Atlan - Minizyklus 03 Obsidian Nr. 9
Braune Pest von Arndt Ellmer
Im März 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das d...
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Atlan - Minizyklus 03 Obsidian Nr. 9
Braune Pest von Arndt Ellmer
Im März 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht, hält sich Atlan, der unsterbliche Arkonide, im Kugelsternhaufen Omega Centauri auf. Dieser Sternhaufen ist von den zentralen Schauplätzen der Milchstraße nicht weit entfernt, war aber über Jahrzehntausende von der »Außenwelt« aus nicht zugänglich. Nach vielen Abenteuern hält sich Atlan mit einigen Besatzungsmitgliedern des Raumschiffes TOSOMA auf der so genannten Stahlwelt auf. Als eine schwarze Quader-Plattform materialisiert, erinnert sich Atlan an die »Vergessene Positronik«. Dieses Gebilde durchstreift seit Jahrtausenden die Milchstraße, ohne dass Aufgabe und Herkunft bekannt sind. Ein Transmittersprung geht schief – Atlan und einige seiner Begleiter landen auf der »Vergessenen Positronik«. Währenddessen versucht die Besatzung der TOSOMA, in das Geschehen einzugreifen. Doch es kommt zu einer nicht gewollten Transition. Sowohl Atlan als auch die TOSOMA-Besatzung kommen in einem merkwürdigen Gebiet des Universums heraus – eine Sonne sowie fünf Planeten, die sich auf gleicher Umlaufbahn befinden, umgeben von einer Wolke aus Obsidian. Einer der fünf Planeten wird darüber hinaus von einem Kristallmond umkreist. Das Raumschiff TOSOMA stürzt auf einem der fünf Planeten ab. Die Besatzung wird gerettet und von eigenartigen Robotern in ihre neuen Unterkünfte gebracht. Gemeinsam machen sich die Überlebenden auf die Suche nach dem unsterblichen Arkoniden. Der Zweite Pilot der TOSOMA führt eine Expedition der TOSOMA-Besatzung zum Hauptkontinent Viina. Nachdem ihr Boot kentert, setzen die Gefährten ihren Weg ins Land der Silbersäulen mit einer Dampflokomotive fort.
Atlan und den Archivar Jorge Javales verschlägt es auf Vinara Vier. Sie werden in Zwistigkeiten der Afalharo verwickelt und müssen in der Folge fliehen. Dabei geraten sie in die Fänge termitenähnlicher Tiere, die sie in Kokons spinnen. Atlan wird von seinem neuen Begleiter Tamiljon befreit. Zusammen erreichen sie das Obsidiantor, das sie nach Vinara Drei befördern soll. Tamiljon muss unter allen Umständen dorthin gelangen, da eine Mission von größter Bedeutung davon abhängt. Lethem da Vokoban und seine Begleiter geraten bei der Erkundung der »Schwarzen Perle« in einen Hinterhalt. Sie können fliehen und erreichen die Taneran-Schlucht am Rand von Mertras, dem Land der Silbersäulen. Ohne viel Zeit zu verlieren, setzen sie ihre beschwerliche Reise zur Gebirgsfestung Grataar fort. Zur gleichen Zeit befindet sich Atlan auf Vinara Drei in höchster Not. Der Arkonide ist in Begleitung Tamiljons und Vertretern des Litrak-Ordens unterwegs zur CasoreenGletscherregion. Der Unsterbliche dringt mit den Ordensleuten durch ein Eislabyrinth in den Kerker des »Untoten Gottes« vor und befreit Litrak aus seinem Gefängnis. Auf der Flucht aktiviert der Kristallene verborgene Aggregate, die die Stadt im Eis zum Leben erwecken. Ein Ruck geht durch den Eisboden. Atlan und die verbleibenden Ordensanhänger drohen von den abbrechenden Eisbrocken erschlagen zu werden. Sie retten sich in die Mitte der Stadt in der Hoffnung, dort Schutz zu finden. Eine Transition versetzt Atlan und Tamiljon in eine unbekannte Gegend und nicht, wie erhofft, in den »Canyon der Visionen«. Lethem da Vokoban und seine Begleiter trauen ihren Augen nicht, als die totgeglaubte Li da Zoltral plötzlich auftaucht. Viel Zeit, um sich von dem Schock zu erholen, bleibt ihnen nicht. Gemeinsam versuchen sie, die Oberfläche der Technostadt zu erreichen.
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Arndt Ellmer
Prolog Die mächtige Stadt knirschte. Teile der Aufbauten polterten in die Tiefe, schlugen auf der Plattform und in das Gelände neben dem Fluss ein. Ein Dröhnen breitete sich über das Delta aus. Metall schrammte über Metall. Das Kreischen ging mir durch Mark und Bein. Der Lärm trieb uns in die Flucht. Die Vecorat lösten die Gasse auf, die sie gebildet hatten. Schweigend rannten die dürrbeinigen Wesen flussaufwärts. Nimm dich vor ihnen in Acht! Schmerzhaft stach die Warnung des Extrasinns durch mein Bewusstsein. Ein gewaltiger Schlag folgte, der das Delta erbeben ließ. Der Boden hob sich, dann breitete sich in meinem Magen ein Gefühl von Schwerelosigkeit aus. Es ging abwärts …
1. »Weg hier!«, schrie ich. Der von hartem, schlingenblättrigem Gras überwucherte Boden gab nach – zehn, zwanzig Zentimeter. Die Grasnarbe riss an unzähligen Stellen auf. Mit Wasser übersättigter Sand drängte hervor und klebte an meinen Stiefeln fest. Blasen stiegen auf, es roch nach Moder. Ich packte die »Seherin von Yandan« unter den Armen, zog mühsam die Stiefel aus dem Dreck und rannte hinter den insektoiden Lebewesen her, die ich für Individualverformer hielt – die berüchtigten IVs, uralte Feinde der Arkoniden. Ich machte kleine, schnelle Schritte. Sie verhinderten, dass die Stiefel lange Kontakt zum Boden hielten und sich festsogen. Die Seherin hing wie ein Sack an meiner Seite. Sie erweckte nicht den Eindruck, als bekäme sie etwas von den Vorgängen mit. Ein Stück flussaufwärts existierte eine kleine Anhöhe, auf der sich die Insektoiden sammelten. Eine rettende Insel für Schiffbrüchige!, dachte ich sarkastisch. Leider sind es deren
zu viele. Wir hatten Glück im Unglück. Der Boden um diesen Buckel mitten im Delta bestand aus Felsgestein. Vorsichtig setzte ich die Frau ab. Sie starrte durch mich hindurch, legte dann den Kopf schief, als lausche sie auf irgendetwas. Ihre Lippen bewegten sich lautlos und unaufhörlich. Sie war noch ziemlich jung. Ich schätzte ihr Alter auf 30 Jahre. Sie hatte eine schlanke, trotz des Gewands erkennbare knabenhafte Figur. Ihr klassisch schönes Gesicht mit den dunkelbraunen Mandelaugen wurde von halblangem, glattem Haar eingerahmt, das ebenfalls von dunkelbrauner Farbe war. Trotz der Entrückung zeigte ihr Gesicht einen überheblich arroganten Ausdruck. Das dunkle Samtbraun ihrer Haut verlieh ihr etwas Exotisches. Auch der bunte Kragenschmuck auf dem weißen Kleid erinnerte an ägyptische Schönheiten, wie ich sie von meiner Zeit auf Terra her kannte. Auf dem Kopf saß ein Hut, ähnlich einem Zylinder ohne Krempe, allerdings von asymmetrischer Form. Die Ähnlichkeit mit der ägyptischen Mode zu Zeiten Nofretetes war verblüffend. Mit dem Hut hätte man sie aus großer Entfernung ohne weiteres für die Pharaonengattin halten können. Ob sie meinen fassungslosen Blick bemerkte, mit dem ich sie nach wie vor musterte, wusste ich nicht. Dass ich sie ansah, nahm sie jedoch wahr. »Weißt du, wo mein Freund Cisoph Tonk ist?«, wiederholte sie ihre Frage. »Nein, nicht genau«, wich ich aus. Nach meinem Kenntnisstand hatte er sich zuletzt in der TOSOMA aufgehalten. Woher kannte die Akonin Cisoph Tonk? Und wieso bezeichnete sie das Besatzungsmitglied der TOSOMA als ihren Freund? Die Wächter der Eisgruft hatten erzählt, dass vor kurzem eine große Kugel von außen in der Obsidian-Kluft angekommen war. Es lag nahe, dass es sich um die TOSOMA handelte. Sie war in der Nähe gewesen, als die Transition in die Kluft stattgefunden hat-
Braune Pest te. Hatte wenigstens ein Teil der Besatzung den Transfer unbeschadet überstanden? »Sagen dir folgende Namen etwas?«, forschte ich. »Khemo-Massai, Cayry, Zuunarik, da Vokoban …« Die Akonin schüttelte stumm den Kopf. »Wo hast du Tonk gesehen?«, fragte ich die Frau, die uns und unser Ziel kannte, ohne dass wir ihr vorher begegnet waren. Sardaengar und Litrak bezeichnete sie als Gefahren, die alle Welten bedrohten. Und sie wollte uns zum Canyon der Visionen begleiten. Mit »allen Welten« meinte die Seherin zweifellos Vinara und die vier Spiegelwelten. Und den Kristallmond, ergänzte der Extrasinn. Um ihn dreht sich in dieser Welt alles. Die vier Spiegelwelten waren aus der PsiMaterie des Kristallmondes geschaffen, hatte Sardaengars Projektion behauptet. Als Reaktion auf ihn und andere in die ObsidianKluft Verschlagene. »Weißt du, wo sich Sardaengar aufhält?« Sie reagierte nicht. Ihre Trance erwies sich als ziemlich hartnäckig. Weder Geräusche noch ein Tätscheln der Wangen holten sie in die Wirklichkeit zurück. Ein paar der Insektoiden traten zu uns. Sie fassten die Seherin vorsichtig an den Armen und führten sie ein Stück zur Seite. Unauffällig musterte ich diese Wesen. Uns Arkoniden war es wohl angeboren, zwei Meter großen Insekten von grünlich grauer Farbe mit Misstrauen zu begegnen. Die Vecorat zeigten jedoch keinerlei Feindseligkeit. Sie beachteten mich und Tamiljon mit dem gebotenen Interesse, aber ihre Aufmerksamkeit galt vor allem der abgestürzten Stadt und dem Shainshar, das in ihr wütete. Sie sind vor langer Zeit in die ObsidianKluft verschlagen worden und haben mit den aus der Milchstraße bekannten Individualverformern wenig gemeinsam, dachte ich. Narr! Du bist zu vertrauensselig, warf mir der Extrasinn vor. Sie lauern nur auf eine Gelegenheit, um dir den Garaus machen zu
5 können. Ich hielt die Warnung für übertrieben, den Nachsatz des Logiksektors für lachhaft: Es muss nicht unbedingt eine Übernahme deines Körpers sein. »Atlan«, sagte Tamiljon in diesem Augenblick und deutete flussabwärts. Die ehemalige Eisgruft hatte sich mit ihrem Sockel in den morastigen Untergrund des Deltas gebohrt. Mit deutlicher Schlagseite erinnerte sie an einen Ozeanriesen, den die Flut an den Strand gespült hatte. Diese Stadt würde sich nie mehr in den Himmel erheben. Dafür sorgte schon das Shainshar, dem Tamiljons Hinweis galt. Ein Teil der Stadt war in sich zusammengebrochen. Drei Außentürme fehlten, ebenso die Kugelpyramiden, soweit wir sie von unserem Standort aus erkennen konnten. Der Sockel wies an vielen Stellen Risse auf, die sich schnell erweiterten. Braune, fransige Wucherungen drängten nach draußen. Ein Donnern wie von einem den ganzen Kontinent umspannenden Gewitter kündigte weitere, großmaßstäbliche Zerstörungen im Innern der Stadt an. Die Spitzen der letzten Türme, die wir erkennen konnten, verschwanden. Es dröhnte wie ein leerer Schiffsrumpf, in den ein Kranführer wahllos Schrott hineinfallen ließ. Das Shainshar fraß mit einer Zügellosigkeit, die in der Natur gewöhnlich nicht vorkam. Und es war unersättlich. Überall im Sockel der Stadt bildeten sich Öffnungen. Wie Krakenarme drängten die Wucherungen ins Freie, spalteten letzte Trümmer, die von der Eisgruft übrig geblieben waren. »Es frisst die Technostadt auf«, sagte ich. »Danach wird es sich weiter ausbreiten.« Ich entdeckte Fetzen der Braunen Pest auch im Wasser des Flusses, der sich in einen See ergoss. Die Flutwelle, die der Absturz erzeugt hatte, trug sie schnell davon. Ein paar Stunden höchstens, schätzte ich, bis das Shainshar das offene Meer erreicht und sich über den ganzen Planeten verteilt. Der Braunen Pest widerstand nichts. Auch
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Arndt Ellmer
nicht das Festland und seine Bewohner. Ich ging zu der Seherin. Ihr Blick war jetzt klar. Offensichtlich hatte sie die Trance überwunden. »Wir haben nicht viel Zeit. Beantworte uns schnell ein paar Fragen.« »Eine Seherin gibt Antworten, ohne die Fragen gehört zu haben.« Sie wandte sich an die Insektoiden. »Bringt mir meinen Stuhl.« Zwei der Wesen näherten sich mit einer klapprigen alten Sitzgelegenheit, deren Mechanik quietschte. Wo haben die Vecorat bloß diesen verlotterten Klappstuhl ausgegraben? Die Seherin sank in das Polster und schloss die Augen.
* Ein metallisches Flüstern lag in der Luft. Es kam von der Technostadt. »Das hört sich an wie ein Totengesang«, murmelte Tamiljon. »Die Eisgruft beklagt ihren eigenen Untergang.« Litrak hatte bei seinem Versuch, mit der Eisgruft nach Vinara zum Canyon der Visionen zu transitieren, offensichtlich schwere Fehler begangen. Dies hier war nicht der Canyon, sondern Vinara Fünf. Oder war es Absicht gewesen? Hatte Litrak uns an einen anderen Ort geschickt, während er die Obsidiansäule beim Basislager I zu erreichen suchte und von dort direkt zum Canyon ging? Die Seherin musste uns helfen, die Antworten auf unsere Fragen zu finden. Wenn sie weiß, wo unser Ziel liegt, und die Gefahren kennt, die den Welten des Obsidian-Systems drohen, kennt sie bestimmt auch die Hintergründe, überlegte ich, während ich ungeduldig auf ihre ersten Worte aus berufenem Mund wartete. »Ihr befindet euch im Zandaran-Delta von Vinara Fünf«, flüsterte die Seherin nach einer Weile. »In der Nähe liegt Yandan, die Hauptstadt des Reiches Tanalagan.« »Ein Reich der Vecorat?« Ich benutzte absichtlich die arkonidische Bezeichnung für jenes Fremdvolk aus den Tiefen der
Milchstraße, das sich selbst VeCoRat XaKuZeFToNaCiZ nannte. Diese insektoiden Geschöpfe verfügten über die beängstigende Fähigkeit, ihr Bewusstsein aus dem eigenen Körper zu lösen und es in einen anderen zu übertragen. Dessen Bewusstsein wurde in den Vecorat-Körper geschleudert, in dem es zur Handlungsunfähigkeit verdammt war. Es konnte den erstarrten Insektenkörper nicht benutzen. Die Vecorat galten seit Jahrtausenden als Erzfeinde der Arkoniden. Die Seherin öffnete blitzartig die Augen. Ein Lächeln umspielte ihren Mund. »Ja. Ich bin Anee, die Seherin von Yandan. Königin Drizzt-Rilice wollte meinen Träumen nicht glauben, aber ich sah euch schon vor vielen Nächten das erste Mal und erkannte die bevorstehende Gefahr. Kein Vecorat wird verhindern können …« Sie brach ab und hustete laut. »Sprich weiter! Was wolltest du sagen?« Sie fuhr mit einem leisen Schrei von ihrem Klappstuhl hoch. »Es kommt näher. Es bringt den Tod für uns alle!« Sie deutete anklagend auf die gestrandete Stadt. Das Shainshar überwucherte inzwischen alle Gebäude, drängte aus allen Rissen. Nach oben wuchs es zu schaumartigen Wolkengebilden, von denen der Wind immer wieder Stücke abriss und mit sich forttrug. »Verteilt euch!«, rief ich laut. »Weicht dem Zeug aus! Lebensgefahr!« Die Vecorat schienen nur langsam zu begreifen, in welcher Gefahr sie schwebten. Erste Flocken näherten sich dem Boden. Wo sie Pflanzen oder Tiere trafen, löste sich das organische Gewebe sofort auf und verwandelte sich in eine brodelnde Masse. Die Vecorat staksten auseinander. Um sich schnell fortbewegen zu können, mussten sie sich auf ihre sechs Gliedmaßen stützen und rennen. Einen traf eine ShainsharFlocke am Rückenpanzer. Augenblicklich zersetzte sich das Chitingewebe. Der Vecorat gab ein schrilles Zirpen von sich. Er zappelte, warf sich auf den Rücken, aber das Shainshar kannte keine Gnade. Innerhalb
Braune Pest kurzer Zeit löste sich die Molekularstruktur des Körpers vollständig auf. Die Individualverformer rannten in grotesken Sprüngen davon. Die Seherin zögerte noch, wollte in ihrer Beschreibung der Gefahr fortfahren. Ich zog sie mit mir fort. Hinter ihr segelte eine Flocke auf den Klappstuhl, der sofort seine Konsistenz änderte. Die Lache brodelte eine Weile, dann wogte dort, wo sie gewesen war, ein flacher Haufen der Braunen Pest, der mich irgendwie an einen terranischen Kuhfladen erinnerte. Endlich schien die Akonin zu begreifen, dass sie selbst ebenfalls in Lebensgefahr schwebte. Mit einem heftigen Ruck befreite sie sich aus meinem Griff und rannte davon. »Schneller, Atlan«, keuchte Tamiljon hinter mir. Ich warf einen Blick über die Schulter. Der ehemalige Diener eines Kristallwächters hielt sich den Hals, als bekäme er zu wenig Luft. Es konnte nicht an der NanoHalskrause liegen. Die lag locker auf den Schlüsselbeinen des schwarzhäutigen Humanoiden. Dennoch verzerrte sich sein Gesicht im Schmerz. »Gib mir deine Hand«, sagte ich. Er schüttelte den Kopf, es schien ihm noch stärkere Schmerzen zu bereiten. Ein Schatten fiel auf ihn. Er stammte von einer dieser Flocken. Sie verdunkelte die Sonne und senkte sich auf ihn herab. »Schnell nach links!«, schrie ich. Tamiljon schlug geistesgegenwärtig einen Haken. Keine zwei Meter entfernt berührte das Shainshar den Boden. Tamiljon taumelte. Hilfe suchend streckte er einen Arm nach mir aus, während er mit dem anderen das Gleichgewicht zu halten suchte. Ich packte sein Handgelenk und zog ihn weiter. Das Shainshar verfehlte ihn. Im Zickzack rannten wir nach Norden, immer den Himmel über und hinter uns im Blick. Das Gelände stieg etwas an. Nach schätzungsweise zwei Kilometern hatten wir die Vecorat und ihre Seherin überholt. Ich hielt an. »Der Wind hat gedreht.« Die Flocken drifteten nach Westen, über
7 das Delta hinweg. Anee war völlig außer Atem. »Die Luftströmungen – des Zaman-Sees – haben – uns das – Leben gerettet.« Die Vecorat bildeten zwei Reihen. Sie nahmen die Seherin in ihre Mitte, setzten sie sich auf die verschränkten, oberen Armpaare. Wir warfen einen Blick zurück. Die Plattform und ihre Aufbauten sanken immer mehr in sich zusammen. Die ShainsharWucherungen erreichten inzwischen die Größe von Türmen, die nach und nach abbrachen und ausflockten. »Wie weit ist es bis nach Yandan?«, erkundigte ich mich. »Dreißig Runtsch. Wir erreichen die Stadt am späten Nachmittag.« Sie deutete an der Wasserader entlang nach Norden. Undeutlich schälte sich eine befestigte Uferzone aus dem vormittäglichen Dunst. Ich entdeckte Kaianlagen und kleinere Schiffe. Sie hatten die aufwärts wandernde Flutwelle unbeschadet überstanden. »Wir segeln den Barik hinauf«, sagte die Seherin, »Der Wind steht günstig, die Vecorat sind geschickte Segler.« Ich deutete zum Himmel hinauf. In höheren Luftschichten tauchten erste Flocken auf, die nach Norden strebten.
