Susie Orbach Schlach!feld�r Bod .I es der Schonhe1t Aus dem Englischen von Cornelia Holtelder-von der Tann
ARCHE
Inh...
68 downloads
1188 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Susie Orbach Schlach!feld�r Bod .I es der Schonhe1t Aus dem Englischen von Cornelia Holtelder-von der Tann
ARCHE
Inhalt
Für Lukas, Lianna, Lilli, Judah, Lahn und Lila
Einleitung
7
1 I Der Körper in unserer Zeit
23
2 I Wie der Körper geformt wird
37
3 I Sprechende Körper
63
41
99
Körper- real, visuell, virtuell
5 I Und der Sex?
141
61 Wofür sind Körper da?
167
Anmerkungen Literaturliste Dank
183 198 205
Ein leit u ng Wie die meisten Menschen mit Internetzugang finde ich täglich in meiner Mailbox Aufforderungen, mir den Penis verlängern oder die Brüste vergrößern zu lassen, das Lust- und Potenzstei gerungsmittel V iagra zu erwerben, das neueste pflanzliche oder pharmazeutische Mittel zur Gewichtsreduktion auszuprobieren. Diese Ermunterungen überlisten den Spamfilter, und auch die populärwissenschaftlichen Websites singen Loblieder auf Im plantate und Pillen zur Optimierung von Körper oder Gehirn und auf neue Fortpflanzungsmethoden unter Umgehung der herkömmlichen Biologie. Unterdessen können kleine Mädchen auf die Miss-Bimbo-Website gehen, um eine virtuelle Puppe zu kreieren, sie mittels Diätpillen ultraschlank zu halten und ihr Brustimplantate und Facelifts zu spendieren. Diese kleinen Mäd chen werden zu Teenagern abgerichtet, die von neuen Ober schenkeln, Nasen und Brüsten träumen, während sie in Zeit schriften blättern, wo Seite um Seite ein Look präsentiert wird, der uns noch vor zehn Jahren erschreckt hätte, da die skelettdür ren Models an Opfer von Hungerkatastrophen erinnern. Gleich zeitig warnen uns staatliche Stellen vor einer Fettleibigkeits epidemie. Dein Körper, rufen uns alle diese Phänomene zu, ist
7
dein Kunstwerk, das es zu korrigieren, umzumodeln und zu ver
das Problem nicht gelöst. Er hat es im Gegenteil verschärft und
bessern gilt. Mach mit! Gönn dir das Vergnügen! Gehöre dazu!
das mit hervorgebracht, was wir heute beobachten
einen zu
Als praktizierende Psychotherapeutin und Psychoanalytike
nehmend instabilen Körper, einen Körper, der in alarmierendem
rin sehe ich die Auswirkungen dieser Aufrufe zur Veränderung,
Maß zum Ort erheblicher Unzufriedenheit und schwerwiegen
Verschönerung und Vervollkommnung des Körpers täglich in
der Störungen wird.
meinem Sprechzimmer. Die Leute suchen mich nicht unbedingt
Unser Körper wird immer stärker als ein Objekt erlebt, das es
wegen bestimmter Körperprobleme auf, aber welcher Art ihre
zu bearbeiten und zu optimieren gilt. Männer werden zur Ziel
seelischen Nöte und Konflikte auch sein mögen - früher oder
gruppe für Steroide, sexuelle Hilfsmittel und speziell auf sie aus
später kommen fast immer Probleme mit dem Körper zum Vor
gerichtete Diätprodukte. Kinderkörper sind ebenfalls betroffen.
schein, als ob es absolut alltäglich wäre, eine Geschichte über sich
Fotografen bieten heute digital bearbeitete Baby- und Kinder
selbst zu erzählen, in der die Unzufriedenheit mit dem eigenen
fotos an: Sie korrigieren das Lächeln, entfernen Zahnlücken oder
Körper eine zentrale Rolle spielt. Wie so viele von uns haben die
fügen welche ein, begradigen mollige Knie, machen aus kleinen
Menschen, mit denen ich arbeite, den Wunsch, dies oder jenes
Mädchen Porzellanpüppchen. Wenn diese Magier unter Web
an ihrem Körper zu verändern, und viele tun es auch. Sie fin
adressen wie etwa www.naturalbeauties.homestead.com firmie
den ihren Körper mangelhaft und erklären, durch die Behebung
ren, ist das keineswegs ironisch gemeint, da sie tatsächlich glau
dieser Mängel würden sie sich wohler und selbstsicherer fühlen.
ben, verschönerte Fotos seien eine Form natürlicher Schönheit.
Wie die meisten von uns glauben sie sich nicht ungebührlich von
Auf sexy getrimmte kleine Mädchen gelten als bezaubernd. Den
außen beeinflusst, ja, weisen es weit von sich, für Manipulation
Körper auszustellen und ihm ein »attraktives« Erscheinungsbild
empfanglieh zu sein. Es mag durchaus sein, dass wir uns gar nicht
zu verleihen wird als vergnüglich, wünschenswert und leicht rea
fur besonders trendbewusst in Sachen Mode oder Gesundheit
lisierbar präsentiert. Der schöne Körper und das Streben nach
halten, sondern einfach nur davon ausgehen, dass wir uns besser
Vervollkommnung sind demokratisiert worden. Indem der rich
fuhlen, wenn wir selbst mit unserem Aussehen zufriedener sind.
tige Körper als etwas dargestellt wird, das jeder Mensch erlangen
Und doch ist da ein subtiles Geflecht von äußeren Einflüssen, das
kann, egal wo er lebt und in welcher ökonomischen Situation er
auf
sich befmdet, wird dieser Körper als Mittel propagiert, in unserer
uns
wirkt und ein neues, oft unzufriedenes Verhältnis zum
eigenen Körper erzeugt.
heutigen Welt »dazuzugehören«. Unseligerweise erscheint die
Die Auffassung, dass Biologie nicht mehr Schicksal sein muss,
ser demokratische Appell in zunehmend homogener und homo
wird immer populärer und mit ihr die Einstellung, dass sich da,
genisierender Form: Die Bilder und Namen globaler Stilikonen
wo ein (subjektiv so wahrgenommenes) körperliches Problem ist,
werden den Menschen - vor allem den jungen Leuten - in aller
auch eine körperliche Lösung finden lässt. Doch der Glaube, dass
Welt eingeprägt. Während einige in der Lage sein mögen, freu
der Körper perfektionierbar ist und wir freudig oder zumindest
dig mitzumachen, kann dies die große Mehrheit nicht. Denn die
willig die dazu angebotenen Möglichkeiten nutzen sollten, hat
demokratische Idee erstreckt sich nicht auf ästhetische Vielfalt,
8
9
im Gegenteil, die Schönheitsnormen haben sich paradoxerweise
schwer von der Wahrnehmung des eigenen Körpers und fremder
in den letzten Jahrzehnten verengt. Das Ideal der Schlankheit
Körper zu trennen. Der Körper ist heute ein neuer Fokus im Le
mit ausgeprägten Brustmuskeln bei Männern und großen Brüs
ben von Frauen und Männern, nicht mehr etwas, das als solches
ten bei Frauen- quält alle, die ihm nicht entsprechen, und selbst
sicher oder normal ist. Eine neue Rhetorik von Detoxing, Ge
diejenigen, die ihm entsprechen, tragen oft eine beklemmende
wichtstraining, Hautbürsten, Darmspülungen, Körperreinigung
Körperunsicherheit in sich.
jedweder Art greift um sich und veranlasst uns, entschlossen und
Ständige ängstliche Selbstbeobachtung und -kontrolle be
auf der Hut zu sein, was den eigenen Körper betrifft. Menschen,
herrschen viele Menschen vom Aufwachen bis zum Einschlafen.
die sich bisher wenig um Mode oder Gesundheit gekümmert
Ihre Körper sind in höchstem Alarmzustand. In anderen Zeiten
haben, sehen sich plötzlich bemüht, das Richtige für sich zu tun
hätte man eine solche Ängstlichkeit als Krankheit bezeichnet,
und Verantwortung für ihre Gesundheit und ihr Wohlbefmden
und angesichts der vielen Menschen, die daran leiden, hätte man
zu übernehmen. Das Individuum gilt heute als haftbar für sei
von einer Epidemie gesprochen. Aber das tun wir nicht. Wir
nen Körper und wird nach ihm beurteilt. »Sich um sich selbst zu
sind
kümmern« ist ein moralisches Gebot. Der Körper wird so etwas
vor allem als Frauen oder Mädchen- selbst so in die ängst
liche Beschäftigung mit dem eigenen Körper verstrickt, dass sie uns zur zweiten Natur geworden ist und wir sie deshalb fast nicht mehr wahrnehmen.
wie ein wertvoller persönlicher Besitzgegenstand. Zeitschriften-Features erteilen uns spaltenweise Ratschläge, wie wir am besten flir uns sorgen können. Fernsehsendungen
Wenn wir jedoch hinschauen, erkennen wir, dass die ängst
widmen sich dem Lohn, der Notwendigkeit und der moralischen
liche Beschäftigung mit dem eigenen Körper etwas sehr Beun
Wertigkeit individueller Gesundheits- und Schönheitspflege.
ruhigendes ist, weil sie nahezu das ganze Leben, von der Kindheit
Politiker drängen uns, Eigenverantwortung zu übernehmen.
bis ins hohe Alter, bestimmt. Wenn Jungen einst den Bewegungs
Unsere visuelle Welt wird von Bildern überflutet, die uns durch
künsten großer Sportler nacheiferten, richtet sich ihr Streben
die Darstellungsweise des Körpers und seiner Teile raffiniert
jetzt darauf, auch so ein Sixpack zu haben. Mädchen sind sich
vermitteln, dass unser Körper ständiger Neugestaltung und Ak
heute schon mit vier Jahren auf eine antrainierte Art ihres Kör
tualisierung bedarf. Ohne es auch nur zu merken, kommen wir
pers bewusst und üben vor dem Spiegel aufreizende Posen, die
der Aufforderung bereitwillig nach, weil wir unbedingt up to date
eher gruselig als niedlich sind, und immer mehr Frauen in Alters
bleiben wollen.
heimen weisen chronische Essstörungen auf. Kaum jemand wür
Die Fixierung auf Schlankheit und Schönheit, die seit Jah
de sagen, dass diese Art der Beschäftigung mit dem eigenen
ren das Selbstwertgefühl der Einzelnen unterminiert, wird in
Körper allein von äußerem Druck herrührt. Wir erleben den
jüngster Zeit noch durch ein neues Schreckgespenst verstärkt:
Wunsch nach einem perfekteren Körper als unseren ureigenen
die steigende übergewichtsrate. Das normale Vertrauen darauf,
Wunsch, und das ist er auch, aber wie Körper gesellschaftlich ge
dass der Körper seine Nahrungsbedürfnisse selbst signalisiert,
sehen werden, wie über sie gesprochen und geschrieben wird, ist
scheint verschwunden, ersetzt durch extreme Wachsamkeit und
10
1l
das verzweifelte Bemühen, einen Körper zu kontrollieren, der
unser Versagen und unsere Schlamperei signalisiert. Während
jetzt als gefräßig dargestellt wird. Diätmittelhersteller boomen,
einst der Arbeiterschicht-Körper leicht an Schwielen und Mus
und ein Newcomer, NutriSystem, gehört laut
zu den
keln zu identifizieren war, muss jetzt der Mittelschicht-Körper
soo schnellstwachsenden Unternehmen, da er in nur zwei Jahren
anzeigen, dass an ihm gearbeitet wurde- im Fitness-Gym, durch
seinen Jahresgewinn von einer Million Dollar im Jahr 2004 auf 85
Yoga oder sonstige Körperpraktiken. Der Körper hat zu demons
Fortune
Millionen steigern konnte. Ständig eröffnen neue Fitness-Gyms
trieren, was der/die Einzelne durch fleißiges Üben erreicht hat.
und Health Bars, werden neue Nahrungsmittel erfunden. Zeit
Für junge Leute gilt: Tu etwas für dich, oder dir wird etwas ange
schriften, in denen es um Gewicht, Figur und Gesundheit geht,
tan. User von sozialen Internet-Netzwerken posten oft extrem
steigern ihre Auflage. Der Wunsch, den eigenen Körper um
unvorteilhafte Fotos von anderen, die dann »gesnarkt«, d. h. mit
zugestalten, wird allerorten geschürt. Schönheitschirurgische
sarkastischen Kommentaren überzogen werden.2 Das öffent
Prozeduren verschlingen immer mehr Fernsehsendezeit und (bei
liche Anprangern von Körpern kam mit der Verbreitung von
einem Wachstum von einer Milliarde Dollar jährlich) immer
Bildern übers Internet auf.
mehr Geld; suggeriert wird, dass die Umgestaltung leicht und
Kommerzieller Druck über die Celebrity-Kultur, durch Bran
Ausdruck von Selbstwertschätzung ist. Zu alldem wird auch
ding und durch Industrien, die ihren Profit mit der Destabili
noch die Fortpflanzung umkonfiguriert: Junge Frauen frieren
sierung des spätmodernen Körpers machen, hat unser einstiges
Embryonen ftir den künftigen Gebrauch ein und haben immer
Körperverständnis ausgelöscht. Unsere Körper stellen keine
früher Zugang zu In-vitro-Fertilisation, und ein neues Phänomen
Dinge mehr her. In der westlichen Welt haben Automatisierung,
tritt auf: der Transgender-Mann, der Kinder zur Welt bringt.1
mechanisierte Landwirtschaft, vorgefertigte Produkte von Nah
Der Spätkapitalismus hat uns aus jahrhundertealten körper
rungsmitteln bis zu Häusern, motorisierter Transport, Hightech
lichen Praktiken hinauskatapultiert, die in erster Linie mit Über
Kriegsführung etc. einen Großteil der schweren körperlichen
leben, Fortpflanzung, der Beschaffung von Obdach und Nah
Arbeit ersetzt. Wir reparieren auch kaum noch Dinge, da es in
rung zu tun hatten. Heute sind Geburt, Krankheit und Altern
der Massenproduktion billiger ist, sie zu ersetzen. Wo einst Ar
zwar immer noch Teil des natürlichen Lebenszyklus, zugleich
beiterkörper durch muskelbildende körperliche Schwerarbeit
aber auch etwas, das man durch persönlichen Einsatz unter Nut
geformt wurden, hinterlassen heute schlecht bezahlte Jobs im
zung des medizinischen Fortschritts und der zur Verfügung
Dienstleistungsbereich und computerbasierte Jobs quer durch
stehenden chirurgischen Maßnahmen verändern oder stoppen
die Schichten keine solchen physischen Indikatoren mehr. Ja,
kann. Unser Körper gilt jetzt als unser eigenes Produkt. Wir
viele von uns müssen sich schon gezielt bemühen, sich bei der
können ihn auf künstlichem Weg, mit bio-organischen Mitteln
Arbeit oder während ihres gesamten Tagesablaufs überhaupt
oder durch eine Kombination von beidem gestalten, doch welche
noch zu bewegen. Früher war es ein Privileg der begüterten
Methode wir auch wählen, der Körper ist unsere V isitenkarte,
Schichten, die keine körperliche Arbeit leisteten, sich zum Zeit
das, was unsere Wachsamkeit und harte Arbeit oder andernfalls
vertreib und als soziale Kennzeichnung zu schmücken und zu
12
13
verschönern. Im Zuge einer Modernisierung und Demokra
bedeckungen, Beschneidung, lackierte Fingernägel sind allesamt
tisierung dieser Sitte sind wir heute alle dazu angehalten. Daher
Formen der Kennzeichnung oder Selbstkennzeichnung von In
beobachten wir etwas Neues. Der Körper ist zu einer Form von
dividuen als Mitglieder einer bestimmten Gruppe. Unsere Kör
Arbeit geworden. Er verwandelt sich vom Produktionsmittel in
per charakterisieren sich durch die Kleidung, den Gang und/
das zu Produzierende.
oder sonstige Zeichen, die der Gruppe entsprechen, aus der wir
Den Fallout dieser Veränderung sehen wir in den Sprechzim
kommen, zu der wir gehören oder mit der wir uns identifizieren
mern von Psychotherapeuten, Psychologen, Psychoanalytikern
wollen. Unsere Körpercodes und unser Körperverhalten kon
und Ärzten. Hier finden wir immer häufiger das, was ich Kör
stituieren, wer wir sind. Ob wir die jeweiligen Codes für sinnvoll
perinstabilität und Körperscham nenne. Es wird immer offen
halten oder nicht, zeigen sie doch in jedem Fall, dass unser Kör
sichtlicher, dass unser Körperverständnis auf neue Erklärungen
per weder naturgegeben noch unverfälscht ist, sondern geformt
und Theorien angewiesen ist. Ob es um die Bereitschaft und den
und geprägt durch das Zusammenspiel von Myriaden kleiner
Wunsch so vieler Menschen geht, die Größe oder Form ihres
kultureller Praktiken. Wir sehen jetzt, dass es in gewisser Weise
Penis, ihrer Brüste, ihres Gesäßes oder Bauchs zu verändern, ob
nie so etwas wie einen simplen, »natürlichen« Körper gegeben
wir uns bemühen, das Erleben eines Mannes mit einem Phantom
hat. Es gab immer nur einen Körper, der sozial und kulturell
glied zu verstehen, quälende psychosomatische Symptome zu
geformt ist. Meine These in diesem Buch lautet: Der derzeitige
decodieren, mit Anorexie, Bulimie oder einer der sonstigen Kör
kulturelle Diskurs über den Körper evoziert eine neue Epoche
perdysmorphien umzugehen- das kartesianische und freudia
der Destabilisierung des Körpers und eine neue obsessive Be
nische Konzept des Körpers erscheint heute unzulänglich. Das
schäftigung mit ihm, beides induziert durch gesellschaftliche
Psyche-Körper-Verhältnis verändert sich. Orthodoxe psycho
Kräfte und vermittelt in der Familie- dort, wo wir unser Körper
analytische Theorie über die Fähigkeit der Psyche, den Körper
gefühl erwerben.
zu beeinflussen, reicht nicht mehr aus. In dieser Zeit der Körper
Das heißt nicht, dass wir unsere Körperpraktiken als fremd
instabilität wird immer klarer, dass der natürliche Körper eine
erleben. Wenn wir unser Fitnesstraining machen, uns frisieren
Fiktion ist. W ir müssen dringend neu über den Körper nach
und kleiden, unterstreichen wir, wie wir gesehen werden wollen
denken.
und wie wir uns selbst sehen. W ir machen uns mit Vergnügen
Wenn man sich in der Welt umschaut und die vielen verschie
zurecht. Unsere Körperpraktiken werden uns nicht von oben
denen Arten von Körpersprache und Körperschmuck sieht3,
vorgegeben wie eine Art Katechismus, den es zu befolgen gilt.
wird klar, dass Körper immer Ausdruck einer zeitlichen, geo
Kulturelle Identität wird in der ganz alltäglichen, elementaren
grafischen, geschlechtsspezifischen, religiösen und kulturellen
Interaktion zwischen Babys und Eltern vermittelt. Sie ist das
Einbindung sind. Halsringe, Gesichtsbemalung, Verschleierung,
Eltern-Kind-Verhältnis. Die Art, wie Babys getragen, gehät
entblößte Fußgelenke, Businessanzüge, gefärbte Haare, Täto
schelt, gefüttert werden, wie man mit ihnen spricht und schmust,
wierungen, absichtlich deformierte Füße, Goldzähne, Kopf-
sich mit ihnen beschäftigt, ist nicht nur ein Set von kulturel-
14
15
len Praktiken, die Mütter, V äter, Kinderfrauen und Großeltern
die psychischen Entstehungswege des körperlichen Symptoms.
selbst als Kinder absorbiert haben und jetzt weitergeben, sie ist
In Gesprächen mit seinen Patienten spürte er den Ursprüngen
auch entscheidend daftir, wie das Kind seinen eigenen Körper
körperlicher Symptome nach, die nicht konstitutionell oder erb
erlebt.
lich bedingt waren. Er zog Verbindungen zwischen dem, was
Das war immer schon so und lief weitgehend unreflektiert ab.
die Einzelnen erlebt hatten, ihrer Erinnerung und Konstruktion
Jungen, die zu Kriegern erzogen wurden, entwickelten die dazu
des Geschehenen und ihrer Einordnung dieses Erlebens im Licht
nötigen physischen und psychischen Eigenschaften, während
ihrer unbewussten Wünsche und Konflikte. Freud wies über
Mädchen dazu erzogen wurden, brav und sittsam zu sein, still
zeugend nach, dass die Psyche großen Einfluss auf den Körper
und nett mit übereinandergeschlagenen Beinen dazusitzen. Die
üben konnte. Sein Werk hat, auch wenn es anfangs nur zögerlich
Körper nahmen automatisch den entsprechenden Ausdruck an.
aufgenommen wurde, unsere Sicht des Verhältnisses und der
Ein englischer Schuljunge der 196oer-]ahre war auf den ersten
Interaktion zwischen Psyche und Körper revolutioniert.
Blick zu erkennen und von seinem deutschen oder chinesischen
Freuds Erkenntnisse leiten uns zu Recht seit über einem Jahr
Gegenstück zu unterscheiden: durch seine Haltung, seine Klei
hundert. Sie sind nicht die einzige Grundlage des psychoanaly
dung und das räumliche Feld, das sein Körper einnahm. Der
tischen Instrumentariums, haben aber den gesamten medizi
Verkörperungsprozess eines jeden Jungen war konstitutiv für
nischen Bereich durchdrungen, sodass es heute Allgemeingut ist,
sein Selbstgeftihl. Körper werden im Säuglingsalter geformt, je
die Auswirkungen von Stress auf das Immunsystem, das endo
nach den gesellschaftlichen und individuellen Gebräuchen der
krine System und das Verdauungssystem oder auch auf das größ
Familie, in die sie hineingeboren werden, sodass sie zu der Sorte
te unserer Organe, die Haut, zu berücksichtigen. Wir zögern
Körper werden, die das vor ihnen liegende Leben erfordert.
nicht, Ekzeme mit psychischem Stress in Verbindung zu bringen.
Aber natürlich ging das manchmal auch schief. Nicht auf der
Wir ignorieren zwar nicht die chemischen Reizstoffe, die Jucken
medizinisch-organischen Ebene - Körper weigerten sich aus
und Rötung auslösen, belassen es aber kaum je dabei; wir gehen
irgendeinem Grund, sich so zu verhalten, wie sie sich hätten ver
dem Verhältnis zwischen Emotionen, persönlicher Geschichte
halten sollen. Sie funktionierten nicht mehr erwartungsgemäß.
und den verschiedenen Körpersystemen nach.
Ein Arm oder ein Bein war plötzlich gelähmt, oder eine Frau
Vor allem aber hat uns Freud gezeigt, dass die Annahme einer
bildete einen schwanger wirkenden Bauch aus, obwohl keine Be
»natürlichen« menschlichen Sexualität eine irrige Vorstellung ist.
fruchtung stattgefunden hatte. Ein Mann entwickelte vielleicht
Sexuelles Begehren ist durchtränkt von Konflikten, Wünschen
eine zwanghafte sexuelle Fixierung auf Stöckelschuhe und konn
und Fantasien. In unserer Zeit, so meine These, ist der Körper
te nicht ejakulieren, ohne einen solchen Schuh zu sehen oder
selbst ein ebenso kompliziertes Feld geworden, wie es zu Freuds
zu liebkosen. Solche Phänomene fielen Sigmund Freud im aus
Zeiten die Sexualität war. Auch er ist geformt und deformiert
gehenden neunzehnten Jahrhundert auf, und ihn faszinierte das
durch die früheste Interaktion mit unseren Bezugspersonen, Trä
Verhältnis zwischen Psyche und Körper, oder genauer gesagt,
gern der Normen und Imperative unserer Kultur, wie der Körper
16
17
auszusehen und wie man mit ihm umzugehen hat. Ihre Wahrneh
ums zwar nach wie vor als gültig, aber auch als begrenzt. Dass die
mung eigener körperlicher Mängel und Stärken, ihr Körperideal
Einzelnen wie auch das Kollektiv zunehmend Veränderungen
und ihre Körperängste wirken sich auf das Kind aus. In meinem
des eigenen Körpers erstreben, deutet darauf hin, dass wir die
Sprechzimmer wird dieser Niederschlag im kindlichen Körper
Entwicklungstheorie- unserVerständnis desübergangs von der
gefühl und in der Körperinstabilität des Erwachsenen deutlich.
frühen Kindheit bis ins Erwachsensein- mit den Auswirkungen
Neu und beunruhigend ist aus meiner Sicht die Häufigkeit, mit
gegenwärtiger gesellschaftlicher Praktiken zusammenbringen
der elterliches Körperunbehagen im Körpererleben meiner er
müssen.
wachsenen Patientinnen und Patienten zum Tragen kommt. Was
Die letzten dreißig Jahre haben unser Verständnis dessen,
sich da offenbart, ist die Weitergabe unsicherer Körperlichkeit
was psychische Konflikte mit dem Körper machen können,er
von einer Generation an die nächste.
weitert. Sie haben deutlich gemacht, dass wir es mittlerweile
In meiner Anfangszeit als Psychotherapeutin hörte ich das
mit einer Krise des Körpers selbst zu tun haben. Das hat mich
ferne Grollen von Körperunsicherheit aus den Ess- und Kör
dazu gebracht, das gesamte Konzept des Körpers als eines Or
perbildstörungen der Menschen in meinem Sprechzimmer he
ganismus, der sich von der Geburt an nach seinen genetischen
raus. Ich schrieb darüber, wie in Vorstellungen von Dick- und
Vorgaben entfaltet und nur in bestimmten Schlüsselstadien
Dünnsein komplexe gesellschaftliche und individuelle Ideen und
dieser Entwicklung von der Psyche (und der Ernährung) beein
GeHihle steckten, die sich nicht direkt zu äußern vermochten.
flusst wird, infrage zu stellen. Der Körper ist nicht mehr etwas
Seit meinem Antidiätbuch und meinem Buch Hun9erstreik (in Eng
im Grunde Stabiles. Neue Entwicklungstheorien müssen sich
land 1976 und 1986 erschienen) haben sich die Probleme, die
mit dem primären Terrain unserer menschlichen Körperlich
ich damals zu beschreiben versuchte, massiv ausgebreitet: Ess
keit befassen, und der hier von mir vorgeschlagene Ansatz für
störungen und Körperunbehagen sind heute für viele Menschen
die Reflexion über den Körper liefert meines Erachtens Aus
und viele Familien Teil des Alltagslebens. Da immer mehr Länder
gangspunkte für eine T heorie der körperlichen Entwicklung,
Anschluss an die globale Kultur erlangen, gelten die symboli
die genauso überzeugend ist wie unsere gegenwärtige T heo
schen Bedeutungen, die Dick- und Dünnsein beigemessen wer
rie der psychischen Entwicklung. Wenn wir die Psychologie
den, inzwischen in den Köpfen vieler Menschen, deren Haupt
unseres Körpers erst besser verstehen - und da lernen wir viel
sorge es noch vor kurzer Zeit war, genug zu essen zu bekommen.
von Psycho- und Körpertherapeuten, Neuro-Psychoanaly
Heute zeigen »richtige« Ernährung und die »richtige« Figur die
tikern und Neuropsychologen -,werden wir zu einer T heorie
Zugehörigkeit zur Moderne an; »nicht richtige« Ernährung und
der menschlichen Entwicklung finden,die die Psychosomatik
eine »nicht richtige« Figur hingegen stehen für ein beschäniendes
stärker berücksichtigt. Und wir werden auch genauer nachvoll
Versagen oder für die Ablehnung der Werte,an denen wir uns zu
ziehen können, in welcher Weise unsere bildergesättigte Kultur
orientieren haben. In diesem Kontext erweist sich Freuds Ver
auf den visuellen Kortex einwirkt und wie dies zu einer rasch
ständnis der symbolischen Bedeutungen im Leben des Individu-
fortschreitenden Reduktion der reichen V ielfalt menschlichen
18
19
Körperausdrucks geführt hat. Heute sind einige wenige ideali
zu propagieren und es zu ihrem ethischen Ziel zu machen, das
sierte Körpertypen, auf die jeder glaubt hinarbeiten zu müssen,
Leiden am eigenen Körper, das so viele Menschen heute plagt,
an die Stelle verschiedener Formen von Körperlichkeit getreten.
aufzuheben.
Genau wie wir alle vierzehn Tage eine Sprache verlieren, laufen wir Gefahr, die Körpervielfalt einzubüßen.4
Dieses Buch untersucht, was in unserer Zeit mit dem Kör per geschieht und warum. Es stellt einige Extrembeispiele vor,
Dies sind meine klinischen Ausgangspunkte und meine theo
fordert aber gleichzeitig dazu auf, die ganz alltäglichen Dinge,
retischen Vorschläge. Auf der moralischen Ebene schmerzt
die wir heute tun, kritisch zu überdenken. Es präsentiert eine
und beunruhigt mich die homogene visuelle Kultur, mit der uns
Entwicklungstheorie aus der Perspektive des Körpers, zeigt
Industrien überziehen, deren Profite auf dem Schüren von Kör
auf, wie die Ursprungsfamilie verschiedene Arten von Körper
perunsicherheit beruhen und deren Schönheitsterror so viele
unsicherheit fördern kann, wie sie das Gefühl erzeugen kann,
Menschen schädigt. Millionen kämpfen täglich mit negativen
dass der Körper, den wir haben, irgendwie nicht unser wahrer
Gefühlen und Scham wegen ihrer körperlichen Erscheinung.
Körper ist. Das Buch erörtert die visuelle Kultur und die Me
Das ist kein triviales Problem, nur weil es ein privater Kampf
chanismen, über die sie uns beeinflusst, uns eine Form der Zu
ist, der sich als Eitelkeit äußern oder falschlieh dafür gehalten
gehörigkeit in Aussicht stellt, wenn wir nur selbst den Bildern
werden mag. Es ist weit ernster, als wir zunächst denken, und
entsprechen, die wir sehen. Und es untersucht, wie die visuelle
nur weil es heute so normal ist, sich mit dem eigenen Körper
Repräsentation eines bestimmten verwestlichten Körpertypus
oder Teilen desselben unwohl zu ftihlen, spielen wir herunter,
junge Menschen in jenen Ländern, die qua Globalisierung in die
wie schwerwiegend solche Körperprobleme sind: Sie sind eine
Moderne eintreten, dazu treibt, sich einen Körper zulegen zu
versteckte Gesundheitskatastrophe, die sich nur ansatzweise in
wollen, der möglicherweise mit dem Körper, den sie haben, im
den Statistiken über selbstverletzendes Verhalten, Übergewicht
Widerstreit liegt. Die Versuche junger Menschen in Japan oder
und Anorexie zeigt, die sichtbarsten Symptome einer viel um
Fidschi, Saudi-Arabien oder Kenia, ihren Körper umzumodeln,
fassenderen Körperunsicherheit.
stehen symptomatisch für das Problem des Unwohlseins im
Diese Erscheinung der Spätmoderne ist nicht unvermeid bar. Sie ist nicht das einzig mögliche Resultat einer übersättigten
eigenen Körper rund um die Welt. Körperhass ist mittlerweile ein heimlicher westlicher Exportschlager.
digitalen Bilderkultur. Eben jene technischen Mittel, die eine
Ein Streben nach Selbstannahme, das sich auf den eigenen
Verengung der Schönheitsnormen hervorgebracht haben, könn
Körper fixiert, ist kennzeichnend für unsere Zeit. Die verschie
ten auch so eingesetzt werden, dass sie die breite Vielfalt der
denen Ausdrucksformen von Körperunzufriedenheit und die
Körper widerspiegeln, die die Menschen wirklich haben. Und
Suche nach Lösungen bilden das Thema dieses Buchs. Obwohl die
langfristig ist es auch für die Style-Industrien nicht nötig, ein
Psychoanalyse körperliche Symptome häufig als Ausdruck psy
verengtes Schönheitsideal zu propagieren. Es könnte diesen In
chischen Leidens versteht, werde ich argumentieren, dass kör
dustrien im Gegenteil sogar nützen, Verschiedenheit und Vielfalt
perliche Symptome wie Ekzeme oder Adipositas auch Ausdruck
20
21
von Leiden auf der Ebene des Körpers selbst sind- erzeugt durch gesellschaftliche Kräfte, in der Familie vorhandene Körperängste und transgenerationeHe Körpertraumata. Ich hoffe, Antwort auf folgende Fragen geben zu können: Warum ist Zufriedenheit mit dem eigenen Körper so schwer zu erlangen? Warum sind Ver änderungen des eigenen Körpers von Geschlechtsumwandlung über Amputation bis hin zu schönheitschirurgischen Eingriffen wenn auch vielleicht nicht allgegenwärtig, so doch etwas, das im allgemeinen Bewusstsein eine große Rolle spielt und immer häufiger auch praktiziert wird? Warum ist Sex ein »Must-have«,
1
I Der Körper in unserer Zeit
beherrscht von Normerfüllung und getränkt von Fantasien, die Freud schwindelig gemacht hätten? Wie können wir den Reiz
Können Sie sich vorstellen, Ihre beiden gesunden Beine loswer
von Reality-TV -Sendungen verstehen, die die Erlösung des Kör
den zu wollen, weil sie Sie furchtbar stören- so sehr, dass Sie sich
pers durch Perfektionierung versprechen? Was ist an unserem
deformiert und unvollkommen fühlen, gefangen in einem Kör
Körper, so wie er ist, verkehrt und warum?
per, der sich falsch anfühlt, nicht so, wie Ihr Körper sein sollte?
Indem ich diesen Fragen nachgehe, hoffe ich dahin zu kom
Und können Sie sich vorstellen, funfzig Jahre- in denen Sie sechs
men, einen Beschreibungsapparat und eine Theorie des Körpers
Kinder in die Welt setzen- mit dem Gedanken zu leben, dass nur
unserer Zeit zu entwickeln. Körper, so werde ich argumentieren,
eine beidseitige Amputation überm Knie Ihnen das Gefühl geben
sind in keiner Weise naturgegeben, das schlichte Produkt unse
kann, ganz und vollkommen zu sein?
rer DNA. Gefangen zwischen einer Epoche, in der im Westen fur
Das war das Dilemma von Andrew,1 der von der Vorstellung
viele Menschen der Körper nicht mehr dazu dient, Güter zu pro
beherrscht war, sich zuerst von einem seiner Beine und dann vom
duzieren, und einer Ära, die uns Körperersatzteile aller Art und
anderen befreien zu müssen. Als er niemanden fand, der ihm da
personalisierte Medikamente verheißt, sind wir verwirrt. Was
bei half, seine lästigen Beine loszuwerden, suchte er im Internet
genau ist dieser Körper, in dem wir zu leben versuchen? Welchen
und fand eine Community von Möchtegern-Amputierten.
Teil von uns stellt er dar? Welches Verhältnis haben wir zu ihm?
Einen Mann, der seine Beine loswerden will, würden wohl
Dieses Buch möchte ein erweitertes Körperverständnis schaffen,
die meisten Leute für verrückt halten. Dieser Wunsch scheint so
unsere Widerstandsfähigkeit gegenüber neuartigen Angriffen
bizarr und so außerhalb aller Normalität, dass es schwer ist, sich
stärken und unserem Körper eine nachhaltige Stabilität geben,
über diese spontane Bauchreaktion hinwegzusetzen. Doch genau
damit wir friedlicher mit ihm und durch ihn leben können.
das gelang dem Psychologen Dr. Bert Berger, als ihn Andrew im Veteranen-Krankenhaus von Milwaukee konsultierte. Wie jeder vernünftige Arzt versuchte sich Dr. Berger in das Leiden sei-
22
23
nes Patienten hineinzuversetzen. Sein ärztlich-psychologisches
und besser mit und in ihrem Körper leben zu können. Doch wenn
Ethos hielt ihn davon ab, Andrew die Operation anzubieten, von
es um den Wunsch nach Amputation oder Geschlechtsumwand
der dieser glaubte, sie würde ihn heil und ganz machen. Also
lung geht, reicht Reden nicht immer aus. Bei Andrew genügte es
versuchte er die psychische Situation zu verstehen, die diesen
jedenfalls nicht. Er wollte nicht nur reden, er wollte die Opera
paradoxen Wunsch hervorgebracht hatte.
tion. Und er fand sich durch die Arbeit des Schotten Dr. Robert
In seinen frühen Schriften über Hysterie vertrat Freud die
Smith ermutigt, der in zwei ähnlichen Fällen schließlich die Ope
Ansicht,dass man sonderbare körperliche Symptome, wie etwa
ration befürwortet hatte, nachdem er zu dem Schluss gekommen
eine psychische Armlähmung oder das ln-fremder-Sprache
war, dass dies die humanste aller möglichen Behandlungsweisen
Reden, nicht nur verstehen, sondern auch behandeln könne.
sei.
Wo in der Volksmedizin Heiler und Schamanen auf ihre Art
Obwohl ich selbst jahrzehntelang mit Menschen mit Körper
das Unbewusste zu beeinflussen versucht hatten,schlug er eine
problemen gearbeitet hatte,stellte mich Andrews Amputations
Redekur vor, bei der durch eine spezielle Form des Zuhörens und
wunsch vor Rätsel. Und er beunruhigte und schockierte mich
Assoziierens Arzt und Patient den unbewussten Ursachen für die
auch und zwang mich, mein ganzes Einfühlungsvermögen zu
nicht physiologisch begründeten Symptome auf die Spur kom
mobilisieren, um irgendwie zu verstehen, welche Umstände
men würden. Durch Reden würden sie die darin eingekapselten
einen solchen Wunsch so dringend und zwingend machen kön
Konflikte aufdecken, und die Symptome würden verschwinden.
nen.
Freuds Fallgeschichten aus dem Jahr 1895 waren revolutionär und
Heute wissen wir eine ganze Menge über das umgekehrte
überzeugend. Sie bewogen so viele Menschen, die neue W issen
Phänomen: Empfindungen und Beschwerden in einem Phantom
schaft der Psychoanalyse zu studieren, dass es zu der Zeit, als
glied- einem Körperteil,der gar nicht mehr da ist.2 Es ist be
Bert Berger mit Andrew zusammentraf, für Psychotherapeuten
kannt,dass Witwen oft noch lange, nachdem sie ihren Mann ver
jedweder Couleur längst selbstverständlich war, psychologische
loren haben,weiter zwei Kaffeetassen auf den Frühstückstisch
Methoden für die wirksamste und ethischste Herangehensweise
stellen. Wie es dazu kommt, können wir verstehen. Unverständ
an nichtorganische Körperprobleme zu halten. Wenn Andrew
licher ist uns auf den ersten Blick das irritierende Erleben eines
nur tiefer gehend verstünde, woraus sich sein Wunsch speiste,
Menschen, der versucht,mit einem Arm, den er gar nicht mehr
so die T heorie,würde er auf eine Operation verzichten können.
hat, dem Kellner zu winken oder das Telefon abzunehmen. Von
Oder genauer gesagt: Wenn er sein emotionales Leiden und das
geisterhaften Sinnesempfindungen in einem nicht vorhandenen
psychische Bild,das er von sich nach der Operation hatte,be
Körperteil geplagt,was ebenso demütigend wie verstörend sein
schreiben könnte, würde ihm das wahrscheinlich neue Wege er
kann, wird dieser Mensch vielleicht beflirchten, verrückt zu
öffnen, seinen Körper, so wie er faktisch war, zu akzeptieren.
werden.3
Diese Art zu denken hat sich über ein Jahrhundert lang be
Die W itwe, das verstehen wir, macht einen Entwöhnungs
währt. Sie hat Menschen mit Körperstörungen geholfen, anders
prozess durch,löst sich nur langsam von einem langen Leben mit
24
25
einem Ehemann und von der damit verbundenen Identität. Sie
Ramachandrans Pionierarbeit hat uns aufgezeigt, wie phäno
hat ihre neue Realität nicht immer parat. Verdrängung befördert
menal adaptionsfähig wir sind. Er zeigte, dass Phantomempfin
das vorübergehende Einlullen in Vergesslichkeit. Der Mensch
dungen keineswegs Einbildung oder Verrücktheit sind, sondern
mit dem Phantomglied weiß, dass ihm das Körperglied fehlt,
eine materielle Grundlage in der neuronalen Verschaltung des
aber sein Körper scheint unabhängig zu agieren - so als wäre
Gehirns haben.s
das Körperglied noch da. Das Bewusstsein dieses Menschen ist
Andrews Wunsch, sich seiner beiden »überschüssigen« Bei
in gewisser Weise gespalten: in das kognitive Wissen um eine
ne zu entledigen, ist mysteriöser. Ramachandrans Arbeiten be
körperliche Realität und die fortdauernde sinnliche Wahrneh
schreiben, wie unser Gehirn unser Körperschema kartiert, und
mung des nicht vorhandenen Körperglieds. In der Tat ein ver
erklären, dass, wenn ein Gehirnareal wegen des Fehlens eines
rückt anmutender Zustand, insbesondere, ehe die Erkenntnisse
Körperglieds unterstimuliert ist, das Gehirn die Neuralbahnen
des Neurologen Dr. Vilayanur Ramachandran - auch der Sher
auf eine Art und Weise umkartiert, die Sinnesempfindungen in
lock Holmes des Phantomschmerzes genannt
einer breiteren
Öffentlichkeit bekannt wurden.
dem fehlenden Körperglied erzeugen kann. Beruhte Andrews Problem auf dem umgekehrten Phänomen: der Unfähigkeit, sei
Ramachandran zeigte, dass die von ihm untersuchten Patien
ne Beine zu spüren? Blieben die elektrischen Impulse seines Ge
ten keineswegs verrückt waren. Ihr Gehirn hatte sich auf eine
hirns aus, wenn seine Beine stimuliert wurden? Nein. Das wäre
kuriose Weise an das Fehlen des betreffenden Körperglieds
vielleicht einfacher gewesen. Andrews Problem war es, seine Bei
adaptiert: Die Neuralbahnen des jetzt nicht mehr vorhandenen
ne übermäßig zu fühlen. Seine Lösung war die Amputation. Aber
Arms, Beins oder Fingers hatten stattdessen andere Körper
wenn das die Lösung war, woher rührte dann das Problem? Wie
regionen übernommen. Durch Stimulieren eines bestimmten
war es dazu gekommen, dass diese Beine, die doch so integraler
Wangenbereichs seiner Patienten konnte Ramachandran die
Bestandteil des Menschen sind, als etwas Überschüssiges emp
Empfmdungen einer Phantomhand intensivieren. Empfindungs
funden wurden?
punkte auf der Wange waren jetzt mit Gehirnregionen verschal tet, die eigentlich für die Hand zuständig gewesen waren.
Kinder, die sich nicht geliebt fühlen, glauben oft, dass an ihnen etwas falsch ist, so falsch, dass es sie inakzeptabel macht.
Ramachandrans Erkenntnisse brachten vielen Menschen
Das Gefühl, nicht richtig zu sein, ist schmerzhaft und verwir
Erleichterung. Seine bemerkenswerten Notizbücher erhellen die
rend, aber das Kind gibt den Wunsch, geliebt und akzeptiert zu
Fähigkeit des menschlichen Körpers, etwas, das gar nicht da ist,
werden, nicht auf. Es verzweifelt daran. Es sehnt sich nach der
auf verblüffendste Art und Weise zu spüren. So schildert Rama
Erfüllung dieses Wunsches und fürchtet sie vielleicht auch. Doch
chandran etwa den Fall eines Ingenieurs aus Arkansas, der nach
das Streben danach, geliebt und akzeptiert zu werden, führt
einer Unterschenkelamputation ein enorm erweitertes sexuelles
gleichzeitig zu dem Bemühen, sich selbst zu verändern, jemand
Empfinden verzeichnete, da sich sein Orgasmus vom Penis in den
zu werden, den das Kind selbst akzeptieren kann.
Bereich seines Phantomfußes ausdehnte.4
26
Weder als Kind noch als Erwachsener hatte Andrew das Ge-
27
fühl, dass sein Körper akzeptabel war. Seine Beine waren für
Also ließ man sie auf Bewährung frei und schickte sie in eine
ihn so anstößig, dass er trotz seiner vielen Versuche, Hilfe zu
T herapie.
finden - unter anderem bei Dr. Berger -, nicht mehr fähig war,
Als mein erster Patient, Michaela, seinen Penis in eine Vulva
sich selbst anzunehmen. Schließlich zwängte er beide Beine in
umwandeln lassen wollte, war meine erste Reaktion, wenn auch
einen Stützstrumpf und packte sie dann in Trockeneis, bis sie
weniger roh als die potenzieller Zellengenossen, doch ziemlich
abstarben, sodass ein Chirurg die bereits atrophierenden Glied
abwehrend. Als junge Feministin, die verstehen wollte, durch
maßen amputieren musste.
welche gesellschaftlichen und psychischen Prozesse wir zu
Wir zucken bei dieser Vorstellung zusammen - wegen der
Männern und Frauen gemacht werden, fand ich diesen Wunsch
Schmerzen der Amputation und wegen der inneren Qual, die
interessant, aber mir war auch unwohl dabei. Der Feminismus
einen Mann in den Fünfzigern zu der Überzeugung brachte, sich
vertrat, dass wir uns durch unser biologisches Geschlecht weder
niemals selbst akzeptieren zu können, solange ihm nicht beide
defmieren noch einschränken zu lassen brauchten, und doch
Beine abgetrennt würden. Ein derart extremes Verhalten scheint
kam ich allmählich dahin zu verstehen, wie gravierend sich Mi
uns unverständlich. Wie und warum kommt ein körperlich ge
chaela durch das seine fehldefiniert und eingeschränkt fühlte.
sunder Mann, der beim Militär war und dort eine harte körper
Und er war nicht der Einzige. Andere Patienten, Ruby, Maria
liche Ausbildung durchlaufen hat, an den Punkt, sich nicht nur
und George, erschienen zu ihren Terminen mit Kleidern und
seiner Beine entledigen zu wollen, sondern es auch tatsächlich
Schuhen, Handtaschen, Schmuck und Make-up, die eine einzige
zu tun? Und wir fragen uns auch, wie die Geschichte ausgeht, ob
Zelebration von Weiblichkeit waren und mich schließlich zu der
die Amputation das Problem wirklich löst. Wird Andrew den
Oberzeugung brachten, dass das, was diese Menschen von ihrem
Frieden mit sich selbst finden, den er sich vorgestellt hat? Wird er
Gefühl her waren, nicht zu dem passte, was sie physisch waren.
als Amputierter ein befriedigendes Leben fuhren können?
Sie steckten im falschen Körper.
In den letzten dreißig Jahren haben wir uns daran gewöhnt,
In dem Maße, wie mein Mitgeftihl mit ihrem quälenden
solche Fragen in Bezug auf Menschen zu stellen, die sich im fal
Dilemma wuchs, verlor sich mein Unbehagen. Biologie und
schen Körper gefangen ftihlen, was ihr Geschlecht anbelangt,
Psyche waren bei ihnen nicht erwartungsgemäß verschmol
und zunehmend darüber sprechen, wie zwingend ihr Bedürfnis
zen. Michaelas zwingendes Bedürfnis war die körperliche Um
nach körperlicher Umwandlung ist.6 Mein erstes Praktikum als
wandlung. Er konnte mit sich als Besitzer eines Penis so wenig
angehende Psychotherapeutin machte ich in einer Ambulanz
leben wie Andrew mit sich als Besitzer von Beinen. Sein Penis
klinik für verurteilte Straftäter, die als zu schwach galten, um die
war eine Unmöglichkeit, und obwohl weder er noch ich damals,
Brutalität eines New Yorker Gefängnisses zu überleben. Diese
vor über dreißig Jahren, die Worte fanden, die ihm hätten hel
Männer, die Frauenkleider trugen und ernstlich erwogen, sich
fen können, erkannte ich sie später in einem 2006 erschienenen
ihres als überschüssig empfundenen Penis zu entledigen, stellten,
Interview mit der Schauspielerio Aleshia Brevard, die die männ
so befand man, für Mithäftlinge eine zu große Provokation dar.
lichen Genitalien, mit denen sie geboren worden war, als einen
29
an seinen Fall ähnlich heran
»behindernden und oft lebensbedrohlichen Geburtsfehler« be
als psychologisch vergleichbar
zeichnete.
gehen wie an den Wunsch nach Geschlechtsumwandlung. Wo
Dank ihrer Eloquenz vermag sie diese schockierende Aus
her, fragen wir, kommt dieser Wunsch? Wie sieht der familiäre
sage in eine so sachliche Form zu kleiden, dass wir das, was sie
Hintergrund aus? Wie kam es dazu, dass seine Beine eine ähn
sagt, ohne Vorurteil oder emotionale Abwehr zur Kenntnis
liche Bedeutung annahmen wie ein unerwünschter Penis?
nehmen können. Wir halten erst einmal inne und hören zu. Das
Um uns einer Vorstellung anzunähern, die bei uns selbst zu
Wort »Geburtsfehler« macht uns »den inneren Tumult ... die
nächst so wenig emotionalen W iderhall findet, können wir Fra
Verwirrung«7 vorstellbar, die ihr Leben prägten und es ihr ver
gen formulieren, die uns die Konstruktion eines Bildes erleich
unmöglichten, ihr psychisches Selbstgefühl mit dem physischen
tern - eines Bildes, das in diesem Fall vielleicht das Woher und
übereinzubringen.
Wozu von Andrews Wünschen und Handlungen zu erhellen ver
Für Aleshia Brevard war es, genau wie für Michaela, eine
mag.
zwingende Notwendigkeit, ihren Körper zu verändern. Für
Hatten sich Andrews Eltern, als er klein war, über seine ersten
sie bestand nicht die Adaptationsmöglichkeit des Cross-Dres
Gehversuche lustig gemacht? Wurde er immer getragen, sodass
sings, wie es etwa die T hai Lady Boys praktizieren, jene jun
seine Beine für ihn ein Anhängsel darstellten, das er von seinem
gen Männer, die als Lustobjekte für Männer aus der westlichen
Gefühl her nicht brauchte? Wollte er unbedingt getragen wer
Welt dienen, deren Homosexualität so mit Scham besetzt ist,
den, musste aber selbst laufen? Repräsentierten seine Beine für
dass sie sie Männerkörper suchen lässt, die als Frauenkörper ver
ihn eine Form von Selbstständigkeit, für die er sich nie bereit
kleidet sind. Aleshia Brevard unterzog sich einer Geschlechts
fühlte? War jemand in seiner Umgebung - Eltern, Verwandte,
umwandlung und war Schauspielerin und Theaterregisseurin,
Lehrer - körperbehindert? Fühlte er sich innerlich »VOn den Bei
ehe sie schließlich Schriftstellerin wurde. Die Korrektur ihres
nen geholt«? Während ich mir diese Fragen stellte, versuchte ich,
»Geburtsfehlers« wurde in den Sechzigerjahren vorgenommen,
mich in seine Situation zu versetzen und meine eigenen Beine
als Brevard in den Zwanzigern war, und bedeutete für sie eine
wegzudenken. Sofort fühlte ich mich extrem exponiert. Meine
ungeheure Erleichterung.
Sexualität fühlte sich zu bloß liegend an, mein Gesäß zu markant.
