen entfaltete. Cavalho riß sich los und wurde wieder gepackt. Plötzlich herrschte ein großes Durcheinander. Cavalho rang mit den beiden Männern. Ein paar Aufseher setzten sich in Bewegung, um ihren Kollegen zu Hilfe zu eilen. Da handelte ich. Ich ließ meine Spitzhacke fallen und lief zu dem Wärter hinüber, der für unsere Abteilung zuständig war und uns den Rücken zukehrte. Er hörte meine Schritte zu spät und war auf so etwas natürlich nicht vorbereitet. Ich griff blitzschnell zu und riß ihm den Revolver aus dem Gürtel. Als ich ihm die Mündung in die Seite preßte, riß er beide Hände hoch. Seine Haltung versteifte sich. Er ließ die Schrotflinte fallen. »Vorwärts!« sagte ich. Und er ging. Ich hatte es eilig. Wir gingen zu Cavalho hinüber. Als wir die halbe Strecke zurückgelegt hatten, hatten auch die anderen Wärter bemerkt, daß eine Veränderung eingetreten war. Plötzlich standen nicht mehr Cavalho und seine beiden Gegner, sondern ich und meine Geisel im Mittelpunkt des Interesses.
»Laß den Revolver fallen!« schrie eine Stimme. Seitlich von mir sah ich einen Aufseher mit dem Gewehr im Anschlag auftauchen. Ich hob meine Waffe noch ein Stück an und zielte jetzt auf den Hinterkopf des Wärters vor mir. »Zurück!« rief ich. »Gewehr runter!« Er gehorchte, und wir erreichten Cavalho. Die beiden Männer vor ihm waren zurückgewichen. Cavalho zitterte am ganzen Leib. Er starrte mich aus flackernden Augen an. »Sie wissen es«, sagte er mit schwacher Stimme. »Sie haben einen Steckbrief erhalten und wissen, wer ich bin.« »Nimm die Waffen und dann los!« sagte ich. Ich war ganz ruhig. Das war Kampf und ich war es gewöhnt, zu kämpfen. »Wohin?« »Den Berg hoch, du Idiot«, sagte ich. Er nahm den beiden Männern die Waffen ab und steckte sich die Revolver in den Hosengürtel. Dann lief er los. Ich folgte ihm. Die sich rasch verdichtende Dunkelheit – die Sonne war schon fast gesunken – barg Gefahren, da wir das Gebirge nicht kannten. Aber sie schützte uns auch. Ich schob den Wärter, den ich als Geisel genommen hatte, weiter vor mir her. Er leistete keinen Widerstand, er schien zu spüren, daß ich zu allem bereit war. Wir erreichten das Ostende des Steinbruchs. Hier waren die Hänge nicht so steil, und einige vorgelagerte Sandsteinklippen schützten uns beim Aufstieg. Ich zwang den Wärter, so lange mitzugehen, bis der Weg so steil wurde, daß ich meine ganze Konzentration für den Aufstieg brauchte. Da ließ ich ihn laufen. Er zögerte nicht lange, sondern drehte sich augenblicklich um und lief den Hang hinunter, als wären tausend Teufel hinter ihm her. Wenig später krachten die ersten Schüsse. Aber es war schon zu dunkel, und die Wärter schienen keine besonders guten Schützen zu sein. Die Kugeln prallten gegen den Fels, rissen tiefe Schrammen in das Gestein und wirbelten jaulend als Querschläger davon. Cavalho war ein Stück über mir und keuchte vor Furcht. In seiner Nervosität rutschte er immer wieder aus. Ich befürchtete, er würde mir auf den Kopf fallen und mich mit in die Tiefe reißen. Wir
gelangten rasch voran, doch je höher wir kamen, um so steiler wurde der Hang. Ein paar Schüsse, die hinter uns hergeschickt wurden, lagen jetzt gut. Ich wandte mich um und schaute nach unten. Unterhalb des Hangs standen drei oder vier Männer. Zwei hielten Gewehre in den Händen. Ich klammerte mich mit der linken Hand an einem Vorsprung im Fels fest, zog mit der Rechten den Colt aus dem Gürtel und feuerte. Einer der Wärter taumelte und ließ sein Gewehr fallen. Die anderen sprangen hastig in Deckung. Ich schob den Revolver zurück und kletterte weiter hinter Cavalho her. Wenig später erreichten wir eine aus dem Hang herausragende Klippe und konnten uns auf ihr niederlassen. Die Sonne war jetzt gesunken. Fast ohne Übergang folgte die Nacht. Ich warf einen Blick den Hang hinunter und sah, daß ein paar Männer versuchten, uns nachzusetzen. Ich feuerte ein- oder zweimal. Ob ich traf konnte ich nicht sehen, wahrscheinlich aber nicht. Die Verfolger kehrten jedenfalls sofort um. Ich schaute Cavalho an. Sein hageres Gesicht war schweißüberströmt. Er atmete schwer, und noch immer lag das ängstliche Flackern in seinen Augen. »Es ist doch alles sinnlos«, flüsterte er. »Unfug«, sagte ich. »Du hättest das nicht tun sollen«, sagte er. »Jetzt sind sie auch hinter dir her. Du hättest dich nicht um mich kümmern dürfen.