Mia Arrow
Botschaft aus dem Jenseits Irrlicht Band 163
Lord Henry umklammerte so fest wie möglich den Leuchter mit d...
8 downloads
652 Views
974KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Mia Arrow
Botschaft aus dem Jenseits Irrlicht Band 163
Lord Henry umklammerte so fest wie möglich den Leuchter mit der flackernden Kerze und ging ein paar Schritte auf sie zu. Er hätte sie gerne vernich tet. Für immer, so daß sie nie wieder in sein Leben treten konnte. Je näher Lord Henry ihr kam, desto stärker verspürte er eine Kälte, die von ihr auszuge hen schien. Sie wurde schließlich so eisig, daß er das beklemmende Gefühl hatte, es würde sich ein Ring aus Eiskristallen um sein bis zum Hals klop fendes Herz schließen. Der Lord blieb mitten im Gang stehen. Er wagte keinen Schritt mehr weiter zugehen. Er hob den Leuchter ein wenig an. Sein Arm zitterte. Um seine vollen Lippen zuckte es. Er spürte in seinen Knien eine zitternde Schwäche. Schließlich kam aus seinem Mund ein röchelnder Laut. „Was willst du von mir?« fragte der Lord ver zweifelt…
Der sechsjährige Peter, siebenundzwanzigster Lord of Grimby, fuhr schweißgebadet aus dem Schlaf hoch. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf den vollen Mond, der durch das Fenster schien. Der Todesvogel war wiedergekommen. Der Kleine Lord spürte, daß er sich in seiner Nähe aufhielt. Das furchterregende Tier hatte, wäh rend er schlief, auf seiner Brust gesessen. Peter meinte noch immer seine scharfen Kral len zu spüren und seine Stimme zu hören. Die se drohende, fordernde, krächzende Stimme, die unverständliche Wortfetzen ausstieß. Peter war vor Grauen und Entsetzen wie ge lähmt. Er biß sich auf die Lippen und legte bei de Hände auf seine Brust. Sein Herz schlug wie ein Hammer, und sein Atem ging stoßweise. Er wollte schreien, laut um Hilfe rufen. Im letzten Moment preßte er beide Hände auf sei nen schon geöffneten Mund, um den Schrei zu rückzuhalten. Vielleicht war der Todesvogel eingeschlafen, ging es ihm durch den Kopf, und sein Schrei würde ihn wecken. Peter lauschte mit angehaltenem Atem. Er hörte den Wind um das Schloß heulen. Das Dielenholz knackte. Ein Ziegel fiel vom Dach und zerschepperte auf der Terrasse. In der
Ferne war das Heulen eines Hundes zu ver nehmen. Der kleine Lord wollte sich gerade wieder un ter der Bettdecke verkriechen, als er erneut aufgerüttelt wurde. Ein riesiger schwarzer Vogel, der auf dem Sims vor seinem Fenster gesessen hatte, schwang sich in die nächtliche Luft. Er schien direkt in die runde Scheibe des Mondes hin einzufliegen. Seine gezackten dunklen Schwin gen zerrissen mit gleichmäßigen und schweren Schlägen das helle Licht des Himmelskörpers. Dabei krächzte er so fürchterlich, daß Peter eine Gänsehaut über den zarten Körper kroch. Der kleine Lord konnte sich nicht länger be herrschen. Sein Entsetzen entlud sich in einem verzweifelten Angstschrei. »Der Todesvogel. Er fliegt mitten in den Mond. Er zerfetzt den Mond mit seinen scharfen Krallen«, rief er. Danach begann Peter mit lauter Stimme zu schreien und zu weinen. Er war ganz außer sich. Gleich darauf wurden zwei Türen aufgerissen. Die eine an der rechten und die andere an der gegenüberliegenden Seite von Peters Zimmer. Ein Mädchen und eine Frau stürzten aufge schreckt in den Raum. Das Mädchen war Grace, die achtjährige Schwester des kleinen Lords. Das Kind trug
ein langes weißes Nachthemd, das bis zu dem feinen Kragen aus zarter Spitze hochgeschlos sen war. Unter dem Saum des Gewandes wa ren ihre bloßen Füße zu sehen. Das hellblonde Haar des Mädchens war vom Schlaf verwuschelt und hing ihr über die schmalen Schultern. Im Schein des Mondes wirkte sein feines Gesicht wie aus kostbarem weißem Elfenbein geschnitzt. Die Frau war Isabell Bly, die noch nicht ganz dreißigjährige Gouvernante der Kinder. Alles an ihr war schlank und gestreckt: der Körper mit den sehr ebenmäßigen Gliedmaßen genau so wie das längliche Gesicht, in dem das Schönste die großen grauen Augen waren. Isabell hatte sich gerade zur Nacht fertigge macht, als der schrille Schrei ihres Zöglings sie zusammenzucken ließ. Von Sorge getrieben, die silberne Bürste, mit der sie sich gerade ihr herrliches dunkelblon des Haar gebürstet hatte, noch in der Hand, war sie sofort zu ihm gelaufen. Sie hatte sich weder die Zeit genommen, mit ihren nackten Füßen in ihre flauschigen Haus schuhe zu schlüpfen, die unter ihrem Himmel bett standen, noch sich ihren blauseidenen Morgenmantel über die Schultern zu werfen. Gleich nach ihrem Eintreten knipste Isabell das Licht an. Da in der Deckenleuchte nur eine
Glühbirne steckte, die zudem auch nicht be sonders hell strahlte, blieb der Raum im Halb dunkel. »Peter«, rief die junge Frau, als sie das Kind aufrecht und am ganzen Leib zitternd in sei nem Bett sitzen sah. »Peter«, sagte auch die kleine Grace. Sie stieg auf das Bett und schloß ihren Bruder liebevoll in die Arme. Dabei blickte sie hilfesuchend zu der Gouvernante auf. Der kleine Lord deutete mit ausgestrecktem rechtem Arm auf die kreisrunde Scheibe des Mondes. Der schwarze Vogel mit den schwe ren dunklen Schwingen war nicht mehr zu se hen. »Der Todesvogel. Er hat auf meiner Brust ge sessen. Er hat…«, stieß er mit stockender Stim me hervor. Weiter kam er nicht. Das Entsetzen raubte ihm wieder den Atem. Er warf sich auf das schneeweiße Kissen zu rück, ein kleiner Junge mit unglaublich zarten Gesichtszügen, dessen Nasenflügel bei jedem Atemzug vibrierten und dem der kalte Schweiß auf der hohen Stirn stand. Seine kleinen hell blonden Löckchen klebten an den Schläfen. »Isabell, bitte helfen Sie Peter. Isabell, bitte, Peter darf nicht sterben«, flehte Grace. Obwohl sie kaum zwei Jahre älter war, hatte Grace sich seit jeher als Beschützerin ihres
Bruders gefühlt. Die junge Gouvernante legte ihr, ohne ein Wort zu sagen, ganz leicht die Hand auf die schmale Schulter. »Grace, laß Peter und mich einen Moment allein«, bat sie. Das Kind wollte widersprechen. Aber dann drehte sie sich doch um und ging in ihr Zim mer zurück. Gar zu gern hätte sie durch das Schlüsselloch geschaut, um zu sehen, was die Gouvernante mit ihrem kleinen Bruder mach te. Aber aus Angst, daß sie etwas Grauenvolles zu sehen bekäme, und weil sie dazu erzogen wor den war, ihren Erzieherinnen und Erziehern zu gehorchen, wagte sie nicht, es zu tun. Sie setzte sich auf ihr Bett. Die Decke war zu rückgeschlagen. Es war kalt. Grace verbarg ihre bloßen Füße unter ihrem langen Nachtge wand. Sie lauschte auf ein Geräusch aus dem Nach barzimmer. Aber so sehr sie sich auch an strengte, durch die hohe dunkle Tür drang kein Laut an ihr Ohr. * Isabell stand vor dem Bett des kleinen Lord.
Die Gouvernante und das Kind sahen sich in die Augen. Peter hatte vor ein paar Tagen ein Gespräch mit angehört, das die Köchin Ruth mit dem Gärtner Will geführt hatte. Es war im Kräutergarten von Schloß Grimby gewesen. Ruth war gekommen, um für das Mittagessen Petersilie zu pflücken. Will hatte die Bäume beschnitten. Weder die Köchin noch der Gärtner hatten gewußt, daß Peter hinter einer Hecke lag und ihrem Gespräch lauschte. Der kleine Lord hatte nicht alles verstanden, was er zu hören bekam. Einiges hatte er da nach auch wieder vergessen. Er erinnerte sich aber noch sehr genau daran, daß die Köchin behauptet hatte, die Gouver nante könne die Farbe ihrer Augen wechseln. Manchmal seien sie so giftig grün wie die Bü sche, die der Gärtner gerade schneide. Bei an derer Gelegenheit würden sie so gelb wie Schwefel aussehen. Das komme daher, weil die Gouvernante Isa bell Bly in Wahrheit eine Hexe sei. Peter wußte aus seinen Kinderbüchern, daß Hexen häßlich und böse sind. Da Isabell aber weder häßlich noch böse war, sondern im Ge genteil sehr liebevoll und sehr schön, hatte Pe ter sich von dem Gespräch nicht beeinflussen
lassen und es vergessen. In diesem Moment aber fiel ihm plötzlich wie der ein, was Will und Ruth behauptet hatten. Er sah nämlich, daß sich die großen Augen seiner Gouvernante gelb färbten. Es begann ganz langsam, aber zum Schluß sahen sie tat sächlich aus wie Schwefel. Ruth und Will haben recht. Isabell ist eine Hexe, dachte der kleine Lord. Es gab also, überlegte er weiter, auch sehr liebe Hexen. Denn daß Isabell lieb war, daran zweifelte er auch jetzt nicht. Mochten ihre Augen auch so gelb sein wie Schwefel – er spürte keine Angst. Isabell wandte keinen Blick von ihrem Zög ling. Es war so, als würden sich die Blicke der Gouvernante und des kleinen Jungen ineinan der festhaken. Keiner von beiden rührte sich. Die Zeit schien stillzustehen. Nach einer Weile streckte Isabell ihre Hand aus und legte sie ganz leicht, so als sei sie eine flüchtige Feder und nicht aus Fleisch und Blut, auf Peters hohe Kinderstirn. Dabei begann sie leise und für den Jungen unverständliche Worte zu murmeln. Ihre sonst so helle und klare Stimme hörte sich in diesem Augenblick geheimnisvoll und dunkel an. Peter sah noch immer mit großen und ver trauensvollen Augen zu ihr auf. Er hatte das
seltsame Empfinden, als würde sich von der Stelle aus, wo Isabell mit ihrer rechten Hand seine Stirn berührte, etwas Helles ausbreiten. Die dunkle Angst, die seinen Körper zusam mengekrampft hatte, schwand. Statt dessen wurde er von einem strahlenden Licht erfüllt. Peter fühlte sich so leicht an, so schwerelos, daß er meinte, fliegen zu können. Der Körper des gepeinigten Kindes entspann te sich. Die zarten Finger seiner Hände, die er vorher zu Fäusten zusammengeballt hatte, lös ten sich. Der kleine Lord drehte seinen Kopf mit dem schweißnassen hellen Lockenhaar auf die Seite. Die Lider fielen ihm zu. Er begann tief und gleichmäßig zu atmen. Gleich darauf war er eingeschlafen. * Um den Mund der Gouvernante legte sich bei seinem Anblick ein kleines Lächeln. Sie ging zur Tür und ließ Grace eintreten. »Er hat keine Angst mehr. Peter schläft«, hauchte Grace mit einem Blick auf ihren Bru der. Sie ging auf Zehenspitzen zu ihm, neigte sich über ihn und berührte unendlich sanft mit ih
ren Lippen seine geschlossenen Augenlider, die von winzigen und filigranartig zarten blau en Äderchen durchzogen waren. Nachdem das Mädchen sich wieder aufgerich tet hatte, wandte es sich an die Gouvernante. »Was wollte der Todesvogel von Peter, Isabell?« fragte es mit flüsternder Stimme. »Ich weiß es nicht, Grace«, antwortete Isabell. Es fiel ihr schwer, nicht zu zeigen, wie erregt sie war. Sie nahm Grace an die Hand. »Komm«, forderte sie das Kind liebevoll auf. »Isabell, darf ich heute nacht bei dir schlafen?« bettelte Grace. »Oh, Grace, du weißt doch, daß dein Onkel Henry das verboten hat«, erinnerte die Gou vernante bekümmert. Die Kleine senkte ihren Kopf. Man hatte ihr gesagt, daß sie ihren Onkel Lord Henry lieben müsse. Alle hatten das von ihr gefordert. Auch der Arzt Dr. Richardson, der ins Schloß kam, wenn jemand krank war. Ihr Onkel Henry, hatte Dr. Ashley zu ihr ge sagt, sei ihr einziger Verwandter. Er sei für sie Vater und Mutter in einer Person, und seinen Eltern schulde man Liebe. Grace hätte es niemals gewagt, dem Doktor, der so viel wußte, zu widersprechen. Sie schämte sich auch sehr, weil es ihr nicht ge lang, seine Forderungen zu erfüllen.
Aber sie konnte ihren Onkel Henry nicht lie ben, wie sie ihre Mutter und ihren Vater ge liebt hatte. Ihrer schönen Mama und ihrem stolzen Papa hatte Grace’ ganze Liebe gehört. Die Kleine brauchte nur an sie zu denken, um zu spüren, wie ihr Herz vor Liebe und Sehnsucht nach ih ren Eltern erbebte. Ihr Onkel Henry war wenige Wochen vor dem Tod ihrer Eltern nach Schloß Grimby gekom men. Grace erinnerte sich noch gut, wie er mit zerfurchtem und grimmigem Gesicht, das feu errote Haar wie eine Flamme vom kantigen Schädel abstehend, an ihrem Grab gestanden hatte. Danach war Lord Henry von Grimby die Vor mundschaft über den kleinen Lord Peter und Lady Grace zugefallen. Um dieser Pflicht Ge nüge zu tun, war er nach Schloß Grimby gezo gen. Dort war mit Lord Henry zugleich die Düster nis in die Mauern des Schlosses eingezogen. Die Fröhlichkeit erstarb. Seit damals war auf Schloß Grimby kein Lachen mehr zu hören. Nicht einmal Peter und Grace wagten, beim Spiel ihre Stimmen zu erheben. Selbst wenn die helle Sonne schien, hatten sie das Gefühl, als wölbe sich ein unheilverheißender Himmel über sie.
Der größte Teil der Bediensteten hatte es nach dem Einzug von Lord Henry vorgezogen, Schloß Grimby zu verlassen. Es blieben die Kö chin Ruth, der Gärtner Will, ein Dienstmäd chen namens Laura sowie der Reitknecht An drew. Der Gärtner und Laura waren so betagt, daß sie schon aufgrund ihres Alters keine an dere Stelle bekommen hätten. Diese Personen waren ohne Ausnahme durch und durch anständige Menschen, die ihren Pflichten nachgingen sowie die kirchlichen und weltlichen Gesetze einhielten. Die meisten stammten aus der Gegend um Schloß Grimby herum. Trotz unterschiedli chen Alters hatte sie seit jeher ein Gefühl der Zusammengehörigkeit verbunden. Das war noch verstärkt worden, als die Gouvernante Isabell Bly nach Schloß Grimby gekommen war. Isabell Bly kam dagegen aus dem hoben ne belverhangenen Norden Schottlands, aus ei nem Landstrich, wo das Moor in die Heide übergeht. Den Bediensteten des Schlosses war die junge Gouvernante von Anfang an nicht ganz geheu er gewesen. Lady Elisabeth und Lord George Harry of Grimby, die Eltern der Kinder, hatten Isabell Bly jedoch ohne Bedenken eingestellt. Seit Isabell Blys Ankunft auf Schloß Grimby
war ein Jahr vergangen. Gut ein halbes Jahr nach dem Einzug der Gouvernante waren Lady Elisabeth und Lord George Harry of Grimby ei nes für alle ganz unerklärlichen und plötzli chen Todes gestorben. Schon bald darauf war bei den Bediensteten von Schloß Grimby und bei den Bewohnern des nahegelegenen Dorfes gleichen Namens das hartnäckige Gerücht entstanden, die Gou vernante Isabell Bly habe den Tod des Ehepaa res herbeigeführt. Zuerst erzählte man sich nur hinter vorgehal tener Hand und mit flüsternder Stimme, daß Isabell Bly eine Hexe sei. Bald wurden die Stimmen, die das behaupteten, jedoch lauter. Es nahm auch niemand mehr eine Hand vor den Mund, wenn er von den Missetaten der Gouvernante berichtete. Waren denn nicht, seit die Hexe auf Schloß Grimby weilte, ungewöhnlich viele Kühe ge storben? Hatte etwa nicht im Herbst ein plötz licher Hagelsturm, mit dem niemand gerech net hatte, die ganze Ernte vernichtet? Und wa ren nicht kurz nacheinander zwei kleine Jun gen mit einem feuerroten Mal am Körper ge boren worden? Am schlimmsten war jedoch, so sagte man, was diese Hexe dem kleinen Lord Peter zufüg te.
Seit dem plötzlichen Tod seiner Eltern hatte es mehrmals so ausgesehen, als würde das zar te Kind einen ganz schrecklichen Erstickungs tod erleiden. Diese Anfälle passierten nicht nur nachts, sondern sogar mitten am Tage und in Anwesenheit der Schloßbediensteten, die es den Dorfbewohnern weitertrugen. Ein Todesvogel sitze auf ihm und schnüre ihm die Brust ein, wußte man von dem kleinen Lord. Es hatte jedoch niemals jemand den schwarzen Vogel, von dem er so angsterfüllt berichtete, auf ihm sitzen sehen. Es hatte ihm auch niemand helfen können. Nicht einmal Dr. Philipp Ashley, dessen Erfol ge als Arzt weit über den Umkreis von Grimby hinaus bekannt waren. Die einzige, die nicht hilflos zusehen mußte, wie der kleine Lord sich quälte, war Isabell Bly. Die Gouvernante brauchte den kleinen Lord nur zu berühren und dabei ihre dunklen Sprü che zu murmeln, damit es dem Jungen besser ging. Er konnte wieder atmen. Das Herz, das kaum noch geschlagen hatte, nahm seinen Rhythmus auf. Die Farbe kehrte in das wachs bleiche Kindergesicht zurück. Diese Frau, daran zweifelte inzwischen nie mand mehr, der auf Schloß Grimby und in der Umgebung ansässig war, war eine Hexe.