Es fallt uns schwer, Andrews Beine, mit denen er fünfzig Jahre
Das überraschende war, dass, zumindest in meiner kurzzeitigen
wider Willen leben musste, als eine ähnliche Art von Geburts
Fantasie, weder Schwäche noch Hilflosigkeit das dominante Ge
fehler zu betrachten. Unsere Vorstellungskraft ist zu beschränkt.
fühl war. Aber diese Art der Exploration am eigenen Leib brachte
Die meisten von uns fürchten körperliche Behinderung. Wir
mich nicht sehr weit: Die Situation war mir zu fremd, um in mir
assoziieren eingeschränkte Bewegungsfahigkeit mit dem Alter,
ein Echo zu finden. Also wandte ich mich wieder der Frage zu,
nicht mit dem Beginn eines neuen Lebens. Und doch können
was an seinem vollständigen Körper für Andrew zu einem sol
wir - betrachten wir einmal Andrews Verhältnis zu seinen Beinen
chen Affront geworden sein konnte. Ich ging ihr nach, indem ich
dem Gefühl von Transsexuellen, im falschen Körper zu stecken,
reflektierte, was im Amerika der Fünfzigerjahre mit Körpern
30
31
passierte und ob darunter etwas war, was eine Amputation er strebenswert erscheinen lassen könnte.
Andrews innere Situation stellt eine Herausforderung dar. Wir haben wenig gelernt, wenn wir sie nur als Obsession ein
Andrew wuchs in einem spannungsgeladenen Elternhaus auf.
stufen, als hysterische Fehlinterpretation des faktisch Gegebe
Er beschreibt seine Mutter, die Lehrerin war, als hart und streng,
nen, als bizarres Symptom. Wenn wir das tun, packen wir sie in
seinen Vater als gleichgültig und vernachlässigend. Als einsames,
eine Schublade, sperren unsere eigene Beunruhigung säuberlich
unglückliches Kind pflegte er aus dem Fenster zu starren und
weg, aber verstanden haben wir nichts. Auch wenn sich diese
zu hoffen, dass irgendetwas passieren würde. Aber im weißen
Situation zunächst unserem Verständnis entziehen mag- indem
vorstädtischen Amerika jener Zeit passierte nicht viel, was sein
wir uns Zeit nehmen und neben dem Intellekt auch unsere eige
Interesse hätte auf sich ziehen können. In allen Häusern ging es,
nen aufgewühlten Gefühle, statt sie als Hindernis zu begreifen,
zumindest nach außen hin, mehr oder minder gleich zu. 8 Eine
als Werkzeug der Exploration benutzen, gelangen wir zu einer
gefürchtete Ausnahme war die Kinderlähmung: Die Infektions
Reihe von Fragen, die den Körper in unserer Zeit generell betref
angst war allgegenwärtig. Immunisierung durch Impfung war
fen und deren Relevanz weit über Andrews konkretes Dilemma
das große Ziel der Gesundheitspolitik. Eine enge Freundin seiner
hinausgeht.
Mutter, die nett zu ihm war, hinkte. Ein Kind in der Schule be
Dr. Bert Berger berichtet, dass Andrew nach der selbst er
wegte sich geschickt an Krücken fort. Eine fröhliche Bilderserie
zwungenen Amputation ein Leben gefunden hat, das für ihn
in Life- damals eine wichtige Wochenzeitschrift- zeigte Kinder
stimmig ist. Er hat eine Zufriedenheit mit seinem Körper erlangt,
mit Kinderlähmung beim Ballspielen. Diese Fotos fesselten ihn.
die vorher für ihn unerreichbar war. V ielleicht ist es in diesem
Sie waren ein lebhafter Kontrast zur öden Gleichförmigkeit sei
Sinn gemeint, wenn Dr. Berger sagt, Andrew sei nicht psychisch
ner Tage.
krank. Er hat ja in der Amputation seiner Beine tatsächlich eine
Im Kopf entwickelte Andrew eine Lösung für sein Problem,
Lösung gefunden. Sie hat ihm das Gefühl gegeben, einen Körper
sich emotional auf dem Trockenen zu fühlen: Er würde aus sei
zu haben, der für ihn richtig ist. Bei Aleshia Brevard spüren wir
nem Körper einen Körper machen, der Mitgefühl weckte - bei
deutlich, dass ihr die physische Beseitigung ihres Problems eine
anderen und bei ihm selbst. Er begann sich nach einem Körper
ruhige Zufriedenheit mit sich selbst beschert hat. Da ihr »Ge
zu sehnen, der die seelischen Wunden des Kindes, das sich nicht
burtsfehler« schon früh korrigiert wurde, lebt sie jetzt bereits
liebenswert und akzeptabel fühlte, nach außen zeigte. Einem
viele Jahre als Frau, mit den üblichen Unzufriedenheiten, die
Körper, der seine emotionale Verletzung und Beschädigung
Frausein in unserer Zeit mit sich bringt.
widerspiegelte. Einem Körper, der vielleicht etwas Teilnahme
Obwohl Andrew und Aleshia Extremfälle des Leidens am
auslösen würde. Als er in die Pubertät kam, experimentierte er
eigenen Körper darstellen, sind sie doch in gewisser Weise
heimlich damit, beide Beine in ein Hosenbein zu stecken und sich
emblematisch für den heutigen Fokus auf das, was an unserem
an Krücken fortzubewegen- ein Vorgefühl des Körpers, auf den
Körper nicht »stimmt«, und das Gefühl, diesen Körper als ein
er fast vierzig Jahre würde warten müssen.
persönliches Arbeitsprojekt begreifen zu können und zu müs-
32
33
sen. Die Tatsache, dass wir unseren Körper umgestalten können,
trie, die die Umwandlung dieser körperlichen Marker als Aus
macht ihn zum Gegenstand einer Unzufriedenheit, die über
weg aus der gesellschaftlichen Festlegung anbietet.
windbar ist. Die Überwindung dieser Unzufriedenheit ist heute
Gegen Diskriminierung anzugehen, mit anderen und für an
ein weitverbreitetes T hema. Sie ist Gegenstand quälender in
dere auf gesellschaftliche Gleichwertigkeit hinzuarbeiten ist ein
nerer Beschäftigung, individueller Verantwortung und politi
aussterbendes Ethos. Heute werden wir angehalten, individuelle
scher Bestrebungen, insbesondere, wenn es um den »maßlosen«
Verantwortung für unser gesellschaftliches Fortkommen zu
Körper geht. Wenn ein britisches Kabinettsmitglied, ohne sich
übernehmen. Bezogen auf den Körper heißt das, dass physische
lächerlich zu machen, die »Geißel« Adipositas (Fettleibigkeit)
Gesundheit und gutes Aussehen ein Muss sind, aber das erlegt
mit den Gefahren des Klimawandels auf eine Ebene stellen kann,
dem einzelnen Körper eine Last auf, die er nicht immer tragen
zeigt dies die gegenwärtige Verwirrung und Panik in Bezug
kann, ohne künstlich nachzuhelfen. Unterstützt durch Material
auf den Körper, die Ignoranz und Leichtgläubigkeit - in diesem
wissenschaft, Gehirnforschung und die Korrekturhilfen der
Fall dem Mythos »Adipositas« gegenüber
hervortreibt. Diese
Pharma- und Kosmetikindustrie, haben wir heute den Körper als
Grundeinstellung zum Körper ist kennzeichnend ft.ir unsere
etwas zu behandeln, wofür wir persönlich haftbar sind. Wie wir
Zeit. Der Körper gilt als etwas, das außer Kontrolle ist und der
aussehen und welche Krankheiten wir vermeiden können oder
Diszipli.nierung bedarf. Essen ist eine Ebene, Sexualität, Alkohol
bekommen, gilt ebenfalls als unsere persönliche Verantwortung,
und Drogen sind weitere. Die Kehrseite dieser Einstellung ist
obwohl etwa die meisten Krebserkrankungen umweltbedingt
der Glaube, dass so gut wie alles am Körper vom Individuum
sind. Für unsere Gesundheit und Schönheit sind allein wir selbst
verändert werden kann. Biologische Gegebenheiten waren ein
zuständig. Unsere Sehnsüchte und Ambitionen werden auf die
mal
Körperebene gelenkt. Den Körper zu zähmen und zu perfektio
Pigmentierung, Nasenform, Lippenform und Alterungs
zeichen gelten allesamt als korrigierbar. Motor des Strebens
nieren wird unsere persönliche Mission.
nach körperlicher Umgestaltung ist die Kategorisierung von
Selbst in elementarsten Bereichen ist Wahlfreiheit das Man
Körpern nach Rassenmerkmalen - weiß, schwarz, braun, asia
tra. Man nehme nur mal die Fortpflanzung. Unter heterosexu
tisch
und dann nach Klassenmerkmalen - Arbeiterschicht-9,
ellen Frauen in den Mittdreißigern, die in einer Partnerschaft
Mittelschicht- und Obere-Mittelschicht-Körper unterschieden
leben, ist es neuerdings Trend, sich ft.ir die assistierte Fortpflan
sich einst in Aussehen, Bewegung, Kleidung und Art zu spre
zung zu entscheiden, ehe mögliche Fruchtbarkeitsprobleme in
chen -, worauf schließlich der einzelne Körper je nach Alter,
Erscheinung treten. Die Entscheidung, den Geschlechtsverkehr
Statur und Übereinstimmung mit Schönheitsnormen eine spezi
als Zeugungsmethode zu umgehen, wird als vernünftig und
fische Akzeptanz und Behandlung erfährt. Wenn Körper- oder
effektiv dargestellt. Gleichzeitig ist das, was einst Kinder her
Gesichtsmerkmale das Individuum einer benachteiligten Gruppe
vorbrachte - die Sexualität -, allerorten sichtbar, eine Ware, die
zuordnen, rufen diese Merkmale Stigmatisierung und Gering
zu besitzen oder zu produzieren wir angehalten sind. Jeder mo
schätzung hervor.10 An diesem Punkt entsteht dann eine Indus-
ralischen Besetzung entkleidet
34
bis auf die Verpflichtung, ihn
35
jederzeit zu wollen und zu praktizieren - wird Sex für alle alles. Entgegen der Propaganda ist beliebiger Sex kaum je konfliktfrei und einfach nur lustvoll. Gleichzeitig werden Aktivitäten, die extreme körperliche Ausdauer erfordern, wie etwa Bergsteigen oder Marathonlaufen, moralisch besetzt und allgemein bejubelt. Zweck solcher Betätigung mag es sein, sich lebendig zu ftihlen. Die Reaktion, die sie hervorruft, ist ehrfürchtige Bewunderung: Wir, die wir Stunde um Stunde auf unserem Hinterteil sitzen, fragen uns, wie man solche körperlichen Herausforderungen meistern kann. Aber wir haben ja, während wir in der Cyberwelt
2 1 Wie der Körper geformt wi rd
sind, unbegrenzte Möglichkeiten, auf dem Bildschirm Fantasie körper zu erschaffen, die mit unseren realen Körpern so gut wie
Tony Bell trägt tagsüber einen Anzug, doch wenn er nach Hause
nichts zu tun haben.
kommt, hat er es eilig, sich auszuziehen und Luft an seinem Kör
Kein Wunder also, dass unsere Körper zurückschlagen.
per zu spüren. Im Anzug hat er sich nie wohlgefühlt. Das ist ihm
Während wir einen immer strikteren Umgang mit dem Körper
zu beengend. Der jetzt sechzigjährige Tony hat einen Teil sei
fordern und immer höhere Erwartungen haben, was uns der fit
ner Kindheit im afrikanischen
te, gesunde und schöne Körper liefern kann, mehren sich Symp
Zeit bei den Ndebele in einer Region namens Matabeleland im
tome
von sexuellen Problemen über Essstörungen, Angst vor
Westen des heutigen Simbabwe. Bis er vier war, wuchs Tony in
dem Altern bis hin zu Körperbildstörungen und der Sucht nach
einer ziemlich typischen englischen Mittelschichtsfamilie auf.
Cyber-Entkörperung -, die zeigen, wie schwer es die Einzelnen
Als seine Eltern während des Krieges starben, wurde er zu einer
haben, mit der stofflichen Grundlage ihres Daseins zurecht
Tante im damaligen Rhodesien geschickt.
zukommen.
Veld verbracht: Er lebte in dieser
Tony erinnert sich nicht, wie er zu den benachbarten Ndebele kam. Plötzlich bei einer Verwandten gelandet, die schlecht für diese Aufgabe gerüstet war und ihn nicht sonderlich warmherzig aufnahm, muss er sich wohl entweder nach und nach Stammes mitgliedern angeschlossen haben oder aber aus dem Haus der Tante weggelaufen sein. Sechs Jahre, bis er zehn war, lebte Tony bei den Ndebele, passte sich deren Art zu leben an und lausch te ihren Geschichten. Für unser kindzentriertes Denken klingt seine Geschichte unglaublich und zu sehr nach einer kindlichen Adoptionsfantasie.1 Doch wenn wir uns eine unverheiratete Tan-
37
te in den 1940er-Jahren in einem entlegenen W inkel des briti
Was mich im Gespräch mit Tony vor allem interessierte, war
schen Kolonialreichs denken, die plötzlich für ein Kind verant
die körperliche Prägung durch sein Leben bei den Ndebele. Als
wortlich sein soll, ohne die emotionalen Voraussetzungen dafür
er zu ihnen kam, war er ein kleiner Junge in der formellen eng
mitzubringen, wird schon vorstellbar, dass der elternlose Junge
lischen Jungenkleidung: kurze Hosen, Hemd, weiße Socken
als lästige Bürde empfunden wurde, und es liegt durchaus nahe,
und Sandalen. Dann jedoch verlagerten sich seine Identifikation
dass er immer mehr Zeit mit den Hausbediensteten oder Farm
und sein Zugehörigkeitsgefühl nach und nach von seinen eng
arbeitern verbrachte und sich nach und nach in einem Umfeld zu
lischen Eltern auf seinen Clan. Die Zeitspanne, die er bei den
Hause fühlte, das ihm mehr Wärme entgegenbrachte.
Ndebele verbrachte, war sehr bedeutsam. Im Alter zwischen vier
Tony identifizierte sich mit seiner neuen Großfamilie, über
und zehn Jahren erprobt ein Kind seinen Körper in einem immer
nahm die Gebräuche der Ndebele, lernte, weite Strecken zu
weiteren Aktionsradius. Bei uns hätte Tony vielleicht Radfahren
laufen, am Fluss zu spielen und den Geschichtenerzählern zu
und Schwimmen gelernt, hätte auf Schaukeln, Rutschbahnen
lauschen. Heute, fünfzig Jahre später, sind seine Jahre bei den
und Karussells gespielt, gezeltet und sich in Matsch und Dreck
Ndebele zu einer glücklichen Zeit idealisiert, in hartem Kontrast
vergnügt. In Sachen Kleidung hätte er im Nachkriegsengland
zu den verstörenden Erfahrungen, die begannen, als ihn weiße
keine große Wahl gehabt: Er hätte die gleichen Sachen getragen
Siedler wieder einfingen. Er erinnert sich, dass er von einem
wie Millionen Jungen seines Alters. Doch Tonys Leben hatte eine
Suchtrupp mit einem Netz gejagt wurde wie ein Tier und man
ungewöhnliche Wende genommen. Er war kein normaler eng
ihn dann zwei komisch gekleideten Frauen übergab.
lischer Junge mehr. Er hatte nicht in einem Haus gewohnt, nicht
Wir können nur ahnen, wie verwirrend seine Rückkehr für
in warmem Wasser aus dem Hahn gebadet, nicht an einem Tisch
die alleinstehende Tante gewesen sein muss. Nachdem er gegen
mit Messer, Gabel, Löffel und Serviette gegessen. Jetzt musste er
seinen heftigen Widerstand von Kopf bis Fuß abgeschrubbt
sich mit Seife waschen - ein »widerlicher Geruch«, der für ihn
worden war, fand er sich in einem geschlossenen Raum in ein
fremd und verwirrend war und ihn vom »Geruch des Seins« ab
Bett gesteckt, dessen weiße Laken sich im Vergleich zu dem Erd
schnitt. »Sobald man Seife benutzt«, sagte Tony traurig, »Verliert
boden, an den er sich gewöhnt hatte, unangenehm rau anfühlten.
man seinen Geruchssinn. Man riecht nicht mehr, welche Sorte
Heute stünden Sozialarbeiterinnen und Psychologinnen bereit,
Gras man um sich hat. Man riecht nicht mehr, welche Tageszeit
um Tony zu helfen, über seine Erlebnisse zu sprechen und sich
ist. Schließlich«, sagte Tony nach einer Schweigepause, »passt
wieder in eine Gesellschaft einzufinden, die er so früh hinter sich
man sich an.«2
gelassen hatte. Doch damals, in den Fünfzigerjahren, schickte
Aber Tony Bell passte sich nur zu einem gewissen Grad an.
man ihn kurzerhand nach England zurück und erwartete selbst
Seine Körperlichkeit war bei den Ndebele geformt worden, und
verständlich von ihm, dass er ohne besondere Betreuung, abge
er musste sie in den Midlands der Fünfzigerjahre noch einmal
sehen von etwas Nachhilfe im Lesen, wieder wie ein englischer
neu formen, musste auf einer Schulbank sitzen, einen Stift hal
Junge lebte.
ten, Kricket spielen und sich daran gewöhnen, Socken, Schuhe
39
und die übliche Kleidung englischer Jungen im Pubertätsalter zu
Natur versus Kultur, von jeder Philosophen-, Politiker- und Wis
tragen. Jahre später fand es seine Tochter seltsam, einen Vater zu
senschaftlergeneration in einem neuen ideologischen Kontext
haben, der zu Hause nackt herumlief. Tonys Jahre in Afrika hat
wieder entfacht wird.
ten eine Körperprägung hinterlassen, die für einen Mann in Eng
Ein junger Medizinstudent, Jean Mare Gaspard Itard, ver
land eine gewisse Dissonanz zu seiner Umgebung bedeutet. Er
suchte, Victor menschliche Verhaltensweisen beizubringen.
konnte einen Anzug tragen und tat es auch. Aber für ihn war das
Victor konnte nicht sprechen. Er gab lediglich Laute von sich. Er
lediglich eine Körperbedeckung, die ihm kein Zugehörigkeits
stand nicht aufrecht und konnte auch nicht nach Menschenart
gefühl gab. Im Anzug war er nicht im Einklang mit sich selbst. Es
gehen. Er bewegte sich geduckt fort, beinah auf allen vieren
fiel ihm schwer, B eziehungen zu Frauen anzuknüpfen, er wollte
in Nachahmung, so glaubte man, der Tiere, unter denen er auf
am liebsten nach Hause gehen und sich sofort ausziehen, was
gewachsen war. Im G egensatz zu Tony Bell hatte er nie gelernt,
wiederum für seine Freundinnen irritierend war. Tonys körper
gekochte Nahrung zu sich zu nehmen und an einem Tisch mit
liche Anpassungsschwierigkeiten zeigen, wie viel von dem, was
Geschirr und Besteck zu essen. Sein Leben hatte sich in der Wild
wir an unserem Körper für selbstverständlich und natürlich hal
nis abgespielt. Die Temperaturregelung seines Körpers hatte sich
ten, tatsächlich durch unsere spezielle Umgebung geformt ist.
dahin gehend adaptiert, Extreme zu verkraften, die der zivilisier
Tonys Geschichte erinnert an Victor, den »Wilden von
te Mensch ohne schützende Kleidung kaum überstehen würde.
Aveyron«, der als Kind jahrelang unter Tieren in französischen
Als ihn der französische Naturforscher Pierre Joseph Bonnaterre
Wäldern lebte, und an die Bemühungen der Menschen, die sich
nackt in die Winterkälte hinausführte, wälzte sich Victor freu
seiner annahmen. Während die Flut von wilden Kindern, die in
dig im Schnee und schien sich ganz offensichtlich wohlzufühlen.
jüngerer Zeit »entdeckt« wurden, auf wissenschaftliche Skepsis
Sein Körper hatte nicht nur äußerlich nichtmenschliche Züge
stößt, ist Victors Fall unumstritten. Victor wurde 1799 nahe den
angenommen. Erstaunlicherweise war auch sein innerer Ther
Wäldern von Saint-Sernin-sur-Rance gefunden und, ähnlich
mostat auf die Anforderungen des Lebens im Freien geeicht.
wie Tony Bell, eingefangen und in einen Haushalt gegeben, aus
Wo die Tiere, unter denen er gelebt hatte, in ihrem Fell ein an
dem er zweimal entfloh. Am 8. Januar 18oo tauchte er schließlich
geborenes Mittel der Temperaturkontrolle besaßen, hatte sein
wieder aus den Wäldern auf, und damit begann der Prozess der
Körper eine immense Anpassungsleistung erbracht, um ähnlich
Untersuchung, Unterweisung, Versuchssozialisierung und Zur
funktionieren zu können - ohne die Kleidung, die wir mit dem
schaustellung, der bis an sein Lebensende dauerte. Victor war
Menschen assozüeren.
deshalb von solchem Interesse, weil sein Auftauchen in der Nähe
Itard, ein junger, engagierter Arzt, der bereits als Erster einen
von Toulouse mit der Debatte der Aufklärung zusammenfiel,
Fall von Tourette-Syndrom dokumentiert hatte und zu einer
worin Bewusstsein bestehe und was den Unterschied zwischen
Kapazität auf dem Gebiet des Hörens werden sollte, verwandte
Mensch und Tier ausmache. Diese Kernfragen haben sich bis
viele Jahre auf das Bemühen, Victor das Sprechen beizubringen.
heute gehalten, da die Diskussion um Vererbung versus Lernen,
Als Victor aus den Wäldern kam, hielt man ihn für etwa zwölf
40
41
und unterzog ihn einem strengen Erziehungsprogramm, um ein
die eigene Muttersprache zu reproduzieren. Man erkennt den
menschenähnliches Wesen aus ihm zu machen.Von den Wissen
Israeli, der fließend Englisch, oder die Italienerin, die perfekt
schaftlern und Philosophen als Kuriosität betrachtet, von Itards
Französisch spricht, weil die für die Lautproduktion benötigten
Haushälterin Madame Guerin, die für ihn sorgte, hingegen als
Muskeln im Kiefer- und Kehlbereich für die jeweilige Mutter
normales Kind behandelt, wurde V ictor für die nächsten zwei
sprache strukturiert worden sind. Natürlich können wir mehrere
hundert Jahre der Referenzfall, sobald es um die Dekonstruktion
Sprachen sprechen, aber wenn wir diese Sprachen nicht schon
von Konzepten dessen ging, was Menschsein bedeutet.
in früher Kindheit gelernt haben, werden unsere Vokale, un
Natürlich haben Anthropologen gezeigt, welch vielfaltige
sere Intonation und Betonung immer ein klein wenig von der
Erscheinungsformen von Menschsein es gibt, und Soziologen
des Muttersprachlers abweichen. Es besteht ein entscheidender
haben uns demonstriert, welch unterschiedliche Lebensläufe
Unterschied zwischen dem Sprechen einer Sprache und dem
Menschen haben können, die in derselben Straße von Manhattao
bloßen Hören. Es hat sich gezeigt, dass der Hype, Babys zur
oder London aufgewachsen sind. Doch was uns V ictor eröffnet,
Beschleunigung ihrer Wortschatzentwicklung Sprach-DVDs
ist die Einsicht, wie weitgehend Körper und Geist eine Art Roh
vorzuspielen, das Sprechvermögen eher retardiert. Was die
material sind und wie der Körper durch die Umstände seines
Sprachentwicklung fördert, sind melodische »Zwiegespräche«,
Aufwachsens geformt wird. Inzwischen wissen wir, dass es für
bei denen die Eltern so tun, als könnte ihr Baby sie verstehen.
den Spracherwerb einen kritischen Zeitraum gibt. Wer nicht als
Mein Englisch, das ich von meiner amerikanischen Mutter und
kleines Kind sprechen lernt,wird es womöglich nie lernen. Das
meinem walisischen Vater gelernt habe, hat die Lippenartikula
Brabbeln des Babys ist eine Protosprache, die es im Prozess der
tion von jemandem, der sowohl in London als auch in New York
Strukturierung bestimmter Gesichtsmuskeln entwickelt: Zunge,
gelebt hat und mit britischem und amerikanischem Englisch von
Lippen, Wangen und Kiefer lernen das zu tun, was zur Hervor
früh auf vertraut war, so wie ein englisches Arbeiterschicht-Kind
bringung der Sprachlaute nötig ist, während gleichzeitig das Ge
meiner Generation, das ein Londoner Gymnasium besucht und
hör Sprachlaute zu differenzieren lernt. Das Baby ahmt nach,
dort wie seine Schulkameraden zu sprechen gelernt hat, zwei
was es hört. Es erfordert eine Menge Übung, Zunge, Mund,
Sprechstile, zwei Akzente und zwei Repertoires an mimischen
Kiefer und Wangenmuskeln zu koordinieren und das Gehörte
Ausdrucksformen und Manierismen erworben hat, die je nach
richtig wiederzugeben.
Zuhörerschaft fluktuieren. Eine Körperlichkeit und eine Stimme
Man braucht nur einmal zu versuchen, einen Satz auf Man
passen zur einen Umgebung, die andere Körperlichkeit, Stimme
darin oder Xhosa nachzusprechen. Selbst wenn man diese Spra
und Intonation zur anderen. Eine Freundin von mir, die mit zwölf
chen im Ohr hat, gelingt die Lautbildung ab einem bestimmten
Jahren Südafrika verließ, artikuliert in Wörtern noch immer ein
Alter nicht mehr ohne ein hohes Maß an Übung. Und selbst bei
langes »a«, wie es im südafrikanischen Englisch üblich ist. Sie
größtem Lerneifer ist es schwer, eine fremde Sprache,die man
mag zwar den Unterschied zwischen ihrem »a« und meinem hö
nicht als Kind absorbiert hat, ohne die typische Färbung durch
ren, kann aber meines nicht ohne Weiteres reproduzieren. Ihres
42
43
ist eine artikulatorische Prägung, in der ihre Geschichte von vor
der Beobachtung meistern? Das ist eine gute Frage. Die Zunge
vierzig Jahren encodiert ist, eine Prägung, die ebenso tief ver
herauszustrecken ist ein kompliziertes Unterfangen. Wenn wir
ankert ist wie Victors Thermoregulation, nachdem er jahrelang
uns klarmachen, was die Erwiderung unseres Zungeheraus
Schnee, Sonne und Wind ohne schützende Kleidung ausgesetzt
streckens beinhaltet, erkennen wir, wie viele Prozesse im Ge
war.
hirn des Babys ablaufen müssen, um diese spontane Reaktion
Für den Rest unserer körperlichen Strukturierung gilt Ähn
hervorzubringen. Das B aby muss sehen, dann das Sehen in eine
liches wie für das Sprechen und die Hauttemperaturregelung.
Aufforderung zum Antworten übersetzen und schließlich die
Wir werden j etzt einmal etwas tiefer in den Körper hinein
Muskeln aktivieren, die ftir die Bewegung von Zunge und Mund
gehen und uns anschauen, wie Victor, Tony Bell und wir alle
zuständig sind.
unseren Bewegungssinn entwickelt haben. Wir wissen, dass die
Wenn wir ins Gehirn blicken könnten, würden wir ein schma
Ausbildung der Motorik mit Nachahmung und übung zu tun
les Band von G ehirnzellen sehen, den motorischen Kortex, der
hat und dass es beispielsweise eine typische Art zu gehen gibt,
sich von Ohr zu Ohr erstreckt und aktiviert wird, sobald eine
die eine Achtzehnjährige aus Bhutan3 von einer gleichaltrigen
Bewegung einsetzt. Vor dem motorischen Kortex, zur Stirn
Mailänderin unterscheidet. Wie wir sehen werden, verschleift
hin, sähen wir Aktivität im prämotorischen Kortex, der Gehirn
die G lobalisierung diese Unterschiede und bewirkt eine gewisse
region, die die Bewegung vorbereitet. Eine Zufallsbeobachtung
Homogenisierung aller Bereiche des Körperlichen, selbst im ver
von G iacomo Rizzolatti und Vittorio G allese vor etwas über
gleichsweise isolierten Bhutan. Trotzdem sind die spezifischen
zehn Jahren in einem Forschungslabor in Parma, wo beide an
Bewegungsmanierismen dieser beiden jungen Frauen immer
Affen forschten, führte zur Identifikation einer neuen Klasse von
noch deutlich erkennbar. Beide haben auf irgendeine Weise ver
Neuronen, die an diesem dualen Phänomen von S ehen und Tun
standen, dass ihr Körper das Verhalten ihrer Schwestern, Mütter
beteiligt sind. Rizzolatti und G allese verfolgten die Aktivität von
und Altersgenossinnen widerzuspiegeln hat. Wie also ist das ge
G ehirnzellen, wenn Affen die Arme ausstreckten, um nach einer
schehen? Wie sind sie in den Besitz ihrer speziellen Körpergesten
Erdnuss zu greifen. Die Wissenschaftler interessierte, was bei
gelangt? Wie befähigt uns Beobachtung, die Körperlichkeit der
dieser Bewegung im G ehirn vor sich ging. Sie beobachteten, dass
eigenen Mutter, Schwester oder Freundin zu inkorporieren?
dabei jedes Mal eine bestimmte Gruppe von G ehirnzellen in den
Robert Sylvester, emeritierter Professor für Erziehungswis
Frontallappen feuerten. Eines Tages kam ein Wissenschaftler aus
senschaften an der University of Oregon, verweist auf einen
einem anderen Labor herein, um etwas mit Rizzolatti und Gal
ganz alltäglichen Vorgang zwischen einem Elternteil und einem
lese zu besprechen, und griff beiläufig nach einer der Erdnüsse.
Baby. Der Elternteil streckt die Zunge heraus, und das Baby ant
Zu ihrem Erstaunen sahen Rizzolatti und Gallese, dass ebenjene
wortet, indem es das Gleiche tut. Wir lachen vielleicht, wenn wir
Gehirnzellen, die feuerten, wenn die Affen nach einer Erdnuss
das sehen, und denken nicht weiter darüber nach. Aber wie kann
griffen, genauso reagierten, wenn die Affen den Menschen die
ein Baby einen so komplexen motorischen Akt unmittelbar nach
se Bewegung machen sahen.4 Die Beobachtung der Handlung
44
45
beim Menschen löste dieselben neuronalen Vorgänge aus wie die
Mutter und seines an Krücken gehenden Schulkameraden zu
Handlung selbst. Das Gehirn der Affen spiegelte Bewegungen,
rückgeht. Die Bewegungen dieser Personen faszinierten ihn, und
die sie sahen, auch wenn sie sie selbst gar nicht ausführten.
wir können uns vorstellen, dass er ihre Körperlichkeit auf seine
Viele Experimente später - darunter auch solche mit Men
übertrug und auf diese Weise einen vierzig Jahre anhaltenden
schen, die Handlungen anderer Menschen beobachteten5- wur
Wunsch entwickelte, der nicht nur psychisch, sondern auch
de diese Gruppe von Gehirnzellen als Spiegelneuronen bezeich
neuronal verankert war. Im Prinzip ergeht es uns allen so. Die
net. Wenn wir einen anderen Menschen eine Bewegung machen
speziellen Gesten und Bewegungen eines Elternteils oder Ge
sehen- egal, ob er die Zunge herausstreckt, Päckchen packt, im
schwisters bilden eine visuelle/neuronale Matrix. Das erklärt,
Gehen einen jähen Schlenker macht, tanzt, isst oder in die Hände
warum die Bewegungseigenheiten von Kindern so oft die der
klatscht-, feuern unsere Neuronen genau so, als würden wir die
Eltern widerspiegeln. Der Grund ist weniger Vererbung als viel
Bewegung selbst vollziehen. Aus der Sicht des Gehirns, stellten
mehr visuelle Exposition. Das zeigt sich plastisch an der Leich
Rizzolatti und Gallese fest, sind Sehen und Tun recht ähnliche
tigkeit, mit der Jugendliche das Haar zurückwerfen wie Rachel
Vorgänge. Das Gehirn hat eine eingebaute Fähigkeit zu Empathie
in Friends und die Posen von Models oder afroamerikanischen
und Nachahmung. Es übersetzt das, was wir sehen, ins neuronale
Rappern imitieren. Sie brauchen das nicht stundenlang zu üben.
Äquivalent des Tuns. Es ist so strukturiert, dass es sich durch
Durch bloßes Zusehen haben sie - zum Teil unbewusst - das
Beobachtung auf Dinge vorbereitet, die wir selbst noch nicht
Gefühl der Bewegung absorbiert, die Idee dessen, was sie zu
gemeistert haben.
tun haben. Oder denken wir an die junge Frau, die zu Hause das
Daraus geht hervor, dass das Gehirn des beobachtenden
Kopftuch trägt, es aber abnimmt, wenn sie sich mit ihren nicht
Babys den Bewegungssinn strukturiert, noch ehe das Kind selbst
muslimischen Freundinnen trifft. Sie hat zwei Körpermuster
zu den betreffenden Bewegungen fähig ist. Beim Menschen gibt
inkorporiert, die die verschiedenen kulturellen Sub-Gruppen
es ein ganzes Spiegelneuronensystem, in dem Millionen Gehirn
spiegeln, in denen sie lebt. In übersteigerter Form finden wir
zellen gleichzeitig daran mitwirken, dass wir Bewegung durch
diese Flexibilität bei Schauspielern, die ihre jeweilige Bühnen
Beobachtung erlernen, bevor wir sie selbst vollziehen. Dieses
oder Filmfigur mit ihrer ganzen Person darstellen.6 Schauspieler
Spiegelsystem operiert in allen Bereichen, egal, ob wir bei Sport
können in die Haut von jemand anderem schlüpfen, ihre Rolle
veranstaltungen zuschauen, als Beifahrer im Geist »mitfahren«
buchstäblich verkörpern. Dadurch machen sie die Figur, die sie
oder die Emotionen fühlen, die Schauspieler auf der Bühne oder
spielen, glaubhaft. Das schaffen sie, indem sie die neuronalen
Leinwand darstellen. V ictors Fortbewegungsart war buchstäb
Strukturen aktivieren, in denen diese Aktivitäten bereits in ihnen
lich kopiert und in den Spiegelneuronen encodiert. Es drängt
selbst encodiert sind. Das Spiegelneuronensystem ermöglicht
sich die Vermutung auf, dass Andrews Bild von seinem »eigent
uns also ein tiefes wechselseitiges Verstehen. Es befahigt uns, am
lichen« beinlosen Körper ebenfalls auf die Aktivität von Spiegel
Gesicht eines anderen Menschen zu sehen, was dieser fühlt, und
neuronen bei der Beobachtung der hinkenden Freundin seiner
dann selbst entsprechend zu fühlen.7
47
Die Aktivität der Spiegelneuronen, die sich auf der Mikro Ebene abspielt, ist also Teil der Entwicklung unseres Körper
die Familie passt, und wir tun das so, dass das Baby für uns ein lebendiges Körper-Geist-Wesen wird.
sinns. Die psychoanalytische Forschung, vertreten etwa durch
Was genau heißt das, und wie geht es vonstatten? Dieser
Beatrice Beebe und M iriam und Howard Steele, hat gezeigt, dass
komplexe Vorgang vermittelt sich einem Baby, das noch nicht
wir mental und physisch lernen, wer wir sind, indem uns unser
geformt ist, sondern erst durch B eziehung geformt wird. Die
Körper und unsere mentalen Vorgänge widergespiegelt werden.
Persönlichkeit und die Körperlichkeit des Babys sind Potenziale.
Sie hat Einzelbild für Einzelbild aufgezeigt, was zwischen Mutter
Wie wir mit diesen Potenzialen in Beziehung treten und welche
und Baby abläuft und welch komplexer und gleichzeitig alltäg
Teile unseres Selbst wir dabei einbringen
licher Prozess das ist. Eltern und Bezugspersonen reagieren auf
liche und mentale Klima, das die Entwicklung des Babys prägt.
das ist das körper
das Baby und spiegeln ihm, was sie in ihm sehen. Aber was sehen
Eltern tun vielerlei, wenn sie mit einem Baby in Beziehung
sie in ihren Babys? Was habe ich in meinen Babys und den B abys
treten: Sie reagieren darauf, wie das Baby ist, sie initiieren an
meiner Freundinnen gesehen, was da gewesen sein mag oder
gemessene Formen von Kontakt und Spiel, und, was das Wich
auch nicht?
tigste ist, sie bringen die imaginäre Dimension dessen ein, was
Das Baby hat seine ganz eigenen Mittel, um uns zu fesseln.8
das Baby für sie sein könnte. Das Baby ist sowohl ein reales Baby
Es sieht uns an, und wir sehen das Baby an. Der Blickkontakt zwi
als auch eines in der Imagination, den Hoffnungen und natürlich
sehen Baby und Elternteil ist buchstäblich absorbierend. Beide
auch Ängsten der Eltern und sonstigen Bezugspersonen. Um zu
saugen einander förmlich auf. Der Elternteil wird zur Welt des
gedeihen, braucht ein Baby mehr als nur Nahrung und hygie
Babys, und das Baby wird zur Welt des Elternteils. Dieser Blick
nische Bedingungen. Es braucht es, gehalten zu werden, und es
kontakt ähnelt dem von Verliebten. Beide Beteiligten sehen sich
braucht, dass man mit ihm als lebendigem Wesen in Beziehung
unverwandt in die Augen, und so wie die Verliebten ihre jewei
tritt. Letzteres klingt vielleicht ein bisschen verrückt. Natürlich
lige Welt von Grund auf umstrukturieren, um den anderen darin
ist das Baby lebendig, aber wenn es nur mechanisch versorgt
unterzubringen, um die Anbetung, die sich in den Augen des
wird, wenn seine B edürfnisse nach Nahrung, Flüssigkeit und
anderen ausdrückt, aufzusaugen und zu erwidern, so schmel
frischen Windeln in Fließbandmanier »befriedigt« werden wie
zen wir auch beim Anblick des Babys und erweitern uns, um in
bei den vielen Babys, die nach Ceau�escus Sturz in rumänischen
unserer inneren Familienwelt Platz für den Neuankömmling zu
Waisenhäusern entdeckt wurden, dann wird es nicht nur nicht
schaffen. Wir projizieren unsere familiären Bindungen in das
gedeihen, sondern womöglich sogar sterben.
hinein, was jetzt der Mittelpunkt unseres Lebens ist: das Baby.
In den 194oer-]ahren betreute der aus Ungarn stammende
Wir schreiben unserem Baby Attribute anderer Familienmitglie
Psychiater und Psychoanalytiker Rene Spitz zeitweise Kriegs
der zu - Großvaters Augenbrauen oder Großmutters Finger
waisen in einem Krankenhaus. Er berichtet, dass bei gleichen
und personalisieren und beleben es auf diese Weise ftir uns. Wir
Fütter- und Wickelpraktiken die Babys im Krankenhaussaal, de
übermitteln dem Baby das Gefühl, dass es erwünscht ist und in
ren Betten der Schwesternstation am nächsten standen und die
49
deshalb etwas öfter von einer Schwester im Vorbeigehen berührt
Affen, deren Käfige Gitterböden ohne Stoffauflagen besaßen,
wurden, mit größerer Wahrscheinlichkeit überlebten als die
hatten erhebliche Probleme, die ersten fünf Tage zu überleben.
Babys, die am weitesten entfernt lagen. Diejenigen Babys, die ein
Also bastelte Harlow eine Affenmutter aus Frotteestoff, erwärmt
gewisses Maß an Körperkontakt hatten mit denen die Schwes
von einer Glühbirne, und die Affenbabys kuschelten sich daran
tern gelegentlich in Beziehung traten -, überlebten physisch und
und waren ruhig.9 Obwohl Harlows Arbeiten heute ethisch ver
psychisch. Sie absorbierten Lebenswillen, die Babys ohne Kör
urteilt werden, weil er die Affenbabys gleich nach der Geburt
perkontakt hingegen nicht.
ihren Müttern wegnahm, sind seine Erkenntnisse über die Be
Spitz verglich ferner Babys, die im Säuglingsheim einer Straf
deutsamkeit von Wärme, Berührung und Festhalten sehr wich
anstalt aufgezogen wurden und im ersten Lebensjahr von ihren
tig. Sie schließen an die Ergebnisse von Rizzolatti/Gallese und
Müttern betreut wurden, mit Babys in einem Findelhaus, auf die
Spitz an, die, wenn auch in ganz anderen Wissenschaftsberei
weniger als ein Achtel der Zuwendung einer Pflegerin entfiel. Er
chen, deutlich machten, wie zentral eine körperliche Beziehung
stellte fest, dass es den Babys in der Strafanstalt weit besser ging.
für die Ausformung des Körpers ist. All diese Forschungsergeb
Die Findelkinder, denen eine engere körperliche und emotionale
nisse demonstrieren, wie unser Körper durch die Behandlung,
Beziehung fehlte, wurden leichter krank oder hatten Hautleiden
die wir erfahren, und durch das, was wir beobachten, geformt
wie etwa Ekzeme und wiesen beträchtliche Rückstände in der
und strukturiert wird. Harlow und Spitz interessierte vor allem
Bewegungs- und Sprachentwicklung auf. Obwohl sie körperlich
die emotionale und mentale Entwicklung ihrer Forschungssujets,
warm und sauber gehalten wurden und nach dem anfänglichen
aber wenn wir ihre Ergebnisse unter dem körperlichen Aspekt
Stillen (das vielfach durch Ammen erfolgte) nahrhafte Fläsch
betrachten, sagen sie doch eine Menge über die grundlegende
chen erhielten, ließ ihre körperliche und seelische Vitalität nach,
Notwendigkeit von Körperkontakt und Nähe.
was gravierende Folgen für ihre Entwicklung hatte.
In den letzten zwanzig Jahren ist deutlich zutage getreten,
Ein Jahrzehnt später beschäftigte sich der amerikanische Psy
wie wichtig menschliche Berührung für unser psychisches Wohl
chologe Harry Harlow mit der sozialen Entwicklung. An Affen
ist.1° Berührung ist die primäre, fundamentale menschliche Er
konnte er zeigen, dass Berührung und Wärme entscheidend für
fahrung. Noch ehe wir saugen oder sehen können, werden wir
die Bindungsentstehung sind. Rhesusaffenbabys, die von ihren
von unserer Mutter zärtlich gehalten. Während wir uns an ihren
Müttern getrennt und mit der Flasche aufgezogen wurden, ent
Körper schmiegen, ihren steten Herzschlag fühlen, ihren Geruch
wickelten eine emotionale Bindung an die weichen Stoffauflagen
atmen, eichen wir uns auf sie als unsere Orientierung. Ihr Körper,
ihrer Käfigböden. Sie »klammerten sich daran« und bekamen
ihre Stimme, ihre Haut, ihre Berührung werden zu unseren Leit
»heftige Zornausbrüche«, wenn die Stoffauflagen entfernt und
signalen auf der Reise durch das Säuglingsalter, die Kindheit und
durch neue ersetzt wurden, ein bisschen wie Menschenbabys, die
darüber hinaus. Und mit das Entscheidendste dieser Elemente ist
ebenfalls in heftige Erregung geraten können, wenn ihnen ihre
wohl Berührung, da sie uns nicht nur - im positiven Fall - ein Ge
Schmusedecke oder ihr Lieblingsstofftier entzogen wird. Die
fühl der Sicherheit und des Wohlbefindens in unserem Körper
so
51
vermittelt, sondern auch unsere Biologie und unsere neuronalen
leiden, hat mir gezeigt, dass die Art der Berührung, die wir in
Netze in einer Weise formt, die unser Temperament und unsere
der frühen Kindheit erfahren, und das körperliche Selbstgefühl
Persönlichkeit ein Leben lang prägen werden.
der Mutter oder Bezugsperson entscheidend für die Ausbildung
Ende der Achtzigerjahre machte man im kolumbianischen Bogota eine glückliche Zufallsentdeckung. Aus finanziellen
unseres eigenen Körpergefühls sind. Unser Körper ist viel mehr als nur die Ausführung einer genetischen Blaupause.
Gründen waren dort Brutkästen für Frühgeborene knapp. Wenn
Unsere gesamten Gesten, die Art, wie wir uns bewegen,
man die Babys täglich mehrere Stunden einem Elternteil so auf
unsere Anmut oder Ungeschicktheit, unser körperliches Selbst
den Bauch legte, dass sich das Ohr in der Nähe des väterlichen
vertrauen oder unsere körperliche Unsicherheit reflektieren so
oder mütterlichen Herzens befand, reduzierte sich die Sterb
wohl die nationale und lokale Kultur, in der wir aufgewachsen
lichkeitsrate von 70 auf 30 Prozent. Inzwischen findet »Kanga
sind, als auch deren spezielle Ausformung bei unseren Müttern
rooing«, wie man diese Methode nennt, seit sie von den Neo
und engsten Bezugspersonen. Diese Beziehungen vermitteln uns
natologen Edgar Rey und Hector Martinez beschrieben wurde,
unsere speziellen Körpergesten und Bewegungsgrundmuster
weltweit Anwendung: Hautkontakt zwischen Frühehen und
ebenso, wie sie uns die spezielle Sprache vermitteln, in der wir
Mutter bzw. Vater ist heute in der Neonatologie Standard. Er ist
kommunizieren. In jedem Aspekt unseres Körpersinns verkör
nicht nur wichtig für die Entstehung der Eltern-Kind-Bindung,
pert sich etwas von der Körperlichkeit unserer Mutter. Wenn
sondern erleichtert auch das nachfolgende Stillen, reduziert
sie körperlich unsicher und zurückgenommen ist, nehmen wir
Atemprobleme und trägt interessanterweise zur Temperatur
das auf. Wenn sie körperlich wagemutig oder aufdringlich ist,
regelung der Frühgeborenen bei. Thermoregulatorisch besteht
wird das in irgendeiner Form in unseren Körpersinn eingehen.
zwischen Mutter und Kind eine Wechselwirkung. Temperatur
Wenn sie nicht in der Lage ist, uns fest und doch gleichzeitig
messungen bei Mutter und Kind während des Kangarooings
sanft zu berühren, werden wir eine gewisse Verwirrung oder
ergaben, dass, sobald das Kind abkühlte, die Körpertemperatur
gar Angst in Bezug auf unsere eigenen Körperempfmdungen
der Mutter stieg, um dem Baby mehr Wärme zu spenden.11 Um
davontragen. Wir wissen dann vielleicht nicht, wo unser eigener
gekehrt sank die an der Brust der Mutter gemessene Temperatur,
Körper beginnt und endet. Wir kennen alle die Situation, dass
wenn es dem K ind zu warm wurde. Man kann daraus schließen,
einem jemand viel zu nah »auf die Pelle rückt« und man sofort
dass das beim reifen Neugeborenen ausgebildete Vermögen zur
einen Schritt zurücktreten möchte. Es ist wohl nicht abwegig
Temperaturregelung bei Frühgeborenen durch diese spezielle
zu vermuten, dass solchen Menschen ein gefestigter Sinn dafür
Form des Hautkontakts gefördert wird.
fehlt, wo ihr eigener Körper endet, sodass einfach ein gerade
Wir sind es gewohnt, unseren Körper als etwas zu betrach
verfügbarer Körper herangezogen wird, um eine Ersatzkörper
ten, das einfach da ist und durch angemessene Ernährung und
grenze zu liefern.12 Im schlimmsten Fall kann unzureichende Be
unser genetisches Erbe zum Wachsen gebracht wird. Doch meine
rührungserfahrung sogar dazu führen, dass der eigene Körper
therapeutische Arbeit mit Menschen, die an Körperstörungen
gar nicht als einem selbst gehörend empfunden wird - dass er
52
53
von außen betrachtet wird, als ein Projekt, an dem es zu arbeiten gilt.
Feedback zwischen Müttern und Babys in Gang setzen, aber das Überraschende ist die Erkenntnis, dass der physische Vor
Eine Berufskollegin von mir adoptierte die zehnjährige Gina,
gang des Berührens selbst die Ausschüttung eines wichtigen
die bis zum Alter von drei Jahren in einer depressiven Problem
Bindungshormons namens Oxytocin erhöht und so neuronale
familie gelebt und dann verschiedene Pflegefamilien durchlaufen
Reaktionsmuster begründet, die auch potenziell gefährdete Kin
hatte. Gina war ein schwieriger Fall für das Jugendamt, bis sie
der befähigen, auf simple Formen des Tröstens und Beruhigens
zu Wendy kam, die damals fünfzig war und nie eigene Kinder
und auf körperliche Nähe anzusprechen.
gehabt hatte.
Dagegen haben Babys, die übermäßigem oder unaufgelös
Gina war ein kratzbürstiges kleines Ding. Frech und schlag
tem Stress, intermittierenden körperlichen Beziehungen oder
fertig im wörtlichen Sinn, machte sie sich zurecht wie ein
Berührungen brutalerer Art ausgesetzt sind, einen niedrigeren
zorniger, frühreifer Teenager, mit absichtlich herbeigeführten
Oxytocinspiegel. Statt des Bindungshormons weisen sie einen
Laufmaschen in der Strumpfhose, Punkfrisur und schrillen Kla
höheren Spiegel des Stresshormons Cortisol auf. Ein Mensch,
motten. Sie hatte sehr liebenswerte Seiten, war aber ein Pulver
der regelmäßig mit Cortisol »geflutet« wird, ist biologisch und
fass. Diese Mischung strapazierte Wendy sehr und trieb sie im
psychisch darauf ausgerichtet, Stresssituationen zu suchen. Die
mer wieder dazu, in ihren psychologischen Fachbüchern nach
ser Effekt kann dauerhaft sein. Ironischerweise erfolgt Stress
Mitteln und Wegen zu suchen, ihre und Ginas Nerven zu beruhi
auflösung bei Menschen mit einem hohen Cortisolspiegel nicht
gen. Gina war als kleines Kind ständig geschlagen worden und in
durch weniger, sondern durch mehr Stress. Bei erhöhtem Stress
Kindergarten und Schule immer wieder in handgreifliche Aus
werden die körpereigenen Opiate ausgeschüttet. Extrem an
einandersetzungen geraten. Als sie zu Wendy kam, machte sie
gespannte Menschen finden unglücklicherweise erst dann Ent
äußerlich auf hart und abgebrüht und schlug um sich, sobald sie
lastung, wenn die Anspannung einen Höhepunkt erreicht. Sie
frustriert war. Sie war wahrhaftig keine leichte Aufgabe.
suchen immer noch mehr (oft selbst erzeugten) Stress, um über
Bei einer Untersuchung an Müttern mit einer postnatalen
ihren normalen Stresspegel hinauszugelangen. Dann erst setzt
Depression stellte Professor V ivette Glover von der Imperial
Erleichterung durch das körpereigene Narkotisierungssystem
College School of Medicine fest, dass Kurse in Baby-Massage
ein.
sowohl den depressiven Müttern als auch deren Kindern halfen.