« »Dich haben sie ganz schön fertiggemacht«, sagte ich. »Ich habe gedacht, du seist härter.« »Dachte ich auch mal«, sagte Cavalho. »Aber wenn's an's Sterben geht …« »Soweit ist es noch nicht«, sagte ich. »Wir müssen weiter.« Ich erhob mich. Über uns konnte ich in vielleicht zwanzig Yards Höhe die Kante eines Plateaus entdecken. Bis dahin aber stieg die Felswand fast senkrecht auf. Doch es gab zahlreiche Vorsprünge und Vertiefungen im Gestein, die es ermöglichen würden, hinaufzusteigen. Ich kletterte los und hörte hinter mir, daß auch Cavalho sich erhob und mir folgte. Ich mußte mich auf den Aufstieg konzentrieren und
konnte nichts anderes denken. Trotzdem schoß mir einen Moment lang der Gedanke durch den Kopf, was wir tun sollten, wenn wir die Berge überwunden hatten. Alles war so schnell gekommen, so überstürzt. Ich hoffte, daß keine unüberwindlichen Probleme auftauchen würden, aber sicher konnte ich nicht sein. Die Finsternis ließ den Aufstieg an der steilen Wand zu einem riskanten Spiel werden. Da wir nicht viel sehen konnten, mußten wir fast jeden Quadratzoll unseres Weges mit den Händen abtasten, und dann konnten wir immer noch nicht sicher sein, ob die Vorsprünge, an denen wir Halt fanden, auf die wir unsere Füße setzten, unser Gewicht auch tragen würden. Ich erreichte als erster die Plateaukante. Meine Muskeln und Sehnen schmerzten bereits wie verrückt, meine Fingerkuppen spürte ich schon nicht mehr. Ich krallte mich an der Kante fest und zog mich langsam höher. Mühsam stieg ich hinauf, ließ meinen Oberkörper nach vorn fallen und rollte mich schließlich erschöpft über den Fels. Knapp einen Yard von der Kante entfernt blieb ich liegen. Gierig saugte ich die kühle Nachtluft in meine Lungen. Es war geschafft, zunächst wenigstens. Das rasselnde Atmen Cavalhos riß mich hoch. Er hatte die Kante jetzt ebenfalls erreicht. Ich kroch näher und hatte sein Gesicht, das sich über den Rand des Plateaus schob, dicht vor mir. Er war am Ende, das sah ich in seinen Augen. Schnell griff ich zu, erwischte ihn am Hemdkragen und zog, während er schwerfällig auf das Plateau kletterte. Dann lagen wir lange nebeneinander und ruhten uns von den Strapazen aus. Ich spürte jeden Knochen in meinem Körper. Cavalho ging es sicher nicht anders. Der Aufstieg mußte ungefähr eine Stunde gedauert haben, ich schätzte es am Stand des Mondes, der gerade hinter einer Wolkenbank hervortrat. Inzwischen waren sicher Suchtrupps aus dem Lager ausgerückt und würden in die Berge reiten. Solange es Nacht war, hatten wir eine Chance. Wir mußten versuchen, bis zum nächsten Morgen so weit wie möglich zu gelangen. »Los, weiter«, sagte ich, als ich mich erhob. »Sie kriegen uns«, flüsterte Cavalho. Er lag flach auf dem Rücken
und hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt. »Wir haben nichts zu trinken, und Proviant besitzen wir auch nicht. Außerdem kennen wir die Berge nicht.« »Warum bist du nicht dageblieben?« schrie ich ihn an. »Du hast dich verdammt verändert, seit wir uns zum erstenmal gesehen haben. Spring doch einfach über die Plateaukante runter. Dann ist alles vorbei.« Er blickte mich schweigend an, dann stand er auf und folgte mir, als ich nach Osten über das Plateau lief und dann einen flachen Hang hinaufstieg.
