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Yu Hua
Brüder
Aus dem Chinesischen von Ulrich Kautz S. Fischer
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Der Verlag dankt dem Übersetzungsfonds des Amtes für Presse und Publikationswesen der VR China für die großzügige Förderung der Übersetzung. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Xiongdi« im Verlag Schanghai Wenyi Chubanshe, Schanghai, 2005 (Teil I) und 2006 (Teil II). This translation published by arrangement with Pantheon Books, a division of Random House, Inc. © 2005/2006 Yu Hua Für die deutsche Ausgabe: © 2009 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Satz: H & G Herstellung GmbH Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-10-095803-7 3
Teil I Glatzkopf-Li, der Super-Multimillionär in unserer kleinen Stadt Liuzhen, hegte einen fantastischen Plan: Er wollte sich für zwanzig Millionen Dollar ein Ticket für das russische »Sojus«-Raumschiff kaufen. Mit geschlossenen Augen auf seinem stadtbekannten vergoldeten Klosett thronend, stellte er sich vor, wie er auf seiner Umlaufbahn durch die unendlichen Weiten des Weltraums kurven würde, ringsumher nichts als unermessliche Stille, während sich tief unter ihm die Schönheit unseres herrlichen Erdballs langsam entrollte, sodass ihm vor lauter Ergriffenheit Tränen in die Augen traten. In diesem Moment kam ihm zum Bewusstsein, wie einsam und verlassen er in dieser Welt war. Es gab einmal einen Menschen, der ihm nahestand wie kein anderer. Das war sein Bruder Song Gang, ein Jahr älter und einen Kopf größer als er. Doch dieser aufrechte, unbeugsame Mann, der seinem Namen alle Ehre gemacht hatte - gang bedeutet »stählern« -, war seit drei Jahren tot, war nur noch ein Häufchen Asche in einem kleinen Holzkasten. Selbst der kleinste Baum hinterließ mehr Asche, als von seinem toten Bruder übrig geblieben war! Als seine Mutter noch lebte, hatte sie oftmals zu ihm gesagt: »Wie der Vater, so der Sohn!« Damit hatte sie Song Gang gemeint. Ein aufrechter, ein guter Mensch sei der, genau wie sein Vater - zwei Melonen, die an einer Ranke gewachsen seien. Über Glatzkopf-Li sagte sie so etwas nicht. Sie schüttelte
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nur immer wieder den Kopf und meinte, Glatzkopf-Li und sein Vater seien grundverschieden. Ihre Meinung änderte sie jedoch gründlich, als ihr vierzehnjähriger Sohn dabei erwischt wurde, wie er in einer öffentlichen Toilette die Hinterteile von fünf Frauen ausspionierte. Da musste sie erkennen, dass der Junge und sein Vater in Wahrheit ebenfalls zwei Melonen an einer Ranke waren. Glatzkopf-Li entsann sich genau, wie erschrocken seine Mutter damals die Augen abgewandt und ihm den Rücken zugekehrt hatte, als sie unter Tränen murmelte: »Ach ja, wie der Vater, so der Sohn!« Diesen Vater hatte Glatzkopf-Li allerdings nie kennengelernt, denn der hatte am Tag seiner Geburt buchstäblich zum Himmel stinkend das Zeitliche gesegnet. Der Mutter zufolge war er ertrunken. Glatzkopf-Li fragte, ob im Fluss, in einem Teich oder im Brunnen, aber sie hatte eisern geschwiegen. Erst später, als er in der Toilette bei der Frauenarschbeschau ertappt wurde und sich sein schlechter Leumund mit Windeseile in unserer kleinen Stadt Liuzhen verbreitete, ging ihm auf, dass er und sein Vater tatsächlich zwei Melonen - zwei stinkende Melonen! - waren, die an ein und derselben Ranke wuchsen, denn der Vater war bei dem Versuch, Frauenhintern von unten zu beäugen, in der Jauchegrube des Plumpsklos ertrunken. Von da an machte der Spruch »Wie der Vater, so der Sohn!«, in unserer kleinen Stadt Liuzhen die Runde - so gewiss jeder Baum Blätter hat, so unfehlbar führte jedermann diese Worte im Munde. Alte und Junge, Männer und Frauen, jeder ließ sich die sieben Silben genüsslich auf der Zunge zergehen. Selbst die Allerkleinsten, die gerade erst mühsam 5
das Sprechen erlernten, konnten sie schon lallen. Man zeigte mit Fingern auf Glatzkopf-Li, zerriss sich hinter seinem Rücken das Maul und machte sich mehr oder minder unverhohlen lustig über ihn. Er aber spazierte mit ungerührter Miene durch die Stadt, als wäre nichts geschehen. Dabei konnte er sich das Lachen kaum verbeißen, denn mit knapp fünfzehn (so alt war er damals) wusste er bereits, was das ist ein Mann. In der heutigen Zeit kannst du dich vor nackten Frauenärschen nicht retten. Im Fernsehen, im Kino, aufVCD und DVD, in der Werbung und in Illustrierten, auf Kugelschreibern und Feuerzeugen überall lacht dich ein blanker Hintern an. Es ist gar nicht mit Blicken zu erfassen, was dir da alles geboten wird: weiße Ärsche und gelbe, schwarze und braune, importierte und einheimische, große und kleine, fette und magere, glatte und raue, junge und alte, falsche und echte ... Ein nackter Frauenhintern ist heute nichts Besonderes; du reibst dir die Augen und siehst einen, du musst niesen und hast einen vor dir, du gehst um die Ecke und stolperst über einen. Das war früher anders, da war ein blanker Hintern noch etwas, das nicht mit Gold aufzuwiegen war. Auch nicht mit Silber oder sonstigen Schätzen. Damals konntest du nur versuchen, im Klo einen zu erspähen. Ebendeshalb gab es solche kleinen Spanner wie Glatzkopf-Li, der sich dabei erwischen ließ, oder solche großen Spanner wie seinen Vater, den sein Trieb sogar das Leben kostete. Die öffentlichen Toiletten waren zu jener Zeit anders als die heutigen. Heute bekämst du selbst mit Hilfe eines Periskops keinen Frauenhintern zu sehen. Früher aber waren die Abor6
te für Männer und Frauen zwar durch eine dünne Trennwand voneinander geschieden, die Jauchegrube darunter jedoch war nicht unterteilt. Wenn jenseits der Trennwand eine Frau klein oder groß machte und du alle Geräusche klar und deutlich mit anhörtest, sodass du ganz gieprig wurdest, konntest du dich ungeachtet des beißenden Gestanks, der dir die Tränen in die Augen trieb, mit angelegten Armen wie ein Wettschwimmer auf dem Startblock kopfüber durch das eigentlich für deinen Hintern bestimmte Loch in dem Sitzbrett hinablassen und mit Bauch und Beinen abgestützt, die Hände fest um den Rand gekrallt, von Schmeißfliegen umschwirrt (aber die bemerktest du gar nicht!) - dich von unten nach Herzenslust an den Hinterteilen der Frauen ergötzen, und zwar umso besser, je tiefer du in der Sitzöffnung stecktest. Glatzkopf-Li bekam damals fünf Ärsche zu sehen, einen kleinen, einen fetten, zwei dünne und einen genau richtigen, fein säuberlich nebeneinander aufgereiht wie fünf Stücke Schweinefleisch beim Schlachter. Der fette Hintern sah wie frisches Fleisch aus, die beiden dünnen Ärsche wirkten eher gepökelt, der kleine Popo war nicht der Rede wert, aber der fünfte, nicht zu dick und nicht zu dünn und direkt vor seinen Augen - der gefiel Glatzkopf-Li ausnehmend gut, denn er war prall und rund und so fest, dass unter der straff gespannten Haut das Steißbein zu erahnen war. Heftig erregt versuchte er, einen Blick auf das Schamhaar und den Ort, wo es entspross, zu erhaschen. Zu diesem Zweck ließ er sich noch tiefer hinunter, doch als er fast am Ziel war, wurde er an seinem eigenen Hinterteil gepackt und mir nichts, dir nichts herausgezogen. 7
Just in diesem Moment war nämlich jemand in das Toilettenhaus gekommen, ein gewisser Zhao, dem seine Eltern den schönen Vornamen Shengli (»Sieg«) gegeben hatten, einer der beiden Geistesfürsten in unserer kleinen Stadt Liuzhen. Als er sah, dass da jemand kopfunter in der Abortöffnung hing, war er sofort im Bilde, packte den Übeltäter am Hosenboden und riss ihn mit einem Ruck heraus wie eine Rübe aus dem Acker. Obwohl zu jener Zeit erst zwanzig Jahre alt, hatte Zhao bereits ein Gedicht in der hektographierten Zeitschrift unseres Kreiskulturhauses veröffentlicht. Dieser Vierzeiler hatte ihm den respektvollen Spitznamen »Dichter Zhao« eingetragen. Während der Dichter in der Toilette Glatzkopf-Li dingfest machte und ihn auf die Straße bugsierte, vor freudiger Erregung ganz rot im Gesicht, begann er schon mit seiner Moralpredigt (auch diese natürlich bilderreich und poetisch): »Die goldgelbe Pracht des blühenden Rapsfelds, die siehst du nicht! Die Fische, die sich im Bach tummeln, sie lassen dich kalt! Die weißen Wolken am azurblauen Himmel, für all diese Schönheit hast du überhaupt keine Augen! Aber ein stinkiges Klo, da kriechst du kopfüber hinein ... « So ging es bestimmt zehn Minuten lang. Dichter Zhaos Tirade, so lautstark er sie auch vortrug, verfehlte allerdings ihre Wirkung auf die Frauen im Toilettenhaus, die eigentlichen Adressatinnen. Schließlich wurde er ungeduldig, stellte sich an die Tür der Damenabteilung und forderte die fünf Ärsche mit lauter Stimme auf, endlich herauszukommen. Ohne zu bedenken, dass er eigentlich ein kultivierter Dichter war, rief er, plötzlich recht vulgär: »Nun hört doch mal auf zu schif-
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fen und zu scheißen! Jemand hat eure Ärsche angeguckt, und ihr wisst von nichts! Kommt endlich raus!« Das wirkte. Wutschnaubend, rachedürstend, kreischend oder schluchzend - je nachdem - stürmten die Besitzerinnen jener fünf Gesäße aus dem Toilettenhaus. Die Schluchzende war ein elf oder zwölf Jahre altes Mädchen. Ihr gehörte der kleine Hintern, der nach Glatzkopf-Lis Meinung nicht der Rede wert war. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte so bitterlich, dass es sie schüttelte. Man hätte annehmen können, sie sei soeben nicht belauscht, sondern vergewaltigt worden. Von Dichter Zhao mit eisernem Griff umklammert, stand Glatzkopf-Li vor dem schluchzenden Ärschlein und dachte: Was heulst du denn bloß? Wegen so eines winzigen, unterentwickelten Popos braucht man doch nicht zu flennen! Auf den hätte ich keinen Blick verschwendet, wenn er mir nicht zufällig mit untergekommen wäre! Als Letzte kam ein vielleicht siebzehnjähriges hübsches Mädchen heraus, das Gesicht schamrot. Nach einem flüchtigen Blick auf Glatzkopf-Li wandte sie sich ab und eilte davon. Dichter Zhao rief ihr nach, sie solle zurückkommen und ohne falsche Scham für Recht und Gerechtigkeit kämpfen. Das Mädchen jedoch drehte sich nicht einmal um und beschleunigte den Schritt. Beim Anblick ihrer schwingenden Pobacken war sich Glatzkopf-Li sicher, wem der pralle Hintern gehörte, den er eben bewundert hatte. Nachdem der Knackarsch fort war, verzog sich auch der schluchzende Kinderpopo, während die Besitzerin eines der beiden dünnen Hinterteile eine Schimpfkanonade losließ und Glatzkopf-Li ins Gesicht spuckte. Dann wischte sie sich 9