So war es bei Gina. Sie war als kleines Kind herumgezerrt
Indem die Mütter lernten, wie sie ihre Babys liebevoll berüh
und -gestoßen worden und vermochte erst nach einer längeren
ren konnten, wurden sie sensibler für deren Signale, entwickel
Sequenz aggressiver Konfrontationen schließlich Erleichterung
ten mehr Selbstvertrauen im Umgang mit ihnen und fühlten
zu fmden. Diese neuronale Prägung nahm sie mit, als sie größer
sich selbst besser. Natürlich liegt es auf der Hand, dass eine
wurde: Sie provozierte ihre Umgebung regelrecht, sie zu zügeln,
freundliche, fürsorgliche Umgebung und die Anleitung durch
was sie nur noch aggressiver machte und heftige körperliche
eine warmherzige Kursleiterin einen Kreislauf von positivem
Auseinandersetzungen suchen ließ. Ihre neue Mutter Wendy
54
55
war Pazifistin. Sie glaubte an gewaltfreie Kindererziehung. Da
Wendy konnte sich noch so sehr bemühen, mit ihr zu reden - sie
sie sehr gut darin war, anderen im Umgang mit schwierigen Kin
schaffte es einfach nicht, sie zu erreichen, ihr Trost oder Sicher
dern zu helfen, war es für sie eine große Enttäuschung, dass sie
heit zu geben.
zu Gina einfach keinen richtigen Kontakt herstellen konnte, es
Wendy sprach mit ihr über die Menstruation, und Gina be
sei denn, sie spielten Boxen oder Wendy wurde in die Schule
hauptete, alles darüber zu wissen, aber der trockene Humor, mit
bestellt, um G ina abzuholen, nachdem diese sich wieder ein
dem Wendy die verschiedenen Arten von Monatshygiene er
mal ernsthaft genug geprügelt hatte. Disziplinierungsversuche
örterte, brachte Gina zum Lachen. Wendy war in den Wechsel
schienen es nur noch schlimmer zu machen. Wenn sie Gina für
jahren, und für beide markierte das Gespräch über die Launen
eine Auszeit in ihr Zimmer schickte, fand sie hinterher sämt
des weiblichen Zyklus und die einschlägigen Hygienepraktiken
liche Kleidungsstücke im Raum umhergeworfen und nagelneues
den Beginn eines engeren körperlichen und emotionalen Ver
Lieblingsspielzeug zerstört. Ginas Körper schien regelrecht nach
hältnisses.
Anspannung zu hungern; eine beruhigende Tasse heiße Schoko
Als Gina zwölfwar, kam sie eines Morgens vor der Schule mit
lade oder das Versprechen, ihr ein neues Fahrrad zu kaufen, in
einer Haarbürste zu ihrer Mutter und bat sie, ihr die Haare zu
teressierten sie nicht.
bürsten und zu einem französischen Zopfzu flechten. Diese un
Sie fanden einfach keinen Rhythmus. Beide waren verzwei
erwartete Bitte aus dem Mund der raubeinigen und nicht gerade
felt. Mehr als einmal dachte Wendy, dass es ein Fehler gewesen
mädchenhaften Gina rührte und freute Wendy, und sie begann,
war, diese Herausforderung anzunehmen. Sie wünschte sich ein
Ginas Haar sanft zu bürsten, verschob aber die kompliziertere
kleines Mädchen, mit dem sie kuscheln und dem sie hübsche Lie
Aufgabe des Zopffiechtens auf den Abend, um sich erst einmal
der vorsingen konnte. Sie war ärgerlich und hatte Schuldgefühle.
in Friseurhandbüchern sachkundig zu machen.
Sie hatte gewusst, dass es schwer sein würde, ein Kind mit Ginas
Damit begann eine neue Phase ihrer Beziehung, in der G ina
G eschichte großzuziehen, war aber mit ihren Studentinnen und
und Wendy jeden Morgen - sie standen dafür extra früher auf
Patientinnen immer so gut zurechtgekommen und hatte anderen
fast eine Stunde damit zubrachten, Ginas Haar so zu frisieren,
Müttern so viel helfen können, dass sie auf eine dermaßen frus
wie sie es sich gerade wünschte. Haarklemmen im Mund, thronte
trierende Situation nicht vorbereitet war. Es zehrte an ihr.
Wendy auf einem hohen Hocker vor einem G anzkörperspie
Nach ihrem ersten gemeinsamen Jahr kam Gina in die Puber
gel, während Gina vor ihr auf einem niedrigeren Schemel saß
tät. Wendy beftirchtete, dass es jetzt noch schlimmer kommen
und sich an ihre Knie lehnte. Sie hatten eine intime körperliche
würde, obwohl ihr das kaum möglich schien, und fragte sich, wie
Aktivität gefunden, die ihnen beiden gefiel. Sie redeten ein biss
klug es von der Adoptionsbehörde gewesen war, ihr ausgerech
eben, während Wendy sanft Ginas Haar bürstete und dann dazu
net Gina zu geben. Gina war zu verletzt und zu geschädigt, zu
überging, ihr die Schultern zu massieren. Gina wurde gelöster,
enttäuscht durch die verschiedenen Bezugspersonen, die sie aus
und Wendy hatte endlich das physische Erlebnis, ihre Tochter zu
ihrer Sicht am Ende doch wieder im Stich gelassen hatten, und
bemuttern. Liebe (und damit auch Oxytocin) begann zu fließen,
s6
57
und obwohl Wendy natürlich diese gemeinsame Zeit nicht unter
matisch waren, wird es das sein, woran sie sich erinnern, was sie
brach, um den Hormonspiegel ihrer Tochter zu bestimmen, war
erwarten und auf die neue Situation projizieren, auch wenn es
doch klar, dass diese täglichen Sitzungen bei Gina und zweifel
jetzt nicht mehr gilt. Ginas mutiger Akt, Wendy eine Haarbürste
los auch bei Wendy selbst eine psychochemische Veränderung
zu bringen und darauf zu vertrauen, dass etwas G utes passieren
bewirkten, da beide einen Weg gefunden hatten, körperlich zu
würde, wurde von Wendy mit genau dem richtigen Maß an Zärt
interagieren und ein physisches und emotionales Vertrauensver
lichkeit und Ernsthaftigkeit aufgenommen. Sie begriff es als ihre
hältnis zu entwickeln. Ginas findige Initiative setzte einen Prozess in Gang, bei dem
Chance, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt bereits dachte: Wenn ich doch nur aufgeben könnte!
Berührung - zunächst indirekt, dann direkter - eine gelungene
Als Erwachsene könnten wir eigentlich aus Erfahrung wissen,
körperliche Beziehung zwischen Mutter und Tochter stiftete.
wie wichtig Berührung ist - und nicht nur sexuelle Berührung.
Wendy erhielt, was nur wenigen Müttern pubertierender Töch
Zu umarmen, zu streicheln, zu liebkosen tut genauso gut, wie
ter zuteilwird: die Gelegenheit zu zärtlicher körperlicher Nähe.
umarmt, gestreichelt, liebkost zu werden. Dennoch sind wir der
Und Gina empfing, vielleicht erstmals in ihrem Leben, eine durch
zeit in diesem Bereich ziemlich verwirrt. Die Briten gelten tradi
gängige, verlässliche und sichere Form von Berührung, die bei
tionell als physisch und emotional zugeknöpft, und die zuneh
ihr eine neue Matrix für Nähe und Trost schuf.
mende mediale Beschäftigung mit den schrecklichen Folgen von
Es ist fast immer so, dass uns Patienten H inweise geben, wie
Pädophilie und unangemessenen - weil sexuellen
Berührungen
wir ihre Heilung fördern können - wenn wir es nur wahrnehmen.
zwischen Erwachsenen und Kindern hat uns noch vorsichtiger
Im psychotherapeutischen Sprechzimmer, wo es die Aufgabe ist,
gemacht, wenn es darum geht, was an Berührung in Ordnung ist
das, was beschädigt ist, zu reparieren, und wo der Therapeut
und was nicht. Auch in den USA erlegen sich Lehrer und Lehre
oder die Therapeutin über Mechanismen und Techniken ver
rinnen mittlerweile ein Berührungsverbot auf, um Fehlinterpre
fügt, um mit problematischen Gefühlen und Verhaltenswei
tationen zu vermeiden, und Väter sind vielfach verunsichert, was
sen umzugehen, ist dies ftir die Patienten natürlich leichter. In
den spontanen körperlichen Umgang mit ihren Töchtern anbe
einem häuslichen Zusammenhang, der vielleicht emotionale
langt. Gleichzeitig wissen wir am Ende einer Essenseinladung
Erinnerungen an schlimme häusliche Erfahrungen weckt, fallt
nicht, ob wir Leute, die wir gerade erst kennengelernt haben,
Vertrauen schwer. Eine automatische Reaktion von Adaptiv
zum Abschied küssen sollen oder nicht. Und wenn ja, dann ein
oder Pflegekindern ist es (vielleicht auch, um sich in der neuen
mal, zweimal oder vielleicht dreimal wie die Holländer?
Situation zurechtzufinden, vor allem aber, weil wir Menschen
In meinem Sprechzimmer schilderte mir eine Frau in den
nun mal Erfahrungen und Gefühle von einer Situation auf die
Fünfzigern, wie sie ihre siebenundachtzigjährige Mutter im
andere übertragen), dem neuen Kontext zuzuschreiben, was sie
Krankenhaus besucht hatte. »Sie war so verletzlich. Ich wollte
in einem früheren familiären Kontext gelernt haben. Wenn ihre
sie in den Arm nehmen, aber ich konnte es nicht. Ich konnte es
Ursprungsfamilie oder ihre früheren Pflegefamilien für sie trau-
einfach nicht.« Die emotionale Verletzlichkeit ihrer Mutter löste
59
in ihr den Wunsch aus, die alte Frau zu berühren, aber sie fühlte
befinden und Selbstvertrauen ausdrücken. Ihre Art, in ihrem
eine lähmende innere Kälte. Die Tatsache, dass sie als Kind selbst
Körper zu sein, und ihre Kleidung lösten positive Reaktionen
nicht genug in den Armen gehalten wurde, hatte sie buchstäblich
aus. Sie bekam einen Respekt zurück, der sie weiter bestärkte.
gefrieren lassen.
Von außen nach innen und von innen nach außen formte sich
Im verzweifelten ersten Jahr ihres Zusammenlebens sah Wendy, wenn sie sich Gina als Teenager vorstellte, eine toughe
Gina durch die B eziehung zu Wendy physisch und psychisch neu. Sie entwickelte einen neuen inneren Körper.
Großstadtjugendliche vor sich, die ihre Identität durch extremes Piercing, üppige Tattoos und aggressive Kleidung markierte. Sie fragte sich, wie sie diese äußere Manifestation von Härte und Abgebrühtheit bei einer Tochter akzeptieren könnte, die doch für sie offenkundig - so verletzlich war. Wie könnte sie einen Weg finden, Ginas Stil zu akzeptieren und ihr das Gefühl zu ge ben, anerkannt und geliebt zu werden? Sie hatte Angst davor, mit einer Tochter herumzulaufen, die aller Welt ihre Unzufrieden heit signalisierte, und sie hatte Angst, dass Ginas Erscheinung wiederum Ablehnung und Feindseligkeit provozieren würde. Ja, Wendy war überbehütend, und das aus gutem Grund. Sie wuss te, dass ein Mädchen, das mehrere Pflegefamilien durchlaufen hatte, sich leicht zu anderen Problemjugendlichen hingezogen ftihlen und dadurch in ein gefährliches Umfeld geraten konnte. Sie hatte Angst, diesen Gefahren nicht genug entgegensetzen zu können. Daher war es für sie eine freudige und beruhigende Überraschung, dass Gina mit vierzehn ihre harte Schale noch weiter ablegte und sich ähnlich wie ihre Klassenkameradinnen zu kleiden begann. Sie experimentierte mit toughen Looks, aber das war nur eine Form der Selbstdarstellung, und nach und nach pendelte sie sich auf ein Erscheinungsbild ein, das besagte, dass sie dazugehörte und keine Außenseiterin mehr war. In dem Maß, wie ihre innere Körperlichkeit friedlicher wurde, entspannte sich auch ihr Körper, und da sie sich j etzt in ihm sicherer fühlte, konn te sie durch Kleidung und Körpersprache wachsendes Wohl-
6o
61
3 1 S prechende Körper Sam war sechs, als er in seine Pflegefamilie kam. Schmächtig, blass und nervös, landete er in einem turbulenten Haushalt, be stehend aus liebevollen neuen Eltern und zwei Teenagern, die bereits auf dem Weg ins Erwachsensein waren. Mum hätte kaum mütterlicher sein können. Sie hatte ihr bescheidenes Heim über die Jahre vielen, vielen Kindern geöffnet. Manche waren nur ein paar Tage oder Monate geblieben, andere ein paar Jahre. Als ich Sam kennenlernte, war er dreizehn, sah aber aus wie neun. Er hatte eine Pflegemutter, wie man sie sich nur wünschen konnte, wenn man aus der Hölle kam: eine füllige, gemütliche Frau in den Vierzigern mit einem geräumigen Schoß und einem großen Herzen. Sie war intelligent und einfühlsam, eine Person, deren Zuversicht das Leben vielleicht doch möglich erscheinen ließ, auch wenn es sich im Moment noch so hoffnungslos anfühlte. Anne war die fähigste Pflegemutter, die die Behörden von Kent County auf ihrer Liste hatten, und in den letzten zwanzig Jahren hatten sie ihr 130 Kinder geschickt, die aus den trauma tischsten Situationen kamen. Arme schaffte es immer, eine Be ziehung zu ihnen herzustellen, auch wenn es ihr schier das Herz brach, sie schließlich wieder gehen lassen zu müssen. Das beste
Beispiel war der kleine Ethan, der in seinen ersten sechs Lebens
hatte das Gefühl, wenn sie die Möglichkeit offenhalten konnte,
wochen schwer misshandelt worden war und mit beidseitigen
mit ihm über das Geschehene zu sprechen und ihm zu erklären,
Splitterbrüchen der Beinknochen zu ihr kam, weil seine leib
dass der Missbrauch nicht seine Schuld gewesen war, würde er
liche Mutter ihm brutal die Beinehen verdreht hatte. Endlich vom
vielleicht aus seinem eingefrorenen Zustand auftauen.
Gips befreit, war Ethan starr und unnahbar. Er konnte es nicht
Während ich Arme zuhörte und Sam kennenlernte, versuchte
ertragen, in den Armen gehalten oder berührt zu werden. Die
ich, mich in sein Unbewusstes einzufühlen, um eine Ahnung zu
ganze Familie sang ihm beruhigende Wiegenlieder vor. Anne
bekommen, was es sein könnte, was sein Wachstum so radikal
begann, seine Beinehen sachte mit einem weichen Stoffhasen zu
unterband. Wenn ich mir vorstellte, wie der verwirrte und miss
streicheln. Langsam, ganz langsam, öffnete er sich, und wie Gina
brauchte Sechsjährige seiner Mutter weggenommen wurde, die,
in der Haarbürste hatte auch der winzige Ethan ein Objekt ge
auch wenn sie ihn nicht beschützt hatte, doch seine Sicherheit
funden, das weder Teil von ihm noch Teil von Anne war und zum
war, lag für mich auf der Hand, dass er zutiefst verängstigt war.
übertragungskanal liebevoller körperlicher Zuwendung wurde.
Keine Worte für das zu haben, was passiert war und was passier
Bald schon ließ er sich von Anne mit den Händen streicheln, und
te, genügte, um jeden erstarren zu lassen. Aber was konnte er
schließlich genoss er auch andere Formen des Schmusens. Nach
klären, dass er nicht wuchs? Wie ließ sich das verstehen?
fünf Monaten in der Pflegefamilie begann er zu lächeln. Doch anders als bei Ethan erwies sich Sams »Genesung« von
Da Sam nicht mein Patient war, hatte ich nicht das Instrumen tarium zur Verfügung, das ich bei der Arbeit mit einem Patienten
seinen traumatischen Erfahrungen als langer und mühsamer Pro
habe. Ich weiß, viele Leute glauben, dass Psychoanalytiker sie
zess. Er war in einem späteren Entwicklungsstadium zu Anne
analysieren, wenn sie ihnen irgendwo begegnen, aber das stimmt
gekommen, und sie und das Jugendamt waren besorgt, weil er
nicht. Das psychoanalytische Verstehen erwächst aus den beson
einfach nicht wuchs. Mehrere Jahre unterstellte man ihn der Be
deren Bedingungen des Therapiezimmers und der Analysebezie
treuung durch einen Kinderarzt, der ihm Wachstumshormone
hung. Nur da kann es sich wirklich entfalten. Doch als ich Sam
verordnete. Sie erzielten nicht das erwartete Ergebnis. Es war,
und Arme im Zuge meiner Forschungsinterviews traf, konnte ich
als wäre Sams Körper fest entschlossen, nicht zu wachsen. Mit
nicht umhin, meine eigenen Spekulationen beizusteuern. War
qualifizierter therapeutischer Unterstützung versuchte Anne,
Sams Entwicklung durch seine frühen Erfahrungen unwiderruf
Worte zu finden, um mit ihm über den sexuellen Missbrauch
lich geschädigt worden? Konnte es sein, dass Sam, wenn er lange
durch den Freund seiner Mutter zu sprechen, dem er von Geburt
genug in einer sicheren, schützenden Umgebung lebte, sich auch
an ausgesetzt gewesen war. Sam wollte nichts davon hören und
wieder sicher genug fühlen würde, um weiterzuwachsen? Hatte
war erst recht nicht in der Lage, darüber zu sprechen. Gefangen
er irgendwie die Vorstellung, dass sein Wachstum die Probleme
in einer Erstarrung, in der er auszublenden schien, was ihm wi
verursacht hatte? Fürchtete er, wenn er wüchse, ein Mann zu
derfahren war, hatte er seine körperliche Entwicklung gänzlich
werden, der Kindern wehtat? Hoffte er, wenn er nicht wuchs,
eingestellt. Anne fragte sich, was ihn da herausholen könnte. Sie
wieder zu seiner leiblichen Mutter zurückkehren zu können- als
6s
der kleine Junge, den sie verloren hatte? Diese Fragen verfolgte
Zusammensein mit einem Patienten oder einer Patientin bei mir
ich selbst nicht weiter, aber sie waren ja zweifellos auch in den
selbst einen unerwarteten Gefühlsumschwung wahrnehme, trete
Köpfen derjenigen, die Anne helfen sollten, Sam zum Wachsen
ich mit mir in einen stillen Dialog darüber, was er bedeuten könn
zu befähigen, und würden mit ihm zusammen angegangen wer
te. Zuerst erforsche ich mich, als wäre ich ein Studienobjekt. Was
den, sobald er in der Lage war, sich mit der radikalen Meuterei
evoziert dieser Patient/diese Patient bei mir? Warum fühle ich
seines Körpers zu befassen. Vorerst jedoch nahm Sams Pflege
mich gerade in diesem Moment so angespannt? Warum fühle ich
mutter seinen körperlichen Entwicklungsstillstand als Rätsel
mich traurig, obwohl der Patient/die Patientin doch gerade etwas
und bekümmernde Tatsache hin und liebte ihn als den kleinen
Lustiges gesagt hat? Hat er/sie bei mir einen bestimmten Nerv
Jungen, der er immer noch sein musste.
getroffen? Solche emotionalen Zustände, die Therapeuten bei
In meiner therapeutischen Praxis bin ich es gewohnt, etwas
sich selbst wahrnehmen, nennt man Gegenübertragung. Wenn
zu verspüren, was ich nur als unerwartete Empfindungen in
ich diese Gefühle bei mir genau unter die Lupe nehme, ist ihre
meinem eigenen Körper beschreiben kann. Wenn das eintritt,
Dissonanz zur äußeren Situation für mich ein Weckruf: Da ist
weiß ich, es ist einigermaßen wahrscheinlich, dass ich gerade
etwas Schwieriges, das es zu verstehen gilt. Mein Körper, mein
die unbewusste Übermittlung eines körperlichen Zustands emp
emotionaler Zustand, wird zu einer Art Stethoskop, das ich be
fange, den die Person, mit der ich arbeite, selbst nicht ohne Wei
nutze, um zu hören, was da im Argen liegt.
teres fühlen kann. Damit bin ich nicht allein. Psychotherapeuten
Als ich zum ersten Mal so eine »unerwartete« Gegenübertra
bauen auf ihre Fähigkeit, Gefühle ihrer Patienten aufzufangen.
gung in meinem eigenen Körper fühlte, arbeitete ich mit Herta,
Das ist ein Hinweis auf Aspekte des Erlebens der Patienten, die
einer vierzigjährigen Geigerin aus Limburg. Nichts an Hertas
therapeutisch angegangen werden wollen und daher in einer
adretter und ruhiger Erscheinung deutete auf ihren extrem ge
Form präsentiert werden, die für Nicht-Therapeuten zunächst
störten Körper hin. Aber er litt und hatte immer schon gelitten.
bizarr klingen mag. V ielleicht wird es an Beispielen aus dem All
Er war von Grund auf krank. Er schmerzte. Er schwärte.
tagslehen deutlicher: Man ist mit jemandem zusammen, der aus
Herta war im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen, als der
gesprochen interessant wirkt, fühlt sich aber plötzlich schläfrig.
Schleier der Armut über dem Erleben ihrer Eltern lag. Sie hatten
Oder man redet angeregt mit jemandem, fühlt sich aber plötzlich
zwei Weltkriege durchgemacht. Hertas Geschichte ist ein plas
geistlos und langweilig. Da ist nichts Äußeres, nichts Fassbares
tisches Beispiel dafür, wie elterliche Angst und Sorge vom Kind
im Gespräch, aber irgendetwas Subtiles kommt durch den Äther,
aufgenommen und »eingebaut« wird. Als Baby hatte sie oft nach
und die eigene Gefühlslage kippt.1
dem Stillen ein bisschen Muttermilch wieder von sich gegeben.
In der Therapie benutzen Psychoanalytiker solche Stim
Dieses Verhalten beunruhigte ihre Mutter, die ganz sichergehen
mungs- und Gefühlsumschwünge als Hinweise. Eine gemein
wollte, dass ihre Tochter bei jeder Mahlzeit genug Milch bekam,
same Gefühlslage ist nichts, was man zu hinterfragen brauchte.2
und nicht wusste, dass »Spucken« bei Babys absolut normal ist.
Das ist zu erwarten. Wenn ich allerdings als Therapeutin im
Die Mutter war besorgt und fühlte sich abgelehnt und übertrug
66
ihre Bestürzung auf Herta, die doch nur das bisschen überschüs
zeugte sie in mir? Was wollte sie von meinem Körper? Was wollte
sige Milch, das sie nicht brauchte, wieder hinausließ.
ich für sie? Herta hatte sich bereits eine Art externen Körper er
Mit der Zeit verschmolzen die angespannte emotionale
schaffen: ihre Geige, auf der sie mit ihrem Bogen wunderschöne,
Tönung des Überfütterns und die Angst der Mutter, dass Herta
seelenvolle Klänge erzeugen konnte. Ihr perfektes Spiel auf die
hungern könnte und sie selbst eine unfähige Mutter war, mit
sem kleinen hölzernen Instrument, dessen sinnliche Konturen
Hertas Versuchen, ihre Nahrungsaufnahme zu regulieren, zu
an weibliche Kurven erinnern, ließ sich dahin gehend deuten,
einem Muster von unwillkürlichem Erbrechen seitens der Klei
dass es die liebevollen Anteile der Zuwendung ihrer Mutter syrn
nen. Das kam so oft vor, dass die Mutter sie, als sie fünf war, zu
bolisierte, den Teil von Herta selbst, der lebendig war und das
einem Frankfurter Psychologen brachte, der die damals brand
Vermächtnis an Körperunbehagen zurückwies. Ich parkte mein
neue Verhaltenstherapie praktizierte. Im leeren Speisesaal der
Schnurr-Gefühl erst einmal auf dem Nebengleis und dachte
Klinik fütterte der Psychologe Herta. Wenn sie erbrach, fing er
noch ein bisschen über Hertas Körper und ihre Symptome nach.
das Erbrochene in einer Schale auf und zwang sie, es wieder zu
Hertas Verhältnis zu ihrem Körper hatte zwei Aspekte. Er
essen. Diese brutale Maßnahme fruchtete insofern, als das Er
war für sie ein Objekt, und er war für sie ein Problem. Die Erfah
brechen aufhörte. Kurz darauf fand Herta jedoch ein anderes
rung, einfach nur in ihm zu leben, hatte sie nicht. Sie kannte ihren
körperliches Symptom, um ihr Körperunbehagen auszudrücken.
Körper - den sie auf Englisch immer »it« nannte- nur als Belas
Sie wurde zur Bettnässerin. Als ich sie kennenlernte, litt sie be
tung. Sie musste sich ständig um ihn kümmern, ob es nun da
reits seit ihren Zwanzigern an Colitis ulcerosa, einer geschwü
rum ging, mit den unangenehmen Symptomen durchfallartigen,
rigen Dickdarrnentzündung.3
manchmal blutigen Stuhls und dringenden Stuhlgangs umzuge
In einer Sitzung mit Herta, nach etwa zwei Jahren Therapie,
hen oder die heftigen Bauchkrämpfe zu ertragen, die typisch
bemerkte ich plötzlich bei mir selbst ein körperliches Gefühl, das
für Kolitis sind. Indern ich mich zeitweilig auf meinen eigenen,
ich nicht kannte. Ich fühlte mich von einem tiefen körperlichen
schnurrenden Körper konzentrierte, konnte ich dieses »It« an
Wohlbehagen durchdrungen, wie eine schnurrende Katze. Jeder
gehen, den Körper als Körper. Was meine ich damit? Den Körper
Teil von mir fühlte sich auf eine Art lebendig und zufrieden,
als Körper?
wie ich es nie zuvor erlebt hatte. Vielleicht ist es ja das, was die
Während eines Jahrhunderts Psychoanalyse galt stets das
Buddhisten Nirwana nennen, ich weiß es nicht. Mir war nicht
Axiom, dass die Seele den Körper beeinflusst und dass, wenn
bewusst, dass ich mich vorher unzufrieden gefühlt hätte, ja, ich
man die mit einem Symptom verbundenen seelischen Konflik
hatte meinen Körper gar nicht weiter wahrgenommen. Meine
te hervorholt und bewusst macht, das Symptom verschwindet.
ganze Aufmerksamkeit war auf Herta gerichtet gewesen und auf
Freud und Breuer hatten über ihre Arbeit mit Hysterie-Patient
das Leiden, das ihr Körper für sie darstellte.
Innen geschrieben. Sie hatten die Redekur als Methode ent
Als ich diesen seligen Schnurr-Zustand an mir bemerkte,
wickelt, die unbewussten Vorstellungen, die auf ein hysterisches
fragte ich mich, was da ablief. Was teilte mir Herta mit? Was er-
Symptom verlagert worden waren, ans Licht zu holen. Sarns
68
6g
Wachstumsverweigerung können wir wenn auch nicht im De
nahezu weg. Die Kolitis bedeutete für sie, dass sie sich im Grunde
tail, so doch in groben Zügen als einen solchen Zusammenhang
immer mit den Forderungen ihres Körpers beschäftigen musste.
von emotionalen Ursachen und körperlichem Symptom verste
Sie probierte verschiedene Diäten aus, die angeblich helfen soll
hen. Doch Hertas Fall und vor allem meine Schnurr-Reaktion
ten. Auf Konzertreisen musste sie aufpassen, dass sie ihre Me
auf sie weckten in mir den Impuls, mich darauf zu konzentrieren,
dikamente bei sich hatte. Sie wusste immer, wo die Toiletten wa
was ihr Körper als solcher brauchte. Die gestörte Körperlichkeit,
ren, und war mit der Kolitis befasst, als wäre sie ein Objekt, das
die durch die ängstliche Besorgnis der Mutter wegen des Spu
ständiger Kontrolle bedurfte. Herta war immer in einem Zustand
ckens des Säuglings in Herta verankert worden war, hatte sich zu
höchster Wachsamkeit. Paradoxerweise fungierte die belastende
einem körperlichen Leiden entwickelt.
Kolitis für Herta als permanenter Aufruf, sich um sich selbst zu
Herta litt an besonders heftigem Hass auf den eigenen Kör
kümmern. Dieses unangenehme Symptom war die Erlaubnis und
per. Es war nicht der »normale« Körperhass, den wir heute bei
der Zwang, auf sich selbst zu achten. Letztlich ist ein Symptom
so vielen Frauen jeden Alters sehen. In ihrer grundlegenden
ein (in der Psychoanalyse Kompromissbildung genannter) Me
Körperlichkeit war strukturell das Gefühl verankert, dass ihr
chanismus, durch den sich das, was man nicht wahrhaben möch
Körper nicht in Ordnung war. Darin war sie wie Andrew, der
te, bemerkbar macht, indem es Aufmerksamkeit fordert.
Mann, der unbedingt seine Beine loswerden wollte. Beide lehn
Doch zurück zu dem Schnurr-Gefühl, das ich über Monate
ten ihre faktische Körperlichkeit ab, Herta durch den Protest
immer wieder in den Sitzungen mit Herta verspürte. Mit der
des Erbrechens und Andrew, indem er seinen Körper in einen
Zeit wurde mir klar, dass mir Herta durch diese Gegenüber
beinlosen umzuformen versuchte. Auf der klinischen Ebene war
tragung signalisierte, was sie brauchte. Um ihr Gefühl, in einem
ich überzeugt, dass ich es irgendwie schaffen musste, direkt zu
gehassten Körper zu leben, aufgeben zu können, hatte Herta für
Hertas Körperhass vorzudringen. Da man sie gezwungen hatte,
uns beide in diesem Raum einen Körper erschaffen, der sich un
ihren Protest buchstäblich herunterzuschlucken, war sie dahin
gemein wohlig und lebendig anfühlte. Es war, als finge sie noch
gekommen, alles zu hassen, was von ihrem Körper ausging. Und
mal von vorn an, nur diesmal mit einer Analytikerin/Mutter
ich war der überzeugung, wenn wir nicht der Tatsache ins Ge
figur, die nicht von Erinnerungen an Armut und Krieg und von
sicht sähen, dass ihr Körper für sie nur als Hassobjekt existierte,
Ernährungsängsten geplagt war, sondern einfach ruhig und zu
und sie nicht mit meiner Hilfe tief in diesen Hass hineinginge,
frieden dasaß. Ihre Findigkeit hatte genau das heraufbeschwo
würde sie dieses Körpergefühl nicht aufgeben oder verändern
ren, was sie brauchte. Sie konnte sich selbst keinen neutralen
können. Ihr Dilemma war, dass sie, wenn sie sich dem stellte, in
Körper erschaffen und schon gar keinen hochzufriedenen, aber
extremem Körperunbehagen gestrandet wäre. Es gäbe daraus
sie konnte einen solchen in mir wachrufen, in der Hoffnung, dass
keinen Ausweg; sie würde keine Mittel und Wege haben, gut zu
ich ihn ihr dann geben würde.
ihrem Körper zu sein. Hertas Kolitis war instabil. Sie kam und ging dann wieder
70
Es klingt ziemlich bizarr, dass Herta in mir das Gefühl er zeugen konnte, vor körperlicher Zufriedenheit zu schnurren.
71
Doch Psychotherapeuten sind es gewohnt, im Verlauf von The
kann ohne Weiteres doppelt so lange dauern wie die Aneignung
rapiesitzungen eine bestimmte Form »körperlicher G esundheit«
einer neuen Sprache mit ihren idiomatischen Wendungen. Daher
zu verspüren. Therapie funktioniert unter anderem deshalb, weil
bedurfte es etwa in Hertas Fall einer langen Therapiedauer, um
die emotionale Präsenz des Therapeuten oder der Therapeutin
sie in die Lage zu versetzen, sich ihrem geschädigten und gehass:
zu einer Art Hilfspsyche wird, die der Patient oder die Patientin
ten Körper zu stellen und Wege zu einer neuen, befriedigende
benutzt, während er oder sie den eigenen psychischen Zustand
ren oder zumindest medizinisch und emotional neutralen Ver
dekonstruiert und neu konstruiert. Man kann sich das ungefähr
körperung zu fmden.
so vorstellen, dass wir Therapeuten eine Art gute Ersatzmutter/
Hertas Ringen schärfte meine Wahrnehmung dafür, wie
gehalten
bedeutsam früheste Erfahrungen für die Entwicklung des Kör
von der Therapiebeziehung - emotionale Sicherheit gibt. In den
pergefühls sind. Wie viele meiner Berufskolleginnen hatte ich
guter Ersatzvater werden, ein stützendes Selbst, das
Sitzungen mit Herta war es mein Körper, der zu einem Hilfskör
die Arbeiten von Rene Spitz und all die Studien zur unterschied
per wurde. Ich stellte fest, dass sie hier im therapeutischen Raum
lichen körperlichen B ehandlung männlicher und weiblicher
in mir diesen schnurrenden, verlässlichen und stabilen Körper
Säuglinge immer als Beweis daftir genommen, dass die emotio
evoziert hatte, um für sich selbst einen neuen, vertrauenswür
nale Strukturierung von Mädchen und Jungen bereits im frühen
digeren Körper finden zu können, den sie dann mit der Zeit auch
Säuglingsalter stattfindet und nicht, wie Freud postulierte, mit
tatsächlich entwickelte.
vier Jahren, wenn die ödipale Phase einsetzt. Studien ergaben,
Viele Leute fragen sich, warum Therapien oft so lange dau
dass Jungen insgesamt länger gestillt und beim Stillen jeweils
ern. Warum bewirkt das Verstehen und Bearbeiten von Schmerz
länger angelegt wurden, dass bei ihnen die Sauberkeitserziehung
nicht eine zügige Veränderung der psychischen oder physischen
später begann und dass sie sogar mehr in den Armen gehalten
Matrix und damit rasche Erleichterung? Es ist frustrierend. Un
wurden als Mädchen. Das entspricht be.stimmten beobachteten
ser Gehirn scheint so schnell zu begreifen und sich doch nur so
Prägungen der weiblichen Psyche. Wenn Mädchen wegen der
langsam zu verändern. Es hilft, sich vor Augen zu halten, dass
Ungleichbehandlung der Geschlechtervon frühester Kindheit an
das Säugetier Mensch eine sehr lange Reifezeit außerhalb des
weniger nährende Zuwendung erhalten, wird ihr Gefühl selbst
Mutterleibs hat, in der das B aby alles das absorbiert und sich an
verständlicher Berechtigung begrenzter sein. Aus der körper
verwandelt, was es zum Menschen machen wird. Nehmen wir
bezogenen Perspektive leuchtet ein, dass die traditionelle Erzie
einmal die Sprache als Modell: Es dauert zwei bis vier Jahre, bis
hung von Mädchen zu braver Zurückhaltung und die traditionelle
Sprache Teil unserer Person wird. Man kann Therapie wohl als
Erziehung von Jungen zu Abenteuerlust und Wagemut sich auch
etwas sehen, das der Aneignung einer neuen Sprache ähnelt, nur
auf die jeweiligen Körperstrukturen auswirken. Nicht nur die
noch komplexer ist. In der Therapie muss der Patient oder die
Biologie, sondern auch die körperliche Behandlung, die Erwar
Patientin eine bestimmte Art zu sein verlernen und eine neue
tungen auf der physischen Ebene und die physische Eltern-Kind
entwickeln, mit der er oder sie besser leben kann. Dieser Prozess
B eziehung prägen das Körpererleben von Mädchen bzw. Jungen.
72
73
In den ersten Lebenstagen werden die Schlaf- und Ernäh
zu formen, als ihr eigener geformt wurde. Im Körpersinn der
rungsmuster des Kindes durch seine Bezugsperson reguliert.
heranwachsenden Tochter werden sich nicht nur die Gefühle der
Kinderfrauen, Nachtschwestern auf der Entbindungsstation,
Mutter dem eigenen Körper gegenüber niederschlagen, sondern
Großeltern und nachbetreuende Hebammen erteilen allesamt
auch deren Behandlung und emotionale Spiegelung durch ihre
Ratschläge, wie man das Baby am besten an einen Schlaf- und
Mutter. Noch komplexer wird die Situation, wenn die Tochter ir
Stillrhythmus gewöhnt. Das ist eine biophysisch-emotionale
gendwann Mutter einer eigenen Tochter wird, denn dann wird sie
Strukturierung des Babys, von der wir gern glauben wollen, dass
merken, dass sie in sich die Gesten ihres eigenen Bemuttertwer
sie ein natürlicher Prozess ist. Doch wenn wir diese Vorgänge
dens trägt, die sie dazu tendieren lassen, sich in einer bestimmten
im Hinblick auf die Formung des Körpers betrachten, wird klar,
Weise zu bewegen und zu verhalten, was ihr zum Teil bewusst
dass in der allerfrühesten Lebensphase das Baby als körperliches
und zum Teil gänzlich unbewusst sein wird. Dieser komplizierte
Wesen in einer Weise geformt und gefördert wird, die seine fak
Cocktail körperlicher Umgangsweisen erschafft unseren ganz
tische Körperlichkeit und sein Körpergefuhl kreiert.
persönlichen und einzigartigen Körper. Und eingewoben in die
Unser Körper wird sowohl auf der realen physischen Ebene
familiäre Körpergeschichte ist die jeweilige kulturelle Körper
als auch auf der Ebene der damit verbundenen Gefühle »ge
geschichte. Alles an unserer frühesten Erfahrung formt unseren
macht«. Was wir essen, wie wir essen, ob das Essen püriert, ob
Körper. Jede Kultur prägt die Körper ihrer Mitglieder auf spezi
es uns als etwas Lustvolles und Spannendes präsentiert oder von
fische Art und Weise, und wir sehen die verschiedenen äußeren
einer zerstreuten oder ängstlichen Bezugsperson verabreicht
Marker, von den Ringen, die die Hälse der burmesischen Frauen
wird, ob wir liebevoll oder ruppig oder gar nicht gehalten, ob wir
dehnen, über die Gesten der Italiener beim Sprechen bis hin zur
gekitzelt oder liebkost, ob wir oft oder nicht oft genug gewickelt
räumlichen Absonderung von Frauen während der Menstruation
werden- all die vielen Varianten, wie unsere Bezugsperson mit
oder dem Vollziehen von Waschungen bei bestimmten V ölkern.
uns in Beziehung tritt, bilden das physische Klima, in dem wir
Wir können nicht in den Körper anderer blicken, aber von außen
aufwachsen, und formen den Körper, der wir sind. Es gibt keinen
erkennen wir gewisse Anzeichen dafür, wie der jeweilige Kör
präexistenten Körper - das ist simplizistisches Denken. Jeder
per strukturiert ist. Und dann sind da die Dinge, die wir messen
Körper wird durch die Körpergeschichte der Familie geprägt.
können. Das staatliche Gesundheitswesen und die Epidemiologie
Eine Mutter, die möchte, dass ihre Tochter körperliches Selbst
haben uns Daten an die Hand gegeben, um zu verstehen, wie Er
vertrauen entwickelt, wird bestrebt sein, dies im körperlichen
nährungsgewohnheiten körperliche Möglichkeiten strukturie
Umgang mit der Kleinen zu vermitteln, doch wenn sie selbst kör
ren, von der Körpergröße bis zur Anfälligkeit für Diabetes. Wir
perlich eher zaghaft ist, wird das trotz ihrer Bemühungen »an
können menschliche Körper von außen lesen und tun es auch.
kommen«. Die vielschichtigen Wünsche und das faktische Kör
Körper teilen sich mit. Oft jedoch übersetzen wir das, was wir
pererleben der Mutter vermitteln sich, auch wenn die Mutter auf
auf der Körperebene lesen, in Begriffe der Psyche.
der bewussten Ebene versucht, den Körper der Tochter anders
74
Anders geht es auch gar nicht, weil wir gar nicht die Begriffe
75
haben, um uns als psychosomatische Wesen zu beschreiben. Das
sehen, auf der Ebene körperlichen Austauschs abspielt, überset
Erbe des kartesianischen Dualismus macht es uns schwer, den
zen wir Mitglieder der Body Attachment Group es automatisch
Gedanken zu fassen, dass unser Körper etwas ist, das gemacht
ins Psychologische. Wir müssen uns sehr anstrengen, um die
wird. Wir können akzeptieren, dass unsere Psyche das Resultat
körperliche Interaktion in ihren eigenen Kategorien zu beschrei
vielfältiger Einflüsse ist, geprägt vom Familienzusammenhang,
ben. Wir betrachten eine Sequenz, in der die Mutter lächelt, das
von der Peergroup und der Kultur, in denen wir aufwachsen.
Baby zurücklächelt, die Mutter mit der Kleinen schmust und
Aber nehmen wir beispielsweise einmal neuere Forschungs
die Kleine freudig mit den Armen wedelt. Die Mutter lächelt
ergebnisse, die besagen, dass Babys, die in einer Betreuungsein
wieder, und es entsteht ein Kreislauf positiver Interaktion, den
richtung oder Spielgruppe sind, eine höhere Immunität gegen
wir »Attunement« nennen- auf der emotionalen Wellenlänge des
Leukämie im Kindesalter aufweisen.4 Das ist deshalb bedeutsam,
Babys sein. Wir könnten aber auch sehen, dass die Mutter abge
weil es zeigt, dass unser körperliches Immunsystem durch die
lenkt ist und die Signale des Babys nicht wahrnimmt. Wenn sie
Art unseres Aufwachsens beeinflusst wird. Wenn wir mit an
sich dem Baby wieder zuwendet, bewegt sie sich zu weit in des
deren über unsere eigene Kindheit oder über den Umgang mit
sen Raum hinein, und das Baby versteift sich. Daraufhin ziehen
unseren Kindern sprechen, stellen wir subtile Unterschiede der
sich Mutter und Kind zurück. Das Baby beginnt zu wimmern. Die
physischen Erziehungspraktiken fest: Manche Eltern konfron
Mutter nimmt es hoch und wiegt es im Arm, aber es dauert eine
tieren ihre Kinder etwa mit Schmutz oder setzen sie der Anste
Weile, bis die Kleine sich wieder beruhigt. Beide waren einen
ckung mit Röteln aus, andere nicht. Viele dieser Entscheidungen
Moment lang nicht auf einer Wellenlänge.
werden die körperliche Strukturierung unserer Kinder beein
Indem wir solche ganz alltäglichen Interaktionen auf ihre
flussen, sei es unmittelbar oder langfristig. Doch wenn es darum
physische Bedeutung hin lesen, versuchen wir zu verstehen,
geht, unseren Körper auf diese Weise zu begreifen, versagen un
welche langfristigen physischen Auswirkungen ein bestimmtes
sere Kategorien. Selbst in einer Forschungsgruppe wie der Body
körperlich/emotionales Geschehen auf das Baby hat - also etwa
Attachment Group,s die sich damit beschäftigt, wie Körpersinn
der positive Kreislauf, der sich aus dem wahrgenommenen und
und spezifische Formen von Körperbewusstsein in der Mutter
erwiderten Lächeln ergibt, im Unterschied zu einer inadäquaten
Tochter-Beziehung vermittelt werden, haben wir große Mühe
Reaktion der Mutter auf die Körpergesten des Kindes. Einen
zu beschreiben, was zwischen den Müttern und Töchtern, die
signifikanten Unterschied macht es erst aus, wenn die inadä
wir auf DVD sehen, vor sich geht. Wir stolpern, weil wir diese
quaten Reaktionen vorherrschen. Für alle Babys gibt es Situa
Art Fokus auf den Körper nicht gewohnt sind. Wir wissen, dass
tionen, in denen sie mit einer zugewandten und auf sie einge
diese Vermittlungsvorgänge existieren. Wir beobachten sie, und
stellten Bezugsperson zu tun haben, und dann wieder Momente,
Ergebnisse aus anderen Forschungsbereichen belegen die Be
in denen die Mutter oder die betreffende Bezugsperson nicht
deutung der Körperlichkeit der Mutter für die des Kindes. Das
verfügbar oder abgelenkt ist. Problematisch wird es dann, wenn
Verblüffende ist: Obwohl sich fast alles, was wir auf den DVDs
die unangemessenen Reaktionen das Übergewicht bekommen.
77
Babys, die es vorwiegend mit einer auf sie eingestellten Bezugs
ziehung in unserer Motorik. Wir können beobachten, wie B abys
person zu tun haben, werden das Vertrauen entwickeln, dass
zu krabbeln beginnen und sich später dann hochziehen und wie
ihr Lächeln freudig widergespiegelt wird. Ihre primäre Kör
ihr körperlicher Entwicklungshunger von den B ezugspersonen
pergeste, ihr grundlegendes physisch/psychisches S elbst, wird
aufgenommen und emotional markiert wird. Mich erstaunt es
positiv angenommen. Ihr Erleben wird bestätigt. Die Babys, die
immer, wenn ich Väter ihren kleinen Söhnen das Fußballspielen
weniger Glück haben und kaum adäquate Reaktionen erleben,
beibringen sehe. Das Verhalten der Väter hat nichts Sonderbares ,
entwickeln ein ganzes Spektrum physischer Verhaltensweisen:
aber mir ist es fremd: Ich kann nicht kicken und komme nicht aus
Sie sind schwer zu beruhigen, ziehen sich vielleicht in sich zu
einer fußballbegeisterten Familie. Die Muskelentwicklung die
rück, bekommen ein »depressives« oder verschlossenes Gesicht
ser kleinen Jungen und ihr Gefühl der Freude verbinden sich mit
oder aber sind besonders brav und übermäßig darauf ausgerich
Fußballspielen und mit Dad. Ich weiß noch genau, wie ängstlich
tet, wann die Mutter verfügbar ist. Wir beobachten etwa eine
ich war, als mein Sohn mit achtzehn Monaten die steile Treppe in
Mutter und ein Kleinkind beim Spiel und achten auf die Art der
unserem Haus erklomm. Ich versuchte, meine Nervosität in den
körperlichen Interaktion und das körperliche Verhalten beider
Griff zu bekommen, indem ich mir sagte, dass er das lernen und
im Raum. Ist die Mutter fahig, den Initiativen des Kleinkinds zu
dabei Selbstvertrauen haben musste. »Weiter, Lukie, du kannst
folgen, oder ist sie ihm vielleicht unabsichtlich im einen Moment
es. Noch eine Stufe , Schätzchen. G anz toll.« Eine Freundin mit
zu nah und im nächsten zu fern, sodass das Kind den Raum zwi
einer Tochter im seihen Alter vermittelte dem Kind, dass es vor
schen ihnen als prekär erlebt und Zögern und Nervosität das Ge
sichtig sein solle, was ich ganz sicher auch getan hätte, wenn
fühl des Kindes für den Raum prägen, den es mit seinem Körper
mein erstes Kind ein Mädchen gewesen wäre. Ich hätte mich
einzunehmen vermag?
nicht gezwungen, die Ängstlichkeit der noch unerfahrenen Mut
Solche physischen Spuren gehen sowohl in die Persönlich
ter zu überwinden.
keit als auch in die Körperlichkeit des Kindes ein. Erwach
Die >�Moden« der Kinderaufzucht und die gesellschaftlich
senengesiebter im Ruhezustand können nachdenklich, leer,
geprägten Erwartungen an Jungen und Mädchen zeigen, dass
streng, freundlich, offen usw. sein. Natürlich hat jeder Mensch
an den Rhythmen von Ernährung, S chlaf und Körperkontakt,
eine Grundphysiognomie, aber der G rundgesichtsausdruck ist
an die sich ein Kind gewöhnt, nichts Natürliches ist. Im Lauf
doch eher eine Kombination aus der jeweiligen Physiognomie
des letzten Jahrhunderts haben sich in den westlichen Ländern
und dem physischen Beziehungsgeschehen, das der/die Be
etliche S chemata des »richtigen« Umgangs mit Säuglingen ab
treffende erlebt hat. Man braucht nur einmal Geschwister mit
gelöst. Davor betrachtete man Säuglinge und Kinder nicht als ge
gleichen familiären Gesichtsmerkmalen zu betrachten, um zu
sonderte Kategorie Menschen. Wer arm war, hatte zu arbeiten,
erkennen, wie ihnen die j eweilige emotionale G eschichte ins Ge
sobald er oder sie dazu fahig war
sicht geschrieben steht.
bis heute gilt. Wer dem damaligen Äquivalent der Mittel- und
Noch offensichtlicher wird der physische Einfluss der Er-
was in vielen Teilen der Welt
Oberschicht angehörte, wuchs vielleicht gar nicht bei den Eltern
79
auf, sondern bei einer Amme . In England lebten Kinder wohl
brauchen Babys Regelmäßigkeit, denn sie gebe Sicherheit und
habender Familien gewöhnlich mit einer Kinderfrau im Kinder
G eborgenheit und erzeuge Vertrauen, und wenn das mit einem
zimmer ganz oben im Haus. Vielleicht schaute die Mutter jeden
gewissen Maß an Disziplinierung und Schreienlassen verbunden
Tag vorbei, und die Kinder wurden nach dem Tee hinunter
sei, dann habe man das eben in Kauf zu nehmen. Denjenigen
gebracht. Mit sieben kamen die Jungen in ein Internat, um dort
Eltern, die von sich sagen, dass sie dem Rhythmus des Kindes
in einem Setting zu leben, in dem Regeln und körperliche Ab
folgen, erscheinen solche Praktiken grausam. Sie sind der festen
härtung eine große Rolle spielten.