12. Die Aufseher ritten durch den Morgennebel. Schon von weitem hatte ich den Hufschlag ihrer Pferde wahrgenommen und mich mit Cavalho in einer Felsspalte versteckt. Er war völlig fertig und tat alles, was ich verlangte. Wenig später sahen wir sie vorbeiziehen. Sie hingen übermüdet in den Sätteln, hatten eine weit auseinandergezogene Kette gebildet und ritten in die Berge. Als sie vorbei waren und ich sie nicht mehr hören konnte, verließen wir unser Versteck und liefen weiter. Vor uns lichteten sich die Nebelschleier, und wir sahen die Ebene. Wir waren müde zum Umfallen, aber jetzt kam es darauf an, durchzuhalten, obwohl uns der Weg durch die Berge in der Nacht fast alles abverlangt hatte, was wir an Kraft und Energie besessen hatten. Wir mußten die Ausläufer der Berge verlassen und in der Ebene untertauchen, bevor die Sonne aufging und man uns von den Bergen aus sehen konnte. Übermüdet, ausgehungert, durstig, mit zerschrammten Händen und aufgerissenen Hosenbeinen schleppten wir uns dahin. Wie Maschinen trotteten wir durch das üppiger werdende Gras, mechanisch immer einen Fuß vor den anderen setzend. Als dann die Sonne aufging und die Nebelschleier sich aufgelöst hatten, hatten wir es geschafft. Die Ausläufer der Berge lagen hinter uns, wir befanden uns in der Ebene, die sich wie ein Meer von Gras
vor uns dehnte, immer wieder unterbrochen von zahlreichen Buschinseln. In einer dieser Buschinseln sanken wir schließlich zu Boden und schliefen fast übergangslos ein. Gegen Abend weckte uns Hufschlag. Von unserem Versteck aus sahen wir einzelne Reiter durch die Ebene sprengen. Es waren Aufseher aus El Moro. Sie suchten uns noch immer. Aber vom Spurenlesen verstanden sie nicht viel. Wir blieben bis zum Einbruch der Nacht in unserem Versteck. Dann zogen wir weiter. Wir hatten unseren Hunger an den Beeren der Sträucher gestillt, unter denen wir gelagert hatten. Das war nicht viel, mußte aber fürs erste reichen. Mitten in der Nacht stießen wir auf einen kleinen Fluß. Hier tranken wir uns voll, bis wir nicht mehr konnten und ruhten uns eine Weile aus, bevor wir unseren Weg fortsetzten. Von Verfolgern bemerkten wir jetzt nichts mehr. Die Flucht war zwar hart, aber nicht so schwer gewesen, wie ich zuvor geglaubt hatte. Wir hatten das Straflager weit hinter uns gelassen. In Sicherheit aber waren wir noch nicht. Wahrscheinlich wurde im ganzen Land nach Cavalho gesucht, und nach dem Ausbruch aus dem Gefängnis würde auch nach mir gefahndet werden. Wir mußten raus aus Colorado, und das zu schaffen, würde noch verdammt schwer werden. Wieder wanderten wir bis zum Morgengrauen. Als die Sonne aufging, tauchte vor uns eine ausgefahrene Wagenstraße auf. Wir fühlten uns ganz schwach vor Hunger. Mehrmals hatten wir in der Nacht Wild aufgescheucht. Aber wir hatten nicht gewagt, zu schießen, um niemanden auf uns aufmerksam zu machen. In diesem Moment wäre mir das egal gewesen. Der nächste Präriehase, der vor mir aufgetaucht wäre, hätte dran glauben müssen. Aber es tauchte keiner auf. Wir hielten am Rand des Wagenweges an und überlegten, in welche Richtung wir uns bewegen sollten, als wir Wagengeräusche hörten. Von Norden näherte sich ein flacher Farmwagen. Ich warf Cavalho einen raschen Blick zu. Er verstand sofort. Wir ließen uns ins hohe Gras fallen. Cavalho hatte sich während der Flucht wieder