den Mund ab und verließ ebenfalls den Ort des Geschehens. In Hosen hat sie überhaupt keinen Arsch mehr, konstatierte Glatzkopf-Li im Stillen. Die drei Verbliebenen - der triumphierende Dichter, der an frisches Fleisch erinnernde Fettarsch und der zweite Pökelarsch - eskortierten Glatzkopf-Li durch die Straßen unseres 50000-Seelen-Städtchens zum Polizeirevier. Unterwegs stieß der zweite Geistesfürst aus unserer kleinen Stadt Liuzhen zu ihnen, ein gewisser Liu Chenggong. Liu Chenggong war wie Dichter Zhao über zwanzig Jahre alt. Auch er hatte seinem Vornamen (Chenggong bedeutet »Erfolg«) alle Ehre gemacht, indem er ein eigenes Werk in der hektographierten Zeitschrift unseres Kreiskulturhauses veröffentlichte, eine Erzählung, die zwei eng bedruckte Seiten umfasste - ganz etwas anderes als der irgendwie in eine Lücke zwischen zwei andere Beiträge gequetschte Vierzeiler von Dichter Zhao! -, und auch ihm hatten die Leute schon einen Spitznamen verpasst: Schriftsteller Liu. In dieser Hinsicht stand er Dichter Zhao also nicht nach, und natürlich durfte er ihm auch in keiner anderen nachstehen! Als er jetzt mit einem leeren Sack in der Hand - er war gerade auf dem Weg in den Reisladen - auf den Dichter traf, der einen Frauenpo- Beschauer lebend gefangen hatte und jetzt im Triumphzug durch die Stadt führte, stand deshalb für ihn fest, dass er ihn auf keinen Fall allein im Rampenlicht stehen lassen dürfe. Nein, auch er, Schriftsteller Liu, wollte teilhaben an dieser Ruhmestat! Wie ein Helfer in höchster Not eilte er auf Dichter Zhao zu und rief schon von Weitem: »Ich komme schon! Ich helfe dir!« 10
Zhao und Liu waren enge Dichterfreunde, seit Liu den kleinen Vierzeiler des Dichters in den höchsten Tönen gelobt und jener sich mit noch überschwänglicheren Lobeshymnen auf Lius Zwei-Seiten-Erzählung revanchiert hatte. Als der lautstark seine Hilfe anbietende Schriftsteller auf der Bildfläche erschien, überließ daher der Dichter, der bis dahin Glatzkopf-Li allein vor sich hergetrieben hatte, Liu die rechte Flanke und begnügte sich damit, Glatzkopf-Li von links am Schlafittchen zu packen. Seite an Seite paradierten jetzt die bei den Geistesfürsten mit ihrem Gefangenen durch die Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen. Zwar verkündeten sie jedem, der es hören wollte oder nicht, sie würden ihn der Polizei übergeben, doch um das nahe gelegene Revier machten sie wohlweislich einen Bogen. Stattdessen schlugen sie den Weg zu einem weiter entfernten Polizeirevier ein und vermieden zudem die Abkürzung durch kleine Gassen. Denn beim Gang durch die Hauptgeschäftsstraßen, so ihre Überlegung, würden auch sie etwas von der öffentlichen Aufmerksamkeit abbekommen, um die sie Glatzkopf-Li glühend beneideten. Schriftsteller Liu sagte zu ihm: »Du kannst von Glück sagen - so ein kleiner Ganove, und wirst gleich von zwei Geistesgrößen abgeführt!« Woraufhin Dichter Zhao vielsagend ergänzte: »Sozusagen von Li Bo und Du Fu.« Schriftsteller Liu empfand diesen Vergleich als ziemlich verfehlt, waren das doch beides Lyriker, er aber schrieb schließlich Prosa! Daher korrigierte er: »Vielmehr von Li Bo und Cao Xueqin.« Glatzkopf-Li hatte während des Marsches durch die Straßen mit unbeteiligter Miene den Blick schweifen lassen. Doch als 11
er hörte, wie sich die beiden Geistesfürsten unserer kleinen Stadt Liuzhen mit dem berühmten Lyriker Li Bo und dem nicht minder berühmten Autor des Romans »Der Traum der Roten Kammer« Cao Xueqin verglichen, prustete er plötzlich los: »Das weiß ja sogar ich, Li Bo lebte in der Tang-Zeit, Cao Xueqin aber tausend Jahre später in der Qing-Zeit. Wie sollten die beiden zusammenkommen?« Großes Gelächter unter den Schaulustigen am Straßenrand. Glatzkopf-Li habe ganz recht, lautete das einhellige Urteil. Die beiden Geistesfürsten mochten als Literaten ein hohes Niveau haben, aber ihre Geschichtskenntnisse reichten nicht einmal an die eines kleinen Spanners heran, der Frauenärsche ausspionierte. Peinlich berührt und mit roten Ohren reckte Dichter Zhao den Hals und erklärte trotzig: »Das war ja bloß ein Vergleich.« »Genau!«, ergänzte Schriftsteller Liu. »Jedenfalls wirst du von einem Dichter und einem Schriftsteller abgeführt. Sagen wir eben: von Guo Moruo und Lu Xun.« Mit diesem Vergleich waren die Zuschauer einverstanden immerhin hatten ja diese Literaten beide ihre Werke in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts veröffentlicht. Auch Glatzkopf-Li nickte. »Das kommt schon eher hin«, sagte er. Seine beiden Bewacher aber vermieden jetzt weitere literarische Vergleiche und gingen dazu über, mit dick aufgetragener moralischer Entrüstung Glatzkopf-Lis Unsittlichkeit anzuprangern. Die vielen Gaffer, die Li am Straßenrand sah manche kannte er, manche nicht -, reagierten je nach Temperament mit Gekicher, Gejohle oder Gelächter auf die Darlegung der Zusammenhänge, die die zwei nicht müde wur12
den, immerfort zu wiederholen, in ihrem Berufsethos mindestens so untadelig wie heutzutage die Moderatoren im Fernsehen. Ihre »Stargäste«, die zwei verbliebenen Frauen, die Glatzkopf-Li ausgespäht hatte, sekundierten ihm dabei, indem sie das passende Mienenspiel beisteuerten, das mal Wut, mal Kränkung, mal beides zusammen erkennen ließ. Eine der beiden Frauen - die mit dem ausladenden Hintern stieß plötzlich einen schrillen Schrei aus, denn sie hatte unter den Schaulustigen ihren Mann entdeckt. Sie schluchzte wie auf Kommando los und rief ihm zu: »Er hat meinen Po gesehen! Und wer weiß, was sonst noch! Hau ihm ein paar hinter die Löffel!« Alle Gaffer schauten höchst amüsiert zu dem bedauernswerten Gatten hin, der mit rotem Kopf und gerunzelter Stirn dastand, aber nichts dergleichen tat, sodass Dichter Zhao und Schriftsteller Liu sich bemüßigt sahen einzugreifen. Als würfen sie einem Hund einen Fleischknochen vor, zerrten sie ihren Gefangenen vor den Mann, begleitet von dem Gezeter der schluchzenden Ehefrau mit dem mächtigen Hintern, die ständig ihre lautstarke Aufforderung wiederholte, GlatzkopfLi zu verprügeln. »Meinen Hintern hat noch nie jemand anders gesehen als du!«, schrie sie. »Außer diesem Wüstling hier! Nur zwei Menschen auf der ganzen Welt haben meinen Hintern gesehen. Was soll ich bloß machen? Du musst ihn verprügeln! Steh hier nicht rum, gib ihm Saures! Wegen ihm hast du dein Gesicht verloren!« Die Umstehenden johlten los, und sogar Glatzkopf-Li kicherte ein bisschen. Nicht wegen mir verliert er sein Gesicht, dachte er, sondern wegen seiner fettärschigen Frau. 13
Der war seine Heiterkeit nicht entgangen. »Guck mal! Guck bloß mal!«, kreischte sie. »Der Kerl grinst auch noch! Freut sich über seinen gelungenen Coup! Verprügele ihn, mach schon! Oder willst du das etwa auf dir sitzen lassen?« Bei dem Mann handelte es sich um den in Liuzhen stadtbekannten Schmied Tong, in dessen Werkstatt Glatzkopf-Li als kleiner Junge oft zugesehen hatte, wie beim Schmieden des Eisens die Funken stoben. In diesem Moment jedoch war Schmied Tong vor Wut noch grauer im Gesicht als das Eisen, das er täglich bearbeitete. Er holte mit seiner gewaltigen Pranke aus, als hätte er ein Schmiedestück vor sich, und versetzte Glatzkopf-Li eine schallende Ohrfeige. Der ging sofort zu Boden. Diese Strafe ging ihm denn doch nahe. Nicht nur, dass er Sterne sah und sein Gesicht im Nu anschwoll- er verlor auch zwei Zähne und sollte noch ein halbes Jahr lang unter Ohrensausen leiden. Wenn mir noch einmal der Arsch einer Schmiedegattin unterkommt, schwor er sich, können sie mir sonst was bieten - ich mach die Augen ganz fest zu und gucke weg! Nachdem Glatzkopf-Li seine Prügel bezogen hatte, setzten Dichter und Schriftsteller ihre Prozession mit dem völlig verschwollenen, aus der Nase blutenden Delinquenten fort. Sie zogen im Kreis durch die Straßen der Stadt und waren schon dreimal an jenem Polizeirevier vorbeigekommen, ohne Glatzkopf-Li den Gesetzeshütern zu überantworten, obwohl diese jedes Mal neugierig vors Tor getreten waren, um zu schauen, was es da draußen Aufregendes zu sehen gäbe. Doch Dichter Zhao, Schriftsteller Liu und die beiden Ärsche - einer fett, einer mager drehten weiter unermüdlich ihre Runden mit Glatzkopf-Li, bis am Ende der an frisches 14
Fleisch erinnernde Fettarsch die Lust verlor und auch der magere Pökelarsch nicht mehr laufen mochte. Nachdem die beiden Arschgeschädigten heimgegangen waren und Dichter und Schriftsteller mit ihrem Gefangenen noch eine letzte Runde gemacht hatten, waren auch sie so kreuzlahm und hatten sich zudem so heiser geschrien, dass sie Glatzkopf-Li endlich doch auf dem Polizeirevier ablieferten. Alle fünf Volkspolizisten des Reviers liefen zusammen und begannen, Glatzkopf-Li zu verhören. Nachdem sie zunächst die Namen der fünf betroffenen Frauen ermittelt hatten, befragten sie ihn zu jedem einzelnen Namen beziehungsweise Hintern einzeln, ausgenommen blieb lediglich der Kinderpopo. Das Ganze wirkte weniger wie ein Verhör als vielmehr wie ein Gespräch unter Männern. Als Li in seinem Geständnis auf den Hintern von Lin Hong zu sprechen kam (so hieß die Besitzerin jenes weder zu dicken noch zu dünnen Knackarsches), hingen die fünf Vopos förmlich an seinen Lippen, als ob er eine spannende Geistergeschichte erzählte. Jenes knackärschige Mädchen war nämlich eine stadtbekannte Schönheit, und jeder von den fünf Polizisten hatte ihren hübschen Hintern durch die Hose hindurch schon einmal abtaxiert, wenn er ihr auf der Straße begegnete. Dasselbe hatten im Übrigen auch zahlreiche andere Männer der Stadt getan. Der Einzige jedoch, der ihren Hintern leibhaftig, ohne Hosen!, zu Gesicht bekommen hatte, war Glatzkopf-Li. Natürlich packten daher die fünf Vopos die Gelegenheit beim Schopfe und befragten ihren Arrestanten besonders penibel. Als Glatzkopf-Li auf Lin Hongs straffe Haut und das sich darunter abzeichnende Steißbein zu sprechen kam, leuchteten ihre Augen plötzlich auf wie Lampen, die gerade jemand 15
angeknipst hat, nur um sogleich wieder zu verlöschen, als er hinzufügte, weiter habe er nichts gesehen. In ihrer offensichtlichen Frustration schlugen sie auf den Tisch und brüllten ihn an: »Das war doch noch nicht alles! Nur wer gesteht, kann mit Milde rechnen! Verstockte trifft die ganze Härte des Gesetzes! Also was hast du noch gesehen?« Angstschlotternd gestand Glatzkopf-Li, er habe sich noch ein Stückchen weiter hinabgelassen, um zu ergründen, wie Lin Hongs Schamhaare aussehen - und die Stelle, wo sie wachsen. Die Vopos lauschten mit angehaltenem Atem, denn vor lauter Angst sprach er nur ganz leise. Freilich war die Geistergeschichte schon wieder zu Ende, ehe der Geist endlich seinen Auftritt hatte. Denn Glatzkopf-Li sagte aus, er habe Lin Hongs Schamhaar letztlich doch nicht zu sehen bekommen, weil Dichter Zhao ihn im entscheidenden Moment am Schlafittchen kriegte. »Es fehlte nur ein ganz kleines Stückchen ... «, schloss er bedauernd. Als er seinen Bericht beendet hatte, kam von den fünf Polizisten zunächst keine Reaktion. Nach wie vor hingen sie wie gebannt an seinen Lippen. Erst als die sich nicht mehr bewegten, ging ihnen auf, dass auch dieser Geschichte die Pointe fehlte. Die Gesichter der fünf verrieten ihre Enttäuschung: Sie erinnerten an hungrige Esser, die mit ansehen müssen, wie die gebratene Ente ihnen vom Teller fliegt. Einer der Vopos machte seinem Ärger Luft: »Konnte dieser Zhao nicht hübsch zu Hause bleiben und Gedichte schreiben? Wieso muss der Kerl immerzu aufs Klo rennen?« Als die Polizisten das Gefühl hatten, sie würden GlatzkopfLi keine weiteren Details entlocken, beschlossen sie, ihn von seiner Mutter abholen zu lassen. Der Junge hatte ihnen ge16