* Hoch über uns lösten sich die ShainsharFlocken in der großen Hitze auf. Etwa ein Drittel der unregelmäßigen Gebilde verschwand auf diese Weise. Die anderen trieben weiter mit dem Wind, der plötzlich in alle Richtungen zu wehen schien. Anee verdrehte übergangslos die Augen, bis ich nur noch das Weiß der Augäpfel sah. »Sternenfall auf Vinara«, flüsterte sie mit rauer Stimme. »Immer mehr Trümmer regnen herab, viele kleine zwar, aber auch immer mehr große.« Ein einziges Trümmerstück von ein paar Kilometern Durchmesser, das in die Planetenkruste einschlug, konnte den Untergang
8 aller Intelligenzwesen, Pflanzen und Tiere auf Vinara herbeiführen. Wem es nicht rechtzeitig gelang, den Planeten zu verlassen, hatte keine Überlebenschance. Wir erreichten den ersten Engpass im Fluss. Die nach Norden zu immer höher auflaufende Flutwelle hatte einen Bootshafen überrollt und mehrere Dutzend kleiner und mittelgroßer Boote in den Barik gespült. Sie verstopften einen Großteil der Fahrrinne. Die Vecorat verschwanden unter Deck und kehrten mit langen Stangen zurück. Sie benutzten sie teils als Ruder, teils als Abstandshalter. Im Zickzack dirigierten sie das Boot durch die Trümmer. Am Ufer entdeckte ich Hundertschaften der Einheimischen. Sie räumten auf und unterhielten sich in ihrer zirpend-rasselnden Muttersprache. »Vor der Stadt gibt es Schwierigkeiten«, wandte sich Anee an mich. »Die Flutwelle hat den Aro-See und die umliegenden Kanäle zum Überlaufen gebracht. Die aufgestaute Flutwelle erreichte eine Höhe wie unser hinterer Mast.« Ich schätzte seine Länge auf knapp fünf Meter. »Die Probleme werden mit dem Eintreffen der Braunen Pest nicht weniger. Wenn sie Yandan erreicht, muss die Stadt evakuiert sein. Die Vecorat dort drüben täten gut daran, alles stehen und liegen zu lassen.« Die Akonin musterte mich mit abschätzendem Blick. »Es wird Zeit, dass du dich mit der Mentalität der Vecorat auseinander setzt. Yandan ist nicht irgendeine Stadt. Sie ist das Nest, der Stock des Vecorat-Volkes. Diese Wesen werden ihn nicht aufgeben. Lieber gehen sie mit ihm unter. In Yandan leben die Seelen der Verstorbenen und der Ungeborenen mitten unter ihnen.« »Das ist gleichbedeutend mit dem Untergang ihres Reiches?« »Vielleicht hat das Schicksal es ebenso vorherbestimmt wie meine Begegnung mit dir. Mein Original habe ich gesucht, dich aber gefunden.« Ein Original und seine Kopie? Instinktiv spürte ich, dass wir vor der Lösung eines
Arndt Ellmer weiteren Rätsels standen. Dass es sich bei Vinara Zwei bis Fünf um Spiegelwelten des Originalplaneten handelte, wusste ich. Ferner hatten die Krakenwesen von biophorischen Spiegelwesen gesprochen. Damit ließ sich der Gedanke, dass auch Lebewesen gespiegelt worden sein könnten, nicht mehr von der Hand weisen. Die Holoprojektion Sardaengars in der Eisgruft hatte den Begriff »Spiegelwesen« ebenfalls benutzt. »Bitte erkläre mir das etwas genauer«, bat ich. »Seit meiner frühesten Jugend bin ich mir bewusst, dass ich nicht allein lebe«, fuhr die Akonin fort. »Zwar als Individuum vollständig, aber dennoch nur als ein Teil von etwas Größerem. Häufig sind damals Eindrücke und Bilder meines ›Vorbilds‹ auf mich übergesprungen. Ich erfuhr Dinge, die sich in einer identischen Landschaft, aber eben nicht in meiner Umgebung abspielten. Und doch war ich es, der es erlebte. Eine Art ›Über-Ich‹, dachte ich, bis ich eines Tages genug Eindrücke erhalten hatte und die Wahrheit verstand. Das war zu dem Zeitpunkt, als sich meine seherischen Fähigkeiten verstärkten. Damals fand ich an einem ›Ort der Kraft‹ die große Obsidianperle.« Sie nestelte an ihrem Kragenschmuck und zog eine Kette mit einer Perle daran hervor. Ich schätzte ihren Durchmesser auf acht Zentimeter. Die Seherin sah nur auf die Perle, die sich übergangslos in weißes Licht hüllte, eine flackernde Aureole aus winzigen energetischen Entladungen. Hastig ließ Anee sie wieder unter ihrem Gewand verschwinden. »Von diesem Zeitpunkt an existierte eine ständige Verbindung zu meinem Vorbild. Ich nannte es ›Große Schwester‹.« Anees Kinn sank auf die Brust. Sie schloss die Augen. Ihr Atem ging hektisch. »Du hast noch immer Verbindung zu ihr?«, fragte ich leise. »Nein«, fuhr sie mich an. »Es nimmt mich mit, was alles geschehen ist. Es ist längst Vergangenheit, Arkonide!«
Braune Pest Du Ausbund an Einfühlungsvermögen!, lästerte der Extrasinn. »Meine Große Schwester ist Cisoph Tonk begegnet. Sie scheint etwas für ihn empfunden zu haben. Freundschaft – vielleicht Liebe? Ich weiß es nicht. Bald schlugen die Bilder und Stimmungen in Entsetzen und Schmerz um. Ich wollte das alles nicht sehen. Das Ereignis – es ging um Cisoph Tonk, da bin ich mir ganz sicher. Etwas Schlimmes muss geschehen sein …« Ein Stöhnen entrang Anees Brust. Ich sah, dass ihre Hände leicht zitterten. »Sprich weiter«, flüsterte ich, obwohl sich alles in mir dagegen wehrte, mehr zu erfahren. »Ein entstellter Körper, irgendwo in der Wildnis.« Die Akonin fuhr auf, starrte mich wütend an. »Es ist eine Qual, solche Bilder immer und immer wieder sehen zu müssen und keine Möglichkeit zu haben, die Tür zu schließen. Es sei denn, ich beginge Selbstmord. Aber bin ich sie dann wirklich los? Die ganze Zeit versuchte ich, die Eindrücke klarer und deutlicher werden zu lassen. Ich wollte Kontakt zu meiner Großen Schwester herstellen. Es ging nicht. Ich kenne weder ihren Namen noch den Ort, an dem sie lebte.« »Lebte?« »Vor einigen Tagen riss die Verbindung zwischen uns ab, von einem Augenblick auf den anderen, als habe jemand mit einem Messer die unsichtbare Schnur durchtrennt. Es war wie ein heftiger Schlag. Ich begriff, dass meine Große Schwester nicht mehr am Leben war.« Anee lachte rau, ehe sie fortfuhr: »Ich war froh und traurig zugleich. Und ich war allein, endlich allein, unverfälscht und echt, keine Kopie.« »Ein Spiegelwesen?« Die Akonin sah mich irritiert an. »Ich verstehe nicht …« »Schon gut. Nicht so wichtig.« Die Vecorat hatten inzwischen den Engpass passiert. Sie räumten die Stangen weg und setzten die Segel.
9 Vereinzelt zogen weiße Cumuluswolken über den Himmel. Dazwischen sammelten sich braune Flocken zu dichten Gruppen, als wollten sie sich zur Reise in den Norden sammeln. Irgendwie sah es aus, als stecke Absicht dahinter. Vielleicht lenkt der Instinkt das Shainshar, sich in alle Richtungen gleichzeitig zu verteilen, Stützpunkte zu errichten und von dort aus flächendeckend vorzurücken, überlegte ich. Eine schnellere und effektivere Methode gibt es nicht.
* Noch sah ich die Zusammenhänge undeutlich und wie durch einen imaginären Nebel hindurch. Eine unbekannte Kraft hatte mich in die Obsidian-Kluft versetzt, in der sich geheimnisvolle Dinge ereigneten. Gleichzeitig schien das System aus fünf Planeten und dem 1126 Kilometer durchmessenden Kristallmond vor dem Untergang zu stehen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der erste große Asteroid des Obsidian-Ringes auf der Oberfläche Vinaras einschlug und alles Leben vernichtete. Fünf Welten auf einer gemeinsamen Umlaufbahn, vier davon offenbar psionische Kopien des Originals, ein solches System musste extrem empfindlich gegenüber Veränderungen sein. Oder extrem elastisch!, korrigierte mich der Extrasinn. Du begehst außerdem den Fehler, dich zu sehr auf Nebensächlichkeiten zu konzentrieren. Und was ist nach deiner Ansicht die Hauptsache? Du stehst wieder einmal im Mittelpunkt kosmischer Ereignisse. Litraks Ausspruch lässt keinen Zweifel zu. »Ich kann dich nicht töten, Kosmokratenknecht!«, hatte das durchsichtige Kristallwesen vom Aussehen einer Gottesanbeterin gebrüllt. »Du hast mich gerettet! Nach all den Jahrmillionen … Eine Ewigkeit lasst ihr mich allein, niemand hilft mir … Was ich erleiden musste …«
10 Seit jenem Zeitpunkt in der Eisgruft argwöhnte ich, dass die Kosmokraten mich wieder einmal vor ihren Karren gespannt hatten. Vielleicht war es aber auch nur die Aura eines Ritters der Tiefe, die Litrak zu seinem Ausspruch veranlasst hatte. Inzwischen war ich der Projektion Sardaengars begegnet, hatte aus dem Mund des Perlenschleifers und Verräters Enhamor die panischen Worte des »Herrn der Welten« vernommen. »Kristallprinz! Was hast du nur getan? Litrak ist frei! Wer soll ihn jetzt noch aufhalten?« Ich wusste aus dem Mund der Seherin, dass Sardaengar nicht irgendeine Vermutung ausgesprochen hatte. Das Schicksal der Obsidian-Kluft hing offensichtlich an einem seidenen Faden. Ich ging zum Heck des Segelboots. Mein Blick schweifte über das Delta, das sich als riesige Schilf- und Binsenlandschaft bis zum Meer erstreckte, eingerahmt von mehreren Flussläufen und dem Zaman-See in der Mitte. Flussabwärts ragte als winziger brauner Fleck in einer grünen und grünblauen Umgebung die Technostadt auf, besser gesagt das, was das Shainshar von ihr übrig gelassen hatte. »Atlan?« Ich wandte mich um. Tamiljon stand mit hängenden Schultern da. »Ich möchte mich bedanken. Du hast mir mit deiner Warnung das Leben gerettet. Wir sind jetzt quitt.« Ich versuchte in dem schwarzhäutigen, haarlosen Gesicht mit den leicht gelblichen Augäpfeln zu lesen. Von Anfang an war ich diesem Wesen mit gemischten Gefühlen entgegengetreten. Meine Vorbehalte hatten sich in der Zeit unseres Zusammenseins eher verstärkt. Dass er mir damals das Leben gerettet hatte, traf zwar zu, aber Jorge Javales, der 87-jährige Archivar der TOSOMA, war dabei gestorben. »Quitt sind wir keineswegs«, antwortete ich. Täuschte ich mich, oder sah Tamiljon
Arndt Ellmer krank aus? Irgendwie hatte ich den Eindruck, als sei er geschwächt. Vielleicht lag es ja auch an den langsamen, etwas unbeholfenen Bewegungen, mit denen er sich entfernte. In seinem Hals steckte ein Splitter Litraks. Hatte das von mir aus der Eisgruft befreite Wesen so etwas wie eine Verbindung zu uns? Vermutlich war Litrak permanent über unseren Standort informiert. In einer Welt, in der psimaterielle Kristalle eine Hauptrolle spielten und in der ein Wesen wie Sardaengar aus dem Mund eines Perlenschleifers sprach, musste ich von solchen Gegebenheiten ausgehen. Wer bist du, Sardaengar? Ich erinnerte mich an das schallende Gelächter Tamiljons, nachdem Sardaengar aus Enhamors Mund gesprochen hatte. Hatte er sich über etwas amüsiert, was Litrak ihm durch den Kristall mitgeteilt hatte? Frag ihn!, drängte mein Extrasinn. Er kann nicht anders und muss dir die Wahrheit sagen. Mit dem Halsband aus Nanomodulen konnte ich Tamiljon jederzeit zwingen. Später!, antwortete ich. Im Augenblick bereiteten mir die Flockenherden am Himmel größeres Kopfzerbrechen.
2. In den ersten Augenblicken hatte Lethem da Vokoban das Gefühl, der Entzerrungsschmerz zerreiße seinen Körper in winzig kleine Fetzen. Er stöhnte und stützte sich dann hastig am Boden ab, weil er das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Mühsam gelang es ihm, den Oberkörper aufzurichten. Vor Lethems Augen drehten sich feurige Kreise in Regenbogenfarben. Nach und nach verschwanden sie und machten einer nüchternen Welt aus Schwarz und Weiß Platz. In ihr schienen sich die Atome langsam wieder zu Molekülen zusammenzusetzen. Der Fonshoord irgendwo in seiner Nähe stieß ein Brüllen aus, kurze, abgehackte
Braune Pest Laute, begleitet von einem gewaltigen Stampfen seiner zwölf Beine. Wieder kämpfte der Arkonide um sein Gleichgewicht. In einer gewaltigen Willensanstrengung gelang es ihm, die Arme hochzunehmen und die Handflächen auf die Ohren zu pressen. Der Lärm ließ kaum nennenswert nach. Dafür wich der Schmerz fast übergangslos. Das Flirren verschwand, die Konturen der Umgebung – zunächst nur verschwommen zu erkennen – erhielten ihre alte Schärfe und die Farben zurück. Der Fonshoord brüllte noch immer im Stakkato. Lethem empfand es als akustischen Wackelkontakt, gerade so, als setze sein Gehör in regelmäßigen Abständen aus. »Sei still«, murmelte er ohne jede Chance, dass Dismeeder ihn hörte. »Mir platzen gleich die Trommelfelle.« Kythara rührte sich. Er sah ihre Hände, die über den Metallboden tasteten. Ein Stück hinter ihr schüttelten Scaul, Zanargun und Ondaix ihre Benommenheit ab. Nur bei dem Fonshoord schienen die Symptome der Transition nicht abzuklingen. Er brüllte weiter, als hätten ihn die Ovalroboter auf ein Dutzend Spieße gesteckt. Lethem holte tief Luft. Er riss die Arme hoch und schwenkte sie hin und her, um Dismeeder auf sich aufmerksam zu machen. Es half nichts. Hastig bedeckte er wieder seine Ohren. Wo war Li? Er hielt nach ihr Ausschau, aber da hingen nur die goldenen Ovalroboter in der Nähe, stumme Zeugen eines Vorgangs, der für sie nichts Außergewöhnliches darstellte. Die Roboter rührten sich nicht, warteten ab. Lethem nahm es als Zeichen, dass die Frau in ihrem seltsamen Paillettenanzug die Technostadt zumindest teilweise unter ihrer Kontrolle hatte. Kythara verließ den Platz, an dem sie kauerte, kroch auf den Fonshoord zu. Lethem sah, dass sie ihre Lippen bewegte. Dismeeder brach sein Gebrüll ab, schlang die vier Armtentakel um den Bauch und torkelte. »Vorsicht!«, schrie die Varganin. »Hinter
11 dir!« Sie sprang auf. Erleichtert beobachtete Lethem, wie sie innehielt und ihm beruhigend zuwinkte. »Beinahe hättest du Li da Zoltral erschlagen«, hörte er die Frau sagen. Li da Zoltral, Atlans Freundin, die Frau von Arkon, die zunächst in der ATLANTIS und dann in der TOSOMA an der Seite des Unsterblichen gewesen war; Li, die in der Stahlwelt gestorben war und deren Körper der Kosmokratenroboter Samkar mitgenommen hatte. Von Samkar hieß es, dass es sich um den echten Igsorian von Veylt handelte, der einst um seine Berufung zum Ritter der Tiefe betrogen worden war. Lethem wusste das von Atlan, aber es sagte ihm nicht sonderlich viel. Die Existenz der Ritter war ihm bekannt, auch deren Bedeutung in ferner Vergangenheit. Mehr wusste er allerdings nicht. Schwankend kam der Arkonide auf die Beine. Dismeeder zog sich ein Stück zurück. Wo er niemanden gefährdete, wälzte er sich am Boden, bis der Entzerrungsschmerz verklungen war. Für ihn war es eine neue Erfahrung, er wirkte reichlich verwirrt. Kythara blieb bei ihm, tätschelte seinen riesigen Hals und redete beruhigend auf ihn ein, bis er wieder klar denken konnte. Lethem wankte zu der Stelle, an der die Arkonidin lag. Ein Splitter des Asteroiden hatte ihren Anzug und den Körper durchschlagen. Aus der Wunde an der Brust und am Rücken sickerte noch immer Blut. Winzige Mengen nur, aber dafür ohne Unterlass. Der seltsame Anzug hatte einen transparenten Helm entfaltet, der ihren Kopf umhüllte. Li atmete schwer und unregelmäßig. Lethem wollte den Helm öffnen, damit sie besser Luft bekam. Es ging nicht. Die Medofunktion ihres seltsamen Anzugs war jedoch aktiv, wie sie selbst gesagt hatte. Zwischenzeitlich war Li bewusstlos. Der Schmerz und die Transition forderten ihren Tribut. Lethem rief sich in Erinnerung, was die
12 Arkonidin gesagt hatte. Ihre Kontrolle über die Technostadt funktionierte nur teilweise. Und ihre Geräte zeigten an, dass sie mit weiteren, schweren Asteroideneinschlägen rechnen mussten. Deshalb also die Transition! Wo sind wir herausgekommen?, fragte sich der Arkonide. Ist das Vinara Zwei, wie sie sagte? Sardaengar weilte vermutlich hier auf dieser Spiegelwelt. Und wo Sardaengar ist, treffen wir vielleicht auch Atlan. Noch immer ruhte Lethems Blick auf der Artgenossin. Es gab nur eine sinnvolle Erklärung für das Erscheinen der Toten. Samkar hatte sie reanimiert und sofort wieder in den Einsatz geschickt. Parallel zur TOSOMA musste sie in die Obsidian-Kluft übergewechselt sein, vielleicht sogar mit demselben Transitionsvorgang. Wenn der Kosmokratenbote sie geschickt hatte, hatte sie einen Auftrag. Lethem fragte sich, welcher es war. Sie hatte sich in der Gebirgsstation aufgehalten. Ihre Bemerkung über Sardaengars Aufenthaltsort hatte nicht gerade freundschaftlich geklungen. Lethem mutmaßte, dass sie dem Uralten Herrn der Welten nicht unbedingt freundlich gesinnt war. Er schätzte die Konstellationen ab, die sich daraus unter Umständen ergaben. Wenn Atlan mit Sardaengar zusammenarbeitete, musste ihn die Gegnerschaft zu Li da Zoltral wie ein Schock treffen. Vielleicht lag das sogar im Interesse einer der Mächte im Hintergrund. Hoffentlich erwachte Li bald. Solange sie bewusstlos war, konnte sie ihre Informationen nicht weitergeben. Und die, darüber war sich der Arkonide nach den letzten Ereignissen im Klaren, brauchten sie dringend. Lethem fragte sich, wieso ausgerechnet Li schwer verletzt wurde, während alle anderen keine Blessuren davongetragen hatten, nicht einmal der riesige Fonshoord. Fast war er geneigt zu glauben, dass kein Zufall dahinter steckte. Allerdings sah es so aus, als befänden sie sich erst einmal in Sicherheit. Die Ovalroboter schwebten noch immer reglos in der Luft, als seien sie abgeschaltet oder
Arndt Ellmer warteten auf Befehle. Lethem half Scaul, Zanargun und Ondaix auf die Beine, dann kümmerten sie sich um Kythara und den Fonshoord. Dismeeder jaulte leise vor sich hin, während die Varganin seinen Kopf tätschelte. »Es ist alles in Ordnung«, beruhigte sie ihn. »Die Stadt hat eine Transition durchgeführt.« Lethem war nicht sicher, ob das fünfgeschlechtige Riesenwesen mit diesem Begriff etwas anfangen konnte. »Lass es gut sein«, sagte er. Vielleicht war es besser, wenn der Fonshoord vorerst nicht erfuhr, dass sie sich nicht mehr auf der Welt befanden, die er kannte.