etwas gefangen. Er war noch immer unsicher und nervös, aber in seinen Augen lag keine Angst mehr. Der Wagen näherte sich schnell. Auf dem Bock saß ein vierschrötiger Mann, einfach gekleidet, unrasiert. Er hatte neben sich ein einläufiges Gewehr stehen, das wie eine Sharps-Rifle aussah. Wir ließen ihn an uns vorbeifahren, dann sprangen wir auf. Ich war schneller als Cavalho und sprang lautlos von hinten auf den Wagen. Der Farmer auf dem Bock kriegte fast einen Herzschlag, als ich ihm die Mündung meines Navy-Colts, den ich dem Aufseher in El Moro abgenommen hatte, in den Nacken drückte. Er zügelte sofort das Gespann und hob die Hände. Von der Seite stieg nun Cavalho auf den Bock und nahm das Gewehr an sich. »Absteigen«, sagte ich. »Ich bin ein armer Mann«, jammerte er. »Ich habe keinen Cent bei mir, ich …« »Wir wollen kein Geld«, unterbrach ich ihn schroff. »Wir sind keine Straßenräuber. Wir brauchen Ihren Wagen für ein Stück. Wohin führt die Straße?« »Nach Stockville«, sagte er. »Ist das groß?« fragte Cavalho. »Gibt es dort einen Marshal?« »Ja«, sagte der Mann. »Einen Marshal und zwei Deputies. Und eine Bahnstation gibt es da, und … Ich bin völlig harmlos, ich verrate euch nicht. Ihr seid doch die beiden, die aus El Moro …« »Sie wissen es schon.« Cavalho schaute mich an. »Verflucht noch mal. Die gottverdammten Wärter sind überall herumgeritten und haben es erzählt.« »Das macht nichts«, sagte ich. »Damit mußten wir rechnen. Das Land ist groß. Wir schaffen es.« Ich stieß den Farmer wieder mit dem Revolver an. »Steigen Sie ab!« befahl ich. Er erhob sich und kletterte über das linke Vorderrad hinunter. Er war käsebleich und starrte furchterfüllt auf meinen Revolver. »Sie finden Ihren Wagen bei Stockville, Mister«, sagte ich. Im selben Moment fuhren wir an. Cavalho hatte die Zügel übernommen. Der Farmer blieb zurück. Wie ein Häufchen Elend stand er am Straßenrand und schaute uns nach. Als wir ein Stück gefahren waren, schwenkte er die geballte Rechte und schrie ein paar
Verwünschungen. Dann setzte er sich in Bewegung und marschierte hinter uns her. Trotzdem wurde er hinter uns immer kleiner und verschwand schließlich aus meinem Blickfeld, da wir natürlich viel schneller vorankamen. Ich durchsuchte eine Truhe, die hinten auf der Ladefläche stand und fand ein paar belegte Brote, die der Farmer als Wegzehrung mit sich geführt hatte. Cavalho und ich teilten sie unter uns auf. Dann gab es auch noch kalten Kaffee aus einer zerbeulten Kanne. Wir fühlten uns nach den Strapazen der letzten Tage und Stunden wie zwei Könige. In rascher Fahrt lenkte Cavalho den Wagen nach Südosten. Am Spätnachmittag tauchten die Häuser einer kleinen Stadt vor uns auf. Wir fuhren weiter, bis eine Gruppe von mächtigen Pecan-Bäumen neben dem Weg auftauchte. Cavalho lenkte den Wagen von der Straße hinunter zwischen die Bäume und hielt hier an. Wir stiegen ab und ließen das Gefährt mit dem Gespann hier stehen. Der Besitzer würde es finden. Zu Fuß schritten wir auf die Stadt zu. * Der Ort hieß Stockville, wie der Farmer es uns gesagt hatte. Wir passierten das hölzerne Ortsschild, schlugen dann aber einen Bogen um die Ansiedlung. Wahrscheinlich wußte man auch hier schon von zwei ausgebrochenen Häftlingen aus El Moro. Eine Viertelstunde später stießen wir auf die Bahnlinie. Der Anblick der Gleise weckte unangenehme Erinnerungen in mir. Andererseits wäre ich froh gewesen, wenn jetzt ein Zug gekommen wäre, auf den wir hätten aufspringen können. Mochte mir die ganze Eisenbahn noch so unheimlich sein, jedenfalls gelangte man schnell mit ihr voran, und genau daran mußten wir interessiert sein. Wir wandten uns südostwärts und schritten neben den Schienen her. Bald näherten wir uns der Station von Stockville. Eigentlich war es keine richtige Station. Es handelte sich lediglich um eine Holzhütte, die als Wartehalle diente, und einen Bahnsteig. Der Ort lag fast eine halbe Meile weiter nördlich. Die Hütte schien leer zu sein, als wir sie erreichten. Etwas abseits