sagt, sie heiße Li Lan und arbeite in der Seidenfabrik. Einer der Vopos ging auf die Straße hinaus und rief, ob jemand von den Passanten eine gewisse Li Lan kenne, die Li Lan aus der Seidenfabrik. Nachdem er seine Frage fünf oder sechs Minuten lang wiederholt hatte, geriet er endlich an jemanden, der auf dem Weg zur Seidenfabrik war. Li Lan möge zum Revier kommen und ihren ungeratenen Sohn abholen, ließ ihn der Polizist ausrichten. Den ganzen Nachmittag musste Glatzkopf-Li auf dem Revier ausharren wie eine Fundsache, die darauf wartet, dass sie vom Besitzer abgeholt wird. Während er auf der Besucherbank saß, beobachtete er das durch das Portal einfallende Sonnenlicht. Zuerst war die Lichtfläche auf dem Zementestrich so groß wie das Türblatt, aber dann wurde sie immer schmaler, bis sie nur noch so breit wie ein Bambusrohr war und schließlich ganz verschwand. Er ahnte nicht, dass er inzwischen eine Berühmtheit war. Jeder, der am Polizeirevier vorbeikam, ging schnell mal hinein, um einen Blick auf diesen Kerl zu werfen, der da in der öffentlichen Toilette Frauenärsche ausspionierte. Wenn gerade kein Neugieriger anwesend war, kam der eine oder andere Vopo, der die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben hatte, zu Glatzkopf-Li hinüber, schlug auf den Tisch und schrie ihn an: »Hast du wirklich nichts mehr zu gestehen? Überleg's dir gut!« Glatzkopf-Lis Mutter erschien erst nach Einbruch der Dunkelheit auf dem Revier. Sie hatte extra so lange gewartet, weil sie Angst hatte, die Leute auf der Straße würden mit Fingern auf sie zeigen. Fünfzehn Jahre zuvor hatte schon Glatzkopf17
Lis Vater auf dieselbe unsägliche Art Schande über sie gebracht, und jetzt goss auch noch der Sohn Öl ins Feuer! Als sie am Abend, mit Kopftuch und Mundschutz maskiert, so unauffällig wie möglich das Polizeirevier betrat und ihren Sohn dort sitzen sah, wandte sie die Augen vor Schreck gleich wieder ab. Dann stand sie völlig verschüchtert vor dem Vopo, der eigentlich schon längst Dienstschluss hatte, und sagte ihm mit zitternder Stimme, wer sie sei. Der Polizist schnauzte sie wutentbrannt an, was sie sich eigentlich dabei gedacht habe, so spät zu erscheinen. »Es ist acht Uhr, verdammt noch mal! Ich hab noch keinen einzigen Bissen im Bauch! Und ich wollte ins Kino gehen! Da stürz ich mich ins Getümmel an der Kasse, schiebe, stoße, trete, schimpfe, bloß um dieses Scheißticket zu ergattern - und jetzt? Jetzt könnte ich ein Flugzeug chartern und würde es trotzdem nur noch zum Abspann schaffen. >Auf Wiedersehen in Ihrem Filmtheater!< - Scheiße auch!« Glatzkopf-Lis bedauernswerte Mutter ließ diese Schimpfkanonade geduldig über sich ergehen und nickte zu jedem einzelnen Vorwurf des tobenden Vopos, bis der am Ende schrie: »Verdammt noch mal, hören Sie endlich auf zu nicken! Machen Sie, dass Sie fortkommen! Ich will hier zusperren.« Als Glatzkopf-Li mit seiner Mutter auf die Straße trat, huschte sie mit gesenktem Kopf an den Rand des Fußweges, wo das Licht der Straßenlaternen nicht hinkam, während er selbst großspurig die Arme schwenkend hinterherging, als wäre überhaupt nichts passiert. Man hätte meinen können, nicht er habe in der Toilette gespannt, sondern seine Mutter. Zu Hause angelangt, verschwand sie ohne ein Wort in ihrem 18
Zimmer. Auch nachdem sie die Tür geschlossen hatte, kam von drinnen kein Laut. Mitten in der Nacht hatte GlatzkopfLi im Schlaf das unbestimmte Gefühl, sie stehe vor seinem Bett und zöge seine heruntergerutschte Decke zurecht, wie sie es für gewöhnlich tat. Mehrere Tage lang sprach Li Lan kein Wort mit ihrem Sohn. An einem regnerischen Abend brach sie endlich ihr Schweigen. »Wie der Vater, so der Sohn!«, sagte sie unter Tränen. Im Dunkel hinter der funzeligen Lampe sitzend, erzählte sie Glatzkopf-Li mit zu der düsteren Beleuchtung passender Grabesstimme, wie sein Vater bei dem Versuch, Frauenhintern auszuspionieren, ertrunken war. Wie sie zuerst gedacht habe, sie müsse sich aufhängen, weil sie den Leuten nie wieder ins Gesicht sehen könne, und wie sie es dann wegen ihres weinenden Wickelkindes doch nicht getan habe. Hätte sie damals gewusst, sagte sie, dass er auch so ein Ferkel sein würde, wäre der Tod wirklich besser gewesen. Nachdem Glatzkopf-Li wegen der Klo-Affäre in Verruf geraten war, kannte jeder einzelne Einwohner unserer kleinen Stadt Liuzhen diesen Vierzehnjährigen. Junge Frauen, die ihm auf der Straße begegneten, wichen ihm aus, ebenso auch kleine Mädchen und alte Frauen. Das erboste ihn, schließlich hatte er die Frauenärsche nicht einmal zwei Minuten lang angeschaut, und dennoch wurde er jetzt wie ein Vergewaltiger behandelt! Andererseits hatte die Sache doch auch ihr Gutes: Er hatte Lin Hongs Hintern gesehen, den Hintern der schönsten unter den Schönen in unserer kleinen Stadt Liuzhen! Jeder Mann, der Lin Hong sah, ob alt oder jung oder noch in den 19
Entwicklungsjahren, verschlang sie mit den Augen, während ihm das Wasser im Munde zusammenlief (und manch einem lief vor lauter Erregung sogar das Blut aus der Nase). Keiner weiß, wie viele Männer sich in wie vielen Wohnungen auf wie vielen Betten mit geschlossenen Augen die eine oder andere Partie ihres schönen Körpers vorstellten und sich dabei einen runterholten. Für all diese armen Teufel war es normalerweise schon das höchste der Gefühle, sie einmal in der Woche zu Gesicht zu bekommen - natürlich nur Kopf, Hals und Hände, im Sommer mit etwas Glück vielleicht zusätzlich die Füße oder die Waden -, während Glatzkopf-Li als Einziger auch ihr Gesäß gesehen hatte. Darum beneideten ihn alle Männer in unserer kleinen Stadt Liuzhen auf das Heftigste. Wahrscheinlich habe er sich in seiner vorigen Existenz außergewöhnliche Verdienste erworben, um jetzt so viel Glück in der Liebe zu haben, meinten sie. Mochten die Frauen ihn auch meiden wie die Pest, für die Männer war Glatzkopf-Li eine Art Lokalmatador, bei dessen Anblick sie vielsagend zu grinsen begannen und den sie freundschaftlich um die Schulter fassten und unter irgendeinem Vorwand ins Gespräch zogen. Wenn sie sich vergewissert hatten, dass niemand zuhörte, fragten sie flüsternd: »Komm schon! Erzähl, was du gesehen hast!« Glatzkopf-Li pflegte dann absichtlich laut zu trompeten: »Na, ihren Arsch habe ich gesehen.« Woraufhin der Frager ihn erschrocken in den Arm knuffte »Nicht so laut, verdammt noch mal!« -, sich nach allen Seiten umsah und schließlich, wenn die Luft rein war, flüsternd fortfuhr: »Also, Lin Hongs Arsch - wie sieht er aus?« 20
Glatzkopf-Lis Ruf mochte ruiniert sein, dennoch kannte er schon in diesem zarten Alter seinen Marktwert. Er war gewissermaßen wie eine Scheibe Stink-Tofu: übel riechend, aber wohlschmeckend. Vier von den fünf Ärschen, die er gesehen hatte, waren nichts wert, die bekam man an jeder Straßenecke zum Schleuderpreis. Lin Hongs Hintern aber, das war ein Fünf-Sterne-Superarsch, der war nicht mit Gold zu bezahlen! Dass Glatzkopf-Li später zum Super-Multimilliardär unserer kleinen Stadt Liuzhen wurde, verdankte er seiner angeborenen Geschäftstüchtigkeit. Schon mit vierzehn Jahren machte er jetzt seine Geschäfte mit Lin Hongs Hintern, verstand sich sogar aufs Feilschen. Er brauchte bloß das vertrauliche Grinsen der lüsternen Männer zu sehen, die ihn um die Schulter fassten oder ihm auf die Schulter klopften, um zu wissen, was die Glocke geschlagen hatte: Sie wollten ihm das Geheimnis von Lin Hongs Hintern entlocken. Als die fünf Vopos im Revier eben das getan hatten - ein klassischer Fall von vorgeschobenem öffentlichem Interesse zur Erlangung privater Vorteile! -, hatte er ihre Fragen wahrheitsgemäß beantwortet und nicht gewagt, irgendetwas für sich zu behalten. Seither aber verteilte er, das hatte ihn die Erfahrung gelehrt, keine kostenlosen Mahlzeiten mehr, sondern hielt den Mund verschlossen wie eine Flasche, sobald er jenes plumpvertrauliche Grinsen bemerkte. Nicht einmal den Schatten eines Schamhaars gab er preis, lediglich das Wort »Arsch« kam ihm über die Lippen, sodass die Männer, die etwas Näheres über Lin Hongs Hintern zu erfahren gehofft hatten, hinterher genauso klug waren wie zuvor.
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Jener Schriftsteller Liu zum Beispiel. Der war eigentlich Dreher in der Metallfabrik unserer kleinen Stadt Liuzhen. Sein Faible für die Schriftstellerei und sein flinkes Mundwerk hatten ihn jedoch so sehr in der Achtung des Werkleiters steigen lassen, dass der ihn zum Chef der Einkaufs- und Absatzabteilung gemacht hatte. Schriftsteller Liu hatte bereits eine Freundin, nicht schön, aber auch nicht hässlich. Seitdem er jedoch Abteilungsleiter war und eine Zwei-SeitenErzählung in der hektographierten Zeitschrift des Kreiskulturhauses veröffentlicht hatte, sah er sich selbst als Senkrechtstarter und fand, seine bisherige Freundin passe nicht mehr zu ihm. Das neue Objekt seiner Begierde war Lin Hong. (In dieser Hinsicht waren sich übrigens alle Männer in unserer kleinen Stadt Liuzhen einig im guten Geschmack, egal ob schon verheiratet oder noch Junggeselle.) Die Frau, die Schriftsteller Liu loswerden wollte, gab sich allerdings nicht so schnell geschlagen. Sie war entschlossen, ihren so erfolgreichen Freund nicht aus den Klauen zu lassen. Weinend und schluchzend stellte sie sich vor das Portal des Polizeireviers und verkündete aller Welt, sie sei bereits von Schriftsteller Liu beschlafen worden. Während ihrer Anklagerede hatte sie die Finger dramatisch gespreizt, sodass die Menschen in unserer kleinen Stadt Liuzhen annehmen mussten, es handele sich um zehn Beischläfe. Am Ende stellte sich jedoch zur allgemeinen Überraschung heraus, dass es in Wirklichkeit hundert waren. Nach diesem Vorfall wagte es der Schriftsteller nicht mehr, ihr den Laufpass zu geben. Damals war es ja so, dass ein Mann und eine Frau, die miteinander geschlafen hatten, heiraten mussten. Und so hatte der Direktor der Metallfabrik 22