* Lethem schätzte den Durchmesser der Technostadt auf mehr als einen Kilometer. Der golden schimmernde Sockel war einige hundert Meter hoch und von unregelmäßigem Grundriss. Zwischen verschnörkelten Aufbauten ragten zierliche Türmchen auf, hin und wieder eine Zwiebelkuppel. Es gab architektonisch gewagte Ausleger, durch gläserne Brücken und Viadukte verbunden. An den vielfältig geometrisch und asymmetrisch gestalteten Fassaden zogen sich Arkaden und Säulenreihen entlang. Es gab Balkone, Erker und Terrassen, alles auf etliche Dutzend Ebenen oder mehr verteilt. Manche trugen üppige Vegetation in der Art von hängenden Gärten. Im Außenbereich ragten lange Kristallstacheln in alle Himmelsrichtungen. Blauweiße Lichtbögen und Entladungen zuckten an ihnen entlang. An Seifenblasen erinnernde, bis zu etwa dreißig Meter durchmessende Sphären trieben einzeln oder in Trauben um die Plattform, landeten, stiegen wieder hoch. Manche verschwanden übergangslos und tauchten nicht wieder auf. Lebewesen schien es in der Technostadt nicht zu geben, zumindest hatte Lethem bisher keine entdeckt. Der Arkonide musterte die Ovalroboter in der Nähe. Die obere Rundung mit ihren Sen-
Braune Pest soren glich einem filigran facettierten Rubin. Die untere wies eine Perforation auf, vermutlich handelte es sich um die Öffnungen für die Prallfeldprojektoren. Die Maschinen rührten sich nicht. Sie verhielten sich, als würden sie auf Befehle warten. Lethem nahm es als Anzeichen dafür, dass Li da Zoltral die Stadt tatsächlich bis zu einem gewissen Grad unter ihre Kontrolle gebracht hatte. Er wandte sich um. »Alles in Ordnung, Dismeeder?« »Ja, es geht mir gut.« Lethem ging zum Rand der Plattform. Die Gefährten folgten ihm. Nur der Fonshoord blieb an Ort und Stelle, ein einsamer und aufmerksamer Wächter über die bewusstlose Arkonidin. »Wir überfliegen einen Ozean«, stellte der Zweite Pilot der TOSOMA fest. »Kann jemand etwas mit dem Küstenverlauf dort drüben anfangen?« Seine Frage galt den beiden Viinghodorern. Ondaix schob die mächtigen Schultern nach vorn. Die buschigen Augenbrauen zuckten. Der Springer lachte belustigt, sagte aber nichts. Lethem musterte die Varganin. Sie schüttelte verhalten den Kopf, eine Geste, die sie ihm und den beiden anderen TOSOMAAngehörigen abgeschaut hatte. »Wasser sieht überall gleich aus«, sagte sie. Die Technostadt sank tiefer. Lethem schätzte die Distanz von der Plattformunterseite bis zur Wasseroberfläche auf nicht einmal hundert Meter. »Warten wir eine Weile.« Scaul Relum Falk schwitzte schon wieder. »In Flugrichtung scheint sich etwas zu tun.« Undeutlich erst, dann immer schärfer tauchte eine Küstenlinie aus dem Dunst auf. Einzelne Inseln ragten aus dem Wasser. Ein Stück dahinter leuchteten tiefblaue Fäden von mäandrierenden Wasserläufen. Kythara räusperte sich. »Die Konturen kommen mir bekannt vor. Was sich da aus
13 dem Dunst schält, ist die Lagunenstadt Giascon auf Vinara Zwei.« Li da Zoltral hatte ihr Ziel also erreicht. Irgendwo auf dieser Welt hielt sich Sardaengar auf. In Giascon vielleicht … Lethem rannte zu der Arkonidin hinüber. Sie war noch immer ohne Bewusstsein. Aber sie atmete gleichmäßiger als vorher. Die Medofunktion ihres Anzugs schien zu funktionieren. »Wach auf«, flüsterte er. »Es ist wichtig. Wir sind angekommen …« Ein Flattern der Augenlider hinter der geschlossenen Helmscheibe hätte ihm genügt. Aber da war nichts. Li konnte ihn nicht hören. »Vorsicht!«, rief Kythara in diesem Augenblick. »Die Roboter …«
* Der Boden erzitterte – nicht von den Maschinen. Es war mehr ein Beben, das die ganze Stadt erfasste. Tief aus dem Innern des Sockels unter ihren Füßen drang ein Wummern, das alsbald in ein Stampfen überging. Die Plattform zitterte stärker. Lethems Blick wanderte hastig zwischen den Robotern und Giascon hin und her. Die Technostadt hielt Kurs. Ihre leichte Neigung blieb unverändert, die Abweichung betrug höchstens zwei Grad aus der Waagrechten. Die goldenen Ovalroboter hielten für ein paar Augenblicke inne. Als sie sich erneut in Bewegung setzten, taten sie es mit Nachdruck. Und sie ließen keinen Zweifel daran, was sie vorhatten. Blitzartig fuhren sie Tentakel aus, die sich um die Körper und Gliedmaßen der »Fahrgäste« wickelten. »Leistet keine Gegenwehr, sie wäre sinnlos«, sagte der Arkonide. Die Roboter verfügten nicht nur über größere Körperkräfte, sie bestimmten auch, was auf und in der Technostadt geschah. Der Ovalroboter hob Lethem mühelos hoch und trug ihn davon. Der Arkonide verrenkte sich den Hals, um den Blickkontakt mit den Ge-
14 fährten zu behalten. Dismeeder peitschte erregt mit seinem mächtigen Schwanz, aber nach einem Zuruf Kytharas ergab er sich ebenfalls in sein Schicksal. Die Tentakel der Roboter waren zu kurz für ihn. Die Maschinen setzten Prallfelder ein. Zwischen hohen Arkaden führte ihr Weg in einen Röhrengang, an dessen Ende eine Halle mit Antigravschächten lag. Die Roboter transportierten sie nach unten ins Innere der Technostadt. Lethem zählte ab. Sie waren vollzählig mit Ausnahme Li da Zoltrals. Die Arkonidin genoss eine Sonderbehandlung, was ihn nicht groß verwunderte. Die Ovalroboter akzeptierten sie als Befehlshaberin. Eine Arkonidin! Lethem wandte sich an seinem Transporteur. »Gleich kommt ein Seitengang. Setz uns darin ab!«, verlangte er. Die Maschine ignorierte ihn. Offensichtlich gehörte mehr zum Status eines Befehlshabers, als Arkonide zu sein. Bei allen Sternengöttern! Tief unter ihnen flammten Scheinwerfer auf. Sie beleuchteten das Ende des Schachtes und eine Halle, in der sich weitere Roboter aufhielten. Die Maschinen setzten sie mitten in der Halle ab. Der Ring ihrer Bewacher war großzügig dimensioniert. Es lag an dem Fonshoord, der mit seinen fast 30 Metern Körperlänge mit knapper Not durch den größten Schacht gepasst hatte. Jetzt schienen die Maschinen so etwas wie Respekt vor dem Platzbedarf des Riesen zu entwickeln. Wir müssen hier wieder raus, bevor Giascon hinter uns liegt, dachte Lethem. Bloß wie? Es gelang ihm, mit den Fingern der rechten Hand an das Multifunktionsarmband am linken Handgelenk zu kommen. Er aktivierte das Funkgerät. »Da Vokoban an da Zoltral«, sagte er. Seine Stimme klang heiser, der Mund war wie ausgedörrt. Die Luft in der Stadt wies keine nennenswerte Feuchtigkeit auf. »Hol uns schnell hier raus!« Sie antwortete nicht, war offensichtlich
Arndt Ellmer immer noch bewusstlos. Er erkannte es Augenblicke später, als die Roboter sie als Letzte der Gruppe in einem Prallfeld hereinschoben. Verzweifelt blickte Lethem um sich auf der Suche nach einer Möglichkeit, den sturen Maschinen ein Schnippchen zu schlagen und zu entkommen. Er fand nichts außer blanken Metallwänden und ein paar Korridoren, an denen Schutzfelder flimmerten. Die Hilflosigkeit versetzte ihn in Wut. Am liebsten wäre er mit blanken Fäusten auf seinen Transporteur losgegangen. Kythara sagte etwas, aber er beachtete es nicht. Wenn es ihnen gelang, drei oder vier der Maschinen lahm zu legen, reichte das als Schutzschild für die Vorderseite. Den Rücken hielten sie sich mit dem Fonshoord frei. So musste es gehen! Lethem überlegte, wie er seinen Ovalroboter am besten hereinlegte, damit der ihm mehr Spielraum gab oder ihn auf dem Boden absetzte …
3. Yandan lag an einem Hügel mitten zwischen den Flussläufen des Zandaran-Deltas. Wuchtige Mauern fassten die Stadt ein, die Tore waren groß und ziemlich breit. Zurzeit standen sie offen, damit das Wasser abfließen konnte. Die Flutwelle der abgestürzten Technostadt hatte in den unteren Vierteln zwischen dem Hafen und dem Barik Schäden angerichtet und Leben gefordert. Von der Reling aus sah ich Kisten, in die die Vecorat ertrunkene oder von Trümmern erschlagene Artgenossen legten und abtransportierten. Überall lagen zerschmetterte oder leckgeschlagene Boote. Transportkarren entdeckte ich so gut wie keine. Das Leben der Stadt spielte sich hauptsächlich auf den Wasserstraßen ab. »Es hat die Stadt unvorbereitet getroffen«, stellte die Seherin fest. Ihre Begleiter holten die Segel ein. Mit zitterndem Ruder glitt das Boot zwischen Holztrümmern und allerlei Unrat entlang bis
Braune Pest an die Kaimauer, die ein Stück weiter nördlich in die Stadtmauer überging. Der Barik führte im Osten an Yandan vorbei. Ein breiter Kanal zweigte nach links ab. Nach Anees Aussage war das der Stadtkanal. Er teilte Stadt und Hügel in zwei Hälften und verband den Fluss mit den Seen im Westen und anderen Flussläufen wie dem Nirik. An einer der wenigen noch intakten Anlegestellen warf einer der Vecorat das Seil mit der Schlaufe aus. Es traf den Poller an der Kaimauer, rutschte über den Kopf und hielt. Während das Boot langsam vorbeiglitt, spannte sich das Seil und bremste das Boot ab. Die Vecorat zogen das Fahrzeug gegen die Mauer, bis es stilllag. »Dort! Sieh nur!« Tamiljon deutete auf einen der Wehrgänge an der Stadtmauer. Bewaffnete Vecorat zogen auf. Sie formierten sich und marschierten die Treppe herab, die vom Wehrgang der Stadtmauer zum Kai führte. »Das gilt uns«, sagte ich zu der Akonin. »Wie sicher sind wir in deiner Begleitung?« »Mein Wort ist Befehl. Wen ich in die Stadt bringe, der wird als Freund empfangen.« »Dann bin ich beruhigt.« Innerlich war ich alles andere als das. Die Vecorat trugen lange Speere mit Metallspitzen in ihren unteren Armpaaren. Auf ein Kommando des Anführers hin brachten sie die Waffen aus der Senkrechten in die Waagrechte, so dass sie mit den Spitzen auf uns deuteten. »Vielleicht sollten wir lieber weiterfahren«, meinte Tamiljon mit unüberhörbarer Hast. Eigentlich war ich seiner Meinung, aber ich entschloss mich, der Seherin zu vertrauen. Wenigstens vorläufig. Anee gab eine Reihe zirpender Laute von sich. Die Vecorat verließen das Boot und räumten den Unrat und die Trümmer zur Seite, die die Flutwelle zurückgelassen hatte. Erste Schaulustige strömten herbei. Erneut gab die Seherin Anweisungen. Ihre Begleiter bahnten eine Gasse durch die
15 Menge. »Folgt mir!«, sagte die Akonin. »Es ist Zeit!« So schnell es ging, kletterten wir aus dem Boot und hasteten hinter ihr her. Überall gab es Pfützen, Überbleibsel der Flutwelle. Anee schloss zu ihren Begleitern auf. Die Schaulustigen musterten uns schweigend aus ihren großen Facettenaugen. Ihre Kopffühler schimmerten bronzefarben, sie bewegten sich unruhig hin und her. Rechts marschierten die Bewaffneten im Gleichschritt die Treppe von der Stadtmauer herab. Anee und ihre Wächter wandten sich nach links, dem Fuß der Mauer zu. Die Seherin mahnte ihre Wächter zur Eile. Die Bewaffneten kamen zu spät. Wir erreichten eine Tür in der Mauer. Das Holz war geborsten und sah ziemlich vermodert aus. Es war kein Wunder, dass es dem Wasserdruck nicht standgehalten hatte. Anee scheuchte ihre Vecorat durch die Öffnung. Dahinter schloss sich ein Hof an, von dem ein halbes Dutzend tunnelartiger Gänge in die Stadt führte. Wir erhaschten ein paar Blicke in die Häuser, die unmittelbar an die Stadtmauer gebaut waren. Die Treppen zu den Kellerräumen standen noch immer unter Wasser. Aus den oberen Räumen hörten wir aufgeregtes Zirpen der Bewohner. Unsere Kolonne geriet ins Stocken. Die ersten Vecorat kehrten aus dem Tunnel in den Innenhof zurück. »Draußen stehen ebenfalls Gardisten der Königin«, wandte sich die Akonin an mich. »Bist du bereit, ihren Anweisungen zu folgen?« »Natürlich. Da mir in deiner Begleitung nichts geschehen kann …« Die Vecorat nahmen uns in ihre Mitte. Anee setzte sich an die Spitze der Gruppe. Im Tunnel war es feucht, der Boden glitschig. Wir rutschten mit unseren Stiefeln wie auf einer Eisbahn. Die Vecorat hatten keine Probleme damit. Hinter dem Durchgang erstreckte sich eine breite Straße. Sie führte vom Stadttor schnurgerade nach Nordwesten. »Die Soldaten haben den Befehl, uns zur
16 Königin zu bringen.« Anee deutete zu den einachsigen Karren, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite warteten. »Sie schickt euch deshalb ihre Leibgarde und die besten Fahrzeuge, die der Palast besitzt. Die Weyln wurden von ihr mit der Hand großgezogen.« Die Karren hatten Holzräder und waren ziemlich roh gezimmert. Etwas weniger klobig sahen die Zugtiere aus, die Anee als Weyln bezeichnet hatte. Sie ähnelten terranischen Straußen, stammten jedoch eher von Reptilien als von Vögeln ab. Ihre geschuppte Haut schillerte in Regenbogenfarben. Die Tiere erreichten ein Stockmaß von ungefähr eineinhalb Metern, in ihren Proportionen entsprachen sie Kälbern. Die Köpfe besaßen eine verblüffende Ähnlichkeit mit denen von Waranen. Wie bei Fleisch fressenden Sauriern waren die Vorderbeine zurückgebildet, die hohen Hinterbeine zeigten Muskulatur pur. Als sie unsere Witterung aufnahmen, stießen sie ein lautes Zischen aus. »Die Weyln sind ungefährlich.« Die Akonin versuchte uns zu beruhigen. »Aber sie kennen euren Geruch noch nicht und betrachten euch deshalb als Gefahr.« »Sag ihnen, wir tun ihnen ganz bestimmt nichts.« Ich musterte Tamiljon, der sich die ganze Zeit ständig hinter meinem Rücken gehalten hatte. Seine Gesichtshaut verlor nach und nach ihre tiefe Schwärze, tendierte nach Anthrazit-Dunkelgrau. »He!«, rief ich. »Was ist mit dir los?« »Nichts. Aber vielleicht sollten wir so schnell wie möglich weiter.« Ich stimmte ihm in Gedanken zu. Der Aufenthalt in Yandan brachte uns unserem Ziel nicht näher. Aber vielleicht brauchten wir die Vecorat noch. Oder ihre Zugtiere. Dass die Seherin uns auf unserem weiteren Weg begleiten würde, bezweifelte ich keinen Augenblick. Zu dritt bestiegen wir den mittleren der drei Wagen. Die Begleiter der Seherin verteilten sich auf die übrigen. Die königlichen Gardisten kreisten die Kolonne ein. Ein heftiges Aneinanderschlagen der Holzspeere
Arndt Ellmer stellte für die Weyln das Zeichen zum Aufbruch dar. Die Zugtiere hatten einen ruckartigen Gang, der die Karren ständig hin und her riss. Den Rädern fehlte die vollkommene, runde Form, und sie liefen unregelmäßig in ihrer Achse. Wir schwankten schlimmer als auf Kamelen oder Elefanten mit ungleich langen Beinen. Die Prachtstraße führte geradeaus durch Yandan, so weit das Auge reichte. Die Häuser links und rechts hatten meist zwei oder drei Stockwerke mit einem Flachdach, das als Terrasse ausgelegt war. Kunstvoll aus Holz geschnitzte Geländer und Fenstergitter zeugten von Detailfreude und Kunstverständnis. In den Innenhöfen und Durchgängen sahen wir farbenprächtige Zelte von Händlern, die ihre Waren feilboten. Das Gezwitscher der Vecorat vermischte sich mit dem Knarren und Quietschen unserer Karren zu einem exotischen, fast schon modernen Techno-Mix. In Yandan pulsierte das Leben. Dass ab und zu braune Flocken am Himmel vorbeischwebten, bemerkte keiner. Und selbst wenn, störte es niemanden. Ich wünschte mir, wir hätten eine etwas schnellere Fortbewegungsart gewählt, etwa eine Bootsfahrt auf dem Stadtkanal. Angesichts der Bewaffnung unserer königlichen Eskorte hielt ich es allerdings für müßig, einen entsprechenden Vorschlag zu machen. Nach zehn Runtsch – ich schätzte die Strecke auf fünf Kilometer – tauchte rechter Hand eine silberne Säule auf, hundertfünfzig Meter hoch und nicht zu übersehen. Ihr Schatten fiel über die Dächer und Fassaden der Gebäude bis fast zum Stadtkanal. Um ihren Sockel gruppierte sich im Halbkreis ein Dutzend kleiner, zwiebelförmiger Bauwerke. »Das ist meine Wirkungsstätte, das Yanazan-Orakel«, sagte die Akonin. »Hier legen wir eine Rast ein.«
* Vom Säulengang unter den Kapitellen fiel
Braune Pest mein Blick auf den schlanken Zylinder im Mittelpunkt des architektonischen Arrangements. Seine Oberfläche unterschied sich nicht von der, die wir an anderen Säulen gesehen hatten. Einst spiegelblank, war sie inzwischen stumpf, wie von einer dünnen Oxidationsschicht überzogen. »Bitte lass uns nicht zu lange hier verweilen«, bat ich. »Die Bevölkerung der Stadt benötigt dringend Aufklärung über die Braune Pest.« Anees Blick traf mich, sie verzog fast spöttisch den Mund. »Was bist du doch für ein seltsamer Kerl. Ich gäbe viel darum, meinen Eindruck in Worte fassen zu können. Aber du hast Recht. Ich habe Boten zur Königin geschickt, die sie auf unsere Ankunft und euer Anliegen vorbereiten sollen. Mehr kann ich nicht tun. Die Vecorat sind zu nervös. Unbedachte Worte würden Hysterie und Panik auslösen.« »Sie haben genug Augen im Kopf, um die braunen Flocken und Wolken in der Luft zu erkennen. Wenn das Zeug erst auf die Stadt sinkt und das Shainshar seine tödliche Wirkung entfaltet, ist alles zu spät.« »Dieser Fall wird nicht eintreten. Hörst du die Signale?« Ich lauschte. In der Ferne erklang ein Brausen, ab und zu durchbrochen von einzelnen schrillen Tönen. »Das sind Burnusshörner«, sagte die Seherin. »Sie verkünden den Stillstand.« »Stillstand wofür?« »Für alle Vecorat im Delta.« »Aber das ist verrückt.«, entfuhr es mir. »Statt Evakuierung darf keiner mehr seinen Platz verlassen?« »Nur für kurze Zeit, um die Übersicht zu bewahren. Die Königin schickt Botenvögel aus.« Ich verzog das Gesicht. »Die Hälfte kommt unterwegs mit braunen Flocken in Berührung und fällt als brodelnde Masse vom Himmel.« »Das mag sein. Die andere Hälfte reicht jedoch aus, um alle Gruppen und Siedlungen im Delta zu informieren.«
17 »Und dann?« »Bis dahin hat die Königin uns eine Audienz gewährt und ihre Entscheidung getroffen.« »Für die Obsidian-Kluft ist es bis dahin vielleicht schon zu spät. Wir müssen auf dem schnellsten Weg in den Canyon der Visionen.« Litrak war vermutlich schon dort, und Sardaengars Ankunft würde wohl auch nicht lange auf sich warten lassen. Wenn beide zusammentrafen, entstand dann wirklich diese schreckliche Bedrohung, deren Folgen niemand mehr verhindern konnte? »Was weißt du noch?«, fragte ich. »Was hat deine Große Schwester dir an weiteren Informationen gegeben?« »Nichts. Ich kenne ein paar Begriffe wie die ›Insel der Verdammten‹ und die ›Ebene der Wracks‹, aber ich weiß damit nichts anzufangen. Es verbinden sich keine Bilder damit.« Ebene der Wracks! Das konnte eine Art Raumschiffsfriedhof sein, ein Schrottplatz. Es hörte sich aber auch danach an, als sei keines der dort gelandeten Schiffe mehr flugtauglich. Vielleicht war die TOSOMA an diesem Ort gelandet oder zur Landung gezwungen worden … Du bist wieder einmal zu blauäugig, spottete der Extrasinn. Das steht einem Arkoniden nicht gut zu Gesicht. Blauäugigkeit zählte einem Gerücht nach zu den typischen Handikaps der Terraner. Von der Ebene der Wracks zur Insel der Verdammten … Meine Zuversicht wuchs, dass wir irgendwann auf Besatzungsmitglieder der TOSOMA stoßen würden. Gleichzeitig verstärkte sich mein Entschluss. Wir mussten so schnell wie möglich von hier weg. Aus Sardaengars Bericht wusste ich, dass Silbersäulen, Goldene Technostädte und alles andere in der Obsidian-Kluft Materialisationen des Kristallmondes seien, geschaffen aus Programmen und Speicherdaten, inzwischen aber zu einem gewissen Grad eigenständig geworden. Ohne das Hinzukommen
18 fremder Personen und Gegenstände von außen hätte vermutlich keine so große Interaktion stattgefunden, die alle Teile zu einem neuen Ganzen verband. Du stehst kurz vor der Lösung!, dachte ich mit einer gehörigen Portion Euphorie. Gleichzeitig schien die Welt aber wie mit Brettern vernagelt. Biophoren kannte ich, jene Lebenssporen, die von den Sporenschiffen der acht Mächtigen im Universum verteilt worden waren, sieben im Parresum, eines im Arresum. Sporenschiffe erreichten einen Durchmesser von exakt 1126 Kilometern. Durch den Kontakt von On- und NoonQuanten entstanden Biophore-Wesen. Während das On-Quant die hyperenergetische Entsprechung von Lebens- oder Vitalenergie darstellte, regelte das Noon-Quant den Mechanismus der Intelligenzwerdung. Das OnQuant zeichnete also für die Entstehung einer Lebensform verantwortlich, das NoonQuant für dessen organische Intelligenz. Wenn es sich beim Kristallmond um etwas Ähnliches handelte, stellten dann die Spiegelungen so etwas wie eine psionische Vermehrung dar? Ich musste an die tragische Geschichte der PAN-THAU-RA denken, des Sporenschiffs des Mächtigen BARDIOC. Seine Ladung Biophoren war entartet und dadurch zu einer Bedrohung für zahllose Völker geworden. Bahnte sich hier etwas an, was in seinen Konsequenzen für das Universum ähnlich zu bewerten war? Ein Universum voller entarteter Biophoren führte zum Untergang allen organischen Lebens, erreichte also genau das Gegenteil dessen, wozu die On- und Noon-Quanten dienen sollten. Wenn ja, beneidete ich den oder die Lebewesen nicht, die diese tickende Zeitbombe entschärfen mussten. Narr! Gib dich keinen Illusionen hin. Du ahnst längst, dass es dich allein aus diesem Grund in die Obsidian-Kluft verschlagen hat. Diesmal gab ich dem Extrasinn vollständig Recht. Die Obsidian-Kluft als eine Art
Arndt Ellmer Miniuniversum, eine in den Hyperraum eingelagerte Blase – war es das? Auch die PAN-THAU-RA war auf ähnliche Weise in den Hyperraum eingelagert worden, um eine unkontrollierte Freisetzung der On- und Noon-Quanten zu verhindern. Die Zeitbombe tickte, und ich hatte das untrügliche Gefühl, dass die Uhr bald abgelaufen war. Die Kosmokraten hatten die Gefahr seinerzeit als so groß eingeschätzt, dass sie die Materiequelle GOURDEL in der Galaxis Erranternohre manipuliert hatten. Als Nebenwirkung war es zu Weltraumbeben in der Milchstraße gekommen. Eisiger Schrecken durchzuckte mich. Litrak und Sardaengar, sie durften nicht zusammenkommen. Der Grund dafür ließ sich unter den gegebenen Voraussetzungen schnell finden. Gemeinsam lösten sie irgendetwas aus, setzten etwas in Gang – zwei Teile eines Zünders? Der Gedanke an eine universelle Bombe ist gar nicht so weit hergeholt. Diesmal gab der Extrasinn keinen Kommentar ab. Es war ihm wohl zu spekulativ. Ich richtete meinen Blick auf die Seherin. Sie saß mit geschlossenen Augen und leicht nach vorn gebeugtem Oberkörper da.
* Die Abendschatten draußen wurden länger. Einer der Vecorat aus Anees Gefolge näherte sich. In respektvollem Abstand blieb er stehen und wartete, bis die Seherin ihn ansprach. Dann sprudelte es nur so aus seinem Zangenmund hervor. Erste Flocken waren draußen vor der Stadt niedergegangen, vereinzelt wohl, aber dennoch gefährlich. Sie hatten Häuser und ihre Bewohner gefressen, ein paar Boote und den gesamten organischen Pflanzenbestand der Umgebung. Größere Klumpen trieben im Barik und im Zaman-See mit der steigenden Flut nordwärts. Die Gefahr für die Stadt wuchs. »Du siehst, wir dürfen wirklich keine Zeit mehr verlieren«, sagte ich.