Daß sie jung und schön war, machte sie in den Augen ihrer Mitmenschen nur noch gefährli cher. Ihre Schönheit und Jugend, sagte man, sei nichts anderes als eine Verkleidung, hinter der Isabell Bly ihr wahres Gesicht und ihre zerstö rerischen Absichten verberge. * Dr. Philipp Ashley war ein Mann von fünfund dreißig Jahren. Braunes, glattes Haar umgab ein kräftiges, männlich-schönes Gesicht. Während seiner Studienzeit im vornehmen Oxford hatte Philipp Ashley der weitweit ange sehenen Rudermannschaft der Universität an gehört. Dr. Ashley wäre dem Rudersport auch nach Beendigung seiner Studien gerne weiter nach gegangen. Da es in der Umgebung seiner Ar beitsstätte jedoch keine nennenswerten Ge wässer und auch keine Rudermannschaft gab, hatte er auf seinen Lieblingssport verzichten müssen. Um fit zu bleiben, hatte der Arzt es sich statt dessen angewöhnt, frühmorgens gleich nach dem Aufstehen ein paar Kilometer durch den
Wald zu laufen. Danach fühlte er sich immer frisch und wie neugeboren. An diesem Tag hatte Dr. Philipp Ashley einen Weg gewählt, der an einem Waldrand entlang zu einem kleinen See führte. Die Morgensonne fiel durch das frische Grün der Laubbäume und warf wechselnde Schatten auf den wei chen Boden. In der Luft hing der betäubende Duft der Knoblauchblumen, die rechts und links des Weges in verschwenderischer Fülle blühten. Der Doktor spürte die Kraft seines sportge stählten Körpers. Er freute sich, wie weit er noch laufen konnte, ohne daß es ihn anstreng te. Plötzlich stockte er jedoch mitten im Schritt. Auf der anderen Seite des Sees, der in der frü hen Sonne wie Silber aufblitzte, tauchte hinter den Stämmen einiger Birken eine junge Frau auf. Sie saß auf einem edlen Schimmel, dessen Fell die gleiche Farbe hatte wie die Stämme der Birken. Zu schwarzen Reithosen trug sie einen eben falls schwarzen Pullover. Beide Kleidungs stücke umhüllten ihren gertenschlanken Kör per wie eine zweite Haut. Ihr volles Haar wall te offen über ihre Schultern und den Rücken hinab bis zu ihrer Taille. Obwohl Dr. Philipp Ashley ihr Gesicht aus der
Entfernung nicht erkennen konnte, wußte er, daß es sich bei der Frau nur um die Gouver nante Isabell Bly handeln konnte. Er hatte oft gehört, was man sich in der Ge gend über Isabell erzählte. Als Wissenschaftler konnte er über solche Geschichten eigentlich nur den Kopf schütteln. Wenn ihm die Leute ihre seltsamen Geschich ten über Isabell zugetragen hatten, hatte der Arzt sie immer mit barschen Worten zurecht gewiesen. Man habe das Mittelalter mit seinem Aber glauben und Hexenwahn zum Glück überwun den. Deshalb solle man ihn, hatte er sich mehr als einmal erbeten, in Zukunft mit solch dum men Geschichten verschonen. Insgeheim hatten den Arzt diese Erzählungen jedoch mit großer Unruhe erfüllt. Er hatte sich oft gefragt, woher es kam, daß seine ärztliche Kunst bei dem kleinen Lord versagte, während Isabell Bly den Jungen nur zu berühren brauchte, damit es dem Kind besserging. Im Gegensatz zu den Bewohnern von Grimby wies der Doktor den Gedanken an Hexerei weit von sich. Er verwahrte sich gegen jede Form von Aberglauben, bezeichnete sich viel mehr als einen Mann der Wissenschaft. Trotzdem beschlich ihn jedesmal ein ganz seltsames Gefühl, wenn er die Gouvernante
sah. Philipp Ashley wußte selbst nicht, wie er diese Empfindung benennen sollte. Isabell Bly zog ihn mit unwiderstehlicher Kraft an und stieß ihn im gleichen Moment ab. Er konnte sich der Macht, die sie auf ihn aus übte, nicht entziehen. Sie beunruhigte ihn. Es nutzte auch nichts, daß er Isabell Bly aus dem Wege ging, wo im mer es möglich war. Gegen seinen Willen kehrten seine Gedanken immer wieder zu ihr zurück. Es kam vor, daß er nachts aufschreck te, weil er meinte, sie sei ganz in seiner Nähe, und er habe ihre Stimme gehört. Als der Arzt die junge Frau jetzt am anderen Ufer des Sees stehen sah, war er wieder von zwiespältigen Gefühlen zerrissen. Er wollte weiterlaufen und so tun, als gebe es Isabell gar nicht. Statt dessen blieb er aber wie angenagelt auf der Stelle stehen. Es gelang ihm nicht, einen Blick von Isabell zu wenden. Die Morgensonne, die durch das Geäst der jungen Birken fiel, hatte sie und ihren Schim mel in ein fast überirdisches Licht getaucht. Der Arzt beobachtete, wie Isabell sich vom Rücken des Pferdes gleiten ließ. Nachdem sie dem herrlichen Tier den Hals geklopft hatte, neigte sie sich zu ihm hinunter und befühlte sein linkes Vorderbein. Danach führte sie den Schimmel am Zaum
zeug näher an den See heran. Erst jetzt be merkte der Doktor, daß das Pferd ein wenig lahmte. Nachdem Isabell dem Schimmel noch einmal begütigend den Hals geklopft hatte, begann sie, sein krankes Bein mit Wasser zu waschen. Danach richtete Isabell sich wieder auf und ging in den Wald. Für einen kurzen Augenblick konnte Dr. Phil ipp Ashley sie nicht mehr sehen. Gleich darauf tauchte sie aber schon wieder zwischen den lichten Birkenstämmen auf. Der Arzt sah, wie sie sich alle paar Meter bückte und Pflanzen aus dem Erdreich zog. Als sie davon beide Hände voll hatte, kehrte sie zu dem Pferd zurück. Der Schimmelnder sich in der Zwischenzeit nicht bewegt hatte, wieherte hellauf. Mit angehaltenem Atem beobachtete der Arzt, wie Isabell Bly sich ihren engen schwarzen Pullover über den Kopf streifte und ihn auf den Rücken des Pferdes legte. Danach zog sie auch ihr weißes Unterhemd aus und riß es ohne Zögern in Streifen. Nachdem sie die Pflanzen, die sie gerade aus dem Wald geholt hatte, auf ihrem zerrissenen Hemd verteilt hatte, wickelte sie beides um das verletzte Bein des Schimmels. Als das geschehen war, wusch Isabell ihr Ge
sicht und ihre Arme im Wasser des Sees. Ihr üppiges Haar fiel ihr dabei über die Schultern und wurde naß. Dr. Philipp Ashley meinte, noch nie in seinem Leben einen so ebenmäßigen Frauenkörper ge sehen zu haben. Isabells Haut schimmerte im Gegenlicht der Sonne wie sehr kostbares Por zellan. Schließlich richtete sie sich auf. Sie streckte ihre Arme und ihr Gesicht der Sonne entgegen und warf ihren Kopf dabei in den Nacken. Da nach ließ sie die Arme sinken und streifte sich wieder ihren schwarzen Pullover über. Noch immer wagte der Arzt nicht, sich zu be wegen. Er starrte Isabell Bly noch immer nach, als sie mit dem Schimmel am Zügel in den Wald trat und in Richtung von Schloß Grimby ging. Als er sie nicht mehr erkennen konnte, war er auf einmal gar nicht mehr sicher, ob er nicht nur geträumt hatte. Er rieb sich die Augen. In diesem Moment tauchte die Gouvernante mit dem Schimmel am Zügel noch einmal zwi schen den weißen Birkenstämmen auf. »Isabell«, flüsterte der Arzt. Isabell, nein, das war nicht der Name einer Hexe, sagte er sich. Die Lust zum Laufen war ihm vergangen. Langsam machte er sich auf den Weg zu sei
nem Haus am Ortsrand von Grimby. Nach einer Weile kam Dr. Philipp Ashley an einem dichten und sonnenlosen Gehölz vorbei. Der Weg, auf dem er sich befand, beschrieb eine Kurve. Zu beiden Seiten wuchsen hohe Farne. Plötzlich blieb der Doktor wieder stehen. Das graue Moos an den Bäumen erinnerte ihn an Hexenhaar. Er vernahm Vogellaute, wie er sie noch nie zuvor gehört hatte. Jetzt fange ich auch schon an, Gespenster zu sehen, wies sich der Arzt selbst mit halblauter Stimme zurecht. Das letzte Stück nach Hause legte Dr. Ashley wieder im Dauerlauf zurück. Den ganzen Tag über mußte der Arzt an Isa bell Bly denken. Er hoffte, ein Zufall möge dazu führen, daß sie sich begegneten. Gleich zeitig fürchtete Philipp Ashley nichts mehr als eben ein solches Zusammentreffen. * Es war punkt acht Uhr, als Grace am nächsten Morgen den Klang der Glocke vernahm, die sie weckte. Eine strahlende Sommersonne hüllte ihr ge
räumiges Zimmer in helles Licht. Sogar die Möbel, die hier seit mehreren Jahrhunderten standen, wirkten nicht mehr so schwer wie sonst. Vom Park her war das Zwitschern un zähliger Vögel zu hören. Die Kleine sprang aus dem Bett und lief in das Zimmer ihres Bruders. Peter war ebenfalls von der Glocke geweckt worden. Er saß im Bett und sah seine Schwes ter mit weit aufgerissenen hellen Augen an. »Grace, heute nacht war der schwarze Vogel wieder bei mir. Er ist von mir aus zum Mond geflogen«, klagte er. »Das hast du bestimmt geträumt, Peter«, ver suchte Grace ihn zu beruhigen. »Nein, er war wirklich da, Grace«, wider sprach Peter. »Träume sind manchmal genauso wirklich wie die Wirklichkeit«, erklärte Grace altklug. »Meinst du?« »Aber ja. Wenn ich es dir doch sage. Steh jetzt auf, Peter. Schnell. Die Sonne scheint«, dräng te ihn seine Schwester. »Wo ist Isabell? Warum kommt sie nicht, um mir beim Anziehen zu helfen?« fragte Peter. »Ich weiß nicht, wo Isabell ist. Aber wenn du willst, helfe ich dir beim Anziehen«, erbot sich Grace. Ihr Bruder überlegte. Dann schob er die Un
terlippe vor wie immer, wenn er etwas durch setzen wollte. »Nein, ich kann mich schon ganz allein anziehen«, entschied er und sprang ebenfalls aus dem Bett. Es ging besser, als er gedacht hatte. Stolz stell te er fest, daß er sich sogar die Schuhe selbst zubinden konnte. Peter nahm sich deshalb vor, sich ab jetzt nie mehr beim Anziehen helfen zu lassen. Weder von Isabell noch von seiner Schwester. Grace hatte sich in der Zwischenzeit ebenfalls angezogen. Sie trug ihr neues Kleid. Isabell hatte es ihr genäht. Es war aus blauem Kattun, hatte einen runden Ausschnitt und luftige kur ze Flügelärmchen. Peter lief zu seiner Schwester ins Zimmer. »Grace, siehst du, ich kann mich schon ganz allein anziehen. Ich bin schon groß«, verkün dete er. Grace lächelte ihm zu. Sie fand zwar, daß er immer noch etwas von einem Baby an sich hat te. Trotzdem antwortete sie: »Ja, das bist du, Peter.« Sie nahm seine Hand, verließ mit ihm das Zimmer und lief Hand in Hand mit ihm die Treppe hinunter. Vor dem Kamin in der Halle des Schlosses lag Hektor, der altersschwache braune Jagdhund ihres verstorbenen Vaters. Zu Lebzeiten ihrer Eltern hatte Hektor bei
den Mahlzeiten, die die Familie im Salon ein nahm, dabei sein dürfen. Dieses altherge brachte Recht war jedoch von Lord Henry, dem Vormund der Kinder, gleich nach seinem Einzug auf Schloß Grimby abgeschafft worden. Hektor ging den Kindern jetzt mit seinen gich tigen Beinen ein Stück entgegen. »Armer Hektor«, sagte Grace und streichelte ihm den Kopf. »Lieber Hektor«, meinte ihr kleiner Bruder und schmiegte für einen Moment seine Wange an das krause Fell des Hundes. »Komm, Onkel Henry wartet«, mahnte seine Schwester und griff wieder nach der Hand ih res kleinen Bruders. Die Kinder traten in den Eßsalon. An der hin teren Stirnseite eines großen Tisches saß Lord Henry of Grimby, ein Cousin von Lord George Harry, dem verstorbenen Vater der Kinder. Lord Henrys Alter war schwer zu schätzen. Das feuerrote Haar, das von seinem kantigen Schädel abstand, war kräftig. An den Schläfen zeigten sich jedoch schon weiße Strähnen. Der Vormund der Kinder besaß die Statur ei nes ausgewachsenen Bären. Da er seine brei ten Schultern jedoch vorneigte und dabei auch noch den Rücken gekrümmt hielt, wirkte er von der Haltung her wie ein alter Mann. Sein Gesicht war von tiefen Linien zerfurcht
und hatte einen grimmigen Ausdruck, so, als falle es ihm schwer, eine Wut, die in ihm tobte, im Zaum zu halten. Seine Kleidung war alles andere als elegant oder auch nur sauber zu nennen. Der Lord hatte trotz des schönen Wetters an diesem Tag einen karierten Schal um seinen Hals gewun den. Zu einer grünlichen Hose trug er eine lose Jacke mit altmodisch wirkenden Ärmelauf schlägen. Lord Henry war, so erzählte man sich, bis zu seiner Rückkehr nach Schloß Grimby zur See gefahren. Ob das stimmte, wußte niemand. Denn niemand hatte jemals die Namen der Schiffe gehört, die er befehligt oder auf denen er angeheuert hatte. Sein Benehmen ließ jedoch darauf schließen, daß der Lord sich früher nicht in der besten Gesellschaft aufgehalten hatte. Anstand, Höflichkeit und gute Sitten schienen für Lord Henry Fremdwörter zu sein. Er ver abscheute jeglichen Luxus. So hatte er die kostbaren Bilder, die früher die Wände der Salons und Zimmer ge schmückt hatten, in den Keller verbannt, wo sie durch die Feuchtigkeit Schaden nahmen. Die farbenfrohen brokaten Vorhänge hatte er abnehmen und durch einfaches freudloses Linnen ersetzen lassen. Statt wie früher auf
wertvollen orientalischen Teppichen ging man jetzt auf blanken Holzfußböden. Die Teppiche lagen dagegen aufgerollt in den Ecken der Zim mer, die sie früher geschmückt hatten. Zu Lebzeiten von Lady Elisabeth und Lord Ge orge Harry waren die Mahlzeiten auf Schloß Grimby immer wie ein kleines Fest gewesen. Seit Lord Henrys Einzug waren nicht allein das kostbare Tafelsilber, sondern auch Ker zen, Kristall und die damastenen Tischdecken verschwunden. Statt dessen gab es irdenes Ge schirr, Gläser, wie sie in der Schankstube des nahegelegenen Dorfes benutzt wurden, und ein grobes Tischtuch. Auch die Speisen hatten sich geändert. Lady Elisabeth und ihr Mann Lord George Harry hatten die französische Küche geliebt und sehr viel Wert auf die Güte der Speisen gelegt. Es hatte ihnen auch Freude bereitet, Gäste zu be wirten. Seit ihrem Tod hatte jedoch nicht ein einziger Gast mehr das Schloß betreten. Statt ausge suchter Köstlichkeiten hatte die Köchin Ruth auf Anordnung von Lord Henry jetzt riesige Mengen von Fleisch zuzubereiten. Gemüse, Obst und süße Nachspeisen, so hatte Lord Henry kategorisch bestimmt, hätten auf sei nem Tisch nichts zu suchen.
* Als die beiden Kinder an diesem Morgen in den Eßsalon traten, war ihr Onkel und Vor mund gerade damit beschäftigt, eine große Portion Schinken zu vertilgen. Während er die Gabel zum Mund führte, blickte er mit grimmi ger Miene Grace und Peter an. »Ihr seid spät«, donnerte er die Geschwister an. »Bitte, entschuldige uns, Onkel Henry«, ant wortete Grace. Sie wollte erklären, daß die Gouvernante nicht dagewesen sei, um Peter anzukleiden. Im letzten Moment schwieg Grace jedoch. Sie wußte, wie sehr ihr Onkel die Erzieherin haß te, und wollte sie ihn nicht wieder gegen sie aufbringen. Grace’ Rücksicht war jedoch umsonst. Denn da kam auch schon die nächste Frage aus dem verzerrten Mund von Lord Henry. »Warum kommt ihr ohne eure Gouvernante?« wollte er mit dunkel grollender Stimme wissen. »Isabell war heute morgen nicht da«, berich tete Lord Peter, bevor Grace noch ein Wort sa gen konnte. In den dunklen Augen seines Onkels blitzte es
auf. Zwischen seinen Augenbrauen, die wie bu schige Bündel aufstanden, bildete sich eine steile Falte. »Eure Gouvernante ist nicht da?« fragte er und hieb seine Gabel in ein Stück Schinken. »Nein«, bestätigte Grace und umklammerte dabei die Hand ihres kleinen Bruders fester. Oh, Grace wollte ihren Onkel ja lieben, so wie man es von ihr verlangte. Sie konnte es nicht. Es war ihr ganz unmöglich, für ihren Onkel Zuneigung zu empfinden. Statt Liebe fühlte sie Angst. Die Angst kroch auch jetzt wie ein dunkles Ungeheuer durch ih ren Körper und setzte sich in ihrer Kehle fest. Wenn doch Isabell da wäre, dachte sie ver zweifelt. Lord Henry schob den Stuhl, auf dem er ge sessen hatte, mit einem so heftigen Stoß zu rück, daß er krachend auf den Fußboden fiel. »Eure Gouvernante vernachlässigt also ihre Pflicht«, rief er noch einmal mit Donnerstim me. Der kleine Lord schluckte. Er war von der gleichen Angst wie seine Schwester erfüllt. Auch ihm schlug das Herz bis zum Halse. Um die geliebte Erzieherin zu schützen, über wand Peter mutig die Angst und sagte: »Heute in der Nacht war Isabell aber da. Sie ist zu mir an mein Bett gekommen, als ich von dem
schwarzen Vogel geträumt habe.« Lord Henry starrte den Jungen an. Es sah aus, als würden ihm die schwarzen Augen aus den Höhlen quellen. Peter wagte kaum zu atmen und drängte sich so dicht wie nur möglich an seine Schwester. »Was ist das für ein Unfug? Von was für ei nem Vogel sprichst du da?« herrschte Lord Henry ihn an. Sein barsches aufbrausendes Wesen ließ Pe ter endgültig verstummen. Er brachte keinen Ton hervor. Grace antwortete für ihren kleinen Bruder. »Peter hat wieder von dem Todesvogel ge träumt. Der schwarze Vögel hatte sich auf sei ne Brust gesetzt und ihm die Luft abgeschnürt«, berichtete sie. Lord Henry lachte böse auf. Peter zuckte unwillkürlich zusammen. Er fand, daß sich das Lachen seines Onkels an hörte wie das rauhe Krächzen des schwarzen Vogels, der ihn während der Nacht bedroht hatte. »Dieser schwarze Vögel, was wollte er von dir?« erkundigte sich Lord Henry mit beißen dem Hohn bei seinem Neffen. »Er wollte… er wollte…«, erwiderte Peter stot ternd. »Es war doch alles nur ein böser Traum«, kam
Grace ihrem Bruder zu Hilfe. »So, und warum war eure Gouvernante dann in deinem Zimmer? Habe ich nicht angeord net, daß die Erzieherin die Türen nachts ge schlossen hält?« ergrimmte Lord Henry. »Aber Peter hatte aus Angst wieder keine Luft mehr bekommen. Er hat ganz laut geweint und geschrien. Und dann ist Isabell gekommen und hat Peter wieder beruhigt«, verteidigte Grace die Gouvernante. Ihr Onkel hatte seine Hände auf dem Rücken verschränkt. »So, sie hat deinen Bruder beru higt. Und wie hat sie das gemacht?« forderte er zu wissen. »Das weiß ich nicht«, gestand Grace. »Ich mußte doch aus dem Zimmer gehen.« Lord Henry wandte sich an seinen kleinen Neffen. Der war so eingeschüchtert und er schrocken, daß er nicht wagte, seinem Blick zu begegnen. Er sah auf den Boden. »Peter«, donnerte Lord Henry. Der kleine Lord zuckte zusammen. »Sieh mich an, wenn ich mit dir spreche«, fuhr sein Onkel auf die gleiche grobe Art wie vorher fort. Peter hob seinen Kopf. Er wagte nicht zu at men. »Was ist heute nacht passiert? Was hat deine Gouvernante mit dir angestellt?« fuhr Lord
Henry fort. »Nichts. Wirklich nichts, Onkel Henry. Isabell hat nur ihre Hand auf meine Stirn gelegt und etwas gemurmelt«, gab Peter mit zitternder Stimme zur Antwort. »Was hat sie gemurmelt? Denk nach. Ich will es wissen«, verlangte sein Onkel. »Ich weiß es nicht mehr, Onkel Henry. Isabell hat ganz leise gesprochen. Sie hat gemurmelt. Ich konnte sie nicht verstehen«, berichtete der kleine Lord. Er gab sich dabei die größte Mühe, die Tränen zurückzudrängen, die in ihm hochstiegen. Lord Henry kniff seine Augenlider zusam men. Dabei verstärkte sich noch der Zug von Ingrimm auf seinem Gesicht. Es wirkte so grob wie mit der Axt gehauen. Danach trat er mit schwerem Schritt zum Fenster und zog mit einem brutalen Ruck die Vorhänge beiseite. Die Schultern vorgeneigt wie ein gereizter Stier, der bereit ist, zum Angriff überzugehen, hielt Lord Henry of Grimby nach der Gouver nante Ausschau. Er sah nicht die Blumen und den strahlend blauen frühlingsfrischen Himmel. Er hörte auch nicht den Gesang der unzähligen Vögel und spürte nichts davon, wie sich überall in der Natur neues Leben regte.
Als die Tür geöffnet wurde, fuhr er herum. Als er merkte, daß es nicht Isabell war, die in den Salon kam, sondern die Köchin Ruth, die den Kindern ihren Brei brachte, stierte er wieder zum Fenster hinaus. Peter und Grace setzten sich zu Tisch. Sie sprachen kein Wort und wagten kaum zu at men. Aus Angst, erneut den Unwillen ihres On kels hervorzurufen, trauten sie sich auch nicht, sich an den Händen zu fassen. Ihre klei nen Füße berührten sich jedoch unter dem Tisch, und sie blickten sich in stummer Ver zweiflung und grenzenloser Angst in die Au gen. Lord Henry bemerkte nichts von der Qual, die er den Kindern bereitete. Er hatte die Arme wieder auf dem Rücken verschränkt und starr te unentwegt zum Fenster hinaus. Plötzlich ging eine Bewegung durch seinen massigen Körper. Er zupfte an seinem karier ten Schal und drehte sich zu den Kindern um. »Eßt«, herrschte er sie an. Ohne sie weiter zu beachten, ging er danach mit Riesenschritten aus dem Salon. Die Tür war kaum hinter ihm ins Schloß gefal len, da sprangen Peter und Grace auch schon von ihren Stühlen auf. Sie stürzten zum Fens ter, um zu sehen, was ihren Onkel dazu bewo gen hatte, den Salon so plötzlich zu verlassen.
»Da ist Isabell. Sie kommt aus dem Tal«, stieß Grace hervor. Das »Tal«, so wurde jene Mulde genannt, die der Gärtner Will auf Anordnung von Lady Eli sabeth und Lord Peter Harry im Park des Schlosses angelegt hatte. In dem »Tal« wuch sen Rhododendren und seltene Blumen. Zuerst konnten die Kinder nur Isabells Kopf sehen, aber nach und nach tauchte ihre ganze Gestalt auf. »Isabell hält Schneewind am Zügel. Grace, warum setzt sie sich nicht auf den Rücken von Schneewind?« fragte der kleine Lord seine Schwester. Grace drückte ihr Stupsnäschen an die Schei be, so daß es ganz platt wurde. »Oh, Peter, Schneewind humpelt. Der Schimmel ist ver letzt«, rief sie erschrocken aus. »Ist es schlimm? Kann Schneewind nie wieder gesund werden? Muß er jetzt immer humpeln?« sorgte sich Peter. »Ich weiß es nicht. Komm, wir fragen Isabell«, gab Grace ihm zur Antwort und lief zur Tür hinaus. Peter folgte ihr. Die Kinder kamen jedoch nicht weit. Sie hat ten nicht mit Lord Henry gerechnet. Ihr Onkel hatte sich auf der obersten Stufe der Freitreppe aufgebaut. Er starrte in den Park hinaus und wandte den Kindern den
Rücken zu. Als der Lord jedoch die leichtfüßi gen Schritte der Geschwister auf dem steiner nen Fußboden der Halle vernahm, drehte er sich abrupt um. »Ihr habt hier nichts zu suchen. Geht und eßt euren Brei«, herrschte er sie an. Grace faßte sich ein Herz. »Onkel Henry, wir wollten Isabell fragen, ob Schneewind krank ist. Weil er doch humpelt«, sagte sie. In den Augen ihres Onkels blitzte es wieder drohend auf. »Ihr werdet diese Hexe nicht sprechen«, rief er. Grace und Peter blieben die Münder offen ste hen. Wieder war es Grace, die sich als erste ein Herz faßte. »Aber Isabell ist keine Hexe. Sie ist lieb«, entgegnete sie. Ihr Onkel schnaubte. »Sie ist eine Hexe. Sie hat den Schimmel auf dem Gewissen. Und nicht nur ihn. Ich erlaube nicht, daß sie euch auch noch verhext«, rief er so laut, daß es in der großen Halle von Schloß Grimby wie mit Donnergetöse widerhallte. Seine dröhnende Stimme rief die Köchin Ruth aus der Küche in die Halle. Ihre Augen waren schreckensweit aufgerissen und ihr Gesicht leichenblaß. Sie starrte auf Isabell Bly, die in der Zwi schenzeit bis auf wenige Meter mit Schnee wind am Zügel herangekommen war.
Die Morgensonne tauchte die junge Gouver nante und den edlen Schimmel in goldfarbenes gleißendes Licht. Es verfing sich in Isabells üp pigen blonden und offen über die Schultern fallenden Haaren und verursachte helle Refle xe, so daß es aussah, als sei der Kopf der Erzie herin von einem Strahlenkranz umgeben. Die Gouvernante Isabell Bly war in diesem Augenblick von fast überirdischer Schönheit. Trotzdem erschreckte ihr Anblick die Köchin so sehr, daß sie die irdene Schüssel, die sie in Händen gehalten hatte, auf den Boden fallen ließ, wo sie in unzählige Stücke zerbrach. Lord Henry tat, als habe er es nicht bemerkt. Ohne noch ein Wort an die Geschwister oder an Ruth zu richten, ging er Isabell entgegen. Sein Schritt war schwer, der Körper wuchtig. Seinen kantigen Kopf mit den feuerroten Bürs tenhaaren hielt der Lord vorgeneigt wie ein Stier, der zum Angriff überging. Unter buschi gen Brauen hervor starrte er mit seinen dunklen Augen auf Isabell, so, als wolle er sie ins Visier nehmen. * Dicht vor Isabell und dem Schimmel blieb
Lord Henry stehen. »Was ist mit dem Pferd?« fragte er noch barscher, als es sonst seine Art war. »Es hat sich den rechten Vorderlauf ver staucht«, antwortete Isabell. Der Lord neigte sich zu Schneewind hinunter und befühlte den Verband, den Isabell dem Schimmel angelegt hatte. »Was ist das für ein Verband?« herrschte er Isabell danach an. »Ich habe Schneewinds verletzte Fessel mit Kräutern und einem Kleidungsstück von mir umwickelt«, berichtete Isabell. Lord Henrys Mund verzerrte sich. »Mit Kräu tern? Was sind das für Kräuter?« »Oh, verschiedene. Ich kenne ihre Namen selbst nicht alle. Aber sie helfen. Ich weiß es von einer alten Frau aus meiner Heimat«, ver sicherte Isabell. Lord Henry lachte krächzend auf. Dann wandte er sich um und rief mit herrischer Ges te Andrew herbei. Der Pferdeknecht war in zwischen aus dem Marstall getreten und hatte die Szene mit gebührendem Abstand beobach tet. Jetzt trat er hinzu. »Kümmern Sie sich um das Pferd«, wies Lord Henry ihn an. Der Pferdeknecht nahm Isabell wortlos die
Zügel aus der Hand. »Sie dürfen den Verband nicht abnehmen. Die Kräuter müssen erst ihre ganze Wirkung entfalten«, erklärte ihm Isa bell. Andrew holte tief Luft. Er öffnete seinen Mund, um etwas zu entgegnen. Dann ließ er es aber sein und ging mit Schneewind zum Mar stall. Bevor sie dort ankamen, begann der Schim mel so laut und hell zu wiehern wie noch nie. Er blieb stehen und wandte den Kopf zu Isabell zurück. Hätte der Pferdeknecht ihn nicht wei tergezogen, so wäre Schneewind zu Isabell zu rückgekehrt. Lord Henry betrachtete Isabel], als wolle er sie mit seinen Blicken töten. »Sie haben Ihre Pflichten vernachlässigt«, warf er ihr vor. »Es tut mir leid«, erwiderte Isabell. »Ich wäre zur gewohnten Zeit von meinem Ausritt zu rückgekehrt, wenn Schneewind sich nicht das Bein verletzt hätte.« »Sie wurden auf Schloß Grimby als Gouver nante, nicht als Reiterin eingestellt«, entgeg nete Lord Henry. »Ja, ich weiß. Aber Lady Elisabeth und Lord Peter Harry haben mir erlaubt, den Schimmel Schneewind zu reiten«, rechtfertigte sich Isa bell. »Weil meine Cousine und mein Cousin nicht
wußten, daß sich hinter Ihrer Larve eine Hexe verbirgt«, stieß der Lord hervor. Isabell schluckte. Sie hatte sich seit Lord Hen rys Einzug auf Schloß Grimby einiges anhören müssen. Es war ihr oft sehr schwergefallen, zu den Anschuldigungen und den vielen bösarti gen Bemerkungen zu schweigen. Isabell wußte, daß der Lord nach einem Vor wand suchte, um sie entlassen zu können. Aus dem Grunde hatte sie bisher nie gegen ihn auf begehrt – so unsinnig seine Vorwürfe auch ge wesen waren. In diesem Moment war ihre Empörung jedoch zu groß. »Eine Hexe! Mylord, wissen Sie, was Sie da sa gen?« stieß sie hervor. »Sie haben nicht das Recht, mir Fragen zu stellen. Sie werden tun, was ich Ihnen gesagt habe. Sie werden Schloß Grimby noch an die sem Morgen verlassen. Jetzt gleich. Und Sie werden sich nicht von den Kindern verabschie den«, entgegnete Lord Henry. Er biß seine Zähne zusammen, so daß sein Gesicht noch kantiger als vorher aussah. Isabell schwieg erschrocken. Sie wandte ihr schönes Gesicht zur Seite, so daß es im Schat ten der mächtigen Buche lag, die ihr Blätter dach über ihr und dem Lord ausbreitete. Sie liebte den kleinen Lord und seine Schwes
ter von ganzem Herzen. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Isabell hatte es als ein großes Glück empfunden, die Erzieherin von Peter und Grace zu sein. Grace war ein reizendes Geschöpf. Peter jedoch war in Isabells Augen ganz un vergleichlich. Mit seiner Zartheit und seinem Liebreiz war er ihr immer als das schönste Kind der Welt erschienen. Sie konnte Peter und Grace nicht verlassen. Sie durfte nicht zulassen, daß Lord Henry die Seelen der beiden Kinder zerstörte. Denn das würde er tun, wenn sie nicht mehr da wäre, um Grace und Peter beschützen zu können. »Ich habe, als ich von Lady Elisabeth und Lord Peter Harry als Gouvernante ihrer bei den Kinder eingestellt wurde, einen Vertrag abgeschlossen. Peter und seine Schwester Grace wurden meiner Obhut übergeben, und ich werde meine Pflichten ihnen gegenüber er füllen«, erklärte Isabell mit Entschiedenheit. In den dunklen Augen des Lord erschien ein drohender Ausdruck. »Wenn Sie nicht von selbst gehen, werde ich Sie als Hexe verjagen lassen«, erklärte er. Danach griff er in seine Hosentasche und zog ein Bündel von Geldscheinen hervor. »Hier. Nehmen Sie das. Das ist der Rest Ihres Gehal tes. Für das, was übrigbleibt, kaufen Sie sich,
was Sie brauchen. Sie werden Schloß Grimby nicht wieder betreten. Ruth wird sich um Ihre Sachen kümmern«, stieß Lord Henry hervor und hielt Isabell die Scheine entgegen. »Ich dachte, Hexen brauchen kein Geld«, meinte Isabell. Lord Henrys Hand ballte sich zu einer harten Faust, die das Geld umschloß. »Ich warne Sie. Wenn Sie noch einmal nach Schloß Grimby kommen, wird es das letzte Mal für Sie gewe sen sein«, erklärte er und atmete heftig. Ihm war dabei anzusehen, daß seine Worte keine leere Drohung bedeuteten. Der Haß leuchtete aus seinen Augen. Er drehte sich um. In diesem Augenblick kam ein Schwarm von Krähen angeflogen. Mit lautem Gekrächze lie ßen sie sich auf der Buche nieder, unter der Isabell stand. Eine Krähe kam ihr dabei so nahe, daß es aus sah, als wolle sie sich auf ihrer Schulter nie derlassen. Als Isabell sich jedoch umdrehte, flog der schwarze Vogel mit panikartigem Kreischen auf, umschrieb eine Kurve dicht über dem Kopf der jungen Gouvernante und sank auf einmal wie von einem Blitzstrahl getroffen zu Boden. Mit zur Seite gedrehtem Kopf, die gezackten Schwingen rechts und links des ersterbenden
Körpers ausgebreitet, starrte die Krähe aus nachtschwarzen Augen auf Isabell. Isabell hielt für einen Moment die Luft an. Dann lief sie, als könne sie sich nur noch durch Flucht retten, den gewundenen Weg hinunter zu dem eisernen Tor, das den Park von Schloß Grimby von der Außenwelt ab schloß. Grace und der kleine Lord waren untröstlich gewesen, als Onkel Henry ihnen mit wenigen Worten auf seine grobe Art mitgeteilt hatte, daß ihre Gouvernante sie und Schloß Grimby für immer verlassen hatte. Peter vergoß den ganzen Tag über bittere Trä nen. Obwohl sie selbst den Tränen nahe war, versuchte Grace ihn zu trösten. Jetzt, wo sie niemanden mehr hatten, der sie liebte und an den sie sich in ihrer Not wenden konnten, fühlte sich Grace noch stärker als vorher für ihren jüngeren Bruder verantwort lich. Um Peter von seinem Schmerz abzulenken, kam die Kleine am späten Nachmittag auf die Idee, mit einem Gefährt den Abhang in jene Mulde hinunterzufahren, die der Gärtner Will vor längerer Zeit angelegt hatte. Bei dem Gefährt handelte es sich um einen al ten Leiterwagen mit hohen gummibereiften Rädern, in dem schon die verstorbene Groß
mutter der Geschwister ihre Puppen spazieren geführt hatte. Ein Gemälde, auf dem die Lady als Kind mit dem Leiterwagen zu sehen war, hatte lange Zeit im großen Salon gehangen. Wie viele an dere Bilder auch, war es auf Anordnung von Lord Henry in dunkle Keller gebracht worden. Der Wagen war inzwischen so altersschwach, daß seine Räder wackelten. Da den Kindern aber kein anderes Gerät zur Verfügung stand, mußten sie mit ihm vorliebnehmen. Grace hatte sich so hingesetzt, daß sie mit ih ren Beinen die hölzerne Deichsel steuern konnte. Der kleine Lord saß hinter seiner Schwester und schmiegte sich so eng wie mög lich an sie. Seinen engelsgleichen Kopf mit den weizen blonden Locken preßte er gegen Grace’ linke Schulter, und seine Arme hatte er um ihre Taille geschlungen. »Peter, sieh doch, wir fahren so schnell wie der Wind«, rief Grace, als der Wagen mit ihr und ihrem Brüderchen den Abhang hinunter holperte. Obwohl die Geschwindigkeit nicht groß war, kam es Peter vor, als würden sie tatsächlich mit rasendem Tempo dahinjagen. Er schloß die Augen. Gleich darauf kam der Leiterwagen zum Stehen.