Schriftsteller Liu einen gewaltigen Rüffel gegeben und ihn vor die Alternative gestellt, entweder seine Freundin zu ehelichen - und Leiter der Absatzabteilung zu bleiben - oder aber sich von ihr zu trennen. In letzterem Fall könne er vielleicht in seiner nächsten Existenz wieder mit einem Leitungsposten rechnen, in der jetzigen jedoch würde er sich damit begnügen müssen, den Eingang zu bewachen und die Toiletten zu reinigen. Nach Abwägung aller Vor- und Nachteile entschied sich Schriftsteller Liu für die berufliche Karriere und leistete seiner Freundin Abbitte. Von da an waren beide wieder ein Herz und eine Seele, bummelten Arm in Arm durch die Geschäfte, gingen zusammen ins Kino und bestellten in Vorbereitung der Eheschließung sogar schon Möbel beim Tischler. Dichter Zhao nahm großen Anteil an dem schweren Los, das dem Schriftsteller beschieden war. Es sei wirklich großes Pech, dass dieser sein Schicksal in die Hände eines derart schamlosen Weibsbildes habe legen müssen und wegen einer vorübergehenden Gefühlswallung sein ganzes ferneres Leben zerstört habe. Bedauernd schloss er: »Ja ja, so ist es: Einmal gefehlt, tausendmal bereut!« Seine Gesprächspartner waren damit jedoch nicht einverstanden. »Was heißt hier, einmal gefehlt? Hundertmal haben sie miteinander geschlafen!« Dichter Zhao schwieg einen Moment, dann versuchte er es mit einem anderen geflügelten Wort: »Vor schönen Frauen werden selbst starke Helden schwach!« Aber auch das stieß auf Ablehnung. »Der soll ein Held sein? Und sie eine schöne Frau?!« Der Dichter nickte und musste im Stillen zugeben, die Volksmassen haben tatsächlich scharfe Augen. Was konnte 23
man von diesem Schriftsteller Liu schon erwarten, einem Mann, der selbst vor einer gar nicht so schönen Frau schwach wurde? Er hörte also auf, ihn zu bemitleiden. Wenn die Rede auf Liu kam, winkte er nur noch ab und sagte verächtlich: »Ach, der! Aus dem wird doch sowieso nichts.« Der solchermaßen Geschmähte bereitete zwar - wie erwähnt - seine Hochzeit vor, aber ohne rechte Begeisterung. Insgeheim verzehrte er sich vor Sehnsucht nach der schönen Lin Hong und stellte sie sich vor dem Einschlafen in der Hoffnung auf ein geträumtes, wenn auch leider nicht reales Liebeserlebnis in allen Einzelheiten so intensiv vor, als ob er Qigong-Übungen machte. Zwar hatte er, gemeinsam mit Dichter Zhao, Glatzkopf-Li durch die Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen getrieben, doch sah er ihn als Hüter des Geheimnisses von Lin Hongs Hintern jetzt mit ganz anderen Augen. Dieses Geheimnis wollte er unbedingt ebenfalls ergründen, um die Wirklichkeitsnähe seiner vorgestellten beziehungsweise geträumten Vereinigung mit der Angebeteten zu erhöhen. Deshalb begrüßte er Glatzkopf-Li jedes Mal, wenn er ihn traf, wie einen alten Freund, nur um durch dessen stereotypes Ich-habenur-ihren-Arsch-Gesehen ein ums andere Mal enttäuscht zu werden. Eines Tages tätschelte er ihn freundschaftlich wie ein älterer Bruder am Hinterkopf und sagte: »Kannst du nicht mal was anderes erzählen?« »Was willst du denn hören?« »>Arsch< - das ist so abstrakt. Geht's vielleicht ein bisschen konkreter?« Laut und vernehmlich fragte Glatzkopf-Li zurück: »Was soll an einem Arsch konkret sein?« 24
»Pst! Schrei doch nicht so!« Schriftsteller Liu vergewisserte sich, dass niemand lauschte, und fuhr dann, seine Worte durch entsprechende Gesten untermalend, fort: »Ärsche gibt's ja kleine und große, dicke und dünne ... « Glatzkopf-Li, die in der Toilette aufgereihten fünf Hinterteile vor seinem geistigen Auge, antwortete lebhaft, als hätte er soeben eine freudige Entdeckung gemacht: »Genau! Es gibt kleine und große, dicke und dünne.« Dann schwieg er wieder. In der Annahme, er müsse ihm auf die Sprünge helfen, fuhr Schriftsteller Liu geduldig fort: »Ein Arsch ist wie ein Gesicht, jeder Mensch hat einen anderen. Der eine hat zum Beispiel ein Muttermal im Gesicht, der andere keins. Also - wie ist es bei Lin Hong?« Glatzkopf-Li dachte angestrengt nach. Dann: »Lin Hong hat kein Muttermal im Gesicht.« »Das weiß ich doch«, sagte der Schriftsteller, »ich habe nicht nach ihrem Gesicht gefragt, sondern nach ihrem Arsch!« So jung er noch war, so gut verstand sich Glatzkopf-Li schon auf ein falsches Lächeln. Flüsternd erkundigte er sich: »Und was habe ich davon, wenn ich es dir sage?« Schriftsteller Liu sah ein, er kam um eine kleine Gratifrkation nicht herum. Für ein Kind wie Glatzkopf-Li, dachte er, reichen ein paar Bonbons. Glatzkopf-Li stopfte die Bonbons in den Mund, der andere musste sich bücken, damit er ihm ins Ohr flüstern konnte, und dann beschrieb er ihm, ganz Unschuldslamm, jenen Kinderpopo, der nicht der Rede wert war. Der Schriftsteller hörte sich das an und flüsterte argwöhnisch: »Das soll Lin Hongs Arsch sein?« 25
»Nein, das war der kleinste von den Ärschen, die ich gesehen habe.« »Du verdammtes Schlitzohr!«, schimpfte Schriftsteller Liu, immer noch im Flüsterton. »Ich habe dich nach Lin Hongs Arsch gefragt!« Kopfschüttelnd erwiderte Glatzkopf-Li: »Über den möchte ich nicht reden.« »Verdammt noch mal, sie ist doch nicht deine Mutter oder Schwester!« Das ließ sich nicht bestreiten, deshalb sagte Glatzkopf-Li: »Du hast recht, sie ist nicht meine Mutter. Auch nicht meine Schwester ... « Dann jedoch schüttelte er erneut den Kopf: »Aber sie ist die Geliebte meiner Träume! Über sie kann ich dir nichts erzählen.« »Welche Träume kannst du kleiner Furzer schon haben!« Schriftsteller Liu wurde immer ungeduldiger. »Was muss ich tun, damit du mir etwas erzählen kannst?« Glatzkopf-Li legte seine Stirn in Falten und dachte nach. Schließlich sagte er: »Wenn du mir eine Schüssel Nudeln spendierst, werde ich mich überwinden.« Nach kurzem Zögern stimmte Schriftsteller Liu zähneknirschend zu: »Na gut.« Glatzkopf-Li lief schon das Wasser im Munde zusammen, aber er beschloss, sich nicht mit dem kleinen Finger zu begnügen, sondern die ganze Hand zu nehmen: »Brühnudeln zu neun Fen die Schüssel mag ich aber nicht! Ich will die mit Fisch und Fleisch und Krabben zu fünfunddreißig. « »Was? Nudeln der drei Köstlichkeiten?«, schrie Liu. »So ein kleiner Furzer und schon so anspruchsvoll! Solche Nudeln kann ich als bekannter Schriftsteller mir kaum leisten und da soll ich dich einladen? Vergiss es!«
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Glatzkopf-Li pflichtete ihm kopfnickend bei: »Natürlich! Wie könntest du mir Nudeln der drei Köstlichkeiten spendieren, wo du sie dir doch selber nicht gönnst!« »Eben!«, sagte Schriftsteller Liu befriedigt. »Dann also Brühnudeln, ja?« Glatzkopf-Li schluckte seinen Speichel hinunter, beharrte aber mit dem Ausdruck tiefen Bedauerns: »Zu Brühnudeln kann ich mich leider doch nicht überwinden.« Schriftsteller Liu wurde fuchsteufelswild. Zu gern hätte er Glatzkopf-Li eins in die Schnauze gegeben und ihn verdroschen, bis das Blut aus allen sieben Körperöffnungen herausspritzte. Am Ende stimmte er dennoch unter Flüchen und Verwünschungen zu, Glatzkopf-Li eine Schüssel Nudeln der drei Köstlichkeiten zu spendieren. Er sagte: »Also gut, du kriegst deine drei Köstlichkeiten. Aber dann musst du mir auch alles ganz genau erzählen!« Nach Lin Hongs Hintern erkundigte sich auch Schmied Tong, jener Mann, der Glatzkopf-Li damals auf der Straße mit seiner mächtigen Schmiede faust zwei Zähne ausgeschlagen und ihm hundertachtzig Tage Ohrensausen beschert hatte, weil er Tongs fettärschige Gattin ausgespäht hatte. Wenn es von Schriftsteller Liu hieß, er bereite seine Hochzeit ohne rechte Begeisterung vor, so konnte man Ähnliches auch über Schmied Tong sagen: Zwar schlief er jeden Abend in den Armen seiner dicken Ehefrau ein, aber sobald er die Augen zumachte, nahm er nur mehr die anmutige Gestalt von Lin Hong wahr. Anders als Schriftsteller Liu redete Schmied Tong nicht lange um den heißen Brei, denn er war ein Freund klarer Worte. Als er Glatzkopf-Li unterwegs traf, baute er sich in seiner vollen Größe vor ihm auf, beugte sich 27
zu ihm hinunter und fragte: »He, Kleiner! Kennst du mich noch?« Glatzkopf-Li schaute zu ihm auf. »Sie würde ich sogar noch in der Urne erkennen!«, sagte er. Die Miene des Mannes verfinsterte sich. »Soll das heißen, du wünschst mir den Tod an den Hals?«, knurrte er. »Nein! Nein!«, beruhigte Glatzkopf-Li ihn eilig, fürchtete er doch nichts mehr als neuerlichen Kontakt mit jener gewaltigen Pranke. Mit beiden Händen seinen Mund aufreißend, sodass der Schmied hineinschauen konnte, nuschelte er: »Sehen Sie's? Da fehlen zwei Zähne. Haben Sie mir ausgeschlagen!« Dann deutete er auf sein linkes Ohr und sagte: »Und hier summt es immer noch, als ob ein Bienenschwarm drin wäre.« Schmied Tong lachte auf und verkündete, halb an die Umstehenden gewandt: »Na gut, weil du noch ein Kind bist, spendiere ich dir als Wiedergutmachung eine Portion Nudeln.« Sprach's, und marschierte mit Glatzkopf-Li im Schlepptau in Richtung »Volksgasthof«. Der Vorsitzende Mao hat gesagt, auf der Welt gibt es weder grundlose Liebe noch grundlosen Hass - wenn der mich plötzlich zu Nudeln einlädt, will er bestimmt etwas über Lin Hongs Hintern erfahren!, dachte Glatzkopf-Li, während er, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, vergeblich versuchte, mit dem Schmied Schritt zu halten. Schließlich schloss er im Laufschritt zu ihm auf und flüsterte: »Sie spendieren mir jetzt Nudeln, damit ich was über die Ärsche erzähle, stimmt's?«
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Schmunzelnd nickte der Schmied. »Kluges Kerlchen!«, sagte er anerkennend. »Daheim haben Sie aber doch selber schon einen ... « »Männer«, erwiderte der Schmied, »Männer haben die Schüssel vor der Nase und schielen trotzdem in den Topf, so ist das nun mal!« So großspurig er in den »Volksgasthof« eingezogen war, so kleinlich benahm er sich, nachdem er mit dem Jungen Platz genommen hatte: Gewöhnliche Brühnudeln bestellte er! Aus der Traum von den drei Köstlichkeiten! Glatzkopf-Li hätte vor Enttäuschung um ein Haar aufgestöhnt, blieb aber stumm. Als die Brühnudeln aufgetragen wurden, machte er sich mit seinen Essstäbchen so gierig darüber her, dass ihm der Schweiß ausbrach und die Nase tropfte. Schmied Tong sah zu, wie ihm der Rotz bis zum Mundwinkel lief und von dort geräuschvoll wieder nach oben gezogen wurde, nur um sogleich abermals langsam herunterzurinnen und erneut hochgezogen zu werden. Nachdem sich das mehrmals wiederholt hatte und die Nudeln zur Hälfte aufgegessen waren, ohne dass von Glatzkopf-Li ein Sterbenswörtchen gekommen wäre, wurde er ungeduldig. »Na, komm schon!«, rief er. »Du kannst hier nicht bloß fressen. Sag endlich mal was!« Glatzkopf-Li zog den Rotz hoch, wischte sich den Schweiß von der Stirn, sah sich nach allen Seiten um und fing mit leiser Stimme zu reden an. Aber nicht über Lin Hongs wohlproportionierten Hintern, sondern über einen Fettarsch. Als er fertig war, musterte Schmied Tong ihn misstrauisch.