Überzeugung, dass Babys signalisieren können, was sie wollen
Bis zum Alter von sieben Jahren wurde das Kind nach den je
und brauchen. Für sie ist die sensible Nähe zwischen Eltern und
weils gültigen Kinderpflege- und -erziehungsmethoden behan
Kind ein hoher Wert. Auch diese Eltern möchten, dass sich ihr
delt. Die Prinzipien gingen von festem Einschlagen in Wickel
Kind sicher und geborgen fühlt. Sie glauben, dass Sicherheit aus
tücher über Wecken und Füttern nach Plan bis hin zum Füttern
dem Eingehen auf den individuellen Rhythmus des Kindes er
auf Verlangen. In den Fünfzigerjahren waren in westlichen Län
wächst und nicht aus allgemeingültigen Regeln. Welches Schema
dern geborene B abys Truby-King-, Dr.-Spock- oder Brazelton
man auch anstrebt, es wird sich wie ein Akzent dem Selbst- und
Babys. Heute haben wir im Wesentlichen einen Wettstreit zweier
Körpergefühl des Kindes aufprägen und dessen grundlegendes
Schulen. Da sind diejenigen, die wie Gina Ford und Claire Verity
Körperempfinden ftirs ganze Leben strukturieren.
glauben, dass Babys an eine Schlaf- und Fütterroutine gewöhnt
Das Selbstgefühl des Kindes wird durch dessen Beziehungen
werden müssen, wobei es für jeden Lebensmonat eine bestimmte
geformt. Die Psychoanalyse befasst sich damit, wie das Kind
Verfahrensweise gibt, die es dem Baby ermöglichen soll, sich
elterliches Verhalten verarbeitet und darauf reagiert - nicht
sicher zu fühlen, während die Eltern immerhin eine gewisse Zeit
in dem groben Sinn, dass ein Kind, das man schreien lässt, das
ohne Unterbrechungen schlafen können. Auf der anderen Seite
Symptom X oder Y entwickeln wird, sondern auf der Ebene des
stehen die Anhänger der Überzeugung, dass sich der Rhythmus
sen, was die sich entwickelnde Psyche mit dem Vermittelten und
des Babys in der Wechselbeziehung mit der auf seine B edürfnisse
Gefühlten anfängt - insbesondere wenn die in der Entstehung
eingehenden Mutter reguliert.6 Man könnte diese unterschied
begriffenen G esten des Kindes keine adäquate Antwort finden.
lichen Ansätze als elterngeführt oder kindresponsiv karikieren,
Wie wirkt es sich aus, wenn das Schreien des Babys nach
aber natürlich sind beide elterngeftihrt . Der betreuende Eltern
Nahrung oder Kontakt missachtet wird? Wenn das häufig vor
teil formt die Muster des Kindes, ganz gleich, ob diese gezielt
kommt, wird das Kind heftig reagieren und mit dem Geftihl eines
reguliert werden oder sich flexibler entwickeln können.
grundlegenden »Nicht-richtig« zurückbleiben. Dieses »Nicht
Auf verständliche Kritik stoßen Verfechter der Regulation
richtig«, das das Kind erlebt, ist keineswegs trivial, denn es sti
wie Gina Ford und Claire Verity vor allem mit ihrer Ansicht, dass
muliert die Ausbildung psychischer Strukturen, die wir Psycho
das S chreien des Babys ein natürlicher und akzeptabler Aspekt
analytiker Abwehrstrukturen nennen und die dem Kind helfen,
des Rhythmisierungsprozesses sei. Nach Meinung dieser Schule
das »Nicht-richtig« zu verarbeiten}
8o
81
Psyche und G ehirn des Babys werden durch den Kontakt,
des G ehirns liefern Ausgangspunkte für eine differenziertere
den es erfahrt, buchstäblich geformt. Das geschieht auf vielen
Theorie der Beziehung zwischen den verschiedenen Aspekten
Ebenen, von der Anlage der Strukturen dafür, welche Erlebens
der menschlichen Entwicklung, einen Ansatz, der den körper
formen und Gefühle ein Kind verkraftet oder abwehrt, bis zur
lichen und gehirnphysiologischen Prozessen ebenso viel B each
Entwicklung neuronaler Verbindungen im G ehirn. Wenn Babys
tung schenkt wie dem, was einst als G eist betrachtet wurde. Sie
beispielsweise vernachlässigt werden und nicht viel freundliche
erweitern unser Verständnis beider Aspekte und sind ein S chritt
Berührung erfahren, wird freundliche Berührung sich ihnen
auf dem Weg zu einer neuen Körper-Geist-Theorie.
nicht als etwas Positives einprägen. Wenn sie dann später auf
Wir wissen schon seit einiger Zeit, dass eine Eigenschaft des
freundliche Art berührt werden, kann es sein, dass sie erschre
Baby-G ehirns Flexibilität ist.10 Was wir bis vor Kurzem nicht
cken, Angst haben oder beunruhigt sind, weil die emotionalen
wussten, ist, in welchem Umfang die Art des Aufwachsens ver
und neuronalen Bahnen, die freundliche Berührung als ange
schiedenste Aspekte der G ehirnstruktur prägt, vom Tempera
nehm und tröstlich encodieren, nicht angelegt sind, sodass sich
turregelungssystem (man denke an Victor von Aveyron) über die
das Erleben fremd und nicht »von Natur aus« gut anfühlt. Auf
appetitiven Systeme bis zu den endokrinen Hormonen - Oxy
der Ebene des G ehirns schlägt sich die Fähigkeit der Bezugs
tocin versus Cortisol -, die spezielle Neuralbahnen selektieren,
person, sich auf das Baby einzustimmen und mit ihm zu reden,
je nachdem, ob das Baby seine Umgebung als generell freundlich
in einer größeren Dichte neuronaler Verbindungen nieder, als
und beruhigend empfindet oder nicht. Eine ganze Reihe von Sys
sie Kinder aufweisen, mit denen sich niemand so intensiv be
temen sind bei der frühkindlichen Entwicklung immer angespro
schäftigt. Mehr neuronale Verbindungen begünstigen die Ent
chen, und die Auswirkungen der Art des Stilleus - kindresponsiv
wicklung des Kindes. Und es gibt noch weitere wichtige Auswir
oder nach Zeitplan - schlagen sich auf der psychischen, emo
kungen. In den 199 oer-Jahren entwickelte Bildgebungsverfahren
tionalen und neuronalen Ebene nieder.
Attunement im G ehirn des
Wenden wir uns jetzt einer der Konzeptualisierungen zu, die
Babys ähnliche G ehirnregionen aktiviert werden wie in dem der
die Psychoanalyse entwickelt hat, um zu erklären, was passiert,
Mutter (oder sonstigen auf das Kind eingestimmten Bezugs
wenn das Baby ständig die Störung seiner eigenen Rhythmen
person).
erlebt. Ich möchte hier einmal das Argument beiseitelassen, dass
das,
strikt geregeltes, elterngeführtes Trinken und S chlafen eigene
machen sichtbar, dass bei geglücktem
Attunement erzeugt emotionale Sicherheit und fördert was man rig ht-brain-to-right- brain-Entwicklung (Entwick
lung von rechter Gehirnhälfte zu rechter G ehirnhälfte) nennt.8
Sicherheitsstrukturen liefert, auf die sich das Baby verlässt und
Mehr oder minder durchgängiges
freut. Natürlich ist da etwas dran, aber hier geht es mir darum,
Misattunement -
Missachten
der Bedürfnisse des Kindes - hingegen erhöht die Erregung des
das Baby zu betrachten, das die strikte Regelmäßigkeit als
Hirnstamms, wo unsere Kampf-oder-Flucht-Zentren sitzen - er
pingement
zeugt also das genaue G egenteil von Sicherheit.9 Diese neueren
diesen Vorgang psychisch und physisch verarbeitet. Das Baby
Forschungsarbeiten über die psychophysische Strukturierung
wird vielleicht schreien oder wimmern, in der Hoffnung, gehört
Im
als übergriffig - erlebt, und zu untersuchen, wie es
und erhört zu werden. Möglicherweise wird es dann beruhigt
Abwehrstruktur, die sich entwickelt, um Babys in ihrem Um
und mit sanften Worten getröstet und erfahrt so, dass es diesen
feld zu schützen und ihr Bindungsbedürfnis weiter auslebbar zu
inneren Aufruhr überleben kann. Aber was ist,wenn das nicht
machen.
geschieht? Wenn man das Baby schreien lässt,ohne es zu trösten,
Bei dem Baby,das das Konzept entwickelt,dass an ihm selbst
sodass das »Nicht-richtig«-Gefühl sein ganzes Wesen erfüllt?
etwas nicht richtig ist, kommt es zu einer Art inneren Spaltung.
Wie geht das Baby damit um?
Ein Teil von ihm wirbt eifrig um die Mutter, während ein an
Manche Babys ziehen sich in sich selbst zurück. Einige finden
derer Teil wachsam darauf konzentriert ist,was an ihm selbst
eine Möglichkeit, sich selbst zu trösten,indem sie am Daumen
eher angenommen als abgelehnt wird. Indem sich das Baby auf
lutschen oder den Kopf aufschlagen. Andere werden »brave«
das ausrichtet, was die Mutter geben kann,strukturiert es seine
Babys,die darauf fokussiert sind zu gefallen. Die äußeren Re
Psyche und spezifische Neuralbahnen, die automatisch die Teile
aktionen gehen mit einem bestimmten psychischen Geschehen
seiner selbst in denVordergrund schieben,von denen es das Ge
einher. In seiner embryonalen Psyche lotet das Baby das Gefühl
fühl hat,dass sie angenommen werden.
des »Nicht-richtig« aus, bis- und das ist das Tückische daran
Der innovative Kinderarzt und Psychoanalytiker D. W. Win
die Gefühlsqualität und Dynamik der Mutter-Kind-Beziehung
nicott schrieb über einen speziellen Persönlichkeitsaspekt des
zu einer bleibenden psychischen Struktur wird. Das »Nicht
Kindes,der sich entwickelt,wenn dessen Bedürfnis nach An
richtig« und die Struktur, die sich daraus entwickelt, werden
erkennung unbefriedigt bleibt. Wir haben ja schon gesehen,dass
beim Baby zur Wahrnehmung nicht der Situation,sondern seiner
das Baby den Teil seiner selbst findet, den die Mutter wertschätzt.
selbst.
Winnicotts These- die sich im klinischen Bereich bestätigt- lau
Wenn das Baby sich »nicht richtig« fühlt, wird seine Selbst
tet,dass das Kind,indem es diejenigen Teile seiner selbst hervor
wahrnehmung zum Problem. Babys sind völlig abhängig. Sie
kehrt, die der Mutter gefallen, das entwickelt,was Winnicott ein
brauchen responsive Bezugspersonen. Je weniger responsiv die
»falsches Selbst« nennt. Es ist nicht falsch im Sinne von unecht.
Mutter sich zu dem verhält, was von ihrem Kind ausgeht,desto
Es ist insofern falsch, als es eine Überentwicklung bestimmter
stärker sucht das Baby ihre Aufmerksamkeit. Das Baby braucht
Aspekte des Selbst auf Kosten anderer Aspekte beinhaltet,so
den Glauben- falls man den Prozess in seinem Kopf denn so nen
dass - in Winnicotts Terminologie
nen kann-,dass die Mutter für es da ist. Das aber heißt: Wenn
ich es lieber nenne, das potenzielle Selbst unentwickelt bleibt.
die Mutter es hat schreien lassen,muss das wegen irgendetwas
Das falsche Selbst entwickelt sich als Reaktion auf Misattunement
geschehen sein,das es selbst getan hat,wegen irgendetwas,das
oder, wie W innicott es bezeichnet,Impingement (Ühergriffigkeit).
das »wahre Selbst« oder,wie
an ihm selbst nicht in Ordnung ist. Das Kind empfmdet nicht die
Die Mutter ersetzt das, was das Baby will,durch ihre eigenen
Mutter als unzulänglich, sondern sich selbst. Seine ganze Energie
Wünsche, und wenn das Baby das produziert,was die Mutter
richtet sich jetzt darauf, die Mutter (oder sonstige Bezugsper
will, hat sie das Gefühl,mit ihrem Kind auf einer Wellenlänge zu
son) zu erreichen. In diesem Vorgang liegen die Wurzeln einer
sein. Die Kreativität des Babys bestätigt die Mutter in dem Ge-
fühl, das Richtige zu tun. Doch für das Baby erwächst das Gefühl
ihre Formulierung, wenn sie von ihrem strikten Fitnessstudio
von Sicherheit daraus, dass es das Misattunement zur emotionalen
Trainingsplan sprach oder ihr Dilemma bei Familienurlaubsauf
Grundlage der Beziehung macht. Das heißt, das Kind entwickelt
enthalten beschrieb, wenn sie ihren Sarong ablegen und sich am
bestimmteVerhaltens- und Seinsweisen, während es gleichzeitig
Strand im Badeanzug zeigen musste. Nach westlichen Kriterien
gegenüber allem, was aus ihm selbst kommt, misstrauisch ist. Das
war Colette eine extrem gut aussehende, elegante Frau und von
Baby wird dazu getrieben, das hervorzubringen, was die Mutter
einem beneidenswerten, fast schon lässigen französischen Chic.
akzeptieren und anerkennen kann.
Ja, neben ihr fühlte ich mich schlampig und schäbig. Ich bemerkte
Schauen wir uns die Geschichte von Colette an, einer tüch
Fusseln auf meiner Jacke, mein Haar saß ausgesprochen schlecht,
tigen, agilen, spirituell interessierten achtunddreißigjährigen
es war, als hätte ich plötzlich gar keinen Sinn ftir Kleidung mehr.
Mutter von vier Kindern. Colette wuchs in Indien auf, als dritte
Ich versuchte mir bei ihr etwas abzuschauen, bezaubert von ihrer
Tochter eines britischen Kolonialarztes und einer Mutter fran
ästhetischen Erscheinung und getrieben von dem sehnlichen
zösisch-ägyptischer Herkunft. Sie ging auf englische Schulen,
Wunsch, auch einmal über ein solches Savoir-faire zu verfügen.
studierte in Cambridge und Harvard und gab ihren Beruf als Phi
Es war eine seltsame Reaktion. In der Therapiesitzung zuvor
losophielehrerin auf, als sie einen erfolgreichen Musiker heirate
hatte ich mich körperlich noch vollkommen zufrieden gefühlt,
te und mit ihm eine Familie gründete. Colette und ihre Schwes
und in der nachfolgenden war ich es wieder. Ich hätte zwar nichts
tern litten seit der Pubertät phasenweise an Bulimie. Die Mutter
dagegen gehabt, auch so eine raffiniert geschneiderte Jacke oder
war sehr heikel, was ihr eigenes Essen anging, aber der Familien
so einen ausgestellten Rock zu besitzen wie Colette, aber ich
esstisch in Indien war immer üppig mit arabischen, indischen und
verspürte keinerlei Körperunsicherheit und keine irritierenden
französischen Speisen bestückt. Colette erinnert sich gern an die
körperlichen Gegenübertragungsgefühle.
Atmosphäre der Familienmahlzeiten und das Essen selbst, vor
Anscheinend übermittelte sie mir- oder empfmg ich jeden
allem im Kontrast zu den Entbehrungen im britischen Internat.
falls in ihrer Gegenwart - ein beträchtliches Unwohlbefinden
Die Hausmädchen in Indien verwöhnten die Kinder in der Küche
in meinem Körper. Es ging so weit, dass ich an den Tagen, an
mit besonderen Leckerbissen. Fern von zu Hause, im Internat,
denen sie kam, meine Kleidung und meine Schuhe mit besonde
begann Colette, sich absichtlich zu erbrechen, nachdem sie sich
rer Sorgfalt wählte. Ich wollte dieses unangenehme Gefühl kör
zum Tee mit Weißbrot und Marmelade vollgestopft hatte, und
perlicher Selbstverachtung nicht haben, ich wollte mich nicht so
Universität verfestigte sich das Muster aus Pressattacken
kritisch mustern, es war zu verwirrend. Andere gut aussehende
und Erbrechen für die nächsten zwanzig Jahre. Der tägliche Um
Frauen in meiner Praxis lösten bei mir keine derartigen Geftihle
gang mit der beharrlichen Gier ihres Körpers nach Essen und
aus, veranlassten mich nie, grübelnd vor meinem Kleiderschrank
dem ebenso durchgängigen Reflex, es wieder von sich zu geben,
zu stehen. Ihre Körperlichkeit gefiel mir vielleicht oder beein
war ihre regelmäßigste und verlässlichste Aktivität.
druckte mich, aber dass mein Körper sich so unerfreulich und
an der
Colette hatte sich nie ganz wohl in ihrer Haut gefühlt. Das war
86
missgestimmt anfühlte, kam kaum je vor. Mir war klar, dass das,
was ich da fühlte, sehr wahrscheinlich eine komplexe Version
durchdringen zu lassen. Doch das, was von meinem Gefühl her
von Colettes Gefühlen ihrem eigenen Körper gegenüber war,
nötig war - dass ich ihren Körper in meiner Psyche hielt, ihn im
der Niederschlag dessen, was sie durch ihre Mutter internalisiert
Geist in meinen Körper aufnahm, damit er sich dort einkuscheln
hatte, vermischt mit meinem Wunsch, dass sie ihre Körperlich
konnte und geschützt war und sich mit der Zeit als kostbar und
keit genießen möge, wie ich es normalerweise tat, und meinem
geliebt erfahren würde -, konnte nicht geschehen, da mein Kör
S elbstgefühl als Frau in dieser historischen Phase, da die Bilder
per, seiner üblichen Fähigkeiten beraubt, sich so beschnitten und
kultur unser Verhältnis zu unserem Körper zu einem hyperkri
unnütz anfühlte, so völlig außerstande, irgendetwas Wertvolles
tischen gemacht hat.
zu geben.
Ich hatte das Gefühl, dass ich es bei Colette mit einem »fal
Nach einer Therapiesitzung, als ich meine Notizen machen
schen Körper« zu tun hatte: einem Körper, der sich angepasst
ging, fühlte ich plötzlich ein heftiges Brennen auf meiner ge
hatte, der sich aufgrund des Nichtvorhandenseins einer Bezie
samten Haut. Ich hatte das G efühl, in Flammen zu stehen. In der
hung zu ihrem potenziellen oder »wahren« Körper11 ausgebildet
nächsten Sitzung erzählte Colette zum ersten Mal von ihrem
hatte und der jetzt, weil sie ihn nicht wirklich bewohnte, ihre
Bruder, der mit zwei Jahren, während er sich in der Obhut der
körperliche Existenz fragil machte. Colettes Mutter war eine
G roßeltern mütterlicherseits und des dortigen Hauspersonals
elegante Frau und auf eine jungmädchenhafte Weise sehr mit
befand, von einem Bord auf den heißen Herd gefallen und an
ihrem Äußeren beschäftigt. Auch heute noch, mit siebzig, wirkt
seinen Verbrennungen gestorben war. Das war vor Colettes Ge
sie chic und gepflegt. Sie spielt Tennis, um schlank zu bleiben.
burt passiert. Ich war traurig, aber auch verblüfft. Colette hatte
Wenn Colette von ihr spricht, sehe ich förmlich die übertragung
einen Weg gefunden, mir ohne Worte ein körperliches Erleben
eines falschen Körpers auf einen anderen - eine umgekehrte Ma
zu kommunizieren, das einen Aspekt ihres physischen Selbst
troschka-Puppe: der fragile Körper der Mutter im Inneren des
gefühls darstellte.
fragilen Körpers der Tochter. Beide lernten, großartig auszu
Auf der bewussten Ebene hatte Colette die Körperlichkeit
sehen, fühlten sich aber in ihrem Körper alles andere als wohl
ihrer Mutter als die einer schönen, elegant gekleideten Frau
oder zufrieden. Im Sprechzimmer hallte mein Körper von den
wahrgenommen. In Indien hatte Colette gern auf dem Bett ihrer
Problemen wider, die die Identifikation mit dem »falschen« Kör
Mutter in einem Zimmer mit langen, weißen Voile-Gardinen ge
per der Mutter bei Colette erzeugt hatte.
sessen und zugeschaut, wie die Dienerin die Mutter aufwendig
Wir arbeiteten direkt an ihren Körperschwierigkeiten. Ihre
frisierte und mit allen möglichen Schönheitsmittelchen behan
spirituelle Praxis führte sie dahin, täglich zu meditieren. Im
delte. Die Mutter hatte Colette ein wenig Parfüm aufgesprüht
Fitness-Gym übte sie, sich vor anderen Gym-Mitgliedern aus
und ihr einen Schal um die Schultern drapiert, um ihr zu bedeu
zuziehen, zu duschen, nur mit einem kleinen Handtuch bedeckt
ten, dass sie eines Tages eine ebenso glamouräse Frau sein würde.
zum Pool zu gehen und es dann am Beckenrand abzulegen. Sie
Colette hatte diese Situationen mit ihrer Mutter genossen, aber
versuchte, sich von der Lust ihres Ehemanns an ihrem Körper
diese Wahrnehmung überlagerte und verleugnete ein anderes
88
8g
Körpergefühl, das des brennenden Körpers, das, wie ich jetzt
durcharbeiteten und Worte fanden, um von Körpern zu spre
vermutete, ebenfalls von ihrer Mutter ausgegangen war und das
chen, die verzweifelt, trostlos und traurig waren, begannen wir,
ich in meiner Körper-Gegenübertragung wahrgenommen hatte.
Colettes monolithischen »falschen Körper« aufzubrechen und
In diesem brennenden Gefühl schienen Gefühle von Trauer, Ent
zu beleben, wenn auch mit schmerzlichen Gefühlen von Kummer
setzen, Schmerz, Scham, Angst und Unsicherheit encodiert, die
und Traurigkeit. Im Laufe dieses Prozesses, der natürlich kein
wahrscheinlich dem Körper von Colettes Mutter innewohnten
linearer war, sondern ein erratisches Vor und Zurück, begann
und die diese unweigerlich in die physische Interaktion mit Co
Colette um den Körper zu trauern, den sie nie gehabt hatte: den
lette eingebracht hatte. Ich spürte, dass mir übermittelt worden
»freien« Körper der Kindheit, den erwartungsvollen Körper der
war, was C olette von ihrer Mutter empfangen hatte
Jugend und den schwelgerischen Körper der frühen Erwach
die Pein
wegen des verbrannten Kindes.
senenjahre. Die Begegnung mit diesen entgangenen Körpern
Colette war als Kind offenbar von ihrer Mutter selten be
war sehr schmerzhaft, da sie Geftihle von Verlust, Sehnsucht
rührt worden, wenngleich die Dienstmädchen sie oft in die Arme
und Verzweiflung mit sich brachte. Jetzt wollte Colette, wie sie
genommen hatten und sie selbst eine sehr berührungsfreudige
es formulierte, ihren Körper und nicht den ihrer Mutter. Als sie
Mutter war. Colette und ihre Schwestern hatten allesamt Ess
das aussprach, fühlte ich mich prompt nicht mehr so schäbig.
störungen und Probleme im Bereich der Sexualität. Die Kör
Mein Körper war nicht mehr in erster Linie verachtenswert.
per-zu-Körper-Beziehung, die sie internalisiert hatten, war von
Colettes Bemerkungen über meine Schuhe - meine gelben Bal
Scham, Trauer, Pein, Angst und Unsicherheit geprägt. Uneinge
lerinas oder rosa K itten-Heels - wurden der Maßstab, an dem
standen hatte sie sich zu einem massiven Körperhorror verfes
ich ablas, dass sie meinen Körper von einem gewissen Wert fand.
tigt, der sich nicht auflösen ließ - nur weitergeben.
Sie war nicht mehr von ihm abgeschottet, und ich, jetzt reicher
Ich konnte das natürlich nicht wissen, aber indem ich im Ge
durch mein Verständnis ihres Schmerzes, hatte ebenfalls wieder
spräch über das Erleben ihrer Mutter und das körperliche Klima,
einen Körper. Es fühlte sich nicht mehr an, als sähe sie nur dessen
in dem Colette aufgewachsen war, die Wörter »Scham«, »Trau
Oberfläche. Es fühlte sich an, als absorbierte sie einen Körper,
er«, »Pein«, »Angst« und »Unsicherheit« benutzte, gelang es mir,
der für sich selbst da war und auch für sie. Mein Wunsch, dass
mich von den ansteckenden Aspekten der körperlichen Selbst
Colette einen lebendigen Körper haben sollte, und ihre nunmehr
hass-Gegenübertragung frei zu machen. Ich hatte wieder einen
vorhandene Fähigkeit, schmerzhafte Gefühle zu fühlen, hatten
rezeptiveren Körper. Anstelle des mausgrauen, zweitklassigen
ihren Körperhass in Bewegung gebracht.
Körpers, den ich in so vielen Sitzungen mit Colette gefühlt hat
Vorausgegangene Therapien hatten ihr zu vermitteln ver
te, hatte ich jetzt einen Körper, den wesentlich handhabbarere
sucht, dass sie ihren Selbsthass auf ihren Körper übertragen hat
Gefühle der Verzweiflung, Trostlosigkeit und Trauer erftillten
te, und sie dann ohne jede Möglichkeit, diesen verhassten Körper
Gefühle, die Colettes Situation angemessen waren.
anzugehen, sitzen lassen. Doch jetzt hatte sie - über die Körper
Indem wir diese emotionalen Kadenzen in meinem Körper
90
Gegenübertragung - ein Mittel gefunden, mich dazu zu bringen,
91
unsere Arbeit auf ihren Körper selbst zu fokussieren. Allmählich
Entschlossenheit und einer Denkweise heran, wie sie vielleicht
verstanden wir ihr bulimisches Essverhalten nicht mehr nur als
in der politischen Arena verständlich wäre. In der Brutalität, mit
Management problematischer Gefühle, sondern auch als Me
der wir unseren Körper beurteilen und behandeln, zeigt sich der
thode, einem Körper, der kein emotionales Myelin besaß, eine
verzweifelte Wunsch, dass er doch das darstellen möge, was er
stützende Hülle zu geben, ähnlich dem festen Einschlagen eines
unserer Meinung nach darstellen sollte. In unserer Zeit ist der
Babys in Wickeltücher. Die zwanzig Jahre exzessiven Essens und
Körper ein Schaustück. Glamourös, viril, vital, sportlich und
anschließenden Erbrechens, das ständige Training im Fitness
gesund soll er sein, doch diese G ebote produzieren Volatilität
Gym waren nicht nur das Bemühen gewesen, ihren Körper ru
und Instabilität, was das Unterfangen auf Dauer zum Scheitern
higzustellen und zu kontrollieren, sondern auch der Versuch,
verurteilt. Stattdessen werden Leistung und Darstellung nach
ihn real und stabil zu machen. Winnicott sagt, dass ein falsches
außen zum verzweifelten und oft zwanghaften Versuch, körper
Selbst sich nicht durchgängig lebendig fühlen kann. Es kann nur
liche Anerkennung zu erlangen. Sind Teenager, die ihre ganze
dadurch eine Art von Kontinuität und Lebendigkeit finden, dass
Energie darauf richten, Sexpartner aufzureißen oder »Fick
die betreffende Person sich Notsituationen erschafft und diese
freundschaften« zu schließen, sexuell wirklich so frei, wie sie er
überlebt, was ihr einen Beweis für ihre eigene Existenz liefert. So
scheinen möchten? G eht es Bodybuildern, die massenhaft Auf
hatte sich Colette durch ihre Bulimie tägliche Notsituationen er
baupräparate konsumieren, wirklich um Kraft und Ausdauer?
schaffen und sie überlebt, um sich auf diese Art kurzzeitig ihrer
Betreiben jugendliche Ritzerinnen, die überall in G roßbritannien
Existenz zu versichern.
ihre eigene Haut mit Klingen traktieren, nur eine Art Personal
Körperprobleme, ob sie sich nun in Essstörungen oder selbst
Branding? Ist das Annehmen von Cyber-Identitäten, bei denen
verletzendem Verhalten äußern, sind in Therapiepraxen all
der Körper beliebig veränderbar, aber zentral ist, einfach nur ein
gegenwärtig.12 Das ist neu. Ich konnte diesen rasanten Ausbrei
Spaß? Ich habe da meine Zweifel. Und sind die multiplen Körper
tungsprozess während meines Berufslebens verfolgen. Er fallt
von Menschen, die in verschiedene Persönlichkeiten oder Selbst
zeitlich mit der zwanghaften kulturellen Fokussierung auf den
Zustände schlüpfen oder an einer diagnostizierten dissoziativen
Körper zusammen. überall finden wir Ausdrucksformen der Su
Identitätsstörung leiden, Ausdruck einer freien Wahl der eige
che nach einem Körper. Fast jede/r redet in irgendeiner Form
nen Körperlichkeit? Mit Sicherheit nicht. Wir haben gesehen,
ob nun auf der ästhetischen, gesundheitlichen oder moralischen
dass j emand, der sich seiner Beine entledigen muss, weil sie ihn
Ebene - davon, das Beste aus dem eigenen Körper zu machen,
von seinem Gefühl her stören, nicht verrückt ist. Ist also jemand,
was die B esorgnis verrät, dass dieser Körper, so wie er ist, nicht
der süchtig nach Schönheitsoperationen ist, einfach nur eitel?
gut genug ist, dass er ein geeigneter, ja, sogar der angemessene
Das ist zu einfach. Ich glaube, dass man alle diese Erscheinun
Fokus ftir unser Unbehagen, unsere Ambitionen und Energien
gen auf der Körperebene eher als crises de corps manque verstehen
ist. Wir haben an die Stelle des Staatskörpers das Staat-Machen
kann: als Ausdruck des Wunsches und der Sehnsucht nach einem
mit dem eigenen Körper gesetzt und gehen an diesen mit einer
Körper
92
einem Körper, der zu fühlen vermag, der berührt wird
93
und in der Lage ist, Berührung zu empfangen, einem Körper, der
den durch das postmoderne Denken scheint die Not des prä
stabil ist und nicht Ort desorganisierter Empfindungen, die nach
integrierten Körpers geradezu zu bejubeln. Das Zelebrieren des
Management schreien.
Multiplen ignoriert das Streben der Einzelnen nach körperlicher
Zum postmodernen Denken gehören die Verherrlichung des
Kohärenz.
Multiplen, Fließenden und Komplexen und das Postulat, dass
Viele Menschen machen eine Therapie, weil sie in ihrem
Körperlichkeit - etwa Weiblichkeit und Männlichkeit - etwas ist,
Körper unglücklich sind. Psychotherapeuten sind nicht immun
das wir erlangen, indem wir den Körper, den wir haben wollen,
gegen die kulturellen Imperative Fitness und Jugendlichkeit; sie
darstellen.1� In diesem theoretischen Rahmen kann der Körper
verstehen die Wünsche und die Scham ihrer Patienten, spüren
sein, was immer wir wollen, ist Körperlichkeit nicht mehr als ein
selbst den Druck, der auf unseren Körpern lastet. Eine Thera
symbolisches Konstrukt.
peutin wird möglicherweise ihre Patientinnen betrachten und
So spielerisch-produktiv solche Denkansätze in der Litera
sich sagen, dass mit deren Körpern doch nicht viel im Argen
turtheorie sein mögen, sind sie es doch ganz sicher nicht für
liegt. Sie wird vielleicht die Bemühungen der Patientinnen um
Menschen, die ihre körperliche Steuerlosigkeit dahin treibt,
Fitness und Selbstkontrolle unterstützen, j a, sich womöglich
extreme Auswege aus dem zu suchen, was sie als körperliche
sogar wünschen, sie hätte selbst ein wenig von dieser Zwang
Inkongruenzen erleben. Postmoderne Theorie ist unzulänglich,
haftigkeit. Auffallen wird ihr vielleicht erst dann etwas, wenn
wenn es um die Bedürfnisse des postindustriellen Körpers geht.
eine Patientin etwas Extremes plant, so wie Andrew, der seine
Sie zelebriert die Fragmentierung, während es in Wirklichkeit
Beine loswerden wollte. In den USA, Argentinien, Kolumbien
gilt, die Fragmentierung zu verstehen und zu dekonstruieren
und Brasilien würde der Wunsch nach Schönheitsoperationen
und dann die Fragmente wieder zusammenzufügen. Menschen,
bei Analysepatientinnen nicht als Alarmzeichen gelten. Auf ei
deren Kleidungsfundus so vielfaltig und deren Kleidungsstil so
nem internationalen Psychoanalyse-Kongress vor sechs Jahren
wandelbar ist, dass man sie von einer Begegnung zur nächsten
in Säo Paulo wurde mir vor Augen geführt, welch altmodisches
kaum wiedererkennt, sind nicht wirklich in ihrem Körper zu
Kuriosum ich als nicht von Kopf bis Fuß renovierte Frau dar
Hause. Aus meiner therapeutischen Erfahrung mit labilen Kör
stellte. Wenn eine Patientin an den Schamlippen operiert werden
pern weiß ich, dass deren »Besitzerinnen« auf der Suche nach
oder sich einen als hinderlich erlebten gesunden Körperteil ent
einer Verankerung sind, die dann vielleicht, wenn sie gesichert
fernen lassen will, wird diese Vorstellung der Therapeutin viel
ist, spielerische Maskeraden zulässt. Doch zuerst muss da ein
leicht so sehr widerstreben, dass sie dahinter eine beträchtlich
mal ein Körper sein. Sams Wachstumsstörungen haben nichts
außerhalb der Norm liegende Körperdysmorphie erkennt. Meis
mit Performanz nach außen zu tun. Das hat er gemeistert. Das
tens aber verstehen Psychotherapeutinnen Patientinnenwünsche
Schwierige für ihn - wie für so viele Menschen mit körperlichen
nach einem fettabgesaugten Bauch, gestraffter Haut oder der
Störungen
ist es, überhaupt erst mal einen Körper zu haben.
Haltung, dem Gang, der Gesundheit einer jüngeren Frau. Wie
Die Verherrlichung einer Vielzahl von Selbst-/Körperzustän-
könnte es auch anders sein - in einer postindustriellen verwest-
94
95
lichten Welt, in der der Körper zu einer Serie visueller Bilder und
oder diejenige erst einmal weitermachen kann - bis zur nächsten
einem Arbeitsprozess an sich geworden ist? Wie kann da der
Krise. Besonders leicht ist es, einen provisorischen Reparatur
individuelle Körper mithalten? Wir fabrizieren unseren Körper.
plan, den der Patient/die Patientin anbietet - ein neues Fitness
Aber ist das nicht trotzdem verrückt? Die tägliche Berieselung
programm, eine neue Diät, Muskeltraining, einen Ernährungs
mit Kommentaren über unseren Körper und seine Mängel ist
plan, eine Runderneuerung der Garderobe -, zu unterstützen
Ausdruck einer Kultur, die seit der Industrialisierung unsere
und als selbstkompetent und stärkend zu betrachten. Es entlastet
körperliche Enteignung betreibt.14 Unsere Tragödie ist es, dass
uns, und es entlastet die Patienten. Aber es ist nur Flickwerk, nur
wir diese Sozialpathologie individuell und privat erleben.15
Mogelei. Die Psychoanalyse hat ehrgeizigere Ziele. Wir streben
Ein Körper, der nicht mehr wächst wie der von Sam, ein von
es an, andere zu befahigen, wirklich in ihrem Leben und ihrem
Kolitis geplagter Körper wie der von Herta, eine Körperdys
Körper zu sein und beides als generativ und lebendig zu emp
morphie wie die von Colette - das alles wirft mehr Fragen auf, als
finden - einschließlich des lebendigen Fühlens normaler Unzu
dieses kurze Buch beantworten kann. Im G egensatz zur derzeit
friedenheiten und Sehnsüchte.
maßgeblichen Theorie vertrete ich die Auffassung, dass man den Körper nicht immer als Diener oder Statist der Psyche be handeln soll. Die Wurzeln des Leidens in der Psyche zu suchen, ermöglicht oft kein ausreichendes Verstehen. Es ist die einfache re Form der Analyse, vermag aber oft das gravierende Unwohl befinden des Körpers selbst nicht zu erfassen. Den symptoma tischen Körper als Signal eines Körpers zu begreifen, der darum ringt, sich und seine Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen oder auch nur zu existieren, ist ein schwierigerer, aber wichtiger An satz. Menschen machen eine Therapie, wenn sie sich beschädigt fühlen. Sie tun es nicht einfach aus intellektuellem Interesse. Wenn es also Körperprobleme anzugehen gilt, sollte da aufsei ten des Therapeuten oder der Therapeutin kein Zögern, kein Unwissen oder mangelndes Können sein. Das behindert nur die Arbeit mit Patienten, die an schwerem Körperhass leiden. Es ist oft relativ leicht, jemanden mit einem Körperproblem kurzfristig zusammenzuflicken. Therapeuten wissen, wie das geht, wie man die vorhandenen Abwehrstrukturen stärken kann, sodass der-
g6
97
4 1 Körper - rea l, visuel l , virtuel l Wählen Sie einen Vornamen und suchen Sie sich aus dem Drop down-Menü einen Nachnamen aus. Wählen Sie Ihren »Avatar�< Ihre Screen-Persona -, aber keine Angst, wenn er Ihnen doch nicht gefallt, können Sie ihn immer noch verändern. Wählen Sie ein Passwort und chatten Sie los. Binnen Sekunden werden Sie von anderen Avataren begrüßt und gefragt, wo Sie herkommen und wie alt Sie sind. Wenn die anderen feststellen, dass Sie zu alt für sie sind, werden sie sich höflich davonmachen, und Sie kön nen per Button-Klick losfliegen und sich zu ca. acht Millionen weiteren Cyberland-Bewohnern gesellen, die zum Teil ihre Tage damit zubringen, ein virtuelles Leben in S econd Life zu führen, wo sie sich Häuser zugelegt und Unternehmen gegründet haben. Während ich dieses Kapitel tippe, läuft im Hintergrund die Website von Second Life. Ich höre die Klicks von Leuten, die mich begrüßen und auschecken kommen. Ich bin zweifellos eine Enttäuschung - mit einem Avatar, der ein Faksimile von mir ist: eine nicht mehr junge Frau, die hier ist, um zu recherchieren, was es mit dem Phänomen der Avatare auf sich hat und was den Reiz eines Lebens ausmacht, das über elektronische Bits und Bytes gelebt wird statt in jener Form von Verkörperung, die das
99
Leben auf der Erde bisher kennzeichnete. Ich hätte es machen
samen Interessen ergeben kann, sind toll. Auf informelle Weise
können wie die meisten - so tun, als wäre ich jemand anders,
und fast ohne Zeitverzögerung entsteht spontane Nähe zwi
ein Spanier von Mitte dreißig, der als Architekt tätig ist, oder
schen Wissenschaftlern, die sich nie gesehen haben. Sie bilden
eine junge Frau, die Abstand von ihrer Zwillingsschwester in
kurzzeitig eine Interessengemeinschaft und zerstreuen sich dann
G eorgia sucht. Die Männer, die mich begrüßt und sich dann,
so schnell wieder, wie sie zusammengekommen sind.
als sie mein Alter erfuhren, aufs Höflichste verdrückt haben,
Es gibt aber auch Risiken. Die Unmittelbarkeit der E-Mail
sind möglicherweise Altersgenossen von mir, die ihre Jugend
und Internetkommunikation produziert unerwartete emotionale
erinnerungen wieder aufleben lassen möchten, jetzt, da sie sich
Verwicklungen. Wie das S chulmädchen, das sich auf der Piste
der Schwelle des Alters nähern und über die Sterblichkeit nach
in den Skilehrer mit der flotten Zipfelmütze verknallt, nur um
zudenken beginnen. Aber die materielle Realität ihrer alternden
sich dann Stunden später auf der Tanzfläche einem lüsternen
Körper anerkennen - o nein! Sie wollen junges Fleisch, selbst
Vierzigjährigen mit Halbglatze und vage bekannten G esichts
wenn - oder vielleicht auch gerade wenn
es nur eine Fantasie
zügen gegenüberzusehen, laufen wir Gefahr, auf einen Cyber
ist. Second Life ist ein Raum, in dem man sich eine alternative
space- G efahrten intensive Sehnsüchte und Wünsche zu pro
Identität erschaffen kann. Es fungiert als eine quasimaterialisier
jizieren und uns auf eine Weise verstanden und widergespiegelt
te Projektion von Wünschen. Jemand, der arm ist, kann sich hier
zu fühlen wie nie zuvor. Menschen verlieben sich online, nicht
eine Insel »kaufen«. Jemand ohne jedes musikalische Gehör kann
nur auf Friends Reunited, wenn sie dort einen alten Schwarm
singen. Ein Körperbehinderter kann gärtnern. Er kann am nor
wiedergefunden haben, oder auf einer von Hunderten und
malen Leben teilhaben. Wobei Normalität ohnehin ein seltsamer
Aberhunderten Dating-Websites, sondern auch in E-Mail-Kor
Begriff ist, erst recht aber in Second Life.
respondenzen mit Kollegen oder Kolleginnen, die sie noch nie
Die durch Algorithmen erzeugten elektrischen Impulse sind
leibhaftig gesehen haben.
mir fremd, nicht aber meinen Kindern, für die der Computer
Die Abwesenheit des Körperlichen macht seltsame Dinge
bildschirm ein ebenso zentraler Bestandteil ihres Lebens ist wie
mit den Menschen. Sie entmaterialisiert ihre Existenz und er
für mich der Coffeeshop oder die B ibliothek. Hier treffen sie
möglicht die Ausbildung neuer Identitäten im Sinne der Post
sich und tauschen Informationen aus, entwickeln Identitäten, die
moderne. Es gibt keine Beschränkung durch das Physische, das
aus ihrer Fantasie erwachsen und nicht aus den Tatsachen ihres
Faktische, durch die Person, die man bisher war. Im Cyberspace
Lebens. Nicht dass der Computer für mich nicht lebenswichtig
kann jeder, der Zugang zu einem Computer und zum Internet
wäre. Ob ich Papers schreibe, mit Kollegen e-maile, Artikel he
hat, zum Künstler werden und Identitäten, Persönlichkeiten und
runterlade oder recherchiere - alles findet an meinem Laptop
Körper erschaffen, die bisher nur in seiner Fantasie existierten
statt. Es gibt Hunderte von Menschen in aller Welt, die mich
oder noch nicht einmal dort. Die Computertechnologie weckt
nur elektronisch kennen. Die Herzlichkeit mancher E-Mails
eigene Formen von Fantasie, die uns Dinge erschaffen lässt, von
zwischen uns und der intensive Austausch, der sich aus gemein-
denen wir bisher keine Vorstellung hatten. Das Internet demo-
100
101
kratisiert und erweitert die Fantasie und ermöglicht es Men
Fähigkeiten des Popstars steckt, wird durch die Promotion des
schen, ihre Träume, so obskur, ausgefallen oder flüchtig sie auch
Körpers im Video überlagert.
sein mögen, in neuen Interessengemeinschaften auszuagieren.
Im Kinofilm multipliziert sich die Körperfiktion, wenn etwa
Auf dem anderen allgegenwärtigen Bildschirmgerät, dem
in Das Bourne Ultimatum die körperliche Kraft und Eleganz von
Fernseher, demonstrieren Sportlerinnen und Sportler die Kräf
Matt Darnon und seinen Mitspielern im Mittelpunkt stehen. Im
te und Fähigkeiten von Körpern, die das Ergebnis j ahrelangen
Abspann sehen wir, dass an den Kampfszenen und Verfolgungs
Trainings sind. Hier ist nichts Fiktives im Spiel, es sind vielmehr
jagden 169 Stunt-Leute und siebzig für Spezial- und digitale
Disziplin, übung und hervorragende körperliche Koordination,
Effekte verantwortliche Personen beteiligt waren. Die physi
die diese Menschen befähigen, sich gewandt und strategisch ge
schen und technischen Fähigkeiten all dieser Menschen stecken
schickt zu bewegen, ob nun beim Eistanzen oder beim Zuspiel
also hinter dem, was wie die tänzerische Athletik einiger weniger
von Bällen per Arm oder Bein. Ihr Körper ist ihr Produkt, er
aussieht. Wir akzeptieren die fantastischen Aspekte der Bourne
arbeitet mithilfe von Trainern, Sportphysiotherapeuten, Ärz
Filme: Sie sind Teil des Genusses.
ten und Ernährungsspezialisten, die alles tun, um ihn in einem Topzustand zu erhalten.
Im Unterhaltungsbereich wurden immer schon künstliche Mittel eingesetzt. Zauberkunststücke faszinieren uns deshalb,
Die Körperlichkeit des Leistungssportlers oder der Leis
weil sie uns vor Rätsel stellen. Wir können uns nicht restlos er
tungssportlerin ist von anderer Art als die wirbelnden Bilder der
klären, wie der Kartentrick geht oder wie das Kaninchen aus
Musiksender, jene Drei-Minuten-Dramen, angefüllt mit wech
einem eben noch augenscheinlich leeren Ärmel hervorkommt.
selnden Aufmachungen/Posen und Spezialeffekten - multiplen
Aber wir denken nicht groß darüber nach und tun es auch im
Identitäten, die der Popstar im Lauf eines Songs darzustellen hat.
Kino nicht, es sei denn, wir studieren den Abspann und sehen,
Er oder sie ist nicht mehr auf eine einzige Identität beschränkt.
wie viele Körper bei den Stunts und der digitalen Montage die
G anz im G egenteil. Die Pop-Diva muss Wandelbarkeit zeigen,
ser choreografierten Bewegungsabläufe im Spiel waren. Dann
indem sie in viele verschiedene Rollen schlüpft: kesses Warking
schmunzeln wir vielleicht über uns selbst, weil uns die Helden
Girl, Domina, unschuldiges kleines Mädchen etc. Der männliche
stückehen von Matt Darnon und seinen Widersachern so in ihren
Popstar muss Macho, mit allen Wassern gewaschenes Straßen
Bann gezogen haben.
gangmitglied und weltläufiger G eschäftsmann in Personalunion
Im Großen und Ganzen versuchen wir aber nicht, diese Be
sein. Der Körper des Sportlers und der des Popstars unterschei
wegungen nachzuahmen. Wir begreifen sie als Kunstprodukt.
den sich grundlegend. Die Muskeln und die Bewegungsanmut
Wir wissen, dass sie nicht im Bereich der Fähigkeiten eines ein
des Sportlers resultieren aus langjährigem Training, die äußere
zelnen Menschen liegen. Wenn meine Kinder vor vielen Jahren
Erscheinung des Popstars hingegen basiert auf den Künsten des
Karate Kid guckten, bemühten sie sich hinterher, sich so zu be
Video-Producers, der mit den jeweiligen Hypes der aktuellen
wegen, wie es Mr Miyagi lehrte. Heute ist das nicht mehr so.
visuellen Kultur spielt. Das Training, das in den stimmlichen
Kinder bedienen sich der Super-»Körper« ihrer Avatare, um
1 02
1 03
Tricks nachzuspielen, die sie gesehen haben. Okay, es mag sein,
terziehen. Kein Problem. Kann auf dem Heimweg von der Schule
dass sie sich einen Trick aussuchen, um ihn selbst zu perfek
erledigt werden. Sie haben Angst, dass Ihr Penis zu kurz oder
tionieren, aber sie erwarten keine vielfältigen Talente von ihrem
nicht dick genug ist? Es gibt phalloplastische Verfahren, Län
eigenen, stofflichen Körper. Sie können ja Spiderman und Bat
ge oder Umfang zu erhöhen. Sie haben sich überzeugen lassen,
man in Bytes sein. Diese neue Form der Imagination akzeptieren
dass Schamlippen und Scheide nach einer G eburt der Straffung
sie. Ihre Energie richtet sich auf die digitalen Figuren, die die Be
bedürfen, oder wollen unbedingt Ihre Jungfräulichkeit wieder
wegungen an ihrer Stelle widerspiegeln werden.
herstellen lassen? Chirurgen helfen Ihnen gern.1 Haut zu hell?
Anders die Wirkung jener künstlichen M ittel, die die Schön
Es gibt Cremes oder Solarien, die sie dunkler tönen. Haut zu
heits- und Modeindustrie einsetzt. Hier kollabiert der Raum
dunkel? Es gibt eine Vielzahl an Produkten, darunter auch ein
zwischen Fantasie und Nachahmung, das eine verschmilzt mit
Gen-Silencer, um sie aufzuhellen und weiß zu machen. Sie füh
dem Wunsch nach dem anderen. Stylisten mögen argumen
len sich zu klein? Schließen Sie sich einfach den vielen Chinesen
tieren, dass sie ja nur eine ähnliche Art von Magie betreiben wie
an, die Modernität damit verbinden, sich eine zehn Zentimeter
die Leute, die hinter Matt Damons Filmpersona stecken, aber
lange Metallstange in den Oberschenkel einsetzen zu lassen, um
das ist ein unzulässiger Vergleich. Matt Damons Heldenstück
auf Augenhöhe mitzuspielen. Sie fühlen sich als Frau zu groß
ehen sollen uns unterhalten, nicht zur Nachahmung bewegen.
geraten? Lassen Sie sich wie die Skandinavierinnen, denen es
Die Industrie, die ihn erschaffen hat, ist nicht auf seine physi
ebenso geht, den Oberschenkel brechen und verkürzen. Brüs
sche Vervielfaltigung angewiesen. Die vielen Vorher-nachher
te zu groß? Hängebrüste? Wie wär's mit einer Straffung und
Endlich
Verkleinerung? Brüste zu klein? Da gibt es Implantate oder die
zeigen in endloser Folge
neuere, »natürlichere« Methode, Fleisch aus dem Rücken zu ver
gewöhnliche - zumeist weibliche - Körper im Prozess der Umge
pflanzen. Erschlaffte Kinnpartie, aber keine Lust auf ein Face
staltung. Wangenknochen, Zähne, Nasen, Lippen, Falten, Brüste,
lifting? Versuchen Sie's doch mit einem dünnen Stahlband unter
Brustmuskeln, Beine, H interteile, Kinne, Schamlippen, Bäuche,
der Haut.
Fernsehsendungen beiderseits des Atlantiks hingegen
schön!
10
Years Youn9 er, Extrem schön
-
Taillen, Haaransätze, Ohren, Hälse, Hautpigmentierung und
Roboteroperationen, chemische Peelings, das Weißen von
Körperbehaarung werden zu Modelliermasse in den Händen
Zähnen, das Färben, Wellen oder Glätten von Haaren sind heute
von Schönheitschirurgen, Zahnärzten und Hautärzten, die den
Banalitäten. Manche solcher Techniken sind Jahrtausende alt.
Körper umgestalten und in sein Alter Ego verwandeln, sodass
Die menschliche G estalt zu schmücken und zu verändern war
das Endprodukt neue Schönheitsmaßstäbe für uns alle setzt.
immer schon Teil der menschlichen Kultur. Bei einigen Völkern
Sie möchten aussehen wie Ihr Lieblingsfilmstar? Dieser
war und ist Vorhautbeschneidung, Klitorisbeschneidung oder
Wunsch lässt sich erfüllen. Sie möchten westliche Augenlider?
das Einbinden der Füße üblich. Bei anderen, wo Stammesnarben
Machen Sie's einfach wie die geschätzten fünfzig Prozent der
im Gesicht die Norm waren, galt jemand ohne solche Narben als
jungen Koreanerinnen, die sich dem entsprechenden Eingriffun-
ein Wesen, das zu niemandem gehörte und keinen gesicherten
1 04
10 5
Platz hatte (ähnlich wie ein uneheliches Kind im Großbritannien
die er selbst gesetzt hat. In der Beschäftigung mit ihr stellt er
oder in den USA der Fünfzigerj ahre).
ihr den Körper in Aussicht, den haben zu können sie sich nie
Neu hingegen ist heute, dass die körperliche Umwandlung
hätte träumen lassen. Er ist voller Zuversicht und Überzeugungs
nicht mehr mit einem gesellschaftlichen Ritual verbunden ist,
kraft. Er behandelt ihre Wünsche mit Ernst, aber auch so, als
sondern Teil des Strebens der Einzelnen, das zu erlangen, was
buchte sie ihren Traumurlaub. In Brasilien hilft sogar der Staat
als akzeptabler Körper gilt. Wer nicht das Geld für Schönheits
bei der Verwirklichung des Traums. Er gewährt aus öffentlichen
operationen oder patentierte Cremes hat, muss erfinderisch
Mitteln finanzierte Brustvergrößerungen zur Behandlung von
sein. Ärmere Mädchen und Frauen in chinesischen G roßstädten
Selbstwertproblemen, weil er sie für billiger erachtet als psycho
basteln sich Klebestreifchen für die Augenlider, um die west
therapeutische Hilfe. Unterdessen propagieren Zeitungen in
liche Augenform zu kopieren. Manch junge Frau trägt mehrere
westlichen Ländern Urlaub, kombiniert mit Schönheitsoperatio
solcher selbst gemachten Lidoffenhalter mit sich herum und ver
nen, in Singapur, Thailand, Ungarn und Kolumbien. Da schön
schwindet stündlich auf die Toilette, um vor dem Spiegel ihre
heitschirurgische Eingriffe immer verbreiteter und immer leich
»Augenkorrektur« vorzunehmen, während sich ihre männlichen
ter zugänglich sind, werden einen die Leute bald fragen, warum
Freunde Socken in die Schuhe stopfen, um größer zu wirken.
man seinen Körper noch nicht hat renovieren lassen - als wäre
Jede/r ist aufgefordert, die vermeintlichen Mängel des eigenen
er eine schäbige alte Küche. Fortschritte der Zellreparatur- und
Körpers nach besten Kräften auszubügeln.