Braune Pest Die Akonin erhob sich. »Wir brechen auf.« Wir kehrten ins Freie zurück und bestiegen unseren Karren. Die beiden anderen mit den Vecorat hatten ihre Weiterfahrt zum Palast schon angetreten. Wir setzten uns im Kreis. Der Karren rumpelte los, eine Tortur für jede humanoide Wirbelsäule. Die Seherin seufzte leise. »Du wolltest wissen, warum ich euch in den Canyon der Visionen begleiten möchte.« »Und welche Informationen du über diesen Ort hast.« »Es gibt Legenden, deren Wahrheitsgehalt nur überprüfen kann, wer nach Vinara gelangt, auf die Originalwelt. Demnach handelt es sich beim Canyon der Visionen um den südlichen Teil der Taneran-Schlucht. Die Viin meiden ihn seit jeher, mehr noch als das Land der Silbersäulen insgesamt. Im Canyon existiert eine große Ansammlung von Juwelen der Obsidian-Kluft, einer alten Hinterlassenschaft der einstigen Auseinandersetzung zwischen dem Uralten Sardaengar und dem Ewigen Litrak. Die Juwelen blieben übrig.« Sardaengar, den sie auch den Mann der tausend Gestalten nennen! »Wer den Juwelen zu nahe kommt, verliert sich in den von ihnen ausgehenden Albträumen, Halluzinationen und Visionen«, fuhr Anee nach kurzem Atemholen fort. »Keiner ist je lebend zurückgekehrt. Das schafften nur die, die sich nicht bis in den Canyon wagten. Sie kehrten zurück, mit dem Leben davongekommen, aber zu Greisen gealtert, weil die Juwelen ihnen die Lebensenergie raubten.« »Dann riskierst du dein Leben, wenn du uns begleiten willst.« Tamiljons Gesichtsfarbe hatte sich ein wenig gebessert. »Und du?« »Ich bin ein Wächter. Mir kann nichts geschehen.« Wut kochte in mir hoch. Am liebsten hätte ich ihn für diese Bemerkung dem Shainshar zum Fraß vorgeworfen. Mit einer ausge-
19 sprochen arroganten Selbstverständlichkeit ging er davon aus, weiterhin und in jeder Situation von der Vitalenergie meines Aktivatorchips profitieren zu dürfen. Die Seherin ließ nicht erkennen, was sie dachte. »Du redest Unsinn«, fuhr ich ihn an. »Ich bin keineswegs bereit, ständig für dein Überleben zu sorgen.« Er erwiderte meinen flammenden Blick mit einer gewissen Verständnislosigkeit. »Litrak brach zum Canyon auf, als die Technostadt startete und kurz darauf transitierte«, fuhr ich nachdenklich fort. »Er ging zum Obsidiantor von Basislager eins oder zu dem des Litrak-Ordens in Malenke …« Anee nestelte gedankenverloren an ihrem Hals. Die Kette mit der Perle kam zum Vorschein. Die Aureole dehnte sich blitzartig aus, umfasste mich und die Seherin, schloss Tamiljon aber aus. Bilder entstanden in einer Art diffusen Holografie. Ich erkannte die kristalline Gestalt Litraks, die unermüdlich über die Eiswüste des Casoreen-Gletschers auf Vinara III nach Süden rannte. Ab und zu schlug er Haken, versuchte dem wirkenden Bannkreis der im Gletschergebiet stehenden Silbersäulen zu entkommen und ein Obsidiantor zu erreichen. Sein Ziel war der Canyon auf der Originalwelt, daran gab es keinen Zweifel. Dort befand sich nach unserem Kenntnisstand, von Anee erneut bestätigt, ein beträchtlicher Teil seiner kristallinen Körpersubstanz. Litrak verschwand im Dunst. Die Bilder in der Hologrammblase wechselten. Landschaften huschten vorbei, einige kamen mir bekannt vor, andere waren völlig fremd. Ein Schluchtensystem tauchte auf, ich nahm es als Zeichen, dass es sich um Bilder von der Originalwelt handelte. Das Schluchtensystem erinnerte mich an den Grand Canyon auf Terra. Es hatte schmale Passagen und breite Gräben, ausgewaschene Felsformationen, die wie Türme oder mahnend erhobene Finger in die Höhe ragten. Anee flüsterte: »Der Canyon der Visionen
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Arndt Ellmer
– hörst du es? Xyban K'hir ruft dich!« Das Pflanzenwesen aus meiner ersten Vision!, durchzuckte es mich. Und: Zieh die Reißleine! Es grenzte an ein Wunder, dass ich den Absturz der Gondel überlebt hatte. Und noch immer fehlte mir jeder Beweis, ob das in jenem Raum zwischen den Wirklichkeiten überhaupt möglich gewesen wäre. Ich lauschte, aber außer einem unverständlichen fernen Raunen bemerkte ich nichts. Aber etwas war da, und es bestätigte die Aussage der Seherin. Vielleicht erhielt ich den Beweis ja bald. Im Canyon … Wer war dieser Xyban K'hir? Und was hatte der Ruf zu bedeuten? Mir lagen Fragen auf der Zunge, doch ehe ich sie aussprechen konnte, wechselten die Bilder erneut. Jetzt war der Asteroidenring zu sehen, der Vinara einhüllte. Deutlich waren einzelne große Brocken zu erkennen, die sich gelöst hatten. Manche stürzten mit hohem Tempo Vinara entgegen. Die Perspektive des Hologramms eröffnete den Blick aus einer Orbitalbahn hinunter zur Oberfläche. An vielen Stellen glühten Punkte auf, wölbten sich zu Halbkugeln. Die Feuerlohen rasten nach allen Seiten und walzten jedes Hindernis nieder. Wälder verbrannten, Flüsse und Seen verdampften. Ich entdeckte Vulkane, die unvermittelt ausbrachen und ganze Landstriche zerrissen. Gewaltige Tsunamis rasten gegen das Festland, Ascheregen verdeckte die Sicht auf das Land. Noch spielten sich diese Katastrophen im lokalen oder regionalen Bereich ab. Ich konnte mir aber an fünf Fingern abzählen, welche Folgen es haben würde, stürzte erst einer der ganz dicken Brocken auf die Oberfläche. Die Bilder verschwanden übergangslos, die Aureole der Schneeflockenperle schrumpfte. »Der Weltuntergang«, ächzte die Seherin, »er hat schon begonnen …«
*
Karren rumpelten über das Straßenpflaster. Eng zusammengepfercht saßen die Männer und Frauen darin. Man hatte ihnen die Hälse aneinander gebunden, damit sie nicht abspringen und fliehen konnten. An den Straßen stand der Mob, grölend und jubelnd. Die Männer und Frauen auf den Karren hielten die Augen geschlossen. Bleich und übernächtigt ließen sie alles über sich ergehen. Steine flogen. Vereinzelt trafen sie Köpfe, schlugen Wunden. Blut spritzte. Niemand kam, um es zu stillen. Das Gejohle wurde lauter, je näher die Karren ihrem Ziel kamen, der hohen Mauer der Bastille. Dort standen nebeneinander und im Dutzend aufgereiht die Guillotinen … Warum ich ausgerechnet jetzt an jene Ereignisse im Zusammenhang mit der Französischen Revolution denken musste, wurde mir erst nach ein oder zwei Runtsch klar. Das Bild entlang der Prachtstraße hatte sich verändert. Vecorat drängten sich in dichten Scharen. Ihre Aufmerksamkeit galt einerseits den braunen Flocken, die der Wind über die Stadt hinwegtrieb, andererseits dem einsam vor sich hin holpernden Karren mit seiner Gardenbegleitung. Die Seherin kannten sie. Uns Fremde schienen sie aber erst in diesem Augenblick richtig wahrzunehmen. Oder ihre Aufmerksamkeit war mir zuvor entgangen. Heftiges Zirpen begleitete unseren Weg. Mit jedem Meter wurde es lauter. Ein wenig erinnerte es an Zikaden des Mittelmeerraums, wenn sie pünktlich mit dem Sonnenuntergang ihr nervtötendes Gekreische begannen. »Etwas hat sich verändert.« Tamiljon hatte es also auch bemerkt. »Vielleicht liegt es an der Tageszeit«, meinte ich, um die Akonin aus der Reserve zu locken. Der orangefarbene Stern war hinter den Horizont gesunken, die Abenddämmerung kündigte sich mit silberblauem Licht an. »Nein, nein«, sagte die Seherin hastig. »Die Vecorat werden von genau der Nervosität erfasst, die ich am Mittag vermeiden
Braune Pest wollte. Inzwischen scheint sich die Lage um die Stadt deutlich verschlechtert zu haben.« Die Vorstellung einer völlig braunen Landschaft ohne jegliches Leben rund um Yandan reichte aus, auch mich unruhig werden zu lassen. Ich erkannte, dass ich mir seit unserem Absprung von der Technostadt mindestens ein Versäumnis hatte zuschulden kommen lassen. »Wo stehen im Reich Tanalagan die Obsidiantore?«, wandte ich mich an Anee. »Zwei im Delta, das dritte am nördlichen Stadtende nahe dem Imraptan-Bezirk«, lautete die Antwort. »Ich stimme dir zu, es kommt als einziges für eine Flucht in Frage, vorausgesetzt, einer von euch ist in der Lage, es zu bedienen.« »Das wollen wir hoffen.« Der Karren rumpelte schneller, die Weyln fielen in einen ungelenken, teils seitwärts gerichteten Trab. Die Gardisten rannten nebenher, während es uns auf dem Karren alle Knochen durcheinander schüttelte. Die Unruhe unter den Vecorat wuchs immer schneller. Teilweise drängten sie in die Straße, versperrten unserem Fuhrwerk den Weg. Nur die gefährlichen Speere der Gardisten trieben sie noch zurück und verhinderten Schlimmes. »Das ist wirklich kein gutes Zeichen«, sagte ich zu der Akonin. »Du tust uns einen großen Gefallen, wenn du immer in unserer Nähe bleibst.« »Keine Sorge. Ich werde euch, begleiten.« Inzwischen hatten wir ein Vielfaches der Strecke vom Tor bis zum Tempel der Seherin zurückgelegt. Ich schätzte die Entfernung auf etwa zwanzig Kilometer. Uns taten in dem ungefederten Fahrzeug alle Knochen im Leib weh. »Dort!« Die Akonin zeigte Erleichterung. »Der Palast! Nach sechsunddreißig Runtsch sind wir endlich am Ziel.« Achtzehn Kilometer Quälerei also. Wir sahen Dutzende beleuchteter Türme, schmal und lang wie Insektenarme. Dazwischen zogen sich Bögen und Hängebrücken entlang, in die begnadete Architekten filigrane Orna-
21 mente eingewoben hatten. In der Dunkelheit hinter den Lichterbögen kaum sichtbar, lagen die kuppelartigen Gebäudeflügel des Schlosses. In ihrer Wucht und Schnörkellosigkeit erinnerten sie an umgestülpte Bienenkörbe. Die Gardisten erhöhten ihr Tempo. Gleichzeitig stießen sie mit ihren Speeren in Richtung der Schaulustigen. Die Vecorat wichen nur zögernd zur Seite. Hinter dem Karren und seinen Bewachern schloss sich die Menge sofort und drängte nach. Die Straße endete an einem hohen Portal. Die Wächter sahen uns kommen. Im letzten Augenblick, ehe die Weyln gegen die Metallkonstruktion knallten, rissen sie die Torflügel auf. Der Karren raste weiter, während hinter ihm das Tor zuknallte. Aus dem heftigen Zirpen draußen wurde wüstes Gekreische, als die Vecorat mit ihren Zangen und Krallen an den Metallstäben des Tores kratzten. Die Weyln brauchten ein halbes Dutzend Zurufe, bis sie endlich anhielten. Augenblicklich ruckten die Speere nach unten und zeigten auf uns. »Ein schöner Empfang«, sagte ich in Richtung der Seherin. »Ist das hier immer so?« »Solange ich bei euch bin, wird euch nichts geschehen.« Die Antwort sagte genug. Ich bereute endgültig, der Akonin nach Yandan gefolgt zu sein.
4. Sardaengars Verzweiflung wuchs mit jedem Atemzug. Ringsum loderten die Flammen empor. Der Scheiterhaufen, eine Mischung aus trockenem und feuchtem Holz, brannte einerseits wie Zunder, andererseits fing er kaum Feuer. Dafür qualmte das feuchte Zeug fürchterlich. Vor seinem inneren Auge zogen ein letztes Mal die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit vorüber. Seine Perlenschleifer hatten ebenso versagt wie sein Spion unter den Or-
22 densleuten. Litrak war aus dem eisigen Gefängnis entkommen, das er ihm einst zubereitet hatte – ausgerechnet von Atlan befreit, den Sardaengar aus seiner Zeit auf Larsaf III kannte. Anschließend hatte ihm die fremde Frau in ihrem seltsamen Schutzanzug aufgelauert und sofort angegriffen, als er erschien. Schnell war er sich über ihre Absicht klar geworden. Er sollte sterben, weil er über kurz oder lang dem Druck des Kristallmondes erliegen würde. Für ein paar Augenblicke hatte er seiner inneren Enttäuschung und Müdigkeit nachgeben wollen. Hätte er es nur getan! Dann wäre er nicht auf diesem Scheiterhaufen geendet, unwürdig und in Schande, ohne jemals eins seiner Ziele erreicht zu haben. Seit Äonen hatte er es versucht und war doch kaum vorangekommen. Die letzten ihm noch verborgenen Rätsel der ObsidianKluft hatte er lösen wollen. Und er hatte sich entschlossen, Litrak endgültig und für alle Zeiten zu eliminieren. Dafür war es nun zu spät. Seltsamerweise erinnerte er sich ausgerechnet jetzt an einen alten Spruch aus jener Zeit, als er auf Larsa gewesen war und ein musisch Begabter ihn mit seinen Weisheiten und Sprüchen traktiert hatte. »Wenn du es heute nicht nach Arkon Eins schaffst, versuche es morgen mit Arkon Zwei.« Sinngemäß bedeutete es, dass man es am zweiten Tag gar nicht erst nochmals mit derselben Angelegenheit versuchen sollte. Sardaengar war in eine der Silbersäulen geflohen. Unter Lebensgefahr, denn in den Säulen wurde der Einfluss des Kristallmondes übermächtig. Die Säulen wirkten wie die Obsidiantore als Kollektoren aller mentalen Einflüsse aus dem Mond. Er hatte sein Ziel verfehlt. Statt auf Vinara III war er im Torfelsen von Giascon auf Vinara II erschienen und mental gelähmt ins Freie gewankt. Die Schergen des Machthabers dieser Stadt hatten ihn in ein Verlies gesperrt, und in diesem Augenblick vollzog die johlende Meute soeben seine Hinrich-
Arndt Ellmer tung. Die Hitze raubte Sardaengar den Atem. Mit immer größerer Mühe blockte er den Einfluss des Kristallmondes ab, er verhinderte den Einsatz der paranormalen Fähigkeiten. Was ihm blieb, waren ein paar sinnlose Versuche, die körperlichen Kräfte zu aktivieren und die Fesseln zu zerreißen. Es klappte nicht. Selbst dazu war er zu schwach. Voll ohnmächtigen Zorns erkannte Sardaengar, dass er sich selbst in diese ausweglose Situation manövriert hatte. Höchstens Atlan hätte ihm jetzt noch helfen können. Der Arkonide suchte ihn, seit er sich ihm teilweise zu erkennen gegeben hatte. Sardaengar selbst hatte den Kontakt zu ihm verloren. Er wusste nicht, wo sich Atlan zum jetzigen Zeitpunkt aufhielt und ob er noch am Leben war. Die Flammen loderten höher. Der Qualm trieb davon. Für kurze Zeit konnte Sardaengar wieder durchatmen. Dann aber fraßen sich die Flammen näher, und die Hitze fing an, seine Kleider und die Haut seines Chimärenkörpers zu versengen. Tapfer ertrug er es, die trügerische Hoffnung im Herzen, es könne im letzten Augenblick jemand kommen und ihn befreien. Sein lautloses Sterben schien einen Großteil der johlenden Menge abzustoßen. Sie entfernte sich in Richtung der Lagune. Nur ein paar ganz Hartgesottene wollten sich den Anblick aufplatzender Haut und verbrennenden Fleisches nicht entgehen lassen. Sardaengars Verzweiflung erreichte einen einsamen Höhepunkt und sein seelischer Zustand damit gleichzeitig einen Tiefpunkt in seinem langen Leben. Ihm blieb keine andere Wahl. Er musste es tun oder sterben. Wie bereits in der Konfrontation mit der Frau siegte am Schluss sein Überlebenswille. In einem blitzartigen Vorgang ließ Sardaengar den mentalen Abwehrblock erlöschen. Mit ungeahnter Wucht brandete das psionische Potential des Kristallmondes über ihn herein. Gleichzeitig erhielt er seine Kraft und die volle Kontrolle über seine Fähigkeiten zurück.
Braune Pest
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Sardaengar handelte. Übergangslos legte sich ein kristallgrelles Leuchten um seinen Körper, das die Flammen zurückdrängte. Die Fesseln fielen von ihm ab, verschwanden in der Glut, während er die ureigenste Fähigkeit seines Volkes einsetzte und seinen Körper verwandelte. Übergangslos vermochten ihm die Hitze und das Feuer nichts mehr anzuhaben. Schrille Schreie erklangen. Die johlende Meute erstarrte, als ginge es ihr ans Leben. Langsam erst, dann schneller wichen sie vor ihm zurück, während er wie Phönix aus der Asche stieg. Sie behinderten sich gegenseitig, rannten sich um und trampelten übereinander hinweg. In seinem Bewusstsein entstanden drängende Impulse. Sie trieben ihn an, eine bestimmte Richtung einzuschlagen. Sardaengar bewegte sich bis ans Ende des Platzes, in dessen Mitte man den Pfahl mit dem Scheiterhaufen errichtet hatte. Was hinter ihm lag, interessierte ihn nicht mehr. Er blieb stehen und lauschte in sich hinein. Das Wesen mit der Ausstrahlung eines Imaginären befand sich ganz in der Nähe, irgendwo dort, wohin die Bewohner Giascons gegangen waren. Die rothaarige Frau schien geschwächt oder verwundet zu sein. Das war seine Chance, erkannte Sardaengar. Vom Kristallmond sprang eine Information in sein Bewusstsein. Sie besagte, dass die Frau von einem Kristallsplitter getroffen und schwer verletzt worden war. Es hatte sich um einen gezielten Angriff gehandelt. Die Frau war der Feind, den es zu vernichten galt. Dieses Mal würde er siegen. Aufgepeitscht von den Impulsen in seinem Innern, rannte Sardaengar los, dem Zweikampf entgegen.
5. Doppelte Eisentore sicherten die Durchgänge ins Innere des Palastes. Die Wächter links und rechts ignorierten uns. Ich hielt es für eine Folge des zischenden Geräuschs, das die Akonin von sich gegeben hatte. Als
sich die letzten Metallgitter hinter uns schlossen, meldete sich mein Extrasinn zu Wort. Willkommen im Budysin! Und was heißt das? Staatsgefängnis. Die Wächter haben diesen Begriff benutzt und umschrieben. Hast du nicht zugehört? Es war mir entgangen. Dafür stellte ich fest, dass die letzten Vecorat aus Anees Gefolge zurückgeblieben waren. Wir waren mit der Seherin und der bewaffneten Eskorte allein. »Meine Tempelwächter werden einer Befragung unterzogen«, sprach die Seherin. »Danach stoßen sie wieder zu uns.« »Bist du dir da sicher?« »Atlan! Wieso zweifelst du ständig? Ich genieße hohes Ansehen im Reich der Vecorat. Keiner würde es wagen, gegen mich einen Speer oder eine Klaue zu erheben.« »Gegen dich nicht. Und gegen uns?«, flüsterte Tamiljon. Anee gab keine Antwort. Wir wussten jetzt Bescheid. Sie war sich nicht sicher. Zum ersten Mal sah sich die Seherin in einer solchen Situation. Sie brachte Fremde in die Stadt, die sie in ihrer Trance gesehen hatte. Damit stellte sie ihre überragenden Fähigkeiten unter Beweis, mehr aber nicht. Das Wort der Insektenkönigin galt in Yandan, sonst nichts. Dagegen würde die Seherin auch mit ihrem hohen Ansehen nicht ankommen. »Wir sollten von hier verschwinden.« Tamiljon deutete mit dem Kopf nach hinten. »Atlan, die sechs Kerle schaffen wir spielend.« Ich schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Wir werden beobachtet.« Überall hinter Fenstergittern und Türverzierungen glitzerten Facettenaugen. Sie musterten uns, taxierten vermutlich sogar unsere Bewegungen und versuchten daraus Rückschlüsse auf unsere Körperkraft zu ziehen. Die Eskorte brachte uns über den grell erleuchteten Innenhof bis zu einem kunstvoll mit Holzschnitzereien verzierten Portal. Der
24 Anführer der Speerträger trat vor. Er zirpte einen bestimmten Rhythmus klackender und schnalzender Laute, den ich für einen verabredeten Kode hielt. Mit Sprache hatte er jedenfalls nichts zu tun. Vielleicht sollte er es mal mit ›Quivive‹ versuchen, dachte ich sarkastisch. Erneut drängten die Erinnerungen an die Französische Revolution in mein Bewusstsein. Dann fiel endlich der Groschen, und ich wusste, warum mir die Ereignisse des Jahres 1789 nach Christus ständig durch den Kopf gingen. Es waren die Speere, eine simple optische Assoziation. Eigentlich ähnelten sie mehr den Jagdspießen des einfachen Mannes, ein gleichmäßig geschliffener Holzstock mit einer flachen Metallspitze darauf. Ähnliche Speere kannte ich von Terra unter dem Begriff »Saufeder«. Das Portal schwang auf. Gedämpftes Rotlicht empfing uns. Die Wächter trugen schwarze Umhänge, die den gesamten Körper verhüllten und nur die Gliedmaßen und den Kopf frei ließen. Statt Speeren hatten sie Dreikantstöcke aus Metall, die vorn spitz zuliefen. Die Kanten glänzten vom scharfen Schliff. Die Vecorat stießen mit ihnen in unsere Richtung. Diesmal beließ die Seherin es nicht bei einem bösartigen Zischen. Sie trat vor. Erschrocken zogen die Wächter ihre Waffen zurück. Hätten sie es nicht getan, Anee hätte sich selbst durchbohrt. Sie kannte die Mentalität dieses Zweigvolks der Individualverformer genau, sonst wäre sie ein solches Risiko niemals eingegangen. Durch einen Gang erreichten wir einen grün beleuchteten Saal mit prächtigen Holzschnitzereien. Wurzelwerk und Bäume waren integriert. Ungefähr in der Mitte hing an dicken Seilen ein Metallgitter von der Decke, aus dessen Unterseite unterarmlange Metalldornen ragten. Dunkle Flecken auf dem Kassettenboden vervollständigten den Eindruck. Die hohe Gerichtsbarkeit führt ihre Urteile vor Ort gleich selbst aus! Ich hegte keinen Zweifel, dass es sich um
Arndt Ellmer eine Hinrichtungsmaschine handelte. Der insektoide Delinquent wurde auf den Boden gelegt, dann fiel das Gitter herab. Die Dornen durchbohrten den Chitinpanzer und töteten den Verurteilten. Es wunderte mich nicht, dass die Wächter uns genau unter diesem Gitter halten ließen. »Rührt euch nicht!«, zischten sie gemeinschaftlich. Ich musterte die Seherin von der Seite. Ihr Gesicht blieb unbewegt. Aber ihre Augen leuchteten. Sie hielt die Hände geballt, ließ sie dann aber blitzschnell in den weiten Ärmeln ihres Gewandes verschwinden. Im Hintergrund, wo ich im schummrigen Licht so gut wie keine Einzelheiten erkennen konnte, bewegte sich etwas. Die Wand glitt zur Seite. Dahinter ragte ein Thron in grellem Blaulicht auf. »Lang lebe Drizzt-Rilice, unsere Königin!«, zirpten die Wächter und warfen sich zu Boden. Der Thron stand auf einem Podest, das langsam nach vorne fuhr. Beim Näherkommen entpuppte er sich mehr als Gestell denn als Sitzgelegenheit. Drizzt-Rilice sah aus wie alle Vecorat, denen wir bisher begegnet waren. Lediglich ihr Hinterleib war doppelt so groß. Sie benötigte die Thronstütze, damit sie sich keine Quetschungen holte. Ein zweites Unterscheidungsmerkmal entdeckte ich, als das Podest anhielt. Die Augen der Vecorat-Königin waren größer, die einzelnen Facetten schienen stärker gewölbt. »So weit ist es schon gekommen«, sagte sie. »Müssen wir uns selbst in der ObsidianKluft vor den Arkoniden in Acht nehmen?« Da hast du's! Schmerzhaft drangen die Worte des Extrasinns in mein Bewusstsein. Hättest du besser auf meine Warnung gehört! Doch nun war es zu spät. Die Königin erkannte in mir als Erste ihres Volkes einen Arkoniden. Wusste sie noch mehr über die Vergangenheit? Viel sprach dafür. Königinnen in Insektenreichen verfügten häufig über eine kollektive Intelligenz, die auch das Wissen
Braune Pest über die Vergangenheit beinhaltete. Die Vecorat waren seit jeher die Erzfeinde der Arkoniden gewesen. Mit ihrer Fähigkeit der Bewusstseinsübernahme hatten die Individualverformer das Große Imperium an den Rand des Abgrunds getrieben. Wusste Drizzt-Rilice all das, oder hatte sich das Wissen über unzählige Generationen nur rudimentär erhalten? Die Vecorat-Königin starrte mich an, lauernd und feindselig, wie ich mir einbildete. Der Blick aus den riesigen Facettenaugen, konnte er tatsächlich hasserfüllt sein? Ich richtete meine Aufmerksamkeit nach innen. Jeden Augenblick rechnete ich mit einem Angriff. Es musste ein Leichtes für eine Vecorat-Königin sein, mein Bewusstsein zu übernehmen. Die Mentalstabilisierung verhinderte lediglich hypnotische Angriffe, nicht aber einen kompletten Bewusstseinsaustausch. Ein Zupfen und Ziehen …? Ich spannte meine Muskeln an, um mich nach vorn auf die Königin werfen zu können. Nichts geschah. Die typischen Symptome eines Bewusstseinswechsels – das Ziehen im Kopf, der flüchtige Eindruck von Dunkelheit, gefolgt von einer ungewohnt verzerrten Perspektive durch die Augen eines Individualverformers – blieben aus. Drizzt-Rilice fixierte mich schweigend. Ihre Mandibeln klackten im Rhythmus meines Atems. »Sind die Arkoniden etwa die Herren der Technostädte?«, fragte sie unvermittelt. »Nein. Meinen Begleiter und mich hat es zufällig in die fliegende Stadt verschlagen. Mit dem Absturz haben wir ebenfalls nichts zu tun, es handelt sich um die Auswirkungen der Braunen Pest, die mit der Stadt nach Vinara Fünf kam. Bringe dein Volk in Sicherheit, Drizzt-Rilice. Noch ist Zeit dazu.« Die Königin gab ein Zischeln von sich, das an eine Schlange erinnerte. Anee bewegte sich unruhig. Ich sah, wie ihre Nackenhärchen sich aufrichteten. »Niemand und nichts besiegt das Reich Tanalagan«, verkündete Drizzt-Rilice. »Die Braune Pest ist kein gewöhnlicher
25 Gegner«, warnte ich eindringlich. »Sie vernichtet alles, was ihr in den Weg kommt, Organisches wie Anorganisches. Vermutlich könnte man sie nur mit Energiewaffen vernichten, aber die funktionieren in der Obsidian-Kluft nicht.« Wieder das Zischeln. Drizzt-Rilice streckte alle vier Arme in seine Richtung aus. »Er ist gekommen, um uns zu verderben. Legt ihn unter das Gitter!« Das hieß so viel wie »Tötet ihn!« In diesem Augenblick hielt ich die Warnung meines Extrasinns nicht mehr für übertrieben, die Vecorat könnten nur auf eine Gelegenheit lauern, um mir den Garaus zu machen. Sie brauchten dazu auch keine Übernahme meines Körpers. Anee trat zwischen die Wächter und mich. »Ich war Augenzeugin der Vorgänge, meine Königin. Mit eigenen Augen habe ich die Wirkung der braunen Wucherungen erlebt. Atlan sagt die Wahrheit. Vergiss, welchem Volk er entstammt. Er ist gekommen, um Tanalagans Bewohner vor Schaden zu bewahren!« Die Königin zeigte noch immer mit allen vieren in meine Richtung. »Vollstreckt jetzt das Urteil!« Die Wächter stießen Tamiljon zur Seite und packten mich.