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»Kommt mir beinahe vor wie der Arsch meiner Frau«, murmelte er argwöhnisch. »Das war der Arsch Ihrer Frau!«, bestätigte Glatzkopf-Li. Schmied Tong brauste in jähem Zorn auf und holte zu einer Ohrfeige aus. »Verdammter Mistkerl!«, schrie er. »Ich schlag dich zu Brei!« Blitzschnell sprang Glatzkopf-Li auf, um der Ohrfeige auszuweichen. Inzwischen waren die Köpfe aller Gäste den beiden zugewandt, sodass Schmied Tong, das Gesicht vor Wut bläulich verfärbt, gezwungen war, sich zu beherrschen. Als der Junge ihm wieder gegenübersaß, fuhr er ihn an: »Los! Erzähl von Lin Hongs ... « Glatzkopf-Li sah sich um und gönnte sich, als er feststellte, dass die anderen Gäste des Restaurants immer noch herschauten, ein sonniges Lachen. Dann flüsterte er: »Jedes Ding hat seinen Preis - eine Schüssel Brühnudeln, das ist der Preis für den Hintern Ihrer Frau. Lin Hongs Arsch kostet eine Portion Nudeln der drei Köstlichkeiten!« Vor Zorn brachte der Schmied kein Wort heraus. Der Anblick von Glatzkopf-Lis Unschuldsmiene war zu viel für ihn er riss ihm die Schüssel mit den Brühnudeln, die er gerade zum Munde führte, aus der Hand und zischte wütend: »Stopp! Die esse ich jetzt selbst!« Glatzkopf-Li drehte sich zu den verständnislos staunenden Zuschauern um. Eben noch war es der Junge gewesen, der geräuschvoll seine Nudeln geschlürft hatte, und jetzt plötzlich der Schmied? ... Glatzkopf-Li erklärte es ihnen schmunzelnd: »Es ist so: Er hat mir eine halbe Portion Nudeln spendiert, und jetzt revanchiere ich mich. Auch mit einer halben Schüssel!« 30
Hinfort gab er von vornherein seinen Preis an: eine Portion Nudeln der drei Köstlichkeiten für das Geheimnis von Lin Hongs Hintern. Während der sechs Monate, in denen er unter Ohrensausen litt, kam er insgesamt sechsundfünfzigmal in den Genuss dieser Delikatesse. Bis zu seinem fünfzehnten Geburtstag mauserte sich der blasse Hänfling auf diese Weise zu einem vor Gesundheit strotzenden Kraftprotz. II Ende gut, alles gut!, dachte der Junge bei sich. Jetzt habe ich in einem halben Jahr so viele Nudeln der drei Köstlichkeiten gegessen, wie ich sie sonst vielleicht in meinem ganzen Leben nicht bekommen hätte. Zu jener Zeit konnte er noch nicht wissen, dass er später einmal ein Multimillionär werden sollte, dem die erlesensten Delikatessen aus aller Herren Länder schon sehr bald zum Halse heraushängen würden. Damals war er noch ein armer Schlucker, für den eine Portion Nudeln der drei Köstlichkeiten ein himmlischer Hochgenuss war. Wie im Paradies kam er sich vor, wenn er dieses Gericht genoss - sechsundfünfzig Besuche im Paradies in einem halben Jahr! Freilich ging es nicht immer ohne Komplikationen ab, im Gegenteil: Er musste jedes Mal aufs Neue kämpfen, denn die Interessenten für das Geheimnis von Lin Hongs Hintern wollten ihn unweigerlich zunächst mit gewöhnlichen Brühnudeln abspeisen. Glatzkopf-Li ließ sich darauf jedoch gar nicht erst ein, sondern feilschte geduldig, bis ihm seine drei Köstlichkeiten sicher waren, sodass man ihm widerwillig Respekt zu zollen begann. Dieses kleine Schlitzohr, so mein-
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ten seine Klienten, der ist ja mit fünfzehn schon durchtriebener als mancher alte Ganove mit fünfzig! Schräg gegenüber der Werkstatt von Schmied Tong war eine Schleiferei, die von Vater und Sohn betrieben wurde Scherenschleifer Guan der Ältere und Scherenschleifer Guan der Jüngere, wie man sie nannte. Guan der Jüngere hatte mit vierzehn das Handwerk bei seinem Vater erlernt. Inzwischen zwanzig Jahre alt, unverheiratet und noch ohne Freundin, interessierte auch er sich schon lange für Lin Hang und wollte daher dem Geheimnis ihres Hinterns auf den Grund gehen, aber nur für eine Schüssel Brühnudeln. Als er Glatzkopf-Li kommen sah, winkte er ihn mit seiner vom Schleifmittel weiß verfärbten Hand zu sich heran. Die guten Zeiten würden bald vorbei sein, warnte er ihn, denn Lin Hang würde sich über kurz oder lang einen Freund zulegen, und dann würde kein Mensch mehr ihm - Glatzkopf-Li - Nudeln spendieren. Er solle deshalb diese letzte Gelegenheit beim Schopf packen und sich mit den Brühnudeln begnügen, die er ihm jetzt anbiete, denn später würde das, wie gesagt, niemand mehr tun - nicht einmal das Nudelkochwasser würde man ihm bieten! Glatzkopf-Li hörte sich das alles an, verstand aber nicht recht, was der andere meinte. »Warum?«, fragte er. »Denk doch mal nach! Wenn Lin Hong einen Freund hat, dann weiß der doch viel besser Bescheid als du! Da erkundigen sich alle bei dem, und du bist abgeschrieben.« Das leuchtete Glatzkopf-Li zunächst ein. Als er es sich aber genauer überlegte, entdeckte er einen Widerspruch in den Worten von Scherenschleifer Guan dem Jüngeren. Kichernd 32
entgegnete er: »Glaubst du im Ernst, dass Lin Hongs Freund über so was reden würde?« Er warf den Kopf in den Nacken, verengte die Augen zu zwei schmalen Schlitzen und erklärte im Brustton der Überzeugung: »Eines Tages wird nämlich Lin Hong meine Freundin sein. Und ich werde es dann sein, der nichts sagt!« Abschließend trumpfte er auf: »Du solltest also die Gelegenheit beim Schopfe packen! Mir Nudeln der drei Köstlichkeiten spendieren, solange ich noch nicht ihr Freund bin!« So unnachgiebig Glatzkopf-Li auf seinen drei Köstlichkeiten beharrte, so rückhaltlos gab er nach gehabtem Genuss sein gesamtes Wissen über Lin Hongs Hintern preis - er war nämlich sehr auf seinen guten Ruf als fairer Geschäftspartner bedacht. Deshalb riss auch der Strom seiner Kunden nie ab, und er konnte die Nachfrage kaum befriedigen. Manche kamen sogar noch ein zweites - und einer, der wohl etwas vergesslich war, ein drittes - Mal zu ihm. Alle hatten den gleichen Gesichtsausdruck, während sie Glatzkopf-Lis Beschreibung von Lin Hongs Hintern lauschten: Mit halb geöffnetem Mund hörten sie wie gebannt zu, ohne zu merken, dass sie vor Erregung sabberten. Zum Schluss kam unweigerlich der traumverlorene Seufzer: »Irgendwas hat da also doch nicht gestimmt ... « Dank Glatzkopf-Lis detaillierter Beschreibung wussten sie jetzt, dass Lin Hongs Hintern nicht so aussah, wie sie sich ihn abends beim Masturbieren vorgestellt hatten. Auch der Dichterfürst unserer kleinen Stadt Liuzhen suchte Glatzkopf-Li auf; eine von den sechsundfünfzig Portionen Nudeln der drei Köstlichkeiten stammte von Dichter Zhao. Der Junge aß sie mit besonderem Genuss und versicherte 33
dem Dichter, die von ihm spendierten Nudeln seien irgendwie noch schmackhafter als die von anderen Kunden, er wisse selber nicht, wieso. Voller Stolz schlug er sich an die Brust und verkündete: »In ganz China gibt es nur einen, der mehr Nudeln der drei Köstlichkeiten gegessen hat als ich!« »Und wer soll das sein?«, fragte Dichter Zhao. »Der Vorsitzende Mao!«, antwortete Glatzkopf-Li mit frommem Augenaufschlag. »Der kann natürlich jederzeit essen, worauf er Appetit hat. Aber sonst kann sich keiner mit mir vergleichen!« Auch Dichter Zhao hielt öfter in jenem Toilettenhaus Ausschau nach Frauenhintern - man könnte direkt sagen, er war dort Stammkunde -, hatte jedoch in einem ganzen Jahr Lin Hongs Hinterteil nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen, wohingegen dieser verflixte Glatzkopf-Li in seinem, des Dichters, ureigenen Beritt nur einmal vorbeigeschaut hatte und sogleich fündig geworden war. Die Vorfahren pflanzen den Baum, und die Nachkommen genießen den kühlen Schatten, dachte Dichter Zhao bitter. Wäre Glatzkopf-Li ihm an jenem Tag nicht zuvorgekommen, hätte zweifellos er selbst als Erster Lin Hongs Hintern zu sehen bekommen. Der Kerl müsse mit höheren Mächten im Bunde stehen, dass er jetzt solch ein Glück hatte. An dem Tag, da er Glatzkopf-Li erwischte, hatte er eigentlich selbst auf die Pirsch gehen wollen, doch sein unverhoffter Fang hatte ihn so erregt, dass er sich überhaupt nicht mehr für Frauenhintern, sondern nur noch für Glatzkopf-Li interessiert hatte und mit diesem dann stundenlang durch die Stadt marschiert war.
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Nun aber, da so viele andere das Geheimnis von Lin Hongs Hintern ergründet hatten, wollte auch Dichter Zhao nicht zurückstehen - undenkbar, dass gerade er sich Glatzkopf-Lis Wissen entgehen ließe! Und natürlich würde er ihm keine Nudeln der drei Köstlichkeiten spendieren - oh nein, nicht einmal einfache Brühnudeln! Zwar hatte er ihn Spießruten laufen lassen und ihn in Verruf gebracht, aber dafür verdankte der Kerl allein ihm, dem Dichter Zhao, mehr als fünfzig Portionen Nudeln der drei Köstlichkeiten und seine strotzende Gesundheit, da konnte man wohl erwarten, dass er seinen Wohltäter nicht vergessen würde! Dichter Zhao nahm also die hektographierte Zeitschrift des Kreiskulturhauses zur Hand, schlug sie auf der Seite mit seinem Gedicht auf, bemühte sich, wie ein Verschnitt von Li Bo und Du Fu auszusehen, und wedelte Glatzkopf-Li sein Werk hin. Doch als der danach greifen wollte, schlug er ihm blitzschnell die Hand zur Seite, als ob der andere versucht hätte, ihm sein Portemonnaie zu entreißen. Berühren sollte Glatzkopf-Li das kostbare Blatt nicht - seine Hände seien viel zu schmutzig, sagte der Dichter. Nur lesen dürfe er das Gedicht. Das tat Glatzkopf-Li jedoch nicht. Stattdessen zählte er die Anzahl der Schriftzeichen. »Zu wenig!«, befand er. »Nur vier Zeilen zu sieben Schriftzeichen - gerade mal achtundzwanzig.« Der Dichter ärgerte sich sehr. »Dafür ist aber jedes Wort kostbar wie eine Perle!«, entgegnete er. Glatzkopf-Li zeigte Verständnis dafür, dass Dichter Zhao sich an seinem Werk berauschte. »Ja ja, bei literarischen Werken gefallen einem stets die eigenen, bei Ehefrauen immer die der anderen«, bemerkte er altklug. 35
»Davon verstehst du kleiner Furzer doch überhaupt nichts!«, entgegnete der Dichter verächtlich. Dann kam er auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen: Er schreibe gerade eine Erzählung über einen Burschen, der dabei erwischt wird, wie er in einer Toilette Frauenärsche ausspioniert, und da gebe es ein paar Passagen über die Psyche des Helden, bei denen er auf seine Glatzkopf-Lis - Hilfe angewiesen sei. »Was sind denn das für Passagen?«, erkundigte sich Glatzkopf-Li. »Nun, zum Beispiel wie ihm zumute ist, wenn er einen Frauenarsch mit eigenen Augen sieht. Nehmen wir mal Lin Hongs-« »Ach so!«, unterbrach ihn Glatzkopf-Li. »Du willst wissen, wie Lin Hongs Hintern aussieht! Macht einmal Nudeln der drei Köstlichkeiten!« »Unsinn!«, erwiderte der Dichter entrüstet. »Wofür hältst du mich eigentlich? Lass dir gesagt sein: Ich bin nicht Schriftsteller Liu, ich bin Dichter Zhao! Ich habe schon vor geraumer Zeit mein Leben ganz der heiligen Kunst geweiht! Ich habe geschworen, falls ich nicht in einer von den großen Literaturzeitschriften etwas veröffentliche, werde ich mir erstens keine Freundin zulegen, zweitens nicht heiraten und drittens keine Kinder zeugen.« Glatzkopf-Li hatte das undeutliche Gefühl, irgendetwas stimme nicht an den Worten des Dichters, und bat ihn, sie zu wiederholen, was dieser auch mit noch gesteigertem Ausdruck tat - in dem Glauben, der Junge bitte ihn vor lauter Ergriffenheit darum. Jetzt erkannte Glatzkopf-Li den Widerspruch. Voller Genugtuung sagte er: »Da stimmt was nicht: Wie kannst du überhaupt heiraten und Kinder zeugen, wenn 36
du dir keine Freundin zulegst? Dein erster Schwur reicht also völlig aus, die beiden anderen sind überflüssig.« Dichter Zhao war so wütend, dass er für einen Moment kein Wort herausbrachte. Nach ein paar vergeblichen Anläufen stieß er hervor: »Du verstehst nichts von Literatur! So etwas diskutiere ich gar nicht mit dir! So, und jetzt wieder zu deiner Psyche-« Glatzkopf-Li unterbrach ihn: »Erst eine Portion Nudeln der drei Köstlichkeiten!« Dichter Zhao dachte im Stillen: Schlimm, was für schamlose Menschen es gibt! Mit übermenschlicher Anstrengung schluckte er jedoch seinen Groll hinunter und redete Glatzkopf-Li honigsüß lächelnd zu: »Überleg doch mal: Du bist die Hauptfigur in meiner Erzählung, und wenn ich damit berühmt geworden bin, wirst auch du berühmt, stimmt's?« Er vergewisserte sich, dass der Junge ihm zuhörte, und fuhr fort: »Ja, und dann bist du mir Dank schuldig, oder wie sehe ich das?« Glatzkopf-Li lachte etwas gekünstelt. »Du stellst mich als Unhold dar, und ich soll dir auch noch dankbar sein?!« Dichter Zhao erschrak. So ein altkluger Bengel! Kein Wunder, dass die Leute sagten, dieser kleine Rotzbengel sei mit seinen fünfzehn Jahren durchtriebener als so mancher alte Ganove mit fünfzig! Mit einem gequälten Lächeln entgegnete er: »Am Schluss bekehrt sich der Bursche aber zum Besseren ... « Glatzkopf-Li interessierte sich überhaupt nicht für die Erzählung.