Hauterneuerungstechnologie - einschließlich der in den Start
Und ebenfalls neu ist heute die breite Zugänglichkeit der
löchern stehenden Stammzellentechnologie
verändern das
Optionen. Schönheitsoperationen werden immer mehr zu ei
Bild der plastischen Chirurgie} Man kündigt uns bereits an, dass
nem normalen KonsumartikeL Jugendliche diskutieren, was sie
wir schon bald in Körper-Shops Ersatzblasen und -gebärmütter,
»machen lassen« werden. Eine Rhetorik des Empowerment/der
künstliche Netzhäute, Gehirnzellentransplantate und derglei
Selbstkompetenz2 weckt und fordert ihre Wünsche und redet
chen erwerben werden.4
ihnen ein, sich nicht verschönern zu lassen wäre ein Zeichen
In ihren Anfangen profitierten die Schönheitstechnologien
von Selbstvernachlässigung. Catherine Baker-Pitts' Studie über
von medizinischen Fortschritten, die durch die Aufgabe hervor
Frauen und Schönheitschirurgie beschreibt den Prozess, der ab
gerufen wurden, mit den schweren Verbrennungen zahlreicher
läuft, wenn Frauen ihren Wunsch verfolgen, sich mithilfe eines
im Zweiten Weltkrieg abgeschossener Flieger umzugehen. Das
verständnisvollen Arztes einen anderen Körper zu erschaffen.
war ein gänzlich anderer Imperativ als das heutige Schönheits
Der Schönheitschirurg, autoritativ und fürsorglich zugleich,
gebot. Bei den verwundeten Fliegern ging es um Wiederher
wird zur urteilenden Instanz, was weibliche Schönheit angeht.
stellung. Der Flugzeugtreibstoff verbrannte mit so hoher Tem
Er zeigt Verständnis für das Leiden seiner Patientin und de
peratur, dass die Verbrennungen der Männer alles überstiegen,
monstriert ihr, wie er verschiedene Aspekte ihres Körpers ver
womit es die Medizin je zu tun gehabt hatte, und innovative,
ändern kann, damit sie den Schönheitsstandards entsprechen,
experimentelle Verfahren nötig waren, um zerstörte G esichts-
106
1 07
haut, Nasen und Ohren wieder aufzubauen. Dadurch machte die
beargwöhnt, wenn sie ihre neuen schönheitschirurgischen Er
plastische Chirurgie einen gewaltigen Sprung.
werbungen nicht öffentlich zur Schau stellen. Gewöhnlichen
Archibald Mclndoe hieß der engagierte Arzt, der an den
Frauen - denn es sind meist Frauen -, die an Körperdysmorphie
Fliegern neue Methoden zur Behandlung von Verbrennungen
und -Unzufriedenheit leiden, geben die Fernsehshows Gelegen
erprobte. In die Annalen der Medizin ging er nicht nur als gro
heit, in Sachen Körperunzufriedenheit zu konkurrieren und als
ßer Chirurg ein, sondern auch als ein mitfühlender Arzt, der
Preis eine Umgestaltung von Kopf bis Fuß zu gewinnen. Nach
daraufbedacht war, diesen schrecklich entstellten Männern, die
dem, was die Teilnehmerinnen erzählen, haben auch sie eine Art
mehrere Operationen vor sich hatten, möglichst gute psycholo
Krieg durchlebt. Der Vergleich ist natürlich übertrieben, aber ihr
gische Bedingungen zu schaffen. Da er seine Sache wirksam zu
Drang, sich operieren zu lassen, resultiert tatsächlich aus einem
vertreten verstand, brachte er die Royal Air Force dazu, ihm
Angriff auf Frauen - und zunehmend auch Männer -, der verhee
die gewünschte Klinikeinrichtung zu bauen und zudem eine
rend genug ist, um sie zu der Überzeugung gebracht zu haben,
große Zahl »hübscher« Krankenschwestern zu requirieren. Die
dass der Körper, in dem sie leben, dringend der Umformung
Männer wurden ermutigt, sich im Krankenhaus wie zu Hause
bedarf.
zu fühlen und Uniform oder Zivilkleidung zu tragen. Unter den
Die Schönheitschirurgie, nominell ein Bereich der Medizin,7
Betten lagerten Bierkästen, und manche der Männer assistier
ist eine Wachstumsindustrie. Der weltweite Umsatz mit schön
ten bei Operationen. Um das Stigma wegen der rekonstruierten
heitschirurgischen Maßnahmen und kosmetischer Gesichtsver
Gesichter zu minimieren, wurden die Männer in Filmpremieren
jüngung wurde für 2007 auf fast 14 Milliarden Dollar geschätzt8
im London der Kriegsjahre ausgeführt und dort als Ehrengäste
und wächst jährlich um eine Milliarde Dollar. Die Studie »Facial
gefeiert.
Cosmetic Surgery und Rejuvenation Markets« sagte der plas
Die Mitglieder des Versuchskaninchen-KlubsS, wie sie
tischen Chirurgie ein anhaltendes Wachstum voraus und bezif
sich bald nannten, kämpften mit körperlichen und seelischen
ferte die Zahl der Eingriffe im Jahr 2006 auf über 21 Millionen.
Schmerzen. Sie wurden öffentlich als Menschen präsentiert, die
In Argentinien gehören Schönheitsoperationen bereits so selbst
in diesem Krieg einen hohen Preis gezahlt hatten. Sie waren bei
verständlich zum Leben, dass sie von Krankenversicherungen
Flugeinsätzen für ihr Land abgeschossen worden. Man hatte sie
übernommen werden.9 Der weltweite Umsatz mit speziellen
für ihre Tapferkeit zu ehren und nicht wegen ihrer gezeichneten
»Anti-Aging«-Cremes und -Lotionen, heute Kosmozeutika ge
G esichter zu stigmatisieren.
nannt, um zu suggerieren, dass es sich um »wissenschaftliche«
Heute hingegen sind Menschen, die nach plastischen Opera
Heilmittel gegen die Krankheit Alter handelt, wurde für 2004
tionen öffentlich präsentiert werden, meist Fernsehshow-Ge
auf über 1,58 Milliarden Dollar geschätzt und dürfte sich, bei
winner. Kosmetische Operationen sind mittlerweile etwas, das
einem prognostizierten jährlichen Wachstum um 12,6 Prozent
man nicht verheimlicht, sondern aller Welt kundtut.6 Promi
weltweit, bis 2009 mit 2,86 Milliarden nahezu verdoppelt haben.
nente werden gefeiert, wenn sie sich »outen«, und getadelt oder
Das Wachstum der Märkte wird dadurch beschleunigt, dass in-
108
109
zwischen bereits Verbrauchern in den Dreißigern rezeptfreie
so viele potenzielle Schönheitschirurgie-Patientinnen in der
und rezeptpflichtige Cremes und sonstige Produkte angedient
Praxis ihres Arztes eine Broschüre »Gönnen Sie sich die Schön
werden, die sie angeblich benötigen, um durch die Reparatur
heitskorrektur, die Sie möchten - gleich heute!«, in der stand,
sonnengeschädigter Hautzellen der Hautalterung vorzubeugen.
dass eine Schwangerschaft eine Frau nicht lebenslang zeichnen
Immer jüngere Frauen - und zunehmend auch Männer - werden
müsse. Eine Schönheitsoperation könne sie wieder sexy machen
gewarnt, dass der Alterungsprozess früh beginnt. Der Einsatz
und die physischen Spuren des G ebärens und Stillens tilgen.
unter vierzigjähriger Models bei der Werbung für solche Pro
Dr. D'Amico, Vorsitzender der amerikanischen Vereinigung
dukte untermauert die Suggestion, dass es beizeiten auf der Hut
plastischer Chirurgen, beschreibt den weiblichen Körper nach
zu sein gilt.10
einer Schwangerschaft als wiederherstellungsbedürftig und
»Früh anfangen, häufig wiederholen« lautet das Mantra der
vermittelt so das G efühl, dass Fortpflanzung den Körper be
Schönheitschirurgen. Sie verkünden es, um ihre Märkte zu er
schädigt.11 Kein Wunder, dass Kreditfirmen, die bisher Auto
weitern und ihre ökonomische Position zu sichern. Und sie sind
käufe finanzierten, einen lukrativen neuen Markt darin entdeckt
damit überaus erfolgreich. In der Stadt Teheran gibt es 3000
haben, Frauen wie Sandra Kredite für Schönheitsoperationen
Schönheitschirurgen: Rhinoplastik - Nasenkorrektur - ist der
zu geben - im Gesamtvolumen von bis zu einer Milliarde Dollar
beliebteste Eingriff. Er kostet 3000 Dollar, wird an Männern und
jährlich. Erstaunlicherweise haben etwa ein Drittel aller Personen
Frauen vorgenommen, und es gibt in Iran Chirurgen, die im Lauf
in Nordamerika, die eine Schönheitsoperation in Betracht zie
ihres Berufslebens 30 ooo Operationen (oder fünf pro Tag) vor
hen, ein Haushaltseinkommen von unter 30 ooo Dollar im Jahr.
genommen haben. Schönheitsoperationen sind ein Konsumarti
Manche betrachten die Operation als Ticket zum ökonomischen
kel geworden - etwas, das man sich gönnt wie einen Urlaub. Mir
Erfolg: Sie brauchen ein bestimmtes Aussehen, um beruflich wei
wird ganz blümerant, wenn ich mir irgendeine der derzeit an
terzukommen oder - womit heute ebenfalls geworben wird - um
gebotenen Prozeduren vorstelle. Während für mich chirurgische
ihren Job zu behalten, wenn sie zwar innerlich jung geblieben
Eingriffe immer noch etwas sind, das man tunliehst vermeidet,
sind, man es ihnen aber wegen ihres erschlaffenden G esichts
solange es nicht aus medizinischen Gründen unbedingt notwen
nicht ansieht. Für andere ist die Schönheitsoperation das Mit
dig ist, sehen das jüngere Leute anders. Durch Fernsehsendun
tel zur Teilhabe am amerikanischen Traum, der immer schon
gen weichgeklopft, sparen sie darauf. Sie fiebern dem entgegen.
Volksversionen - ob Jedermann-Swimmingpools, billige, aber
Und sie betrachten es, wie Baker-Pitts in ihren Studien zeigt, als
modische Kleidung, Hamburger-Sparmenüs oder preisgünstige
ein Recht.
Autos - dessen generierte, was teuer und erstrebenswert ist.
Sandra, eine dreiunddreißigjährige Mutter zweier Kinder
Während Fortschritte der auf Verbrennungen spezialisierten
aus Brooklyn, New York, ist ein gutes Beispiel. Sie nahm nach
Medizin und innovative Hautzüchtungsmethoden die technische
der G eburt ihres zweiten Kindes einen Kredit von 10 8oo Dol
Grundlage der neuen Schönheitschirurgie bilden, sind es foto
lar für eine Brustrekonstruktion auf. Vermutlich fand sie wie
grafische Verfahren - sowohl die bewegten Bilder von Film und
110
111
Fernsehen als auch das Foto -, die die neue visuelle Grammatik hervorgebracht haben. Ihre Wirkung darf man nicht unterschät zen. Sie verändern unser Verhältnis zu unserem Körper. John Bergers hellsichtiger Ausspruch, dass (bürgerliche) Frauen sich als diejenigen sehen, die beobachtet werden, müsste heute da hin gehend umformuliert werden, dass Frauen die Perspektive des Betrachters einnehmen, sich selbst von außen sehen und fest stellen, dass sie ständig hinter den Erwartungen zurückbleiben, die unsere allgegenwärtige, alles durchdringende Bilderkultur setzt. Vor sechzig Jahren, ehe das Fernsehen zur ständigen Unter malung unseres Lebens wurde, waren wir nicht so vielen Bil dern ausgesetzt. Ein wöchentlicher Kinobesuch führte einem Glamour, Wagemut und Abenteuer vor Augen. Im Vergleich zu heute sah man wenige Werbetafeln und Zeitschriften.12 Die gemalten oder gedruckten ikonischen Bilder, die man zu sehen bekam, waren zumeist lokal begrenzt und religiöser oder politi scher Art - bezogen sich auf die Werte oder Ziele der Gemein schaft, in der man lebte.13 Heute hingegen werden Bilder nahezu weltweit verbreitet. Die Globalisierung bringt eine uniforme visuelle Kultur mit sich, sodass sich die Werbetafeln in London nicht sonderlich von denen in Rio, Schanghai oder Accra unterscheiden. Wir leben längst in Marshall McLuhans globalem Dorf, teilen unzählige Bilder rund um den Erdball. Die schiere Quantität dieser Bilder
nicht nur von ihrer Vertrautheit beruhigen, wir verwandeln uns die Bilder an, benutzen sie als Mittel, dazuzugehören und unsere Zugehörigkeit zu zeigen. Wir werden als zugehörig erkannt, und wir erkennen andere als zugehörig. Das ist ein zentraler Effekt der globalen Kultur, insbesondere bei der Mittelschicht und der ambitionierten Jugend. Wir wollen dazugehören - mitmischen in der globalen Story, nicht ausgeschlossen sein -, und die Ein trittskarte in diese globale Kultur ist oft die Übernahme ihrer visuellen Marker. Es ist aufschlussreich, sich einmal zu vergegenwärtigen, dass Erwachsene einen Gesichtsausdruck in dreißig Millisekunden verarbeiten und erwidern können, ohne sich dessen bewusst zu sein.14 Das mag das Werk des Spiegelneuronensystems sein, wir wissen es noch nicht, doch aus Forschungsergebnissen geht klar hervor, dass wir bereits auf einen Gesichtsausdruck und die da mit einhergehende Emotion reagiert haben, ehe wir es auch nur merken. Wenn wir diese Erkenntnis jetzt einmal aufEilder über tragen, die gezielt auf eine starke emotionale Wirkung ausgelegt sind - eine bestimmte Stimmung, Hoffnung, Lösungseuphorie evozieren -, wird klar, wie unvermeidlich es ist, in Sekunden bruchteilen auf die Flut der Bilder um uns herum zu reagieren. Viele dieser Bilder sind keineswegs harmlos. Sie sind heim tückisch. Sie werden uns von den denj enigen präsentiert, die vom Körperhass profitieren. Zweitausend- bis fünftausendmal pro Woche werden wir
macht es unmöglich, sich ihrem Einfluss zu entziehen. Sie wer
mit Bildern digital manipulierter Körper konfrontiert.15 Diese
den Identitätsmarker, prägen unser Straßenbild, unsere Zeit
Bilder vermitteln die Idee eines Körpers, den es in Wirklichkeit
schriften, unser Äußeres, vermitteln ein G efühl von Kontinuität
gar nicht gibt. Die Rohaufnahmen der Models werden sorgsam
in einer verwirrenden, sich schnell verändernden Umwelt. Unser
ausgeleuchtet, um hoch bewertete Körpermerkmale zu über
Blick pickt die Marken und die Symbole heraus, die wir kennen, und wenn wir mit diesen Bildern in Kontakt treten, lassen wir uns
112
zeichnen, und dann per Bildbearbeitungsprogramm weiter per fektioniert und gestreckt. Es braucht viele Leute, um die Bilder
113
hervorzubringen, die wir auf Plakattafeln, in Zeitschriften oder
wahrnehmung beeinflusst.17 Wir beurteilen unser eigenes Äu
Pop-Videos sehen. Da sind im Einzelfall etwa die Fotogratin mit
ßeres durch eine hyperkritische Brille, fixieren uns auf unsere
Team, der Visagist, der Stylist, die Schneiderin, die Modedesig
Mängel. Unsere Augen suchen nach ungleichmäßig getönter
nerin, der Friseur. Dahinter stehen die Artdirektoren und
Haut, nicht ganz perfekt geformten Augenbrauen, unzurei
Kundenbetreuer des Werbeunternehmens, die Sponsorfirmen
chend vollen Lippen, einer zu breiten oder zu langen Nase, nicht
oder die Zeitschriftenredakteure mit ihren Artdirektoren usw.
genügend ausgeprägten Wangenknochen, nicht ausreichend
Das Endprodukt ist das Werk vieler Leute, vor allem aber ei
dichten Wimpern etc. Für jeden subjektiv wahrgenommenen
nes fähigen Bildbearbeiters/Grafikers, der es in seine definitive
Mangel gibt es Abhilfe, sei sie kosmetisch oder chirurgisch. Das
Form bringt. Es ist also keineswegs das Ergebnis eines simplen
wird nicht als aggressiv oder repressiv empfunden, sondern als
Vorgangs zwischen einem hübschen jungen Model, das »für die
Chance, etwas aus sich zu machen.
Kamera gemacht ist«, und einem Könner von Fotografen. Im
Die Schönheitsindustrie ist eine der erfolgreichsten »kleinen«
Märzheft 2008 der amerikanischen Vogue waren 144 Bilder von
Industrien der Welt - wobei sie real mit 160 Milliarden Dollar
dem Star-Retuscheur Pascal Dangin digital verändert: 107 Wer
Jahresumsatz keineswegs klein ist, sondern es immerhin auf ein
befotos , 36 Modefotos und das Titelfoto.16
Drittel der Größe der Stahlindustrie bringt. Deren Jahresumsatz
Fotografen bearbeiten heute bereits Kinderfotos. Zahnlücken
wurde für 2005 mit 445 Milliarden beziffert und wird laut Prog
oder widerspenstige Haare gelten jetzt als Schönheitsmängel,
nosen 2010 einen leichten Rückgang verzeichnen,18 während die
die man auf Fotos korrigiert, und nicht mehr als liebenswerte,
Schönheitsindustrie eine jährliche Wachstumsrate aufweist, die
individuelle Besonderheiten des Kindes. Kinder erfahren immer
mit 7 Prozent doppelt so hoch ist wie die des Bruttoinlandspro
früher den Druck, ihren Körper zu perfektionieren. Kindheit ist
dukts der entwickelten Welt (bis 2007), und Prognosen zufolge
kein magischer Raum mehr, in dem man frei fantasieren kann,
weiter wachsen wird.19
wie man einmal aussehen wird, wenn man groß ist. Die Erschei
Erfolgreiche Schönheitskonzerne wie L'Oreal und Nivea
nung des Kindes auf dem Foto wird digital korrigiert, als wäre
haben eine Wachstumsrate von 14 Prozent. Die erreichen sie, in
das bereits die Vorbereitung auf spätere chirurgische Korrek
dem sie ihre Märkte auf immer jüngere Zielgruppen ausdehnen.
turen. Dabei verliert das Kind die realistische Aufzeichnung
Heute spielen bereits sechsjährige Mädchen mit Make-up. Mit
seiner visuellen G eschichte. Wenn es zurückblickt, sieht es nicht
elf oder zwölf werden sie vermutlich die Namen der Lippenstift
mehr den eigenen Körper, sondern den Körper, den es nach den
und Rougetöne der verschiedenen Kosmetika-Marken kennen
Vorstellungen anderer hätte haben sollen.
und einige Produkte in ihrem Schatzkästchen haben. Auch Män
Dasselbe gilt für inszenierte Fotos weiblicher Stars, die per
ner werden zunehmend zur Zielgruppe (Mascara für Männer),
digitaler Bearbeitung immer schmalere Taillen, immer größere
aber das Hauptwachstum findet in jenen Ländern statt, die ge
Brüste und rundere Hintern an immer zierlicheren Körpern er
rade in die Moderne eintreten. So gehören inzwischen etwa in
halten, was unser visuelles Umfeld infiltriert und unsere Selbst-
China Kosmetika und westliche Schönheitsprozeduren zum All-
11 4
11 5
tag und gelten als etwas, das den Weg in ein Leben nach west
men, das ich für das Baby beschrieben habe, dessen Bedürfnisse
lichen Standards ebnet. Die 20 bis 25 Prozent des Budgets, die
konstant keine adäquate Reaktion erfahren. Es handelt sich um
Schönheitskonzerne auf Werbung und Promotion verausgaben,
denselben psychischen Mechanismus. Wir weisen den Gedan
rentieren sich insofern, als sie alle Welt von der Unerlässlichkeit
ken, unter einem konstanten Angriff der Schönheitsindustrie zu
von Schönheitsprodukten überzeugen.
stehen, als Beleidigung unserer Intelligenz von uns. Wir halten
Das Marketing der Schönheits- und Style-Industrien ist
uns für in der Lage, den negativen Praktiken dieser mächtigen
höchst erfinderisch. Redaktionelle Artikel in Zeitschriften und
Industrie gegenüber kritisch zu bleiben und einfach nur Freude
Mode-und-Schönheit-Ressorts von Tageszeitungen widmen
an Mode und Schönheit zu haben, doch in Wahrheit gehen uns
sich Problemen, die es bisher nicht gab. So ging es Anfang 2007 in
die ständigen Ermahnungen, uns zu verändern, unter die Haut.
einem Feature einer der größten britischen Tageszeitungen, der
Das Dai9T Mail-Beispiel mit den Knien ist mir gerade deshalb auf
Dai9T Mail, um Knie und die ästhetischen Probleme, die sie auf
gefallen, weil dort keine Lösung angeboten wurde. Das war so
werfen. Erstaunlicherweise empfahl der Artikel keine Lösungs
ungewöhnlich, dass es ein Vakuum hinterließ. Es sabotiert den
maßnahme, aber die Botschaft war dennoch eindeutig: Knie sind
verschlungenen Prozess, den wir normalerweise unbewusst voll
nicht länger etwas, das man einfach als gegeben hinnimmt. Wie
ziehen, um mit der Wirkung von Bildern umzugehen. Wie ich
alle anderen Körperteile erfordern auch sie Arbeit und Auf
schon andeutete, verarbeiten wir diese Wirkung hauptsächlich
merksamkeit.20
dadurch, dass wir das Problem umdeuten. Wir entschärfen das
»Rein zufallig« sind die Probleme, die die Style-Industrien
Gefühl (wegen inadäquater Augenbrauen, Lippen etc.), kritisiert
diagnostizieren, ebenjene, die die Schönheitsindustrie zu behe
zu werden, indem wir den aktiven, enthusiastischen Part in un
ben verspricht. Die Style-Industrien fungieren als Handlanger
serem Selbstvervollkommnungsprogramm übernehmen. Wir
bei der Dekonstruktion und Neukonstruktion unserer Körper.
werden voller Eifer korrigieren, was falsch ist, und dabei dank
Die j eweiligen Korrekturmaßnahmen werden uns als Lösun
bar die Chancen nutzen, die uns die Schönheitsindustrie bietet.
gen präsentiert, deren Attraktivität wir uns gar nicht entziehen
So bleiben die kommerziellen Interessen hinter den Bildern,
können. Sie bestricken und verführen uns. Wir sehen uns nicht
die unser persönliches Körpergefühl stören, unerkannt. Wenn
als Opfer einer Industrie, die uns ausbeuten will. Im Gegenteil,
wir die kosmetische oder schönheitschirurgische Maßnahme be
wir werden dazu gebracht, das Problem umzudeuten und auf
geistert bejahen, ist die Verletzung weniger schmerzhaft, weil es
uns zu nehmen: An mir ist etwas verkehrt, das ich durch Be
ja j etzt kein Angriff von außen zu sein scheint, sondern etwas,
mühen - Training, Geldaufwendung und Wachsamkeit - in Ord
das wir selbst wollen und in die Wege leiten. Wir sehen uns als
nung bringen kann. Ich kann meine falsche Körperzone/meine
Handelnde, nicht als Opfer. Nicht die Bilder werden als falsch
falschen Körperzonen richtig machen. Dieser innere Vorgang,
wahrgenommen - die einzelne Frau fühlt sich falsch, weil sie
einen Teil von sich selbst zum Sitz des Verkehrten zu machen
den gängigen B ildern nicht entspricht. Ihre Perspektive hat sich
und dann nach Vervollkommnung zu streben, ähnelt dem Phäno-
verkehrt. Sie geht jetzt voller Energie daran, die neuen Bilder
116
1 17
zu ihrem Leitbild zu machen und sich selbst durch diese neuen
1990er-Jahre erging. Aber die neuen Bilder fluten unser Ge
Formen auszudrücken. Sie tut alles, um diesem Ideal möglichst
sichtsfeld. Die engen Hosen, die doch so sehr Teil von uns waren,
perfekt zu entsprechen und es so zu ihrem eigenen zu machen,
fühlen sich plötzlich schäbig an oder nicht als Ausdruck dessen,
keinem fremden oder gegen sie gerichteten. Man denke nur an
wer wir jetzt sind. Statt uns gegen die Streifen mit den Blumen
die achtzehnjährige Nigerianerin Agbani Darego, die 2001 zur
oder den »Heroin-Chic« zu sträuben, haben wir das Gefühl, dass
Miss Universum gekürt wurde. Die Jury war aufgefordert wor
wir in unserem eigenen Körper, unserer Kleidung, unserem Look
den, eine Bewerberin zu wählen, die »globale Schönheit« ver
der Zeit hinterherhinken. Wir sind jetzt motiviert, das zu än
körpere, mit anderen Worten, eine dünne Bewerberin. Und als
dern, damit wir uns wieder im Einklang mit unserer Welt ftihlen.
dann Ms Darego auf Zeitschriften-Covers und Reklametafeln in
Ich will die Style-Industrien nicht als die bösen Schurken hin
Nigeria erschien, veränderte sie die ästhetischen Maßstäbe jun
stellen. Es sind unsere eigenen Unsicherheiten, an denen ihre
ger Nigerianerinnen, die das Aussehen der jungen Frau zunächst
kommerziellen Interessen ansetzen. Zweifellos spiegeln Moden
als unterernährt empfunden hatten, dann aber dahin kamen, die
etwas von der jeweiligen Zeit. Dass Schlankheit in unserer Zeit
sen Look selbst zu erstreben. Unabsichtlich löste Ms Darego eine
einen so hohen Stellenwert hat, ist Ausdruck des Reichtums, den
Diät-Welle aus, ein Phänomen, das es bis dahin in Nigeria nicht
die westliche Welt an sich gerissen hat, aber auch eines Bedürf
gegeben hatte. Die Rhetorik von Selbstkompetenz und Selbst
nisses, in dieser ganzen Konsum-überfülle etwas Gegensätz
bestimmung, die mit der Bilderkultur einhergeht, suggeriert der
liches zu verkörpern: dass man nicht von Verlangen getrieben ist,
einzelnen Frau, dass es in ihrer Macht steht, sich umzuformen,
dass man extrem wählerisch ist, dass man die Nahrungsbedürf
das Bild zu werden, das ihr vorgehalten wird.
nisse des Körpers kontrollieren kann, dass man über die Stoff
Die Schönheitsindustrie ist nicht der einzige Akteur im Krieg
lichkeit des Körpers erhaben ist. Dennoch: Das Tempo, in dem
gegen die Körper von Mädchen und Frauen. Sie ist Teil der ge
heute die Moden wechseln, ist weitgehend von Kommerzinteres
samten Style-Industrie, deren sine qua non ein immer schnel
sen getrieben. Es ist kaum möglich, diesen schnellen Umschlag
lerer Wandel der Ästhetik ist. Mode lebt von Veränderung. Die
noch als organischen kulturellen Prozess und nicht als Zwangs
Typografie, die Möbel, die Lampen, die Kleidung, die Frisuren,
maschinerie zu begreifen. Und die Handlanger der Modeindus
die Ausdrücke und selbst die Speisen, die wir einmal mochten,
trie im Diät-, Nahrungsmittel- und Pharmabereich spielen eine
erscheinen uns jetzt altmodisch und albern. G enauso ist es mit
Zerstörerische Rolle, weil sie dazu beitragen, dass wir unseren
dem Körper. Wir aktualisieren uns ständig, um Teil dessen zu
Körper als Kampfgebiet empfmden.
sein, was frisch und zeitgemäß ist. Anfangs finden wir die neue
Der Umsatz der Diätindustrie in den USA wurde für 2oo6 auf
Streifen in Kombination mit Blumenmuster, weite Hosen
100 Milliarden Dollar geschätzt.21 Das Budget des amerikanischen
statt der engen - vielleicht wenig attraktiv, ja, es mag sogar sein,
Bildungs- und Erziehungsministeriums im seihen Jahr war mit 127
Mode
dass uns der neue Look, der da propagiert wird, regelrecht ab
Milliarden nur unwesentlich höher.22 Wie kann es sein, dass der
stößt - wie es vielen Menschen mit dem »Heroin-Chic« der
erwachsene US-Bürger im Schnitt 6oo Dollar im Jahr für Diät-
118
1 19
produkte ausgibt?23 Da wir wissen, dass nicht alle Amerikaner
daulich. Milchprodukte sind unverzichtbar, Milchprodukte sind
Diätprodukte kaufen, müssen manche daflir substanzielle Sum
gefährlich. Fleisch zu essen ist gut, Fleisch zu essen ist schädlich.
men aufwenden. Wenn wir annehmen, dass nur die Hälfte der er
Komplexe Kohlehydrate sind nahrhaft, komplexe Kohlehydrate
wachsenen Bevölkerung Diätprodukte erwirbt, liegt der Betrag
sind belastend. Zwei bis drei Gläser Rotwein am Tag sind gut fürs
bereits bei 1200 Dollar oder 3,50 Dollar am Tag. Nicht ganz so
Herz, ein alkoholisches Getränk ist das Äußerste, das man zu
teuer wie Rauchen, aber dennoch für die, die davon profitieren,
sich nehmen sollte. Ein Mangel an Vitamin A, B,2, B6, Zink etc. ist
ein einträgliches Geschäft. NutriSystem - ein Diäthersteller, der
gefahrlich, Vitamin A, B,2, B6, Zink etc. wird leicht überdosiert,
sein Marketing erfolgreich auf Männer abstellt
verzeichnete
was zu Problemen führt. Diese widersprüchlichen Botschaften
eine Gewinnsteigerung von einer Million Dollar im Jahr 2004
werden nicht von irgendwelchen Spinnern in die Welt gesetzt,
auf 85 Millionen im Jahr 2006. Kein Wunder also, dass Fortune
sondern von den Medien als Erkenntnisse renommierter Ärzte
im Dezember 2007 NutriSystem als das schnellstwachsende Un
und Ernährungswissenschaftler verbreitet. Ich zitiere sie hier
ternehmen nannte. Diätprodukte zu verkaufen, ist mehr als pro
nicht, um die Verwirrung noch größer zu machen, sondern um
fitabel, aber gedeihen können diese Unternehmen nur, wenn die
zu belegen, dass Ernährungsempfehlungen weniger mit wissen
Essgewohnheiten einer ausreichenden Zahl von Menschen chao
schaftlichen Tatsachen zu tun haben als mit dem Denken unserer
tisch sind. Wie also kommen solche Profite zustande? Ein Faktor
Zeit, das oft mit sich selbst in Widerstreit liegt, unterm Strich das
ist die Segmentierung der Nahrungsprodukte in möglichst viele
panische Verhältnis zum Essen schürt und unsere Vorstellungen,
Kategorien: Luxus-Nahrungsmittel, gesunde Nahrungsmittel,
wann, was und wie wir essen sollten, durcheinanderbringt. Die
Kinder-Snacks, Ethno-Nahrungsmittel, fettarme Nahrungs
Nahrungsmittelindustrie greift die jeweils jüngste Verlautbarung
mittel, Bio-Nahrungsmittel, Pausen-Snacks, supermarkteigene
der sich gerade anbietenden Ernährungs- oder Diättheorie auf
Vollwert-Produkte etc. Die Segmentierung steigert aufraffinier
und »hilft« dem Verbraucher, indem sie eine ganze Kategorie von
te Weise die Gesamtausgaben der Konsumenten für Nahrungs
Nahrungsmitteln als schädlich und verboten brandmarkt. Durch
mittel und bestärkt gleichzeitig die Vorstellung, dass Essen ein
die Bereitstellung fettarmer (wenn auch zuckerreicher) Ersatz
Zeitvertreib ist, ein Konsumbereich mit einer Fülle von Wahl
produkte suggeriert sie, dass normale Prozesse etwa bei Milch
möglichkeiten, etwas, das ebenso viel mit Mode, Hypes und
wie die Fermentierung zuJoghurt oder Käse - gefährlich sind und
Emotionen zu tun hat wie mit Hunger und Sättigung.24
verändert werden müssen. Das Fett muss entzogen werden, auch
Ein weiterer Faktor ist die Tatsache, dass die Ernährungstheo
wenn es dann natürlich als »besondere Verwöhnung« in Form
rie von einer »Erkenntnis« zur nächsten springt und sich dabei
von »Luxus«-Eiscreme wieder an den Verbraucher gebracht wird.
ständig widerspricht. Als ich jung war, waren Steaks, M ilch, Käse
Die großen Nahrungsmittelkonzerne besetzen alle Bereiche
und G emüse gut. Nudeln waren schlecht. In den letzten fünf
des Marktes. Heinz gehört die Diät-Marke WeightWatchers,
undzwanzig Jahren waren Nudeln manchmal gut und manchmal
Unilever gehören Knorr und Slimfast, Nestle gehören Lean Cui
schlecht. Weißes Mehl ist unverdaulich, weißes Mehl ist gut ver-
sine und Nespresso. Diätprodukte sind ein Riesengeschäft. Und
120
121
das hat seinen Grund. Wer es mit einer Diät probiert, wird bald
Es gibt Diäten verschiedenster Art: ohne Weizen, ohne
zur nächsten greifen. Diäten fördern nämlich chaotisches Ess
Milchprodukte (die häufigste), Blutgruppendiäten, Trennkost,
verhalten. Sie führen nicht selten zur G ewichtszunahme.25 Diä
hoch- und niedrigglykämische Diäten, Eiweiß-, Kalorienre
ten sind keine kluge Reaktion auf »Ühergewicht«, sondern tra
duktions-, Detox-, Feng-Shui- und Reisdiäten. Es gibt Diäten,
gen zur Destabilisierung des normalen Essverhaltens bei. Sie tun
die angeblich dem Ernährungsplan irgendwelcher Prominen
dies in solchem Maß, dass es heute bereits junge Mädchen gibt,
ten folgen. Und es gibt Diäten, die nach bestimmten Orten be
die ständiges Diäthalten und eine Grundangst vor dem Essen als
nannt sind: die South-Beach-Diät, die Beverly-Hills-Diät usw.
Normalzustand betrachten. Sie haben ihre Mütter Diät halten
Alle diese Diätprogramme, die bestimmte Nahrungsmittel oder
sehen und diese Herangehensweise ans Essen gelernt: Wenn man
Nahrungsmittelgruppen vom Speisezettel verbannen, kann man
etwas für sich tun will, macht man eine Diät. Nur zu oft ist das
als das Austragen von Ess- und Körperproblemen unter ande
Ergebnis ein Muster aus Diäthalten und Fressanfallen. Bei Mäd
rem Namen betrachten. Bevor Essprobleme »aus dem Schrank
chen, die eine Diät machen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit,
kamen«, hatten die Veganer und Vegetarier mit Sicherheit vie
Pressanfalle als Umgangsform mit dem Essen zu entwickeln, auf
le Menschen in ihren Reihen, die eine Essstörung austrugen,
das Zwölffache.
indem sie bestimmte Nahrungsmittelgruppen mieden. Heute,
Diät zu halten ist weder ein moralischer Wert noch gut für
da Abnehmdiäten kritischer betrachtet werden, finden wir in
den Körper. Das Ergebnis ist noch nicht einmal neutral. Wieder
Zeitschriftenartikeln Ratschläge, wie wir unsere Nahrungs
holte Diäten stören den Selbstregulierungsprozess, der den in
mittelallergien und -unverträglichkeiten identifizieren, Ernäh
dividuellen Grundumsatz, den Kalorienverbrauch des Körpers,
rungspläne zur Vermeidung der betreffenden Nahrungsmittel
festlegt und dafür sorgt, dass wir das G ewicht halten, bei dem
aufstellen und durch bestimmte Ergänzungsstoffe ausgleichend
wir uns körperlich einigermaßen wohlfühlen, den sogenannten
auf unser Immunsystem einwirken können. Der Trick ist, Diäten
Setpoint.26 Die Diäten gaukeln dem Körper eine Hungersnot vor,
in anderer Form zu propagieren. Wenn Diäten wirken würden,
worauf er den Kalorienverbrauch senkt. Wenn Leute nach wie
brauchte man sie nur einmal zu machen. Die Diätprodukteher
derholten Diäten wieder essen, müssen sie feststellen, dass der
steller rechnen mit einer Rückfallquote von 95 Prozent: eine
Grundumsatz, der eigentlich bei reichlicher Ernährung steigen
Zahl, die man allen Diätgläubigen ins Bewusstsein hämmern soll
sollte, bildlich gesprochen, festhängt, weil der Körper zunächst
te.27 Man fragt sich, welche Lobbys hier eine gerichtliche Ver
seinen Setpoint wieder zu erreichen sucht. Ohne entsprechenden
folgung wegen Verstoßes gegen das Verbraucherschutzgesetz
Kalorienverbrauch kann es zu einer raschen Gewichtszunahme
verhindern. Die Diätindustrie braucht Drehtür-Kundschaft, die
kommen. Frustriert beginnt der oder die Betreffende die nächste
immer wiederkommt, um ihre Produkte und Dienstleistungen zu
Diät, um gegen die G ewichtszunahme anzugehen, die er oder
erwerben. Die Profite dieser Unternehmen basieren auf dem ein
sie sich eingehandelt hat, weil der Körper auf »normales« Essen
gebauten Misserfolg ihrer Produkte. In ähnlicher Weise haben
nicht mehr eingestellt ist.
chirurgische Schönheitskorrekturen ein eingebautes Verfalls-
122
123
datum und garantieren den Chirurgen spätere Wiederholungen
einen Kontext stellen und als Teil der enormen Verbreitung von
oder Nachbesserungen. Diese sind so verbreitet, dass Patientin
Essstörungen in den westlichen Gesellschaften sehen. Viele Ess
nen mancherorts bereits zehn Jahre Garantie auf Brustimplantate
störungen, wie etwa zwanghaftes Essen oder Bulimie, sind nicht
miterwerben können.
so sichtbar wie Adipositas, aber nicht minder weit verbreitet - im
Was den pharmazeutischen Bereich der Diätindustrie anbe
G egenteil, sie sind häufiger.
langt, finden wir in Zeitungen monatliche Artikel über das neu
Vor allem junge Mädchen sind so um ihre Figur besorgt, dass
este Medikament zur Gewichtsabnahme. Dieses Thema wird im
nur wenige essen, wenn sie Appetit haben, und aufhören, wenn
Nachrichten-, im Wirtschafts- und im Mode- und Schönheits
sie satt sind. Begriffe wie Appetit und Sattheit sagen ihnen gar
teil behandelt. Manche der erwähnten Medikamente sind nutz
nichts. Sie sind mit Müttern aufgewachsen, die sich ständig Ge
los oder sogar für bestimmte Menschen extrem gefahrlieh wie
danken um die Akzeptabilität ihres Körpers machen und die von
etwa Fen-Phen, das nur minimale Gewichtsverluste bewirkte.28
den Töchtern als inkonsistent, kontrollierend und oft ängstlich
Dennoch wird der Öffentlichkeit eingeredet, dass Körperfett
im Verhältnis zum Essen und zum eigenen Körper erlebt wurden.
gleichbedeutend mit Fettleibigkeit ist, und Fettleibigkeit (Adipo
Diese Töchter haben von klein auf gelernt, mit dem Essen auf
sitas) ist inzwischen zu einer Krankheit erklärt worden, die
zupassen, sich statt an biologische Signale an Regeln und Ver
medikamentöser Behandlung bedarf. Aktien von Pharmafirmen
ordnungen zu halten, gegen die sie dann zeitweilig aufbegehren.
mit dem Patent auf das nächste große Anti-Adipositas-Mittel
Was heute bei jungen Mädchen bezüglich des Essens die Norm
sind Börsenrenner. Broschüren, die offiziell und wissenschaftlich
ist, hat wenig mit dem zu tun, was noch vor zwanzig Jahren als
wirken, in Wahrheit aber von der Public-Relations-Abteilung des
>>normales�< Essverhalten gegolten hätte. Nur am Wochenende
j eweiligen Pharmaherstellers verfasst wurden, liegen in amerika
oder nur einmal am Tag zu essen und ähnliche Programme kön
nischen Arztpraxen aus und preisen die Wirksamkeit dieses oder
nen zwar tatsächlich schlank machen, da sie sich aber nicht auf
jenes Medikaments, als ob es tatsächlich ein umrissenes Krank
Dauer beibehalten lassen, machen sie im Endeffekt ebenso oft
heitsbild namens Adipositas gäbe, das zu behandeln wäre.
dick. Emotionales und physisches Aufbegehren gegen ein Leben
Im Westen grassiert eine regelrechte Adipositas-Hysterie.
aus Essensrestriktionen, Verzicht und zwanghafter sportlicher
Wenn man die Zahlen der International Obesity Task Force29
Betätigung können entweder zu einer anorektischen Reaktion
liest, könnte man glauben, wir befänden uns bereits mitten in
führen oder aber zum scheinbaren Gegenteil - exzessivem Essen.
einer Fettleibigkeitsepidemie, die unser Gesundheitswesen über
Aus therapeutischer Sicht haben diese beiden Formen des
rollen und das Leben der nächsten Generation zerstören wird.
Umgangs mit dem Essen gemeinsame Züge, die sich komplemen
Man erklärt uns, dass bis 2050 die Hälfte der Kinder in Groß
tär äußern. Magersüchtige neigen dazu, den eigenen Körper
britannien adipös sein werden.3° Ohne die berechtigte Besorg
umfang zu überschätzen, Esssüchtige unterschätzen ihn oft.
nis wegen der Zunahme von Fettleibigkeit in der B evölkerung
Beide sehen sich nicht so, wie sie wirklich sind. Und beide ha
wegwischen zu wollen, muss man diese Erscheinung doch in
ben Probleme damit, ihre eigenen Essensgelüste zu akzeptieren.
124
125
Menschen, deren Essproblem sich anorektisch äußert, haben
eigene Biologie beruht statt aufdem Wissen, wann man hungrig
solche Angst vor Appetit und Verlangen, dass sie eine Situa
und wann man satt ist, und auf dem entsprechenden Essverhal
tion schaffen, in der sie tatsächlich Hunger haben und das auch
ten, kann man keinen Frieden fmden. Das Gefühl, einen stabilen
spüren, der Hunger ihnen aber dazu dient, sich zu vergewissern,
Körper zu haben, dessen Gestalt und Bedürfnisse man adäquat
dass sie ohne Nahrung auskommen, dass sie nicht viel brauchen.
wahrnimmt und dem man vertraut, ist unerreichbar.
Ihr emotionaler und physischer Hunger fühlt sich unhandhabbar
Dass in jüngerer Zeit dem Body-Mass-Index (BMI) so große
und falsch an, solange er nicht unterdrückt wird. Indem sie ihren
Bedeutung beigemessen wird, verschärft das Problem noch. In
Hunger und alles, was von ihrem Körper ausgeht, kontrollieren,
teressanterweise erachten die wenigsten Mediziner, die sich fak
zeigen sie eine aufs Essen gerichtete Version des Phänomens des
tisch mit Ernährung und Übergewicht befassen, den BMI als eine
falschen Körpers}1
nützliche Messgröße. Für das Risiko von Herzkrankheiten und
Menschen, die exzessiv essen, finden Hunger und Bedürftig
Diabetes gibt es bessere Indikatoren, die auf dem B auchumfang
keit ebenfalls unerträglich: Sie ertragen es nicht, ihre Bedürftig
basieren, während der BMI ein vergleichsweise krudes Maß
keit zu spüren. Ihre Reaktion auf das Dilemma von Appetit und
des Verhältnisses von Körpergröße und -gewicht ist. Er wurde
Verlangen besteht darin zu essen, ehe sie das empfinden, was sie
Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als der Sozialdarwinismus
als ein zu schmerzhaftes Hungergefühl erlebenY Dieses pro
statistische Messgrößen in Mode brachte, von dem flämischen
phylaktische Essen lässt sich ebenfalls als eine Version des Phä
Wissenschaftler Adolphe Quetelet ersonnen.33 1995 revidierte
nomens des falschen Körpers verstehen. Welche Form die Angst
die WHO auf Druck der International Obesity Task Force den
ein pa
BMI dergestalt, dass sich über Nacht Menschen, die sich bis da
nisches Verhältnis zum Appetit und ein unverlässliches Körper
hin für »normalgewichtig« gehalten hatten, in einer neuen Ka
gefühl prägen heute das Leben vieler Frauen und junger Mäd
tegorie wiederfanden. Brad Pitt und George Bush sind demnach
chen.
jetzt übergewichtig (ein britisches Beispiel wäre Linford Chris
vor den eigenen Bedürfnissen auch annehmen mag
Schlankheit ist heute ein Zugehörigkeitsversprechen, die
tie), G eorge Clooney und Russen Crowe bereits adipös. Das
Eintrittskarte zu dem, was an der Oberfläche als neue klassen
zeigt, wie absurd diese Klassifizierungen sind und dass man die
lose Gesellschaft erscheint. Propagiert wird sie jedoch - meiner
Schätzungen, die der Hälfte unserer Kinder Fettleibigkeit pro
Üherzeugung nach falschlieh - als Gesundheitsversprechen, wo
phezeien, durchaus hinterfragen sollte. Fragen sollte man auch,
bei die psychischen Aspekte von Appetit und Dünnsein gänzlich
wem diese Klassifizierungen nützen und welch schädliche Aus
ausgeklammert bleiben. Hinter dem Streben nach Schlankheit -
wirkungen sie auf unser Verhältnis zu unserem Körper haben.34
das Dicke ebenso erfasst wie Dünne und alle, die dazwischen
Lehrreich ist hier wohl ein Rückblick auf die Fünfzigerjahre, in
liegen - steckt oft ein unglückliches , ungesundes Verhältnis zum
denen mit Werbeslogans wie »Zu mager? Da entgeht Ihnen ja
Essen und zum eigenen Körper. Wenn Verwirrung in Bezug auf
der Sommerspaß!« spezielle Tabletten vermarktet wurden, die
die eigene Figur erzeugt wird, wenn diese auf Eingriffen in die
Frauen helfen sollten, »Pfunde und gesunde Zentimeter« zuzu-
126
127
legen, um dem Schönheitsideal der damaligen Zeit zu entspre chen, das allemal bei einem BMI von 27 aufwärts lag.
nicht, ich kann das nicht« oder von dem Unglücklichsein erzählt, das in diesem dicken Körper steckt. Der dicke Körper könnte
Das Zusammenmengen einer Vielzahl von Essstörungen in
ja auch unsere Image-Fixierung infrage stellen. Er könnte das
der neu erfundenen Krankheit Adipositas ist der Legitimations
über-Bord-Werfen in der Kindheit erfahrener Essensreglemen
versuch von Unternehmen, die ihre Profite damit machen, Panik
tierungen signalisieren. Oder er könnte eine Aussage über den
rund um Figur und Körpergewicht zu schüren. Trotz der Fluten
Konsumerismus und die Unmöglichkeit der sogenannten »freien
von Zeitungsartikeln und Fernsehsendungen über die Volksseu
Wahl« sein.
che Adipositas gibt es wenig stichhaltige Fakten. Die Studien, die
Wenn wir erst einmal verstanden haben, inwiefern Essver
behaupten, dass in den USA jährlich 365 ooo Menschen der Tod
halten Ausdruck einer Krise der Körperlichkeit sein kann, wird
durch Fettleibigkeit drohe, dass bereits jedes dritte K ind adipös
klar, dass Dicksein ebenso viel - wenn nicht mehr - über die
und ein BMI unter 25 optimal sei, sind allesamt als reine Erfin
Verfehlungen unserer Kultur aussagt wie über irgendein indi
dung entlarvt worden. Tatsächlich lautet der Befund des National
viduelles »Versagen«. Da Adipositas gegenwärtig hauptsäch
Institute of Health nach einer Reanalyse seiner eigenen Zahlen,
lich mit Armut und geringem Einkommen korreliert, müssen
dass jedes fünfzehnte Kind in den USA ernsthaft übergewichtig
wir zudem auch schichtspezifische Faktoren einbeziehen und
ist und rund 26 ooo Menschen im Jahr an übergewichtsbedingten
uns fragen, welchen Reiz erfolgsbesetztes Schlankheitsstreben
Krankheiten sterben werden. Man vergleiche diese Zahl mit den
für all jene Menschen haben könnte, die sich ökonomisch aus
6oo ooo Todesfallen pro Jahr, die in Zusammenhang mit dem
geschlossen fühlen. Und natürlich gilt es, an die Stelle des sim
Rauchen stehen.35
plizistischen Kalorienzufuhr-Kalorienverbrauch-Schemas, das
Adipositas ist ein Problem. Ich will das gar nicht herunter
das gesundheitspolitische Denken dominiert, eine komplexere
spielen. Aber mir liegt daran, die sozialen, psychischen, visuel
Herangehensweise zu setzen. Wir müssen die Verbreitung von
len, ernährungsmäßigen und kommerziellen Faktoren hinter
Adipositas im Zusammenhang mit anderen Entwicklungen
dieser sogenannten Krise zu sehen. Mag sein, dass viele Men
sehen: der immer massiveren Verbreitung von Bildern dünner
schen mehr essen, als ihr Körper braucht, dass ihr Körper das
Menschen, dem wachsenden Angebot an lagerbeständigen
Essen nicht richtig verarbeitet, dass sie Nahrungsmittel zu sich
Nahrungsprodukten mit einem hohen G ehalt an Fett, Soja und
nehmen, die schwer in Energie umzuwandeln sind. Das ist sicher
Maissirup, dem ungeheuren Wachstum der Diätindustrie und
ein Tei l des gegenwärtigen Geschehens rund um den Körper.36
der Segmentierung von Nahrungsmitteln durch eine Nahrungs
Ein anderer Teil ist jedoch das mit gesellschaftlichem Erfolg be
mittelindustrie, die einem Produkt Milch, Fett etc. entzieht, um
setzte Schlankheitsstreben, das sich in den neuen Okönomien
es uns dann in einem anderen Produkt zu verkaufen. Diese vier
Osteuropas, Asiens und der arabischen Welt entwickelt. Und
Entwicklungen verlaufen parallel zur Ausbreitung von Überge
vielleicht verweigert sich der dicke Körper ja unserer visuel
wicht. Man könnte eine Kurve für den Absatz an fettarmer Milch
len, auf Erfolg getrimmten Kultur, indem er sagt »Ich will das
und eine für die Zahl übergewichtiger Menschen zeichnen, und
1 28
129
beide würden perfekt übereinstimmen. Ebenso würde sich die
etwas anderes aus. Dicksein wird als etwas betrachtet, das es zu
Kurve für das Wachsturn der Diätindustrie mit der für die Zu
vermeiden gilt, denn es steht sowohl für psychischen Kontroll
nahme von Übergewicht in der Bevölkerung decken. Und Tat
verlust als auch für falsche Schichtzugehörigkeit mit implizier
sache ist auch, dass die wachsenden Übergewichtigen-Zahlen
ten falschen Werten und Zielen.
mit unserer zunehmend sitzenden Lebensweise und der visuellen
Es gibt momentan eine gewisse Debatte darüber, ob die im
Dominanz von Bildern unglaublich schlanker Menschen korre
Vormarsch begriffenen Krankheiten wie Diabetes wirklich
lieren.
durch Übergewicht verursacht werden oder im Gegenteil Über
G esundheitsökonornen und Stadtplaner sind eifrig arn
gewicht verursachen.39 Einige Stimmen vertreten, dass Inhalts
Werk, erörtern die Auswirkungen des Autos, die Architektur
stoffe industrieller Nahrungsprodukte (etwa ein hoher Gehalt an
unserer Städte und Shoppingcenter, die Struktur unserer Nah
Maissirup) ein Verursachungsfaktor für diabetische Reaktionen
verkehrssysterne und die Beleuchtung unserer Straßen unter
sind. Und es gibt eindeutige Belege dafür, dass das gesundheitlich
dem G esichtspunkt, uns zu mehr Bewegung und vernünftigerer
günstigste G ewicht bei einem BMI (so man diesen überhaupt
Ernährung zu animieren. Das ist sehr wichtig. Aber was über
akzeptiert) von 27,5 liegt - einem Wert, der gegenwärtig in die
diesem Ansatz nicht verloren gehen darf, sind die emotionalen,
Kategorie Übergewicht fallt. Interessanterweise haben überge
psychischen und schichtspezifischen Besetzungen nicht nur der
wichtige Menschen, die Sport treiben, eine geringere Sterblich
Nahrung und des Essens, sondern auch der Figur. In einer Bilder
keitsrate als schlanke Menschen, die es nicht tun. Da stellt sich
kultur sind die unbewussten Bedeutungen von Dick- und Dünn
doch die Frage, warum Schlankheit als Königsweg zur Gesund
sein hochkornplex. Während Dicksein von anderen als Zeichen
heit gilt. Kann es sein, dass - auch wenn die Faktenlage nicht für
von Faulheit und Unbeherrschtheit betrachtet werden mag, muss
die Bewertung von Schlankheit als gesund und gut spricht - die
es der/die füllige Esser/in keineswegs so erleben.37
übermächtige visuelle Ästhetik unserer Zeit auch die Ärzte und
Die Brandmarkung des Dickseins als tadelns- und verach
die medizinische Forschung beeinflusst? Das gesellschaftliche
tenswert und der dicken Menschen als Außenseiter, denen nicht
Phänomen der Hypes und Hysterien ist oft untersucht worden.
nur Selbstablehnung, sondern auch gesellschaftliche Diskrimi
Die angebliche Volksseuche Adipositas fällt auch darunter.4°
nierung gebührt, nimmt zu. Das ist kein neues Phänomen (daher
Es gibt beunruhigende Indizien dafür, dass ein Bedingungs
die bestehenden Organisationen zur Verteidigung der Rechte
faktor für reale Fettleibigkeit ein geringes G ewicht der Mutter
dicker Menschen), aber es hat sich gesteigert.38 Dicksein wird
während der Schwangerschaft ist - das, was heute so viele Frauen
heute därnonisiert und als Schichtmerkmal gesehen. Natürlich
erstreben. Wie viele Schwangere sind stolz darauf, dass man ih
spielen schichtspezifische Faktoren mit, wenn es um die Distri
nen die Schwangerschaft bis zum sechsten Monat nicht ansieht?
bution von Nahrungsmitteln, um Ernährungsausgaben und
Aber dieser Trend könnte versteckte Gefahren bergen. Ende des
Ernährungswissen geht, aber in der Verachtung, mit der heute
Zweiten Weltkriegs herrschte in den Niederlanden eine schwere
über Dicksein und dicke Menschen gesprochen wird, drückt sich
Hungersnot. Frauen, die in den ersten sechs Schwangerschafts-
130
monaten hungerten, gebaren untergewichtige Kinder, die als
nisten von einer nicht allzu fernen Zeit, da die Möglichkeiten
Erwachsene adipös wurden. Bei den Frauen, die erst im letzten
des menschlichen Körpers tatsächlich so erweitert sein werden,
Schwangerschaftsdrittel Hunger litten, war dies nicht der Fall.
dass wir zu Dingen in der Lage sind, die wir jetzt noch mit Sci
Epidemiologen, die heute diese Zahlen noch einmal analysie
ence-Fiction-Filmen assoziieren. Für diese Leute hat die tech
ren, neigen mittlerweile zu dem Schluss, dass ein geringes Kör
nologische Verbesserung des Menschen keine Grenzen. Ihrer
pergewicht der Mutter in den ersten sechs Schwangerschafts
Überzeugung nach kann das Reengineering des Körpers so weit
monaten das Baby auf eine Hungersituation programmiert und
gehen, dass der Tod - außer durch Mord oder Unfall - ein über
dass untergewichtige Babys später mit höherer Wahrscheinlich
holter biologischer Prozess sein wird.
keit Diabetes bekommen. Wenn wir diese Erkenntnisse mit dem
Mich interessiert, was diesen Traum speist. Körper unterlie
derzeit unter prominenten (und folglich auch anderen) Müttern
gen Beschränkungen. Leben ist das, was zwischen G eburt und
herrschenden Trend zusammenbringen, schon vor dem Termin
Tod passiert. Als Menschen neigen wir dazu, die Grenzen, auf
per fakultativem Kaiserschnitt zu entbinden, weil sie sich davon
die wir stoßen, zu verschieben: daran zu rütteln und dagegen
die schnellere Rückgewinnung eines schlanken Körpers ver
anzurennen, in dem Wissen, dass sie trotzdem existieren. Man
sprechen, wird klar, welches Risiko für Mutter und Kind das
che Bio-Ethiker betrachten die Grenzen des Körpers als grund
Streben nach Schlankheit während der Schwangerschaft - die
sätzliche Herausforderung.41 Der Geist ist alles. Der Körper ist
sogenannte Pregnorexie - darstellt. Hinzu kommt, dass, wie wir
dazu da, verbessert zu werden. Die Erweiterung kognitiver und
gesehen haben, der Krieg gegen den weiblichen Körper in den
körperlicher Fähigkeiten macht uns zu Wesen, die mehr sind als
allerersten Lebenswochen des Kindes Spannungen erzeugt, die
nur Menschen, daher der Terminus transhuman. Die Transhuma
das physische Wohl des Säuglings und die Bindungsentwicklung
nisten argumentieren, da bereits jetzt 25 Prozent der Amerikaner
beeinträchtigen und somit auch die nächste G eneration schä
irgendein Körperimplantat hätten - ob herausnehmbar wie etwa
digen.