»Möchtest du noch einmal fahren?« fragte Grace. Der kleine Lord schüttelte den Kopf. »Nein, lieber nicht«, gestand er. »Dann müssen wir den Wagen in den Marstall zurückbringen«, erklärte Grace und griff nach Peters Hand. Mit der anderen zog sie das Ge fährt hinter sich her. Es war inzwischen Abend geworden. Zwi schen den Bäumen war es schon dunkel. Hin ter dem Dach des Schlosses tauchte die Schei be des vollen Mondes auf. »Der Mond ist ganz rund«, stieß Peter hervor. »Natürlich, weil wir Vollmond haben«, erwi derte seine Schwester. »Dann ist der Mond doch noch heil. Hat der Todesvogel den Mond noch nicht kaputt ge macht?« stieß Peter hervor. »Aber Peter. Das war doch nur ein Traum«, entgegnete Grace. Peter schluckte. Er war ganz sicher, daß der schwarze Vogel wirklich da gewesen war. Aber es wollte ihm ja niemand glauben. Nicht ein mal seine Schwester. Der kleine Lord fragte sich, ob der Vogel nachts wiederkommen würde. Schon bei dem Gedanken daran fühlte er, wie sich ihm die Brust zusammenschnürte. Er trat mit Grace in den Marstall. Am anderen
Ende, dort, wo die Box von Schneewind war, brannte ein schwaches Licht. Von dort vernah men die Kinder Stimmen. Grace und Peter blieben unwillkürlich stehen. Man hatte sie nicht kommen hören. In der Luft hing der warme Odem der Pferde. Der frische Abendwind schlug die Äste einer Pappel, die vor dem Marstall wuchs, gegen eines der schmalen Fenster. Die Stimmen wurden lauter. Peter und Grace vernahmen den Reitknecht Andrew und die Köchin Ruth. »Hast du gesehen, wie die Krähe über sie hin weggeflogen ist? Sie hat gekrächzt, als wolle sie ihr etwas sagen«, erklärte Ruth. »Und dann ist sie tot niedergestürzt. Grauen voll. Ich mußte den Vogel ja wegräumen. Lord Henry hatte es mir aufgetragen. Es war kein Lebenszeichen mehr in ihm. Aber die Augen, Ruth, diese Augen hättest du sehen müssen. Mir kriecht jetzt noch eine Gänsehaut über den Rücken, wenn ich daran denke«, versicherte der Reitknecht Andrew. »Wir können froh sein, daß Lord Henry diese Hexe weggeschickt hat. Sie hätte uns noch alle umgebracht. Auf den kleinen Lord hätte sie es von Anfang an abgesehen. Die Eltern der Kin der hat sie auch schon auf dem Gewissen«, er klärte die Köchin.
»Was redest du da von Gewissen, Ruth. Als ob Hexen ein Gewissen hätten«, entgegnete der Reitknecht. Grace und Peter starrten sich an. Sie waren unfähig, sich zu bewegen oder ein Wort zu sprechen. »Guck mal, der Mond. Erscheint er dir heute nicht anders als sonst?« fuhr die Köchin fort. »Anders?« »Bedrohlich. Das hat bestimmt etwas mit der Hexe zu tun. Bei Vollmond treiben Hexen ihr Unwesen. Andrew, wußtest du, daß bei Voll mond die meisten toten Kinder geboren wer den?« fragte die Köchin. »Nein, das wußte ich nicht. Aber ich erinnere mich an einen Spruch meiner Großmutter. Da nach führt bei Vollmond ein Engel zwei Men schen zusammen, und zwei andere trennt er durch den Tod«, erwiderte der Pferdeknecht Andrew. Der kleine Lord begann zu weinen. »Pst, Andrew. Schweig. Da ist jemand. Viel leicht ist sie es. Die Hexe«, stieß die Köchin hervor. Peter riß sich von der Hand seiner Schwester los und rannte durch den Marstall an den Bo xen vorbei zu dem Pferdepfleger und der Kö chin. »Isabell ist keine Hexe«, rief er, während ein
ganzer Strom von Tränen über sein blasses zartes Gesichtchen rann. In diesem Moment wieherte der Schimmel Schneewind hellauf und schlug so heftig mit seiner linken Hinterhand aus, daß das Holz hinter seiner Box zersplitterte. Der kleine Lord stellte sich mit tränenüber strömtem Gesicht vor Ruth und Andrew auf. »Isabell ist lieb. Ich will nicht, daß ihr sie eine Hexe nennt. Sie ist keine Hexe.« »Da siehst du, Andrew, was wir beide ange richtet haben. Der Kleine hat uns zugehört. Man kann nicht vorsichtig genug sein«, erklär te die Köchin Ruth dem Pferdepfleger und wollte Peter in ihre Arme nehmen. Das Kind wich jedoch zurück. In seine Augen trat ein Ausdruck des Entset zens. Er starrte auf die Tür des Marstalls, die weit offen stand. Dahinter war die runde Scheibe des Mondes zu erkennen. »Dort ist er. Er ist wieder da«, rief Peter und deutete mit ausgestrecktem Arm auf den Mond. Die Köchin und der Pferdepfleger drehten sich um. Grace, die ihrem Bruder gefolgt war, lief sogar zur Tür, um zu sehen, was Peter meinte. »Aber das war doch nur eine Krähe, die vom Baum geflogen ist. Vor der brauchst du doch
keine Angst zu haben«, versuchte sie ihren kleinen Bruder zu beruhigen. »Eine Krähe. Habe ich es dir nicht gesagt?« stieß die Köchin Ruth zum Pferdepfleger ge wandt hervor. Der griff nach der Box, um sich festzuhalten. Sein Mund stand offen. Grace lief zu ihrem Bruder zurück. Peter be achtete sie nicht. Der Mond ließ die Krähe, die an ihm vorbeiflog, überlebensgroß erscheinen. Mit ruhigen Flügelschlägen zog sie dahin. Als sie nicht mehr zu sehen war, schrie der kleine Lord auf und verbarg sein Gesicht an der Schulter seiner Schwester. »Peter, es ist doch alles wieder gut«, meinte Grace. »Der arme kleine Lord«, ließ sich die Köchin vernehmen. Peter hob seinen Kopf. In diesem Moment war ein unglaublich lautes Krächzen zu hören. »Er kommt zurück. Der Todesvogel setzt sich wieder auf mich. Er ist gleich da«, rief Peter voller Verzweiflung. Er krallte dabei seine Hände in seine Brust. Sein Atem ging stoßweise. Auf seiner hohen Stirn stand der kalte Angstschweiß. Schneewind wieherte noch einmal hellauf und schnoberte mit seinen weichen Lippen an dem hellblonden Lockenhaar des Kindes. Der
kleine Lord schrie bei dieser Berührung gel lend auf. Die Köchin und der Pferdepfleger sahen sich entsetzt an. »Ich hole Lord Henry. Bleib du hier bei den Kindern«, wies Ruth den Pferde pfleger an und stürzte aus dem Marstall. Fünf Minuten später kehrte sie mit „Lord Henry zurück. Peter lag nach Atem ringend auf dem Heu, das Andrew am Morgen frisch aufge schüttet hatte. Grace saß neben ihm. »Was ist hier los?« herrschte der Lord die Kinder an. »Peter hat Angst vor dem Todesvogel«, flüs terte Grace und sah zu ihrem Onkel auf. Der Vogel, von dem ihr kleiner Bruder berich tete, hatte sie nie beunruhigt. Der grimmige Ausdruck auf dem kantigen Gesicht ihres On kels ließ sie jedoch vor Angst erzittern. »Was für ein Vogel? Hier ist kein Vogel«, fuhr Lord Henry fort. Er biß seine Zähne aufeinan der und fuhr sich mit beiden Händen über sein feuerrotes Bürstenhaar. Danach wandte er sich an den Pferdepfleger Andrew. »Fahr zu Dr. Ashley. Er soll nach Schloß Grimby kommen. Sofort«, befahl er. »Ja. Sofort«, flüsterte Andrew, knöpfte sich seine Jacke zu und lief aus dem Marstall, um den Auftrag auszuführen.
* Dr. Philipp Ashley hatte einen sehr arbeitsrei chen Tag hinter sich. Jetzt saß er in seinem Wohnzimmer, hatte sich eine Pfeife angezün det und die Beine von sich gestreckt. Während der Arzt den Rauch von sich stieß, dachte er an die Gouvernante Isabell Bly. Er meinte sie vor sich zu sehen, wie sie am Mor gen, umstrahlt von der aufgehenden Sonne, mit dem Schimmel am Zügel zwischen den weißen Birkenstämmen am Ufer des Sees er schienen war. Nie würde er vergessen, wie schön sie ausge sehen hatte, als sie sich zu dem Schimmel hin abneigte, um sein verletztes Bein zu verbin den. »Isabell«, flüsterte der Arzt, und er fand, daß es auf der ganzen Welt keinen schöneren Na men gab. Isabell, das klang wie Harfenmusik. Philipp Ashley erinnerte sich, bei einem Be such auf Schloß Grimby tatsächlich gehört und gesehen zu haben, wie Isabell die Saiten einer Harfe zupfte. An jenem Tag vor einem Jahr war der Arzt der Gouvernante zum erstenmal begegnet. Peter hatte sich etwas erkältet. Seine besorgte Mut
ter, Lady Elisabeth, hatte den Doktor gebeten, nach ihrem Sohn zu sehen. Nachdem der kleine Lord verarztet worden und ganz friedlich eingeschlafen war, hatte Lady Elisabeth Dr. Ashley und der Erzieherin in einem Salon einen Sherry angeboten. In dem Salon, den der Arzt seitdem nie mehr betreten hatte, gab es außer anderen Musikin strumenten auch eine wunderschöne Harfe. Isabell hatte sie gestreichelt, als sei sie ein le bendes Wesen, und dann wie spielerisch an ei ner Saite gezupft. Es war ein unbeschreiblich schöner Klang gewesen. Der Arzt wunderte sich, warum er nie mehr daran gedacht hatte. Ihm fielen auf einmal auch andere Dinge ein, die an jenem Abend geschehen waren. Er erin nerte sich, wie Isabell und Lady Elisabeth mit einander gelacht hatten. Sie waren wie Freun dinnen gewesen. Damals war alles harmonisch gewesen. Ein Diener hatte in dem großen, eindrucksvollen Salon, einem der besten im Schloß, die Kerzen in den kostbaren Silberleuchtern angezündet. Ihr warmes Licht wurde von großen, langen Spiegeln in Goldrahmen zurückgeworfen. Die dichten, gemusterten Vorhänge hatte man zu gezogen. Als der Arzt Isabell gesagt hatte, er habe den Eindruck, daß sie sich auf Schloß Grimby gut
eingelebt habe, hatte sie sehr lebhaft geant wortet: »Oh, ich bin hier so glücklich. Es ist mir ein Vergnügen, Peter und Grace unterrich ten und sie formen zu dürfen.« Es hatte jedoch, auch daran erinnerte sich der Arzt wieder, auf einmal einen Moment gege ben, da war ganz aus der Nähe ein seltsames Geräusch zu hören gewesen. Es hatte wie ein heiseres Krächzen geklungen. Er selbst und Lady Elisabeth waren ganz unwillkürlich zu sammengefahren, während Isabell nichts be merkt zu haben schien. In diesem Augenblick zerschnitt der Klang der Hausglocke die Gedanken des Arztes. Dr. Philipp Ashley legte seine Pfeife auf ein Bü cherbord und öffnete die Tür seines kleinen Hauses. Vor ihm stand Andrew, der Pferdepfleger von Schloß Grimby. Der alte Mann war völlig durcheinander. Er konnte nicht einmal klar sprechen. Nur stotternd brachte er hervor: »Dr. Ashley, die Hexe… der kleine Lord Peter… er kriegt keine Luft mehr… Sie sollen nach Schloß Grimby kommen, Doktor. Sofort. Lord Henry hat mir aufgetragen, Ihnen das zu sa gen.« »Ich komme«, erklärte Philipp Ashley, ohne zu zögern. Er ging in sein Arbeitszimmer und holte seine Arzttasche. Gleich darauf fuhr er
mit Andrew nach Schloß Grimby. Während der Autofahrt berichtete der Pferde pfleger aufgeregt, was dem kleinen Lord wi derfahren war. Als Andrew wieder einmal be hauptete, die Gouvernante habe Peter verhext, wies Philipp Ashley ihn mit barschen Worten zurecht. »Sie sind alt genug, um zu wissen, daß es kei ne Hexen gibt, Andrew«, erklärte er. Der Pferdepfleger wollte widersprechen, zog es dann aber vor zu schweigen. Sein tief zer furchtes Gesicht drückte aus, daß er meinte, es besser zu wissen als der Doktor. Als sie die schmale Straße hinauffuhren, die durch den großen Park von Schloß Grimby führte, schien die Welt wie verzaubert. Der Mond hüllte den Park und das Schloß in ein milchiges Licht. Eine Schar von Krähen flog über das Dach des Herrenhauses und ließ sich auf einem der hohen Rotbuchen nieder, ohne mit ihrem häßlichen Gekrächze aufzuhören. »Im Marstall brennt kein Licht mehr«, meinte Andrew. »Ich gehe davon aus, daß man Peter ins Schloß gebracht hat«, erwiderte der Arzt. Er bremste seinen Wagen vor dem Schloß und stieg mit Andrew aus. »Also Doktor, ich gehe dann zu meinen Pfer den. Und nichts für ungut«, meinte der alte
Pferdepfleger. »Ist schon in Ordnung, Andrew«, erwiderte Dr. Ashley und stieg mit seiner Arzttasche in der Hand die sechs Stufen der Freitreppe hin auf. Im Schloß hatte man ihn bereits kommen hö ren. Noch bevor der Arzt das Portal erreichte, wurde ihm die schwere Tür von innen geöff net. Vor ihm stand Lord Henry. Der Lord hatte, obwohl es keineswegs kalt war, wieder seinen karierten Schal umgebun den. Er trug die gleiche grünliche Jacke und Hose wie am Morgen. »Kommen Sie schon rein, Dr. Ashley. Mein Neffe Peter ist in seinem Zimmer. Ich begleite Sie«, erklärte er ohne den geringsten Hauch von Freundlichkeit. »Ist Miß Bly bei dem Kind?« erkundigte sich der Arzt. Lord Henry warf ihm einen scharfen Blick zu. »Ich habe die Gouvernante heute morgen ent lassen.« »Entlassen?« stieß Philipp Ashley hervor. Er spürte dabei in der Herzgegend einen kurzen schmerzhaften Stich. »Sie ist ihren Pflichten nicht nachgekommen«, lautete die knappe Antwort des Lords. Dr. Philipp Ashley blieb am Treppenaufgang
stehen. Seine rechte Hand lag auf dem reich verzierten hölzernen Geländer. »Miß Bly ist ihren Pflichten nicht nachgekom men? Mylord, darf ich Sie fragen, wie das zu verstehen ist?« wollte der Arzt wissen. »Nein, das dürfen Sie nicht, Doktor«, entgeg nete Lord Henry und ging die Marmortreppe hinauf. Als Philipp Ashley ihm nicht sogleich folgte, drehte er sich um und herrschte ihn an: »Wo bleiben Sie? Wollen Sie nicht nach meinem Neffen sehen?« Dr. Ashley unterließ es, eine Antwort zu ge ben. Er folgte Lord Henry in Peters Zimmer. Der kleine Lord saß kerzengerade in seinem großen Bett. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf Lord Henry und den Arzt. Trotz dem vermittelte er den Eindruck, als würde er sie nicht wahrnehmen. Sein Atem ging röchelnd. Seine zarten und empfindsamen Hände hatte er gegen seine Brust gepreßt. Sein feines Gesicht war von Schweiß bedeckt. Peter stieß unzusammenhängende Sätze aus, von denen nur einzelne Worte zu verstehen waren. Dazwischen schluchzte er verzweifelt und schrie angsterfüllt auf. Seine Schwester Grace und die Köchin Ruth waren bei ihm. Sie hatten alles versucht, um
ihm zu helfen. Ruth hatte ihm ein altes Kinder lied vorgesungen und ihm die Stirn mit einem großen karierten Taschentuch betupft. Grace hatte ihrem kleinen Bruder die Hände gehal ten und ihm zugeredet, daß alles wieder gut werden würde. Er brauche keine Angst zu ha ben, denn sie sei ja bei ihm. Peter hatte ihnen jedoch nicht einmal zuge hört. Als Grace Philipp Ashley zur Tür hereinkom men sah, lief sie ihm entgegen. »Dr. Ashley, Sie helfen Peter, nicht wahr? Sie bringen doch eine Medizin für ihn mit, nicht wahr?« stieß sie hervor. »Ich bin sicher, daß es deinem Bruder gleich wieder bessergehen wird, Grace«, antwortete der Arzt ausweichend, aber sehr freundlich. Er setzte sich neben den kleinen Lord auf den Bettrand. »So, mein Junge, und jetzt leg’ dich einmal hin«, redete er mit sehr sanfter Stimme auf ihn ein. »Herr Doktor, er ist verhext worden. Die Hexe hat den kleinen Lord Peter auf dem Ge wissen«, stieß die Köchin Ruth hervor. Sie hat te sich am Fußende des Bettes aufgestellt und wirkte völlig verstört. Der Arzt warf ihr einen kurzen Blick zu, gab aber keine Antwort. Lord Henry hingegen wies sie barsch an, das Zimmer zu verlassen.
»Ich habe doch nur gesagt, was wir alle auf Grimby wissen«, rechtfertigte sich die Köchin, als sie schon an der Tür war. Dr. Philipp Ashley preßte seine Lippen zusam men. Er hatte begonnen, den Brustkasten des kleinen Lords zu massieren. Ganz langsam wurde Peters Atem leiser und gleichmäßiger. Sein Körper entspannte sich. Die Augenlider fielen ihm zu. »Schläft er?« fragte Lord Henry, ohne seine Stimme zu senken. »Gleich, Mylord«, erwiderte der Arzt. »Was hatte das Kind?« fuhr Lord Henry fort. »Es sind die Nerven. Nein, nicht die Nerven. Die Seele. Seine arme kleine Seele ist krank. Er hat Schaden genommen«, gab der Arzt zur Antwort. »Was soll das, Dr. Ashley? Ich habe Sie nach Schloß Grimby kommen lassen, damit Sie her ausfinden, an welcher Krankheit mein Neffe Peter leidet. Nicht, um mir irgendwelchen Un sinn anzuhören«, entgegnete Lord Henry. Grace hatte sich in eine Ecke des Zimmers zu rückgezogen. In diesem Moment trat sie vor ihren Onkel. »Aber es stimmt, was Dr. Ashley sagt, Onkel Henry. Peters Seele ist traurig, und deshalb ist er krank geworden.« Lord Henry hatte nicht mehr daran gedacht, daß seine Nichte Grace sich noch in Peters
Zimmer aufhielt. Er vollführte jetzt mit seiner rechten Hand eine Bewegung, als wolle er die Luft zerschneiden. »Was soll das heißen? Was willst du noch hier? Kinder haben nichts dabei zu suchen, wenn Erwachsene sich unterhalten«, tadelte er Grace. Der Arzt legte wie beschützend einen Arm um die schmalen Schultern des Mädchens. Bevor er aber ein Wort sagen konnte, fuhr Lord Hen ry zornig fort: »Geh endlich, Grace!« Er hatte so laut gesprochen, daß Peter im Schlaf hochfuhr. Mit wirrem Blick sah er um sich. Gleich darauf warf er sich aber wieder zu rück und schlief weiter. * Grace sah auf ihren kleinen Bruder. Peter kam ihr vor wie ein Baby, das sie beschützen muß te. Grace spürte, daß er in großer Gefahr war und seine zarte Seele sterben könnte, bevor sie zum richtigen Leben erwacht war. Grace hatte in der letzten Zeit oft darüber nachgedacht, was das war, das Leben. Sie hatte auch Isabell Bly danach fragen wollen, es dann aber immer wieder vergessen.