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Er reckte seinen Finger hoch und unterbrach den Dichter brüsk: »Meine Psyche oder Lin Hongs Arsch, beides macht einmal Nudeln der drei Köstlichkeiten!« »Also gut! Der Klügere gibt nach«, überwand sich Dichter Zhao seufzend. Als Glatzkopf-Li mit dem Dichter im »Volksgasthof« saß und auf dessen Rechnung schmauste, begann er, seine Gefühle bei der Arschbeschau zu schildern. Am ganzen Körper gezittert habe er damals, sagte er. Dichter Zhao hakte ein: »Das war das Physische. Und wie ging es dir psychisch?« »Innerlich habe ich genauso gezittert.« Diese Formulierung gefiel dem Dichter. Schnell notierte er sie in seinem Büchlein. Dann brachte er die Rede wieder auf Lin Hongs Hintern. Der vom Nudelessen erhitzte GlatzkopfLi wischte sich den Schweiß von der Stirn und den Rotz von der Nase, dachte lange nach und verkündete schließlich: »Dabei habe ich nicht gezittert.« Der Dichter wunderte sich: »Wieso denn nicht?« »Es war eben so! Ich war so hingerissen von Lin Hongs Arsch. Habe gar nichts gefühlt. Da war nur dieser Hintern, den wollte ich noch länger sehen, noch deutlicher. Ich war blind und taub für alles andere, sonst hätte ich ja bemerkt, wie du reinkamst.« »Ich verstehe!«, rief Dichter Zhao mit glitzernden Augen. »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold! Manchmal ist Schweigen beredter als Worte - das ist dann Kunst von letzter Vollendung!«
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Anschließend beschrieb Glatzkopf-Li Lin Hongs straffe Haut und das sich darunter schwach abzeichnende Steißbein. Dichter Zhao begann, heftig zu schnaufen. Als der Junge erzählte, wie er sich noch tiefer hinabließ, um die Schamhaare und den Ort, wo sie entsprießen, in Augenschein zu nehmen, war die Miene des Dichters so hingerissen, als lauschte er einer spannenden Geschichte, genauso, wie Glatzkopf-Li es auch bei den Volkspolizisten erlebt hatte. Und wie alle anderen fieberte auch er der Pointe entgegen, nur um feststellen zu müssen, dass Glatzkopf-Li kurz davor in Schweigen verfiel. »Und dann?«, fragte er aufgeregt. »Da war kein dann«, antwortete Glatzkopf-Li wütend. »Wieso denn nicht?«, fasste Dichter Zhao nach, gepackt von dem eben Gehörten. Glatzkopf-Li haute auf den Tisch. »Weil irgendein verdammter Idiot mich im entscheidenden Moment rausgezogen hat!« Trübselig schüttelte der Dichter den Kopf. »Wäre ich Dussel doch bloß zehn Minuten später gekommen!«, seufzte er. »Zehn Minuten?«, zischte Glatzkopf-Li. »Zehn Sekunden hätten mir gereicht!«
III Glatzkopf-Lis eigentlicher Name war Li Guang. Seinen Spitznamen bekam er schon als Kleinkind, das gerade erst laufen lernte. Seine Mutter wollte nämlich Geld sparen und ließ den Jungen jedes Mal kahlscheren, damit sie nicht so oft mit ihm zum Frisör zu gehen brauchte. Jeder nannte ihn 39
Glatzkopf-Li, Kinder ebenso wie Erwachsene, sogar seine eigene Mutter. Wenn sie ihn bei seinem Namen Li Guang rief, rutschte ihr manchmal unbewusst ein zusätzliches »tou« heraus, sodass aus »Guang« - was Glanz bedeutet - »Guangtou« wurde, glänzender Kopf, also Glatzkopf. Am Ende blieb auch sie selbst schließlich ganz bei diesem Namen. Glatzkopf-Li nannten die Leute den Jungen sogar dann, wenn sein Schopf einmal strubblig wie ein Heuhaufen war. Als Erwachsener ließ er sich daher kurzerhand eine richtige Glatze schneiden, denn Glatzkopf-Li würde man ihn ohnehin nennen, egal ob mit Haaren oder ohne. Damals noch nicht der reichste Mann in unserer kleinen Stadt Liuzhen, sondern ein armer Schlucker, machte er die Erfahrung, dass die Pflege seiner spiegelnden Glatze ihn doppelt so teuer zu stehen kam wie andere ihre Haarfrisur. Richtig arm sein hat auch seinen Preis!, schwadronierte er überall herum. Während sein Bruder Song Gang nur einmal im Monat zum Frisör gehe, müsse er sich mindestens zweimal den Schädel blank schaben lassen, damit er seidig schimmere und heller glänze als das Rasiermesser selbst, denn nur so sei er der echte Glatzkopf-Li und trüge seinen Namen zu Recht. Glatzkopf-Lis Mutter Li Lan segnete das Zeitliche, als ihr Sohn fünfzehn Jahre alt war. Dieser sagte von ihr, seine Mutter sei besonders auf ihre Ehre bedacht gewesen, wohingegen er selbst, wie sein Vater, überhaupt kein Schamgefühl habe. Einen Finger hochreckend, erklärte er, Frauen, deren Ehemann und Sohn beide Mörder waren, gebe es vielleicht noch mehr, eine Frau, deren Ehemann und Sohn beide dabei ertappt wurden, wie sie auf der Toilette Frauenärsche ausspähten - die gebe es wahrscheinlich nur einmal: seine Mutter. 40
Zu jener Zeit spionierten viele Männer heimlich Frauen auf der Toilette hinterher, ohne dass ihnen irgendetwas passierte. Ausgerechnet Glatzkopf-Li wurde dabei ertappt und musste Spießruten laufen, ausgerechnet sein Vater fiel in die Jauchegrube und ertrank! Der Junge hatte das Gefühl, sein Vater sei der größte Pechvogel der Welt: Für einen Blick auf einen Frauenhintern sein Leben zu verlieren, das war ein ausgesprochenes Verlustgeschäft, gegen das sich der sprichwörtliche Handel Melonen gegen Sesamkörner geradezu rentabel ausnahm. Er selbst aber - Glatzkopf-Li - sei der zweitgrößte Pechvogel, denn er habe sich auf ebendiesen Tausch Melonen gegen Sesam eingelassen. Ein Glück nur, dass er sein Kapital, sprich: sein Leben, dabei nicht auch noch eingebüßt und dass er später aus einem Verlustgeschäft sogar noch einen Profit in Gestalt von sechsundfünfzig Portionen Nudeln der drei Köstlichkeiten geschlagen hatte. Wie heißt es so schön? Solange der Wald steht, gibt's Holz zum Heizen! Für Glatzkopf-Lis Mutter allerdings gab es weder Wald noch Holz. Alles Pech, von dem ihr Mann und ihr Sohn verfolgt wurden, sammelte sich letztlich bei der schuldlosen Li Lan. Auf diese Weise war in Wahrheit sie der »größte Pechvogel der Welt«. Wie viele Frauenhintern der Vater zu Gesicht bekommen hatte, wusste Glatzkopf-Li natürlich nicht. Seine eigene Erfahrung sagte ihm jedoch, dass der Vater damals buchstäblich zu sehr in die Tiefe gegangen war. Um möglichst deutlich zu sehen, hatte er sich gewiss immer weiter hinabgelassen, sodass die Füße sich schließlich vom Boden lösten und sein ganzes Gewicht auf den Händen lastete, mit denen er sich am Rand des Sitzlochs festhielt - der wiederum von den 41
unzähligen Ärschen, die daraufgesessen hatten, glatt und schlüpfrig war. Was folgte, musste sich ungefähr so abgespielt haben: Als der arme Teufel die erträumten Schamhaare wirklich und wahrhaftig zu Gesicht bekam, machte er Augen so groß wie Vogeleier. Und gewiss tränten und juckten sie ihm von dem beißenden Gestank der Jauchegrube, sodass er unentwegt blinzeln musste. Die um den Sitzlochrand gekrallten Hände wurden vor Erregung und Anstrengung nass vor Schweiß. Just in diesem Moment stürzte ein ein Meter fünfundachtzig großer Mann, im Laufen schon an seinem Hosenschlitz nestelnd, in höchster Eile in das Männerklo. Als er die aus dem Sitzloch stakenden, scheinbar herrenlosen Beine erblickte, schrie er vor Schreck laut auf, als hätte er einen bösen Geist gesehen. Glatzkopf-Lis selbstvergessen genießender Vater erschrak darüber seinerseits buchstäblich zu Tode, denn er verlor den Halt und stürzte kopfüber in die Jauche. Der zähe Fäkalschlamm verstopfte ihm innerhalb von Sekunden Mund, Nase und Luftröhre, sodass Glatzkopf-Lis Vater bei lebendigem Leibe erstickte. Der Mann, von dem der Schreckenslaut kam, war ein gewisser Song Fanping, Vater des Jungen Song Gang und späterer Stiefvater von Glatzkopf-Li. Als Song Fanping die aus dem Sitzloch stakenden Beine urplötzlich verschwinden sah, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Einige Sekunden verharrte er starr vor Entsetzen. Der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirn. War das ein Dämon gewesen - am helllichten Tag? Da ertönten aus dem Frauenklo nebenan spitze Schreie, denn als Glatzkopf-Lis Vater wie eine Bombe in die Jauche einschlug, spritzte diese hoch und besudelte die Hinterteile 42
der Sitzenden, die erschrocken aufsprangen und dabei den Mann in der Grube entdeckten. Es folgte ein heilloses Durcheinander. Das aufgeregte Gezeter der Frauen lockte zahlreiche Schaulustige an, Männlein wie Weiblein. Eine Frau, die in der Eile vergessen hatte, ihre Hosen hochzuziehen, als sie panisch aus der Toilette stürzte, rannte beim Anblick all der lüstern gaffenden Männer heulend wieder zurück. Andere stellten fest, dass das mitgebrachte Papier nicht ausreichte, um die Spuren der Jaucheexplosion zu tilgen, und baten in ihrer Not die draußen Stehenden um Hilfe, woraufhin drei Männer sofort eine Platane erklommen, einen großen Teil ihres dichten Laubwerks abrissen und dann eins von den neugierig herbeigeeilten Mädchen mit einem Armvoll Blätter zu den mit hochgereckten Ärschen im Klo harrenden Frauen schickten, damit diese sich damit abputzten. In der Männerabteilung auf der anderen Seite des Toilettenhauses spähten mittlerweile die sich dort drängelnden Männer durch die elf Sitzlöcher des Aborts hinunter zu Glatzkopf-Lis Vater in der Jauche und debattierten hitzig, ob er noch lebe oder schon tot sei und wie man ihn wohl heraufhieven könne. Jemand schlug vor, ihn mit Bambusstangen herauszufischen, doch andere widersprachen sogleich: Mit Bambusstangen könne man höchstens eine Henne herausholen, bei einem Menschen würden die sofort brechen. Eine Eisenstange wäre das Richtige, aber woher sollte man eine so lange Stange nehmen? Inzwischen rannte Glatzkopf-Lis späterer Stiefvater, jener Mann na- mens Song Fanping, zu dem Außenbecken der Jauchegrube neben dem Toilettenhaus, über das die Reini43
gungskräfte von Zeit zu Zeit die Fäkalien abpumpten, und sprang kurzentschlossen hinein. Es war diese Tat, die Li Lan dem Mann später besonders hoch anrechnete. Alle anderen standen nur herum und wetzten die Zungen, er aber sprang in die Jauche! Bis zur Brust in dem stinkenden Schlamm stehend, von unzähligen Schmeißfliegen umschwirrt, watete er mit hoch erhobenen Armen los. Die Fliegen, die ihm in Mund, Nase, Augen und Ohren krochen, verscheuchte er, ohne seinen langsamen Vormarsch zu unterbrechen. Mühsam arbeitete er sich in den unter dem Abort befindlichen Teil der Jauchegrube vor, packte sich Glatzkopf-Lis Vater auf die Schultern, watete langsam wieder zurück, legte den Verunglückten am Rand der Grube ab und hievte sich, mit beiden Händen auf der Einfassung abgestützt, aus dem Becken. Die dort versammelten Schaulustigen stoben mit lauten Schreckenslauten auseinander, schaudernd beim Anblick der beiden über und über mit Kot bedeckten, von Maden und Fliegen wimmelnden Männer, die so entsetzlich stanken, dass alle Gaffer sich Mund und Nase zuhielten. Song Fanping kniete sich neben Glatzkopf-Lis Vater und hielt eine Hand erst an dessen Nase, dann auf die Magengrube. Gleich darauf stand er auf und sagte in die Runde: »Er ist tot.« Groß und kräftig wie er war, nahm Song Fanping GlatzkopfLis Vater huckepack und setzte sich mit ihm in Bewegung. Ein von Kot starrender Lebender, der einen nicht minder kotigen Toten trägt - das war eine noch größere Sensation als Jahre später Glatzkopf-Lis unfreiwillige Prozession durch die Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen. Die Jauche tropfte von den Leibern der beiden Männer und erfüllte zwei Haupt44