Kontaktlinsen oder bleibend wie Herzschrittmacher, Stents oder
Die zahlreichen Industrien - Diätprodukte- und Nahrungs
Zahnimplantate -, sei der Sprung zum eingepflanzten Mini-PC
mittelhersteller, Style-Industrie, Schönheitschirurgie, Pharma
absehbar. Dieser werde uns dann fremdsprachige Vokabulare
unternehmen und Medien -, die uns den Körper als etwas prä
bereitstellen, uns zur Erfüllung komplexer physischer Aufgaben
sentieren, das mit Bearbeitung und Zurschaustellung zu tun hat,
befähigen, wie sie heute Roboter verrichten, und unseren Körper
machen uns glauben, unser Körper sei eine Dauerbaustelle, ein
in einem Maße transformieren, wie es jetzt noch undenkbar sei.
Objekt permanenter Verbesserung. In ihrer Gesamtheit geben
Kinder würden mit technologischen Körpererweiterungen auf
sie uns das Gefühl, unsere körperlichen Möglichkeiten seien
wachsen, so wie wir uns inzwischen an Mikrowellen, Handys,
nur durch unser Portemonnaie und den Grad unserer Entschlos
Computer und Gensplitting gewöhnt haben. Transhumanisten
senheit begrenzt. In einem anderen Winkel der Gesellschaft -
ist die Vorstellung von einem festgelegten oder begrenzten Kör
vor allem im akademischen Bereich - träumen die Transhuma-
per ein Gräuel. Sie haben ein hyperkartesianisches Menschen-
133
bild. Man könnte es auf die Formel bringen: »Ich bin, was ich
ähnliche Bestrebungen lese, etwa über aktuelle Forschungen mit
denke und wozu ich mein G ehirn durch neue Technologien be
dem Ziel der Entwicklung pharmazeutischer Substanzen, die
fähigen kann.«42
traumatische emotionale Erinnerungen löschen und es Menschen
Der digital erweiterte menschliche Körper, der sogenannte
so ermöglichen sollen, sich ihrer schmerzlichen Geschichte zu
transhumane Körper, ist aus meiner psychoanalytischen Sicht
entledigen, frage ich mich, welche Art elektronisches Implantat
Ausdruck der Suche des verwundeten, entkontextualisierten
wohl angedacht ist, um Schmerzsignale ans G ehirn auszuschal
Körpers nach Erlösung durch Entkörperlichung, damit er nicht
ten. Schmerz ist ein Signalsystem, das uns vor G efahren warnt.
mehr als stofflicher Körper Restriktionen, Grenzen und mensch
Zu spüren, dass wir etwas erleiden, gehört zum Menschsein. Im
liche Schwäche erfahren muss. Der transhumane Körper ist die
Allgemeinen reagieren wir darauf, indem wir den Auslösereiz
Fantasie vom entmaterialisierten Körper, letztlich von der Kör
des Schmerzes nach besten Kräften meiden. Wir verbrennen uns
perlosigkeit. Der Körper, der ermüdet, schmerzt, verfallt, der vor
die Finger und lernen daraus , sie nicht mehr ins Feuer zu halten.
Energie und Freude überschäumt, der strauchelt und schwankt,
Aber Schmerz ist nicht immer nur eine mechanische Reaktion.
wird ausgeschaltet. An seine Stelle tritt ein Cyberkörper, ge
Schmerz ist auch eine menschliche Ausdrucksform, und wenn
steuert von Geist und Technik.
Menschen Schmerz als verzweifeltes Mittel benutzen, ihr Un
Es ist wichtig, sich damit zu befassen, was an Implantaten
wohlbefinden in ihrem Körper kundzutun, erfahren wir dadurch
und sonstiger Körpertechnologie in Planung ist und wo die
nicht nur etwas über den jeweiligen Körper - wie bei Colette
ethischen Grenzen liegen. Im Alter werden wir möglicherweise
oder Herta -, sondern über den Körper in unserer Zeit generell.
stärker auf prothetische Hilfsmittel angewiesen sein, und viel
Wenn wir an die vielen Individuen denken, die sich selbst ver
leicht hoffen wir auch auf die Entwicklung von Medikamenten
letzen oder jene rigorose Form von Sport oder Fitnesstraining
gegen G edächtnisschwund. Aber das ist etwas ganz anderes als
betreiben, die Schmerzen verursacht, können wir Schmerz nicht
die Sehnsucht nach dem transhumanen Körper, eine Sehnsucht,
einfach nur als eine Turbulenz in unseren G ehirnzellen begrei
die unterstreicht, wie instabil und unglücklich unser Verhältnis
fen. Schmerz ist bedeutsam: Er kann viele verschiedene Bedeu
zu unserem Körper heute vielfach ist. Der Körper ist mittlerweile
tungen haben. Schmerz - ob psychisch oder physisch - ruft das
ein G ehäuse für Fantasien, nicht mehr das, wodurch wir leben.
Individuum auf, darüber nachzudenken, was mit ihm geschieht.
Es ist keine Maschinenstürmerei, wenn ich sage, dass in einer
Schmerz könnte die Form sein, wie jemand die Kontaminierung
Welt, in der das Verhältnis zum Körper aus dem Lot geraten ist,
durch eine Kultur ausagiert, die den Körper physisch oder psy
die Lösung nicht in der Flucht aus der Stofflichkeit des Körpers
chisch attackiert. Wir neigen dazu, körperlichen Schmerz zu
liegt, sondern in der Auseinandersetzung mit den Problemen, die
respektieren und psychischen geringschätzig abzutun. Doch
unser Körper auf der psychischen Ebene für den Einzelnen und
so einfach ist es nicht. Die Trennung zwischen beidem ist weit
die Gesellschaft aufwirft.
weniger klar, als wir glauben. Psyche und Körper stehen in einer
Wenn ich Publikationen über den Transhumanismus und
134
komplexen Wechselwirkung. Wann, wo und wie man physischen
135
Schmerz verspürt und was das mit einem macht, hat ebenso viel
erträgliche körperliche und damit auch psychische Qualen
mit persönlichen Faktoren zu tun wie mit den jeweiligen medizi
zuzufügen. Der Körper als Körper ist unentrinnbar; er ist die
nisch-physiologischen Vorgängen. Wir alle kennen Menschen,
Hauptdomäne der Folter. Folter basiert auf Akten extremer, kal
die Schmerzen »wegstecken« oder nie welche zu haben schei
kulierter G ewalt. Sie will drohen, destabilisieren und die Über
nen, und andere, deren hervorstechendstes Empfinden Schmerz
zeugungen und Intentionen des Individuums pervertieren. Folter
ist. Worum es mir geht, ist: Psychosomatischer Schmerz wurde
ist darauf angelegt, nicht nur hervorzuholen, was der oder die
immer unter dem Aspekt gesehen, dass die Psyche Spielchen
Gefolterte verbergen möchte, sondern auch die Psyche des Indi
mit dem Körper treibt, aber meine psychoanalytische Erfahrung
viduums so zu zerrütten, dass es sich selbst misstraut. Sie soll de
hat mich gelehrt, bei Patientinnen und Patienten mit physischen
monstrieren, dass der Herr und Meister des Körpers nicht dessen
Schmerzen die körperliche Seite genau zu betrachten, da der
Bewohnerio oder Bewohner ist, sondern der Folterer.
Schmerz in diesen Fällen nicht nur mit der Psyche zu tun hat,
Kaum j emand vermag physischer Folter zu widerstehen. Die
sondern auch mit dem Versuch der Betreffenden, überhaupt
Psyche kann das Geschehen für kurze Zeit von sich fernhalten,
einen Körper für sich zu finden. Durch ihr körperliches Leiden,
indem sie dissoziiert, doch unter Menschen, die sich an Aktivi
das Aufmerksamkeit erzwingt, versuchen diese Menschen mei
täten beteiligen, für die sie gefoltert werden könnten, gilt der
ner Meinung nach Aufmerksamkeit auf einen Körper zu lenken,
Grundsatz, davon auszugehen, dass das, was der oder die Ein
der vernachlässigt, missachtet oder misshandelt wurde. Das ist
zelne an Informationen besitzt, aus ihm oder ihr herausgeholt
etwas sehr Persönliches und Intimes, und der extreme Schmerz
werden wird. Ziel der Folter ist es, das Individuum seiner Inte
ist ein Mittel der Selbstmitteilung und des Selbstausdrucks.
grität - im Sinn von Ganzheit - zu berauben, Psyche und Körper
Natürlich haben die Wissenschaftler, die an Schmerzmanage
so zu trennen, dass die Psyche destabilisiert wird. Und der Kör
ment-Techniken arbeiten, den verständlichen und berechtigten
per ebenso, da seine physischen Funktionen unter dem Druck
Wunsch, Menschen, die unerträgliche Schmerzen leiden, Lin
von Schlafentzug, Desorientierung
derung zu verschaffen. Chronischer Schmerz ist etwas Schreck
Ertränken und direkten physischen Angriffen der willentlichen
liches. Das Bemühen, Medikamente zur Schmerzneutralisierung
Steuerung entgleiten. Interessant an den Folterverbrechen von
zu finden, ist löblich. Bizarr ist nur der Traum der Transhuma
Abu Ghraib ist die Big Brother-Reality-TV-Manier, in der die
wie so vieles an ihren Ent
Täter ihre sadistischen Akte durch Videoaufnahmen dokumen
nisten, Schmerz abzuschaffen, da er
würfen - die Grundsituation des Menschen zu leugnen scheint.
wie etwa beim simulierten
tierten. Hier kommen zwei Dinge aus unserem modernen Leben
Wenn wir uns einmal vom Anliegen der Schmerzlinderung
zusammen. Reality-TV -Sendungen positionieren ihr Publikum
abwenden und jenen Bereich betrachten, dessen Ziel die Zu
in der Rolle von Zuschauern bei der Entwürdigung anderer, die
fügung von Schmerz ist - die Folter -, erkennen wir, dass wir
einer schweren körperlichen Herausforderung nicht gewachsen
unter der Folter der Realität unseres Körpers nicht entkommen
sind, ihre Angst vor dem Dschungel nicht beherrschen können
können. Die Macht der Folter erwächst daraus, dem Opfer un-
oder aus der Sendung gevotet werden. So wird regelrecht Lust
13 7
am Voyeurismus gezüchtet, die dann auf die minutiöse visuelle
und umgestalten zu lassen. Sie konfrontiert uns mit dem Horror
Dokumentation der Demütigungen trifft. Auf unseren Bild
der Prozeduren, mit der Heftigkeit des Wunsches nach äußerer
schirmen sehen wir, wie Menschen beschämt und entwürdigt
Veränderung, mit der Unmöglichkeit, einen Körper zu haben,
werden.43 Als Zuschauer partizipieren wir an ihrer Erniedrigung.
den wir akzeptabel finden können. Ihr Werk zu betrachten ist
Was nun die politisch motivierte Folter angeht, so ist sie immer
fast schon unerträglich. Und genau darum geht es. Sie führt uns
schon dokumentiert worden, bei den Nazis ebenso wie bei den
vor Augen, was wir lieber nicht wahrhaben wollen: den Schmerz
Roten Khmer. Das Aufzeichnen von Folter per se ist nichts Neu
und die Destruktivität, denen der weibliche Körper ausgesetzt
es. Aber die visuelle Dokumentation von Folter als Horne Movie
ist. Es treibt einen zu Tränen, an sich heranzulassen, was sie
ist doch eine bestürzende Aussage über unser Verhältnis zum
durchgemacht hat, um in überspitzter Form zu zeigen, wozu
Körper. Wir sehen, wie dem Körper G ewalt angetan wird. Wir
Frauen allerorten ermutigt werden.
sehen Akte abscheulicher Aggression gegen G efangene. Wir
Wenn Orlan sich diesem physischen Angriff ausliefert, ist es
werden zu tatenlosen Zuschauern körperlicher und seelischer
der Versuch, aus dem, was Frauen in aller Welt widerfahrt, Kunst
Misshandlung. Durch das Filmen wird real, welche G ewalt Kör
zu machen. Für viele Menschen hingegen sind Schönheitsopera
per, gegen die Krieg geführt wird, anderen Körpern antun kön
tionen, wie wir gesehen haben, kein künstlerischer Akt, sondern
nen. In den Videos wird die physische Brutalität der Angriffe auf
ein Akt des psychischen Überlebens. Andere, vor allem in China,
unsere Körper, die normalerweise unsichtbar bleiben, offenge
Südkorea und den neuen Ländern Osteuropas, sehen Schön
legt. Der Horror dieser Form physischer Kampfhandlungen wird
heitsoperationen als einen Akt des ökonomischen Überlebens:
real. Ein auf Vernichtung des Innersten gerichteter Sadismus
als Möglichkeit, »auf Augenhöhe mitzuspielen«, oder als Passier
kommt zum Vorschein, und man fragt sich, ob die Folterer - und
schein in besser bezahlte Jobs. Die Macht des vergrößerten und
wir als Betrachter der Videos - vielleicht danach trachten, am
manipulierten fotografischen Bildes hat uns suggeriert, dass die
stellvertretenden Objekt eine intensive körperliche Grausam
meisten von uns, um die richtige Sorte Körper zu erlangen, das,
keit zu erleben, die die Grenzen der menschlichen Psyche und
was sie haben, korrigieren und ummodeln müssen. Orlan macht
des menschlichen Körpers austestet. Die permanenten inquisi
die Tragik dieses Strebens sichtbar und heilt uns von der Selbst
torischen Übergriffe unserer Kultur auf den Körper werden im
kompetenz-Ideologie, die mit dem vielfaltigen Angebot an kör
Horror dieser Videos sichtbar. Die Vorführung von Folter wird
perlichen Umgestaltungsmaßnahmen einhergeht. Ähnlich wie
zur Offenlegung eines kulturell bedingten perversen Verhält
die Foltervideos führt sie uns vor, wie destabilisiert Körper heute
nisses zum Körper. Das betrifft uns alle.
sind - wie könnten wir sonst Schönheitschirurgie als etwas Be
Seit den 197oer-]ahren - mit Schwerpunkt in den 90er-Jah ren - benutzt die französische Künstlerin Orlan ihren Körper
glückendes betrachten? Sie zeigt uns, dass quälende Unsicher heit die derzeitige Grundbefindlichkeit des Körpers ist.
als Darstellungsfläche für körperliche Grausamkeit. Sie legt sich
Wenn der Körper von außen beurteilt wird, ist Verzweif
unter das Skalpell des Schönheitschirurgen, um sich modellieren
lung vorprogrammiert. Erfolgreich sein heißt, mit jedem Jahr
13 9
jünger auszusehen, wie es den Frauen im Fitness-Gym zu gelin gen scheint. Erfolgreich sein heißt, den Körper zu reglementie ren: Hunger und Verlangen, Alterung und Emissionen zu kon trollieren. Erfolgreich sein heißt, den Körper als lebenslange Arbeitsaufgabe zu begreifen. Erfolgreich sein heißt, Mängel medizinischer wie ästhetischer Art - vorwegzunehmen und zu korrigieren. Doch wenn sich die normalen Körpervorgänge nicht ausreichend in Schach halten lassen - was schlicht nicht möglich ist -, wird der Körper zum Quell von Bestürzung und Versagensgefühlen.
SI
U nd der Sex?
Der paradoxe Wunsch, frei von unbotmäßigen Körper bedürfnissen zu sein, um in Frieden im eigenen Körper leben zu
Die Schulbusfahrer für Mittelstufenschüler aus den Vororten
können, wird noch verstärkt. Der Körper wird als Bedrohung
von Philadelphia waren beunruhigt. Sowohl auf ihren morgend
erlebt. Mit dieser Einstellung können wir nur scheitern. Unsere
lichen als auch auf den nachmittäglichen Fahrten war ihnen auf
Körper können nur falsch sein. Doch nicht diese Grundhaltung
gefallen, dass die Köpfe mehrerer Mädchen im unverkennbaren
zum Körper wird als Problem gesehen. Für eine solche kollektive
Rhythmus von oralem Sex über Jungenschößen auf und ab
Kritik ist kein Raum. Stattdessen sehen wir das Problem in der
wippten. Diese Mädchen zwischen elf und vierzehn, hatten aus
Unzulänglichkeit unserer individuellen Bemühungen. Wir sind
irgendeinem Grund die Vorstellung, Erwachsensein bedeute,
nicht in der Lage, uns einen Körper zu erschaffen, wie er sein soll
Jungen sexuelle Dienste zu erweisen. Die Busfahrer wandten
te oder wie wir ihn haben wollen. Wir finden nur vorübergehend
sich an die Schulbehörde, die gleichzeitig erfuhr, dass mehrere
Frieden - die nächste Gelegenheit, »die Sache« in die Hand zu
Jungen sich an Schulsozialarbeiter gewandt hatten, weil sie es
nehmen und weitere medizinische, emotionale und physische
als verwirrend und peinlich erlebten, dass die Mädchen oralen
Ummodelungsversuche zu unternehmen, wartet schon um die
Sex initiierten.1 Verwirrt waren beide Geschlechter. Für Jugend
Ecke. Da ist kein Körper, der einfach nur sein könnte.
liche ist es schwer, ein G efühl für ihren Platz in der sexualisierten Welt, die sie geerbt haben, zu entwickeln. Die Busfahrer stellt dies ebenfalls vor Probleme, wenn es ihnen auch in diesem Fall leichtfiel, moralisch einzugreifen. Die ungleichseitigen sexuellen Erkundungen, die sie mit ansahen, waren nicht gerade das, was der nachfreudianischen sexuellen Revolution vorschwebte. Sex sollte lustvoll und selbstexpressiv sein, nicht Pflicht für die Mäd chen und peinlich für die Jungen.
Auf www.hotornot.com, einer hauptsächlich von Teenagern
Attraktivität überschreiten, spüren, dass sie individuell und be
beiderlei Geschlechts frequentierten Website, wo man ein Foto
sonders sind, während ihr reales Leben sich innerhalb einer Peer
von sich einstellt, wurden bislang zwölf Milliarden Bewertungen
group abspielt. Aber die Jungen können ihnen keine sexuelle
auf einer Skala von eins bis zehn abgegeben. Da ist nichts als das
oder emotionale Anerkennung geben. Sie sind zu jung.
Bild, das »geilste« Foto, das der Junge oder das Mädchen auf
Natürlich suchen Mädchen diese Anerkennung nicht nur bei
bieten kann.2 ln unserem Zeitalter der hochgradig manipulierten
Jungen. Sie suchen sie vor allem bei anderen Mädchen. Wenn
Bilder versuchen ganz normale Mädchen und Jungen ihr Glück
eine Mädchenclique sich samstagabends vor dem Spiegel aus
damit, ihren Körper aufdem Bildschirm aufzupeppen. Sie lernen,
gehfertig macht, beraten sich alle gegenseitig in Sachen Outfit,
sich schmeichelhaft auszuleuchten, Modelposen einzunehmen,
Frisur, Make-up, Schuhe, Tasche, Schmuck, Parfüm - den äuße
einen Schmollmund zu machen wie ein Filmstar, Waschbrett
ren Attributen der Weiblichkeit. Sie holen die Anforderungen
bäuche vorzuzeigen. Es ist wirklich sehr demokratisch. Dank
der visuellen Kultur auf die persönliche Ebene. Energiegeladen
einer vergleichsweise billigen Technologie, die, wenn nicht zu
und aufgeregt rekrutieren sie sich gegenseitig als H ilfe dabei, die
Hause, dann doch in Schulen, Jugendzentren, Internetcafes zu
Unsicherheiten zu überwinden, die ihrem Körpergefühl einge
gänglich ist, kann j eder seine Warhol'schen »fünfzehn Minuten
prägt sind
Ruhm« beanspruchen. Ob in Belgrad, Denver, Schanghai, Cusco
oder durch die kulturelle übersättigung mit Bildern. Sie kosten
ob nun primär durch ihre Mütter wie bei Colette
oder Maputu - wir können unsere eigenen Seiten auf Facebock
es aus, sich modisch zu stylen und dabei ihre persönlichen Ei
oder YouTube haben, aufWebsites wie hotornot.com oder face
genheiten zu bewahren. Das ist oft ein fröhliches Tun, das sie
thejury.com um visuellen Raum konkurrieren oder Kandidatln
gewiss nicht als repressiv beschreiben würden. Sie versuchen,
bei einem der vielen Ableger von
sich einen Körper zu erschaffen, der sich attraktiv fühlt, und
Endlich schön!, 10 Years Youn9er
oder Extrem schön werden.
diesen Prozess genießen sie. Kein Wunder. Sie sind ja nicht iso
Websites wie die genannten vermitteln, dass, wenn es um Sex
liert in ihren jeweiligen Zimmern und allein mit ihren Körper
geht, der Körper alles ist. Der Körper ist die einzige Währung,
kümmernissen. Sie haben die anderen, die ihnen helfen können,
die es flir Jungen und Mädchen vorzuweisen gilt, aber er muss
ihre Stärken zu betonen und das, was sie an sich nicht mögen,
sich auch beurteilen und bewerten lassen. Die Konkurrenzsitua
in den Hintergrund treten zu lassen. Für Mädchen ist das eine
tion legt offen, dass es um das Streben nach Anerkennung über
neue Welt, in der Schönheit und Sexualität schon früh eine Rolle
sexuelle Attraktivität geht - ähnlich dem Antrieb der Mädchen
spielen. Doch etwas fehlt. Sie haben keine wirklich eigene Se
in den Schulbussen, Oralsex mit den Jungen zu initiieren. Es ist
xualität, so wenig, wie sie einen Körper haben, der sich stabil
ein Streben nach Anerkennung, das meistens scheitert, weil das
anfühlt. Sie wissen, Sex ist wichtig, aber was das ist, wo es her
G esuchte weder auf den Websites noch in den unreifen physi
kommt und woftir es gut ist, entzieht sich ihnen. Diese Leerstelle
schen und emotionalen Kapazitäten der Jungen zu finden ist. Die
bringt sie zu dem Glauben, Jungen auf der Fahrt zur Schule einen
Mädchen wollen gesehen werden, die Schwelle zur körperlichen
zu blasen würde ihnen weiterhelfen. Was es jedoch nicht tut.
1 43
Also orientieren sie sich an jenem anderen Imperativ: attraktiv
wir nur einmal die Tatsache, dass das Körperäußere als sexuelle
zu sein. Sie rekrutieren ihre Freundinnen, denen es ähnlich geht,
Oberfläche beurteilt wird. Das Visuelle spielt die Hauptrolle.
als Hilfe dabei, sich einen Look zuzulegen, der »sexy« ist. Später
Sexuelles Begehren erwächst aus dem Sehen. Die emotionale,
am Abend dann oder in ein paar Jahren werden einige dieser
spirituelle und bindende Dimension, die die jüdisch-christ
Mädchen exzessiv Alkohol trinken, schließlich Sex haben und
liche Sexualmoral prägte, ist im Verschwinden begriffen. Neu
ihre Vorher-nachher-Fotos auf Facebook posten. Sie brauchen
ist nicht so sehr, dass Anziehung körperlich ist, das war sie i n
es, gesehen zu werden.
gewisser Hinsicht immer, sondern dass körperliche Anziehung
Die Alterskompression, jener Prozess, aufgrund dessen von
als Grundlage des Agierens, der sexuellen Begegnung, gebilligt
Mädchen erwartet wird, dass sie sich erwachsener kleiden und
wird. In den letzten vierzig Jahren, in denen wir den Regelkanon
verhalten, als sie sind, beschleunigt sich. E s gibt heute bereits
der Sexualmoral, wer mit wem wann und warum schlafen darf,
Stilettos für Babys (mit weichen, wegklappenden Absätzen) und
demontiert haben, wurde das Begehren »befreit« und anstelle
BHs für Kleinkinder. Kein Wunder, dass die sexuelle S elbst
der Hemmung, zu agieren, haben wir heute die Hemmung, es zu
fmdung für amerikanische Teenager und Prä-Teenager zum Pro
unterlassen. Anziehung ist alles. G leichzeitig gilt in jenen Kultu
blem wird.3 Gemustert und bewertet gehen sie in das Rennen um
ren und Religionsgemeinschaften, wo die Frauen ihre Körper zu
das Prädikat »hot« - ein schweres Unterfangen, das früh beginnt
verhüllen oder arrangierte Ehen einzugehen haben, das Visuelle,
und nicht aufhört. Britney Spears ist nur ein prominentes Beispiel
der Anblick des weiblichen Körpers, inlmer noch weitgehend als
dafür, wie Frauen abgestraft werden, wenn sie es wagen, in ihrem
moralischer Sprengstoff.
Postschwangerschaftskörper zu tanzen. Ein Körper, der einst
Der heutige visuelle Dauerbeschuss kracht in die alten Tabus,
wegen seiner glatten Makellosigkeit und Sexyness bewundert
den Anblick weiblicher Körperformen betreffend, und gibt dem
wurde, wird jetzt wegen der natürlichen Folgen des Sexualakts
althergebrachten Ideologem von der Gefährlichkeit des weib
verdammt. Die Aufspaltung zwischen dem sexuell attraktiven
lichen Körpers einen neuen Drall: den der Gefährlichkeit für
Körper und dem keuschen Körper, der zu unserer Vorstellung
Männer
von Mutterschaft zu gehören scheint, ist ein Paradox, das uns
so große sexuelle Macht zugesprochen, dass er überwältigen
schon lange begleitet. Die Mutter wurde und wird als eine ent
konnte. Darum musste er verborgen werden. Das unterscheidet
sexualisierte Madonna hingestellt, weshalb man bis Mitte der
sich in einer Hinsicht fundamental vom Dilemma der heutigen
198oer-}ahre von Schwangeren erwartete, dass sie züchtige Klei
Frauen: Sie wissen nicht, dass ihr Körper Macht hat, so wie er
dung trugen, um ebenjene Sexualität zu verbergen, der sie ihre
ist. Sie haben das Gefühl, hart daran arbeiten zu müssen, dass
Schwangerschaft verdankten.4
ihr Körper sexuelle Reize bietet. Doch dann passiert etwas, das
und
Frauen. Dem weiblichen Körper wurde einst eine
Dieses verdrehte Konzept vom sexuellen Körper, der wie
ein ziemlich klassisches Frauenschicksal ist, egal, ob die Betref
der zum reinen wird, ist nur eines der komplizierten, wider
fenden gehalten sind, ihren Körper hinter S chleiern und unter
sprüchlichen G edankengebilde, mit denen wir leben. Nehmen
langen Röcken zu verstecken, sich die Haare abzuschneiden und
1 44
1 45
Perücken zu tragen oder sich wie Popstars aufzumachen - die
ist oder organisch fließt. Die Kombination aus der Vorherrschaft
Fetischisierung des Körpers produziert oft unerfüllbare ero
des Visuellen und der Hinterlassenschaft der Mutter-Tochter
tische Träume - unerfüllbar deshalb, weil die Bestätigung ihrer
Beziehung, in der es bis vor Kurzem der Job der Mutter war, das
Sexualität und die körperliche Akzeptanz, die die Frauen su
Sexuelle und Erotische eher zu unterbinden, als zu bestärken,
chen, ihnen gar nicht zuteilwerden können. Das vorgefertigte
hat Sexualität zu etwas gemacht, das man zu »bringen« und als
Bild weiblicher Sexualität, das beide Teile in sich tragen - die
persönlichen Bodystamp zur Schau zu stellen hat. Auch wenn
Mädchen oder Frauen ebenso wie ihre Freunde, Partner oder
in der Sexualmoral in jüngerer Zeit einiges im Fluss ist, werden
auch Partnerinnen -, verunmöglicht es.
die Einstellung der Mutter zu ihrer eigenen Sexualität und die
Heute haben wir es mit einer sexuellen Überreizung zu tun.
Sexualverbote, die sie als Kind erfahren hat, in den Mix von Hal
Die Benutzung sexualisierter Körper als Mittel, uns die wunder
tungen und Einstellungen eingehen, die die Tochter absorbiert,
bare Welt der Konsumgesellschaft zu präsentieren und zu ver
während sie ihre eigene Erotik zu entwickeln versucht. Nicht
kaufen, überschüttet uns mit bildhaften Vorlagen, wie wir uns als
wenige Mädchen und Frauen (und auch manche jungen Männer
sexuelle Wesen darzustellen haben und wie wir aussehen sollten,
in der metrosexuellen und männlich-homosexuellen Kultur)
wenn wir uns sexuell betätigen. Das Zoo Ma9azine veranstaltete
erleben Sexualität als eine Art Erweiterungsmodul - etwas, das
jüngst einen Wettbewerb: Männer sollten zwei Fotos einsenden:
sie für einen bestimmten Zweck heraufbeschwören oder erzeu
eins von den Brüsten ihrer Freundinnen und eins von den Brüs
gen, nicht aber als integralen Teil und organischen Ausdruck
ten des weiblichen Stars, den sie am begehrenswertesten finden.
des Selbst. Durch die zwanghafte S exualisierung der gesamten
Als Preis winkte dem G ewinner eine Schönheitsoperation für
Kultur kollidieren im Erleben der Einzelnen oft Sex als Ware, die
seine Freundin, damit deren Brüste hinterher so aussähen wie die
man in die Welt oder eine Beziehung einbringt, Sex als Terrain
seiner Idealfrau.s Kein Wunder, dass Sex für Frauen etwas ist,
von Verwirrung und Enttäuschung und Sex als Ausdruck von
wobei sie sich selbst von außen beobachten. Die Bewegungen,
Nähe.6
die sie machen, die G esten des Flirtens und selbst der sexuellen
Eine britische Sonntagszeitung rief kürzlich ihre männlichen
Intimität, sind deshalb erregend, weil sie auf Bilder aus Filmen,
Leser auf, Fotos von ihren Freundinnen einzusenden. Die Sie
Fernsehsendungen und Musikvideos rekurrieren. Sex wird zu
gerin erwartete eine Unterrichtssession bei einem weiblichen
einem Akt, der durch die Erfüllung der Rollenvorgaben für die
Pornostar, wo sie lernen könne, ihren Mann richtig auf Touren
Beteiligten etwas Erotisches bekommt. Ob er als solcher ero
zu bringen. Es erstaunt nicht weiter, dass Kurse in Verführung,
tisch ist, möchte ich bezweifeln. Für Ruby jedenfalls - die wir
die Frauen lehren, einerseits Desinteresse zu demonstrieren und
bald kennenlernen werden - und viele andere Frauen, die ich in
andererseits sexuelle Trockenübungen an einer Stange zu ver
meiner therapeutischen Praxis erlebe, ist Sexualität etwas, das
anstalten, aufbreites Interesse stoßen. Interessant ist, dass solche
man heraufbeschwören muss und das dann Darbietungs- und
Kurse Frauen zwischen zwanzig und fünfzig plus anlocken. Wie
Leistungscharakter annimmt. Sie ist nicht etwas, das einfach da
die jungen Mädchen, die sich für den Samstagabend zurecht-
1 47
machen, erleben auch diese Frauen ihre Sexualität nicht als wirk
und die gewünschten körperlichen Merkmale zu beschreiben:
lich integriert, sondern vielmehr als etwas, das erlernt und insze
mäßig behaarte Brust, stark behaarte Brust, enthaarte Brust etc.
niert sein will. Die visuelle Verdinglichung der Sexualität und das
Der Sex wird zur Begegnung mit einem Körperbild.
Konzept von Sex als persönlichem Kapital oder als Ware haben dem Körper - oder vielleicht besser der Idee des Körpers
Gleichzeitig sind Sex und die Suche danach für viele Men
Las
schen zu einer fast schon zwanghaften Beschäftigung gewor
ten aufgebürdet, die sich oft nicht auf Dauer tragbar anfühlen.
den - weil Sex bei alldem doch starke Empfmdungen auslöst, die
Der Körper muss Sexualität signalisieren. Sie kann in vielerlei
uns daran erinnern, dass wir erregt, berührt und bewegt werden
Verkleidung auftreten, vom unschuldigen Schulmädchen- bis
können, statt unseren Körper nur in einer Rolle zu erleben. Ähn
zum strengen Gouvernantenlook, aber signalisieren muss sie
lich wie physische Anstrengung können sexuelle Empfmdungen
sich. Der sexuelle Körper muss Bewegungen von schnurrender
authentischere Körperreaktionen hervorrufen, auch wenn sie
Anschmiegsamkeil bis hin zu schlangenhafter Gymnastik be
es nicht schaffen, ein verlässliches und stabiles Körpergefühl zu
herrschen. Die oft unbewussten Anweisungen in unseren Köpfen
erzeugen. Wir haben es hier mit einem nicht ganz leicht zu ver
geben uns vor, wie wir uns sexuell zu äußern haben. Wenn aber
stehenden Paradox zu tun: Sex ist, wie wir wissen und schätzen,
ein unsicherer und instabiler Körper Sex nur als etwas betreibt,
eine potenziell sehr intensive Begegnung von Körpern. Er ist
das mit Aussehen und Rollenerfüllung zu tun hat, wundert es
auch der Bereich, in dem Menschen verletzlich und offen genug
nicht, dass die Sexualität der jeweiligen Person (von dieser selbst
sein können, um die Bestätigung zu finden, dass sie selbst und ihr
wie auch vom G egenüber) daran gemessen wird, inwieweit die
Körper in Ordnung, schön und lebendig sind. Wir suchen diese
Performanz den aktuellen Markern von Sexualität entspricht.
Bestätigung ebendeshalb im Sex, weil die physische Intensität
Das Ideal eines stabilen Körpers, der Sexualität genießen und
des Erotischen das Gefühl körperlicher und emotionaler Inau
Verletzlichkeit zulassen kann, ist oft unerreichbar.
thentizität, das heute so viele Menschen haben, zu durchdringen
Natürlich betrifft diese Fixierung auf das Aussehen des Kör
vermag.
pers nicht nur Mädchen und Frauen. Auf Dogging-Websites
Ausgangspunkt der Psychoanalyse war der Sex. Indem Freud
Internettreffs für Menschen mit Interesse an Sex im Freien und/
den psychischen Problemen des Bürgertums der viktorianischen
oder an öffentlichen Orten -, die in Großbritannien in den letz
Ära auf den Grund ging, gelangte er zu einer Theorie des Men
ten fünf Jahren populär geworden sind, tauscht man Informa
schen und seiner psychischen Entwicklung, deren zentrale Wir
tionen aus, ehe man sich zu sexuellen Zwecken verabredet. Es ist
kungsmechanismen Sexualunterdrückung und Konflikt sind. In
verblüffend, wie spezifisch die angebotenen und gesuchten kör
seiner Theorie ist die weibliche Sexualität ein armseliger Ersatz
perlichen Eigenschaften sind. Ein Mann präsentiert ein Foto von
für die männliche. Ihre Ausbildung verlangt laut Freud den kom
seinem Waschbrettbauch - kein Kopf, keine Arme oder Beine,
plizierten Prozess der Hinwendung vom aktiven Luststreben des
lediglich der Torso. Auf einer Homosexuellen-Website wird der
kleinen Mädchens zu einer passiv-rezeptiven Weiblichkeit - j e
Besucher aufgefordert, Kästchen anzukreuzen, um die eigenen
ner psychischen Konfiguration, die auf das passive Empfangen
1 49
der aktiven männlichen Sexualität gerichtet ist. Tatsächlich hielt
zu reflektieren, erweist sich Freuds Methodik, Verhalten mit
Freud damit fest, was er bezüglich der weiblichen Sexualität
unbewussten Wünschen und Konflikten in Zusammenhang zu
und ihrer Probleme beobachtete. Er beschrieb, was er sah, und
stellen, als äußerst nützlich. Sein Ansatz ermöglicht es uns, das
postulierte diese Hinwendung vom Aktiven zum Passiven, um
Unbehagen und die Besorgnis der Schulbusfahrer und Schul
die Position der Frau und die weibliche Erotik in seiner Zeit zu
sozialarbeiter wegen des Verhaltens der zu Beginn dieses Kapi
erklären.
tels erwähnten elf- bis vierzehnjährigen Mädchen zu verstehen.
Freuds Ideen traten gleichzeitig mit der ersten Welle der
Aus psychoanalytischer Sicht ist anzunehmen, dass es es innere
Frauenbewegung im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert
Widersprüche sind, die die frühen sexuellen Aktivitäten der
auf den Plan, und es gab einige Zweifel, ob sie den Feminismus
Mädchen speisen. Der Oralsex soll der Selbstbestätigung der
des zwanzigsten Jahrhunderts überleben würden) Als Patriarch
Mädchen dienen. Die G etriebenheit, die daraus spricht, denJun
geschmäht, wäre Freud vielleicht samt seinem Werk über Bord
gen unerwünschte sexuelle Dienste aufzudrängen, offenbart die
geworfen worden, hätte er sich nicht für zwei Aspekte der Libe
Unsicherheiten dieser Mädchen. Sie wollen unbedingt etwas Se
ralisierungs- und Emanzipationsbewegung der 196oer- und 7oer
xuelles tun, um das Gefühl haben zu können, sie hätten »es« voll
]ahre als wertvoll erwiesen. Zum einen ergab sich, als die sexuelle
bracht - als ob »es« eine Leistung wäre. Sie sind aktiv, aber diese
Befreiung eines der Ziele der verschiedenen Bewegungen wurde,
Aktivität erfolgt um einer Art von Selbstwertgefühl willen, die
die Notwendigkeit einer Theorie, die unbewussten Vorgängen
durch das Ausfüllen einer Rolle erlangt werden soll. Sie ist kein
und sexuellen Beziehungen hinreichende Bedeutung beimaß.
sexueller Selbstausdruck. Der Glaube der Mädchen, »es« tun zu
Und zum Zweiten brauchten wir Feministinnen eine Theorie,
müssen, weist auf eine Krise präadoleszenter Weiblichkeit hin
die weniger mechanistisch war als die ökonomische und einen
und besagt, dass es bei dem, was äußerlich als Sex erscheint, un
Ansatz für die Erklärung der Mitwirkung der Frauen an ihrer
bewusst keineswegs um Sex gehen muss. Ihr Tun ist Ausdruck der
Unterdrückung sowie für die Entwicklung einer feministischen
sexuellen Verwirrung der Spätmoderne, in der Sex Darstellung
Psychologie bot. Die Psychoanalyse schien da ganz produktiv,
nach außen ist. Zum Teil ist es vielleicht auch durch die Art und
aber wir mussten das Problem knacken, ob Freud recht damit
Weise bedingt, wie Sexualkunde an unseren Schulen unterrich
hatte, dass Frauen die Hinwendung vom Aktiven zum Passiven
tet wird: Die Mädchen lernen dort, einem Partner ein Kondom
vollziehen mussten, und wenn ja, warum. Wir knackten es, in
überzustreifen, statt ihre eigene sexuelle Lust zu entwickeln und
dem wir Freuds Darstellung der Sexual- und Geschlechtsrollen
zu genießen. Entgegen dem volkstümlichen Freud-Verständnis
aufteilung der Gesellschaft als Beschreibung dessen lasen, was
würde die psychoanalytische Deutung lauten, dass es bei den
war, und nicht dessen, was sein sollte. So ließen sich sein Werk
Fellatio-Aktivitäten der Mädchen nicht um Sex geht. Es könnte
und seine Methoden zur Klärung der Frage nutzen, wie wir zu
die Suche nach Kontakt sein oder eine Form, auszudrücken, wie
psychisch genderisierten Menschen werden.8
schwierig und verwirrend der Bereich Körper und Sexualität für
Um über den gegenwärtigen Wandel des sexuellen Klimas
adoleszente und präadoleszente Mädchen ist.9
Sind das die Mädchen, könnte man fragen, die sich in der
Augen, sagte sie, wie durch einen schwarzen G azeschleier auf
Folge durch Ritzen oder Schneiden selbst verletzen werden?
die Welt. Als sie über ihren Drang zur Selbstverletzung zu spre
Weil sie mit ihrem Kontaktbedürfnis bei den Jungen scheitern
chen begann, kamen schmerzliche Konflikte ans Licht. Sie lebte
und ihre Wertschätzungswünsche so gründlich missverstanden
in einem so quälenden psychischen Dauerzustand, dass sie sich
(und daher zurückgewiesen) finden, dass sie sich für ihr Ver
physisch kaum existent fühlte. Ihr Körper war ihr unwichtig - er
langen selbst bestrafen? Altmodische Freudianer würden wohl
war ungepflegt. Die Schnitte brachte sie sich unter anderem bei,
dazu neigen, hinter dem Schneiden und Ritzen des eigenen Kör
um ein Körperselbst zu fühlen. Wenn sie stark blutete, war sie
pers ungelöste sexuelle Konflikte zu vermuten. Das Phänomen
mit der physischen Realität ihres Daseins konfrontiert. Sich zu
selbstverletzenden Verhaltens war bis vor zwanzig Jahren nicht
schneiden ermöglichte ihr, sich mit dem zu beschäftigen, was
sonderlich verbreitet, und eine ödipale Erklärung von der Stange
sie sonst zu ignorieren versuchte - ihrem Körper. Dann musste
schien ausreichend. Doch heute, da sich das selbstverletzende
sie sich um ihn kümmern und zur Kenntnis nehmen, dass er das
Verhalten explosionsartig ausbreitet, brauchen wir meiner Mei
war, worin sie lebte. Ihre G ewalt gegen ihren Körper erweckte
nung nach eine offenere Herangehensweise. Ja, sich selbst zu
paradoxerweise ihr Körperselbst zum Leben, während es oben
ritzen oder zu schneiden, könnte sexuell begründet sein,10 aber
drein das Chaos in ihrem Kopf vorübergehend besänftigte.
es könnte auch eine Form sein, G ewalt auszuagieren, die die Frau
Dabei half ihr die Tatsache, dass das Schneiden eine che
oder das Mädchen erlebt. Selbst zugefugte Schnittverletzungen
mische Reaktion auslöste - eine Cortisol-Ausschüttung, die
könnten der Versuch sein, sich selbst und anderen seelischen
wiederum einen Schwall von Epinephrin nach sich zog, um den
Schmerz zu zeigen, der als außerhalb der Sprache liegend emp
Schmerz zu dämpfen. Gleichzeitig machte es ihr und den Men
funden wird, und gleichzeitig sichtbar zu machen, wie instabil
schen, die wussten oder sahen, was sie getan hatte, den ganzen
der Körper als Körper ist.
Horror ihrer psychischen und physischen Schmerzen sichtbar
Janes G eschichte spiegelte sämtliche Aspekte selbstver
und auf eine unmittelbare Art erfahrbar. Das Gleiche bewirkte
letzenden Verhaltens. Sie war eine Dreißigjährige aus Ohio.
für sie auch Sex. Nicht sexuelle Nähe in einer Liebesbeziehung
Sie kam aus einem strenggläubigen Elternhaus, und wir hatten
und auch nicht die temporäre Wärme flüchtiger sexueller Begeg
G rund zu der Annahme, dass es in der Familie sexuellen Miss
nungen. Der Sex, der Jane beruhigte, hatte Untertöne von G e
brauch gegeben haben könnte. Jane, die als Näherin arbeitete,
walt und G efahr. Dazu bedurfte es einer anonymen Begegnung,
schnitt sich etwa alle vier Monate mit einem Messer so tief in die
bei der irgendeine Art von imaginierter oder realer G ewalt im
Brust, dass sie stark blutete und sofort in die Notaufnahme muss
Spiel war. Jane brauchte körperlichen Schmerz, um sich besänf
te. Sie hörte keine Stimmen, die ihr befahlen, sich zu schneiden.
tigt und kurzfristig in physisches und psychisches G leichgewicht
Sie beschrieb ihren Körper als ein G ewirr von schmerzhaften
versetzt zu fühlen. Ihr Körper war auf Schmerz geeicht, und
Empfmdungen und erklärte, dass ihr Kopf phasenweise von Un
wenn es um Sex ging, brauchte sie G ewalt oder Zwang, um Be
wirklichkeitsgefühlen überschwemmt würde. Dann starrten ihre
friedigung und Spannungsabfuhr zu erreichen.
1 53
Viele Menschen äußern den Wunsch nach Schmerz oder
Körpern behaglich. Sie sind nicht mehr organisch in Arbeitspro
Zwang als Begleitumstände sexueller Erregung. Es gibt eine Fülle
zesse einbezogen, die bestimmte Muskelgruppen beanspruchen
von Websites, die dem Bedürfnis nach Sex und G ewalt gewidmet
und so ausprägen, dass man dem Körper diese Arbeit ansieht.
sind. Brett Kahrs unlängst erschienenes Buch
Sex im Kopf, Aus
Und wenn wir uns auch nicht gern in Zeiten von Knappheit und
wertung seiner Interviews mit 19 ooo Erwachsenen, die zu einem
physischer Mühsal zurückversetzt fanden, haben wir doch un
guten Teil grausame oder sadistische Fantasien als wichtiges
sere Not damit, neue Funktionen und Zwecke für unsere Körper
mentales Beiwerk sexueller Aktivität schildern, erzählt eine ver
zu finden. Je weniger wir unseren Körper gebrauchen, desto pro
störende Geschichte von Körpern, denen G ewalt angetan wur
minenter wird ironischerweise das Bild des muskulösen Mannes.
de.11 Kahrs Ergebnisse und die massive Präsenz von gewaltsamem
Wenn man die Veränderungen des Barbie-Freunds Ken über die
Sex im Internet sprechen dafür, dass wir nach starken körper
Jahre verfolgt, sieht man eine drastische Zunahme des Brust-,
lichen Empfmdungen hungern, die unsere Außengesteuertheit
Hals- und Oberarmumfangs, was das visuelle G ebot verkündet:
durch die visuelle Überhöhung und übersexualisierung des Kör
Männer haben dafür zu sorgen, dass ihr Körper gesund, stark
pers durchbrechen. Der ganz gewöhnliche, uns gehörende Kör
und vorzeigbar ist. Für Frauen ist dieses Zurschaustellungsgebot
per ist verloren gegangen. Wir suchen ihn auf beunruhigenden
durchgängig. Selbst bequeme Hauskleidung hat auf eine stylishe
Wegen.