lagen einige Eisenbahntramps im Gras. Nach allem, was ich mit dem ersten Mann dieser Gattung erlebt hatte, verspürte ich keine Lust, näher mit diesen Männern bekannt zu werden. Später lernte ich, daß die meisten dieser Hobos, wie sie genannt wurden, im Grunde anständige Menschen waren, unter denen es auch schwarze Schafe gab. Wir ließen uns auf dem hölzernen Bahnsteig nieder. Ohne daß wir darüber gesprochen hätten, waren wir uns beide darüber im klaren, daß wir den nächsten Zug entern würden, um schleunigst diese Gegend, und wenn es ging, Colorado zu verlassen. Ein schwacher Wind strich aus der Prärie herüber. Bei den Tramps die abseits im Schatten eines Wassertanks lagerten, spielte einer Mundharmonika. Die blechernen Klänge wehten leise zu uns herüber. Ich hörte das Knarren der ausgetretenen Planken des Bahnsteigs als erster und drehte mich um. Da sah ich ihn unweit der Tür der Holzhütte stehen, über der das stolze Schild »Stockville Station« hing. Groß und hager, im langen Staubmantel, der fast über den Boden schleifte und vorn offenstand. Er trug einen hohen Hut mit schmaler Krempe auf dem Kopf. Unter dem Hut hervor quoll langes, schwarzes Haar. Fangio. Ich konnte mich im ersten Moment nicht rühren, ich konnte auch nichts sagen. Trotzdem schien Cavalho zu merken, daß etwas nicht stimmte. Er drehte sich ebenfalls um, und dann trat Angst in seine Augen. Fangio stand noch immer an derselben Stelle. Er lachte leise. Es war ein freudloses, hohl klingendes Lachen, das den traurigen Klang der Mundharmonika einen Moment übertönte. »Die Welt ist ein Dorf«, sagte Fangio. Cavalho sagte nichts. »Ich hätte nicht gedacht, dich so schnell zu finden«, sagte Fangio. »Es gibt einen Steckbrief von dir, aber ich bin schneller als die Sternschlepper.« »Hör zu, Fangio«, sagte Cavalho. »Wir müssen über alles reden
…« »Reden?« Fangio lachte wieder. »Antonio und Chico sind tot, Cavalho. Was soll ich da noch mit dir reden? Du kennst doch unsere Gesetze. Blut wird mit Blut vergolten. Du hast ihr Blut vergossen, jetzt vergieße ich deins. Das ist gerecht.« »Nein«, sagte Cavalho. »Denn ich habe Antonio im fairen Kampf getötet, so hat es angefangen.« »Er ist tot«, sagte Fangio. »Wie du ihn getötet hast, ist nicht wichtig. Die Blutrache muß über dich kommen, das weißt du doch. Du kannst fliehen wohin du willst, du kannst auch mich töten. Eines Tages wirst du gefunden, von einem aus unserer Sippe, und dann bist du dran.« »Und meine Geschwister werden dich töten«, sagte Cavalho. »Vielleicht.« Fangios Gesicht war wie versteinert. »Steh auf«, sagte er. Seine Rechte glitt unter den Staubmantel. Ich sprang auf und riß meinen Navy aus dem Gürtel. Cavalho saß noch immer wie gelähmt da. Fangio hielt seinen Revolver schon in der Hand, bevor ich meinen richtig gezogen hatte. Ein orangefarbener Mündungsblitz schoß aus dem Lauf. Das Krachen der Detonation rollte weit über das Land. Das Mundharmonikaspiel brach abrupt ab. Dann schoß ich. Ich spürte den Rückschlag der Waffe hart in meinem Handgelenk und sah, wie Fangio unter dem