In diesem Moment wußte die Kleine auf ein mal, was das Leben war. Es enthielt alles – al les Schöne und Schmerzliche dieser Welt. Es war Himmel und Hölle, Glück und Angst. Und in dieses schöne, gefährliche, schmerzli che, aber auch so wunderschöne Leben wollte Grace ihren kleinen Bruder retten. Dr. Philipp Ashley strich dem zarten Mädchen sanft über das hellblonde Haar. Weil er merk te, daß Lord Henry seinen Zorn kaum noch länger im Zaum würde halten können, sagte er liebevoll zu ihr: »Geh in dein Zimmer, meine Kleine. Ich komme später noch einmal und verabschiede mich von dir.« Grace sah ihn dankbar an. Ohne ein Wort zu sagen, verließ sie auf leichten Füßen und fast unhörbar das Zimmer ihres Bruders. Sie hatte kaum die Tür hinter sich geschlos sen, als der Lord aufbrauste: »Was ist wirklich mit meinem Neffen los, Doktor? Nennen Sie mir den Namen der Krankheit!« Dr. Philipp Ashley schüttelte den Kopf. »Das ist mir nicht möglich, Mylord. Ich weiß nicht, wie ich das seelische Leiden Ihres Neffen be nennen soll«, gestand er. Lord Henry ballte seine Hände zu Fäusten. »Doktor, Sie kommen mir ja schon wieder mit dieser verdammten Seele.« »Es ist besser, wenn wir das Zimmer verlas
sen, Mylord. Sonst wacht der Kleine noch auf«, sorgte sich der Arzt. Der Lord warf ihm einen dunklen Blick zu und biß seine Zähne so fest aufeinander, daß es knirschte. Gleich darauf verließ er mit Phil ipp Ashley das Zimmer. »Lord Henry, wer wird sich jetzt, nachdem Miß Isabell Bly nicht mehr da ist, um Peter und Grace kümmern?« erkundigte sich der Arzt besorgt, als sie auf der Balustrade stan den. »Das lassen Sie meine Sorge sein, Ashley«, meinte Lord Henry. Ohne Philipp Ashley wei ter zu beachten, stieg er die Treppe hinunter. Der Arzt überlegte, was er tun sollte. Dann drehte er sich entschlossen um und trat in Grace’ Zimmer. Grace hatte am offenen Fenster gestanden und voller Sehnsucht auf den Arzt gewartet. Jetzt lief sie auf ihn zu und ergriff seine Hän de. Was das Leben war, hatte sie inzwischen her ausgefunden. Aber was war die Seele? Darauf wußte sie keine Antwort. »Dr. Ashley, bitte sagen Sie mir – was ist die Seele? Kann man die sehen?« fragte sie. »Nein, meine Kleine, sehen kann man sie nicht«, gestand der Arzt. »Aber wo ist sie dann, wenn man sie nicht se
hen kann, Dr. Ashley?« fuhr Grace fort. »Oh, Grace, es gibt viele Dinge zwischen Him mel und Erde, die wir nicht mit unseren Augen erblicken können. Und trotzdem sind sie da«, erwiderte Philipp Ashley. »Doktor, wie macht man eine Seele, die krank ist, wieder gesund?« wollte Grace wissen. »Durch Liebe, meine Kleine. Liebe kann kran ke Seelen heilen«, antwortete der Arzt. »Durch Liebe«, hauchte Grace. Philipp Ashley spürte, wie sich bei ihrem An blick ein Gefühl von fast väterlicher Zärtlich keit in ihm regte. Welch eine schöne Seele, dachte er. Sie war so zart und versuchte doch so stark und mutig zu sein. Wenn ich jemals eine Tochter haben sollte, ging es ihm durch den Kopf, dann wünsche ich mir eine, die wie Grace ist. Er neigte sich zu ihr hinunter und legte ganz sanft seine Hände um das zarte Gesicht des Kindes. »Grace, du wirst Peter mit deiner Lie be beschützen«, sagte er. Die Kleine nickte mit ernstem Gesicht. »Ja, Doktor, das werde ich.« Gleich darauf zuckte es um ihre Lippen. »Isa bell hatte Peter auch lieb. Aber Onkel Henry hat sie weggeschickt. Doktor, kommt Isabell jetzt nie wieder zu uns?« fragte sie. »Ich weiß es nicht, Grace«, gestand der Arzt
wahrheitsgemäß. Grace senkte ihre Augenlider und nickte, als habe sie keine andere Antwort erwartet. In diesem Moment ertönte der Klang der Glocke. »War das das Zeichen zum Abendessen?« fragte der Arzt. »Ja«, hauchte Grace. »Dann laß uns jetzt gehen, meine Kleine«, meinte der Arzt und nahm Grace an die Hand. Sie stiegen die Treppe hinunter. In der Halle strich Philipp Ashley Grace noch einmal über das Haar. »Du und Peter, ihr seid nicht allein. Ich habe euch lieb«, versicherte er mit leiser Stimme. In Grace’ hellen Augen blitzte es kurz auf. Da nach brach ein Lächeln aus ihr hervor. »Ich habe dich auch ganz lieb, Dr. Ashley«, antwor tete sie. »Und denk daran, Grace, daß ich immer für dich und Peter dasein werde. Wenn ihr mich braucht, schickt Andrew zu mir. Er weiß, wo ich wohne«, fuhr der Arzt fort. »Ja, Doktor.« »Auf Wiedersehen, meine Kleine.« »Auf Wiedersehen, Dr. Ashley«, antwortete Grace. Bevor sie in den Eßsalon trat, strich sie Hek tor mit leichter Hand über den Kopf. Der alte Jagdhund ihres Vaters sah sie mit traurigen
Augen an. »Hektor, hast du auch eine kranke Seele?« fragte Grace. Der Hund senkte den Kopf. »Armer, lieber Hektor. Ich will versuchen, dich auch wieder gesund zu machen. Weil ich dich liebhabe. Mit Liebe kann man eine kranke Seele nämlich heilen. Das hat Dr. Ashley ge sagt. Hektor, lieber Hektor«, redete Grace dem Hund zu, während sie seinen Hals umschlang und ihr rosiges Kindergesicht gegen sein Fell preßte. Als sie gleich darauf aus dem Eßsalon die Stimme ihres Onkels hörte, erhob sie sich, strich Hektor noch einmal über den Kopf und ging zum Abendessen. Die Gouvernante Isabell Bly hatte nicht einen Moment lang in Betracht gezogen, die nähere Umgebung von Schloß Grimby zu verlassen. Auf einem ihrer frühmorgendlichen Ausritte mit dem Schimmel Schneewind, war sie drei Wochen zuvor an einem großen verfallenen Anwesen vorbeigekommen, das von einer ho hen Mauer umgeben war. Als sie sich bei der Köchin Ruth erkundigt hatte, was es mit dem alten Gemäuer auf sich habe, hatte Ruth sie voller Entsetzen ange schaut. Auf dem Grundstück, so hatte sie Isa bell mit stockender Stimme erklärt, hätten
sich früher Hexen versammelt. Mehr war aus Ruth nicht herauszubringen ge wesen. Schließlich hatte Isabell das Anwesen wieder vergessen. Nachdem Lord Henry sie jedoch von Schloß Grimby weggeschickt hatte, war ihr alles wie der eingefallen. Isabell hatte sich auf die Suche nach dem im Walddickicht verborgenen Ort gemacht. Es hatte mehr als eine Stunde gedau ert, bis sie darauf gestoßen war. Zuerst war Isabell an eine von wilden Rosen umrankte Mauer gekommen. Als sie darüber hinweggestiegen und hundert Meter gegangen war, hatte Isabell auch das Haus entdeckt. Es war noch viel verfallener, als sie es in Erin nerung gehabt hatte. Trotzdem sah man dem Gebäude und dem es umgebenden Park an, daß es sich einmal um ein stolzes Anwesen ge handelt haben mußte. Auf einem hohen Torbogen, der in einen In nenhof führte, waren die Reste eines Wappens zu erkennen. Die Insignien wiederholten sich über dem Eingang zum Herrenhaus. Obwohl von einem menschlichen Wesen weit und breit keine Spur zu erkennen war, wollte Isabell nicht einfach in das Herrenhaus ein dringen. An der Haustür, deren Farbe abgeblättert war, hing ein Klopfer aus Messing in Form ei
nes Schlangenkopfes. Nach kurzem Zögern schlug Isabell den Klopfer gegen die Tür. Ein dumpfes Geräusch zerriß die Stille. Isabell lauschte. Als niemand kam, stieß sie die quietschende Tür auf. Sie war nicht verschlossen und gab auch sofort dem leichten Druck ihrer Hände nach. Bevor Isabell aber in das Haus trat, warf sie einen Blick zurück. Es war niemand zu se hen. Nachdem Isabell die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte, sah sie sich um. Ein kreis rundes Fenster gegenüber der Eingangstür war herausgeschlagen. Der frische Wind be wegte eine Rosenranke hin und her. Das halbrunde Glas über der hohen Eingangs tür war zwar noch heil, im Laufe der Jahre aber so stark verschmutzt, daß kaum etwas vom Tageslicht durchdringen konnte. Auf die se Weise herrschte in der Halle Halbdunkel. Mehrere Minuten stand Isabell einfach so da, ohne sich zu bewegen. Sie roch den Moder, das Moos und die Feuchtigkeit der Pflanzen, die das Herrenhaus um wucherten. Sie nahm auch den schweren Duft von verrotteten Wurzeln in sich auf. Vorsichtig trat sie in einen der Räume, die von der Halle abgingen. Hier standen noch Möbel. Die eindringende Feuchtigkeit hatte
das Holz schwammig werden lassen. Nachdem Isabell sich in dem Raum umgese hen hatte, drückte sie eine weitere Klinke nie der. Sie stieß die Tür auf und fühlte einen Tep pich unter den Füßen, über den sie fast gestol pert wäre. Dann bemerkte sie eine dritte Tür, die ange lehnt war. Nachdem Isabell auch die aufgesto ßen hatte, stand sie in einem kleinen Raum, der fast wohnlich zu nennen war. Die Fenster waren zwar auch hier zerborsten. Wilde rote Rosen umrankten die Rahmen und wuchsen bis ins Zimmer hinein. An der Längs wand stand ein Himmelbett. Die blaue Seide, aus der der Himmel gearbei tet worden war, war verblichen. Die Bettdecke war klamm. An den Wänden, die von einer Stofftapete be deckt waren, hingen kaum noch erkennbare Bilder. Isabell zog vorsichtig die knarrende oberste Schublade einer Kommode aus Kirschbaum auf, die zwischen den Fenstern stand. Da sie davon ausging, daß sie sich in einem Raum be fand, der vor langer Zeit einmal einer Frau als Schlafzimmer gedient hatte, erwartete sie, in der Kommode Bänder und anderes schmückendes Beiwerk zu finden. Statt dessen entdeckte sie getrocknete Pflan
zen und Blüten, die alle sehr säuberlich auf chinesischem Papier aufgeklebt und fortlau fend beschriftet waren. Da Isabell sich lange Zeit mit Pflanzen beschäftigt hatte, kannte sie die meisten. In der zweiten Schublade lag ein riesiges in Leder gebundenes Buch. Als Isabell den Band an sich nahm, fiel der Buchrücken ab. Isabell schlug das Buch auf und las mit größtem Inter esse die Beschreibung über die heilenden und in manchen Fällen auch tödlichen Wirkungen verschiedener Pflanzen. Auch die waren ihr zum größten Teil vertraut, aber sie erfuhr doch von einigen Dingen, die sie noch nicht gewußt hatte. Nachdem sie den Band wieder in die Schubla de zurückgelegt hatte, faßte sie den Entschluß, vorerst auf dem verlassenen Anwesen zu blei ben und sich dort für eine Weile so gut wie möglich einzurichten. Zu ihrer Freude gab es auf dem Grundstück eine Quelle, aus der kristallklares Wasser sprudelte. Isabell formte mit ihren Händen eine Muschel und wusch sich ihr Gesicht und die Arme. Danach fühlte sie sich erfrischt und verspürte Hunger. Sie machte sich deshalb auf die Suche nach etwas Eßbarem. In dem verwilderten und fast undurchdringlichen Garten mit seinen vie
len Rankengewächsen fand sie frischen Lö wenzahn und andere Gewächse. In der riesigen Küche des Hauses entdeckte sie einen Behälter mit Honig, der noch so frisch schmeckte, als hätten die Bienen ihn ge rade erst aus den Blüten gesogen. Den Nachmittag verbrachte Isabell damit, sich in dem Anwesen einzurichten. Abends bei Anbruch der Dunkelheit hörte sie dann auf einmal inmitten der Stille das verzweifelte Weinen eines Kindes. Sie zuckte unwillkürlich zusammen. Peter, dachte sie. Ja, das war Peters verzweifeltes Weinen, das sie vernahm. Isabell lauschte mit angehaltenem Atem. Die Blätter der Bäume und Büsche raschelten im Abendwind. Sonst war nichts zu hören. Aber dann, wenige Sekunden später, war es wieder da, das hohe kindliche Schluchzen. »Peter«, flüsterte Isabell. Niemand antwortete. »Peter«, rief Isabell. Sie stürzte zu der Quelle, als erwarte sie, ihn dort zu sehen. Statt dessen nahm sie den hinter einer Tanne aufsteigenden Mond wahr. Wieder blieb sie lauschend stehen, und wieder hörte sie den kleinen Lord weinen. Er rief sogar nach ihr. Er nannte ihren Namen und bat sie zu kommen. Sie konnte es ganz
deutlich hören. »Ja, ich komme. Hab’ keine Angst, Peter. Ich lasse dich niemals allein«, erwiderte Isabell der Stimme. Sie verlor keine Minute, sondern hastete durch den dichten und inzwischen fast dunklen Wald den schmalen Weg zurück, den sie am Morgen gekommen war. Manchmal zerrte eine wilde Ranke an ihren schwarzen Reithosen, oder ein Ast streifte ihr blondes Haar. Aber das kam nur selten vor. Mit fast traumwandlerischer Sicherheit ver stand sie es, allen Hindernissen auszuweichen. Nachdem sie eine Lichtung und einen Bu chenwald passiert hatte, sah sie Schloß Grimby vor sich liegen. Um zu verhindern, daß ein Bediensteter oder gar Lord Henry sie bemerkte, beschloß Isabell, das Schloß durch einen geheimen Gang zu be treten, um von dort aus in Peters Zimmer zu gelangen. Die meisten der über vierzig Räume des Schlosses waren nicht beleuchtet. Nur in drei en brannte Licht. Plötzlich hörte Isabell das helle Wiehern ei nes Pferdes. Erst jetzt bemerkte sie, daß auch aus dem abseits gelegenen Marstall ein schwa cher Lichtschein kam. Schneewind, ging es Isabell durch den Kopf.
Sie war ganz sicher, daß es der Schimmel war, der gewiehert hatte. Das Pferd spürte ganz of fensichtlich, daß sie in seiner Nähe war. Isabell beschloß, bei der nächsten sich ihr bie tenden Gelegenheit zu sehen, ob die wilden Kräuter, mit denen sie das Pferd am Morgen verarztet hatte, ihre Wirkung getan hatten. Jetzt galt es jedoch erst einmal, zu Peter zu ge langen. Isabell lief um Schloß Grimby herum. Sie kam zu der Kapelle. Dahinter lagen die Gräber der sechsunddreißig Lords of Grimby, die wäh rend der vergangenen dreihundert Jahre auf Schloß Grimby geherrscht hatten, sowie die Gräber ihrer Frauen und Kinder. Die Grabstätten von Lord George Harry und Lady Elisabeth, den Eltern von Peter und Grace, lagen einige Meter abseits von den an deren. Im Schein des bereits abnehmenden, aber noch vollen Mondes erweckten die Grab steine den Eindruck, als seien sie in gleißendes Licht gehüllt. Isabell blieb mehrere Minuten vor dem Grab von Lady Elisabeth stehen. Sie legte ihre Hän de ineinander. Ganz still stand sie da, ohne ein Wort zu sagen, fast ohne zu atmen. Sie spürte, wie in ihr neue Kräfte wuchsen. Bevor Isabell sich umwandte, schwor sie sich selbst und der Mutter von Grace und Peter,
nicht eher zu ruhen, bis sie Lord Henry ver nichtet hatte. Aber noch, das wußte Isabell, war es nicht so weit. Sie mußte Geduld haben. Isabell ging zur Kapelle. Die Tür war, wie sie wußte, nicht verschlossen. Hinter dem runden steinernen Taufstein, in den unbekannte Men schen vor Urzeiten seltsame Zeichen ge schnitzt hatten, führte eine schmale Treppe in eine Art Verlies. Langsam stieg Isabell Stufe um Stufe die Trep pe hinunter. Als sie unten angelangt war, herrschte eine solche Dunkelheit, daß sie ihre eigene Hand nicht mehr vor Augen sehen konnte. Von draußen war das Krächzen einer Krähe zu hören. Isabell blieb einen Moment stehen. Lady Eli sabeth hatte ihr wenige Tage vor ihrem uner warteten Tod verraten, daß sich am Ende des Verlieses eine Geheimtür befand, von der aus man durch dunkle Gänge ins Schloß gelangte. Drückte man auf einen in das Gemäuer einge arbeiteten Stein, so hatte Lady Elisabeth Isa bell verraten, öffnete sich die Tür. Isabell zählte: »Eins, zwei… vier… fünf… sie ben…« Sie hielt inne. Der siebte Stein mußte es sein. Auf einmal spürte Isabell, wie etwas Weiches ihre Stirn streifte. Obwohl es nicht mehr als
ein Hauch war, zuckte sie unwillkürlich zu sammen. »Ist hier jemand?« fragte sie mit flüsternder Stimme. Niemand antwortete. Außer dem Krächzen der Krähe, die direkt vor dem Eingang zu der kleinen Kapelle sitzen mußte, war nichts zu vernehmen. Es wird eine Fledermaus gewesen sein, beruhigte Isabell sich selbst. Ihre rechte Hand lag noch immer auf dem Stein. Gleich darauf war ein häßlich quiet schendes Geräusch zu hören. Isabell spürte, wie ein kalter und modriger Windzug ihr Ge sicht traf. Die Tür war aufgegangen. Nach kurzem Zögern trat sie in einen schma len Gang. Es roch wie in einer Gruft. Wieder tastete sie sich mit den Händen an den feuch ten Wänden entlang vorwärts. Nach einer Weile sah sie einen Lichtschein vor sich. Sie blickte auf. Über ihr war ein Git ter, und direkt darüber hing der gelbe Mond. Isabell hielt ihm ihr Gesicht entgegen und ließ es bescheinen. Nach der tiefen Dunkelheit empfand sie die Helligkeit, die sie einhüllte wie ein Streicheln. Als erneut das Krächzen der Krähe ertönte, ging sie weiter. Nach zehn Minuten erreichte sie eine Tür. Sie kam zu einer Wendeltreppe, die einen Turm hinaufführte.
Nachdem Isabell sie hinaufgestiegen war, stand sie im ersten Stockwerk von Schloß Grimby. Sie lauschte einen Moment lang mit angehaltenem Atem. Aus dem großen Kaminzimmer im Erdge schoß, in dem Lord Henry sich an den Aben den aufzuhalten pflegte, kam ein dumpfes, laut polterndes Geräusch, so, als würde jemand einen Gegenstand auf den Boden oder gegen die Wand werfen. Der Hund Hektor bellte gleich darauf zweimal kurz auf. Danach war es wieder still. Isabell hatte es auf einmal sehr eilig. Sie has tete zu Peters Schlafzimmer. Vorsichtig, jeden Laut vermeidend, drückte sie die Türklinke hinunter. Sie trat ein und schloß die Tür hinter sich so geräuschlos, wie sie sie geöffnet hatte. Die Vorhänge waren zugezogen. Nur in der Mitte war ein Spalt offen geblieben. Durch den fiel das Licht des Mondes direkt auf das Bett des kleinen Lord. Isabell ging auf Zehenspitzen dorthin. Peter und Grace lagen nebeneinander im Bett. Isabell mußte daran denken, daß Lord Henry den beiden Kindern streng untersagt hatte, nachts ihre Zimmer zu verlassen. Wenn Grace sich über dieses Verbot hinweg gesetzt hatte, so konnte das nur bedeuten, daß sie in großer Angst um ihren kleinen Bruder
war. Die Kleine hatte im Schlaf ihren rechten Arm um Peters Brust geschlungen, so als wolle sie ihn festhalten und beschützen. Grace atmete in ruhigem Rhythmus und so leise, daß sie kaum zu hören waren. Peters Atem kam dagegen unregelmäßig, und auf sei ner Stirn standen kleine Schweißtropfen, die im Mondlicht wie winzige Diamanten aussa hen. Die Kinder hatten einander ihre Köpfe zuge wandt. Grace’ rechter Fuß guckte unter der Bettdecke hervor. Auf einmal schlug der kleine Lord seine Au gen auf. Er starrte auf Isabell. Aus seinem Mund kam kein Wort. Isabell legte ihm ganz leicht eine Hand auf die schweißnasse Stirn. Peter bewegte sich nicht. Er blickte nur stumm zu seiner ehemaligen Er zieherin auf. Isabell begann, zärtliche Worte zu murmeln. Nach einer Weile fielen Peter wieder die Au genlider zu. Er schlief ein. Sein Atem ging ru hig. Auf seinem zarten Gesicht erschien ein kleines Lächeln. Auch Isabell mußte lächeln. Ihre Hand lag noch immer auf seiner Stirn. Fast eine halbe Stunde lang stand sie so da. Erst als sie hörte, daß auf dem Flur Schritte
zu hören waren, zog sich Isabell in die hintere Ecke des Zimmers zurück. Die Schritte gingen jedoch an dem Schlafzim mer des kleinen Lord vorbei. Isabell wußte, daß sie nicht länger bleiben durfte. Nachdem sie die Kinder noch einmal sehr sanft auf die Stirn geküßt hatte, verließ sie das Zimmer. Auf demselben Weg, den sie gekommen war, verließ sie das Schloß wieder. Mit traumwandlerischer Sicherheit gelang es ihr, durch den nächtlichen Wald den Pfad zu dem verfallenen Anwesen zu finden. Sie wusch sich in dem kristallklaren Wasser der Quelle. Im Schein des Mondes konnte sie in dem kleinen See, der sich neben der Quelle gebildet hatte, ihr Spiegelbild sehen. Isabell richtete sich auf und blickte zum Mond hinauf. Hilf mir, dachte sie. Bitte, hilf mir. Sie wußte selbst nicht, wen sie damit meinte. Den Mond oder aber irgendein unsichtbares Wesen. * Lord Henry war kurz vor Mitternacht in sein Zimmer gegangen. Er spürte in sich eine hefti
ge Unruhe und wußte, daß er doch nicht schla fen konnte. Den karierten Schal um den Hals gebunden, riß er die Vorhänge vor den Fenstern beiseite und starrte in den Park hinaus. Seine zu Fäus ten geballten Hände hielt er auf dem Rücken verschränkt. Er mußte an die Gouvernante Isabell Bly den ken. Gegen seinen Willen. Den ganzen Tag über waren seine Gedanken immer wieder zu ihr zurückgekehrt. Er haßte sie. Lord Henry hatte schon viele Menschen in sei nem Leben gehaßt, aber noch keinen so sehr wie Isabell. Schon bei der Erinnerung an Isa bell Bly spürte er, wie die Galle in ihm hoch kam. »Diese Hexe. Jetzt will sie mich auch noch verhexen«, stieß er hervor. Seine Galle stieg höher und höher. Als er ihre Bitterkeit im Mund schmeckte, hieb er mit der Faust auf die Fensterbank. »Sie ist eine Hexe. Eine verdammte Hexe«, schrie er auf. Er atmete hörbar. Ich muß verbrennen, was ihr gehört. Nichts mehr darf von ihr da blei ben, ging es ihm durch den Kopf. Aus einem plötzlichen Entschluß heraus ging er in das Zimmer, das Isabell auf Schloß Grim by bewohnt hatte. Es lag neben dem seines Neffen.
Nachdem Lord Henry das Licht angezündet hatte, sah er sich in dem Raum um. Es war al les genauso, wie Isabell es verlassen hatte. Auf ihrem kleinen Damenschreibtisch lag ein Blatt Papier, auf dem stand: Ich habe mir vorgenommen, ein Buch über Pflanzen zu schreiben. Was könnte ich sonst an den langen einsamen Abenden auf Schloß Grimby tun, wenn Peter und Grace schlafen? Da ist zum Beispiel die Tollkirsche. Man sagt ihr viel Böses nach. Dabei ist sie so schön in ih rem schwarzen Glanz. Wie eine dunkle Perle liegt sie auf dem anmutig gezackten Strahlen kranz ihrer grünen Blätter. Außerdem ist kei ne andere Frucht besser geeignet, böse Geister zu vertreiben als die Tollkirsche. Hier brach der gerade begonnene Bericht plötzlich ab. Der Füllfederhalter, mit dem die Sätze geschrieben waren, lag neben einer klei nen, runden schwarzen Kirsche, die jedoch schon etwas eingetrocknet war. Lord Henry griff nach der Frucht. Er drehte sie von einer Seite auf die andere. Sie sah so harmlos aus. Der Lord roch daran. Er fragte sich, ob es sich vielleicht bei dieser Frucht um die Tollkirsche handele. Wenn es so war und sie tatsächlich böse Geister vertrieb, überlegte er weiter, dann würde sie vielleicht auch ihm helfen.
Denn was, fragte er sich ingrimmig, war Isa bell anderes als ein böser Geist? Lord Henry biß in die Kirsche. Sie schmeckte eigentlich nach nichts. Nur ein bißchen säuer lich. »Hexe«, zischte der Lord durch seine gelben Zähne und steckte den Rest der Tollkirsche in seine Jackentasche. Sein Blick irrte wieder durch das Zimmer. Als er Isabells langes spitzenbesetztes Nachthemd am Kopfende ihres Bettes liegen sah, nahm er es und warf es auf den Fußboden. Danach riß er die Tür des Kleiderschrankes auf. Voller Haß starrte er auf Isabells Kleider, Röcke und Blusen. Am liebsten hätte er sofort alles ver nichtet, verbrannt, um Isabell endgültig aus seinem Leben auszulöschen. Gar nichts sollte ihn mehr an sie erinnern können. Lord Henry ging zur Tür. Von dort sah er sich noch einmal um. Dann verließ er den Raum. Da er wußte, daß er doch noch keinen Schlaf finden würde, beschloß er, einen Gang durch den Park zu machen. Er hoffte, daß die frische Luft ihn beruhigen würde. Die Fäuste in die Taschen seiner abgewetzten Jacke gesteckt, den kantigen Kopf gesenkt wie ein wütender Stier, den stämmigen Oberkör per vorgeneigt, ging Lord Henry schweren Schrittes und ohne aufzusehen durch den
Schloßpark. Als er zur Kapelle kam, blieb er plötzlich ste hen. Er mußte daran denken, daß er die Kapel le erst ein einziges Mal betreten hatte. Es war am Tag der Beerdigung von Lady Elisabeth und Lord George Harry gewesen. Der Geistliche der nahegelegenen Ortschaft, der Schloß Grimby danach auf sein Geheiß hin nie wieder hatte betreten dürfen, hatte die Trauerrede gehalten. Lord Henry stieß jetzt so heftig die Tür auf, daß sie gegen die Wand schlug. Danach zog der Lord eine Streichholzschachtel aus seiner Ja ckentasche und entzündete erst ein Holz und danach ein zweites. Mit einem dritten Hölz chen ließ er die große Kerze aufflammen, die er in einer der tiefen Fensternischen entdeckt hatte. Durch den leichten Nachtwind, der zur Tür hereinzog, begann die Kerze zu flackern. Sie warf unruhige Schatten auf die vom Alter dunklen Steinwände, an denen noch die verbli chenen Reste einer früheren Bemalung zu er kennen waren. Auf einmal blieb Lord Henry fast das Herz stehen. »Was willst du?« stieß er hervor. Unfähig sich zu bewegen, fast ohnmächtig, starrte er auf die vorderste Bank in der Kapel le.