Art sexy zu sein. Die Entfremdung vom eigenen Körper, der eher
Einst diente unser Körper dazu, Dinge herzustellen und Ar
als ein Ding denn als das eigene Zuhause angesehen wird, führt
beiten zu verrichten - Dämme und Mauern zu bauen, Felder zu
zu einer ständigen besorgten Beschäftigung mit ihm. Die über
pflügen, Fresken zu malen, Kleider zu schrubben, Nahrung zu
sexualisierung des Körpers ist ein Versuch, ihm eine direkte,
sammeln oder zu ernten. Heute sind diejenigen, die körperlich
ungefilterte Erlebbarkeit zurückzugeben - obwohl wir ihn oft
arbeiten, eine Klasse für sich. Millionen Menschen arbeiten ledig
gerade für den Sex so »hygienisch« aufbereiten, dass er keine
lich mit den Fingern auf Tastaturen. Wir bewundern die körper
Eigengerüche mehr hat und nicht einmal mehr schwitztP
lichen Fähigkeiten von Sportlern; wir gärtnern, wandern, tanzen
Sex ist so zentral für unsere Identität und für starke körper
oder schwimmen vielleicht zum Vergnügen, aber es ist doch in
liche Empfindungen, dass es gegen die zuweilen unverlässliche
unserer Gesellschaft die Ausnahme, dass jemand sich nicht be
Performanz des männlichen Körpers heute eine kleine blaue Pille
wusst bemühen muss, den eigenen Körper zu »gebrauchen«. Von
gibt, die Erektionsstörungen oder Libidomangel aus der Welt
der elektrischen Zahnbürste und der Power-Dusche am Morgen
schafft. Ursprünglich für ältere Männer gedacht, über den Stra
über Rolltreppen, Fahrstühle, Autos, Zweiräder, Laubgebläse,
ßenhandel jedoch als Designer-»Hardcock�<-Droge auch an jün
Computer, Zentralheizung und Klimaanlagen bis zur TV-Fern
gere Kundschaft gebracht, sind die Viagra-Cialis-Wundermittel
bedienung am Abend - auch die kleinsten körperlichen Anstren
auf den ersten Blick ein G eschenk des Himmels für Männer, die
gungen und Anpassungsleistungen werden uns abgenommen.
sich durch zeitweiliges Ausbleiben der Erektion oder durch die
Wir isolieren uns gegen Wärme und Kälte, machen es unseren
Angst, ihre Erektion nicht aufrechterhalten zu können, in ge-
1 54
1 55
wisser Weise in ihr vorpubertäres Körpererleben zurückversetzt
nicht echt war. Er lebte in der Angst, dass jetzt die Wahrheit über
fühlen, als sie nie wussten, wie ihr Penis reagieren würde.
ihn herauskam: Er war ein Schwindler. Wie so viele Menschen,
Die Unberechenbarkeit des Penis und der Zwang, ihn als
die eine Psychoanalyse beginnen, wollte er sich dieser Wahrheit
immer steif, immer verfügbar und immer willens darzustellen,
gleichzeitig »stellen« und entziehen. Er hatte das G efühl, dass
haben das Bild eines mythischen, magischen Phallus produziert,
sie ihn demontieren würde. Besonders fürchtete er den Verlust
das fatale Auswirkungen auf das männliche Selbstwertgefühl
seines sexuellen Selbst, des Bildes von sich als Mann, das er seit
haben kann. Aus psychologischer Sicht könnte man den schlaff
seiner Pubertät hatte.
bleibenden oder erschlaffenden Penis als eine Art physische
Zu Beginn der Therapie sprach er über Sex. Er wollte sich
Wahrheit über die Gefühle und die Verletzlichkeit des Man
mit seiner Vergangenheit bei den Marines befassen, wo er bis
nes auffassen. Dennoch betrachten wir beides kaum je als zum
zum Ausscheiden in den Ruhestand Berufssoldat gewesen war.
normalen männlichen Erleben gehörig, was es mit S icherheit ist.
Er begann mit einer Geschichte, die ich schon oft gelesen und
Unsere Bild von Virilität - aufgrund dessen sich Frauen durch
gehört, aber noch nie in der Therapie erzählt bekommen hat
eine ausbleibende Erektion abgelehnt fühlen und Männer da
te. In der Nacht vor der Einschiffung zu seinem ersten Einsatz
rin etwas Erschreckendes sehen
verschärft das Problem nur.
hatte er, einer militärischen Tradition folgend, seine Pistole un
Gelegentlicher Erektionsverlust sollte nicht als problematisch
ter seine Freundin geschoben und dann, aufbeiden liegend, den
betrachtet werden. Die Intimität kann davon profitieren. Die
Geschlechtsverkehr vollzogen. Eigentlich trennten ihn einige
Partnerin oder der männliche Partner beruhigt und tröstet den
G enerationen von der Ära des Soldatenspruchs: »Dies ist mein
Mann in der Regel. Doch ganz gleich, wie die einzelnen Paa
Gewehr, meine Pistole ist das, das eine ist ftirs Kämpfen, das
re damit umgehen - allgemein gilt der unzuverlässige Penis als
andere für den Spaß.« Doch die Assoziation von Penis mit Waffe
Zeichen von Ungenügen, mit der Folge, dass die Versagensangst
saß bei seinem Marine-Korps und ihm selbst tief. »Das bin ich«,
das gelegentliche »Missgeschick{< zu dauerhafter Impotenz ver
erklärte er, »ein G ewehr und meine Pistole hier.« Und er sagte
festigen kann und Männer dazu treibt, zu Pillen und anderen
noch: »Ich bin zwar noch mehr, aber das ist es, was zählt.«
Potenzmitteln zu greifen.
In der G rundausbildung wurde ihm und den anderen Rekru
Jerry war in den Vierzigern, sexuell aktiv mit seiner Frau und
ten befohlen, ihre Gewehre nach ihren Freundinnen zu taufen.
gelegentlich, was ihn mehr erregte, mit anonymen Männern. Er
Man geht zu seinem G ewehr eine Bindung ein wie zu seinem
glaubte, »seine Männlichkeit verloren zu haben«, da er sich beim
»Mädel«, damit man beim Töten durch das tröstliche Gefühl
Sex nicht mehr auf eine anhaltende Erektion verlassen konnte.
einer sexuell-emotionalen Beziehung gestützt wird.13
Er begann, bei der Arbeit Fehler zu machen. Er nahm chemische
Jerry wurde darauf trainiert, immer in Bereitschaft zu sein:
Potenzmittel, die ihm zwar halfen, sich in potenziell sexuellen
bereit, Befehle auszuführen, und bereit zum Sex. Die zwanzig
Situationen oder beim Sex zu entspannen, ihm aber das Gefühl
Jahre als Berufs -Marine und seine anschließende Arbeit in der
gaben, dass seine Erektion nur pharmazeutisch induziert und
Sicherheitsbranche hatten ihn daran gewöhnt, j ederzeit zu funk-
1 57
tionieren, ob im Job, in der Familie, beim Sport, als romantischer
prozess war so dosiert, dass er genug von seiner Angst ablegen
Liebhaber oder beim Sex. D och er war depressiv. Er erfüllte me
konnte, um zu merken: Er konnte sie aushalten, ohne wegzulau
chanisch seine Pflicht, fühlte sich aber innerlich leer. Als sich sein
fen, und er konnte es überstehen, dass wir den militarisierten
Penis als nicht mehr verlässlich erwies, stürzte ihn das in große
Körper, den er sich zugelegt hatte, dekonstruierten. Jerrys Körper war zu einer Waffe geworden - einer Waffe
Probleme. In der Therapie sprach Jerry über seinen Körper und seine
gegen andere und gegen sich selbst. Wie hätte es auch anders
Erlebnisse wie ein Ausbilder, der mir ein Diensthandbuch er
sein können, wenn er ihn auf so militärisch rigide Weise gedrillt
klärte. Als seine Angst, über sich selbst zu sprechen, nachließ,
hatte? Er hatte versucht, über sein »Sweetheart« Rosa Mae sein
beschrieb er seinen Körper wahlweise als Werkzeug, das ihn im
Herz zu bewahren. Sie stand für Liebe, Sanftheit und Trost. Diese
Stich ließ, als taub und von allem abgeschnitten oder, drastischer,
»Sweetheart-Romantik« war das, was die Kultur der Marines den
als Maschine zum Töten. Sein Problem mit seinem Penis führte
Männern als Kontrapunkt zur Brutalität anbot. Doch bei Jerry
ihn dahin, die Brutalitäten der militärischen Ausbildung und des
und vielen anderen Marines und Soldaten hatte die Rehumani
Krieges aufzudecken, die zwar schon etliche Jahre zurücklagen,
sierung nicht recht geklappt. Er lag mit dem empfindsamen Teil
aber sein physisches und psychisches Selbstgefühl so weitgehend
seiner selbst im Krieg. Seine Fähigkeit, liebevolle Beziehungen
geprägt hatten.
einzugehen, hatte gelitten. Es war ja auch nicht leicht, einen Teil
Als Afroamerikaner, der im Getto der Chicagoer South Side
von sich zur Kampfmaschine abzurichten und einen anderen Teil
aufwuchs, musste Jerry schon früh ein harter Kerl sein. Bei den
nicht. Da war der gute Sweetheart-Teil und der Killer-Teil (mit
Marines wurde verstärkt, was er schon kannte. Sein Körper war
der Sexualität als Brücke). Aber er konnte nicht Teile von sich
dafür gestählt, zu kämpfen und zu erobern, und so sah er auch
so säuberlich getrennt halten, schon gar nicht nach exzessivem
Sex. Im Reden fand er allmählich Worte und G efühle, die seine
käuflichem Sex während seiner Auslandseinsätze. Und während
innere Panzerung lockerten, jene Armierung gegen noch vor
Jerry redete, überfielen ihn Kriegserinnerungen und Bilder von
handene Verletzlichkeiten, die er sich (wie zweifellos Tausende
Dorfverwüstungen und Massenvergewaltigungen, die Kamera
von Rekruten) bei den Marines zugelegt hatte. Sich damit zu
den aus seiner Kompanie begangen oder geschildert hatten. Das
konfrontieren, wie hart er hatte sein müssen und wie hart er zu
gab Jerry den Rest. Er hatte sich gegen den Horror abgeschottet.
sich selbst war, war für ihn sehr schmerzlich. Es weichte seine
Doch jetzt konnte er nicht mehr aufhören zu weinen.
ganze Art zu sein auf. Er fühlte sich entwaffnet. Zeitweise hatte
Wir explorierten gemeinsam, inwiefern der angespannte
er das Gefühl, alles infrage zu stellen, was er kannte und was er
Körper von Jerry, dem Killer, verständliche Schwierigkeiten hat
bisher getan hatte
seine äußeren und emotionalen Reaktionen,
te, sich zum zärtlichen Körper des Liebhabers zu lockern. Beides
seine Vorstellungen vom Leben. Er hatte Angst. Und Angst war
schloss sich gegenseitig aus. Zum Killer zu werden hieß, sich zu
ein Gefühl, das er nie zugelassen hatte. Ein G efühl, das er immer
verhärten. Und es hieß auch, verschlossen zu sein und sich da
durch eisenhartes Auftreten weggedrückt hatte. Der Therapie-
vor zu scheuen, über die B edeutung und die emotionalen Folgen
1 59
des Tötens nachzudenken. Das erschien mir absolut plausibel.
sehen zu weit hergeholt. Natürlich hat das Stillen bei manchen
Frauen werden dazu erzogen, zu hegen und zu pflegen und an
Müttern und manchen Babys etwas Sexuelles. Und ebenso ist
dere zur Initiative zu befähigen. Wenn eine Frau die negativen
auch in der Masturbation schon sehr früh etwas Sexuelles prä
Aspekte erdrückender Mutterliebe erkennt, kann das extrem
sent. Doch im Unterschied zu den meisten anderen Entwick
schmerzhaft sein. Sie stellt sich ebenso ungern den destruktiven
lungsschritten des Kindes erntet dieser kein entzücktes »Fein ge
Seiten ihrer Sozialisation und deren emotionalen Auswirkun
macht, Schätzchen!«. Wir rufen nicht unsere Freundinnen an, um
gen, wie Jerry sich dem stellen wollte, was es ihm angetan hatte,
ihnen zu sagen: »Ist das nicht toll! Emma hat heute ihre Klitoris
zum Töten abgerichtet zu werden. Inzwischen lockern sich zwar
entdeckt.« Wir wissen möglicherweise nicht, was wir zu einem
die geschlechtsspezifischen Sozialisationsmuster, aber was da
masturbierenden Kind sagen sollen. Wir versuchen vielleicht,
mit bisher nicht einhergeht, ist die Bewusstwerdung darüber,
dem Kind, ohne es in seinem Enthusiasmus zu bremsen, zu ver
was Töten oder die Bereitschaft dazu mit Menschen macht. Es
stehen zu geben, dass das etwas ist, das man tut, wenn man allein
liegt nur zwei G enerationen zurück, dass die Mehrheit unserer
ist. Aber das Tun selbst versprachliehen wir oft nicht. Was immer
Männer zum Töten ausgebildet wurde. Männlichkeit hat sich eng
wir sagen oder nicht sagen, was immer wir auf irgendeine Art
mit Vorstellungen von Tapferkeit und Erobererturn - auf der
vermitteln, wird vom Kind als Teil seiner sexuellen Entwicklung
sexuellen wie auf der militärischen Ebene - verflochten, und ob
absorbiert. Vertrautheit mit den eigenen G enitalien ist für Jungen
wohl wir diese Fähigkeiten nicht mehr von allen unseren Män
natürlich ein anderes Thema als für Mädchen, da die Anatomie
nern verlangen, lassen wir diejenigen, die in militärischen Zu
von Harnröhre und Penis dafür sorgt, dass Jungen ihr Sexual
sammenhängen töten oder getötet haben, weitgehend mit den
organ täglich in die Hand nehmen, während Klitoris und Scham
Auswirkungen allein. Wenn Sex und G ewalt sich durch militä
lippen oft unberührt und unbenannt bleiben und nur unter der
rische Ausbildung verknüpfen, sind die Folgen für die Sexualität
Bezeichnung »da unten« laufen. Unsere Haltung zu den sexuellen
oft alles andere als harmlos.
Erkundungen des Kindes, unser eigenes Verhältnis zur Sexuali
Die meisten Aspekte unserer psychophysischen Reife ha
tät und die Körperlichkeit, die wir in den Umgang mit dem Kind
ben Vorläuferstadien. Wir krabbeln, ehe wir laufen, ziehen uns
einbringen, bilden den engeren Kontext, in dem das Kind das
hoch, ehe wir stehen, brabbeln, ehe wir sprechen, saugen, ehe
Gefühl für seine eigenen sexuellen und sinnlichen Möglichkeiten
wir kauen. Wir machen Vorübungen und entwickeln allmählich
entwickelt. Außerhalb des Elternhauses wirken die Peer-Kultur,
die Muskeln, die uns zu zentralen menschlichen Aktivitäten be
die sexualisierte Kommerzialisierung der Kindheit, die Angst vor
fähigen. Mit der Sexualität und Erotik ist es anders. Auch wenn
Kindesmissbrauch und die Pornografie auf das K ind ein: Sexuali
postfreudianische psychoanalytische Ansätze das Erleben der
tät wird als eine Art Sport, als etwas, das man kaufen kann, oder
Mutterbrust und des Stillens als protosexuelle Aktivität be
als Gewaltakt dargestellt. Das bedeutet, dass die Strukturierung
trachten, bei der das Glücksgeftihl des Babys postorgasmischer
sexueller Impulse und sexueller Identität in einem Feld aus Ver
Befriedigung ähnelt, ist dieser Vergleich doch den meisten Men-
wirrung, Negativität und einer Menge Leerstellen stattfindet.
1 60
Besonders schwierig ist es für Mädchen. Die Gründe liegen
es in solch mehr oder minder transgressiven Situationen auftrat,
größtenteils im ambivalenten Verhältnis des Patriarchats zur
dann war das eben so. Das Schwinden ihrer sexuellen Lust hatte
weiblichen Sexualität, das sich traditionell darin niederschlug,
ihn verletzt und verwirrt. Ruby selbst war ebenfalls verwirrt. Zu
wie Frauen ihre eigene Sexualität und die ihrer Töchter zu
Beginn der Beziehung war ihr Verlangen groß gewesen.
regulieren hatten. Sexualität war einerseits für den Mann da
Ruby war es sehr wichtig, dass sie gut aussah. Wenn sie in den
und andererseits für die Fortpflanzung. Frauen, die ihre eigene
Spiegel schaute, erblickte sie eine lebenssprühende, schicke Frau,
Sexualität offen genossen, wurden als verdorben und »sündig«
die eher wie eine Modedesignerin denn wie eine Juristin wirkte.
geächtet. Obwohl die Pille Sex und Fortpflanzung entkoppelt
Sie war zufrieden mit ihrer Erscheinung. Äußerlich war sie sexy
und der weiblichen Sexualität neue, eigenständige Möglichkei
und elegant. Es war ihr ein Rätsel, warum ihr sexuelles Verlangen
ten eröffnet hat, stoßen uns die Mädchen in den Schulbussen auf
so fragil war. Tagsüber stellte sie sich vor, wie sie zu Ricardo nach
die Probleme, die Mädchen und Frauen heute haben, ihre eigene
Hause kam und mit ihm Sex hatte. Sie malte sich aus, wie sie am
Sexualität zu entwickeln. Es mag an der Oberfläche so aussehen,
Wochenende viel Zeit zusammen im Bett verbringen würden.
als täten sie das, was sie tun, für die Jungen, aber die Tatsache,
Doch sobald sie zu Hause war, waren diese G edanken entwe
dass diese noch gar nicht dafür bereit sind, weist daraufhin, dass
der wie weggeblasen oder schlugen in Selbstvorwürfe um: Was
es den Mädchen weniger um Sex als um Selbstwertgefühl geht.
stimmt an mir nicht, dass ich jetzt, wo ich könnte, nicht will?
Ihre Sexualität ist nur Mittel zum Zweck. Sie sind ebenso ver
In der Zeit ihres Kennenlernens waren Ruby und Ricardo
wirrt wie Frauen, die vom Alter her ihre Mütter sein könnten,
voneinander hingerissen. Zu erkunden, wer sie jeweils waren
aber nicht minder darum ringen, zu einer stabilen Sexualität zu
und was ihnen gefiel, schürte ihre Leidenschaft. Zwei Menschen
finden.
wurden eins, und das Einssein schien jeden von ihnen in seiner
Ruby kann für viele Frauen stehen, die ich über die Jahre in
Individualität zu bestärken. Das dynamische Wechselspiel von
meinem Sprechzimmer gesehen habe. Selbstbewusst im Auf
Leidenschaft, Liebe, Nähe und Entfernung beflügelte sie se
treten und in einer stabilen Beziehung lebend, hatte sie das Pro
xuell und seelisch. Ihre Beziehung war für sie ein wunderbares
blem, dass sie zunehmend das Interesse an Sex verlor. Ihr Verlan
Gleichgewicht zwischen Zusammensein und Getrenntsein, das
gen ließ immer mehr nach, je länger sie mit Ricardo zusammen
ihnen mehrere Jahre sehr gefiel, doch in ihrem neunten Jahr als
war, den sie liebte und attraktiv fand. Wenn er weg war, wollte
Paar, mittlerweile mit zwei kleinen Kindern, verflog für Ruby die
sie ihn. Wenn sie ihn abholte und sie sich auf dem Flughafen
sexuelle Anziehung.
oder auf der Heimfahrt übereinander hermachten, war sie voller
Ruby fragte sich, ob es daran lag, dass sie Sex nicht mit der
Leidenschaft und Begehren. Inzwischen hatten sie den besten
ehelichen Beziehung zusammenbringen konnte, die sie jetzt
Sex unter solchen Bedingungen: in Situationen, die man eher als
führten. War sie zu verliebt in ihre Kinder, durch sie sinnlich
gefährlich und ziemlich unbequem empfinden würde. Ricardo
ausgelastet und ansonsten schlichtweg erschöpft? Dann war da
störte das nicht. Ihm gefiel es, ihr Verlangen zu spüren. Wenn
ihr Bild von der Ehe ihrer Eltern, die ihr sexuell tot erschien. Als
1 62
Teenager und Twen war sie sexuell aktiv gewesen. Konnte es
Sicherheit zu geben. Ihren Körper zu zügeln und unter Kontrolle
sein, dass sie jetzt in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten war?
zu halten, war Rubys Art gewesen, sich ein Korsett zu geben.
Ihre Mutter gehörte zu einer G eneration, in der Sex für Frauen
Dabei war sie rigide geworden. Sie konnte ihren Körper nicht
nicht als besonders lustvoll gegolten hatte - oder es nicht hatte
sich selbst überlassen und darauf vertrauen, dass er schon das für
sein dürfen. Rubys Mutter hatte nicht vermittelt, dass die Ehe
sie Richtige tun würde, weil sie unbewusst davon ausging, dass
mit einem befriedigenden Sexualleben einhergehen konnte. Se
da kein Körper war, den sie wieder vorfmden würde.
xualität, so die Botschaft, war nicht gerade angenehm und so
Das erinnert an Colette mit ihrem falschen, angepassten
eine Art Pflicht. Während Ruby sich als Single nie von diesen
Körper. Auch Ruby verschaffte sich ständig temporäre Gren
Botschaften beeinflusst gefühlt hatte, stellte sie jetzt, in einer
zen, weil sie keine Körpersicherheit in sich hatte. Sexuell nicht
dauerhaften Beziehung, fest, dass sie nur leicht transgressiver
»loslassen« zu können, wenn sie sich nicht in einem engen Raum
Sex reizte. Daher der Sex auf der Heimfahrt vom Flughafen auf
wie einem Auto oder an einem riskanten Ort befand, war ihre
dem harten Straßenbankett.
erwachsene Version, sich durch eine »Notsituation« (in ihrem
Als wir dem Thema weiter nachgingen, ergab sich, dass Ruby,
Fall eine transgressive, verbotene Situation) eine Grenze zu ver
als sie Mutter geworden war, eine unbewusste Identifikation
schaffen, die ihr das Gefühl gab, physisch zu existieren. Mit dem
mit den negativen G efühlen ihrer Mutter zum Körper und zur
Eintritt in den konventionellen psychischen Raum der Mutter
Sexualität eingegangen war. Das kam nur indirekt zum Vor
schaft hatte sie den rebellischen Kontext verloren, den sie auf
schein, wenn Ruby über den Körper ihrer Tochter sprach und
grund ihrer Körperunsicherheit benötigte. Jetzt brauchte sie
darüber, wie ihr dessen völlig normale Pummeligkeit zu schaf
neue Formen der Transgression, um Erregung zu verspüren.
fen machte. Sie war ihr - was Ruby selbst irrational erschien - ein
Rubys und Jerrys G eschichten sprechen gegen das Konzept
Dorn im Auge. Sie empfand den Körper ihrer Tochter als zu
von einem naturgegebenen Körper, der einfach weiß, wie er zu
wabbelig und unkoordiniert. Clara, ihre Tochter, empfand das
sein und wie er Sex zu haben hat. Bei Jerry erkennen wir eine
selbst nicht so. Nur Ruby war beunruhigt und hatte das Gefühl,
männliche Version dessen, was ich hauptsächlich für die Körper
dass der Körper ihrer Tochter außer Kontrolle war. Als wir wei
von Mädchen und Frauen beschrieben habe. Jerrys sexualisierter
ter darüber redeten, wurde Ruby klar, dass sie selbst immer sehr
Kampfmaschinen-Körper ist die Überspitzung einer körperlich
diszipliniert und beherrscht gewesen war, was ihren Körper an
ausgeformten Männlichkeit, wie sie einst für die Mehrzahl der
ging, und sie sah es jetzt so, dass diese Selbstdisziplinierung der
gesunden Männer in den westlichen Ländern galt, heute aber
Versuch gewesen war, sich als unsicheres, ungestümes und toll
fast nur noch in Fitnessstudios, Gangs und bestimmten Arbeiter
patschiges kleines Mädchen eine Körpergrenze zu verschaffen.
Berufsgruppen - etwa bei Bauarbeitern - zu fmden ist, wo die
Rückblickend hatte sie das G efühl, sich der äußeren Konturen
Ausbildung von Muskeln der Erfüllung körperlicher Aufgaben,
ihres Körpers nicht sicher gewesen zu sein. Sie fragte sich j etzt,
aber auch der Identitätsmarkierung dient.
inwieweit ihre Mutter fähig gewesen war, sie zu halten und ihr
Aus Jerrys Geschichte, dem Verhalten der Mädchen in den
Schulbussen und Rubys transgressivem Sex wird deutlich, wie Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit unsere Sexualität prägen. Psychoanalytisch ausgedrückt, sind diese Formen von Sexualität Abwehrmechanismen gegen Verletzlichkeit. Einfach machomäßig daranzugehen, »es zu tun« - wie jene Mädchen -, dämmt das Gefühl zurück, nicht recht zu wissen, was man da tut und warum. Gleichzeitig ist ebenjene Verletzlichkeit, die dieses sexuelle Verhalten letztlich antreibt, auf der Suche nach einer in timen B eziehung, in der sie akzeptiert werden könnte. Sexualität wird zum Vehikel, das die Begegnung von Körpern ermöglicht,
6 1 Wofü r sind Körpe r da?
doch die emotionale und körperliche Instabilität der Beteiligten hat zur Folge, dass ohne das Zulassen der Verletzlichkeit nicht
Ich habe in diesem Buch zwei Argumentationsstränge verfolgt.
viel mehr passieren kann als die Erfüllung von Rollenvorgaben.
Der erste ist ziemlich simpel: Körper wurden von jeher nach Maß
Der Körper kann berühren und berührt werden, aber er kann
gabe der jeweiligen kulturellen Bedingungen geformt. Es gab nie
nicht erreicht werden.
einen »natürlichen« Körper, nie eine Zeit, in der Körper nicht durch kulturelle Praktiken geprägt waren. Welche G esten wir beim Reden machen, wie wir gehen, wie unsere Tischsitten aus sehen, ob wir Babys gleich nach der G eburt durch Beschneidung, später durch Stammesnarben oder gar nicht kennzeichnen, ob wir dunkle Haut, lange Nasen oder sonstige Merkmale abwerten, ja, selbst, was in unserer j eweiligen Gesellschaft als Krankheit gilt (etwa zu niedriger Blutdruck zwar in Deutschland, nicht aber in G roßbritannien und den USA) - das alles ist davon abhängig, wo und in welcher Zeit wir leben. Es ist noch nicht lange her, dass John Howard Griffms Reise durch das Dunkel aufzeigte, wie die Hautpig mentierung darüber entschied, welche Möglichkeiten Menschen in den USA offenstanden. Wir werden auf der physischen Ebene beurteilt, und unsere soziale und ökonomische Position ist immer noch davon abhängig, wie unser Körper gesehen wird und wie wir danach eingestuft werden. Dass mittlerweile Klassen- und Rassenschranken und in jüngerer Zeit auch die Beschränkungen
166
durch Geschlecht und Gender infrage gestellt werden, ist begrü
wurden krank und starben. Inzwischen implantieren wir neue
ßenswert. Weniger begrüßenswert ist, dass die Globalisierung, in
Organe, zeugen Lebensretter-Geschwister, ersetzen, was ver
deren Natur es liegt, die krasse Ungleichberechtigung von Ras
fällt, und remodeliieren Körper mit dem Gefühl, dass es unser
sen und Klassen weltweit offenzulegen, gleichzeitig die Ideologie
gutes Recht ist. Körperlichkeit heute steht zwischen einer post
propagiert, dass jede/r »dazugehören« kann, wenn es ihm/ihr
industriellen Phase der Geschichte und einer Ära des Präzisions
gelingt, den ärmeren Background äußerlich abzustreifen, indem
Bioengineerings von Körpern.1
er/sie dessen körperliche Marker austilgt und sich das richtige
Bis vor Kurzem noch haben wir unsere Körper als gegeben
Aussehen, den richtigen Körper verschafft. Individuen, wo auch
hingenommen. Wir hofften darauf, mit einer robusten Gesund
immer sie herkommen, schreiben ihrer Körperlichkeit die Vor
heit und - vor allem als Frauen - gutem Aussehen ausgestattet zu
gaben des jeweiligen kulturellen Moments ein. Die Art, wie sie
sein. Menschen, die ihren Körper zu ihrem Tempel machten, die
diese durch ihren Körper, ihre Frisur, ihren Gang, ihre Kleidung
große Sportler oder Schönheitsikonen wurden, waren die Aus
und ihre Accessoires darstellen, signalisiert, wie sie gesehen und
nahme. Wir glaubten nicht, so werden zu müssen wie sie. Wie
(neu) zugeordnet werden wollen. Der postmoderne Mythos der
herausragende Wissenschaftler, Historiker, Schriftsteller, Re
Selbsterfindung wird um die ganze Welt verbreitet.
gisseure, Forscher oder Köche erweiterten und bereicherten sie
Mein zweiter Argumentationsstrang gilt dem, was gegen
mit ihren Gaben unsere Welt, aber wir erwarteten von uns nicht
wärtig mit dem Körper geschieht. Ich habe versucht, unseren
dieselbe Schönheit, körperliche Meisterschaft oder Hyper
Moment der kulturellen Entwicklung zu beschreiben, in dem wir
intelligenz.
vielleicht die letzte Generation sind, die noch in einem Körper
In den letzten dreißig Jahren aber haben, wie ich in diesem
lebt, wie wir ihn kennen. Im Bereich der Fortpflanzung stehen
Buch aufzeige, die neue Grammatik der visuellen Kultur, das
wir vor der präimplantiven Zellmanipulation, vor gezielten
Ideologem vom selbstkompetenten Konsumenten, die Macht
Genveränderungen und der Auslagerung des Austragens aus
der Diätprodukte-, Pharma- und Nahrungsmittelindustrie, der
der eigenen Gebärmutter. Es folgen chirurgische Optimierung,
Schönheitschirurgie und der Style-Industrien sowie die Demo
biologisch gezüchtete Ersatzorgane, maßgeschneiderte Pharma
kratisierung sozioökonomischen Strebens dazu geführt, dass
zeutika. Bereits jetzt bezeugt ein legaler und illegaler Handel mit
wir den Körper, in dem wir leben, als etwas sehen, das wir per
Körperbestandteilen, von Herzen über Stammzellen bis zu Nie
fektionieren können und sollten.2
ren, die Kommerzialisierung des Körpers. Wenn die Transhuma
Die Kollision des neuen Imperativs, schön zu sein, mit dem
nisten recht haben, werden bald Computerchips zur Erweiterung
engen und einengenden Schönheitsideal, das uns auf Schritt und
unserer Gehirnkapazität im Angebot sein. In vergangeneu Zei
Tritt eingetrichtert wird, hat zur Folge, dass der Körper heute
ten überlebten (wie es auch heute noch in vielen Ländern außer
ständiger Aufmerksamkeit und Kontrolle bedarf. Er ist nicht
halb des prosperierenden Westens der Fall ist) nicht alle Körper
mehr das, worin und wodurch wir leben, sondern vielmehr ein
das Geborenwerden, und die, die überlebten, nutzten sich ab,
Objekt, das wir selbst gestalten. Der Nachrichtenteil unserer
1 68
1 69
Tageszeitung warnt uns, was uns droht, wenn wir uns nicht aus
tende G lobalisierung den idealisierten, schlanken, westlichen
reichend um unsere G esundheit kümmern, und im Mode- und
Frauenkörper als den Körper propagiert. Männer haben noch ein
Schönheitsteil werden wir ermahnt, nie in dem Bemühen nach
paar Optionen, aber auch diese schwinden. In aller Welt ringen
zulassen, etwas für unser Äußeres zu tun. Die Aufforderung,
Frauen mit der Diskrepanz zwischen den verbreiteten Bildern
den Körper zu optimieren - ob durch Fitnesstraining, spirituelle
und ihren eigenen Versuchen, einen Körper zu finden, aus dem
Praktiken, Diäten, Gen-Beratung oder Schönheitsoperationen
heraus sie leben können. Dass diese Bilder mächtig sind, steht
(und man hat das G efühl, eigentlich alle Optionen nutzen zu
außer Zweifel. Markenhersteller investieren kräftig in Werbung.
müssen) -, hat einen moralischen Beiklang.
Und die Ausgaben rentieren sich. Wo einst religiöse Ikonografie
Wir nehmen unseren eigenen Körper - ja, Körper über
ins Bewusstsein der Menschen drang, ist es heute Markeniko
haupt - nicht mehr als gegeben hin. Nachdem in der Kriegs
nografie, die sich bestimmter Arten von Körpern bedient. Da
führung der Körper des Soldaten durch Luftkriegswaffen und
Unternehmen auf den permanenten Umschlag von Produkten
chemische Kampfmittel und in der industriellen Fertigung der
angewiesen sind, werden wir überdies darauf konditioniert,
Körper des Arbeiters durch automatische Produktionsanlagen
ständig wechselnden Moden zu folgen: nach diesen flüchtigen
ersetzt wurde, ist jetzt der Körper generell zu einem Produkt
Identitätsmarkern Ausschau zu halten und sie haben zu wollen.
geworden, das wir kreieren und fabrizieren. Einen fitten, schlan
Es sind nicht nur die überall gleichen Kaffee- und Kleidermar
ken, gesunden und schönen Körper zu haben ist inzwischen für
ken, Shops und Kettenhotels, durch die wir auf der ganzen Welt
Millionen Menschen nicht nur Ambition, sondern auch mora
Gefühle der Zugehörigkeit und Kontinuität erlangen können. Es
lische Pflicht. Die enorm vergrößerten, digital bearbeiteten
ist auch die Zurschaustellung der richtigen Sorte Körper.
Bilder von makellosen Individuen mit Idealfiguren, die unseren
Identität und Körper formen sich in der Interaktion mit un
öffentlichen und privaten Raum überschwemmen, prägen un
serer jeweiligen Welt. Wünsche entstehen im Dialog mit dieser
sere Sicht auf Körper. Diese visuelle Dauerberieselung, die in
Welt. Sie sind relational. Die globalisierte Wirtschaft und Bil
Aufzügen und Warteschlangen gleichermaßen allgegenwärtig
derkultur wirken auf die Einzelnen ein, und indem diese darauf
ist und der unser Blick sich nicht entziehen kann, erzeugt eine
reagieren, fühlen sie sich als Teil der globalisierten Welt. Was sie
hyperbewusste, hyperkritische Haltung dem eigenen Körper
verstanden haben, ist, dass sie ständig bereit sein müssen, ihren
gegenüber. Das hat ein kulturelles Klima geschaffen, in dem es
Körper zu transformieren. Sie akzeptieren und antizipieren Ver
als persönliche Pflicht empfunden wird, Aussehen und Funk
änderung mit einer gewissen Begeisterung. Ihr Wunsch nach
tionieren des eigenen Körpers zu optimieren. Der Körper ist eine
Veränderung ist Ausdruck ihrer aktiven Beteiligung am globalen
Aussage über uns und ein Ort der Selbstkompetenz.
Diskurs über Weiblichkeit und Männlichkeit.
Wo immer wir leben, erstreben wir über unseren Körper
In Fidschi entwickelten binnen drei Jahren nach der Ein
Zugehörigkeit. Er soll konform sein, einem bestimmten Bild ent
führung des Fernsehens 1995 nicht weniger als 11,9 Prozent der
sprechen, das sich von Jahr zu Jahr verengt, da die fortschrei-
jungen Mädchen willentlich herbeigeführtes Erbrechen - Folge
des Ringens darum, den eigenen Körper den Körpern der west
Die neue Idee, dass unser Körper statt einer biologischen Mit
lichen Fernsehdarstellerinnen anzugleichen} In Brasilien ist der
gift unsere eigene Schöpfung ist und sein sollte, hat zur Folge,
vormals eher unbeachtete Busen zum Sexualsymbol avanciert.
dass er enorme Energien absorbiert und für sehr viele Men
Brustvergrößerung gilt jetzt als unabdingbare Begleitmaß
schen zu einem Quell beträchtlicher Probleme wird. In meiner
nahme des Modellierens und Straffens von G esäß und Gesicht.4
therapeutischen Praxis habe ich Menschen mit allen möglichen
Dort wie auch in China, Iran und Litauen (und so ziemlich über
Schwierigkeiten erlebt: mit sexuellen Problemen, Beziehungs
all im Wirkungsbereich der globalen Medien) erstreben Frauen
problemen, Konflikten in der Elternrolle, Arbeitsstörungen,
j etzt einen Körper, der von der visuellen Kultur hervorgebrachte
Identitätsproblemen, Angst vor Nähe, genereller Unsicherheit
und verbreitete westliche Schönheitsnormen widerspiegelt. Auf
und mangelndem Selbstvertrauen. Dabei habe ich festgestellt,
einer weniger dramatischen Ebene prägen Diät, Fitnesstraining
dass der eigene Körper im Gefühl der Einzelnen, was an ihnen
und Selbstdisziplin - nicht um des Vergnügens willen, sondern
stimmt und was nicht, eine immer größere Rolle spielt. Sie sind
mit dem Ziel, die richtige Sorte Körper zu produzieren - das
der Meinung, dass ihr Körper etwas über ihre wahre Befindlich
tägliche Leben von Mädchen und Frauen (und zunehmend auch
keit aussagt. Diese Sicht des Körpers hat mich veranlasst, ein
Jungen und Männern) in aller Welt, da die Suche nach Identität
mal genauer zu fragen, wie wir eigentlich zu unserem Körper
mit dem Ringen um einen Körper verflochten ist.
kommen.
Angesichts der extrem restringierten Bildersprache, mit der
Wie also kommen wir zu unserem Körper?
wir konfrontiert sind, können Frauen kaum umhin, sich an ei
Ich habe in diesem Buch die These vertreten, dass der Körper
ner Form der G ewalt gegen sich selbst zu beteiligen. Ich will
nicht geboren, sondern gemacht wird. In Anlehnung an Sirnone
diese »G ewalt« nicht moralisch anklagen, als Anwältin eines
de Beauvoirs berühmtes Diktum, dass wir zur Frau nicht ge
unschuldigen, sakrosankten Körpers. So idealistisch bin ich
boren, sondern gemacht werden, und an Winnicotts viel zitier
nicht, in einer Welt, in der Gewalttaten, von Vergewaltigung in
ten Satz, dass es kein Baby ohne Mutter gibt, habe ich aufzuzei
und außerhalb der Ehe über körperliche Misshandlung bis hin
gen versucht, dass unsere gesamte Körperlichkeit nicht von der
zur Klitorisbeschneidung, das Leben so vieler Frauen auf allen
Natur hervorgebracht wurde (auch wenn wir uns zweifellos als
Kontinenten beeinträchtigen. Ich spreche vielmehr von den ganz
natürliche und höchst individuelle Wesen fühlen), sondern von
alltäglichen Schwierigkeiten, die Frauen haben, wenn sie ver
der Art und Weise, wie der natürliche Körper von unseren frü
suchen, unter dem permanenten Ansturm von Bildern, die sie
hesten Bezugspersonen behandelt wurde.s Der Wunsch eines
sich selbst gegenüber hyperkritisch machen, eine stabile Körper
taubstummen Ehepaars nach einem taubstummen Kind sagt et
lichkeit auszubilden. So wie wir laut Marx von Verhältnissen be
was darüber aus, wie die Ehepartner den Körper und den Wert
herrscht werden, die wir nicht als selbst geschaffen durchschau
einer G ebärdensprache und -kultur im Vergleich zur Lautspra
en, werden Frauen heute von einer visuellen Kultur beherrscht,
che erleben. Die subtilen Nuancen von Sprechweise, Akzent und
die sie nicht als von anderen geschaffen durchschauen.
Sprachstil, die wir mit der Lautsprache assoziieren, fmden sich
17 2
173
für sie in den Bewegungen von Händen, Fingern, Arm und Hand
werfen und sich für den verwestlichten Körper entscheiden. Von
gelenk. Das ist es, was sie weitergeben wollen und weitergeben:
Caracas bis Riad entsteht eine neue Gleichförmigkeit - unter
Die Körperlichkeit ihrer Kinder (auf der neuronalen wie auf der
dem Kopftuch der traditionellen Muslimin ebenso wie unter der
gestischen Ebene) wird entsprechend den Anforderungen einer
Perücke und dem langen Rock der orthodoxen Jüdin. Die west
Kommunikation über die Hände strukturiert. Die Kapayo-In
lichen Ideale - Schlankheit, eine bestimmte Nasenform, Jugend
dianer in den Regenwäldern des Amazonasgebiets, die als Aus
lichkeit
stehen überall hoch im Kurs.
druck sexueller Zuneigung nicht küssen, sondern beißen, de
Der standardisierte jugendliche Körper, den wir auf Schritt
monstrieren das breite Spektrum physischer Ausdrucksformen
und Tritt propagiert sehen und uns dann selbst zu erschaffen
und ihrer Bedeutung. Was die Kapayo -Indianer mit und vor
suchen, ist kein stabiler Körper. Das kann er gar nicht sein.
ihren Kindern tun, prägt den »natürlichen« Körper des Kapayo
Selbst wenn eine Frau zufallig einen Körper hat, der dem idea
Kindes und dessen »natürliches« Körperverhalten. Auch diese
lisierten Körper einigermaßen nahekommt, sorgen doch der
Kinder werden in der sexuellen Kommunikation beißen. Für sie
überkritische Blick auf die eigene Figur und das eigene G esicht
wird das ganz natürlich sein. Interpersonelle Beziehungen - zu
sowie die alljährliche Modifikation des Idealbilds dafür, dass
den Menschen, die uns aufziehen - formen uns innerlich und
auch bei einer Frau mit einem schlanken Körper die Unsicherheit
erschaffen die spezifische Architektur unseres G ehirns.6 Das
nicht geringer ist. Während Schlankheit seit den 196oer-]ahren
Verhalten dieser B ezugspersonen legt bestimmte individuelle
ein dominantes Motiv ist, sind in letzter Zeit auch noch hoher
Neuralbahnen an, die unsere Biologie deutlicher beeinflussen
Wuchs und große Brüste und zuletzt ein ausgeprägtes, straffes
und strukturieren als jede genetische Prädisposition.
G esäß hinzugekommen. Also ist selbst der schlanke Körper pre
Heute aber ist die reiche Vielfalt unterschiedlich geprägter Körper bedroht. Zwar sind zum Glück Praktiken wie das Einbin
kär und nur allzu oft ein Quell schmerzlicher Unzufriedenheit für die betreffende Frau.
den der Füße bei chinesischen Mädchen Vergangenheit, doch auf
Natürlich gibt es aus dem Körper kein Entkommen. Selbst
anderen Ebenen zeigt unsere künstliche Zurichtung des Körpers
wenn wir im Cyberspace imaginäre Identitäten annehmen,
(von Transformationen a la Michael Jackson bis zu den korea
um virtuelle Kontakte zu anderen Cyber-Personen herzu
nischen Mädchen, die ihre Augenform verwestlichen), wie hef
stellen, können wir doch in der realen Welt nicht ohne Körper
tig wir individuell darum ringen, den Körper zu finden, den wir
leben. Ironischerweise wird es Aufgabe unserer Cyber-Wunsch
heute bewohnen können. So wie die Globalisierung alle vierzehn
identitäten, deutlich zu machen, wie instabil und flüchtig kör
Tage eine Sprache zum Verschwinden bringt und durch eine
perlich verankertes Erleben heute ist und dass es dennoch
der dominanten Weltsprachen ersetzt, sind auch die kulturellen
keine Möglichkeit gibt, Alter, G ender und ethnische Zugehö
Unterschiede unserer Körper in Gefahr. Die ästhetischen Prä
rigkeit abzustreifen. Meine klinische Praxis hat mich gelehrt,
ferenzen traditioneller G esellschaften werden verdrängt, weil
dass all die vielfaltigen Körperprobleme, die mir begegnen
die Jüngeren den Körper, mit dem sie aufgewachsen sind, ver-
Anorexie, selbstverletzendes Verhalten, der Wunsch, sich ei-
174
1 75
nes Körperteils zu entledigen, Ekzeme, Verwirrung bezüglich
geltend zu machen. Er ist deshalb zentral, weil er selbst ein Ort
der eigenen sexuellen Identität, Angst vor dem Älterwerden,
der Angst und Unsicherheit ist.
zwanghafte sportliche Betätigung -, als beständiger Versuch der
Dieses Buch legt nicht nur dar, dass Körper gemacht wer
Betreffenden verstanden werden können, einen verlässlichen
den, sondern auch, dass sie unter Bedingungen gemacht werden,
Körper zu finden und die Scham wegen des eigenen Körpers
unter denen der Körper des Säuglings oft so behandelt wird,
loszuwerden.
dass eine im Kern instabile und prekäre Körperlichkeit entsteht.
Körperscham wird oft fälschlich einer generalisierten Angst
Körperinstabilität ist weit verbreitet. Sie ist nicht lediglich ein
zugeschrieben, die sich ein Ventil sucht. Wir leben in einem Zeit
Abladeplatz für psychische Angst, sie ist ein eigenständiges Pro
alter der Angst, in dem uns per Wahlfreiheit und Selbsterfindung
blem und muss als solches angegangen werden. Meistens wird
Identitäten angeboten werden, die fließender sind als jene, die
Körperangst nicht als im Körper verortet erkannt. Wir missdeu
von den bis vor Kurzem noch so mächtigen Faktoren Schicht,
ten sie, interpretieren den Wunsch, den Körper zu verändern, als
Alter, Status und ethnische Zugehörigkeit bestimmt wurdenJ
psychisch begründet - als Ausdruck eines problematischen emo
Heute verweigern sich immer mehr Menschen den engen binä
tionalen Themas wie etwa mangelnder Kontrolle oder, häufiger,
ren Kategorien (Oberschicht/Arbeiterschicht, schwarz/weiß,
als unverarbeiteten Konflikt, der dann als somatisches Symptom
qualifiziert/unqualifiziert), auf denen unsere Gesellschaftsord
auf den Körper verlagert wird. Doch Körperangst ist genauso
nung bisher so weitgehend beruhte. Doch wenn es um den Kör
fundamental wie psychische Angst, und das gilt es anzuerken
per geht, ist die Zweiteilung guter Körper/schlechter Körper
nen, insbesondere, wenn wir als Therapeuten den Menschen, die
unangetastet. Ja, selbst die Kategorien männlich/weiblich und
unsere Hilfe suchen, von Nutzen sein wollen. Wenn auch die
schwarz/weiß - einst für unverrückbar gehalten - werden heute
Kliniker in diesem Punkt gewisse Scheuklappen haben, lenken
infrage gestellt. Man kann sich in einem amerikanischen Uni
doch zeitgenössische Künstler schon seit geraumer Zeit unser
versitäts-Health-Center als »intergeschlechtlich« registrieren
Augenmerk auf dieses beunruhigende Phänomen.
lassen und sich selbst aussuchen, wie man auf Formularen briti
Die Kraft der Werke von Antony Gormley, Richard Serra,
scher Kommunalbehörden die eigene ethnische Zugehörigkeit
Mare Quinn, Orlan, Ron Mueck und vielen anderen liegt darin,
beschreiben möchte. Doch was das ästhetische Urteil über den
wie sie die Fragmentierung und Instabilität der menschlichen
Körper angeht, herrscht immer noch eine seltsam unreflektierte
G estalt im ausgehenden zwanzigsten und beginnenden einund
Haltung, und die Kategorien sind durch die postmoderne Wende
zwanzigsten Jahrhundert thematisieren. G ormley stellt Plastiken
nicht tangiert worden. Kaum jemand würde etwas anderes sagen
nach der Vorlage seines eigenen Körpers her. Dadurch öffnet
als: dick gleich schlecht und dünn gleich gut. Im Diskurs über
er uns die Augen für die allgegenwärtige Desintegration der
selbst erschaffene Identität ist der Körper zentral. Er ist deshalb
menschlichen Gestalt. Er proklamiert den .9anzen Körper unter
zentral, weil er ein Vehikel ist, die eigenen Bestrebungen in Sa
.9anzen Körpern, im Kontrast zu den Werbefotos und zur Ten
chen Schicht-/Gruppenzugehörigkeit und sexuelle Betätigung
denz der Fotografie allgemein, Körper nur als Teilobjekte dar-
1 77
zustellen. Gormley zieht uns förmlich hinein in die Schönheit der
verlässlichen Ort zu machen, von dem aus wir leben können,
gewöhnlichen, nicht perfektionierten Gestalt. Indem er immer
setzt voraus, dass wir unsere jetzigen Vorstellungen und Ideal
wieder seinen eigenen Körper verwendet, zeigt er uns Körper
bilder vom Körper hinterfragen. Unser Glaube, dass der Kör
lichkeit als etwas, das uns alle verbindet.
per nahezu unbegrenzt veränderbar ist, hat uns zur leichten
In Blind Li9ht, Teil seiner Ausstellung in der Londoner Hay
Beute für Industrien gemacht, die uns oft nur noch mehr ver
ward Gallery 2007, macht er die Verwirrung erfahrbar, in der wir
unsichern. Wir gehen nicht kreativ mit unserem Körper um und
uns unserem eigenen Körper gegenüber befmden, die aber so
haben keine Freude an ihm. Wir manipulieren ihn vielmehr in
durchgängig ist, dass wir sie kaum wahrnehmen. Indem Gormley
der Hoffnung, uns einen Körper zu erschaffen, in dem wir mit
einen geschlossenen Raum mit Nebel füllt, lässt er die Besucher
uns selbst zufriedener sein werden. Ich habe aufgezeigt, wie die
physische Desorientiertheit so erleben, dass sie sie wahrnehmen
Diktate des Konsumerismus, die von den Style-Industrien und
und sich eingestehen müssen. Gormleys Werke zeigen uns den
den mit ihr assoziierten Bereichen Diätprodukte-, Nahrungs
Körper als etwas Grundlegendes und besagen implizit, dass wir
mittel-, Pharmaindustrie und Schönheitschirurgie ausgehen,
ihn, wenn wir ihn sehen und erleben und ihm vertrauen könnten,
die grundlegendste und entscheidendste aller Beziehungen, die
vielleicht nicht ständig zu verändern brauchten.