* Die Unlust eines Unsterblichen, von einem mittelalterlichen Folterinstrument erschlagen zu werden, war bei mir vermutlich noch nie so groß gewesen wie in diesen Augenblicken. Ich taxierte das halbe Dutzend Wächter, die mich gepackt hielten. Ihre Kräfte waren gewaltig, die Hebelwirkung der starren Gliedmaßen enorm. Aber gegen ein paar geschickt angebrachte Dagor-Griffe vermochten die Vecorat wohl auch im Dutzend nichts auszurichten. Allerdings hielt ich es für müßig, bei diesen Wesen nach Dagorpunkten für einen sinnvollen Angriff zu suchen. Ein gezielter Schlag mit der Handkante gegen die Weich-
26 teile zwischen Kopf und Panzer konnte jeden von ihnen enthaupten, hätte mich aber nicht weitergebracht. Also musste ich mir mit ein paar harmloseren Tricks behelfen. Beinstellen zum Beispiel. Eine schnelle Drehung meines Unterkörpers, eine Verlagerung des Schwerpunkts, und die ersten beiden kippten über meine Unterschenkel nach hinten weg und lagen genau an der Stelle, wo nach Auffassung ihrer Königin ich hingehörte. Die nächsten zwei lagen, ehe sie die Geschehnisse richtig verarbeitet hatten. Die letzten beiden fällte ich mit Hilfe der Hebelwirkung ihrer Arme. Der Schwung riss sie nach vorn an mir vorbei. Sie kamen unmittelbar vor dem Podest zu liegen. »Ich möchte nicht unhöflich erscheinen«, wandte ich mich an Drizzt-Rilice. »Aber meine Anwesenheit in Yandan dient nicht dem Zweck, unter einem Nussknacker für Chitinpanzer zu enden. Du hast dafür doch sicherlich Verständnis.« »Meine Entscheidung ist unwiderruflich!«, schleuderte sie mir entgegen. »Die Seherin wird nun meinen Befehl ausführen.« Ich machte mit der Hand eine einladende Bewegung Richtung Ausgang. »Etwas frische Luft wird uns sicher gut tun.« Die Vecorat-Königin sah sich vermutlich zum ersten Mal mit einem Anarchisten konfrontiert, der sich ihren Anordnungen widersetzte. Eine Weile blieb sie starr auf ihrem Gestell sitzen. Dann sprang sie auf, sodass ihr mächtiger Hinterleib gegen das Podest prallte. Bestimmt tat es weh, aber sie beachtete es nicht. Mit ihren eigenen Händen wollte sie ausführen, wozu andere nicht in der Lage waren. Fangenspielen war auch ganz lustig, allerdings nicht in einer Situation, in der die Existenz eines ganzen Volkes auf dem Spiel stand. Auf dem Korridor erklang das Klacken von Vecorat-Stiefelsohlen. DrizztRilice hielt inne. Erwartungsvoll richtete sie ihre Facetten auf die Tür, die Augenblicke später aufflog. Statt der erwarteten Soldaten stürmte ein einzelner Vecorat herein. Er trug prachtvoll verzierte Gewänder, gleich meh-
Arndt Ellmer rere davon übereinander, vermutlich ein Zeichen für seinen hohen Rang. »General Agustox-Drox!«, zirpte die Königin. Sichtlich verwirrt, weil sie nicht auf ihrem Thron saß, blieb der General stehen und verbeugte sich bis zum Boden. Die beiden unterhielten sich summend und pfeifend, ab und zu mit schrillen Lauten vermischt. Ich hatte mich in meinem bisherigen Leben nie mit der Sprache der Individualverformer befasst, verstand dementsprechend auch nichts von ihrer Unterhaltung. Stattdessen beobachtete ich die Seherin, deren Miene sich sichtlich aufhellte. Alles noch mal gut gegangen, dachte ich. Drizzt-Rilice fuhr vor mir zurück. Diesmal vermied sie es, mich unmittelbar anzustarren. »Was weißt du sonst noch über die Braune Pest?« fragte sie. »Und was schlägst du vor?« Die Nachrichten des Generals schienen so bedenklich zu sein, dass die Königin ihre uralten Erinnerungen an die Feindschaft vergaß und sich der augenblicklichen Situation ihres Reiches widmete. »Wenn wir nichts gegen das Shainshar unternehmen, wird es nach und nach den ganzen Planeten befallen. Dann dauert es nicht mehr lange, bis kein einziges Lebewesen mehr existiert. Wir müssen schnell nach Möglichkeiten suchen, wie wir ihm Einhalt gebieten können. Wasser hilft nichts, Luft auch nicht. Vielleicht Hitze. Oder Säure.« Es kam auf ein paar Versuche an. Ich wandte mich an Anee. »Bring uns zu der Stelle in der Stadt, von wo aus wir den besten Überblick haben.« Ein Stöhnen Tamiljons ließ mich innehalten. Das Gesicht des Mannes war verzerrt. Er griff Halt suchend um sich, dann brach er mit einem Wimmern zusammen. »Litrak …« Mehr kam nicht über seine Lippen. Fassungslos starrte ich auf seinen Hals. Die Haut spannte sich übermäßig stark und bekam feine Risse. Lachsfarbene Flüssigkeit
Braune Pest sickerte hervor. Im Zeitraffertempo schoben sich kristalline Ranken aus den Wunden. Ich kniete mich neben ihn. Er atmete hektisch und mit halb geöffnetem Mund. »Tamiljon!« Er reagierte nicht. Ich tätschelte seine Wangen. Litraks Kristall bringt ihn um! Ich musste das Halsband entfernen oder versuchen, die Kristalle mit seiner Hilfe zurückzudrängen. Hastig konzentrierte ich mich mit meinen Gedanken auf die Nanomodule. Nichts geschah. Die Module reagierten nicht. Die Halsbandfunktion erhielten sie weiter aufrecht, aber den Befehl zur Veränderung führten sie nicht aus. Es könnte an einer Wechselwirkung mit den Kristallranken liegen, überlegte ich. Ein Test mit dem Nano-Armband an meinem Handgelenk bestätigte es. Die Module reagierten sofort auf meinen Gedankenbefehl und zogen sich zu einem Ring zusammen. Auf einmal kauerte sich auch Anee neben den Mann in seinem pechschwarzen Overall. Sie schloss die Augen, hielt die Hände wie ein Dach über seinen Kopf. Nach einer Weile sanken ihre Arme herab. »Ich kann nichts tun«, flüsterte sie heiser. »Er ist ins Koma gefallen. Wenn ihm jemand helfen kann, dann ein Arzt mit entsprechenden Gerätschaften.« Vinara Fünf mit seiner altertümlichen Hochkultur war kaum der richtige Ort für eine High-Tech-Klinik. Die gab es höchstens in der TOSOMA. Ihr Götter Arkons! Lasst mich eine Spur des Schiffes und seiner Besatzung finden! Die Kristallranken wuchsen weiter. Inzwischen waren sie fast so dick wie ein kleiner Finger. Ich legte die Hände an das NanoHalsband und versuchte, es zu öffnen. Gleichzeitig schickte ich wieder einen Gedankenbefehl an die Mikromodule. Es half nichts. Das Band gab keinen Millimeter nach. Die Kristalle wuchsen weiter, funkelten und glitzerten wie Litraks Körper, als er hinaus auf den Gletscher geflohen war. »Er erstickt vielleicht daran«, hauchte die
27 Seherin. »Und wir müssen zusehen.«
6. Lethem da Vokoban spürte Boden unter den Füßen. Die Tentakel lösten sich von seiner Brust und seinen Hüften. Verdutzt sah er sich um. Erst in diesem Moment drang es in sein Bewusstsein, dass Kythara etwas gesagt hatte. Er lauschte den Worten der Varganin nach. »Lasst uns sofort los!«, hatten sie gelautet. Zu seiner Verwunderung gehorchten ihr die Maschinen, während sie seine Aufforderung ignoriert hatten. Finde dich endlich damit ab, Lethem, sagte er sich. Du bist keine Persönlichkeit, die führen kann. Als Schiffskommandant bist du bestimmt ebenso eine Pfeife wie als Gruppenführer oder Expeditionsleiter. Müdigkeit übermannte ihn, er fühlte sich kraftlos. Er hatte Tasias Tod nicht verhindert. Das Unglück hätte ihn warnen sollen. Aber offensichtlich fehlte ihm die Kraft, Autorität zu beweisen und sich auf veränderte Bedingungen einzustellen. Cisoph Tonk und Hurakin lebten ebenfalls nicht mehr. Enaa von Amenonters Enthauptung hatte Lethem endgültig in schwere Selbstzweifel gestürzt. Seither fragte er sich, ob er das Kommando nicht besser abgeben oder sich von der Gruppe trennen sollte. Und es hörte nicht auf. Kaum war Li da Zoltral zu ihnen gestoßen, wurde sie schwer verwundet und kämpfte mit dem Tod. Die bittere Frage drängte immer heftiger in seinem Innern. Am liebsten hätte er sie laut hinausgeschrien. Wer ist der Nächste, den ich auf dem Gewissen habe? Stattdessen wandte er sich an die Roboter. »Warum habt ihr uns ins Innere der Plattform gebracht?« »Es geschieht zu eurem Schutz«, lautete die verblüffende und doch logische Antwort. »Nicht alle Funktionen der Technostadt können hundertprozentig gewährleistet werden.«
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Arndt Ellmer
Das Absinken, die Beinaheabstürze, das meinte die Maschine. Die Roboter hatten die Mitglieder der Gruppe aus der Gefahrenzone auf die Plattform geholt. Jetzt schien eine Automatik irgendwo im Innern der Technostadt die Gefahrenstufe erhöht zu haben. »Sag es uns ruhig so, wie es ist«, knurrte Lethem. »Es ist schlimmer geworden. Der Absturz der Stadt steht bevor.« »Alles geschieht zu eurem Schutz«, lautete die wenig flexible Zweitantwort. Die Ovalroboter zogen sich an den Rand der Halle zurück, sie gaben die zahlreichen Öffnungen frei, die Korridore und die breiten Straßen, die in die Stadt hineinführten. Die in Richtung Peripherie blieben versperrt. Lethem setzte sich in Bewegung. Seine Begleiter erwarteten von ihm Entschlossenheit. Der Arkonide wandte sich an Kythara. »Dismeeder soll bei Li bleiben. Wir anderen sehen uns in der Stadt um.« Die Varganin stimmte ihm zu, sie machten sich auf den Weg.
* Die Metallwände des Korridors endeten in einem Gummipuffer. Dahinter erstreckte sich eine durchsichtige Welt, die Lethem an ein Spiegellabyrinth erinnerte. Der Boden, die Wände, die Decke – alles bestand aus glasklarem Kristall von höchster Reinheit, wie er gewöhnlich nur auf synthetischem Weg hergestellt werden konnte. Durch Lichtbrechung schimmerte er bei jeder Bewegung des Kopfes und der Augen in anderen Farben des Spektrums. Dennoch entstand im Gehirn der feste Eindruck, eine Steilkante mit einem Abgrund vor sich zu haben. Die Gruppe blieb stehen, während die Roboter weiterschwebten. Lethem versuchte, den Pfad durch dieses Labyrinth zu finden. Es gelang ihm nicht. Bei längerem Schauen auf eine Stelle verzerrten sich die Perspektiven, narrten die Lichtreflexe das arkonidische Gehirn. Hektisches Bewegen der Augäpfel erleichterte es wenigstens ein klein
wenig. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Nach ein paar Schritten in das scheinbare Nichts wich das Gefühl, der Boden könne jeden Augenblick unter dem eigenen Körpergewicht zerbrechen. Scaul kauerte sich nieder und legte die Hände an das Gesicht, um seitlichen Lichteinfall zu verhindern. »Es sieht aus, als gäbe es Dutzende oder Hunderte von Etagen unter diesem Fußboden«, sagte der Terraner. »Die Farben verändern sich unabhängig von meinen eigenen Bewegungen. Das könnten andere Lebewesen sein.« Bisher hatten sie keine Hinweise auf Bewohner der Technostadt gefunden. »Bestimmt sind es Roboter«, überlegte Zanargun laut. »Lasst uns weitergehen.« Lethem beobachtete das halbe Dutzend Maschinen, die sie begleiteten. Sie schwebten weiter, folgten den gewundenen Pfaden des Kristallgangs, ohne ein einziges Mal mit den Wänden zu kollidieren. Kythara deutete auf den Boden. »Falls ihr es noch nicht bemerkt habt, es gibt mehrere filigrane Rillen. Sie verlaufen in der Mitte des Ganges.« Sie vertrauten sich ihrer Führung an. Das vermeintliche Labyrinth erwies sich auch nicht als komplizierter als die Korridorsysteme in einem Raumschiff. Da Bezugspunkte fehlten, erschien es größer und verwirrender. Es vermittelte das Gefühl, mitten im Leerraum zu hängen. Zwanzig Meter allerhöchstens, schätzte Lethem die Distanz, bis sie den Gang hinter sich gelassen hatten. Eine ovale Halle schloss sich an. Goldfarbene Adern durchzogen die Wände, den Boden und die Decke. Sie bildeten ein Orientierungsmuster. Drei der Roboter blieben zurück, die anderen schwebten voraus. »Einer von euch könnte den Stadtführer machen«, dröhnte Ondaix, aber die Maschinen reagierten nicht. Lethem gewann den Eindruck, dass sie nur auf eine bestimmte Art Kommunikation programmiert waren. Er schloss zu ihnen
Braune Pest auf. »Erklärt uns die Stadt!« »Das ist nur im Zentrum möglich«, lautete die nichts sagende Antwort. »Dann möchten wir dorthin.« Lethem schritt schneller aus. Bisher hatten sie sich in eine Richtung bewegt, und die führte in etwa zum mathematischen Mittelpunkt des einen Kilometer durchmessenden Gebildes. Zanargun blieb plötzlich stehen. »Da! Seht nur!« Die goldfarbenen Adern im hinteren Teil des Ovals lösten sich übergangslos auf. Dort fehlte eine Wand, wo sie bisher eine gesehen hatten. Die Halle endete an einer Balustrade. Drei Brücken führten über einen Abgrund hinweg, der in schwindelerregende Tiefen zu reichen schien. Es handelte sich um eine optische Täuschung, die so lange existierte, wie sie sich auf der Balustrade aufhielten. Erst einmal auf der Brücke, erwies sich der Abgrund als höchstens fünf Meter messende Vertiefung. Im Kampfeinsatz wäre Lethem ohne Probleme hinabgesprungen. »Seht ihr die blauen und grauen Flecken?«, fragte er. Sie besaßen annähernd Quaderform. Vermutlich handelte es sich um einen Maschinenraum. Lethem legte das Ohr auf den Boden. Er lauschte nach Geräuschen und Vibrationen, die es aber nicht gab. Das Innere der Technostadt erwies sich immer mehr als architektonisches Wunderwerk. Der Gedanke, das alles könnte durch einen Crash oder durch Feindeinwirkung zerstört werden, verursachte Lethem beinahe körperlichen Schmerz. Nervös zwirbelte er die Enden seines Schnurrbarts. »Weiter!« Am Ende der drei Brücken ragte eine Kristallwand auf, in die Türen eingelassen waren, Gebilde aus grellrotem Rubin mit pyramidenförmiger Oberflächenstruktur. Dahinter erstreckten sich anthrazitfarbene Korridore, die den Übergang in die gewohnte Welt aus Metall markierten. Nur die Gummipuffer fehlten, ansonsten glich die Umgebung der, aus der sie gekommen waren. Schließlich erreichten sie eine Halle mit
29 weiteren Ovalrobotern. Die Maschinen bildeten eine breite Front von einer Wand zu anderen. »Halt! Keinen Schritt weiter!«, hallte es der kleinen Gruppe entgegen. Lethem blieb stehen. Die drei Roboter, die sie bisher begleitet hatten, waren bereits ein Stück hinter ihnen im Korridor stehen geblieben. »Lasst uns durch!«, verlangte Kythara. »Wir haben keine Zeit zu verlieren!« Die Roboter rührten sich nicht. Die Gewährleistung, wie es der Auskunftsroboter genannt hatte, endete offensichtlich an dieser Stelle. Bis hierher hatte Li die Technostadt unter ihre Kontrolle gebracht, aber nicht weiter. Das Zentrum war nach wie vor autark. Die Roboter sahen sie als unerwünschte Eindringlinge an. Mit Waffengewalt kam man ihnen vermutlich nicht bei, selbst wenn die Systeme ihrer Einsatzanzüge im Innern der Stadt reibungslos funktionierten. Sie mussten sich etwas anderes einfallen lassen.
* »Wir brechen unseren Ausflug ab«, sagte Lethem mit eindringlicher Stimme. Die Roboter registrierten die Aussage, vermutlich aber nicht den Tonfall. Die Gefährten wussten sofort, dass er etwas Bestimmtes plante. Lethem warf Kythara einen durchdringenden Blick zu. Die Varganin schloss kurz die Augen zum Zeichen, dass sie verstanden hatte. Der Zweite Pilot der TOSOMA musterte seinen Chronographen. »In einer Viertelstunde erreicht die Unterseite der Technostadt den Boden. Vermutlich prallt sie gegen das Gebirge ganz im Südosten von Giascon.« »Das Zittern spricht in der Tat Bände«, stimmte Kythara ihm zu. »Ich habe in den Technostädten von Vinara Drei und Vier die Erfahrung gemacht, dass die Steuerautomaten der Städte keinen Einfluss mehr auf die Situation haben. Sie sind nicht in der Lage, ihre eigenen Programme zu ändern. Und das
30 müssten sie tun, wenn sie den sich verschiebenden Gravitationsverhältnissen Rechnung tragen wollten.« Lethem verbiss sich mit Mühe ein Grinsen. Kytharas Vorstoß war nicht mehr als ein Schuss ins Blaue, aber er ging genau in die Richtung, in die er ihn haben wollte. »Du meinst …«, sagte er betont langsam. »Es geschieht nicht erst hinter der Stadt. Das Gebilde rast mitten in die Häuserfronten Giascons. Aber es gibt einen Schutzmechanismus, der verhindert, dass Lebewesen zu Schaden kommen. Dieser Mechanismus dürfte in Kürze anlaufen.« »Die Selbstzerstörungsanlage.« »Genau.« »Sofort raus!«, brüllte Lethem und drängte seine Begleiter in den Korridor. Ob sie mit ihrem Bluff tatsächlich ins Schwarze getroffen hatten, musste sich in den nächsten Sekunden zeigen. Nichts geschah. Die Roboter verfolgten stumm ihren überhasteten Rückzug. Lethem verließ die Halle, erreichte das Ende des Korridors und rannte weiter. »Kommt zurück!«, hallte es in diesem Augenblick hinter ihnen. Lethem ließ sich seinen Triumph nicht anmerken. Erneut legte er die Strecke im Spurt zurück. »Ihr lasst uns ein?« »Wir halten euch für autorisiert, die Systeme der fliegenden Stadt zu korrigieren.« Die Roboter lösten ihre Barriere auf. »Wir danken euch«, sagte Kythara. »Kehrt jetzt auf eure Standardpositionen zurück. Wir versuchen die Stadt durchzustarten.« Sie behauptete es einfach so, ohne zu wissen, ob sie mit den Steueranlagen überhaupt zurechtkamen. Ihr Bluff funktionierte auch nur so lange, wie die Roboter nicht in der Lage waren, den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen nachzuprüfen, etwa, dass Kythara nie in den Technostädten von Vinara III und IV gewesen war. So schnell es ging, folgten sie ihren eigenen drei Robotern. Die Maschinen bauten
Arndt Ellmer ein Prallfeld um die Gruppe auf, das sie auf schätzungsweise hundert Stundenkilometer beschleunigte. Auf diese Weise schafften sie es innerhalb von zwei Minuten bis ins Zentrum. Die Steuerzentrale des riesigen Gebildes bestand aus einer Gruppe sich überschneidender ovaler Räume. Die Wände waren identisch mit der Verkleidung der gigantischen Rechenanlage. Auf Dutzenden Bildschirmen wanderten alle möglichen Anzeigen entlang. Gemeinsam waren ihnen die grellrote Farbe und das hektische Blinken. »Das sieht gar nicht gut aus«, stieß Ondaix hervor. »Bei der Insel der Verdammten, wir sollten von hier verschwinden!« Lethem beachtete ihn nicht, trat in die Mitte der Anlage und musterte die Konsole, die auf eine zentrale Steuerung des gesamten Systems hindeutete. Schmauchspuren zwischen den Sensorfeldern und Blasen des milchigen Materials deuteten darauf hin, dass da nichts mehr zu machen war. Nacheinander untersuchten sie alle Bedienungskonsolen in der Steuersektion. Überall ergab sich das gleiche Bild. Eine Reparatur war nicht möglich. »Wir brauchen Informationen über die Städte, ihre Geschichte und ihren Zweck«, sagte er zu den Ovalrobotern. Wenn sie schon nichts ausrichteten, wollten sie wenigstens nicht mit leeren Händen abziehen. Drei Holoprojektionen entstanden mitten im Raum. Sie zeigten Technostädte im Flug über unbekannten Landschaften, die aber eindeutig zu den Spiegelwelten oder der Originalwelt gehörten. Angenehme Kunststimmen lieferten die angeforderten Informationen. Die Technostädte waren ebenso wie die Silbersäulen und die Obsidiantore aus der Psi-Materie des Kristallmondes geschaffen worden. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, zu Hunderten über Vinara und den vier Spiegelwelten zu fliegen und dabei den künstlichen Orbit der fünf Welten auf ihrer gemeinsamen Umlaufbahn zu stabilisieren. Über Jahrtausende war ihnen das auch gelungen. Doch mit einem Mal schienen alle
Braune Pest Technostädte ausgefallen oder in ihrer Funktion gestört zu sein. Lethem war die Bedeutung dieser Aussagen sofort klar. Die Vinara-Planeten wurden nicht nur durch die Kometeneinschläge bedroht, sie würden früher oder später auch aus ihren Umlaufbahnen torkeln. Eher früher! Die Flutkatastrophen und Vulkanausbrüche, die damit einhergingen, standen denen durch Asteroideneinschläge in nichts nach. Die Existenz aller Bewohner der fünf Welten war akut bedroht! Eins der Hologramme zeigte Bilder und Daten von der Originalwelt Vinara. Die Einschläge von Asteroiden nahmen zu, die mehr als einen Kilometer Durchmesser hatten. Simulationen zeigten Einschlagskrater von bis zu fünfzig Kilometern Durchmesser. Die dadurch ausgelösten Beben zerstörten alle Gebäude im Umkreis von mehr als hundert Kilometern. Neunzig Prozent der Bäume fielen dem einsetzenden Orkan zum Opfer. Die beim Einschlag entstandene Energie entfachte gewaltige Brände, die halbe Kontinente abfackelte. Dem Rauch, der Hitze, dem Beben und dem Orkan fielen mehr als achtzig Prozent der Bevölkerung sofort zum Opfer. Der Rest überlebte die erste Stunde nach dem Einschlag nicht. Die fünf Gefährten sahen sich an. Fast mechanisch wandten sie sich zum Ausgang. »Die Systeme sind so schwer geschädigt, dass sich kein Eingriff mehr durchführen lässt«, sagte Kythara in Richtung der Roboter. Die nahmen es kommentarlos zur Kenntnis. Draußen projizierten sie erneut ein Prallfeld zur Beschleunigung. Lethem trieb sie zusätzlich an. Sie mussten auf dem schnellsten Weg zu Li zurück. Wenn jemand helfen konnte, dann nur sie. Und irgendwann musste sie schließlich erwachen. Der Arkonide befürchtete allerdings, dass es bis dahin zu spät war. In der Halle warteten die Zentrumsroboter. Sie hatten sich auf Kytharas Geheiß hin zurückgezogen. Nun aber standen sie wieder da und bildeten eine Kette.