verkehrsstraßen und eine Gasse mit beißendem Gestank. Schätzungsweise zweitausend Gaffer säumten die Wegstrecke, mehr als einhundert Personen beklagten den Verlust ihrer Schuhe im Gedränge, ein gutes Dutzend Frauen zeterte, irgendwelche Unholde hätten ihren Hintern betatscht, und mehrere Männer schimpften wie die Rohrspatzen, weil man ihnen die Zigaretten aus der Hosentasche gestohlen hatte. Eskortiert von über zweitausend Menschen, gelangten Glatzkopf-Lis beide Väter - der leibliche, tote, und der zukünftige, lebende - endlich zu dem Haus des Verunglückten. Glatzkopf-Li befand sich zu jener Zeit noch im Leib seiner armen Mutter, die die schlimme Nachricht bereits erfahren hatte und mit ihrem gewaltigen Neunter-Monat-Bauch vor ihrem Haus stand und mit leerem Blick dem unbekannten Mann entgegensah, der sich da mit ihrem bewegungslosen Gatten auf dem Rücken näherte. Der Tote, den der Mann schräg vor ihr auf die Erde legte, kam ihr wie ein Wildfremder vor. So plötzlich hatte der unverhoffte Schlag sie getroffen, dass sie wie ein Zombie an der Tür lehnte und nicht begriff, was überhaupt ablief. Sie war sich nicht einmal bewusst, dass sie an ihrer eigenen Haustür stand. Nachdem Song Fanping Glatzkopf-Lis Vater abgeladen hatte, ging er zum Brunnen und säuberte sich mit zahllosen Eimern Wasser gründlich. Das eisige Wasser - es war erst Mai ließ ihn vor Kälte erschauern. Als er den Kot von Kopf und Körper gespült hatte, wandte er sich zu Li Lan um. Sie wirkte so abwesend, dass er es nicht fertigbrachte, gleich fortzugehen, sondern mit weiteren Eimern Brunnenwasser auch noch Glatzkopf-Lis Vater säuberte. Er wälzte die Leiche hin und 45
her, um sie von allen Seiten abspülen zu können. Dann ging er zu Li Lan und sah sie an. Immer noch kam keine Reaktion von ihr. Kopfschüttelnd nahm er Glatzkopf-Lis Vater auf die Arme und ging zur Haustür, an der Li Lan nach wie vor bewegungslos lehnte, sodass er gezwungen war, sich mit dem Leichnam seitlich an ihr vorbei ins Haus zu schieben. Im hinteren Zimmer stand das Bett. Auf Kissen, Laken und Bezügen sah er das eingestickte rote Schriftzeichen für »doppeltes Glück«, Überbleibsel einer zweifellos noch nicht allzu lange zurückliegenden Hochzeit. Einen Moment stand er unschlüssig da, schließlich legte er Glatzkopf-Lis toten Vater ab - nicht auf dem Fußboden, sondern auf dem Bett, das noch vor kurzem als Hochzeitslager gedient hatte. Als er beim Hinausgehen feststellte, dass die sensationslüsterne Menschenmenge das Haus nach wie vor belagerte, sagte er mit leiser Stimme zu der immer noch bewegungslos am Türrahmen lehnenden Frau, sie solle hineingehen und die Tür hinter sich zumachen. Sie rührte sich jedoch nicht von der Stelle, als hätte sie seine Worte nicht gehört, und sah ihn auch nicht an. Da nickte er ihr kurz zu und ging los, tropfnass, wie er war. Die Gaffer öffneten blitzschnell eine Gasse für ihn (dabei hatte er sich doch inzwischen von dem Kot gesäubert), und wieder beschwerten sich einige, sie hätten ihre Schuhe verloren oder man habe ihren Hintern begrapscht. Song Fanping fror erbärmlich wegen des eiskalten Brunnenwassers, mit dem er sich gewaschen hatte, und musste mehrmals niesen, als er aus der kleinen Gasse auf die große Straße einbog. Hinter ihm schlossen die Schaulustigen sofort wieder ihre Reihen und wandten sich in freudiger Erwartung weiterer Sensationen wieder der bedauernswerten Witwe zu. 46
Gerade da sank Li Lan, immer noch am Türrahmen lehnend, langsam in sich zusammen. Im nächsten Moment lag sie auf dem Boden, das eben noch völlig ausdruckslose Gesicht schmerzverzerrt, die Beine weit von sich gestreckt, beide Hände in den Lehmboden gekrallt, als wollte sie sich an Mutter Erde festhalten. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Stumm und starr blickte sie mit weit aufgerissenen Augen auf die Umstehenden. Jemand sah, dass sich ihre Hose blutrot färbte. Erschrocken schrie er auf: »Schaut nur! Schaut - sie blutet!« Eine Frau, die schon einmal ein Kind geboren hatte, wusste, was das bedeutete. »Es geht los!«, rief sie. »Das Kind kommt!« IV Seit der Geburt ihres Sohnes litt Li Lan unter Migräne. Solange Glatzkopf-Li denken konnte, kannte er sie nur mit einem Tuch um den Kopf, wie es Bäuerinnen bei der Feldarbeit tragen. Das dumpfe Dauerkopfweh und die plötzlichen Schmerzattacken, die ihr die Tränen in die Augen trieben, ließen das ganze Jahr über niemals nach. Wenn sie mit den Fingern auf den Schädel trommelte, was sie häufig tat, klang es mit der Zeit immer heller, ein bisschen wie beim »Holzfisch«, dem fischförmigen Klangholz, das im Tempel während der Sutralesung geschlagen wird. Glatzkopf-Lis Mutter hatte den Verlust ihres Mannes nicht mit vollem Bewusstsein erlebt. Als ihr später allmählich klar wurde, was geschehen war, fühlte sie weder Trauer noch Zorn, sondern einzig und allein Scham. Nach der Geburt ihres Sohnes war ihre Mutter vom Dorf in die Stadt gekom47
men, um Tochter und Enkel zu versorgen, daher brauchte Li Lan während ihres dreimonatigen Mutterschaftsurlaubs das Haus nicht zu verlassen. Vor lauter Angst, jemand könnte sie sehen, ging sie nicht einmal in die Nähe des Fensters. Nach Ablauf der drei Monate musste sie jedoch wieder zur Arbeit. Totenbleich und angstschlotternd trat sie vor die Tür, als ob sie im nächsten Augenblick in einen Kessel mit siedendem Öl springen müsste. Immerhin - sie hatte sich hinausgewagt! Als sie endlich auf der Hauptstraße angelangt war, hielt sie sich, den Kopf tief gesenkt, im Schatten der Häuser. Es kam ihr vor, als durchbohrten alle Vorübergehenden sie mit Blicken wie spitze Nadeln. Ein Bekannter rief sie bei ihrem Namen, da schrak sie zusammen wie von einer Kugel getroffen und wäre um ein Haar zu Boden gegangen. Der Himmel weiß, wie sie es bis zur Seidenfabrik schaffte, einen ganzen langen Arbeitstag an der Haspelmaschine durchstand und abends wieder nach Hause kam. Von da an verfiel sie in Schweigen. Sogar in ihrer eigenen Wohnung, hinter verschlossenen Türen und Fenstern, allein mit ihrer Mutter und ihrem Sohn, redete sie nur ganz wenig. Als Säugling wurde Glatzkopf-Li scheel angesehen. Sobald seine Großmutter sich mit ihm auf dem Arm draußen sehen ließ, zeigten die Leute mit Fingern auf ihn. Manche umringten die Frau sogar wie einen Guckkästner und zerrissen sich das Maul über das Baby. »Der Spanner, der in der Scheiße ersoffen ist, von dem stammt das Balg! Ganz wie der Vater!« - so etwa gingen ihre hämischen Bemerkungen. (Wohlgemerkt: Bewusst oder unbewusst sagten sie nicht »Ganz der Vater!«, denn damit wäre ja nur die äußere Ähnlichkeit ge48
meint gewesen ... ) Man hätte denken können, es war das Baby, das sich für Frauenhintern interessierte. Glatzkopf-Lis Großmutter wurde abwechselnd rot und blass bei diesen Reden und ging von da an nicht mehr außer Haus mit dem Baby, stellte sich höchstens gelegentlich mit ihm auf dem Arm ans geschlossene Fenster, damit es ein bisschen Sonne abbekam, und trat blitzschnell wieder in die Dunkelheit des Zimmers zurück, sobald ein Passant sich neugierig umwandte. Auf diese Weise kam Glatzkopf-Li regelmäßig um sein Sonnenbad, sodass er überhaupt nicht so rosig und pausbäckig aussah wie andere Babys. Unterdessen litt Lin Lan an ihrer Migräne. Immer wieder zog sie vor Schmerzen Luft durch die Zähne. Seit dem unrühmlichen Ende ihres Gatten hatte sie keinem Menschen mehr ins Gesicht geschaut, hatte nicht laut gewehklagt und sich trotz ihrer heftigen Kopfwehattacken jeden Schmerzenslaut verbissen (bis auf das Zischen der Luft, die sie unablässig durch die Zähne zog, und gelegentlich den einen oder anderen Wehlaut im Schlaf). Wenn sie ihren Sohn auf den Arm nahm und sein blasses Gesicht und die dünnen Ärmchen sah, weinte sie jedes Mal bitterlich. Dennoch brachte sie nicht den Mut auf, tagsüber, wenn die Sonne schien, mit dem Kleinen auf die Straße zu gehen. Nachdem sie über ein Jahr gezögert hatte, stahl sie sich in einer mondhellen Nacht mit dem Baby auf dem Arm aus dem Haus. Den gesenkten Kopf an das Gesichtchen ihres Sohnes geschmiegt, lief sie wie gehetzt durch die Straßen und hielt sich dabei immer dicht an den Häusermauern. Erst als sie sich vergewissert hatte, dass vor und hinter ihr keine Schritte zu hören waren, verlangsamte sie das Tempo, schaute auf 49
zum Himmel mit der hellen Mondscheibe und genoss die kühle Nachtluft. Auf der um diese Zeit völlig menschenleeren Brücke über den Fluss blieb sie stehen, um sich an dem Glitzern des Wassers im Mondlicht und den Wellen zu erfreuen. Die Bäume am Ufer schienen zu schlummern, ihre mondbeschienenen Wipfel waren gekräuselt wie das Wasser des Flusses. Das Spiel der Leuchtkäfer, die hin und her, auf und nieder schwirrten, erinnerte sie an das Auf und Ab einer Gesangsmelodie. Das Kind auf dem rechten Arm, mit der Linken auf den Fluss unter der Brücke, die Bäume entlang des Ufers, den Mond am Himmel und die in der Luft tanzenden Leuchtkäfer zeigend, sagte Li Lan zu ihrem Sohn: »Das da heißt Fluss, und das ist ein Baum, da oben ist der Mond, und das sind Glühwürmchen.« Zu sich selbst sagte sie: »Was für eine wunderschöne Nacht!« Sie war glücklich. Von da an konnte Glatzkopf-Li, wenn er schon das Sonnenlicht entbehren musste, wenigstens nachts im Mondlicht baden. Wenn alle anderen Kinder längst schliefen, war er noch wach, weil seine Mutter mit ihm auf dem Arm wie eine Nachtschwärmerin unsere kleine Stadt durchstreifte. Eines Nachts schlug Li Lan ganz in Gedanken verloren den Weg ins Freie ein. Als sie durch das Südtor trat und die mondbeschienenen Felder sah, die sich bis zum Horizont erstreckten, unterdrückte sie mit Mühe einen Aufschrei der Freude. Die geheimnisvolle Stille der Häuser und Straßen im Mondlicht war ihr vertraut, jetzt aber entdeckte sie plötzlich für sich auch die mystische Schönheit der nächtlichen Flur. Glatzkopf-Li an ihrer Brust wurde ebenfalls ganz aufgeregt, 50
streckte beide Ärmchen zu den unendlich weiten Feldern aus und gab piepsende Geräusche von sich wie ein Mäuschen. Viele Jahre später, als Glatzkopf-Li, inzwischen der SuperMultimillionär unserer kleinen Stadt Liuzhen, beschloss, einen Weltraumtrip zu machen, und sich mit geschlossenen Augen ausmalte, wie er aus dem Weltraum auf die Erde herabblicken würde, kehrten die im Säuglingsalter empfangenen Eindrücke wundersamerweise wieder zurück. Denn die Schönheit des Erdballs, wie er sie in seiner Vorstellung an Bord des russischen »Sojus«-Raumschiffes erlebte, entsprach genau dem Anblick, der sich damals dem Säugling auf dem Arm der Mutter geboten hatte, als diese zum ersten Mal mit ihm vor das Südtor gegangen war und sich die mondbeschienenen Felder endlos vor seinen Augen erstreckt hatten. So lernte Glatzkopf-Li in der Stille heller Mondnächte von seiner Mutter, was das ist - eine Straße, Häuser, Felder, der Himmel ... Noch keine zwei Jahre alt, blickte er mit staunenden Augen in diese lautlose, helle Welt. Einmal begegnete Li Lan beim Spaziergang im Mondschein Song Fanping. Sie ging gerade mit dem Kind auf dem Arm eine stille Straße entlang, da kam ihr auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Familie entgegen, die sich laut unterhielt - Song Fanpings Familie. Der hochgewachsene Vater führte einen Jungen an der Hand - Song Gang, ein Jahr älter als Glatzkopf-Li -, und seine Frau trug einen Korb. Ihre hellen Stimmen störten die nächtliche Stille wie lautes Klopfen an eine Tür. Li Lan horchte auf - die Stimme des Mannes, die kannte sie doch! Das war doch der Mann, der gottserbärmlich stinkend mit ihrem ebenso gottserbärmlich stinkenden Ehemann auf dem Rücken plötzlich vor ihr gestanden hatte, 51