Mutter-Kind-Beziehung, infiltrieren und auf eine Weise formen,
Die zahlreichen Ausstellungen der letzten Jahre zum Thema
die zur Körperunsicherheit beim Kind führt. Um das zu ändern,
Körper weisen uns auf eine allgegenwärtige kulturelle Dysmor
brauchen wir Programme, die werdenden und jungen Müttern
phie hin. Sie sagen uns, dass wir, was den Körper betrifft, die
helfen, selbst zu einem gewissen Frieden mit ihrem Körper zu
Koordinaten verloren haben. Beispiele sind etwa G unther von
finden und ihn auch ihren Kindern zu vermitteln.8 Und wir
Hagens Körperwelten, plastinierte, sezierte Körper, die Adern
brauchen Hilfestellungen für junge Eltern, damit sie erkennen,
und Venen, Nieren und Milz in situ zeigen, Spectacular Bodies,
dass ihr Baby physische, emotionale und auf Berührung gerich
eine Ausstellung in der Hayward Gallery im Jahr 2000 über die
tete Bedürfnisse hat, die einer adäquaten Reaktion bedürfen und
medizinische Darstellung des Körpers im Lauf der letzten Jahr
nicht der Regulierung nach der Uhr. Meine klinische Erfahrung
hunderte, Mare Quinns an antike Statuen erinnernde Körper mit
sagt mir, dass es, genau wie für den Spracherwerb, auch für den
fehlenden Gliedmaßen, das Körper-Morphing heutiger Foto
Körpererwerb einen »kritischen Zeitraum« gibt.9 Das bedeutet,
ausstellungen oder auch die Skulpturen von Richard Serra, die
dass das in dieser Zeitspanne erworbene Körpergefühl, ob stabil
unseren Körper- und Gleichgewichtssinn destabilisieren. Es ist
oder instabil, die eigene Körperlichkeit, das physische S elbst
schwer, gegen die mediengenerierte Bilderkultur anzutreten,
gefühl bestimmt.10 Die Bereitschaft von Teenagern und Er
aber diese Künstler können und tun es. Sie machen beunruhigen
wachsenen, den eigenen Körper zu manipulieren, speist sich aus
de Themen präsent, zeigen uns, was wir sonst nicht sehen, und
einem tiefer liegenden G efühl der Körperinstabilität. Daher ist
rücken die Probleme unserer Zeit ins Blickfeld.
es von entscheidender Wichtigkeit, junge Eltern im Umgang mit
Diese Probleme anzugehen und den Körper wieder zu einem
ihrer eigenen Körperlichkeit und der ihres Kindes zu unterstüt-
1 79
zen. Das ist vergleichsweise billig und effizient und liefert einen
damit wir und unsere Kinder unseren Körper, unseren Appetit,
grundlegenden Schutz
im Gegensatz zu den sogenannten Anti
unsere Körperlichkeit und unsere Sexualität genießen können.
Adipositas-Maßnahmen, die Regierungen gegen das auffahren,
Unsere Körper sollten nicht in Stätten permanenter Arbeit und
was sie als wachsende Zahl alarmierend zügelloser Körper sehen.
von kommerziellen Interessen getriebener Produktion ver
Um gegen den Druck vorzugehen, dem der Körper heute aus
wandelt werden. Wir müssen die Möglichkeit haben, unsere un
gesetzt ist, täten wir gut daran, die Diätprodukteindustrie wegen
terschiedlichen Körper, die wir auf unsere jeweils eigene Weise
irreführender Werbung und unlauterer Geschäftspraktiken zu
schmücken und bewegen, als Quell selbstverständlicher Lust und
verklagen. Wir müssen die Machenschaften der Nahrungsmit
Freude zu erleben. Wir brauchen einen Körper, der stabil genug
tel- und Pharmaindustrie aufdecken, die das Essen für so viele
ist, um uns Momente der Glücksseligkeit und des Abenteuers zu
Menschen zu einem so belasteten und emotional gefahrliehen
gewähren, wenn wir ihn, in der Gewissheit, dass er existiert, auch
Terrain machen, und wir müssen das Spektrum der in der visu
einmal sich selbst überlassen können.
ellen Kultur und im Modebereich repräsentierten Körperformen so erweitern, dass es die real existierenden Körper widerspiegelt. Die Celebrity-Kultur hat uns eine heimtückische Form welt weiter Gemeinsamkeit gebracht. Indem sie global wiedererkenn bare Ikonen hervorbringt, scheint sie integrativ und demokra tisch. Tatsächlich aber bringt sie Vielfalt zum Verschwinden und ersetzt sie durch ein Ideal, das in Bezug auf Alter, Körpertypus und ethnische Zugehörigkeit eng begrenzt ist.11 Die Sexuali sierung der Welt unserer Kinder ist mit Konsumerismus und falscher Erotik verwoben und fügt der Verwirrung, wo der ei gene Körper und seine Bedürfnisse beginnen und enden, noch die Verwirrung bezüglich der eigenen Sexualität hinzu. Ich beschließe dieses Buch mit dem Appell an uns alle, den Körper auf eine Weise neu zu denken, die es uns ermöglicht, ihn als selbstverständlich zu betrachten und zu genießen. Der Kampf geht darum, unsere Körperlichkeit so zu rekonstituieren, dass der Körper für uns eine Grundlage wird, aus der heraus wir leben können, statt eines Projekts, das es ständig zu verfolgen gilt. Wir müssen dringend der kommerziellen Ausbeutung des Kör pers und dem Schwinden der Körpervielfalt Einhalt gebieten,
180
Anmerkungen Einleitung 1 Siehe beispielsweise den Artikel über Thomas Beatie, New York
Times, 22. Juni 2008.
2 »The Rise of Bodysnarking«, Hannah Seligson, Wall Street Journal, 16. Mai 2008. ; Siehe beispielsweise Desmond Morris, Der Mensch, mit dem wir leben, München 1983, und Die nackte Eva, München 2004.
4 Laut Associated Press, 18. September 2007, stirbt alle zwei Wochen eine Sprache.
1I
Der Körper in unserer Zeit
1 Im Aufsatz von Berger und seinen Mitautoren Mr. A. genannt. Siehe
B.D. Berger, J. Lehrman (Lit. L.), G. Larson u .a., »Non-psychotic, Non-paraphilic Self-Amputation and the Internet<<, Comprehensive
Psychiatry, Vol. 46, Nr. 5, September-Oktober 2005, S . 380-383.
2 Siehe ]. C. Marshall, P. W. Halligan, G . R. Fink u. a., »The Functional Anatomy of a Hysterical Paralysis<<, Cognition, Vol . 64, Nr. 1,]uli 1997, S. Bt-8.
3 In Kontexten, in denen der Verlust von Gliedmaßen nicht so selten
10 Professor Harvey Molotch weist darauf hin, dass der muskulöse
ist, z. B. unter Minenarbeitern in Südafrika, schämt man sich inte
männliche Arbeiterschicht-Körper mit einer besonderen Kinetik
ressanterweise der Phantomglieder weniger und gibt ihnen sogar
einhergeht: ausladenden Bewegungen und einer besonderen Gestik
Kosenamen.
(mit gewissen Unterschieden je nach der Art der Arbeit: Heben
4 Ramachandran's Notebook, Fall 4, Nova, PBS TV, 23. Oktober 2003.
versus Schwingen etc.), die einst weitgehend toleriert, wenn nicht
5 Ramachandran lieferte nicht nur eine neurowissenschaftliche Er
gar bewundert wurden. Doch in der Dienstleistungsökonomie, so
klärung, sondern ersann auch therapeutische Maßnahmen unter
Molotch, werden solche Bewegungen zu einem ökonomischen und
Verwendung von Spiegeln, um den Schmerz in dem fehlenden, aber
sozialen Handicap.
neurologisch noch repräsentierten Körperglied zum Verschwinden zu bringen. Jonathan Miller machte in seiner Reith-Lecture 2003, wo er auf Ramachandrans Arbeiten Bezug nahm, eine profunde
2 1 Wie der Körper geformt wird
Aussage über das Verhältnis von Körper und Gehirn, indem er er klärte, alle Menschen hätten ständig Phantomschmerzen, und nur
Viele Kinder haben Fantasien, dass ihre Eltern gar nicht ihre rich
wenn uns ein Körperglied abhandenkomme, werde uns bewusst,
tigen Eltern sind, und erfinden oder erhoffen sich eine abenteuer
dass das Erleben unserer Körperglieder im G ehirn angesiedelt sei.
lichere Umgebung.
Siehe z. B . P. Haggard, M. Taylor-Clarke und S. Kennett, »Tactile
2
Perception, Cortical Representation and the Bodily Self«, Current
Biology, Vol. 13, Nr. s, 4· März 2003, S. 170-173·
Glanville, Skript und Sprecherin Susie Orbach. 3 In Bhutan hielt das Fernsehen erst 1999 Einzug, sodass das Land
6 Und wir haben uns - vor allem in Großbritannien durch die Schrif
ten von ]an Morris - ebenso daran gewöhnt, dass die Antwort lautet:
lange vor intensiven Außeneinflüssen geschützt war. 4 Siehe G . R izzolatti, L. Fogassi und V. Gallese, »Neurophysiological
Ja, die Geschlechtsumwandlung funktioniert.
Mechanisms Underlying the Understanding and Imitation of Ac
7 Interview mit Aleshia Brevard, geführt von Mary Weaver, in Nancy
tion«, Nature Reviews Neuroscience, Vol. 2, September2o01, S. 66!-6Jo,
N. Chen und Helene Moglen (Hrsg.l, Bodies in The Makin9: Trans
gressions and Traniformations, Santa Cruz, Kalif., 2oo6.
sowie Nova, PBS TV, 25. Januar 2005. 5 Siehe beispielsweise D . E . Glaser, J . S. Grezes, B . Calvo u. a., »Func
8 Wie auch noch ein paar Jahre später, als Pete Seeger »Little Boxes«
tional Imaging of Motor Experience and Expertise During Action
sang, Malvina Reynolds' Song über den Konformismus. 9 Man vergegenwärtige sich etwa, dass strapazierte Bluejeans einst
geradezu ikonisch für Fabrik- oder Bauarbeiter waren und dass
How We Get a Body, BBC Radio 4, 14. Februar 2003, Produktion Jo
Observation«, Neuroscience Poster 2003. 6
How We Get a Body, a. a. O.
7 Es gibt die interessante - wenn auch nicht unumstrittene
These,
jetzt, im postindustriellen Zeitalter, der entsprechend zerrissene
dass Kinder, die als autistisch diagnostiziert werden, im Vergleich
und abgewetzte Jeans-Look quer durch alle Schichten getragen
zu anderen Kindern ein mangelhaft ausgebildetes Spiegelneuronen
wird, wobei die einzige körperliche Anstrengung für die Träger da
system haben. Zutreffend ist jedenfalls, dass zu den Diagnosekri
rin besteht, der Frage nachzugehen, welche Jeans-Marke ihnen am
terien für Autismus eine gewisse »Beziehungslosigkeit« gehört, das
besten steht.
Zögern, andere anzusehen, und ein mangelndes Gefühl.fi.ir andere.
Sich in den Körper und das Denken anderer hineinversetzen zu können, ist konstitutiv für die menschliche Beziehungsfähigkeit.
Schore, Affect Regulation and the Origins of the Se!f: The Neurobiology
ofEmotional Development, Hillsdale, NJ, 1994.
8 Siehe C. Trevarthen, »Descriptive Analysis of Infant Communica
2 Grund, die gemeinsame Gefühlslage zu hinterfragen, besteht al
tive Behaviour<<, in H.R. Schaffer (Hrsg.), Studies in Mother-Infant
lerdings dann, wenn es sich um Kollusion handeln könnte: eine
Interaction, London 1977.
Situation, in der sich Therapeutin und Patientin unbewusst darauf
9 Siehe H. Harlow, »The Nature of Love<<,
American Psychologist,
Vol. 13, 1958, S. 673-685. Harlow bezieht sich auf John Bowlbys
einigen, eine Abwehrstruktur nicht anzutasten. Siehe Susie Orbach,
Intime Beziehungen, schwierige Gifühle, München 2001.
bahnbrechende Erkenntnisse über das Wesen von Bindung und die
3 Eine eingehendere Erörterung dieses Falls findet sich in S. Orbach,
Wichtigkeit der Mutter oder Mutter-Ersatz-Figur für das Sicher
»Countertransference and the False Body<<, Winnicott Studies, Nr. 10,
heitsgefühl und die gesunde Entwicklung des Kindes. Siehe auch
London 1995.
Ashley Montagu, Körperkontakt Die Bedeutung der Haut für die Ent
4 Siehe C. Gilham, J. Peto, E. Roman u. a., »Day Care in Infancy and
Risk of Childhood Acute Lymphoblastic Leukaemia: Findings from
wicklung des Menschen, Stuttgart 1991. 10 Tiffany Fielcis Arbeiten sind in diesem Zusammenhang wichtig.
Siehe zum Beispiel Streicheleinheiten, München 2003. 11 Siehe S. Ludington, »Energy Conservation During Skin-to-Skin
UK Case-Control Study<<, British Medical Journal, Vol. 330, 4· Juni 2005, S. 1294-1297. 5 Bestehend aus den Bindungsforscherinnen Prof. Miriam Steele und
Contact Between Premature Infants and Their Mothers«, Heart and
Prof. Bernadette Buhl-Nielsen, der Doktorandin Tiffany Haick,
Lung, Vol. 19, Nr. 5, 1990, S. 445-451.
den Psychoanalytikerinnen Susie Orbach, Luise Eichenbaum, Carol
12 Es gibt interessante Arbeiten
Thema peripersonaler Raum,
Bloom, Jean Petrucelli und Catherine Baker-Pitts, der Bewegungs
Körperwahrnehmung und Werkzeuggebrauch, die dieses Phäno
psychotherapeutin Suzi Tortora, der Kinder-Massagetherapeutin
men vielleicht eines Tages erhellen werden, und ich danke Ashish
Linda Garofallou, der klinischen Psychologin Prof. Lisa Rubin und
Ranpura für diesen Hinweis. Siehe A. Maravita, C. Spence und
den Studentinnen im Graduiertenstudium Winter Halmi, Michelle
J. Driver, »Multisensory Integration and the Body Schema: Close to
Foster, Kathleen Hartwig und Esther McBirney.
ZUfll
Hand and Within Reach<<, Current Biology, Vol. 13, 2003, S. R531-539.
6 Zur Darstellung der gegenseitigen Regulation von Mutter und
Siehe auch S. Orbach, »What we can learn from the therapist's
Säugling siehe L. Sander, »Thinking Differently«, Psychoanarytic
body<<, Attachment and Human Development, Vol. 6, Nr. 2, S. 141-150.
Dialogues, Vol. 12, 2002, S. n-42. Siehe auch L. Sander, »Infant and Caretaking Environment<<, in E.J. Anthony (Hrsg.), Explorations in
Child Psychiatry, New York, London 1975·
3
I Sprechende Körper
7 Das Wort »Abwehrstrukturen« klingt einerseits sehr abstrakt, als
wäre es nur ein technisches Hilfsmittel von Psychoanalytikern, um 1 Das mag etwas mysteriös klingen, hat aber eine physiologische
zu erklären, was sie in der klinischen Situation beobachten, weckt
Grundlage. Neurologisch gesehen, handelt es sich um Kommunika
andererseits aber im Englischen auch irreführend konkrete Bilder,
tion von rechter Gehirnhälfte zu rechter Gehirnhälfte, unter Um
da es dasselbe Wort ist (difence structures), mit dem man auch Wehr
gehung der Sprachzentren in der linken Gehirnhälfte. Siehe Allan
anlagen oder Befestigungen bezeichnen würde.
186
4 1 Körper - rea l, visuell, virtuell
8 Natürlich ist das Gehirn, wie der Neurowissenschaftler Daniel
Glaser belegt, topalogisch organisiert, weshalb es eigentlich nicht richtig ist, von einer Beziehung von rechter Gehirnhälfte zu rechter
1
Gehirnhälfte zu sprechen. Es sind eher bestimmte G ehirnzonen,
2 Siehe Catherine Baker-Pitts, »Symptom or Solution? The Relational
die miteinander in Beziehung treten, aber ich benutze hier die ver
Meaning of Cosmetic Surgery for Women«, unveröffentlichte Dis
gröbernde Beschreibung, um die Bedeutung dieser Interaktion klar
sertation, New York University 2008.
zumachen.
3 Vor allem die Gewinnung von Stammzellen des jeweiligen Indivi
9 Siehe Allan Schore, a. a. 0.; Mark Solms und Oliver Turnbull,
The
duums und die anschließende In-vitra-Züchtung von autolagern
Brain and the Inner World: An Introduction to the Neuroscience q{Subjective
Gewebe, das zur Rekonstruktion und Verjüngung benutzt werden
Experience, London 2002; Margaret Wilkinson, Coming Into Mind: The
kann. Siehe S. Saraf, »Role of Stern Cells in Plastic Surgery«, Indian
Mind-Brain Relationship, London und New York 2oo6; Jaak Panksepp,
Journal ofPlastic Surgery, Vol. 39, Nr. 1, 2006, S. 110.
A.ffective Neuroscience: The Foundations ofHuman and Anima! Emotions,
4 BBC 4, Visions ofthe Future, 5· November 2007.
New York 1998.
5 Siehe E. R. Mayhew,
10 Siehe Steven Rose,
11
Reportage von Lisa Rapaport aufBloomberg TV, August 2007.
The Reconstruction q[Warriors, London 2004.
Gehirn, Gedächtnis und Bewusstsein, Bergisch Glad
6 Man muss sich fragen, inwieweit auch die untergründige Präsenz
bach 2ooo; G . M. Edelman, Second Nature: Brain Science and Human
von Schönheitschirurgie in TV-Werbebotschaften zu dieser ma
Knowledge, New Haven, Conn., 2006.
gischen Anziehungskraft beiträgt. Es ist seit Langem bekannt, dass
Siehe Susie Orbach, Hungerstreik, München 1990.
Fernsehen vor allem die als rechte Gehirnhälfte bezeichneten Ge
12 Siehe Susie Orbach, Antidiätbuch, München 1979; Carol Bloom, An
hirnregionen und damit die Gefühle anspricht. Siehe H. E . Krug
drea Gitter, Susan Gutwill u. a., Eating Problems, New York 1994.
mann, >>Brain Wave Measures of Media Involvement«, Journal qf
13 Siehe Judith Butler,
Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am
Main 1990. 1 4 Siehe S. Orbach, »There's No Such Thing as a Body«, in Kate White
(Hrsg.), Touch: Attachment and the Body, London 2004. 15 Häufig schaffen es Therapeutinnen nicht, ihren Patientinnen die
Möglichkeit zur Entwicklung einer stabileren Körperlichkeit zu ge
Advertising Research, Vol. 11, Nr. 1, 1971, S. 3-9. 7 In westlichen Ländern haben viele Ärzte, die Schönheitsoperationen
durchführen, keine spezielle Ausbildung in plastischer Chirurgie, und Berichten zufolge werden in anderen Weltgegenden solche Ein griffe sogar von Nicht-Medizinern vorgenommen. Siehe Teens and
Plastic Surgery: A Literature Review, Strategy One, Juni 2007.
ben, weil die eigenen Körperunsicherheiten so gravierend sind, dass
8 Mike Testa, Präsident von CareCredit, zitiert in Natasha Singer,
Therapiesitzungen mit zwei ängstlichen, von Selbsthass erfüllten
>>The Democratization of Plastic Surgery«, International Herald Tri
oder nicht wirklich vorhandenen Körpern einfach zu schwer aus
bune, 17· August 2007.
zuhalten sind.
9 Argentinier der sozioökonomischen Mittel- und Oberschicht ha
ben private Krankenversicherungen. Eine Versicherung im mitt leren Beitragsbereich übernimmt eine Schönheitsoperation alle drei Jahre. Ich danke Marina Pernie für diese Information. 10 Um diesem Trend entgegenzusteuern, präsentiert die Real-Beau-
188
18g
ties-Kampagne von Dove unretuschierte Bilder von Frauen über fünfzig, die deren reale Schönheit, Energie und Lebenserfahrung hervorheben. Zu meiner Mitwirkung an der Kampagne siehe S . Orbach, »Fat is an Advertising Issue«, CampaitJn, Juni 2005. 11 PBS TV, Real Savvy Moms, 2oo8.
12 In Losin9 the Dead beschreibt Lisa Appignanesi, wie ihr, als sie in den Iggoer-Jahren nach Warschau kam, die kahlen Hauswände auf fielen - so selbstverständlich waren ihr die im Westen allgegen wärtigen Werbeplakate.
18 Zu den Zahlen für die Stahlindustrie siehe Global Industry Guide,
Datamonitor, 2. August 2007. 19 Die HIP-Wachstumsrate 2007 für G roßbritannien betrug 2,9 Pro
zent und blieb damit um Längen hinter der Wachstumsrate der Schönheitsindustrie zurück.
20 Zu Pascal Dangins Meinung über Knie und ihre Retuschebedürftig keit siehe Lauren C ollins, a. a. 0. 21 Diese Zahl wird vielerorts genannt, aber es ist schwer zu sagen, was sie alles ausschließt.
13 Natürlich gab es eine christliche, ottomanische, hinduistische etc.
22 Damit soll nicht gesagt sein, dass dies die gesamten amerikanischen
Ikonografie, die zumeist in Zusammenhang mit missionarischen Ak
Ausgaben für Bildung und Erziehung sind, aber es sind die Mittel,
tivitäten verbreitet wurde, um Zusammenhalt und Zugehörigkeits
die die OS-Regierung dafür aufwendet (Zahl von usgovernment
gefühl unter den jeweiligen Glaubensanhängern zu stiften und sie an die Bedeutung ihrer religiösen und politischen Führer zu erinnern.
spend.com).
23 Dem liegt folgende Rechnung zugrunde: Die Gesamtbevölkerung
14 Siehe U. Dimberg, M. Thunberg und K. Elmehed, »Unconscious Fa
beträgt 300 Millionen, davon sind 31 Prozent Kinder, also etwa 100
cial Reactions to Emotional Facial Expressions«, Psycholo9ical Science,
Millionen. 35 Millionen sind über 65 und 1,47 Millionen im Gefäng
Vol. II, 2ooo, S . 86-8g.
nis, ergo verausgaben 164 Millionen Bürger die Summe von 100 Mil
15 Exakte Belege sind hier schwer zu erbringen, aber ich danke William
liarden Dollar.
Eccleshare, Hamish Pringle und G eoffRussell für das Bemühen, die
24 Laut einer von Prof. Cynthia Bulik und Lauren Reba Harrelson für
Menge der Bilder, die wir sehen, zu beziffern. Edwin Ebel, Präsident
die Zeitschrift SELF, Mai 2oo8, durchgeführten Studie (die außer
von General Foods, schätzte 1962 die Zahl für eine vierköpfige
dem bei der Academy ofEating Disorders International Conference
Familie auf rund 1500 Bilder pro Tag. Neueren Angaben zufolge
im Mai 2008 in Seattle präsentiert wurde) weisen 75 Prozent der
sind es 6oo bis 625 Bilder pro Person und Tag. Siehe »Dur Rising
Frauen nach eigener Auskunft ein gestörtes Essverhalten oder mit
Ad Dosage: It's Not as Oppressive as Some Think«, Media Matters,
Essstörungen assoziierte Symptome auf, was heißt, dass drei von
15. Februar 2007; siehe auch Hamish Pringle und Peter Field, Brand
vier Frauen ein ungesundes Verhältnis zum Essen oder zum eigenen
Immortality, London 2008.
Körper haben. Diejenigen mit manifesten Essstörungen ausgenom
16 Zu interessanten Einblicken in die Welt der digitalen Retusche siehe
Lauren Collins, »Pixel Perfect«, New Yorker, 12. Mai 2008. 17 Daher die Faszination »normaler« Fotos von Prominenten in Zeit
men, bemühen sich 67 Prozent der Frauen abzunehmen; 53 Pro zent der Diät haltenden Frauen haben bereits ein gesundes Körper gewicht, erstreben aber eine weitere G ewichtsabnahme. 39 Prozent
schriften wie etwa Heat. Eine Ikone in ungeschöntem Zustand zu
der Frauen sagen aus, dass die ständige besorgte Beschäftigung
sehen, ist enthüllend, schürt aber zugleich Identifikationswünsche,
mit ihrer Ernährung oder ihrem Gewicht ihre Lebenszufriedenheit
da es die perfekte Hochglanzfassade, die wir zu sehen gewohnt sind,
trübt; 37 Prozent lassen regelmäßig Mahlzeiten aus, um abzuneh
ein klein wenig ankratzt.
men; 27 Prozent wären »extrem beunruhigt«, wenn sie auch nur
1 91
fünf Pfund zunähmen; 26 Prozent streichen ganze Nahrungsmittel
sen dient. Der >>Krieg gegen die Adipositas« scheint den zusätz
gruppen von ihrem Speisezettel; 16 Prozent haben bereits Diäten mit
lichen Zweck zu haben, dicke Menschen als »neben der Spur« hin
woo oder weniger Kalorien am Tag gemacht; 13 Prozent rauchen,
zustellen: leicht kontaminiert und potenziell kontaminierend, eine
um abzunehmen, 12 Prozent essen häufig, wenn sie keinen Hunger
Klasse von Menschen, deren G ewohnheiten und G ebräuche un
haben, 49 Prozent tun es manchmaL Essgewohnheiten, die Frauen
erwünscht sind und die wir meiden sollten.
für normal halten - wie etwa der Verzicht auf Kohlehydrate, das
35 Siehe K . M. Flegel, B . I. Graubard, D . F. Williamson u. a., >>Excess
Auslassen von Mahlzeiten oder extrem kalorienreduzierte Kost -,
Deaths Associated with Underweight, Overweight and Obesity«,
sind vermutlich nicht selten bereits Symptome von Essstörungen.
Journal oJ the American Medical Association, Vol. 293, Nr. 15, 20. April
25 Siehe T. Mann, A. J. Tomiyama, E. Wesding u. a., »Medicare's Search for Effective Obesity Treatments: Diets are Not the Answer«, Ame
rican Psychologist, Vol. 62, Nr. 3, April 200J, S . 22o-233·
26 Siehe das ausführliche Interview mit dem Begründer der Setpoint Theorie, Rudolph Leibel, in Scientific American, 8. August 1996.
27 Das erzählte mir die WeightWatchers-Verantwortliche für Groß britannien 1979 im Anschluss an eine Diskussion in der Sendung
2005, S. I86I-I86J.
36 Siehe beispielsweise Marion Nestle, Food Politics: How the Food lndus try Influences Nutrition and Health, Berkeley 2002; Tim Lang und Mi chael Heasman, Battlefor Mouths, Minds and Markets, London 200� Eric Schlosser, Fast Food Gesellschaft, München 2002; Greg Critser,
Fat Land, London 2003; Ellen Ruppel Shell, The Hungry Gene, New York 2002; FeHcity Lawrence, Eat Your Heart Out, London 2008.
Man Alive aufBBC TV. Sie zeigte sich betroffen, weil es dem Unter
37 Siehe Susie Orbach, Antidiiitbuch.
nehmen nicht gelang, Menschen zu einer dauerhaften Gewichts
38 Baker-Pitts, a. a. O., weist darauf hin, dass die Schönheitschirurgie
abnahme zu verhelfen, und bat mich
um
Rat, wie es die psycho
logische Ebene zwanghaften Essens einbeziehen könne. Dieselbe Zahl nennt auch Rudolph Leibel in dem oben genannten Interview.
auch den moralischen Aspekt des Konzepts vom Körper als per manentem »Work in Progress« verstärkt. 39 Es geht hier um die Hyperinsulinämie-Debatte. Zu Maissirup in
28 Siehe Alice Mundy, Dispensing With the Truth: The Victims, the Drug
Nahrungsmitteln und der Begünstigung von Stoffwechselentglei
Companies, and the Dramatic Story behind the Batt1e of Fen-Phen, New
sungen durch hohen Fruktosegehalt siehe auch Greg Critser, a. a. 0.
York 2001. 29 Laut J. Eric Oliver, Fat Politics, The Real Story Behind America's Obesity
40 Siehe Paul Campos, The Obesity Myth, New York 2004; Oliver, a. a. 0.; D.E. Alley und V. W. Chang, »The Changing Relationship of
Epidemie, New York 2005, S. 29, wird die International Obesity Task
Obesity and Disability, 1988-2004«, Journal of the American Medical
Force in Wahrheit von Pharmakonzernen fmanziert, die Medika
Association, Vol. 298, Nr. 17, 7· November 2007, S. 2o oo-2007. Siehe
mente gegen Adipositas entwickeln und vermarkten.
auch The Investigation, BBC Radio 4, 22. November 2007.
30 Observer, 2. September 2007, unter Berufung auf Health - Third Report, veröffentlicht vom britischen Unterhaus, Mai 20 04.
31 Siehe Susie Orbach, Hungerstreik, München 1990. 3 2 Siehe Susie Orbach, Antidilitbuch, München 1979. 33 Zu Quetelet siehe J. Eric Oliver, a. a. O. 34 Es ist schwer zu glauben, dass der BMI unseren Gesundheitsinteres-
192
41 Siehe beispielsweise die Arbeiten von James Hughes, Trinity Col
lege, Connecticut, oder Professor John Harris, Manchester Univer sity, von Letzterem insbesondere Enhancing Evolution: The Ethical Case
for Making People Better, Princeton, NJ, 2007.
42 Diese Maxime steht in direktem Widerspruch zur Position von Neurowissenschaftlern wie etwa Ant6nio Damasio, dass unser
193
Denken eher unserem Gefühl folgt, als es wie ein Supermanager zu
New York 1974; Luise Eichenbaum und Susie Orbach, Feministische
leiten und zu kontrollieren.
Psychotherapie: Aufder Suche nach einem neuen Selbstverständnis der Frau,
43 Was Menschen dazu treibt, an solchen Sendungen teilzunehmen
woher ihr Anerkennungsbedürfnis rührt -, ist natürlich ein anderes Thema.
München 1985; Lisa Appignanesi, Mad, Bad and Sad, London 2008. 9 Siehe S. Orbach, >>Chinks in the Merged Attachment: Generational
Bequests to Contemporary Teenage Girls«, Studies in Gender and
Sexuaiity, Vol. g, Nr. 3, 2008. 10 Und es kann auch in der Mutter-Tochter-Beziehung begründet sein,
s l U nd der Sex?
wie in dem französischen Film Die Klavierspielerin. 11 Brett Kahr zieht wichtige Verbindungen zwischen emotionalen oder
1
Dank an Dr. Audrey Jamas, die mich auf dieses Phänomen aufmerk sam gemacht hat.
physischen Verletzungen der Integrität des Körpers in der Kindheit und erwachsenen Sexualfantasien. Siehe Sex im Kopf, Berlin 2007.
2 Das gilt auch für Erwachsene: Die Website wird von Menschen bis
über vierzig frequentiert.
12 Für junge Frauen ist es oft eine verblüffende Erkenntnis, dass der
Geruch von Vaginalsekreten nicht das Schlimmste auf der Welt
3 Siehe Michael D. Lemonick, >>Teens Before Their Time«,
Time,
ist, da sie dazu erzogen wurden, ihren Scham- und Vaginalbereich
22. Oktober 2000. Auch viele andere amerikanische Forschungs
durch Deos und Enthaarung in einen vorpubertären Zustand zu
organisationen haben diese Entwicklung dokumentiert. Ein 2007 von der American Psychological Association veröffentlichter Re
rückzuversetzen. 13 Der Brauch in Jerrys Ausbildungseinheit, das Gewehr nach einer
port nennt eine ganze Anzahl von Faktoren, die zur frühen Sexua
Frau zu benennen, steht in einer Tradition der Personalisierung
lisierung junger Mädchen beiträgt, darunter Musikvideos, Mäd
von Waffen. Die Atombomben, die gegen Ende des Zweiten Welt
chenzeitschriften, Fernsehen und Werbung. Siehe »Report of the
kriegs Hiroshima und Nagasaki zerstörten, trugen die Namen Big
APA Task Force on the Sexualization of G irls«, American Psycho
Man und Fat Boy. In diesem Fall wurde den Bomben ausdrücklich
logical Association Task Force on the Sexualization of Girls, 2007.
etwas Phallisches zugesprochen, ihre verheerende Explosiv- und
4 Im Jahr 1983 gründeten Judy Lever und Vivienne Pringle die Um
Vernichtungskraft mit der Ejakulation des Mannes beim Orgasmus
standsmode-Firma Blooming Marvellous, die schicke, erschwing
gleichgesetzt. Warum, fragt sich das weibliche Denken, warum?
liche Kleidung für Schwangere produziert.
Warum sind Töten und Zerstören so eng mit dem männlichen Ge
5 Ich danke Rebecca Mordant von Crazy Little Girls für die Infor
schlechtsorgan assoziiert? Und wie ist es dann zu erklären, dass der
mation über diesen und den unten erwähnten Sunday Sports Wett
Pilot Colonel Tibbets die mit der Atombombe bestückte B-29 nach
bewerb.
seiner Mutter Enola G ay taufte?
-
6 Siehe Susie Orbach,
Intime Beziehun9en, schwieri9e Gefühle, München
2001. 7 Siehe E. P. Spector,
The Sexual Century, New Haven, Conn., 1999.
8 Siehe beispielsweise Juliet Mitchell,
Frankfurt
1 94
am
Psychoana!Yse und Feminismus,
Main 1985; Jean Strouse (Hrsg.), Women and Analysis,
1 95
6 1 Wofü r sind Körper da?
9 Wir akzeptieren heute, dass die psychische Entwicklung weit
gehend durch frühkindliche Erfahrungen geprägt wird. Aber 1
Siehe »Life after Superbabe«, Nature, Vol. 454, 17. Juli 2oo8, S. 253.
natürlich kann auch mangelhafte Emotionserkennung aufgrund
Biologen glauben, dass Verfahren unter Verwendung aus Hautzellen
von Entwicklungsdefiziten zu Körperbildstörungen führen: siehe
gewonnener pluripotenter Stammzellen eines Tages die In-vitra
U. Buhlmann, R. J. McNally, N. L. Etoff u. a., »Emotion Recognition
Befruchtung ablösen werden und es Eltern dann möglich sein v.'ird,
Deficits in Body Dysmorphic Disorder«, Journal of Psychiatrie Re
ein sogenanntes Designer-Baby anband von Kriterien wie Haar farbe, Körpergröße, krankheitsfreies Genom etc. auszuwählen. 2 Diese Sichtweise ist inzwischen in der amerikanischen Kultur so fest
search, Vol. 38, Nr. 2, März-April 2oo4, S. 201-206. 10 Dies ist einer der Themenkomplexe, mit denen sich die Body
Attachment Group beschäftigt.
verankert, dass es ein von dem Schönheitschirurgen Michael Salz
11 Daher die Kampagne für mehr schwarze und ethnischen Minder
auer geschriebenes Kinderbuch My Beautiful Momnry gibt. Mütter,
heiten angehörende Models auf dem Laufsteg und auf den Titel
die S chönheitsoperationen planen, sollen anband des Buchs leichter
seiten der Modezeitschriften.
mit ihren Kindern über die bevorstehenden Eingriffe sprechen kön nen. Ich danke Nancy Etoff aus Harvard für diesen Hinweis. 3 A.E. Becker, R.A. Burwell, D.B. Herzog u.a., »Eating Behaviours
and Attitudes Following Prolongued Exposure to Television among Ethnic Fijian Adolescent Girls«, British ]ournal ofPsychiatry, Vol. 18o, Juni 2002, S. 509-514. 4 Die dritthäufigste schönheitschirurgische Maßnahme nach Fett
absaugen und Botox-Behandlung. 5 Daniel Glaser führt aus, dass vieles, was wir dem Körper zuschrei
ben, in Wirklichkeit im Gehirn geschieht. So sprechen wir etwa von »Muskelgedächtnis« oder davon, ein »Auge«, ein »Händchen« für et was zu haben, aber tatsächlich handelt es sich um Gehirnaktivitäten. 6 Siehe Joseph Hibbelns Arbeiten über den Einfluss vorgeburtlicher
Ernährung auf die Architektur des Gehirns, zitiert in dem hervor ragenden Buch von Felicity Lawrence, B at Your Heart Out, London 2008, s. 204-205. 7 Siehe Sara Dunant,
The A9e ofAnxiety, London 2ooo; Renata Salecl,
On Anxiety, London 2004. 8 Ein Trainingsprogramm, das Hebammen für Körperprobleme bei
Schwangeren sensibilisieren und mit Hilfestellungen ftir Mutter und Kind vertraut machen soll, fmdet sich auf www. any-body.org.
1 97
philic Self-Amputation and the Internet«, Comprehensive Psychiatry, Vol. 46, Nr. 5, 2005, S. 38o-383 Bick,
»Further Considerations on the Functions of the Skin in Early
Object Relations<<, British Journal ofPsychotherapy, Vol. 2, Nr. 4, 1986, S. 292-299 Bloom, C., G itter, A., Gutwill, S., u. a., Eatin9 Problems, New York 1994 Bowlby, J ., Das GIUck und die Trauer, Stuttgart 1982 Brunet, 0., und Lezine, I., I Primi Anni del Bambino, Rom 1966 Buhlmann, U., McNally, R.J., Etoff, N. L., u. a., »Emotion Recogni-
Literaturl iste Alley, D. E., und Chang, V. W., »The Changing Relationship of Obesity
tion Defidts in Body Dysmorphic Disorder«, Journal of Psychiatrie
Research, Vol. 38, Nr. 2, März-April 2004, S . 201-206 Butler, J., Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. Main 1990 Campos, P., The Obesity Myth, New York 2004
and Disability, 1988-2004«, Journal cif the American Medical Associa
Carrol, R., www.thinkbody.co.uk
tion, Vol. 298, Nr. q, 7· November 2007, S. 2ooo-2oo7
Chen, N. N., und Moglen, H. (Hrsg.), Bodies in the Making: Transgressions
Anderson, F. S. (Hrsg.), Bodies in Treatment, Hillsdale, NJ, 2oo8 Angier, N., Frau. Eine intime Geoarafte des weiblichen Körpers, München 2000 Appignanesi, L., Mad, Bad and Sad, London 2oo8; Losing the Dead, Lon don 1999 Aron, L., und Sommer Anderson, F., Relational Perspectives on the Body, Hillsdale, NJ, 1998 Baker-Pitts, C., »Symptom or Solution? The Relational Meaning of Cosmetic Surgery for Women«, unveröffentl. Diss., New York Uni versity 2008 Barry, B., Fashionin9 Reality, Toronto 2007 Hecker, A., The Body, Selfand Society: The Viewfrom Fiji, Philadelphia 1995 Becker, A.E., Burwell, R. A., Herzog, D. B., u. a., »Eating Behaviours and Attitudes Following Prolongued Exposure to Television among Ethnic Fijian Adolescent Girls«, British Journal ofPsychiatry, Vol. 180, Juni 2002, S. 509-514 Berg, F. M., Children and Teens Afraid to Eat, Hettinger, ND, 1997 Berger, B. D., Lehrman, G., Larson, G., u. a., »Non-psychotic, Non-para-
and Transformations, Santa Cruz, Kalif., 2006 Collins, L., »Pixel Perfect«, New Yorker, 12. Mai 2008 Critser, G., Fat Land, London 2003 Damasio, A., Ichfohle, also bin ich, München 2000 Davis, K., Reshaping the Fernale Body: The Dilemma ofPlastic Surgery, Lon don und New York 1995 Dickenson, D., Body Shoppin9, Oxford 2008 Dimberg, U., Thunberg, M., und Elmehed, K., »Unconscious Facial Reactions to Emotional Facial Expressions«, Psychological Science, Vol. II, 2ooo, S. 86-89 D unant, S., The Age ofAnxiety, London 2000 Edelman, G . M., Second Nature: Brain Seiettee and Human Knowledge, New Haven, Conn., 2006 Eichenbaum, L., und Orbach, S., Feministische Psychotherapie, München 1985 Elliot, C., Better Than Weil: American Medicine Meets the American Dream, New York 2003; »A New Way to be Mad«, Atlantic Month!J', Vol. 283, Nr. 6, Dezember 2000, 5 . 72-84
1 99
Field, N., »Listening with the Body«, British Journal of Psychotherapy, Vol. 5, Nr. 4, 1989, S. 512-522
Grosz, E., Volatile Bodies: Toward a Corpereal Feminism, Bloomington 1994 Haggard, P., Taylor-Clarke, M., und Kennett, S., »Tactile Perception,
Field, T., Streicheleinheiten, München 2003
Cortical Representation and the Bodily Self<<, Current Biology, Vol. 13,
Flegel, K . M., Graubard, B. I., Williamson, D. F., u. a., »Excess Deaths
Nr. 5, 4· März 2003, S . 170-173
Associated with Underweight, Overweight and Obesity«, Journal of
the American Medical Association, Vol. 293, Nr. 15, 2005, S. 1861-1867 Fonagy, P., >>Transgenerational Consistencies of Attachment: A New Theory«, Paper fur die Diskussionsgruppe Entwicklung beim Ame rican Psychoanalytic Association Meeting, Washington, 13. Mai 1999 Fonagy, P., Steele, M., Steele, H., u.a., >>The Predictive Validity ofMary
Harlow, H. F., »The Nature ofLove«, American Psychologist, Vol. 13, 1958, s. 673-685 Harris, ]., Enhancing Evolution: The Ethical Case for Making People Better, Princeton, NJ, 2007 Kahr, B., Sex im Kopf, Berlin 2007 Kaplan-Salms, K., und Salms, M., Neuro-Psychoanaryse, Stuttgart 2003
Main's Adult Attachment Interview. A Psychoanalytic and Develop
Kolata, G., Rethinking Thin, New York 2008
mental Perspective on the Transgenerational Transmission of At
Krugmann, H. E., »Brain Wave Measures of Media Involvement«, Jour
tachment and Borderline States«, in S. Goldberg, R. Muir und J. Kerr (Hrsg.), Attachment Theory: Social, Developmental and Clinical Perspec
tives, Hillsdale, NJ, 1995, S. 233-278 Formaini, H., »Some Ideas about the Father's Body in Psychoanalytic Thought«, in Landmarks, Papers jungianischer Analytikerinnen aus Australien und Neuseeland, 2002
nal ofAdvertising Research, Vol. n, Nr. 1, 1971, S. 3-9 Lane, H., Das wilde Kind von Aveyron, Frankfurt a. Main 1985; Die Maske
der Barmherzigkeit, Seedorf 1994 Lang, T., und Heasman, M., Battlefor Mouths, Minds and Markets, London 2004 Lawrence, F., Eat Your Heart Out, London 2oo8
Foucault, M., Sexualität und Wahrheit 1 , Frankfurt a. Main 1983
Leader, D., und Corfield, D., Why do People Get Ill?, London 2007
G erhardt, S., Die Kraft der Elternliebe, Düsseldorf 2006
Lemonick, M .D., »Teens Before Their Time«, Time, 22. Oktober 2ooo
Gilham, C., Peto, ]., Roman, E., u.a., »Day Care in Infancy and Risk
Ludington, S., »Energy Conservation During Skin-to-Skin Contact
of Childhood Acute Lymphoblastic Leukaernia: Findings from UK
Between Premature Infants and Their Mothers«, Heart and Lung,
Case-Control Study«, British Medical Journal, Vol. 330, 4· Juni 2005,
Vol. 19, Nr. 5, 1990, S . 445-451
5. 1294-1297 Gilman, S. L., Die erstaunliche Geschichte der Schönheitschirurgie, Berlin 2004 Gitau, R., Cameron, A., Fisk, N. M., u. a., >>Fetal Exposure to Maternal Cortisol«, Lancet, Vol. 352, 1998, S. 707-708 Glaser, D. E., Grezes, ]. S., Calvo, B., u. a., »Functional lmaging ofMotor Experience and Expertise During Action Observation«, Neuro science Poster 2003 Goldblatt, P. B., Moore, M. E., und Stunkard, A.J., »Social Factors in Obesity«, Journal of the American Medical Association, Vol . 192, 1965, s . 1039-1044
200
Mahler, M., Bergman, A., und Pines, F., Die psychische Geburt des Men
schen, Frankfurt a. Main 1999 Mann, T., Torniyama, J., Westling, E., u. a., »Medicare's Search for Effec tive Obesity Treatments: Diets are Not the Answer«, American Psy
cho!ogist, Vol. 62, Nr. 3, 2007, S. 220-233 Maravita, A., Spence, C., und Driver, }., >>Multisensory Integration and the Body Schema: Close to Hand and Within Reach<<, Current Bio
logy, Vol. 13, 2003, S. R531-539 Marshall, J. C ., Halligan, P. W., Fink, G. R., u. a., »The Functional Ana tomy ofa Hysterical Paralysis«, Cognition, Vol. 64, Nr. 1, 1997, S. B1-8
201
Martin, C. E., Perfeet Girls, Starvin9 Dau.9hters, New York 2007 Mayhew, E. R., The Reconstruction cifWarriors, London 2004 McDougall, J., Theater der Seele, Stuttgart 199� Theater des Körpers, Stutt gart 1998 Merleau-Ponty, M., Phänomenologie der Wahrnehmu119, Berlin 1974 Miller, N. M., Fisk, N.M., Modi, N., u. a., »Stress Responses At Birth: D eterminants of Cord Arterial Cortisol and Links wit h Cortisol Response in Infancy«, British Journal of Gynecolo9)', Vol. 112, Nr. 7, 2005, S. 921-926 Mitchell, J., Psychoana!Yse und Feminismus, Frankfurt a. Main 1985 Montagu, A., Körperkontakt Die Bedeutung der Hautftr die Entwicklung der
Menschen, Stuttgart 1991 Morris, D., Der Mensch, mit dem wir leben, München 1983, und Die nackte
Eva, München 2004 Mundy, A., Dispensin.9 with the Truth: The Victims, the Drug Companies, and
the Dramatic Story behind the Battle ofFen-Phen, New York 2001 Namir, S., »Emb odiments and Disembodiments: The Relation of Body Modifications to Two Psych oanalytic Treatments«, Psychoana!Ysis, Cuiture and Society, Vol . n, Nr. z, zoo6, S. 217-223
body «, Attachment and Human Development, Vol. 6, Nr. 2, S . 141-150; Antidiätbuch, München 1979; »Fat is an Advertising Issue«, Campaign, ]uni 2oo5 Panksepp, J., Affective Neuroscience: The Foundations cifHuman and Anima!
Emotions, New York 1998 Pines, D., Der weibliche Körper, Stuttgart 1997 Porter, R., Flesh in the Age cifReason, London 1993 Pringle, H., und Field, P., Brand Immortality, London 2008 Racker, H., übertragung und Ge9enübertragun.9, München 1970 Ramachandran, V. S ., »P hantom Limbs , Neglect Syndromes, Repressed Memories and Freudian Psychology«, International Review of Neuro
biolo9)', Vol. 37, 1994, S . 291-333 Rizzolatti, G ., Fo gassi, L., und Gal lese, V., >>Neurophysiological Me ch anisms Underlying t he Understarrding and Imitation of Action«, Nature Reviews Neuroscience, Vol. 2, September 2001, S. 661-670 Rose, S., Gehirn, Gedächtnis und Bewusstsein, Bergisch Gladbach 2000 Ruppel S hell , E., The Hungry Gene, New York zooz Sacks, 0., Eine Anthropologin atifdem Mars, Reinb ek 1997 Salecl , R., über An9st, Wien 2009
Nestle, M., Food Politics: How the Food Industry Influences Nutrition and
Samuels , A., Die Vielgestaltigkeit der Seele, Zürich 1994
Health, Berkeley 2002 l O iver, J. E., Fat Politics: The Real Story Behind America's Obesity Epidemie,
Sander, L., »In fant and Garetaking Environment<<, in E.J. Anthony
New York 2oo5 Orbach, S., Hungerstreik, Münch en 1990; Intime Beziehungen, schwierige
Gtfohle, Münch en zom; »Countertransference and t he False Body«,
(Hrsg.), Explorations in Child Psychiatry, New York und London 1998; »Thinking Differently«, Psychoana!Ytic Dia!o9ues, Vol. 12, 2002, S. n-42 Saraf, S., »Role of Stern Cells in Plastic Surgery«, Indian Journal ofPlastic
Winnicott Studies, Nr. 10, London 1995; »Working with t he False Body«, in A. Erskine und D. Judd (Hrsg.), The Imaginative Body, Lon
Schlosser, E., Fast Food Gesellschaft, München 2002
don 1993; »There's No Such Thing as a Body«, in K. White (Hrsg.),
Sch ore, A ., Affektregulation und die Reor.9anisation des Selbst, Stuttgart
Touch: Attachment and the Body, London 200� »In Dialogue with Stephen Mitchell<<, British Journal of Psychotherapy, Vol. 15, Nr. 22, 1998, S. 194-zoo; >>Chinks in the Merged Attachment: Generational Bequests to Contemporary Teenage Girls<<, Studies in Gender and Se xuality, Vol. g. Nr. 3, 2oo8; »What we can learn from the th erapist's
202
Surgery, Vol. 39, Nr. 1, 2006, S. no
2007 Seligson, H. »The Rise o f Bodysnarking«, Wall Street Journal, 16. Mai 2008 Singer, N., »The Democratization o f Pl astic Surgery«, International
Herald Tribune, 17. August 2007
20 3
Salms, M., und Turnbull, 0., Das Gehirn und die innere Welt, Düsseldarf 2aa7 Spectar, E. P., The Sexual Century, New Haven, Cann., 1999 Spitz, R., Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-Kind
Beziehungen im ersten Lebensjahr, Stuttgart 1996 Stalarow, R. D., und Atwaad, G E . , Contexts ofBeing: The Intersubjective .
Foundations ofPsychological Life, Hillsdale, N], 19 92 Strause,]. (Hrsg.), Warnen and Ana!Ysis, New Yark 1974 Taylar, G ., »Samatizatian and Canversian: Distinct ar Overlapping Canstructs?«, Journal of the American Academy of Psychoana!Ysis and
Dynamic Psychiatry, Val. 31, 2aa3, S. 487-sa8 Theweleit, K., Männeifantasien Bd. 2, Männerkörper- zur Psychoana!Yse des
we!ßen Terrors, Frankfurt a. Main 1978 Tattan, N , The Water in the Glass: Body and Mind in Psychoana!Ysis, Landan .
1998 Trevarthen, C., >>Descriptive Analysis af Infant Cammunicative Be
Da n k Ich danke Lisa Appignanesi für ihr gründliches, kluges und geduldiges Lektorat, Andrew Franklin, Frances Coady, Lesley Levine, Ruth Killick, Penny Daniel und allen an der Herstellung dieses Buchs beteiligten Leuten bei Profile und Picador für ih
haviaur«, in H. R. Schaffer (Hrsg.), Studies in Mother-Itifant Interaction,
ren Einsatz und ihre hervorragende Arbeit, Blake Morrison und
Landan 1977
Joseph Schwarz für das Lesen einer frühen Manuskriptversion,
Winnicatt, D. W., Von der Kinderheilkunde zur Psychoana!Yse, Gießen 2ao8; >>The Capacity ta Be Alane«, International Journal of Psycho
ana!Ysis, Val. 39, 1958, S. 416-42a
Natasha Fairweather, Ben Barry, Jo Glanville, Luise Eichenbaum, Carol Bloom, Emma de Seausmarez, Dan Glaser, Barbara Krebs, Catherine Baker-Pitts, Nancy Etoff, Eva Hoffman sowie den Mit gliedern der AnyBody Group und der Body Attachment Group an der New School für hilfreiche Diskussionen und wichtigen Input. Dank auch den vielen Menschen, mit denen ich über die Jahre als Therapeutin gearbeitet habe - was ich an Verständnis des Körpers in unserer Zeit gewonnen habe, basiert auf dieser Erfahrung. Und ein herzliches Dankeschön meinen lieben Freun dinnen und Freunden und meiner wunderbaren Familie.
London, Oktober 2008
204
20 5
Deutsche Erstausgabe I.
Auflage
© by Arche Literatur Verlag AG , Zürich - Hamburg, 2010
Alle Rechte vorbehalten Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel Bodies bei Profile Books Ltd., London © 2009 hy Susie Orbach
Aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann Umschlag: Christoph Krämer, b3k, Harnburg - Frankfurt a. M. Umschlagmotiv: gettyimages Satz: Greiner & Reiche!, Köln Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN
978-3-7160-2631-1
www.arche-verlag.com