31 Lethem ballte die Hände. »Was ist jetzt schon wieder los?« »Ihr werdet die Stadt erst verlassen, wenn ihr sie gerettet habt.« »Sie ist nicht zu retten. Eingriffe in die Steuerung sind nicht mehr möglich.« Wieder zitterte sekundenlang der Boden. Dann ging ein Ruck durch die Stadt, der Lethem und seine Begleiter fast zu Boden warf. »Reicht euch das immer noch nicht?«, fuhr er die Maschinen an. »Ihr solltet zusehen, dass alle Lebewesen die Stadt verlassen, ehe es zu spät ist.« Die Roboter reagierten nicht. Sie rührten sich auch nicht, als Lethem, Kythara und die anderen sich zwischen und unter ihnen hindurchzwängten. »Gebt euren Kollegen in der Halle Bescheid«, sagte der Arkonide zu den robotischen Begleitern. »Sie sollen die Frau und den Fonshoord hinauf an die Oberfläche bringen.« »Es ist zur Zeit keine Funkverbindung möglich«, lautete die Antwort. Ondaix stieß einen lästerlichen Fluch aus und sprach ihnen allen damit aus der Seele.
* Sie hörten den Fonshoord schon von weitem brüllen. Dismeeder schlug mit dem Schwanz Dellen in die Hallenwände. Die Roboter schwebten hoch über ihm, unternahmen aber nichts. Lethem sah sofort, dass Li da Zoltral nicht mehr an ihrem Platz lag. »Wo ist die Frau?« »In Sicherheit!«, lautete die Antwort. Lethem deutete zu den Antigravs. »Wir kehren an die Oberfläche zurück.« Ohne auf die Roboter zu warten, rannten sie zu dem Schacht, durch den die Maschinen sie hinuntergetragen hatten. Das Prallfeld arbeitete unregelmäßig. Einmal versetzte es sie sogar für Sekunden in Stillstand, ehe es weiterging. Unaufhörlich stand ihnen die Gefahr eines Absturzes vor Augen. Als endlich der Fonshoord als Letzter ins Freie
32 sprang, atmete Lethem auf. »Li? Bitte melden!« Lethem bearbeitete sein Funkgerät. Hier oben funktionierte es, aber das Rauschen im Empfänger war stärker geworden. »Li da Zoltral! Bei den Göttern Arkons, warum antwortest du nicht?« Es gab zwei Erklärungen. Die Medofunktion ihres Paillettenanzugs hatte sie in ein künstliches Koma versetzt. Oder sie war tot. Lethem klammerte sich an die erste der beiden. Den vier Robotern warf er einen wütenden Blick zu. »Wo ist Li da Zoltral?« »Sie ist in Sicherheit.« »Wir wollen auch in Sicherheit sein. Bringt uns zu ihr.« Die Maschinen verweigerten die Zusammenarbeit auch dann, als Kythara den Befehl wiederholte. »Scaul, Zanargun, Ondaix, wir gehen sie suchen. Sollte die Stadt in der Zwischenzeit abstürzen, treffen sich mögliche Überlebende in Giascon.« Sie marschierten in unterschiedliche Richtungen. Die Technostadt schwankte leicht. Die höchsten Spitzen der Kristalltürme beschrieben kleine Kreise am hellen Himmel. Lethem nahm sich jene Gegend der Stadt vor, wo die Roboter sie anfangs abgesetzt hatten. Er sprintete zwischen den hoch aufragenden Fassaden der Gebäude entlang, suchte die hängenden Gärten auf und hielt von oben Ausschau in die breiten Straßen, die sternförmig Richtung Zentrum führten. Hoch oben flirrten dunkelblaue Blitze an den Kristallstacheln der Stadt, ab und zu von violetten Streifen durchzogen. Die Farbveränderung erweckte den Eindruck, als könne das System jeden Augenblick zusammenbrechen. Li, wo bist du? Wieder versuchte er es über Funk, aber sein Empfänger blieb stumm. Er versetzte dem Multifunktionsarmband einen wütenden Schlag. Ich muss noch höher hinauf, damit ich einen besseren Überblick bekomme! Er entdeckte eine Rampe, die nach oben führte, und rannte hinauf. Eine schätzungs-
Arndt Ellmer weise zweihundert Meter lange Terrasse erstreckte sich zwischen den Gebäuden. Im hinteren Teil schraubte sich ein Wendelgang ohne Treppenstufen noch weiter hinauf zu einer Aussichtsplattform. Li da Zoltral lag ganz vorn am Metallgeländer und in derselben Körperhaltung, wie die Roboter sie unten in der Halle abgelegt hatten. Er rätselte, wieso die Roboter sie hier heraufgebracht hatten. Schließlich fiel ihm die Antwort ein. Von hier oben hatte man die beste Aussicht. Rechneten die Maschinen damit, dass sie bald erwachte? Oder gab es einen anderen Grund? Der Kommandant gehört auf die Brücke! Jenseits des Geländers schimmerten goldene Körper. Die vier Roboter tauchten auf und verteilten sich um die Arkonidin, als hielten sie Totenwache. Es darf nicht wahr sein! »Was ist mit ihr?«, keuchte Lethem. Erwartete er allen Ernstes eine Antwort? Ein zweiter Ruck ging durch die Stadt, heftiger als beim ersten Mal und länger. Die Kristalltürme hoch über der Plattform knirschten leise. Dem Ruck folgte ein Rumpeln. Es hörte sich an, als hätten sich tief im Innern des Sockels gewaltige Maschinen losgerissen, die jetzt quer durch die Anlagen bis zum tiefsten Punkt rutschten. Lethem versuchte, sich mit den Gefährten in Verbindung zu setzen. Diesmal klappte es. Trotz des Rauschens konnte er sich verständlich machen. Er beschrieb ihnen, wo er sich aufhielt. »Sobald ihr hier seid, verlassen wir die Technostadt.« Nacheinander trafen sie ein. Scaul lief der Schweiß in Bächen über das Gesicht, diesmal vom Rennen. »Wie denn?« Lethem deutete auf die Roboter. »So, wie sie uns hergeschafft haben, sollen sie uns wieder wegbringen.« Kythara wandte sich an die Maschinen. »Schafft uns hinüber zur Stadt. Uns und die Bewusstlose.« Die Roboter reagierten nicht, zogen den Ring um die Arkonidin enger. Rührt sie bloß nicht an, bedeutete es.
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Lethem trat an das Geländer und klammerte sich an den waagrechten Abschlussstäben fest. Er starrte hinab auf das Wasser. Die tief dunkle Farbe wich dort hellerem Blau, wo die vorgelagerten Inseln aufragten. Dahinter erstreckte sich bis Giascon eine mit smaragdfarbenem Wasser gefüllte Lagune. Der Arkonide musterte den Rand der Technostadt. Von einem vorspringenden Zacken ragte das untere Ende in sein Blickfeld. Es befand sich seiner Schätzung nach höchstens noch zehn Meter über der Wasseroberfläche. Stürzte sie dieses Mal tatsächlich ab? Oder lief es so ab, wie sie es mehrmals miterlebt hatten? Existierte etwa ein Kollisionswarnsystem, das den Koloss im letzten Moment immer wieder in die Höhe brachte? Ein dritter Ruck durchlief die Stadt, auch er kam tief aus ihrem Innern. Die Plattform wackelte. Die Kreiselbewegung verstärkte sich. »Haltet euch fest!«, schrie der Arkonide. Seiner Meinung nach standen die Prallfeldgeneratoren kurz vor dem Exitus. Seine Warnung kam zu spät. Der vierte Schlag glich in seiner Stärke dem Ruck, den eine Kollision verursachen musste. Ondaix, Scaul und Zanargun stürzten. Ondaix hatte noch Glück. Er fiel gegen einen der Roboter, dessen Prallfeld ihn abfing. Die beiden anderen knallten gegen das Geländer. Lethem streckte geistesgegenwärtig einen Arm aus. Kythara gelang es, sich daran festzuhalten. Er zog sie zu sich heran. Stumm deutete er in die Tiefe. Die Technostadt prallte nicht an das Gebirge im Südosten, sie krachte auch nicht in das Häusermeer Giascons. Sie stürzte über der Lagune ab. Wenn sie sich nicht überschlägt und explodiert, kommen wir mit einem blauen Auge davon, dachte Lethem. Die Chancen standen allerdings schlecht.
7. »Da oben, das ist Thalim Bhuross«, sagte
die Seherin. Der Aussichtspunkt lag nahe der Verbindungslinie zwischen dem Palast und dem nördlichen Obsidiantor in unmittelbarer Nähe des Stadtkanals. Wir verließen das schnittige Boot der Königin und kletterten die rauen, für menschliche Füße viel zu kurzen Stufen empor. Ich zählte etwas mehr als zweihundert, bis wir endlich auf der Plattform standen. Yandan bei Nacht bot einen malerischen Anblick. In den meisten Vierteln markierten Windfackeln die Giebel der Häuser, eine Angewohnheit, für die ich spontan keine Erklärung fand. »Es handelt sich um eine alte Tradition«, sagte Anee auf meine Frage. »Sie erinnert an jene Zeit, als die Vorfahren der Vecorat noch fliegen konnten. Damals wurden die höchsten Punkte der Gebäude nachts mit Lichtern markiert, als Orientierung für die Flieger. Was allerdings die fahl schimmernden Flächen zu bedeuten haben, kann ich nicht sagen.« Sie existierten unregelmäßig über die Stadt verteilt, und es gab sie teilweise an den unmöglichsten Stellen, auf Zinnen, auf Dächern, in den Gassen und Straßen. Ein paar trieben auf dem Wasser des Stadtkanals. »Es ist Shainshar!«, stieß ich hervor. Das Zeug war inzwischen überall. Ein Blick gegen den nächtlichen Himmel zeigte leuchtende Flocken, die mit dem Wind nach Nordwesten trieben. Ab und zu sank eine tiefer, als habe sie sich ein bestimmtes Ziel ausgesucht. »Sie sind im Süden und Osten der Stadt«, hauchte die Seherin. »Sieh nur. Das Hafenbecken ist voll davon.« Sie sind uns auf unserem Weg gefolgt, konstatierte der Extrasinn. Gerade so, als gehörten sie zu uns. Im trüben Licht am Hafen sahen wir die letzten Boote untergehen. »Gebt Alarm für die ganze Stadt. Yandan muss evakuiert werden«, sagte ich. »Die Königin wird ihren Palast nicht verlassen, solange sie lebt.«
34 »Ich verstehe. Und solange sie bleibt, geht auch keiner aus ihrem Volk.« »Du sagst es.« »Dann führen wir einen aussichtslosen Kampf, es sei denn …« »Sprich weiter.« »Später. Komm!« Ich hastete die Stufen hinab zum Kanal. Immer wieder warf ich einen Blick nach oben, um gefährliche Flocken rechtzeitig zu erkennen und ihnen auszuweichen. Die Vecorat im Boot waren schon unruhig. Sie deuteten auf seltsam leuchtende Flächen, die mit der Strömung den Kanal entlanggetrieben kamen. »Ich bleibe hier«, sagte ich. »Gib du der Königin Bescheid. Wir brauchen alles Petroleum und jeden Alkohol, der in der Stadt zu finden ist. Und überhaupt alles, was flüssig ist und brennt.« »Ich kümmere mich darum.« Sie ging an Bord. Ich versetzte dem Boot einen Stoß, der es nach Westen trieb. Die Vecorat legten sich in die Riemen, setzten zusätzlich ein Segel. Es reichte aus, schneller als die Strömung zu werden. Die leuchtenden Fladen im Wasser holten sie nicht ein. »Bringt die Boote an Land, bis die Flocken vorbeigetrieben sind«, rief ich ihnen nach. Eine Weile sah ich das Windlicht am Heck, dann verschwand es im Dunst, der sich über den Stadtkanal senkte. Ich suchte Schutz unter der Treppe. Vor meinem inneren Auge zogen die Ereignisse der letzten Tage vorbei. Viel Erfreuliches entdeckte ich nicht. Die Befreiung Litraks aus seiner Eisgruft – sie war ein Fehler, dessen Folgen ich noch nicht überschaute. Egal, was es gewesen war, wenn Litrak und Sardaengar zusammentrafen, würde etwas Schreckliches geschehen. So hatte die Seherin es prophezeit, und ich hatte keinen Grund, ihr nicht zu glauben. Litrak befand sich auf dem Weg nach Vinara in den Canyon der Visionen. Ob er schon angekommen war, entzog sich meiner Kenntnis. Er hatte die Eisgruft gestartet, sie
Arndt Ellmer hatte mitsamt dem Shainshar eine Transition nach Vinara V durchgeführt. Wir hatten es nicht verhindern können. Höchstens Sardaengar wäre das möglich gewesen, aber wir wussten nicht, wo dieses Wesen war, dessen Projektion zu mir gesprochen hatte. Er hatte mich identifiziert und sich mir als alter Bekannter offenbart. Aber sosehr ich auch mein fotografisches Gedächtnis durchforstete, ich kam nicht darauf, wer dahinter steckte. Die Mitglieder des Litrak-Ordens in Malenke hatten ihn als »Mann der tausend Gestalten« bezeichnet. Das stimmte mit meinen Visionen überein, in der ich ein Wesen in ständig wechselnden Gestalten gesehen hatte und mit Dutzenden von Gesichtern. Dieses Wesen war mir fremd und gleichzeitig vertraut vorgekommen. Plötzlich ahnte ich dumpf, welchem Volk Sardaengar angehörte. Spiegelwelten … Spiegelpersonen … Spiegelfeld?, dachte ich und erinnerte mich daran, dass die so genannten Cynos Geschöpfe mit der Gabe zur Para-Modulation waren, die sie dazu befähigte, die Gestalt jeder Wesensform mittels eines hyperphysikalischen Spiegelfeldes darzustellen, so dass diese pseudomateriellen Projektionen, deren Ursprung die übergeordnete Matrix des eigentlichen Wesens war, in jeder Hinsicht sinnlich wahrgenommen werden konnten. Gesicht, Statur, Schuhgröße, alles konnten sie variabel wählen. Im Tod erstarrten diese Wesen zu Obelisken, die keinen Schatten warfen. Ursprünglich hatten sie die Statthalterfunktion des Schwarms innegehabt, der am 29. November 3440 per Giganttransition in der von der Verdummung heimgesuchten Milchstraße erschienen war. Erst im Verlauf der damaligen Ereignisse wurde herausgefunden, dass die Cynos für rund eine Million Jahre, nach dem Verrat von Heeze Goort und der Revolte der Karduuhls aus dem Schwarm vertrieben, als »Heimliche Herrscher« in der Milchstraße gelebt hatten, viele auch auf der Erde. Ich kannte etliche, Schmitt, Nostradamus, aber auch Nahith Non-
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farmale und den »echten« Cagliostro. Als der Schwarm auf seinem Rundkurs nach einer Million Jahren in die Milchstraße zurückkehrte, gelang es den Cynos mit Hilfe der Terraner, die Herrschaft zurückzuerobern. Unter ihrer Führung verließ das gigantische Gebilde Anfang Juni 3443 die Milchstraße und zog weiter … War Sardaengar einer der Cynos? Ich war mir keineswegs sicher. Aber die Ahnung, dass es sich bei Sardaengar um einen Cyno handelte, machte vieles verständlicher. Sofern es sich bei ihm gar um einen der extrem langlebigen Mago handelte, würde das sogar ins Bild der Varganengestalt passen. Aber noch immer erhielt ich keine Antwort auf meine Frage, in welcher Gestalt er mir – womöglich sogar auf der Erde – begegnet war. Du vergeudest deine Zeit, sagte ich mir. Sieh lieber zu, dass du in Yandan einen Erfolg erzielst! Vermutlich war ich der erste Arkonide, der sein Leben für die Rettung von Individualverformern einsetzte.
* Aufgeregtes Zirpen drang aus einer der Gassen, die den steilen Hang unterhalb der Plattform hinaufführten. Jemand schlug mit einem Gegenstand einen hastigen Trommelwirbel auf eine Tür oder Holzwand. Ein Alarmzeichen vermutlich. In der Nachbarschaft regten sich erste Vecorat. Ihr schrilles Summen beseitigte meine letzten Zweifel, worum es ging. Ich spurtete los, die schätzungsweise sechzehnprozentige Steigung hinauf. Fackeln flammten auf, ein paar Kerzenlichter verbreiteten schwankenden Schein. Das dritte Haus von oben auf der linken Straßenseite musste es sein. Die ersten Vecorat traten auf die Straße. Sie hörten mich kommen, rotteten sich blitzschnell zusammen, als müssten sie ein Bollwerk gegen mich bilden. Dann erkannten sie, dass ich einer der beiden Fremden sein musste. Sie zischelten mir etwas zu und ga-
ben den Weg frei. Es klang undeutlich, aber ich hörte den Fluch auf die Braune Pest heraus. »Bleibt, wo ihr seid«, warnte ich sie. Zehn Meter entfernt wogte die braune Masse hin und her, stülpte sich zu Trichtern auf und bildete sich überschlagende Wellen aus. Flocken segelten heran. Sie verschmolzen mit der Masse zu einem Berg, der sich um das Haus verteilte. Hinter der verschlossenen Tür hörte ich die Bewohner angstvoll an den Wänden kratzen. Das Shainshar setzte zum Angriff gegen das Haus an. Holzteile und Wurzelwerk verwandelten sich übergangslos in brodelnde Pfützen, das Mauerwerk fing an, sich zu zersetzen. Es ging um Sekunden. Die letzten Meter legte ich im Spurt zurück. Die Braune Pest spürte meine Annäherung. Unruhig wogten die Brocken auf und ab. Ich beobachtete die Wellenbewegungen, die durch das organische Material jagten. Mit jedem Schritt, den ich tat, schrumpfte das Shainshar ein Stück. Es zog sich vor mir zurück wie die Meeresbrandung bei ablaufendem Wasser. Eine Lücke von drei, vier Metern entstand, die bis fast zur Haustür reichte. Ein weiterer Schritt von mir, und die Tür war frei. »Kommt heraus!«, rief ich. »Beeilt euch!« Erst spähten die Vecorat zaghaft durch den Türspalt. Dann trippelten sie den schmalen Pfad entlang ins Freie. Ein paar trugen Bündel aus Tuch oder Leder bei sich. »Ist noch jemand im Haus?« »Niemand.« Ich ging in die Knie. Die Wucherungen wichen noch ein Stück weiter zurück. Was ist es, wovor ihr euch fürchtet? Die Ritteraura oder die Vitalenergie meines Aktivatorchips? Das Zeug wogte stärker und höher, als könne es meine Anwesenheit nicht länger ertragen. Bis auf eine Distanz von fünfeinhalb Metern zuckte es zurück, dann hielt es an. Merke es dir genau!, meldete sich der Ex-
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trasinn. Das ist die maximale Entfernung, die du herausschinden kannst. Ich seufzte. Auf diese Weise konnte ich das Leben Einzelner retten, aber nicht die Einwohner einer ganzen Stadt.
* Von einem Augenblick zum anderen tauchten sie auf. Sie kamen aus den Häusern, quollen aus Türen im Berghang oder hüpften den steilen Hang herab. Auf der Südseite des Stadtkanals entdeckte ich sie als vage Schatten im schummrigen Fackellicht. Du solltest jetzt besser verschwinden, warnte der Extrasinn. Nein, ich bleibe. Die Urängste aller Arkoniden – angesichts der Bedrohung eines ganzen Volkes lösten sie sich in Wohlgefallen auf. Längst war mir klar, dass die Individualverformer in der Obsidian-Kluft nichts mit ihren Artgenossen in der Milchstraße gemeinsam hatten. Wenn sie von ihrer gefährlichen Fähigkeit des Bewusstseinstauschs hätten Gebrauch machen wollen, hätten sie dazu ausreichend Gelegenheit gehabt. Im Angesicht der Königin Drizzt-Rilice hatte ich sogar fest damit gerechnet. Um mich von Angriffen auf ihre Wächter abzuhalten, hätte sie nur meinen Körper zu übernehmen brauchen. Sie hatte es nicht getan. Mein zweites Argument war das Verhalten der Seherin. Es hatte nie auf die Existenz einer derartigen Gefahr hingedeutet. Mit anderen Worten, die Gefahr eines Bewusstseinstauschs existierte nicht. Die Vecorat von Yandan waren keine Individualverformer, wie ich sie kannte. Mein Extrasinn schwieg zu diesen Gedanken. Ihm fehlten die Argumente. Vielleicht sollte ich den Tag in meinem fotografischen Kalender rot ankreuzen. Die Insektoiden erreichten den Fuß der Treppe, unter der ich noch immer stand. Sie brachten Fackeln und anderes brennbares
Material mit, das sich zum Entfachen eines Feuers verwenden ließ. »Die Königin unterstellt uns deinem Befehl«, riefen sie. »Wir sollen hier warten, bis die Boote eintreffen.« »Verteilt euch am Ufer nach Westen und Osten. Behaltet vor allem den Himmel im Auge. Die Zahl der Flocken hat zugenommen.« Sie zogen ab. Entlang des Kanals bildeten sie eine Reihe. Auf der Südseite stand das Fackelspalier bereits. Den Fehler erkannte ich, als es fast zu spät war. Durch die Gassen der Südstadt wälzten sich fahl schimmernde Massen. Sie zwängten sich zwischen den Gebäuden hindurch, begleitet vom Poltern einstürzender Mauern. Ich formte mit den Händen einen Schalltrichter um meinen Mund. »Flieht, bevor das Zeug euch einkesselt!« Sie lauschten reglos. Ich wiederholte die Warnung mehrmals. Endlich begriffen sie, was ich meinte. Sie rannten nach Westen zur nächsten Bootsanlegestelle. Was Beine hatte, stieg in die Nussschalen. Die größten fassten gerade mal zwanzig Personen. Die Flucht aus der Südstadt und dem Gebiet um den Hafen setzte ein. Ich rief ein paar der Vecorat herbei und instruierte sie. Auf keinen Fall durfte der Uferbereich auf der Nordseite Lagerplatz für die Flüchtlinge werden. »Organisiert Fluchtwege nach Norden und Nordwesten«, trug ich ihnen auf. »Die Einwohner sollen so weit wie möglich zum Stadtrand vordringen.« Sie machten sich an die Arbeit. Im Westen sah ich Lichter auf dem Wasser tanzen. Erste Boote tauchten auf. Ein Stück dahinter entdeckte ich große Flöße mit Ladung. Drizzt-Rilice hatte endgültig begriffen, worum es ging.