Aufprall der Kugel zusammenzuckte und nach hinten taumelte. Seine Waffe schwang herum und richtete sich auf mich. Ich schoß noch einmal. Fangios Staubmantel klaffte auf. Er breitete die Arme aus und stürzte rücklings durch die offene Tür in das Stationsgebäude zurück. Nur seine Stiefel ragten noch auf den Bahnsteig hinaus. Ich wandte mich um. Da sah ich Cavalho am Boden knien. Vor ihm hatte sich auf den staubigen Bohlen eine dunkle Pfütze gebildet. Ich hockte mich neben ihn und versuchte, ihn aufzurichten. Aber er sackte schwer nach vorn. Ich vermochte nicht, ihn zu halten. So fiel er aufs Gesicht und blieb reglos liegen. Er war tot. Einen Moment stand ich wie betäubt da. Ich sah die Tramps nicht, die sich genähert hatten und nun auf mich starrten, ich sah auch nicht, daß aus der Stadt Menschen heranliefen, die den Schußwechsel
gehört hatten. Der schrille Pfiff einer Dampfpfeife riß mich aus der Erstarrung. Ich schaute mich um und sah die Männer von der Stadt heranstürmen. Panik erfaßte mich, dann bemerkte ich den Frachtzug, der auf die Station zurollte und nicht die Absicht zu haben schien, anzuhalten. Er verminderte lediglich das Tempo ein wenig. Ich stand auf dem Bahnsteig, rechts von mir ein Toter, den ich als meinen Freund angesehen hatte, links von mir ein Toter, der lange geritten war, um Blutrache zu üben und dafür bezahlt hatte. Ich dachte an das Straflager El Moro und sah, daß unter den Männern, die sich der Station näherten, auch einer war, der einen Stern am Hemd trug. Ich war wieder allein, allein in dieser Welt der Weißen, die ich noch immer nicht begriff, auch wenn ich sie nach und nach kennenlernte. Ich hatte keinen Freund mehr. Ich mußte sehen, daß ich allein zurechtkam. Als der Zug durch die Station rollte, schwang ich mich auf einen Frachtwaggon, gerade als die Männer von der Stadt auf den Bahnsteig stürmten. Sie schrien mir noch etwas nach. Aber das hörte ich nicht mehr. Der Zug beschleunigte seine Fahrt und raste davon. Nach Osten. Wohin? Ich wußte es nicht. Es war mir auch egal. Hauptsache, fort aus Colorado, fort aus dem Land, wo man mich unschuldig in ein Straflager gesteckt hatte. Ob die Menschen woanders besser waren? Ich wußte keine Antwort darauf. Ich hoffte es, aber ich glaubte es nicht. Der Zug rollte mit mir einer Ungewissen Zukunft entgegen.
ENDE
Vorschau Die Männer konnten keinen Schreckensschrei mehr ausstoßen, als plötzlich die Klingen im Licht der Petroleumlampen aufblitzten. Sie hatten keine Chance zu irgendeiner Gegenwehr. Zu sehr war die Überraschung auf der Seite der maskierten Killer. Fred Medlock entfiel das Glas Whisky, das er in der Hand hielt. Dann weiteten sich seine Augen vor Schreck, als sich die Hand mit der Klinge über seine Brust senkte. Als der Mann zustieß, gab Fred Medlock nur ein kurzes Stöhnen von sich. Die letzten Laute in seinem Leben. Den anderen Männern ging es nicht besser. Nur wenige Augenblicke dauerte dieses Massaker im Saloon, das nur einen Teil des Gemetzels in der ganzen Stadt darstellte. Während dieser wenigen Augenblicke hauchten sie alle ihr Leben aus. Der Salooner und Pierre LeCeur, der Büchsenmacher, der seinen Geburtstag feiern wollte. Die Gäste LeCeurs ebenso wie die Männer, die die Nacht in ihren Betten verbracht hatten. Alle wurden sie getötet. Bis auf einen: Robert Falkner. Die Jagd auf Ronco, den Geächteten, geht weiter. Lesen Sie nächste Woche Band 171 dieser großen deutschen WesternSerie:
Stadt der toten Männer