»Was willst du von mir?« fragte er noch ein mal. Seine Lippen bebten vor Angst. Er bekam keine Antwort. »Wie bist du hier reingekommen?« schrie er gepeinigt auf. In dem heiseren Klang seiner Stimme schwang Todesangst mit. Er erhielt keine Antwort. Noch immer starrte der Lord auf die junge Frau, die dort in der ersten Kirchenbank saß. Sie hielt ihren schönen Kopf leicht zur Seite geneigt, so als sei sie tief in Gedanken versun ken. Ihr dunkelblondes Haar fiel wie ein seidig schimmernder Vorhang hinunter, so daß er ihr Gesicht verdeckte. Die Frau trug einen eleganten schwarzen Pull over, der ihren schlanken Körper wie eine zweite Haut umschloß. »Du Hexe«, stieß Lord Henry auf einmal wie außer sich hervor. »Ich habe keine Angst vor dir. Ich fürchte mich nicht.« Er wußte, daß die Gestalt dort vorne in der Bank nur Isabell Bly sein konnte. Lord Henry umklammerte so fest wie möglich den Leuchter mit der flackernden Kerze und ging ein paar Schritte auf sie zu. Er wollte sie vernichten. Für immer, so daß sie nie wieder in sein Leben treten konnte. Je näher Lord Henry ihr kam, desto stärker verspürte er eine Kälte, die von ihr auszuge
hen schien. Sie wurde schließlich so eisig, daß er das beklemmende Gefühl hatte, es würde sich ein Ring aus Eiskristallen um sein bis zum Hals klopfendes Herz schließen. Der Lord blieb mitten im Gang stehen. Er wagte keinen Schritt mehr weiterzugehen. Er hob den Leuchter ein wenig an. Sein Arm zit terte. Um seine vollen Lippen zuckte es. Er spürte in seinen Knien eine zitternde Schwä che. Schließlich kam aus seinem Mund ein rö chelnder Laut. »Was willst du von mir?« fragte der Lord noch einmal, aber so leise, daß er kaum zu hö ren war. Dennoch wandte die Frau ihm jetzt ihr klares Gesicht zu. Es war tatsächlich Isabell, die dort vorne in der Bank saß. Sie lächelte ihm zu. Es lag ein leichter Spott und so etwas wie Hohn in diesem Lächeln. Lord Henry wollte sich wieder auf sie stürzen. Er vermochte jedoch noch immer keinen Schritt zu tun. Wie gebannt starrte er auf Isa bell Bly. Der Leuchter fiel ihm aus der Hand. Die Kerze erlosch. In diesem Moment spürte Lord Henry, wie et was sein zerfurchtes Gesicht streifte. Er schrie mit gellender Stimme auf. Gleichzeitig griff er mit der Hand an die Stelle, die das unbekannte Wesen berührt hatte.
Sekunden später stürzte Lord Henry, als wür de er von Furien getrieben, aus der Kapelle. Er lief, wie er seit Jahrzehnten nicht mehr gelau fen war, und hielt erst inne, als er keine Luft mehr bekam. Unter der mächtigen Rotbuche, unter der er Isabell am Morgen gesagt hatte, daß sie Schloß Grimby nie wieder betreten dürfe, hielt er er schöpft inne. Indem er sich am meterdicken Stamm des Baumes abstützte, rang er schwer röchelnd nach Atem. Mit seiner freien Hand wischte er hastig den kalten Schweiß weg, der sich auf seiner Stirn gebildet hatte. Der Lord brauchte lange, bis er sich etwas be ruhigte. Er wußte jetzt, daß Isabell Bly ihn bis ans Ende seiner Tage verfolgen würde. Tag für Tag und Nacht für Nacht würde sie ihm auf den Fersen sein. Und was noch schlimmer war – Lord Henry ahnte, daß er Isabell nicht würde entkommen können. Den Lord ergriff eine ohnmächtige und zu gleich hilflose Wut. Er schrie abermals gellend auf. Sein Schrei hallte durch die Nacht. Die Antwort war das höhnisch klingende Krächzen einer Krähe, die in der Baumkrone direkt über ihm saß. Dr. Philipp Ashley hatte am Samstagmorgen
drei Patienten besucht. Da der Arzt keine Haushälterin hatte, pflegte er seine Mahlzeiten meistens in einer Gaststätte der kleinen Ort schaft einzunehmen, die ihren Namen Grimby von dem Schloß hatte. Außer Philipp befanden sich an diesem Mittag noch drei andere Gäste in der Gaststätte, die jedoch nichts aßen, sondern nur gekommen waren, um ein Bier und einen Schnaps zu trin ken. Sie unterhielten sich über die ehemalige Gou vernante Isabell Bly. »Lord Henry hat sie ent lassen. Ich weiß es von Ruth, der Köchin«, er klärte einer der Männer. »Lord Henry hätte sie viel früher wegschicken sollen. Bevor sie noch den kleinen Lord Peter verhexen konnte«, meinte der zweite. »Was redet ihr da. Man hätte sie nicht gehen lassen dürfen. Denn jetzt treibt diese Hexe wo anders ihr Unwesen. Doktor, was sagen Sie dazu? Sie müssen es doch wissen. Sie waren doch gestern erst wieder auf Schloß Grimby. Andrew hat es uns vorhin erzählt«, ließ sich der dritte Mahn vernehmen. Dr. Philipp Ashley hatte sich bisher nicht an dem Gespräch beteiligt, sondern begonnen, das Steak zu essen, das ihm der Wirt serviert hatte. Jetzt legte er jedoch Messer und Gabel beisei
te, wischte sich mit der karierten Stoffserviette den Mund ab und antwortete: »Es ist wirklich eine Schande, wie ihr daherredet. Eine Hexe! Als hätte es jemals Hexen gegeben. Es stimmt, man hat mich nach Schloß Grimby geholt. Aber nicht, weil der kleine Lord verhext wor den war, sondern weil er krank war.« »Doktor, Sie sind ein Mann der Wissenschaft. Es steht Ihnen zu, so etwas zu sagen. Aber wir sehen die Sache anders«, erwiderte einer der Männer. »Genau. Wenn diese Hexe hier noch einmal auftauchen sollte, dann werden wir ihr zeigen, was wir mit Hexen machen«, drohte sein Kum pan. »Noch einmal wird sie hier nicht ihr Unwesen treiben«, rief der dritte. Dr. Philipp Ashley erkannte auf den Gesich tern der Männer eine wilde Entschlossenheit. Er wußte auf einmal, daß sie fähig waren, ihre Drohungen auszuführen. Zum ersten Mal war er froh, daß Isabell nicht mehr auf Schloß Grimby weilte. »Doktor, nehmen Sie noch ein Bier?« erkun digte sich der Wirt. »Nein«, stieß Philipp Ashley hervor. Er legte eine Banknote auf den Tisch und erhob sich von seinem Stuhl. »Wollen Sie schon gehen, Doktor? Sie haben
ja noch gar nicht zu Ende gegessen«, meinte der Wirt. »Vielen Dank. Aber mir ist der Appetit ver gangen«, erwiderte Philipp Ashley und verließ die Gaststube. Er setzte sich in seinen Wagen. Als der Motor lief, entschloß er sich, gleich auf Schloß Grim by vorbeizufahren, um sich nach dem Befin den des kleinen Lord zu erkundigen. Außer dem lag es ihm am Herzen herauszufinden, was Peter immer wieder in so panische Ängste versetzte, daß es ihm sogar die Luft zum At men nahm. Zehn Minuten später erreichte der Arzt das Schloß. Er stellte seinen Wagen neben dem Marstall ab. Im selben Moment kam Andrew mit dem Schimmel Schneewind am Zügel auf den Vor hof. »Tag, Doktor. Schön, daß Sie sich auch mal wieder hier bei uns sehen lassen«, grüßte der Pferdepfleger. »Ich wollte mich nach dem kleinen Lord er kundigen. Sind die Kinder im Schloß?« fragte der Arzt. »Nein, ich habe den Jungen und seine Schwester vorhin am Fluß spielen sehen«, war die Antwort. »Gut, dann werde ich da hingehen. Aber sa
gen Sie, Andrew, der Schimmel hinkt ja gar nicht mehr«, wunderte sich der Arzt. »Die Person, die ihn verhext hatte, ist ja nicht mehr da.« Dr. Ashley unterließ es, darauf etwas zu ent gegnen. Die Leute waren nun einmal nicht ei nes Besseren zu belehren. Auf irgendeine ver trackte Weise waren sie im dunklen Mittelalter stehengeblieben. Zumindest konnten sie Isabell Bly nicht mehr mit ihren üblen Reden und unglaublichen Ver dächtigungen schaden, beruhigte sich der Arzt. Während der Pferdepfleger den Schimmel auf die Weide führte, ging Dr. Philipp Ashley zum kleinen Fluß hinunter, der den Schloßpark zur Südseite hin abgrenzte. Die Wiesen und der Wald auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses gehörten schon der Gemeinde Grimby. Der Doktor ging unter alten Bäumen entlang. Früher, als die Eltern der Kinder noch am Le ben gewesen waren, hatten sich ein Gärtner und seine zwei Gehilfen um den Schloßpark gekümmert. Nach dem Tod von Lady Elisabeth und Lord George Harry hatte Lord Henry jedoch erklärt, daß man keinen Gärtner mehr brauche. Seit dem waren die kunstvoll angelegten Hecken und Bäume nicht mehr geschnitten worden. In
den einst so anmutigen Blumenbeeten wucher te das Unkraut. Der früher so gepflegte Rasen war dabei zu verkommen. Als der Doktor hinter einer fast baumhohen Rhododendrongruppe hervorkam, bemerkte er die beiden Kinder am Ufer des Flusses. Er beobachtete, daß Grace auf und nieder hüpfte wie ein kleiner lustiger Spielball. Im ersten Moment konnte er sich gar nicht erklä ren, was das bedeutete. Erst als er näher herangekommen war, merk te er, daß Grace und ihr kleiner Bruder das Kinderspiel »Himmel und Hölle« spielten. Sie hatten Quadrate auf den Parkweg gezeich net. Im obersten Quadrat war der Himmel, im untersten befand sich die Hölle. Es galt, ein Steinchen mit der Schuhspitze und, indem man auf einem Bein hüpfte, so geschickt und rasch wie möglich in den Himmel zu stoßen. Der kleine Lord stand neben der Sandzeich nung und sah seiner Schwester zu. Grace war so sehr in das Spiel vertieft, daß sie den Arzt gar nicht bemerkte. Peter, der mit einem kleinen Stein in der Hand dastand, hatte den Arzt jedoch kommen sehen. Er sagte nichts, sondern lächelte dem Doktor auf seine scheue Weise zu. Dr. Ashley gab das Lächeln zurück. Danach beobachtete er, wie Grace anmutig auf einem
Bein von Quadrat zu Quadrat hüpfte, um ihren Stein in den Himmel zu bringen. Jedesmal, wenn es ihr gelungen war, den Stein mit der Spitze ihrer schwarzglänzenden Lackschuhe ein gutes Stück voranzubringen, jauchzte sie laut vor Freude auf. Welch reizendes Geschöpf, mußte der Arzt wieder denken. Als Grace im Himmel gelandet war, drehte sie sich mit Schwung um. In diesem Moment entdeckte sie den Arzt. »Dr. Ashley. Ich wußte gar nicht, daß Sie da sind«, erklärte sie mit strahlendem Gesicht. »Das macht nichts. Du bist also im Himmel angekommen«, meinte Philipp Ashley. »Es war gar nicht schwer. Möchten Sie es nicht auch einmal probieren?« fragte Grace. »Oh, ich weiß nicht, ob ich das noch kann«, gestand der Arzt. »Ganz bestimmt können Sie das«, versicherte Grace und gab ihm ihren glatten Kieselstein. »Bestimmt«, bestätigte auch ihr Bruder mit ernsthafter Miene. »Na gut. Dann will ich mal versuchen, ob es mir gelingt, in den Himmel zu kommen«, erwi derte der Arzt und legte den Stein auf das Feld mit der Inschrift Hölle. Es fiel ihm schwer, sich auf einem Bein zu hal ten, aber er schaffte es dann doch, den Stein
mit der Schuhspitze bis zu dem vierten Qua drat zu stoßen, in das mit kindlichen Buchsta ben Himmel in den Sand geschrieben war. Grace klatschte in die Hände. Auf einmal hielt sie inne. Sie starrte auf die gegenüberliegende Seite des Flusses. Ihr Bruder und der Arzt folg ten ihrem Blick. »Isabell. Isabell ist wieder da«, stieß Peter hervor. Gleich darauf lief er so nahe an das Ufer des Flusses, daß das eilig dahinströmende Wasser seine Schuhe benäßte. »Paß auf, Peter«, warnte Isabell von der ande ren Seite aus. Peter streckte ihr mit sehnsuchtsvoller Gebär de seine beiden Arme entgegen. »Isabell, komm«, bat er. »Ich kann nicht, Peter«, antwortete sie. Grace und Dr. Philipp Ashley waren ebenfalls zum Ufer des Flusses gegangen. »Wir ziehen unsere Strümpfe und Schuhe aus, und dann kommen wir zu dir«, schlug Grace lebhaft vor. »Nein, Grace, das Wasser ist viel zu tief«, warnte Isabell. Der kleine Lord ließ seine Arme sinken. Dr. Philipp Ashley sah die tiefe Traurigkeit auf sei nem Gesicht und legte seinen rechten Arm um Peters Schulter. Wie schön sie ist, dachte er. Damit meinte er
Isabell. Und wieder spürte er in seinem Her zen ein seltsam ziehendes Gefühl, eine Sehn sucht, wie er sie noch nie vorher empfunden hatte. Es erging Philipp Ashley nicht anders als Grace und Peter. Auch er wünschte sich nichts mehr, als über den Fluß zu Isabell zu gelangen. »Dr. Ashley«, sagte Isabell und richtete den Blick ihrer Augen auf den Arzt, »passen Sie auf Grace und Peter auf.« »Ja, das werde ich tun«, versprach der Arzt. Isabell neigte ihren Kopf ein wenig zur Seite. »Ich muß jetzt wieder gehen«, erklärte sie. »Nein, Isabell, bleib bei uns«, flehte der kleine Lord. »Ich darf nicht, Peter. Aber ich werde immer in eurer Nähe sein«, versprach Isabell. Philipp Ashley mußte bei diesen Worten an die Drohung der Männer in der Gaststätte den ken. Er wußte, daß die drei nur ausgesprochen hatten, was die anderen Leute im Dorf und auf dem Schloß empfanden. Allen voran Lord Henry of Grimby. Dem Arzt wurde bewußt, in welcher Gefahr sich Isabell befand. Obwohl er sich nichts mehr wünschte, als sie bei sich zu haben, rief er: »Isabell, Sie dürfen hier nicht bleiben.« Er war dabei so aufgeregt, daß er gar nicht merkte, daß er sie mit ihrem Vornamen an
sprach. Isabell sah ihn ganz ruhig an. Sie sagte kein Wort, aber der Arzt wußte, daß sie nicht auf seine Warnung achten würde. »Passen Sie auf sich auf, Isabell«, bat er des halb noch einmal sehr eindringlich. In diesem Moment glitt ein sehr feines Lä cheln über Isabells Gesicht. »Ja, Doktor, das werde ich«, versprach sie. Sie blieb noch einen Moment ganz ruhig ste hen. Mit einem Blick voller Liebe umfing sie ihre beiden Schützlinge. »Auf Wiedersehen, lieber Peter und liebe Grace«, hauchte sie und winkte ihnen zu. Dann lief sie leichtfüßig über die Wiese auf den angrenzenden Wald zu. * Grace blickte zu dem Arzt auf. »Wo wohnt Isa bell denn, Dr. Ashley?« fragte sie besorgt. »Wenn ich das wüßte, mein liebes Kind, wür de es mir sehr viel besser gehen«, gestand der Doktor. Auf Peters Gesicht haftete noch immer ein zartes Lächeln. Er wußte, daß Isabell wieder kommen würde, so wie sie auch in der letzten Nacht zu ihm gekommen war. Er hatte nie
mandem davon erzählt. Nicht einmal seiner Schwester Grace, vor der er noch nie in seinem Leben ein Geheimnis gehabt hatte. Philipp Ashley nahm Peters Hand. »Deine Schuhe sind ganz naß. Kommt, Kinder, wir ge hen ins Schloß zurück. Peter muß trockene Schuhe anziehen. Sonst erkältet er sich noch.« Sie machten sich auf den Weg zum Schloß. Während der kleine Lord artig neben dem Arzt her ging, hüpfte Grace fröhlich wie eine lustige Elfe auf und nieder. Als sie an der Küche vorbeikamen, hörten sie, wie die Köchin Ruth sagte: »Ich weiß, daß es so ist, Andrew. Und du wirst mich auch nicht von dem Gegenteil überzeugen. Es war schon im mer so – bei Vollmond führt ein guter Engel zwei Menschen zusammen, und ein böser En gel trennt zwei andere durch den Tod.« »Aber gestern hatten wir Vollmond. Und es hat niemand den Tod gefunden, und es haben sich auch nicht zwei getroffen«, meinte der Pferdepfleger Andrew. »Wer weiß, was hinter den Mauern von Schloß Grimby passiert ist. Aber nun iß end lich weiter«, wies die Köchin ihn an. Der Doktor und die Kinder waren während dieses Gesprächs ganz unwillkürlich für einen Moment stehengeblieben. Als der Arzt den fra genden Blick der beiden Kinder auf seinem Ge
sicht spürte, zuckte er mit den Achseln. »Hört nicht darauf, was die Leute so behaupten.« »Aber es stimmt, was Ruth gesagt hat«, ent fuhr es dem kleinen Lord. Dr. Ashley betrachtete ihn erstaunt. »Wie meinst du das, Peter?« wollte er wissen. Peter spürte, wie heiße Röte in sein Gesicht stieg. Er hatte sich gegen seinen Willen verra ten. Aber jetzt war es zu spät. Da Peter unfähig zur Lüge war, antwortete er: »Weil… weil doch Isabell in der letzten Nacht bei mir war. Isabell und ich, wir haben uns getroffen, es war Voll mond. Ein guter Engel hat Isabell zu mir in mein Zimmer geführt«, berichtete der kleine Lord mit stockender Stimme. »Das hast du bestimmt nur wieder geträumt, Peter. Ich habe doch heute nacht in deinem Bett geschlafen. Wenn Isabell da gewesen wäre, hätte ich sie doch auch sehen müssen«, erklärte Grace. Ihr kleiner Bruder senkte den Kopf. Er wußte ja selbst nicht, wie Isabell zu ihm gekommen war. Er wußte nur, daß sie direkt neben sei nem Bett gestanden und ihm zugelächelt hatte und daß er auf einmal ganz ruhig geworden war. Philipp seufzte insgeheim auf. »Kommt«, for derte er Grace und Peter noch einmal auf. Nachdem Peter trockene Schuhe und Strümpfe
angezogen hatte, ging der Arzt mit den Kin dern ins Spielzimmer. Dort standen neben einem Kaufmannsladen ein alter Teddy, eine wunderschöne Puppe, die Grace noch von ihren Eltern geschenkt bekom men hatte, und viele andere Dinge, die zum Le ben der Kinder gehörten. Nachdem Dr. Ashley die Tür geschlossen hat te, nahm er auf einem Stuhl Platz, der neben einem Fenster stand. »Setzt euch auf meine Knie«, forderte er die beiden Kinder auf. Dann hob er Peter auf sein rechtes Knie. Grace lehn te sich vorsichtig gegen sein linkes Knie. »Peter, ich bin euer Freund, das wißt ihr doch, nicht wahr?« begann der Arzt das Ge spräch. Die Geschwister nickten. »Peter, ich möchte dir so gerne helfen, damit du nicht wieder eine so schlimme Atemnot be kommst. Aber dazu muß ich wissen, was es ist, das dir die Luft zum Atmen raubt«, erklärte Dr. Ashley. »Es ist der Vogel, Dr. Ashley«, erwiderte Pe ter. »Was für ein Vogel, Peter? Wie sieht er aus?« fragte der Arzt mit leiser und einfühlsamer Stimme. »Zuerst ist er noch klein. Aber dann wird er groß und größer. Beim letzten Mal war er so
riesig, daß er fast den ganzen Mond verdeckt hat. Riesig und schwarz, das war er. Und er hat ganz furchtbar gekrächzt«, berichtete der Jun ge und zog die schmalen Schultern zusammen, so als wolle er sich noch kleiner machen, als er war. Dr. Ashley legte einen Arm um ihn. »Wie se hen die Flügel des Vogels aus, Peter?« erkun digte er sich. »Sie sind gezackt. Aber einmal, ganz am An fang, als sich der Vogel zum allerersten Mal auf meine Brust gesetzt hat, da waren sie rund«, brachte Peter mit Schaudern hervor. »Und der Vogel krächzt also auch?« fuhr Dr. Ashley fort. »Nicht immer. Einmal hat er etwas gesagt. Ich weiß nicht mehr, was.« Peters Stimme war jetzt nur noch ein Hauch. »Peter, du mußt dem Doktor erzählen, daß sich der Vogel in deinem Traum immer auf deiner Brust festkrallt«, fiel Grace ein. »Es ist aber kein Traum, Grace«, wies Peter seine Schwester mit ernstem und blassem Ge sicht zurecht. »Nein, für dich ist es Wahrheit, Peter«, stimmte der Arzt ihm zu. »Der Vogel hat also Krallen.« Peter nickte. »Ja, und sie sind wie spitze klei ne Messer. Ich will schreien, weil ich Angst
habe. Zuerst kann ich es nicht. Aber dann muß ich doch schreien. Ganz laut. Und dann fliegt der Vogel weg«, stieß der kleine Lord hervor. Er sprang auf einmal von dem Knie des Arz tes, nahm ein dunkles Wolltuch, mit dem Grace eine ihrer Puppen zugedeckt hatte, aus dem Puppenwagen und ließ es durch die Luft schweben, so daß es sich bauschte. In diesem Augenblick wurde die Tür aufgeris sen. Lord Henry stand im Türrahmen. »Was soll dieses Theater?« rief er. Grace hatte sofort wieder das Gefühl, ihren kleinen Bruder vor ihrem Onkel beschützen zu müssen. »Wir führen Dr. Ashley vor, wie der schwarze Vogel aussieht, der sich manchmal in der Nacht auf Peters Brust setzt.« Lord Henrys Kopf fuhr mit ruckartiger Bewe gung herum. Sein Blick hakte sich auf dem Ge sicht des Arztes fest. »Doktor, es ist schlimm genug, daß die Kinder diesen Unfug treiben. Aber daß Sie diesen Unfug mitmachen, ist un verzeihlich.« Philipp Ashley hatte sich von dem Stuhl erho ben. »Mylord, ich kann Ihrem Neffen Peter auf Dauer nur helfen, wenn ich die Ursachen sei ner Ängste erfahre«, erklärte er. Lord Henry hatte seine rechte Hand wieder zur Faust geballt und ließ sie mit zorniger Be wegung durch die Luft sausen. »Ich habe Ih
nen schon einmal gesagt, daß ich von diesen Spinnereien um die Seele nichts halte. Da Sie anscheinend nicht fähig sind, eine vernünftige re Diagnose zu stellen, werde ich mich nach ei nem anderen Arzt umsehen.« »Onkel Henry, bitte, schick Dr. Ashley nicht fort. Er ist unser Freund«, rief Grace. Lord Henry tat, als habe er ihre Bitte nicht ge hört. »Dr. Ashley, ich verbiete Ihnen aufs schärfste, Schloß Grimby jemals wieder zu be treten«, donnerte er. Es fiel Philipp Ashley sehr schwer, nach au ßen hin gelassen zu bleiben. »Mylord, es gibt hier weit und breit keinen anderen Mediziner als mich. Was werden Sie tun, wenn Peter wie der einen Anfall von Atemnot bekommt?« er kundigte er sich. »Ich werde den Jungen selbst zu kurieren wis sen«, entschied der Lord. »Und jetzt gehen Sie. Ich will Sie hier nie wieder sehen.« Philipp Ashley wollte noch einmal widerspre chen. Aber als er die verstörten Gesichter der Kinder sah, ließ er es sein. Peter und Grace sollten nicht Zeugen einer Auseinanderset zung werden, die doch zu nichts führen konn te. »Auf Wiedersehen, Kinder«, sagte er und strich Peter und Grace über das weizenhelle Haar. Danach verließ er, ohne Lord Henry zu
beachten, das Spielzimmer. * Es war Abend und bereits dunkel. Lord Henry hatte sich nach dem Essen in den Salon zu rückgezogen, in dem der große Kamin stand. Da es am späten Nachmittag plötzlich kalt ge worden war, hatte der Lord von dem Reit knecht Andrew im Kamin ein Feuer anzünden lassen. Die Buchenscheite glühten. Von Zeit zu Zeit fiel eines krachend und knisternd in sich zusammen. Der Lord spürte trotz der Wärme, die den Sa lon erfüllte, eine sehr unangenehme Kälte, die langsam seinen Rücken herauf kroch. Er beug te seinen Oberkörper noch tiefer vor als sonst, so daß er wie ein dunkler und in sich zusam mengekauerter Unglücksvogel in seinem Ses sel saß. Lord Henry war den ganzen Tag über von ei ner starken Unruhe erfüllt gewesen. Die hatte sich nach Anbruch der Dunkelheit noch ver stärkt. Mit lauerndem Blick sah er jetzt um sich, so, als befürchte er, daß sich ihm auf ein mal jemand, der sich bisher verborgen gehal ten hatte, nähern könnte.