8. Der Boden neigte sich zur Seite. Scaul, Zanargun und Ondaix rutschten erneut bis ans Geländer. Hastig klammerten sie sich
Braune Pest daran fest. Lethem hatte nur Augen für die Artgenossin. Die Roboter umringten sie. Ihre Prallfelder bewirkten, dass Lis Körper nicht wegrutschte. Vergeblich suchte Lethem hinter der Helmscheibe nach einem Lebenszeichen. Wenn Li starb oder schon tot war, wieso sagten die Roboter dann nichts? Weil es nicht stimmt, gab er sich selbst die Antwort. Verlier jetzt nicht die Nerven. Die Kreiselbewegung der Stadt richtete den Boden wieder auf. Langsam wanderte er durch die Horizontale und dann nach oben, bis die Gefährten mehr am Geländer hingen als standen. Die riesige Stadt mit ihren Kristallbrücken und Stegen zwischen den Gebäuden lag jetzt zu einem Großteil unter ihnen. Lethem sah ganze Gärten, die sich von ihrem Untergrund lösten, Pflanzenteppiche, mit Bäumen gespickt, die seitlich davonrutschten und mit Getöse in den Häuserschluchten verschwanden. Ein leichtes Ruckeln der Stadt folgte – weit drüben über dem Wasser brach eine erste Turmspitze ab und bohrte sich in die Lagune. Die Hälfte des Trümmerstücks ragte aus dem Wasser. Gemessen an seiner Länge schätzte Lethem die Wassertiefe auf etwa zehn Meter. »Es reicht nicht«, stieß er hervor. »Das Wasser ist viel zu flach, um die Stadt abzufangen. Der Koloss wird sich tief in den Untergrund bohren.« Langsam senkte sich der Boden auf dieser Seite der Stadt wieder. Das Ruckeln verstärkte sich. Staunend verfolgte Lethem, dass die Kreiselbewegung sich dabei abschwächte. Die Steuerautomatik nutzte alle verfügbaren Möglichkeiten, um das Gebilde zu stabilisieren. Vielleicht war es auch Zufall. »Die Einwohner sammeln sich an den Uferpromenaden«, sagte Kythara in diesem Augenblick. Ihre Stimme klang noch rauchiger und erotischer als sonst. »Ob sie sich der Bedeutung des Vorgangs bewusst sind?« Lethem fiel auf, dass die Bewohner Giascons keine Angst vor dem Koloss hatten, der langsam auf sie zutaumelte. Die Technostäd-
37 te gehörten zu den alltäglichen Erscheinungen am Himmel ihres Planeten. Dass eine von ihnen so weit herunterkam, stellte eine Sensation dar, aber keine Gefahr. Über Jahrtausende hatte sich dieses Bewusstsein entwickelt. Noch nie war eine Technostadt abgestürzt. Warum sollte sie es ausgerechnet jetzt tun? Die langsame Annäherung deutete in ihren Augen eher darauf hin, dass der Koloss etwas von Giascon und seinen Bewohnern wollte. Tief im Sockel entstand ein Brummen. Maschinen liefen an, deren Größe und Leistung Lethem nur erahnen konnte. Dem Brummen folgte ein Dröhnen, das die gesamte Stadt erfasste. Alles fing an zu zittern, als die Technostadt sich mit gewaltigem Energieeinsatz ein wenig aufrichtete, den vorderen Teil um drei, vier Grad anhob und in dieser Position stabilisierte. Fast gleichzeitig brach das Prallfeld eines der Ovalroboter zusammen. Er krachte zu Boden, rutschte über die Balustrade und verschwand in der Öffnung des Wendelgangs. Sie hörten das schleifende Geräusch, mit dem er entlang der Wandung abwärts sauste. Unten schoss er auf die Hochterrasse hinaus, wo er schließlich liegen blieb. »Haltet die Frau fest!«, schrie Lethem die drei verbliebenen Maschinen an. Übergangslos entstand der Eindruck, als bliebe die Stadt mitten in der Luft stehen. Die Technostadt war mit dem Heck in die Fluten der Lagune eingetaucht. Augenblicke später hörten sie ein Rauschen, das schnell in ein Tosen überging. Der Sockel fing an zu bocken und zu kreischen. Hochbrücken zersprangen klirrend, ein Kristallregen ergoss sich über die Stadt. Mit einem dumpfen Ächzen brach der Wendelgang in sich zusammen. Lethems Finger klammerten sich an das Geländer, dass die Knöchel weiß hervortraten. Langsam neigte sich der Boden wieder in die Horizontale, richtete sich das Geländer auf. Dann kam der Ruck. Er zerstörte innerhalb eines Sekundenbruchteils fast alle Stege und Brücken, knickte die Türme im
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Arndt Ellmer
oberen Drittel ein, brachte Hochterrassen und Balustraden zum Einsturz. Das Geländer knirschte, an mehreren Stellen brachen Verstrebungen durch. Stücke jagten wie Geschosse davon. Es grenzte an ein Wunder, dass niemand verletzt wurde. Die Gefährten lauschten in die Stille hinein, die übergangslos herrschte. Die Technostadt lag reglos da, die Plattform hatte sich in den Boden der Lagune gegraben. Statt smaragdgrünen Wassers umgab dreckig braune Brühe den Koloss. Ein paar Augenblicke hielten die Gefährten den Atem an. Dann entspannten sich ihre Gesichter. Sie waren doch noch mit einem blauen Auge davongekommen. Giascon und seine Bewohner waren bis auf Rufweite herangerückt. Drüben schien noch immer niemand davon auszugehen, dass es sich um einen Unfall handeln könnte. Lethems erste Schritte führten ihn zu Li da Zoltral. Ihre Augenlider flatterten, kurz darauf öffnete sie sie ganz. Ein staunender Blick traf Lethem. »Alles in Ordnung«, versicherte er hastig. »Wie geht es dir?« Sie war blass, bewegte schwach die Lippen. »Es ist …«, verstand er die gehauchten Worte, »… nichts in Ordnung.« Sie versuchte sich aufzurichten, aber es ging nicht. Lethem gab den Robotern Anweisung, sie im Prallfeld ein Stück anzuheben. »Litrak!«, murmelte Li da Zoltral. »Er wurde befreit! Die Zeit drängt, die gesamte Obsidian-Kluft ist in Aufruhr!« Lethem wechselte einen bedeutsamen Blick mit den Gefährten. Sie kannten die Legenden über den »Untoten Gott«. »Ich … ich …«, fuhr die Arkonidin fort und versuchte erneut, sich aufzurichten. »Ich spüre Sardaengar. Er – kommt – er kommt …«
* Noch immer liefen die Bewohner der La-
gunenstadt zusammen. Sie drängten sich an den Kais und auf den Plätzen am Hafenviertel. Sie bevölkerten die zahlreichen Docks, die wie Zacken eines Raubfischgebisses aus den Kaimauern ragten. Sie verstopften die Straßen und Gassen, jeder in dem Bemühen, einen Blick auf die goldfarben schimmernde Stadt zu erhaschen, die aus dem Himmel gekommen war. Lethem war überzeugt, dass keiner der Bewohner sich über die eigentliche Funktion der fliegenden Städte im Klaren war. Manche mochten die Schatten am Himmel für Fata Morganas gehalten haben, wehende Schatten eines unbekannten Einflusses. Dass es Zusammenhänge mit den Obsidiantoren und den Silbersäulen gab, ahnten sie höchstens, wenn sie die alten Legenden durchforsteten. »Seht ihr, was ich sehe?«, fragte der Arkonide. Die Gefährten wussten nicht, was er meinte. Er deutete auf die Gestalten am Ufer. Trotz der Entfernung sah man deutlich, dass nur ein geringer Teil der Wesen Humanoide waren. Der Großteil von Giascons Population – Lethem kniff die Augen zusammen, um die Lichtflut zu bändigen – zählte zu Völkerschaften, die er ziemlich gut kannte, Cheborparner und Hasproner, vereinzelt Chretkor dazwischen. Es sah aus, als gäben sich nichthumanoide Völkerschaften der Milchstraße hier ein Stelldichein. Lethem trat zu den Robotern. »Stellt Li auf die Füße!« Die Roboter schwebten aufwärts. Das Prallfeld hob die Arkonidin in die Senkrechte. Sie schwankte ein wenig. Eine der Maschinen reichte ihr einen Tentakel, auf den sie sich stützte. »Die Eisgruft«, ächzte sie. »Ein Schwachsinniger muss Litrak aus seinem Ewigen Gefängnis befreit haben.« Sie wandte ruckartig den Kopf. Ihr Blick schien Lethem zu durchbohren. Übergangslos fühlte er sich in ihrer Nähe unwohl. Li da Zoltral war tot. Die Frau konnte nicht das Original sein, eher eine Matrize, eine Dublette. Wie anders wäre es einem Kosmokratendiener wie Samkar sonst
Braune Pest möglich gewesen, die Frau nach so kurzer Zeit lebendig in die Obsidian-Kluft zu schicken? »Die Kräfte sind in Aufruhr geraten«, fuhr Li mit brüchiger Stimme fort. »Wir dürfen nicht zulassen, dass die Obsidian-Kluft untergeht.« »Das ist also dein Auftrag«, stellte Lethem fest. »Ich soll das Schlimmste verhindern, ja. Alles lässt sich sowieso nicht rückgängig machen.« Sie hob langsam einen Arm, die Bewegung bereitete ihr Mühe. Lethem ahnte, dass sie genesen würde, aber es brauchte seine Zeit. Diese Zeit stand ihr nicht zur Verfügung. »Ich muss weg von hier. Hinunter, hinunter. Helft mir!« Lethem wandte sich an die Roboter. »Holt ein paar eurer Kollegen und bringt uns nach Giascon.« Weitere der goldfarbenen Ovale tauchten auf. Diesmal ließen sich die Roboter mehr Zeit als zuvor bei der Rettung vor der Bergfeste Grataar. Dicht über dem Wasser der Lagune transportierten sie ihre Gäste zum westlichen Ende der Stadt, wo eine breite Mole in die Lagune hineinragte, vermutlich als Bollwerk gegen gefährliche Strömungen. An der Spitze der Mole setzten die Goldenen ihre Last ab und bildeten einen weiten Kreis um die Gruppe. Lethem richtete seine Aufmerksamkeit auf die Schaulustigen an der Kaimauer. Sie rückten neugierig näher. Doch plötzlich stoben sie auseinander. Schreiend flüchteten sie, aber da die Menge von allen Seiten nachdrängte, blieb ihnen nur die Flucht nach vorn. Erst Dutzende, dann Hunderte sprangen ins Wasser, schwammen und wateten hastig zu den Treppen und Rampen am nächsten Kai hinüber. Lethem entdeckte die Gestalt, vor der die Giasconer die Flucht ergriffen. Sie ähnelte einem riesigen Insekt von mehreren Metern Länge. Der Körper schien eine kristalline, halb durchsichtige Struktur zu haben, umgeben von einem bläulichen Schimmer. Der
39 bewegliche und im Vergleich zum Körper sehr kleine Kopf hatte eine dreieckige Form mit großen, seitlich liegenden Facettenaugen. Der Mund mit seinen Beiß- und Greifwerkzeugen stand deutlich vor. Li stöhnte. »Sardaengar in einem solchen Körper«, zischte sie dann. »Der Cyno hat verloren. Jetzt steht er vollständig unter der Kontrolle des Kristallmondes!« Ein Cyno in der Obsidian-Kluft. Lethem begriff, dass sie noch viel zu wenig über die Zusammenhänge wussten. »Er scheint nicht dein Freund zu sein, oder?« Die Arkonidin gab ihm keine Antwort, löste sich langsam von dem Roboter, der sie stützte. Erst schwankte sie, dann aber normalisierten sich ihr Gang und ihre Körperhaltung. »Bleib hier«, warnte Lethem. Sie beachtete ihn nicht. Übergangslos verwandelte sie sich in eine lebende Kampfmaschine und stürmte die Mole entlang auf den Nachbarkai zu. Das Kristallinsekt wartete reglos. Als Li sich auf Sardaengar warf, blockte dieser ihre tödlichen Schläge schon in der Distanz ab. Beinahe rücksichtsvoll schob er die verbissen Kämpfende von sich, wich ein Stück zurück – Lethem stockte unwillkürlich der Atem. Sardaengar hob das vordere, vergrößerte Fangbeinpaar und richtete es auf Li. Grellweiße Strahlen schossen hervor und hüllten die Arkonidin ein. Lethem sah einen vagen Schattenriss, der zu Boden sank. Aus und vorbei!, dachte Lethem. Das grelle Leuchtfeld blieb bestehen. Sardaengar aber wandte sich ab und stürmte davon.
9. In der Milchstraße und vor allem daheim in Thantur-Lok hätte man mich angesichts meiner Kooperation mit den Vecorat für verrückt erklärt. Individualverformer hatten nicht nur das Große Imperium attackiert und an den Rand des Abgrunds getrieben, sie
40 waren zu Zeiten der Dritten Macht auch über Terra hergefallen – zu einem Zeitpunkt, als Perry und seine Freunde nicht viel mehr besessen hatten als ein paar Psychostrahler aus dem Fundus von Crests Forschungsschiff sowie eine Hand voll terranischer Mutanten. Erst im 25. Jahrhundert hatte die USO wieder mit ihnen zu tun bekommen. Nach dem Ende der Monos-Diktatur hatte es keine Berichte über ein Auftauchen dieser Geschöpfe gegeben. Entweder waren sie ausgestorben oder lebten unerkannt unter uns. Vielleicht hatten sie sich auch in einen abgelegenen Teil der Galaxis zurückgezogen. Der Gedanke, möglicherweise mit Schuld am Untergang der letzten Vecorat zu sein, jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken. »Wo ist Tamiljon?«, rief ich der Akonin zu. Sie stieg gerade aus einem der Boote. »Er ist noch immer ohne Bewusstsein. Warum fragst du?« Ich informierte sie über seine telekinetischen Fähigkeiten, die sich auf Vitalenergie aus meinem Aktivatorchip stützten. »Ein Seelensauger«, stieß sie entsetzt hervor. »Das habe ich nicht geahnt.« Seelensauger – so konnte man es auch nennen. Tamiljon saugte die Lebensenergie aus seinem Opfer, um seine Parakraft aktivieren zu können. »Atlan, wir sollten ihn töten!« Anee wirkte wie verwandelt. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das werden wir nicht. Nicht, solange wir keinen Grund dafür haben.« Vielleicht ist der Grund längst vorhanden, fügte ich in Gedanken hinzu. Wir sehen ihn nur nicht. Ich blickte das befestigte Kanalufer entlang. Die Vecorat leerten den Inhalt der Fässer in die Wasserrinne an der Kaimauer. Es roch nach Steinöl. »Wir erhalten ein Signal, sobald alle Gruppen entlang des Kanals mit den Vorbereitungen fertig sind.« Die Seherin schien sich gefasst zu haben. »Sag ihnen, sie sollen sich beeilen.« Ich
Arndt Ellmer deutete zum Südufer. Das Shainshar rückte näher. Fahle Fladen wogten auf das Südufer zu. Die Vecorat hatten den Bezirk verlassen und sich teilweise mit provisorisch installierten Seilzügen ans Nordufer gerettet. Wie viele Opfer die Braune Pest in Yandan inzwischen gefordert hatte, würden wir wohl nie erfahren. Anee summte etwas in der Sprache der Insektoiden. Diese gaben es weiter. Wir hörten, wie das Summen am Kanal entlang nach Westen und Osten lief, bis es sich in der Ferne verlor. Weitere Vecorat stießen zu den Gruppen. Die Vorbereitungen gingen zügig voran. »Dort!« Die Seherin von Yandan deutete auf den Kanal. Die schimmernden Wucherungen türmten sich auf der Südseite inzwischen meterhoch. Immer mehr drängten durch die Gassen nach. An den Häusern barsten Türen und Holzschnittfenster. Der Druck der braunen Massen nahm Überhand. Erste Brocken stürzten ins Wasser. Das Zeug war leicht, es ging nicht unter. In Windeseile erstreckte sich die Masse zu einem mehrere Quadratmeter großen Fladen. Er trieb langsam mit der Strömung nach Westen, geriet dabei schnell und unter wellenförmigen Bewegungen in die Mitte des schätzungsweise fünfzig Meter breiten Kanals und hielt auf das Nordufer zu. Ich stieß einen leisen Fluch aus. »Sieh genau hin. Man könnte glauben, es weiß genau, was es will.« »Denkst du wirklich …« »Nein, es kann nicht sein. Das Zeug reagiert instinktiv. Aber dafür ist es verdammt konsequent.« Dennoch blieb ein ganz merkwürdiges Gefühl in der Magengegend. Am Südufer ragte inzwischen ein gewaltiger brauner Gletscher auf, der sich den Kanal entlangzog und ununterbrochen kalbte. Wenn diese riesigen Mengen alle über das Hafenbecken und den Barik gekommen waren, existierte die Südstadt inzwischen nur noch dem Namen nach. »Aufpassen!«, rief ich. Die ersten Fladen erreichten Ufernähe. »Und jetzt – anzün-
Braune Pest den!« An drei Dutzend Stellen senkten sich Fackeln in die mit Petroleum gefüllte Rinne, die gewöhnlich das Regenwasser sammelte. Sofort loderte ein Flammenvorhang von einem Meter Höhe auf. Das Steinöl von Vinara V brannte gut und erzeugte Hitze. »Achtung! Gießt Öl nach! Öffnet überall dort die Abläufe, wo das Zeug an Land kriechen will.« Die Vecorat taten wie geheißen. Aber die Braune Pest kroch nicht heran. Sie warf sich aus dem Wasser an Land. Meterhohe Fladen schnellten an der Kaimauer empor, warfen sich auf das Feuer und schmorten unter der Hitze zu kleinen Klumpen. Wieder flackerte das Feuer auf. Öl lief durch die Abläufe ins Wasser, entzündete sich. Die Hitze trieb die Fladen vom Ufer weg, verschmorte einen Teil davon. Ich hörte ein Dutzend klatschender Geräusche irgendwo hinter den Vecorat. Plötzlich lagen glimmende Flocken herum, die sich hastig in Richtung Kanal schoben. »Vorsicht, hinter euch!« Wir sprangen auf, griffen uns Ersatzfackeln und entzündeten sie. Es gelang uns, einen Großteil der Flocken zu verbrennen. Aber dann benötigten wir die Fackeln zum Ausleuchten des Himmels, von dem es Shainshar zu regnen begann. Ich rief die Vecorat zurück. Sie entzündeten das Öl in den offenen Fässern, dann flohen sie zu uns und den Petroleumreserven. Das Klatschen nahm zu. Es hörte sich an, als fielen nasse Tücher vom Himmel. Irgendwo im Osten und im Westen erklangen zwei Signalhörner. Es war das Zeichen, dass die Vorbereitungen entlang dem Stadtkanal beendet waren. Wir wussten jetzt, dass wir diesen Kampf nicht gewinnen konnten. »Gib den Rückzugsbefehl«, bat ich Anee. Ein Stück im Westen hatten gewaltige Mengen der Braunen Pest die Flammenwand auf der Kaimauer erstickt und machten sich über die Holzboote her. Der Rückweg in den Palast war uns damit abgeschnitten. Die Seherin summte laut Signale, die Ve-
41 corat gaben sie hastig weiter. »Was liegt im Norden der Stadt hinter Thalim Bhuross?«, fragte ich. »Der Imraptan-Bezirk.« »Gut. Die Vecorat sollen sich dort sammeln und erkunden, wie schnell die Braune Pest vordringt.« »Und wir?« »Wir versuchen, uns bis zu deinem Tempel durchzuschlagen.« »Viel wird nicht mehr von ihm übrig sein.« »Falls doch, haben wir noch eine Chance, das Shainshar dort zu bekämpfen, wo es herkommt. In der Technostadt.« Es war ein Gedanke, aus der Verzweiflung geboren. Hätte ich Litrak nicht aus seiner Eisgruft befreit, hätte er die Technostadt nicht gestartet. Und das Shainshar hätte keinen Weg ins Freie gefunden. Wir wären nicht nach Vinara V gelangt, sondern vermutlich direkt auf die Originalwelt. An allem war ich Schuld, ein unsterblicher Arkonide, den unbegreifliche Mächte hierher versetzt hatten. Wenn niemand dir sagt, wie alles zusammenhängt, kann sich auch keiner bei dir beschweren, wenn du einen Fehler begehst, lautete der lakonische Kommentar des Extrasinns.
* Yandan schien wie ausgestorben. Unsere Schritte bildeten das einzige Geräusch in den leeren Straßen und Gassen. Nur die Fackeln und Windlichter brannten. Sie zauberten gespenstische Schatten auf die Fassaden und den Boden. Anee blieb plötzlich stehen. »Da!« In einem Innenhof sah ich ein zweiachsiges Gefährt, vor dem vier Weyln in ihrem Geschirr standen und an ein paar Knochen nagten. »Ein Prunk-Kampfwagen der Garde, ich erkenne das Emblem des Generals. Da es sich um keine Kaserne handelt, vermute ich, dass seine Familie hier wohnt.«
42 Wir riefen nach Agustox Drox. Niemand antwortete. Die Vecorat hatten bereits das Weite gesucht. »Wir nehmen ihn, dann kommen wir schneller voran.« Augenblicke später saßen wir in den weichen Samtpolstern. Anee nahm die Leinen auf und schnalzte mit der Zunge. Die Weyln warfen den Knochen einen letzten schiefen Blick zu und setzten sich in Bewegung. Anee holte alles aus diesen Tieren heraus. Irgendwie schienen sie zudem einen ausgeprägten Instinkt ähnlich dem des Shainshar zu besitzen. An mehreren Kreuzungen stoppten sie, verweigerten den Gehorsam und zogen den Wagen in eine andere Straße. Die Akonin passte ihre Route dem Willen der Tiere an. Ohne auch nur eine einzige Wucherung oder eine Flocke von dem braunen Zeug zu Gesicht zu bekommen, erreichten wir die Prachtstraße. Die Entfernung bis zur Silbersäule und dem Tempel schätzte ich auf etwas mehr als einen Kilometer. Diesmal erhoben die Weyln keine Einwände gegen die Route. Die Braune Pest befand sich nicht in der Nähe. Ich fand das seltsam, denn sie war uns am Morgen den Barik hinaufgefolgt und hatte den Südosten der Stadt bedroht. Es gab nur eine Erklärung. »Im Wasser ist das Zeug sehr viel schneller als an Land«, sagte ich. Es war der Stadtmauer bis zum ZamanUfer gefolgt und von dort ins Hafenbecken eingedrungen. Warum es den Südostteil der Stadt bisher verschont hatte und gezielt auf den Palast und den Stadtkanal vorrückte, blieb allerdings ein Rätsel. Anee gab mir keine Antwort. Sie jagte die Weyln die Prachtstraße entlang und hatte Mühe, die Zugtiere zu bremsen. Sie schossen an dem Halbkreis der Tempelgebäude vorüber. Die Akonin lenkte die Tiere in einem weiten Bogen zum ursprünglichen Ziel zurück. Unmittelbar vor der Säule brachte sie den Wagen zum Stehen. Ich sprang ab. »Warte hier auf mich. Es dauert nicht lange.«
Arndt Ellmer »Wie lange?« »Eine halbe Stunde, schätze ich.« »Ich komme mit.« »Die Säule lässt dich nicht hinein.« Ich trat drei Schritte nach vorn und streckte die Hand mit dem Armband aus. Sie verschwand in dem matt angelaufenen Material. Anee stieß einen Ruf des Erstaunens aus. Ich zögerte einen Augenblick, dann trat ich ein. Drinnen fand ich wie in der Eisgruft einen fünf Meter durchmessenden Raum mit gewölbter Decke. Ein angenehmes Flüstern hieß mich willkommen und vermittelte mir das Gefühl, unter Freunden zu sein. In meinem Kopf entstand ein mentaler Impuls. Melde volle Funktionsbereitschaft, Herr! Erwarte deine Befehle. Ich brauche ein Fluggerät für vier Personen mit einer ausdauernden, internen Energieversorgung und starken Scheinwerfern. Planetarer oder interplanetarer Einsatz? Planetarer. Ein Hologramm baute sich vor mir auf. Es zeigte ein windschnittiges Gefährt in Leichtbauweise, aerodynamisch gestylt und mit Bedienungselementen, die auf humanoide Benutzer zugeschnitten waren. Ich bin mit dem Modell einverstanden. Bitte gedulde dich ein wenig. Aus der Wandung des Turmes lösten sich winzige Silbertröpfchen, die kleinsten Komplexe aus Nanomodulen, die der Turm erzeugen konnte. Erst waren es wenige, dann immer mehr. Bald strömten Tausende und Abertausende heraus, vereinigten sich zu einem dichten, waagrecht verlaufenden Wasserfall, der sich von außen in Richtung Zentrum des Hohlraums ergoss. Dort fügte er sich zu flirrenden Umrissen des im Hologramm beschriebenen Flugzeugs zusammen. Nur wenige Minuten dauerte es, bis die Umrisse feste Oberflächen erhielten und sich im Innern erste Bedienungselemente erkennen ließen. Keine zehn Minuten vergingen, dann senkte sich das Flugzeug nach unten, die Holoprojektion erlosch. Stets zu Diensten, teilte die mentale Stim-
Braune Pest me der Silbersäule mit. Ich danke dir. Bring das Flugzeug nach draußen. Gern. Ich diffundierte durch die Wandung, sah das erschrockene Gesicht der Akonin im Kampfwagen und hörte das nervöse Stampfen der Weyln. »Ich ahnte es. Du hattest keinen Erfolg. Was jetzt?« »Warte ein paar Augenblicke.« Das Fluggerät glitt ins Freie. Erst trat die stumpfe Bugnase zu Tage, dann folgte der schmale, fast grazile Rumpf. Einen Viertelmeter über dem Boden blieb das Nanomodulprodukt schweben. »Bitte steig um.« Anee ließ es sich nicht zweimal sagen. Sie warf die Leinen nach vorn über die beiden hinteren Tiere. Ein paar zischelnde Laute folgten. Die Weyln warfen ihre Köpfe hin und her, öffneten weit die Nüstern, dann rannten sie mit dem Prunkwagen davon. Ich half der Seherin an Bord und kümmerte mich anschließend um die Steuerung des Fluggeräts. Sie entsprach dem Standardtypus, den ich von meinem Umgang mit Kosmokraten, Rittern der Tiefe und Dienervölkern der Hohen Mächte her kannte. Sie funktionierte hauptsächlich nach denselben logischen Prinzipien, wie wir sie auch in den galaktischen Flotten der Milchstraße benutzten. Die Scheinwerfer schwenkten teils nach oben, teils nach unten. Auf diese Weise konnten wir das Gelände beobachten und gleichzeitig fliegendes Shainshar rechtzeitig erkennen. Ich ließ das Nanomodulgefährt bis über die Giebel der Häuser steigen. Wo die Prachtstraße bisher leer gewesen war, wogten braune Wucherungen und drängten immer schneller nach Osten und Norden. Ich beschleunigte und lenkte das Fluggerät nach Süden über den See. »Ich kann an diesem Vehikel keine Waffensysteme erkennen«, sagte Anee nach einer Weile.