Es war nicht allein die Kälte, die den Lord so niederdrückte, sondern Angst. Eine Angst, ge gen die er sich nicht wehren konnte. Der Lord fühlte sich verfolgt, und er wußte auch, von wem. Von Isabell Bly. Er meinte so gar in diesem Salon ihre unmittelbare Nähe zu spüren. Schließlich stand er auf. Er ergriff einen Schürhaken und hieb damit auf einen Vor hang, so, als glaube er, daß sich Isabell dahin ter versteckt halten könnte. Auf einmal erstarrte Lord Henry. Eine Frau mit fratzenhaft verzerrten Gesichtszügen stand vor dem Fenster und sah zu ihm herein. Der Lord hatte dieses Gesicht noch niemals in seinem Leben gesehen. Ein Zittern lief durch seinen schweren Körper. Seine Angst machte ihn nur noch wütender. Er stürzte zu dem Fenster, hinter dem die Frau stand, und riß es auf. Kurz darauf atmete er erleichtert auf. Die Frau war niemand anders als die Köchin Ruth. Das seit langer Zeit nicht mehr geputzte Fenster hatte ihr Gesicht ver zerrt erscheinen lassen. Dennoch wirkte die Köchin verändert. »Was ist los? Ist etwas passiert? Sie sind weiß wie ein Laken«, herrschte der Lord die Köchin an. »Mylord, oh, Mylord«, war das einzige, was Ruth hervorbrachte.
Lord Henry ließ den eisernen Schürhaken auf den steinernen Fußboden fallen. Er streckte mit herrischer Geste den rechten Arm aus. »Was wollen Sie hier? Gehen Sie«, rief er auf gebracht. Statt dieser Aufforderung nachzukommen, er griff Ruth seinen Arm. »Mylord, ich muß es Ih nen sagen. Sie müssen es erfahren.« »Was muß ich erfahren?« »Sie waren bei mir. Oh, Mylord, ich habe sie vor mir gesehen. Alle drei«, fuhr die Köchin Ruth fort, ohne den Arm des Lords loszulas sen. Lord Henry biß seine Zähne aufeinander. »Also kommen Sie schon rein«, forderte er die Köchin schließlich auf. »Sofort, Mylord«, rief Ruth und verschwand in der Dunkelheit. Nur zwei Minuten später trat sie zu Lord Henry in den Salon. Ihr Gesicht wirkte noch immer sehr verstört. »Mylord, was ich gesehen habe – es war schrecklich«, brachte sie hervor. »Was haben Sie denn gesehen, Ruth? Spre chen Sie endlich. Was sollen die dummen An deutungen?« donnerte der Lord. »Sie war da. Die Hexe«, brachte Ruth hervor. »Sprechen Sie von Miß Bly? Von Isabell Bly?« fragte der Lord. Sein Gesicht wurde auf einmal fahl.
Ruth nickte dreimal mit dem Kopf. »Ja. Sie ist zu mir gekommen. Sie stand bei mir. In mei ner Küche. Hinter dem Herd. Das Feuer fla ckerte. Ihr Gesicht war ganz rot, als sei es in Höllenflammen getaucht. Aber was das aller schlimmste ist – sie war nicht allein«, fuhr Ruth fort. »Wer war bei ihr?« forderte der Lord zu wis sen. »Ich weiß es nicht. Es waren zwei Personen. Ein Mann und eine Frau«, brachte Ruth mit Schaudern hervor. »Sie konnten diese beiden Personen nicht er kennen?« Ruth schüttelte ihren Kopf. Lord Henry band seinen karierten Schal fes ter um seinen Hals. Mit vorgeneigtem kanti gem Schädel, den lauernden Blick auf die Kö chin gerichtet, die Stimme gefährlich gesenkt, erkundigte er sich: »Haben Sie die ehemalige Gouvernante Bly schon des öfteren gesehen? Oder war es das erste Mal, seit ich sie von Schloß Grimby vertrieben habe?« »Nein, Mylord, es war nicht das erste Mal. Heute nachmittag sah ich Isabell Bly im Wald. Sie schwebte zwischen den Bäumen. Eine Hexe. Mylord, sie ist noch hier. Ganz in unse rer Nähe. Sie ist der böse Geist von Grimby und wird uns noch alle verhexen, so wie sie
schon Ihren Neffen verhext hat. Sie wird ihn töten. Sie wird uns alle töten. Mylord, Sie müs sen etwas gegen diese Hexe unternehmen«, stammelte die Köchin. Lord Henry schluckte. »Diese beiden anderen Personen, stammten sie aus dieser Gegend?« »Ich weiß es nicht, Mylord.« »Sie haben sie also noch nie vorher gesehen?« Die Köchin sah sich mit angstgeweiteten Au gen in dem Salon um, so, als erwarte sie, die beiden Menschen, die in ihrer Küche aufge taucht waren, hier zu entdecken. »Haben diese beiden Leute auch zu Ihnen ge sprochen?« wollte Lord Henry wissen. »Nein.« Ruth blickte Lord Henry verwundert an. Wußte er denn nicht, daß Geister nicht sprechen können? »Nein, gesagt haben sie nichts«, erklärte sie. »Also handelt es sich nicht um jemanden aus dem Schloß. Haben Sie einen Dorfbewohner erkannt? Denken Sie, nach. Strengen Sie Ihren Kopf ein bißchen an«, stieß Lord Henry voller Ingrimm hervor. »Ich habe wirklich niemanden erkannt, Myl ord«, erklärte die Köchin. Ihr sonst so rosiges Gesicht war trotz der Wärme, die im Salon herrschte, noch immer sehr blaß. Der Lord faßte sie noch schärfer ins Auge. »Hatten Sie Angst vor den beiden Leuten?«
Ruth überlegte einen Augenblick und schüt telte dann den Kopf. »Vor ihnen nicht. Nur vor der Hexe«, erwiderte sie. Lord Henry trat zwei Schritte näher an sie heran und stellte sich drohend vor ihr auf. Der Köchin traten vor lauter Angst fast die Augen aus den Höhlen. Mit offenem Mund starrte sie auf den Lord. »Ich will wissen, wer die beiden Leute waren«, donnerte der Lord sie an. Ruth schluckte. Sie grub ihre Zähne an die zit ternde untere Lippe. Ganz langsam entstand vor ihrem inneren Auge ein Bild. »Es waren eine Frau und ein Mann«, brachte sie hervor. »Was für ein Mann? Was für eine Frau?« kam es sofort zurück. »Der Mann… er war sehr groß und stand auf recht da. Die Frau war schön und stolz. Ein Gentleman und eine Lady. Ja, das waren sie.« Die Köchin erschauerte. Sie griff sich in die Haare, und dann schrie sie mit gellender Stim me auf. »Es waren Lady Elisabeth und Lord George Harry, die Eltern von Peter und Grace.« Gleich darauf begann sie ganz hyste risch zu schluchzen. Lord Henry verschlug es für einen Moment die Sprache. Seine Hände ballten sich zu Fäus ten. »Der Lord und die Lady sind tot«, rief er. Die Köchin zwang sich mit aller Macht zur
Ruhe. Sie wischte sich mit beiden Händen die Tränen vom Gesicht. »Ich weiß. Aber sie waren es, Mylord«, stammelte sie. »Hören Sie, soeben mußten Sie noch überle gen, wer die Leute waren. Sie führen mich an der Nase herum«, stieß Lord Henry außer sich hervor. Die Köchin starrte wie gebannt auf das grim mige Gesicht des Lords. »Ich gehe jetzt«, flüs terte sie. »Ja, gehen Sie. Verlassen Sie Schloß Grimby. Und kommen Sie nie wieder«, donnerte der Lord. »Aber…« »Sie haben gehört, was ich gesagt habe. Gehen Sie. Noch heute nacht. Ich will Sie morgen nicht mehr hier sehen«, wies der Lord sie wü tend an. Die Köchin ließ ihre Schultern sinken. Lang sam, mit gesenktem Kopf, verließ sie den Sa lon. Als die Tür hinter ihr zugefallen war, lief Lord Henry zu dem noch immer weit geöffneten Fenster. Er riß seinen karierten und breiten Schal von seinem Hals. Röchelnd rang er nach Atem. Die Hexe. Isabell Bly. Wo war sie? Was mußte er tun, um sie zu vernichten? Er begann, mit großen und plumpen Schritten
im Kaminzimmer auf und ab zu gehen. Stun den vergingen. Als der Morgen graute, ließ er sich mit einem dumpfen Laut in einen der breiten Sessel sinken und schlief ein. Von Alp träumen geweckt, stand er schon eine Stunde später wieder auf. Er machte sich auf die Suche nach einem Be diensteten. Schloß Grimby war jedoch wie aus gestorben. Ruth hatte das Schloß nicht allein verlassen. Will, der alte Gärtner, das bejahrte Dienst mädchen Laura und der Pferdepfleger Andrew waren mit ihr gegangen. Nachdem sie von Ruth erfahren hatten, was in ihrer Küche und später zwischen ihr und Lord Henry geschehen war, hatte keiner der Be diensteten mehr auf Schloß Grimby bleiben wollen. Lord Henry, Peter und Grace waren jetzt die einzigen Bewohner des mächtigen Schlosses. * Am nächsten Tag, es war Sonntag, nahm Dr. Philipp Ashley die Mittagsmahlzeit wieder in der Gaststätte in der Ortschaft Grimby ein. Bei der Gelegenheit erfuhr er, was sich wäh
rend der Nacht auf dem Schloß abgespielt hat te. Die Köchin Ruth hatte ihren Bericht über ihre Erscheinung in der Küche und ihr Gespräch mit Lord Henry so ausgeschmückt, daß es den Leuten schon grauste, wenn sie nur daran dachten. Es gab im Ort kein anderes Ge sprächsthema. »Habe ich es nicht gesagt«, rief einer der Männer, die sich in der Gaststätte eingefunden hatten, »daß die Hexe an allem schuld ist. Nicht einmal den Toten läßt sie Ruhe. Sie hat sogar die schöne Lady Elisabeth und Lord Ge orge Harry verhext.« »Das war nur der Anfang, sage ich euch. Wenn wir nicht alle von ihr verhext werden wollen, müssen wir endlich etwas gegen sie unternehmen«, schrie ein zweiter. »Wie willst du das machen? Sie ist nicht mehr hier«, rief ein jüngerer Mann. »Natürlich ist sie in unserer Nähe. Oder glaubst du, daß sie auf einem Besenstiel zu uns nach Grimby geritten ist?« ließ sich eine Frau vernehmen. »Worauf warten wir eigentlich noch?« stieß jemand hervor und sah sich kampfbereit in der Runde um. Zum Schluß blieb sein Blick an dem Arzt hängen. »Doktor, was sagen Sie dazu?«
Dr. Ashley hatte bisher geschwiegen. Um Isa bell beschützen zu können, hatte er es für not wendig gehalten, sich erst einmal anzuhören, was die Leute zu tun beabsichtigten. Jetzt legte er sein Besteck beiseite und erhob sich. »Warum fragt ihr mich? Ihr wißt doch alle ganz genau, daß ich nicht an Hexen glau be. Erklärt mir lieber, was ihr vorhabt«, ent gegnete er. Die Leute sahen sich an. Auf ihren Gesichtern drückte sich so etwas wie Ratlosigkeit aus. Ih nen war klar, daß etwas passieren mußte, und zwar so bald wie möglich. Aber was, das wuß ten sie nicht zu sagen. »Wir müssen sie finden, diese Hexe«, meinte einer der Männer. »Wie willst du das machen? Keiner von uns hat auch nur ihren Schatten zu sehen bekom men. Ja, nicht einmal den Schatten ihres Schattens«, ließ sich ein anderer vernehmen. »Doch, Ruth hat sie im Wald gesehen«, misch te sich die Frau ein. »Als Geist kannst du mir erklären, wie du einen Geist zu fassen kriegen willst?« rief der jüngste der Männer. Dr. Philipp Ashley sah ein, daß es wieder ein mal höchste Zeit war, die Gaststätte zu verlas sen.
* Der Arzt hatte es im Laufe seines Lebens im mer wieder erlebt, daß bei wichtigen Gescheh nissen seltsame Zufälle eine große Rolle spiel ten. Oft war es sogar eine ganze Kette von Zu fällen, die zusammentrafen. So auch an diesem Tag. Wäre es ein Sonntag wie alle anderen gewe sen, so hätte Philipp Ashley wahrscheinlich niemals erfahren, wo Isabell Bly sich aufhielt. Der Doktor war ein begeisterter Golfspieler. Daher verbrachte er am Sonntag seine freien Nachmittage auf einem Golfplatz, der einige Kilometer von Grimby entfernt der Küste zu lag. An diesem Tag wurde Philipp Ashley jedoch zu einem Bauernhof gerufen, der weitab von jedem anderen Anwesen am Rande eines Hochmoores lag. Die Bäuerin erwartete ein Kind. Obwohl die Frau kräftig und immer gesund gewesen war, erwies sich diese Geburt als sehr problema tisch. Manchmal sah es so aus, als werde die Bäuerin die Strapazen nicht überstehen. Der Bauer, ein Hüne von einem Mann, war völlig verzweifelt. Immer wieder stieß er Ver
wünschungen aus, die von einer »Hexe von Grimby« handelten. Philipp Ashley war viel zu beschäftigt, um darauf reagieren zu können. Erst als der neue Erdenbürger das Licht der Welt erblickt hatte, sagte er schärfer, als es eigentlich seine Ab sicht gewesen war: »Ist ein so kräftiger Junge vielleicht Hexenwerk?« Der Bauer betrachtete seinen Sohn und senk te beschämt seinen Kopf. Er ging nicht auf die Worte des Arztes ein. Nachdem seine Frau und das Kind versorgt waren, lud er den Arzt zu ei nem Glas Wein ein. Dr. Ashley wollte ihn nicht vor den Kopf sto ßen. »Aber nur ein Glas«, meinte er. Es wurde dann doch später als vorgesehen. Als der Arzt sich schließlich auf den Weg nach Hause machte, dämmerte es bereits. Philipp Ashley beschloß, eine Abkürzung zu fahren. Zuerst kam er an Wegweisern vorbei, die nach Grimby wiesen. Als die Landstraße je doch in einen Wald führte, war von einem Wegweiser nichts mehr zu sehen. Der Doktor war trotzdem sicher, in die richtige Richtung zu fahren. Einige Minuten später wurde der Weg zum Pfad, und schließlich schien sich auch der Pfad im Nichts zu verlieren. Gestrüpp und dichtes Rankengewächs überwucherten die ohnehin
kaum noch zu erkennende Fahrbahn. Philipp Ashley sah ein, daß es besser gewesen wäre, wenn er die Landstraße genommen hät te. Er stieg aus, um zu sehen, wie er am besten umkehren könne. Die üppigen und hohen Farnkräuter, die rechts und links des Pfades wuchsen, verbrei teten einen ungewöhnlich starken Geruch. Es herrschte Totenstille. Da es inzwischen ganz dunkel geworden war, holte der Doktor eine Taschenlampe aus sei nem Auto. Er richtete den Lichtstrahl auf das Unterholz. Das Licht weckte im Baum über ihm schlafende Krähen, die entsetzlich zu krei schen begannen. Auf dem weichen Waldboden lagen verfaulte Galläpfel. Philipp Ashley betrachtete die Natur um sich herum. Alles war so unwirtlich. Er fragte sich, ob er Angst habe, aber er mußte diese Frage verneinen. Besorgt war er nur, weil es sehr schwer wer den würde, seinen Wagen auf dem schmalen und von dichtem Unterholz eingefaßten Pfad zu wenden. Der Arzt seufzte auf. In diesem Moment fiel der Schein seiner Taschenlampe auf eine Steinmauer. Gleichzeitig knackte es im Unter holz. Das Geräusch wiederholte sich nicht. Wahr
scheinlich ein Tier, redete der Doktor sich ein. Von Neugier getrieben, näherte er sich der Mauer. Er stellte erst seinen rechten und danach sei nen linken Fuß auf einen großen Findling. Philipp Ashley mußte plötzlich an seine Kind heit denken, als er mit Freunden in der Umge bung seines Elternhauses »Entdecker« gespielt hatte. Auch in diesem Augenblick fühlte er sich wie der Entdecker eines neuen Kontinents. Ei nes Landes, das schon seit Ewigkeiten verlas sen dazuliegen schien. Nachdem der Arzt von dem Findling aus auf einen vorstehenden Stein in der Mauer geklet tert war, konnte er über die steinerne Mauer hinwegsehen. Gleich darauf zuckte er unwillkürlich zurück. Wenige Schritte von ihm entfernt erkannte er Isabell Bly. Mit großen Augen, ruhig und zugleich ge spannt, blickte sie auf den Arzt. Sie trug den schwarzen Reitdreß, den sie angehabt hatte, als Philipp Ashley sie mit dem Schimmel an dem See beobachtet hatte. Ihr schönes Haar floß in weicher Welle bis über ihre Schultern zur Taille. Der Schein der Taschenlampe fiel direkt auf ihr Gesicht. Sie schien nicht die geringste Furcht zu haben.
In diesem Augenblick war der Arzt zum ersten Mal geneigt, an Wunderdinge zu glauben. Was er erlebte, kam ihm ganz unwirklich vor. Er hatte das Empfinden, in eine andere Welt ein getaucht zu sein, eine Welt, in der nichts un möglich war und in der auch die absonder lichsten Dinge geschehen konnten. Da er selbst in der Dunkelheit geblieben war, war es Isabell nicht möglich gewesen, ihn zu erkennen. »Wer sind Sie?« fragte sie. »Ashley. Philipp Ashley. Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben«, beeilte sich der Arzt zu sagen. »Ich habe keine Angst«, erwiderte Isabell ru hig. Der Arzt zog sich mit einiger Mühe auf die Mauer und sprang auf die andere Seite. »Isabell, ich kann Ihnen nicht sagen, wie glücklich ich bin, Sie hier zu sehen«, bekannte er, als er vor ihr stand. Sie lächelte. So, als sei der Anlaß ihrer Begegnung ein ge sellschaftliches Ereignis, forderte Isabell den Arzt freundlich auf: »Wollen Sie nicht herein kommen, Doktor?« »Herein? Wohin?« »In mein Haus. Es ist kühl hier draußen. Ich habe im Kamin ein Feuer angezündet«, berich
tete Isabell. Der Doktor beschloß, erst einmal keine Fra gen zu stellen. Er folgte Isabell in das verfalle ne Haus. Der Abendwind stieß die lose in den Angeln hängenden Fensterrahmen gegen die Außenwand. Blätter und kleine Äste bedeckten die Fußböden. Sie durchquerten zwei Räume, die den Ein druck erweckten, als seien sie seit undenkli chen Zeiten nicht mehr bewohnt worden. In dem dritten jedoch stand ein Kamin. Darin brannte ein Feuer. Es gab auch ein Himmel bett, und auf einem Schreibtisch lag ein großes altes Buch. Dr. Ashley warf einen Blick in das Buch. Er sah, daß die aufgeschlagene Seite die Abbil dung einer Tollkirsche zeigte. »Wollen Sie sich nicht setzen, Doktor?« fragte Isabell. »Oh, ich stehe lieber«, gestand Philipp Ashley, nachdem er einen Blick auf den einzigen Stuhl geworfen hatte, der sich in dem Raum befand. »Es ist sehr schlimm, daß Sie den Kindern nicht mehr beistehen können«, fuhr Isabell fort. »Sie wissen, daß Lord Henry mir verboten hat, das Schloß noch einmal zu betreten?« stieß der Arzt hervor. »Ja.«
»Woher, Isabell? Wer hat es Ihnen gesagt? Mit wem haben Sie gesprochen?« wollte As hley wissen. »Niemand hat es mir gesagt. Ich weiß es«, er widerte sie. »Isabell… bitte, sagen Sie mir die ganze Wahr heit. Verfügen Sie über geheime Kräfte?« frag te Philipp Ashley. »Ja«, antwortete sie und sah den Doktor auf eine Weise an, als sei sie sehr erstaunt dar über, daß er ihr diese Frage überhaupt stellte. Dr. Philipp Ashleys Empfinden, daß er Zeuge von etwas Übernatürlichem war, verstärkte sich. Er wandte keinen Blick von Isabell. Mochte sie auch über geheime Kräfte verfü gen – er gestand sich ein, daß er sie liebte. Nicht nur wegen ihrer Schönheit und Reinheit, die sie ausstrahlte – es waren fast magische Kräfte, die ihn zu ihr hin zogen. Gleichzeitig hatte der Arzt eine ungeheure Angst, daß man ihr etwas antun könne. »Isa bell, Sie dürfen hier auf keinen Fall bleiben. Es kann nicht mehr lange dauern, bis die Leute aus Grimby herausgefunden haben, wo Sie sich aufhalten. Oh, Sie müssen fliehen, Isabell«, erklärte Philipp Ashley mit aller Ein dringlichkeit. »Aber ich kann es nicht. Verstehen Sie, Dok tor. Ich kann nicht«, antwortete Isabell. Zum
ersten Mal, seit Dr. Philipp Ashley sie kannte, wirkte sie gequält. Er nahm ihre schönen Hände und blickte ihr in die Augen. »Isabell, erinnern Sie sich noch an den wundervollen Abend, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind?« fragte er. »Ich habe es nicht vergessen«, gestand sie. »Es war im Musiksalon. Sie spielten die Har fe. Isabell, seit damals liebe ich Sie«, fuhr der Arzt fort. Sie legte erschrocken ihren rechten Zeigefin ger über seine Lippen. »Bitte, sprechen Sie nicht weiter, Doktor«, bat sie. »Nennen Sie mich nicht Doktor. Ich heiße Philipp.« »Philipp, wenn Sie mein Freund sein wollen, dann müssen Sie mir versprechen, daß Sie mir nie eine Frage stellen werden«, forderte Isa bell. »Isabell, ich möchte so gern verstehen. Ver stehen, was hier vorgeht. Alle wissen mehr als ich. Sie… und sogar der kleine Lord Peter«, entfuhr es Philipp Ashley. Isabell senkte die Augenlider. Der Wider schein der Kerze, die sie angezündet hatte, be leuchtete ihr schmales Gesicht. »Ja, er weiß et was, was nicht einmal ich weiß«, flüsterte sie. »Isabel! Peter ist ein Kind von sechs Jahren«, rief der Arzt.
»Das macht es nur noch schlimmer. Peter weiß es. Aber er hält dieses Wissen in der Tiefe seiner Seele verborgen. Sogar vor sich selbst hält er es verschlossen. Er weiß, daß es ihn tö ten würde, wenn er es aussprechen würde«, fuhr Isabell fort. »Sie meinen, Peter sei sein eigenes Wissen nicht bewußt?« erkundigte sich der Arzt. »Nein, es ist seinem Bewußtsein nicht zugäng lich«, bestätigte Isabell. »Aber es ist dann wohl dieses Wissen, das Pe ter die Luft zum Atmen raubt?« stieß der Arzt hervor. Isabell nickte. »Ja. Es ist in ihm, aber es darf nicht zum Vorschein kommen. Es drängt nach außen. Peter muß seine ganze Kraft aufwen den, um es zurückzuhalten.« »Weil es ihn umbringen würde«, sagte der Doktor mehr zu sich als zu Isabell. »Ja, weil es ihn umbringen würde«, bestätigte Isabell. »Aber das sind Abgründe, die sich da auf tun. Wahre Abgründe, Isabell«, rief der Arzt aus. Er faßte sich gleich darauf wieder. »Wir müs sen Peter helfen. Aber wie, wenn wir keinen Zugang mehr zu ihm haben?« fragte er ver zweifelt. Um Isabells Mund bildete sich ein kleines Lä cheln. »Peter ist nicht ganz allein«, sagte sie.
»Wie meinen Sie das, Isabell?« »Sie haben vorhin versprochen, mir keine Fragen zu stellen«, erinnerte Isabell den Arzt. Philipp Ashley nickte. »Ja, das habe ich«, meinte er. Es fiel ihm ungeheuer schwer, sich an dieses Versprechen zu halten. Er schwieg einen Moment, dann fuhr er fort: »Isabell, kommen Sie mit mir. Jetzt gleich. In meinem Haus befinden Sie sich in Sicherheit. Dort wird es niemand wagen, Ihnen etwas zu leide zu tun. Isabell, zögern Sie nicht«, drängte er. »Aber das geht nicht, Philipp. Ich kann nicht weggehen. Ich muß hierbleiben«, entgegnete Isabell. »Warum wollen Sie sich dieser Gefahr ausset zen? Isabell, Sie wissen so viele Dinge, von de nen ich nichts verstehe. Vielleicht können Sie ja sogar in die Zukunft oder auch in die Ver gangenheit schauen. Aber Sie ahnen anschei nend nicht, was in der Gegenwart passiert. Die Leute im Ort…« Philipp Ashley stockte mitten im Satz. »Die Leute halten Sie für eine Hexe«, hatte er sagen wollen. Er brachte jedoch das Wort Hexe nicht über die Lippen. Statt dessen fuhr er fort: »Die Leute in Grim by betrachten Sie als eine Gefahr. Sie haben sich geschworen, Ihnen etwas Böses anzutun.«
Isabell sah dem Arzt in die Augen. »Wenn es meine Bestimmung sein soll, zugrunde zu ge hen, dann muß ich dieses Schicksal auf mich nehmen, Philipp«, erklärte sie. Philipp schlug vor lauter Verzweiflung seine Hände vor die Augen. Kurz darauf nahm er sie wieder weg. Sein Gesicht war vor Schmerz wie verzerrt. »Isabell, dann kann ich Sie weder ret ten noch beschützen«, rief er. »Nein, das können Sie nicht, Philipp«, ant wortete Isabell. »Oh, Isabell, Sie sind verloren«, erwiderte der Arzt verzweifelt. Jetzt war es Isabell, die seine Hände faßte. »Philipp, wissen Sie denn nicht, daß alles vor herbestimmt ist? Sie wollen gegen das Schick sal ankämpfen. Aber was können Sie gegen Mächte ausrichten, die so viel stärker sind als wir?« »Isabell, ich möchte Ihnen so viel sagen.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, sagen Sie nichts mehr. Sie müssen jetzt gehen. Ich habe noch etwas zu tun. Meine Zeit drängt«, gab sie zur Antwort. Philipp Ashley sah ihr in die Augen. Er er kannte darin einen warmen Glanz. »Sie fordern viel von mir, Isabell«, flüsterte er. »Ich weiß«, erwiderte sie ebenso leise.
»Wenn ich mich für Sie opfern könnte – Isa bell, ich würde es tun«, fuhr Philipp fort. Ihre Antwort war ein kaum merkliches Lä cheln. Der Arzt nahm noch einmal ihre Hände und drückte sie an seine Wangen. Während sie ganz ruhig und gelassen dastand, war er so aufgewühlt wie noch nie in seinem Leben. Er suchte nach einem Wort, das seine ganze Liebe ausdrückte. Da er es nicht fand, drehte er sich um und ging weg. Als er das Haus ver lassen hatte und die frische Nachtluft auf sei nem Gesicht spürte, hatte er das Gefühl, nur einen Traum erlebt zu haben. Er eilte zu der Mauer und schwang sich dar über. Sein Wagen stand an der Stelle, wo er ihn verlassen hatte. Philipp Ashley ließ den Motor an und fuhr rückwärts, um zu drehen. Das dichte Gebüsch setzte seinem Auto kaum Widerstand entgegen. Gleich darauf jagte er den Pfad zurück, den er eine Stunde vorher gekommen war. * Nachdem Lord Henry zum ersten Mal von ei ner Tollkirsche ein Stück abgebissen hatte,
wollte er nicht mehr auf diese wilde Frucht verzichten. Er hatte erfahren, wie es war, wenn sich ihr Saft langsam in seinem Körper ausbreitete. Wie er die dumpfe Schwere aus seinen Glie dern vertrieb, wie er hochstieg bis in seinen Kopf, in sein Gehirn. Wie er die grenzenlose Angst, die er seit einigen Tagen empfand, aus löschte. Wie die Schwärze, die er in seinem In nern spürte, heller wurde. Er hatte sich inzwischen einen kleinen Vorrat an Tollkirschen zugelegt. Sie lagen auf der Fensterbank in seinem Zimmer. Ihre schwarz glänzende Haut war verschrumpelt. Die Zeit und die Wärme des Kaminfeuers hatten sie nicht ganz austrocknen können. Lord Henry wußte inzwischen auch um die Wirkung der gezackten Blätter, auf denen die Frucht wuchs. Wenn er die Blätter mit den Händen zerrieb und sie in seine Nasenlöcher sog wie Schnupf tabak, spürte er fast die gleiche Wirkung wie beim Essen der Tollkirsche. Zuerst hatte der Lord nur ein wenig von der Frucht gekostet und nur ein kleines Stück von dem Blatt aufgesogen. Bald kam er hiermit nicht mehr aus. Nur so gelang es Lord Henry, die wilden Furi en, die sich in seinen Eingeweiden festgesetzt
zu haben schienen und ihm keine Ruhe ge währten, unter Kontrolle zu halten. Er hatte geglaubt, daß er wieder zu innerer Ruhe zurückfinden würde, wenn es außer ihm und den Geschwistern keinen Menschen mehr auf Schloß Grimby gäbe. Nachdem alle Bediensteten das Schloß verlas sen hatten, mußte er jedoch feststellen, daß es gerade die Stille war, die ihn umhertrieb. Auch die Kinder sprachen nicht mit ihm. So bald er sich ihnen näherte, verstummten sie. Wenn er sie etwas fragte oder ihnen auf seine grobe Art Anweisungen gab, sahen Grace und Peter mit ihren klaren großen Augen wortlos zu ihm auf. Es kam vor, daß er sie anschrie, daß er wutbe bend vor ihnen stand, vor diesen Engelsgesich tern, die ihn anscheinend in den Wahnsinn treiben wollten. Diese Geschöpfe, die engum schlungen miteinander flüsterten, wenn sei glaubten, er würde sie nicht sehen. Wie getrieben durcheilte er das Schloß, stürz te vom Keller zu den Turmzimmern. Von der Küche, in der die Speisen verkamen, zu den verlassenen großen Salons. Nur die Räume, die die Eltern der Geschwis ter bewohnt hatten, wagte Lord Henry nie zu betreten. Am zweiten Abend, den er und die Kinder
ohne einen anderen Menschen auf Schloß Grimby verbracht hatten, hatte der Lord stär ker als jemals zuvor das Gefühl, als habe ein wildes Ungeheuer von ihm Besitz ergriffen. Er stürzte in sein Zimmer. Mit zitternder Hand griff er nach einer der inzwischen ver schrumpelten schwarzen Wildfrüchte. Auf ein mal erstarrte er. In der Dämmerung erkannte er Isabell Bly. Sie ritt auf dem Schimmel Schneewind durch den Park. Jetzt wagte sie ihm sogar zuzuwin ken. Sie lachte. Ja, sie lachte tatsächlich. Der Lord sah es ganz deutlich. Sie trieb ihren Spott mit ihm. Sie verhöhnte ihn. Sie gab ihm zu verste hen, daß er ihr niemals entkommen würde. Lord Henry schlug seine beiden Fäuste auf das Fensterbrett. Danach verspürte er nicht in seinen Fäusten, sondern in seinem Herzen einen unerträglichen scharfen Schmerz. Wie ein Pferd im Galopp, so kam dieser Schmerz daher. Der Lord schrie auf. Er taumelte. Gleich dar auf faßte er sich wieder. Sein Blick fiel auf die Tollkirsche und die Blätter. Er grub seine Zäh ne in eine der Früchte. Wie außer sich zerrieb er zusätzlich eines der Blätter und hielt die Hände danach unter seine Nase. Während dieser ganzen Zeit hatte er keinen
Blick von Isabell gelassen. Er konnte es nicht. Es war ein Zwang. Er hatte keinen freien Wil len mehr. Nach einer Weile verschwanden Isabell und der Schimmel hinter einer fast baumhohen Rhododendronhecke. Im selben Augenblick spürte der Lord, wie der Schmerz in ihm nachließ. Er atmete die Luft tief ein. Auf seinem von grimmigen Linien zerschnittenen Gesicht bil dete sich so etwas wie die Andeutung eines Lä chelns. Eine wahnsinnige Freude durchströmte ihn. Die Furien flohen seinen Körper. Er richtete sich auf. Seine schweren klobigen Arme fühl ten sich auf einmal leicht an. Lord Henry begann zu singen. Er sang ein Seemannslied, in dem es darum ging, die Ungeheuer der Meere zu bezwingen. Seine Stimme klang brüchig und dunkel. Die Worte kamen wie abgehackt aus seinem Mund. Es war keine richtige Melodie zu erkennen, eher ein Geräusch, wie es disharmonischer nicht sein konnte. Auf einmal begann Lord Henry sogar zu tan zen. Er bewegte sich zwar wie ein ungeschlach ter Bär. Trotzdem war es so etwas wie ein Tanz, was er aufführte.
Nach einigen Minuten brach er ab. Er sagte sich erleichtert, daß er sich geirrt habe und daß es gar nicht Isabell gewesen sei, die im Park auf dem Schimmel geritten war. Um sich selbst zu bestätigen, stürzte er aus dem Schloß und in den Marstall. Der Schimmel Schneewind stand in seiner Box. Mit glänzenden schwarzen Augen, die Lord Henry an Tollkirschen erinnerten, sah er ihn an. Die wilde Freude, die den Lord für kurze Zeit aus seiner Verzweiflung hochgeschleudert hat te, ebbte ab. Ein krampfhaftes Zucken lief durch seine Glieder und sein grimmiges Ge sicht. Der Lord stützte sich auf die Holzbarriere von Schneewinds Box. Er keuchte und hielt den Kopf gesenkt. Das wirre fuchsrote Haar fiel ihm über die Stirn. Gleich darauf fuhr er mit einem Schrei in die Höhe. Er sah in Schneewinds große schwarze Augen. »Du bist mit dieser Hexe im Bunde«, schrie er auf. »Du hast einen Pakt mit ihr.« Er wich so weit zurück, bis er mit dem Rücken gegen die andere Wand stieß. Schneewind wieherte. In der gleichen Sekun de war von draußen das höhnische Krächzen einer ganzen Krähenschar zu vernehmen.
Lord Henry preßte beide Hände auf seine Oh ren. Dann stürzte er aus dem Marstall. Die Hexe verfolgte ihn. Sie ließ ihn nicht entkom men. * Lord Henry hatte Grace und Peter auf das strengste untersagt, nachts ihre Zimmer zu verlassen. Grace war immer ein sehr gehorsames Kind gewesen. Es wäre ihr nie in den Sinn gekom men, sich über ein Verbot hinwegzusetzen. Grace hätte auch die Anordnung ihres Onkels befolgt, wenn es in diesem Fall nicht um ihren kleinen Bruder gegangen wäre. Seitdem Isabel! Schloß Grimby verlassen hat te, konnte Peter nur noch schlafen, wenn Grace bei ihm war. Wie eine liebevolle Mutter, den rechten Arm mit beschützender Gebärde um seine Schul tern gelegt, schlief Grace in dieser Nacht an der Seite ihres Bruders. Ihr Atem war so leicht wie die Schwingen ei nes Kolibri. Der kleine Lord atmete dagegen stoßweise. Als es Mitternacht wurde, ging sein Atem in ein Röcheln über. Er begann, sich im
Bett hin und her zu wälzen. Als Peter dann auch noch einen verzweifelten Angstschrei ausstieß, wachte Grace auf. »Peter«, flüsterte sie. »Der Vogel. Er war wieder da, Grace«, stieß der kleine Lord hervor und setzte sich aufrecht in sein Bett. Grace machte es ihm nach und faßte seine Hände. »Bleib ganz ruhig. Der Vogel fliegt be stimmt gleich wieder weg. Peter. Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben. Ich bin ja bei dir«, versuchte sie Peter zu beruhigen. Der kleine Junge hörte jedoch nicht auf sie. Aus seiner Brust kam ein rasselndes Geräusch. Wie gebannt starrte er zum Fenster hinaus. Obwohl kein Vollmond mehr war, herrschte in dem Raum keine absolute Dunkelheit. Es hatte niemand die Vorhänge zugezogen. In der klaren kalten Nacht waren unzählige Ster ne am Himmel zu sehen. »Schau doch zum Fenster raus. Es ist kein To desvogel da. Nur die Sterne funkeln am Him mel«, fuhr Grace fort und streichelte den Arm ihres Bruders. Statt beruhigt zu sein, warf sich Peter mit ei nem kurzen und gellenden Angstschrei in die Kissen zurück. Er zog seine Knie an seinen Körper und begann zu zittern wie Espenlaub. Sein röchelnder Atem wurde von Sekunde zu
Sekunde lauter. Grace sprang aus dem Bett. Ratlos und hilflos starrte sie auf ihren geliebten kleinen Bruder. Sie fürchtete nichts mehr als dieses schreckli che Geräusch, wenn Peter den Atem ausstieß und wieder einsog. Noch größer war ihre Angst, daß dieses Geräusch aufhören könnte und Peter gar nicht mehr atmete. Verzweifelt dachte sie daran, daß niemand da war, der Peter zu Hilfe eilen könnte. Ihre Angst vor dem Onkel war so groß, daß sie gar nicht auf den Gedanken kam, sich an ihn zu wenden. »Isabell«, flüsterte sie. »Liebe, liebste Isabell. Du hat gesagt, daß ich dich rufen soll, wenn wir dich brauchen. Warum kommst du jetzt nicht? Komm, bitte komm, Isabell, komm«, flehte die Kleine. In diesem Moment stockte Peters Atem. Grace zuckte zusammen. Sie hielt ebenfalls die Luft an. Verzweifelt und außer sich vor Angst neig te sie sich über ihren Bruder. »Peter, oh, Peter«, flüsterte sie. Der kleine Lord gab keine Antwort. Er zitterte auch nicht mehr, sondern lag ganz ruhig da. Grace richtete sich entsetzt auf. Ihr Mund öff nete sich. Aber es kam kein Laut hervor. In diesem Moment beobachtete sie, wie eine Krä he mit langsamen Flügelschlägen am Fenster
vorbeiflog. Der Todesvogel, ging es Grace durch den Kopf. Ihr kleiner Bruder hatte also doch nicht ge träumt. * In dem Augenblick, als Grace das Gefühl hatte, von aller Welt verlassen zu sein, öffnete sich leise die Tür. Das Kind hätte sich gern hinter dem zurück gezogenen schweren Vorhang versteckt. Es war jedoch unfähig, sich zu rühren. Onkel Henry, dachte Grace. Aber dann fiel ihr ein, daß der von ihr so gefürchtete Onkel einen Raum niemals ruhig, sondern polternd zu be treten pflegte. Grace hörte, wie die Tür fast geräuschlos wie der geschlossen wurde. Ein Wesen, das sie kaum als Schatten erkennen konnte, trat auf leisen Sohlen an Peters Bett. Der Todesvogel, dachte Grace entsetzt. Die Kleine starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Eindringling. Sie beobachtete, wie sich das Wesen über Peter neigte. In diesem Moment, als Grace ihren kleinen
Bruder in Gefahr wähnte, erwachte sie aus ih rer Erstarrung. »Tun Sie ihm nichts zuleide. Er hat nie etwas Böses getan«, rief sie mit beben der Stimme. »Grace, kleine Grace«, war die Antwort. Sie klang zärtlich und liebevoll. »Isabell. Oh, Isabell, du bist doch gekommen. Du hast gehört, wie ich dich gerufen habe. Du bist gekommen«, flüsterte Grace. Sie lief zu ih rer ehemaligen Gouvernante und schmiegte sich an sie. Isabell legte einen Arm um sie. Grace’ Ver trauen zu Isabell war grenzenlos. Sie zweifelte nicht daran, daß Isabell gekommen war, um ihren kleinen Bruder zu retten. »Der Todesvogel war wieder bei Peter. Isabell, Peter atmete nicht mehr«, berichtete sie flüs ternd. Isabell gab keine Antwort. Sie legte Grace ganz leicht ihre rechte Hand auf den Kopf. »Laß mich allein mit deinem kleinen Bruder«, bat sie liebevoll. »Du wirst ihm doch helfen, nicht wahr, Isa bell?« stieß Grace hervor. »Geh jetzt, meine Kleine«, erwiderte Isabell so zärtlich wie vorher, ohne jedoch auf Grace’ Frage einzugehen. Grace zögerte noch eine Sekunde, dann dreh te sie sich um und lief auf nackten Füßen in ihr
Zimmer zurück. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, stieg wieder eine furchtbare Angst in ihr hoch. Gar zu gern wäre sie bei Isabell und ihrem Bruder geblieben. Warum hatte Isabell sie weggeschickt? Was tat Isabell mit Peter? Wie würde sie ihn retten? Unzählige Fragen gingen Grace durch den Kopf. Je mehr Fragen in ihr aufstiegen, desto verstörter wurde sie. Sie fühlte sich grenzenlos einsam. Plötzlich fiel ihr Hektor ein, der alte, müde Jagdhund ihres verstorbenen Vaters. In ihrer Sehnsucht nach einem lebenden Wesen, das sie liebte, lief Grace die breite Haupttreppe des Schlosses hinunter. Um in der Dunkelheit nicht zu stür zen, legte sie ihre rechte Hand auf das hölzer ne Geländer. Hektor, der große Schwierigkeiten mit den Augen hatte, konnte nicht erkennen, daß es Grace war, die die Treppe hinuntereilte. Die Schritte des kleinen Mädchens waren auch so leicht, daß ihr Geräusch kaum seine fast taub gewordenen Ohren erreichte. Dennoch hatte sich der alte Hektor von sei nem Platz neben dem seit langem nicht mehr geheizten Kamin erhoben. Er erwartete Grace am Fuße der Treppe. Die Kleine kauerte neben ihm nieder und schlug beide Arme um seinen Hals. »Hektor,
lieber Hektor«, flüsterte sie dicht an seinem Ohr. Der Jagdhund stupste sie mit der Schnauze an und legte ihr seine rechte Vorderpfote auf die Schulter. Das hatte er nicht mehr gemacht, seit Lord Henry ihn in die Schloßhalle verbannt hatte. Durch die oft eisige Kälte, die dort meistens herrschte, war sein Rheuma so schlimm ge worden, daß Hektor sich nur noch mit Schmerzen bewegen konnte. In diesem Augenblick hatte der alte Jagdhund jedoch etwas von seiner früheren Lebhaftig keit zurückerlangt. Nachdem er Grace noch ein paarmal angestupst hatte, legte er seinen Kopf auf ihre rechte Schulter und verhielt sich ganz ruhig. »Hektor, ich möchte so gern wissen, was Isa bell mit Peter macht«, gestand Grace dem Hund mit flüsternder Stimme. Hektor hob seinen Kopf und gab ihr wieder einen Stups. Dann begann er, die Treppe hin aufzulaufen. Grace folgte ihm. Auf dem langen Flur, von dem so viele Türen abzweigten, ging sie eilig hinter ihm her. Sie traten in Grace’ Zimmer. Die Kleine und der Hund lauschten. Es war kein Laut zu hören. »Vielleicht ist Isabell gar nicht mehr bei Peter«, flüsterte Grace.
Wieder erhielt sie von Hektor einen Stups mit der Schnauze. »Hektor, oh, Hektor«, hauchte Grace. Sie ertrug die Unsicherheit nicht länger und machte, was sie noch nie in ihrem Leben ge macht hatte. Grace blickte durch das Schlüs selloch in das Zimmer ihres kleinen Bruders. Hektor stand neben ihr und sah zu ihr auf. Grace konnte weder Peter noch Isabell erken nen. Statt dessen bemerkte sie, wie sich in dem Raum hinter ihrer Tür eine dichte blaue Wolke ausbreitete. Sie kam aus der Ecke, wo Peters Bett stand, und zog in die Richtung des Fens ters. Grace’ Mund öffnete sich. Sie verstand nicht, was dort drüben in Peters Zimmer vor sich ging. Sie konnte es sich auch nicht erklären. Grace bückte sich zu Hektor hinunter. »Hek tor, was ist das für eine blaue Wolke?« stieß sie mit flüsternder Stimme hervor. Der Hund gab keinen Laut von sich, sondern berührte nur kurz mit seiner Schnauze ihre Wange. Grace richtete sich auf und warf wieder einen Blick durch das Schlüsselloch. Sie sah, daß die blaue Wolke heller geworden und dabei war, sich zum Fenster hin zu verflüchtigen. Auf einmal hatte Grace das Gefühl, als breite sich von Peters Zimmer kommend eine eisige
Kälte aus. Es war wie ein scharfer Wind, je doch ohne das Geräusch des Windes. Alles war still. Grace meinte, in dieser Stille ihr Herz pochen zu hören. Sie konnte nur mit großer Mühe der Versuchung widerstehen, die Tür zu öffnen und zu Peter und Isabell zu gehen. Zutiefst erschrocken wandte sich Grace wie der von der Tür ab. In der Dunkelheit, die sie umgab, fühlte sie sich wie verloren. Aus einem plötzlichen Entschluß heraus tastete Grace sich zum Lichtschalter und knipste ihn an. Hektor lief zu ihr und sah mit seinen braunen Bernsteinaugen zu ihr auf. »Still, Hektor, ganz still«, flüsterte Grace und legte dem schönen Tier ihren rechten Zeigefin ger über die Schnauze. Hektor verzog bei der Berührung sein Ge sicht. Es sah so aus, als würde der Jagdhund auf seine alten Tage noch einmal lächeln. * Lord Henry hatte die ganze Nacht nicht schla fen können. Von Panik getrieben war er Stun de um Stunde durch den Schloßpark geirrt. Kurz vor Beginn der Morgendämmerung hielt
der Lord erschöpft inne. Gegen den Stamm ei ner uralten Kastanie gelehnt, das rote Haar wirr um den Kopf hängend, den karierten Schal eng um den Hals gebunden, blickte er auf Schloß Grimby. Mächtig und unerschütterlich stand es da. Uneinnehmbar, von Dunkelheit umgeben und so als wolle es ihn zermalmen, so kam es ihm vor. Auf einmal beobachtete der Lord, wie in ei nem der Zimmer ein Licht anging. Er hielt sei nen Atem an. Die Hexe, schoß es ihm durch den Kopf. Gleich darauf beruhigte er sich jedoch wieder. Er erkannte, daß das Licht aus dem Zimmer seiner Nichte Grace kam. In diesem Moment spürte der Lord die ganze Bitterkeit seines ohnmächtigen Hasses. Lord Henry hatte Peter und Grace von jenem Mo ment an, als er sie zum ersten Mal zu Gesicht bekam, gehaßt. Aber nie zuvor war sein Haß so mächtig gewesen wie in diesem Augenblick. Er haßte ihre Engelsgesichter, er haßte den anklagenden Blick ihrer klaren hellen Augen, die so aussahen, als würden sie die Wahrheit kennen. Er haßte ihre kindlich reinen Stim men. Genauso sehr haßte er aber auch ihr jä hes Verstummen, sobald er sich ihnen näher te.
Er haßte sie fast so sehr wie Isabell Bly. Er war sich ganz sicher, daß es ihm viel besser ge hen würde, wenn die Kinder nicht mehr da wä ren. Wenn es keinen Menschen außer ihm auf Schloß Grimby gäbe. Alleiniger Herrscher auf diesem großen Schloß, das wollte er sein. Der Lord trat, wie von einem plötzlichen Ent schluß getrieben, unter der Kastanie hervor. Seinen Blick auf das hellerleuchtete Zimmer gerichtet, ging er auf Schloß Grimby zu. So genau wußte er selbst noch nicht, was er vorhatte. Er wußte nur, daß etwas passieren mußte. Er mußte handeln. Noch in dieser Nacht. Der Lord spürte bei diesem Gedanken, wie in ihm ein seltsames Grauen aufstieg, das aus sei nem tiefen Innern kam. Es war, als fürchte er sich vor sich selbst, vor dem, wozu er fähig war. Auf einmal erinnerte Lord Henry sich an die Tollkirschen, die er in seinem Schlafzimmer aufbewahrte. Er dachte daran, daß er beim letzten Mal, nachdem er von den Früchten ab gebissen hatte, wie verwandelt gewesen war. Das Grauen war von ihm gewichen. Ihm war ganz leicht zumute geworden. Er entschloß sich deshalb, eine oder diesmal sogar zwei Tollkirschen zu essen, bevor er wei tere Schritte unternahm.