43 »Wozu? Energiewaffen funktionieren nicht, und mit Feststoffgeschossen auf die Braune Pest schießen nützt nichts. Die muss man dort bekämpfen, wo sie entstanden ist.«
10. Im Licht der Scheinwerfer bot sich ein erschreckendes Bild. Der Durchmesser des Klumpens betrug höchstens noch vierhundert Meter. Der Sockel der Technostadt war in sich zusammengesunken. Dort, wo sich die Wölbung befunden hatte, existierten jetzt Dellen mit Schluchten und Kratern. Die Außentürme, Zwiebelkuppeln und Kugelpyramiden waren verschwunden, in die Tiefe gestürzt und vom Shainshar aufgefressen. Nur in der Mitte hielten die tragenden Elemente der Konstruktion noch. Um das Wrack wogte eine schätzungsweise fünfzig Meter hohe Masse aus braunen Wucherungen. Auf dem Untergrund fanden sie garantiert nichts mehr zu fressen, höchstens das blanke Gestein. Dennoch schien die Menge seit dem Morgen ununterbrochen gewachsen zu sein. Flocken stiegen in großen Schwärmen auf, wirbelten im Wind durcheinander, der vom Meer her Richtung Stadt wehte. Ich flog mehrere Ausweichmanöver, bis ich die Südschneise erreichte und den Anflug wagte. »Bei Tagesanbruch war das noch eine voll funktionsfähige Stadt«, sagte ich. »Jetzt ist es ein Trümmerhaufen.« Die Seherin von Yandan schwieg, richtete ihre Aufmerksamkeit auf das Zentrum der Stadt. »Wo willst du landen?« Ich deutete auf das mit Schmelzwasser gefüllte Loch, das einmal die Gruft Litraks gewesen war. Der Verbrecher kehrt immer an den Ort seiner Tat zurück, spottete der Extrasinn. Litraks Befreiung geschah unwissentlich. Das weißt du genau. Manchmal wünschte ich mir, die gefährliche Prozedur der ARK SUMMIA nie mitgemacht zu haben und keinen Extrasinn zu be-
44 sitzen. Andererseits hatte er mir durch logische Schlussfolgerungen oder Warnungen schon unzählige Male das Leben gerettet und mir geholfen, ganze Völker vor dem Untergang zu bewahren. In einem weiten Bogen lenkte ich das Flugzeug von Südosten herein, bis es auf der Süd-Nord-Achse wie auf einer Landebahn nach unten sank. Am Rand des Sockels brodelte es noch immer. Das Licht der starken Scheinwerfer fiel beim Überflug in die Krater und Schluchten. Unten wogte die Braune Pest, fraß in ihrer Unersättlichkeit alles auf, was sie fassen konnte und als Nahrung einstufte. Ich war überzeugt, dass es in der Technostadt nichts gab, was für diese wilden Wucherungen ungenießbar war. »Gerade so, als seien sie außer Kontrolle geraten …« »Wovon sprichst du?« »Das Shainshar – es wird den ganzen Planeten kahl fressen, wenn niemand ihm Einhalt gebietet.« Das Fluggerät sank tiefer. Ich ließ es eine Weile kreisen. Die Wucherungen behielten ihr Verhalten bei. Von dem, was sich im Zentrum der Plattform abspielte, schienen sie keine Notiz zu nehmen. »Ich muss als Erstes in eine der silbernen Säulen«, sagte ich. »Achte auf die braunen Flocken«, riet ich Anee. »Bringe dich bei Gefahr unter dem Rumpf in Sicherheit. Gib mir dann Klopfzeichen.« Dicht neben der Silbersäule hielt ich das Fluggerät einen halben Meter über dem Boden an und sprang ab. Mit ausgestreckten Armen tauchte ich in das Material ein, fand einen Hohlraum mit denselben Ausmaßen wie bei den anderen Säulen vor. Willkommen, hoher Herr, empfing mich die Gedankenstimme. Was kann ich für dich tun? Du weißt, was draußen geschieht? Es ist mir bekannt. Ich kann nichts dagegen tun. Ich muss eine Möglichkeit finden, wie ich dem Shainshar Einhalt gebieten kann. Das wird schwierig. Der braune Orga-
Arndt Ellmer nismus vermehrt sich rasend schnell. Ein Teil der Streben unter der Oberfläche ist zerstört. Die Belastungsgrenze liegt nur noch bei achtzehn Tonnen pro Quadratmeter. Gibt es keine Waffen dagegen, die funktionieren? Oder einen Transmitter vielleicht, mit dem man die Braune Pest ins Weltall abstrahlen kann? Gegen das Shainshar gibt es kein Mittel. Solange es auf Vinara Fünf etwas zu fressen findet, wird es existieren. Und danach? Danach frisst es sich selbst auf, verzehrt dadurch mit der Zeit seine eigene Energie und stirbt irgendwann nach ein paar tausend Jahren ab. Es ist entartet. Entartet! Automatisch dachte ich an die PAN-THAU-RATragödie. Lief es in der Obsidian-Kluft ebenfalls auf den drohenden Untergang allen organischen Lebens hinaus? Mein Extrasinn hatte Recht. Die Mächte, die mich und vermutlich auch die TOSOMA hierher gebracht hatten, wussten um die Gefahr für dieses seltsame Miniaturuniversum – und nicht nur für das. Die Belastungsgrenze liegt nur noch bei zehn Tonnen pro Quadratmeter!, warnte mich die Säule. Geh, bevor es zu spät ist. Ich danke dir. Augenblicke später stand ich draußen. Anee hing über dem Rand des Fluggeräts. Als sie mich entdeckte, deutete sie zu einem Turm. »Er neigt sich zur Seite. Siehst du die Delle im Boden? Es dauert nicht mehr lange, bis das Material reißt.« So schnell es ging, kletterte ich in das Flugzeug. Am Turm entstand ein Riss. Braunes Material drängte ins Freie, begleitet von Explosionen und dem Zischen von Kurzschlüssen. Übergangslos hüllte sich der Turm in einen Funkenregen. Das Oberflächenmaterial verfärbte sich. Unser Fluggerät raste senkrecht nach oben. Die Silbersäule daneben wackelte. Sie streifte das Nanomodulgerät leicht, richtete aber zum Glück keinen Schaden an. Ein
Braune Pest
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Angstschrei drang in mein Bewusstsein. Es war die Säule, die um Hilfe rief. Augenblicke später krachte sie auf die Oberfläche der Plattform und zersplitterte. Unser Abschied von der Technostadt glich einer Flucht. Und er war endgültig. Der Turm schwankte eine Weile, wobei er sich wie ein Kreisel drehte. Dann brach er ein. Mit der Wucht eines abstürzenden Raumschiffs raste er in den Sockel hinein. Tonnen von braunem Material schleuderten nach allen Seiten und in die Höhe. Anee stöhnte, klammerte sich an einer der Haltestangen fest. Wir waren schon hoch genug, die Braune Pest erreichte das Fluggerät nicht. Zehn, fünfzehn Meter darunter erreichten die Fetzen den höchsten Punkt ihrer Bahn, bevor sie zurück auf die Plattform stürzten. Der Einschlag des Turms zerriss den Sockel. Er brach weiter ein. Die Technostadt veränderte ihre Gestalt jetzt unaufhörlich. Immer mehr ähnelte sie einem krustenverklebten Fladen. Niemand, der sie jetzt so sah, hätte in ihr die Eisgruft wiedererkannt. Sturm kam auf. Die Seherin befeuchtete einen Finger und streckte ihn nach oben. »Der Seewind nimmt zu. Bald geht die Sonne auf.«
* Das Licht der Scheinwerfer geisterte über die Südstadt. Die Braune Pest füllte inzwischen alle Gassen und Straßen aus. Ein stetes Schmatzen und Brodeln begleitete das Vordringen. »Die Säule«, flüsterte Anee. »Auch sie fällt.« Von den Tempelbauten war längst nichts mehr zu sehen. Der hundertfünfzig Meter hohe Zylinder neigte sich immer mehr zur Seite und stürzte schließlich in die Braune Pest. Sekunden vergingen, dann war er in der Masse der Wucherungen untergegangen. Die Seherin knirschte mit den Zähnen. »Und jetzt?« Ich blieb ihr die Antwort schuldig. Wir
flogen dorthin, wo sie unsere Hilfe am ehesten benötigten. Ein Teil des Palastes ragte noch aus der organischen Masse heraus. Hoch oben auf den Türmen sah ich Vecorat mit Fackeln stehen. Sie warten auf uns, erkannte ich. Die Lichter sollen uns den Weg weisen. Drizzt-Rilice konnte gar nicht sicher sein, dass wir noch lebten. Selbst wenn sie Nachricht von den Vorgängen am Kanal erhalten hatte, über unseren Verbleib gab es keine Informationen. Meine Hochachtung vor der Königin stieg. Ein paar der Vecorat verschwanden von den Türmen. Sie hatten unser fliegendes Objekt entdeckt. Die braune Masse schob sich immer höher an den Mauern des Palastes empor. Der Vorgang spielte sich in Schüben ab, folgte präzise den physikalischen Vorgaben der Mechanik. Mit jedem Meter, den das Zeug höher kletterte, verstärkte sich darunter die Basis zu einem schrägen Damm, der das anwachsende Gewicht stützte und verhinderte, dass das Shainshar zurück auf den Boden stürzte. Wo es Fenster in dem Mauerwerk gab, sprengte das Zeug die Holzgitter und drängte in die Zimmer und Gänge. Wir hörten schrille Insektenschreie. Es war höchste Zeit. Während am Kanal Häuser einstürzten und eine Barriere aus Steinen sich auftürmte, ließ ich das Fluggerät hinuntersinken. »Dort, in den Innenhof!« Anee deutete auf die kunstvoll verzierten Holzornamente, die eine Art Baldachin über dem Areal bildeten. Wir sahen Vecorat, die sich hastig von einem Gebäudeflügel zum nächsten bewegten. »Passt auf, da unten!«, rief ich zur Warnung. Die Höflinge verschwanden in den Gebäuden. Augenblicke später durchschlug das Fluggerät den Baldachin, der den Innenhof gegen das Sonnenlicht abschirmte. Ich landete. Die Vecorat umringten das Vehikel. Ich schwang mich über den Rand. »Holt die Königin! Wo ist Tamiljon?«
46 Sie führten uns in ein mit weichen Polstern ausgestattetes Zimmer. Der Schwarzhäutige war noch immer bewusstlos. Die Kristalle wucherten vom Hals auf seine Schultern und den Nacken hinab und rahmten sein Gesicht ein, als könne sich der Kopf aus eigener Kraft nicht mehr aufrecht halten und sie mussten ihn stützen. Ich kniete neben Tamiljon nieder. Zu meinen Freunden zählte ich ihn nicht gerade. Er hatte mich die ganze Zeit unseres gemeinsamen Weges im Unklaren über seine Absichten gelassen, hatte sich schließlich als Gegenspieler erwiesen. Er hatte mir falsche Informationen gegeben und trug dadurch eine Mitschuld an der Befreiung Litraks aus seinem Eiskerker. Aber dann hatte ihn der Splitter getroffen, und jetzt hüllten die Auswüchse des Kristalls seinen Körper immer mehr ein. Ich tätschelte die Wange des Schwarzhäutigen. »Wach auf! Wir brauchen dich!« Er rührte sich nicht. Ich verlangte ein Riechfläschchen oder irgendein scharf riechendes Gewürz. Anee brachte schließlich ein Duftöl der Königin. Es stank ein wenig nach Ammoniak und Rosenwasser, eine scheußliche Mischung. Ich hielt es Tamiljon unter die Nase. Er zuckte nicht einmal. »Wach auf«, versuchte ich es erneut. »Wir brauchen dich!« Ein Klaps links und einer rechts auf die Wange schienen Wunder zu wirken. Die Nasenflügel zuckten plötzlich, Tamiljon drehte den Kopf vom Riechfläschchen weg. Blitzartig öffnete er die Augen. »Atlan, ist es schon Morgen?« Er schien zu glauben, eine ganz gewöhnliche Nacht verbracht zu haben. »Die Sonne geht bald auf. Das Shainshar dringt in den Palast ein. Komm!« Er sprang auf. Die Kristalle an seinem Hals knirschten. Tamiljon tat, als bemerke er es nicht. Wieder erklangen Schreie im Palast. Die Königin saß in der Falle. Wir rannten hinter den Vecorat her, die uns führten. An der prunkvollen Treppe in die königlichen Ge-
Arndt Ellmer mächer erstarrten sie. Die Braune Pest wälzte sich die Treppe hinauf. »Versuch es!«, forderte ich den Telekineten auf. »Nimm dir so viel Vitalenergie, wie du brauchst. Aber zerquetsche das Zeug.« Ich sah, wie sein Gesicht zur Maske erstarrte. Jeder Muskel und jede Sehne spannte sich. Ein wenig traten ihm die Augen aus dem Kopf. Dann spürte ich den plötzlichen Sog, als entziehe Tamiljon mir jegliche Lebensenergie. Müdigkeit erfasste mich sofort, verbunden mit nachlassender Konzentration. Einen Augenblick überlegte ich, wo ich war. Die braune Masse geriet ins Stocken. Für einen kurzen Augenblick nur, dann setzte sie ihren Weg nach oben fort. Schweiß lief übergangslos in Bächen über Tamiljons Gesicht. »Entartetes Leben«, stieß er hervor und bestätigte damit, was ich von der Silbersäule in der Technostadt wusste. »Ich schaffe es nicht!« Das Shainshar witterte uns, bildete Beulen in unsere Richtung aus. »Geh zur Seite.« Wenn irgendjemand jetzt noch etwas bewirken konnte, dann ich. Langsam setzte ich mich in Bewegung. Die Beulen zuckten blitzschnell zurück. Meine Ausstrahlung löste eine Reaktion aus, der es nicht widerstehen konnte. Vielleicht auch ein Urinstinkt. Ich bewegte mich vorsichtig zur Treppe. Die Masse wich aus, so weit sie konnte. Sie floss die Stufen hinab an mir vorbei. Da jedoch von unten immer mehr Shainshar nachdrängte, geriet der Vorgang ins Stocken. Die Wucherungen in meiner Nähe änderten die Farbe. Gleichzeitig löste sich der molekulare Zusammenhalt der Masse auf. Das Shainshar zerfiel zu Staub. Ich machte einen Schritt nach vorn, dann den zweiten. Es versuchte zu fliehen, kam aber nicht vom Fleck. Der Zerfallsprozess ging weiter bis zu einem Abstand von fünfeinhalb Metern. Dort hörte er auf. Als sei das eine Art Sicherheitsabstand oder eine genetisch verankerte Ehrfurchtsdistanz zu einem Ritter der Tiefe, dachte ich. Oder zu einem der sieben beziehungswei-
Braune Pest se acht Mächtigen! »Holt die Königin und ihre Begleiter herunter!«, wandte ich mich an die Vecorat. »Beeilt euch!« Auf dem unteren Teil der Treppe staute sich weiteres Shainshar und erreichte bald die Decke. Die Substanz wucherte viel zu schnell, der Wind verteilte die Flocken nach wie vor wie Wattebäusche über die Stadt und das Land. Allein hätte ich es nie geschafft, die entstandene Masse zu dezimieren oder irgendwann ganz zu zerstören. Die Vecorat kehrten mit ihrer Königin zurück. »Du musst den Palast aufgeben«, sagte ich. »Alles andere wäre Selbstmord.« »Ich verlasse mein Nest nicht. Mein Volk soll gehen. Eine neue Königin wird ihm erwachsen, wenn die alte tot ist.« »Dein Volk braucht eine Anführerin wie dich. Bis die neue Königin erwachsen und reif ist, kann vieles geschehen.« »Was willst du?« »Dein Volk versammelt sich im ImraptanBezirk. An dessen nordöstlichem Rand steht ein Obsidiantor. Wir werden es benutzen und die Stadt auf diese Weise verlassen.« Ich sprach es nicht aus, aber Yandan war nicht mehr zu halten, kein Stadtteil, keine Straße, nicht einmal der Kanal. Die Braune Pest würde sich innerhalb von zwei, drei Tagen über das gesamte Delta und bis zu den Gebirgszügen im Westen und Osten ausbreiten. Vinara V war dem Untergang geweiht – ein ganzer Planet mit allem, was auf ihm existierte. Und wenn du durch das Obsidiantor auf eine andere der vier Welten gehst und selbst winzige Partikel des Shainshars dir durch den Transmitter folgen, bist du ein Massenmörder, dachte ich niedergeschlagen. Drizzt-Rilice musterte nacheinander ihre Zofen und Gardisten. »Mich bringt kein Shainshar hier weg. Ich werde auch nicht zulassen, dass ihr geht.« Das war konsequent, aber es war keine Lösung. Die Königin würde es kaum verstehen.
47 Ich wechselte einen Blick mit der Seherin. Sie senkte fast unmerklich die Lider. Blitzschnell streckte ich den rechten Arm aus. Zwei meiner Finger berührten die Königin seitlich am Hals. Wenn sie überhaupt etwas spürte, dann ein sanftes Streicheln. Mein Dagorgriff legte einen Teil ihrer wichtigsten Nervenknoten zwischen Gehirn und Körper lahm. Drizzt-Rilice faltete sich zusammen wie Anees einstiger Klappstuhl. Die Gardisten fingen sie auf und betteten sie auf ein paar Tücher. Ich deutete zur Tür. »Wir bringen sie zum Fluggerät.« Hinter uns brandete die Braune Pest erneut die Treppe herauf.
11. Unser Flugzeug hing hoch über dem Palast. Anee, Tamiljon und Drizzt-Rilice waren an Bord. Aus der Vogelperspektive dirigierten wir den Abzug der Garde und des Personals. Der Weg nach Imraptan war ihnen abgeschnitten, aber am Kanal entlang nach Westen gab es noch keine Wucherungen. Der Wind hatte gedreht, er blies aus Nordwesten. Er trieb die Flocken zurück in jene Richtung, aus der sie gekommen waren. »Selbst wenn es den Vecorat gelingt, bis auf die andere Seite des Kontinents zu kommen, haben sie höchstens ein paar Wochen oder Monate Frist«, sagte die Seherin leise. »Eine Frist, die sich nutzen lässt. Sie reicht, um die Standorte weiterer Obsidiantore auf Vinara Fünf in Erfahrung zu bringen und die Vecorat zu evakuieren.« Die Akonin musterte mich von der Seite. »Daran glaubst du selbst nicht, oder?« »Vielleicht …« Wenn wir es auf diesem Weg nicht schafften, gab es immer noch das Kugelschiff, bei dem es sich nur um die TOSOMA handeln konnte. Wir mussten es finden. Mit ihm war es kein Problem, ein paar hunderttausend oder selbst Millionen Vecorat auf eine der anderen Spiegelwelten oder die Originalwelt zu transportieren. »Vertraue mir, Anee. Es gibt eine Rettung
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für diese Wesen.« Wir verabschiedeten uns von den Flüchtlingen durch Zurufe und überflogen Imraptan. Am östlichen Horizont zeigte sich der erste orangefarbene Lichtstreifen des beginnenden Tages. Zwanzig Runtsch waren es vom Palast bis zum Obsidiantor. Irgendetwas stimmte nicht. In den Straßen und Gassen des nördlichen Stadtbezirks entdeckten wir keinen einzigen Vecorat. Wir erwarteten Flüchtlingsströme nach Norden und Nordwesten, stattdessen fanden wir fahl leuchtende Flächen bis zum Stadtrand. »Das Zeug hat uns an der Nase herumgeführt«, murmelte Tamiljon. »Es ist den Barik hinauf- und durch den Aro-See an der östlichen Peripherie entlanggewandert, um die Stadt einzukreisen. Das kann man nicht mehr als bloßen Jagdinstinkt bezeichnen.« Ich nahm Kurs auf das Obsidiantor. Es lag
in einer Geröllebene zwischen Imraptan und den Ausläufern der Oststadt. Als ich hinschaute, schwappte eine mehrere Meter hohe Shainshar-Mauer zwischen den Häusern hervor. In hektischen Wellen ergoss sie sich in die Ebene, strömte nach Norden, hinter unserem Fluggerät her. »Das ist Zauberei, Magie«, stöhnte die Seherin. »Die Braune Pest will unsere Flucht vereiteln.« Ich belastete den Antrieb der Nanomaschine bis an die oberste Grenze, aber das Shainshar blieb uns auf den Fersen. »Schneller, Atlan!«, feuerte Tamiljon mich an. »Häng das verfluchte Zeug ab!« »Tut mir Leid. Schneller geht es nicht.« Die Braune Pest holte auf …
ENDE
Atlans Kampf gegen die Braune Pest auf Vinara V scheint aussichtslos. Die Stadt Yandan steht kurz vor der Zerstörung, überall breiten sich braune Flecken aus. Der Unsterbliche steuert ein Obsidiantor an, die einzige Rettung … Ralf Schuders Roman IM LAND DER SILBERSÄULEN beschreibt die weiteren Ereignisse auf den Vinara-Welten, die aus ihrer gemeinsamen Umlaufbahn zu stürzen drohen. Band zehn dieser zwölfbändigen Miniserie erscheint in zwei Wochen überall im Zeitschriftenhandel.