Er ging in sein Schlafzimmer und machte das Licht an. Auf der breiten Fensterbank lagen noch zwei Kirschen und ein Blatt dieser wilden Frucht. In seiner Gier steckte Lord Henry bei de Kirschen auf einmal in den Mund. Danach zerriß er das bereits verdorrte Blatt und stopf te es hinterher. Lord Henry spürte, wie sich der klebrige Saft der Frucht in seinem Körper ausbreitete. Er hatte dabei das Gefühl, als würde sich ein rei nigendes Feuer durch seine Glieder fressen. Er verfiel in einen grenzenlosen Glückszu stand. Wieder fing er an zu tanzen. Dabei stieß er einen ganz gräßlichen Schrei hervor. Er fühlte sich zu allem fähig. Selbst die Welt aus den Angeln zu heben, kam ihm auf einmal nicht mehr, unmöglich vor. Nach zwei Minuten hielt Lord Henry in sei nem grotesken Tanz inne. Er stürzte aus sei nem Zimmer auf den Flur. Dabei gab er raun zende Geräusche von sich, die sich noch im mer entfernt wie ein Seemannslied anhörten. Als Lord Henry vor dem Zimmer seiner Nich te Grace angelangt war, brach er plötzlich ab. Das Feuer in ihm brannte inzwischen lichter loh. Es versetzte ihn in einen immer wilderen Rauschzustand. Der Lord stieß die Tür auf. Er sah Grace und den Hund. Das Kind saß ne
ben Hektor auf dem Boden und hatte beide Arme um den Hals des Tieres geschlungen. Es waren das stumme Flehen in ihren hellen Augen und der zarte Liebreiz ihres Kinderge sichtes, was Lord Henry in diesem Moment zur. Raserei brachte. Grace hatte sich noch nie so sehr vor ihrem Onkel gefürchtet wie in diesem Augenblick. Sie erhob sich vom Boden. In dem alten Jagdhun de Hektor erwachte etwas von seiner früheren Kampfeslust. Er knurrte und sprang auf den Lord zu. Lord Henry lacht laut und ganz grauenhaft auf. Wie ein Fels in der Brandung stand er da. Hektor blieb stehen. Dann wich er zurück, und verkroch sich unter Grace’ Bett. Grace war unfähig, sich zu bewegen. Die Klei ne konnte keinen Blick von ihrem Onkel wen den. In diesem Moment wurde die hohe Tür geöff net, die die Zimmer der beiden Kinder mitein ander verband. Isabell erschien. An der Hand hielt sie Peter. Der kleine Lord trug ein schneeweißes Nacht hemd. Sein Gesicht war leichenblaß. Das wei zenblonde, gelockte Haar sah aus wie das feine Goldhaar eines Engels. Lord Henrys grimmiges Gesicht verzerrte sich. Er riß seinen karierten Schal von seinem
Hals und schleuderte ihn durch die Luft. Gleichzeitig ließ Lord Henry seine Fäuste durch die Luft sausen. Peter starrte mit vor Entsetzen weit aufgeris senen Augen auf seinen Onkel. Um seine Lip pen lief ein Zittern. Das Gesicht Lord Henrys verzerrte sich noch stärker. Er stieß einen so fürchterlichen und lauten Schrei aus, daß es durch das große Schloß hallte. Einen kurzen Augenblick lang sah es so aus, als wolle er sich auf seinen Nef fen stürzen. Als Isabell jedoch einen Arm um Peters Schul tern legte, ging eine starke Veränderung mit dem Lord vor sich. Lord Henry wich unwillkürlich zurück. Plötz lich verfiel er in krampfhafte Zuckungen. Sein schwerer Körper bäumte sich auf und fiel wie der in sich zusammen. Er krümmte sich, streckte sich danach wieder, die Fäuste zerteil ten die Luft, als wollten sie die ganze Erde mit ihrer Kraft spalten. Dabei bewegte er seine klobigen Beine in einem seltsamen Rhythmus. Dieser grauenvolle Tanz, den seltsame Laute begleiteten, wurde auf der weißen Wand des Zimmers hinter Lord Henry als ein ins Über menschliche gesteigerter Schatten abgebildet. Der kleine Lord Peter zog seine Hand aus der von Isabell. Er war ganz ruhig. Langsam
streckte er seinen rechten Arm aus und deute te mit dem Zeigefinger auf seinen Onkel. Ohne Anzeichen von Angst, mit klarer Stim me, sagte Peter: »Er ist der Todesvogel. Er war es.« * Auch Dr. Philipp Ashley hatte in dieser Nacht keine Ruhe finden können. Stundenlang hatte der Arzt sich von einer Seite auf die andere ge wälzt. Immer wieder hatte er sich jedes Wort, das er mit Isabell gewechselt hatte, in Erinne rung gerufen. Er stellte einen Plan nach dem anderen auf, wie er Isabell doch noch retten könnte. Und während dieser ganzen Zeit wußte er, daß er nie wieder eine andere Frau als sie lie ben würde. Im Morgengrauen hielt es den Arzt nicht mehr in seinem Bett. Er mußte noch einmal mit Isabell sprechen. Er mußte Isabell so weit bringen, daß sie bereit war, Grimby zu verlas sen. Diesmal, das nahm sich Philipp Ashley fest vor, würde er nicht auf sie hören, wenn sie ihm auferlegte, keine Fragen zu stellen. Er würde auch nicht schweigen, wenn sie ihm
erklärte, daß sie das ihr auferlegte Schicksal zu erfüllen habe. Sein Schicksal, wollte er ihr ant worten, gestalte sich jeder Mensch selbst. Und er werde es nicht zulassen, wollte er sagen, daß sie sich einer Gefahr aussetze, die ihr das Leben kosten könne. Als der Doktor mit seinem Auto in der halben Dunkelheit durch die Ortschaft Grimby fuhr, spürte er, daß etwas anders war als sonst. Nicht, daß bereits in mehreren der kleinen Häuschen Licht brannte. Die Bewohner von Grimby pflegten auch an anderen Tagen früh aufzustehen. Es war etwas seltsam Ungreifbares, Bedrohli ches, das in der Luft zu liegen schien und das Philipp Ashley noch stärker als vorher um die geliebte Frau fürchten ließ. Er beschleunigte das Tempo. Nachdem er den dichten Mischwald erreicht hatte, in dessen Mitte das halbzerstörte Anwesen lag, in dem Isabell sich eingerichtet hatte, war Philipp As hley jedoch gezwungen, sehr langsam zu fah ren. Auf einmal entdeckte er im Scheinwerferlicht auf dem weichen Waldboden Spuren von Schuhen. Er stieg aus und erkannte, daß es mindestens vier Menschen gewesen sein muß ten, die vor kurzer Zeit auf diesem Pfad gegan gen waren.
Philipp Ashley war alles andere als ängstlich. In diesem Moment fühlte der Arzt aber, wie ihm vor Panik der kalte Schweiß auf die Stirn trat. Was war hier passiert? fragte er sich wieder und wieder. Was war in dieser Nacht gesche hen? Dr. Philipp Ashley lauschte. Es war absolut still. Nicht einmal das Rascheln eines Vogels im Laub war zu hören. Und obwohl der Tag an gebrochen war, war von Vogelgezwitscher nichts zu vernehmen. Philipp Ashley erschauerte. Er begann laut mit sich selbst zu sprechen. »Liebe, liebe Isa bell«, stieß er hervor, »warum bin ich nicht früher hierher gekommen? Warum habe ich nicht darauf bestanden, daß du diesen schrecklichen Ort verläßt? Ich wollte dir hel fen. Aber du hast mir nicht erlaubt, dich zu retten. Oh, Isabell!« schrie er auf. Er stürzte den Pfad entlang. Nach zwei oder drei Metern blieb er wieder stehen. Er nahm Brandgeruch wahr. Gleich darauf hastete Philipp Ashley weiter, ohne darauf achtzugeben, daß die langen Ran ken, die an dieser Stelle den Pfad überwucher ten, sich an seiner Kleidung festhakten. Er riß sich los. Weiter, weiter. Endlich sah er die hohe Steinmauer vor sich.
Er überwand sie auf die gleiche Art wie beim letzten Mal. Der Anblick, der sich Philipp Ashley nach sei nem Sprung auf die andere Seite der Mauer bot, war schrecklich. Das große Herrenhaus war fast bis auf die Grundmauern niederge brannt. An einigen Stellen glimmten noch ver kohlte Balken. »Isabell«, flüsterte der Arzt. Er näherte sich dem Haus. Alle paar Schritte blieb er stehen. Er mußte sich überwinden weiterzugehen. So, als wolle er den Moment hinauszögern, an dem er etwas noch Furchtba reres als das abgebrannte Haus zu sehen be käme. Isabell, wo war Isabell? Dr. Philipp Ashley wagte diesen Gedanken nicht weiterzuverfolgen. Etwas in ihm weiger te sich, sich die verschiedenen Möglichkeiten auszumalen, von denen eine genauso entsetz lich war wie die andere. Als er dann inmitten des verkohlten Chaos stand, bemerkte er die Überreste des alten Bio logiebuches mit den Seiten aus dickem Perga ment, das er auf Isabells Kommode gesehen hatte. Es war fast vollständig ein Opfer der Flam men geworden. Eine Seite, auf der die schwar ze Tollkirsche mit den lichtgrünen und gezack
ten Blättern abgebildet war, war jedoch erhal ten geblieben. »Isabell!« schrie Philipp Ashley wieder auf. Gleich darauf fuhr er zusammen. Hinter ihm war ein Geräusch zu hören gewesen. Er drehte sich ruckartig um. »Schneewind«, flüsterte er, als er den Schim mel herankommen sah. Das Pferd hatte die steinerne Mauer, die das Grundstück in weiten Teilen umgab, umgangen. Mit hellem Aufwie hern blieb es neben dem Arzt stehen. In diesem Moment erkannte Dr. Philipp As hley, daß Isabell ihm den Schimmel geschickt hatte. Ohne weiter nachzudenken, schwang er sich auf Schneewinds Rücken. »Schnell, Schnee wind, lauf, so schnell zu kannst«, redete der Arzt dem Tier zu. Schneewind ließ seine Ohren spielen. Vor sichtig setzte es ein Bein vor das andere. An der Stelle, wo die Mauer drei oder auch vier Meter breit niedergebrochen war, wuchs ein weißblühender Strauch. Der Schimmel übersprang ihn mit einem ein zigen Satz. Danach begann er zu traben, und als der Wald sich lichtete, fiel er in weit ausho lenden Galopp.
* Lord Henry hatte seinen Mund weit aufgeris sen, als sein Neffe Peter mit ausgestrecktem Arm auf ihn gezeigt und gesagt hatte: »Er ist der Todesvogel. Er war es.« Es sah aus, als würde der Lord im nächsten Moment einen markerschütternden Schrei ausstoßen. Es löste sich jedoch kein Laut von seinen Lippen. Wie zur Statue geworden, stand der Lord da, das wirre Haar im Gesicht, die Fäuste auf eine Weise erhoben, als wolle er sie im nächsten Moment niederschmettern lassen. Sein rech tes Bein war vorgestreckt, die Augen traten ihm fast aus den Höhlen. Auch Isabell und die Kinder sagten kein Wort. Hektor lag nach wie vor unter Grace’ Bett. So gar der Jagdhund schien den Atem anzuhal ten. Alle waren wie betäubt. Obwohl diese Erstarrung nur wenige Sekun den währte, hatte jeder von ihnen das Empfin den, als sei seit Peters Anklage eine Ewigkeit vergangen. Genauso plötzlich, wie das Leben aus Lord Henry gewichen zu sein schien, kehrte es in ihn zurück. Der Lord stieß jetzt tatsächlich
einen markerschütternden Schrei aus, der kaum noch etwas Menschliches an sich hatte. Mit einem Satz, so, als würde ein wildes Unge heuer ausbrechen, stürzte er zur Tür hinaus. Polternd rannte er die breite Treppe hinunter. Als zu hören war, wie die schwere Haupttür des Schlosses mit lautem Getöse hinter ihm zu gefallen war, blickte der kleine Lord Peter auf seine ehemalige Erzieherin. »Komm«, forderte er sie auf. Isabell ging jedoch erst einmal nicht darauf ein. Sie beugte sich zu ihm hinunter. »Was hast du gemeint, Peter, als du vorhin sagtest, dein Onkel sei der Todesvogel?« erkundigte sie sich. »Und was soll Onkel Henry getan haben?« wollte Grace wissen. Peter blickte sie mit seinen großen Augen an, so, als wundere er sich, daß sie ihm überhaupt diese Fragen stellten. Statt eine Antwort zu ge ben, nahm er sie bei der Hand. »Kommt«, forderte er sie noch einmal so ein dringlich auf, daß Isabell und Grace ihm un willkürlich folgten. Sie verließen das Schloß. Als sie ins Freie tra ten, lag über den ausgedehnten Rasenflächen des Schloßparks noch der dichte Morgennebel. Peter führte seine ehemalige Erzieherin und seine Schwester zu jener Stelle, wo ein sanfter
Abhang in einer Mulde endete. Hier hatten die Kindern wenige Tage vorher mit dem Leiter wagen gespielt. Bevor sie die Stelle erreichten, vernahmen sie laute und ganz gräßliche Schreie, die nur von Lord Henry stammen konnten. Als sie näher herankamen, bemerkten sie nicht nur Lord Henry in der Mulde. Auch die Bewohner der Ortschaft Grimby hatten sich in der Mulde ver sammelt. Nur die ganz Alten und die Aller jüngsten hatte man zu Hause gelassen. Die ehemalige Köchin Ruth, der Pferdepfleger Andrew und der Gärtner Will sowie das Dienstmädchen Laura hatten sich den Ortsbe wohnern angeschlossen. Alle zusammen hatten einen Halbkreis um Lord Henry gebildet. Sie standen so daß sie Isabell mit Peter und Grace auf sich zukom men sahen. Von der anderen Seite der Mulde her tauchte der Arzt Philipp Ashley auf dem Schimmel Schneewind auf. In der Mitte der Mulde tobte Lord Henry of Grimby. Er sprang herum wie ein wildgewor denes Untier. Immer wieder blickte er sich vol ler Entsetzen um. Es war ganz offensichtlich, daß er unter schwerstem Verfolgungswahn litt. Keine Sekunde konnte er innehalten. Überall schien Lord Henry gefährliche Kreatu
ren zu sehen. Unvermittelt rannte er auf den Leiterwagen zu, der den Kindern am Tag zuvor als Spiel zeug gedient hatte. Er riß sich seinen karierten Schal vom Hals und schlang ihn um die Deich sel. Dabei klagte er sich mit wilden und lauten Worten selbst an, die Eltern der Kinder, die seinem Schutz anheimgegeben waren, auf dem Gewissen zu haben. Er führte genau vor, wie er sich Lady Elisa beth auf die Brust gesetzt und ihr mit seinem breiten Schal die Luft abgeschnürt hatte. Danach zeigte er, wie er Lord George Harry, der seiner Frau zu Hilfe kommen wollte, über wältigt und auf die gleiche Weise vom Leben zum Tode gebracht hatte. So wurden die Umstehenden Zeugen einer Tat, die sich vor einem Jahr in einer Voll mondnacht im Schloßpark von Grimby abge spielt hatte. Etwa eine Viertelstunde dauerte das grauen volle Schauspiel. Dann erstarben die laut her vorgebrachten Selbstbeschuldigungen des Lords. Sein kantiger Kopf mit den wilden ro ten Haaren fiel ihm auf die Brust. Er schien auf einmal sterbensmüde zu sein. Die Bewohner der Ortschaft Grimby waren ganz unwillkürlich zurückgewichen. Als es
jetzt still blieb, senkten auch sie die Köpfe. Nur sehr wenige wagten, auf die andere Seite der Mulde zu schauen, wo Isabell mit den Kindern und Dr. Ashley stand. Dr. Philipp Ashley war, nachdem er gesehen hatte, was sich dort in der Mulde abspielte, von Schneewinds Rücken auf den weichen Ra sen gesprungen. Mit dem Schimmel am Zügel war er zu Isabell und den Kindern gegangen. Der kleine Lord Peter hatte während der gan zen Szene Isabell und seine Schwester Grace an den Händen gefaßt. Jetzt löste er sich von ihnen und ging auf seinen Onkel zu. Kurz bevor das Kind bei ihm ankam, blieb es stehen. »Er war der Todesvogel, der auf mei ner Brust gesessen hat. Er hat mir die Luft ab geschnürt. So, wie er es bei meiner Mama und meinem Papa getan hat. Ich habe damals dort hinter dem großen Rhododendron gesessen und alles gesehen. Ich weiß nicht, warum ich es wieder vergessen habe«, berichtete er. Auf einmal begann er herzzerreißend zu wei nen. Isabell hob ihn auf ihre Arme und strich zärtlich über seine weizenblonden Locken. Erst jetzt fiel ihr auf, daß er gar keine Schuhe an den Füßen hatte. Philipp Ashley war zu Lord Henry gegangen und hatte sich zu ihm hinuntergeneigt. Gleich darauf richtete er sich wieder auf.
»Lord Henry lebt nicht mehr. Das Böse, das er unter uns hier in Grimby verbreitet hat, besitzt keine Macht mehr«, verkündete er mit lauter Stimme. Die Bewohner der Ortschaft sahen sich an. Auf ihren Gesichtern drückte sich Beschä mung aus. Schließlich faßte sich der Wirt der Gaststätte, in der Dr. Philipp Ashley seine warmen Mahl zeiten einzunehmen pflegte, ein Herz. Er ging auf Isabell zu, die noch immer den kleinen Lord Peter auf dem Arm hielt. Grace stand mit Hektor an ihrer Seite neben ihnen. »Miß Isabell Bly, es ist nicht Lord Henry al lein, der sich schuldig gemacht hat. Auch ich, Jeremy Blakewood, habe schwere Schuld auf mich geladen. Ich habe Sie als Hexe verleum det. Ich bin einer der Männer, die das Haus angezündet haben, in dem Sie sich vor uns in Sicherheit gebracht hatten.« Der Wirt war jetzt so erregt, daß ihm ganz of fensichtlich die Worte fehlten. Er zögerte, be vor er weitersprach. »Ich kann nicht erwarten, daß Sie mir verzeihen, Miß Isabell Bly«, er klärte er. »Trotzdem wage ich es, Sie um Ver zeihung zu bitten.« Isabell hatte ihm ruhig zugehört. Sie hielt noch immer Peter auf dem Arm. Der kleine Lord hatte seinen Kopf mit den hellen Locken
auf ihre Schulter gebettet und betrachtete den Wirt mit seinen großen hellen Augen. Rechts von Isabell und Peter stand Grace mit Hektor, auf der linken Seite Philipp Ashley. »Mister Blakewood«, erklärte Isabell jetzt freundlich. »Sie haben gehandelt, wie Ihre Angst es Ihnen eingegeben hat. Es ist meine feste Überzeugung, daß Sie nichts Böses schaf fen wollten. Im Gegenteil, Sie wollten das Böse aus der Welt schaffen. Ihre Angst hat Sie und Ihre Freunde auf den falschen Weg geführt und Sie Dinge tun lassen, die Sie ohne diese Angst nie getan hätten.« Während Isabell dem Wirt diese Antwort gab, waren die anderen Bewohner von Grimby hin zugetreten und hatten einen Kreis um sie ge bildet. »Miß Bly hat recht. Es war die Angst, die uns verführt hat, Unrecht zu tun. Ich schwöre, daß ich niemals wieder Angst haben will«, rief ein junger Mann aus. Eine Frau, die noch jung und hübsch war, lä chelte Isabell zu, und Isabell erwiderte das Lä cheln. Eine andere, die schon gebeugt ging, legte für einen kurzen Moment ihre Hand auf Isabells Arm. Dann drehte sie sich um und ging lang sam den Abhang hinauf. Die anderen Bewohner von Grimby folgten
ihr. Der Gärtner Will und drei Burschen nah men sich Lord Henrys an. Der Pferdepfleger Andrew wollte Schneewind in den Marstall führen. Der Arzt ließ es jedoch nicht zu. Er setzte erst Grace und dann Peter auf den Rücken des Pferdes. Als er danach die Zügel des Schim mels ergreifen wollte, schüttelte Isabell lä chelnd den Kopf und nahm sie selbst in ihre Hand. Sie führte Schneewind um das Schloß herum zu dem Grab von Lady Elisabeth und Lord Ge orge Harry. Philipp Ashley ging neben ihr her. Der Jagdhund Hektor folgte ihnen. Keiner sprach. Vor dem Grab hielt Isabell inne. »Lady Elisa beth«, sagte sie mit klarer Stimme, »ich hatte Ihnen mein Wort gegeben, daß ich mich um Peter und Grace wie eine liebende Mutter kümmern würde, falls Sie eines Tages nicht mehr da sein sollten. Vielleicht ahnten Sie schon, daß Sie nicht mehr lange zu leben ha ben würden, als Sie mir dieses Versprechen abnahmen, Lady Elisabeth.« Isabell senkte ihren Kopf kaum merklich und fuhr dann fort: »Ich habe nach Ihrem Tod ver sucht, mein Versprechen so gut wie möglich zu erfüllen. Ohne Ihre Hilfe wäre mir das, nach dem Lord Henry mich des Schlosses verwiesen
hatte, nicht länger möglich gewesen. Aber Sie haben mir den Weg gewiesen, Lady Elisabeth. Sie waren in mir lebendig und haben mir eine Kraft und ein Wissen gegeben, die ich ohne Sie niemals gehabt hätte.« Wieder machte Isabell eine kurze Pause. Dann fügte sie mit leiserer Stimme hinzu: »Ich spüre jetzt, wie Sie aus meinem Körper schwinden, Lady Elisabeth. Ich werde wieder ganz ich selbst, und Sie finden endlich Ruhe. Lady Elisabeth, ich schwöre Ihnen hier an die ser Stelle noch einmal, daß ich Peter und Grace eine gute Mutter sein werde.« Isabell schwieg. Dr. Philipp Ashley trat einen Schritt näher an das Grab heran, in dem die Eltern der Kinder lagen. Fast zwei Minuten lang betrachtete er es. Dann drehte er sich langsam zu Isabell um. »Liebe Isabell, die dunklen Zeiten der Angst sind vorbei. Ich wünsche mir nichts mehr, als mit Ihnen und mit Grace und Peter ein Leben zu führen, das von Liebe und Licht erfüllt ist. Ich liebe dich, Isabell, und ich empfinde auch für Peter und Grace eine große Zärtlichkeit«, gestand der Arzt. Isabell blickte zu den beiden Kindern auf. Als sie auf ihren Gesichtern ein Lächeln bemerkte, griff sie nach Philipps Händen und hielt sie fest.
»Jay Philipp, ich möchte, daß du bei uns bleibst. Für immer und ewig«, sagte sie. Philipp schloß Isabell in seine starken Arme und hielt sie einen Moment lang ganz fest. Dann berührte er unendlich sanft mit seinen Lippen ihre Wangen. Danach hob er Grace von Schneewinds Rücken. Isabell nahm Peter wieder auf ihre Arme. Grace blickte auf das Grab ihrer Eltern. »Ich glaube, Mama und Papa sind jetzt glücklich«, meinte sie. »Ja, sehr glücklich«, echote ihr kleiner Bru der. Philipp setzte Grace und Peter erneut auf den Rücken des Schimmels. Danach hob er Isabell hoch, setzte sie dazu und ergriff die Zügel des Pferdes. Mit Hektor im Gefolge näherten sie sich Schloß Grimby. Der Morgen war inzwischen angebrochen. Helle Sonnenstrahlen spielten in den Blättern der Bäume und Büsche des Schloßparks. * Gut zwei Wochen später erschien ein Mann mittleren Alters auf Schloß Grimby. Es handel
te sich bei dem in tiefschwarzes Tuch gekleide ten Herrn um den Anwalt und Notar Martin Smith, der in London eine der angesehensten Kanzleien führte. Unter Mithilfe von Isabell und Philipp arbei tete der Mann einen Vertrag aus. Der besagte, daß Isabell und Philipp die Vormundschaft von Peter und Grace bis zu deren Volljährig keit übertragen wurde. Es erwies sich, daß das ehemals riesige Ver mögen der Kinder seit dem Tod ihrer Eltern durch die üblen Machenschaften Lord Henrys sehr geschrumpft war. Nicht nur, daß Lord Henry große Summe durch das Roulettespiel verloren hatte. Mit dem größten Teil des Vermögens hatte der Lord den Bau von Schiffen finanziert, wie sie in den Gewässern des Gelben Meeres in Ostasien von Piraten befehligt wurden. Inzwischen war auch herausgekommen, daß der Lord selbst über viele Jahre hinweg derar tige Schiffe befehligt hatte. Im Grunde blieb Grace und Peter außer einer Summe, die man für ihre standesgemäße Aus bildung vorsah, nicht mehr als der Besitz von Schloß Grimby. Dr. Philipp Ashley und Isabell waren jedoch der Meinung, daß es vielleicht sogar ganz gut wäre, wenn die Kinder nicht in übermäßigem
Reichtum aufwuchsen, sondern lernten, sich zu bescheiden. Außerdem, erklärte der Arzt, verdiene er ge nug, um für den Lebensunterhalt der Familie aufzukommen. Eine Familie wurden sie dann tatsächlich. Vier Wochen nach dem Ableben Lord Henrys heirateten Dr. Philipp Ashley und die ehemali ge Gouvernante Isabell Bly auf Schloß Grimby. Die Schloßkapelle erwies sich als zu klein, um die vielen Menschen aufnehmen zu können, die zu ihrer Trauung erschienen waren. Dazu zählten nicht nur die Bewohner der Ort schaft Grimby, sondern auch Freunde von Philipp und Isabell. Einige von ihnen hatten ihre Kinder mitgebracht. Das große Festessen fand in dem großen Sa lon im Erdgeschoß des Schlosses statt. Der Tee wurde jedoch im Park gereicht. Ruth, die ihre Stelle als Köchin auf Schloß Grimby wiederaufgenommen hatte, hatte dazu die herrlichsten Kuchen gebacken. Grace und Peter spielten mit den anderen Kindern. Ihr helles Lachen und fröhliches Ru fen vermischte sich mit den Stimmen der Er wachsenen. Der kleine Lord Peter war einer der eifrigsten bei den kindlichen Spielen. Plötzlich hielt er jedoch inne. Er blickte einem Vogel nach, der
über ihm dahinflog. Es war eine Taube, eine schneeweiße Taube. Der kleine Lord mußte bei ihrem Anblick lä cheln. Mit diesem feinen Lächeln auf seinem zarten Gesicht wandte er sich wieder den an deren Kindern zu.