als sie damals wie benommen an ihrer Haustür lehnte! Sie hatte gar nicht so richtig mitbekommen, was um sie herum geschah, aber die Stimme des Mannes, die würde sie ihren Lebtag nicht vergessen. Und auch nicht, wie er erst sich selbst und dann ihren toten Gatten gesäubert hatte. Gut möglich, dass ihre Augen jetzt aufleuchteten, als sie zu Song Fanping hinüberschaute. Gleich darauf jedoch senkte sie wieder den Kopf und hastete weiter, denn der Mann auf der anderen Straßenseite war stehen geblieben und sagte mit leiser Stimme etwas zu seiner Frau. Li Lan traf Song Fanping in der Folgezeit noch zwei weitere Male auf ihren nächtlichen Spaziergängen mit dem kleinen Glatzkopf-Li, einmal wieder mit Frau und Sohn, das zweite Mal allein. Plötzlich stand er in seiner vollen Größe da und versperrte ihr den Weg. Er streichelte mit seiner kräftigen Hand Glatzkopf-Li, der zu ihm aufschaute, übers Haar und sagte zu Li Lan: »Der kleine Kerl ist aber dünn! Sie sollten öfter mit ihm an die Sonne gehen, wegen der Vitamine.« Die arme Frau wagte nicht einmal, ihn anzuschauen. Sie zitterte am ganzen Leib, und mit ihr Glatzkopf-Li auf ihrem Arm - wie ein Haus während eines Erdbebens schwankt, so schwankte das Baby hin und her. Song Fanping lachte auf und ging weiter, wobei er ihren Arm streifte. In dieser Nacht war Li Lan blind für die Schönheit des Mondlichts und kehrte sehr bald mit ihrem Kind nach Hause zurück. Wie gewohnt zog sie geräuschvoll Luft durch die Zähne, diesmal aber vielleicht - nicht wegen der Migräne. Als Glatzkopf-Li drei Jahre alt war, verließ seine Großmutter Tochter und Enkel und ging in ihr Dorf zurück. Der Jun52
ge konnte schon laufen, war aber immer noch sehr dünn, noch magerer sogar als im Säuglingsalter. Seine Mutter litt nach wie vor unter Kopfschmerzen, mal mehr, mal weniger, und hatte inzwischen einen Rundrücken, weil sie den Kopf stets gesenkt hielt. Seitdem die Großmutter fort war, kam Glatzkopf-Li endlich auch in den Genuss des Sonnenlichts, denn Li Lan nahm ihn zum Einkaufen mit. Der Junge hielt sich an ihrer Jacke fest und wackelte schwankend und taumelnd hinter ihr her, während sie mit gesenktem Kopf hastig die Straße entlanglief, hatte sie doch immer noch das Gefühl, von unzähligen Blicken durchbohrt zu werden. Dabei verschwendete inzwischen niemand mehr seine Aufmerksamkeit auf sie, geschweige denn, dass irgendjemand mit Fingern auf die beiden gezeigt hätte. Glatzkopf-Lis schmächtige Mutter musste alle zwei Monate im Reisladen ihre Ration abholen. Das war für den Jungen stets ein Freudentag, denn sobald die Mutter den Sack mit den vierzig Pfund Reis auf den Buckel lud, begann sie zu keuchen und zu zischen (sie hatte mittlerweile angefangen, auch dann zischend Luft durch die Zähne zu ziehen, wenn sie redete oder eben keuchte). Sie musste alle paar Meter stehen bleiben und eine Pause machen, sodass Glatzkopf-Li sich nicht mehr darauf konzentrieren musste, mit ihr Schritt zu halten, sondern Muße hatte, sich unterwegs nach Herzenslust umzusehen. An einem Herbsttag tauchte mittags Song Fanping vor Mutter und Sohn auf, als Li Lan sich gerade den Schweiß von der Stirn wischte. Eine starke Hand nahm ihr plötzlich den Reissack vom Rücken, und als sie erschrocken aufschaute, er-
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kannte sie Song, der lächelnd sagte: »Ich trag ihn für Sie nach Hause!« Den Sack mit den vierzig Pfund Reis in der rechten Hand schwenkend, als wäre es ein leerer Korb, nahm Song Fanping mit der Linken den Jungen hoch und setzte ihn sich auf die Schultern. Glatzkopf-Li, der sich mit beiden Händen an der Stirn des Mannes festhalten musste, jauchzte glückselig. Noch nie hatte er aus derart luftiger Höhe auf die Straße herabgeschaut. Sonst musste er immer den Kopf recken, wenn er etwas sehen wollte, jetzt aber schaute er zum ersten Mal nach unten, um die Passanten zu beobachten. Während der hünenhafte Mann, beladen mit Li Lans Reissack und ihrem Sohn, sich einen Weg durch das Gedränge auf der Straße bahnte, redete er munter auf die Frau ein. Li Lan dagegen lief mit gesenktem Kopf neben ihm her, in kalten Schweiß gebadet, das Gesicht kreideweiß. Am liebsten hätte sie sich in eine Erdspalte verkrochen, hatte sie doch das Gefühl, alle Menschen der Welt machten sich in diesem Moment über sie lustig. Unterwegs fragte Song Fanping nach diesem und jenem, doch von ihr kam außer Kopfnicken und ihrem gewohnheitsmäßigen Zischeln keine andere Reaktion. Als sie endlich an Li Lans Haus ankamen, setzte Song den Jungen ab und schüttete den Reis aus dem Sack in die Vorratskruke. Mit einem flüchtigen Blick auf das Bett stellte er fest, dass das eingestickte Schriftzeichen »doppeltes Glück« auf Laken und Bezug verblasst und ausgefranst war. Beim Hinausgehen sagte er zu Li Lan, er heiße Song Fanping und sei Lehrer an der Mittelschule. Sie könne sich in Zukunft an ihn wenden, wenn körperlich schwere Arbeiten anstünden, zum Beispiel Reis oder Kohle kaufen. Als er weg war, ließ sie 54
zum ersten Mal ihren Sohn allein vor dem Haus spielen. Sie selbst schloss sich drinnen ein - wer weiß, was sie dort trieb. Erst nach Einbruch der Dunkelheit machte sie die Haustür wieder auf. Da saß der Junge auf der Erde und war, an die Tür gelehnt, eingeschlafen. Glatzkopf-Li entsann sich später, dass Song Fanpings Frau in dem Jahr ihrer Krankheit erlag, als er fünf wurde. Nachdem Li Lan davon erfahren hatte, stand sie lange am Fenster, zog wie gewohnt Luft durch die Zähne und sah zu, wie die Sonne unterging und der Mond am Himmel erschien. Dann ergriff sie die Hand ihres Sohnes und ging mit ihm still und leise durch die helle Nacht zu dem Haus, in dem Song Fanping wohnte. Sie hatte aber nicht den Mut hineinzugehen, sondern beobachtete, hinter einem Baum versteckt, die Leute, die drinnen im trüben Lampenlicht um den Sarg herumsaßen oder hin und her gingen. Glatzkopf-Li, der sich an der Jacke der Mutter festhielt, hörte sie wie gewohnt zischeln. Als er den Kopf hob, um den Mond und die Sterne zu sehen, kam es ihm vor, als weine seine Mutter, denn sie wischte sich ständig die Augen. »Weinst du, Mama?«, fragte er. »Mmh!«, antwortete sie und erzählte ihm, dass in der Familie ihres Wohltäters jemand gestorben sei. Nach einem Weilchen nahm sie ihn an die Hand und ging ebenso still und leise, wie sie gekommen war, wieder nach Hause. Am nächsten Tag setzte sie sich gleich nach der Arbeit an den Tisch und verfertigte aus Papier einen großen Haufen »Käsch« und »Barren«, also Scheidemünzen und Edelmetallstücke, die sie jeweils auf eine weiße Schnur fädelte. Glatzkopf-Li fand das hochinteressant. Er setzte sich neben 55
die Mutter und sah zu, wie sie erst mit der Schere das Papier zerschnitt, dann daraus einen »Barren« faltete und schließlich auf einige von den »Barren« das Schriftzeichen jin (Gold), auf andere yin (Silber) schrieb. Mit einem »Goldbarren«, erklärte sie dem Jungen, konnte man in früheren Zeiten ein ganzes Haus kaufen. »Und mit dem hier?«, fragte Glatzkopf-Li, auf einen »Silberbarren« zeigend. »Auch ein Haus, nur ein bisschen kleiner«, antwortete die Mutter. Beim Anblick all der »Goldbarren« und »Silberbarren« überlegte der Junge, wie viele Häuser man damit wohl kaufen könne. Er hatte damals gerade die Zahlen gelernt, aber als er jetzt die »Barren« zählen wollte, kam er immer nur bis zehn, dann fing er wieder mit eins an. Auf dem Tisch wuchs der Haufen immer höher, bei ihm jedoch blieb es bei zehn »Barren« - es war, als befände er sich in einer Sackgasse, aus der er nicht wieder herausfand. Vor Anstrengung brach ihm der Schweiß aus, und seine Mutter konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Nachdem Li Lan genügend Papier-Barren gefaltet hatte, begann sie, Papier-Käsch zu verfertigen, runde Scheiben, aus denen sie ein Viereck schnitt und die sie zum Schluss sorgfältig mit lauter Linien und Schriftzeichen bemalte, damit sie genauso aussahen wie die echten Kupfermünzen früher. Glatzkopf-Li fand das viel aufwendiger als die Anfertigung der »Barren«. Bestimmt konnte man mit einem »Käsch« gleich mehrere Häuser kaufen, vermutete er. Die Mutter zeigte ihm die auf eine Schnur gefädelten »Käsch« und sagte, das habe damals gerade für eine Bluse gereicht. Wie denn? Eine Bluse war teurer als ein Haus?, überlegte der Junge und fing abermals an zu schwitzen, weil er so angestrengt nach56
dachte. Li Lan erklärte ihm, zehn Schnüre Käsch seien nicht einmal so viel wert gewesen wie ein Barren. Und wieder hatte Glatzkopf-Li so viel Stoff zum Nachdenken, dass er erst recht schwitzte. Warum, so fragte er sich, gab sich seine Mutter so viel Mühe mit den Papier-Käsch, wenn man dafür weniger kaufen konnte als für die Papier-Barren? Li Lan sagte, mit diesem »Geld« könne man ohnehin im Diesseits überhaupt nichts anfangen, nur im Jenseits - es sei das Reisegeld für eine Tote. Als Glatzkopf-Li das Worte Tote hörte, erschauerte er. Dann schaute er in die Dunkelheit draußen vor dem Fenster und erschauerte ein zweites Mal. Für wen das Totengeld bestimmt sei, wollte er wissen. Li Lan ließ die Schere sinken und sagte: »Für die Frau unseres Wohltäters.« Am Vormittag des Tages, da Song Fanpings Frau zu Grabe getragen wurde, legte Li Lan die aufgefädelten Papier-Käsch und die »Goldbarren« und »Silberbarren« in einen Korb, nahm den Jungen an die Hand und ging mit ihm vor bis zu der großen Straße, um dort zu warten. In Glatzkopf-Lis Erinnerung war dies das erste Mal, dass Li Lan auf der Straße den Kopf hob: Sie hielt Ausschau nach dem Trauerzug. Einige Passanten, die sie kannten, blickten verwundert in den Korb, manche griffen sogar hinein und begutachteten das von ihr verfertigte Totengeld. Nicht nur gescheit sei sie, sondern auch geschickt - aber gebe es denn etwa in ihrer Familie schon wieder einen Trauerfall? Li Lan senkte den Kopf und erwiderte leise: »Nicht in unserer Familie ... « Es war nur ein Dutzend Menschen, die Song Fanpings verstorbener Frau das letzte Geleit gaben. Der Sarg stand auf einem Pritschenkarren, der quietschend die mit Steinplatten 57
gepflasterten Straßen entlangrumpelte. Glatzkopf-Li sah, dass sich die weinenden und schluchzenden Männer und Frauen in dem Trauerzug weiße Bänder um Stirn und Taille gebunden hatten. Der Einzige, den er kannte, war Song Fanping - auf dessen breiten Schultern war er schon einmal geritten und hatte die Welt von oben betrachtet. Song Fanping hatte seinen Sohn Song Gang an die Hand genommen. Als er an Li Lan vorüberkam, zögerte er kurz, drehte sich nach ihr um und nickte ihr zu. Song Gang tat es ihm nach und nickte Glatzkopf-Li zu. Li Lan und ihr Sohn schlossen sich dem Trauerzug an und folgten ihm auf den gepflasterten Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen und auf den ungepflasterten Wegen draußen vor der Stadt. Glatzkopf-Li kam der Weg sehr weit vor, doch endlich hielt der Zug der still vor sich hin weinenden Trauergäste an dem offenen Grab. Als der Sarg in der Grube verschwand, ging das leise Wimmern sofort in lautes Jammern und Wehklagen über. Den Korb über dem Arm, den Jungen an der Hand, stand Li Lan etwas seitlich und sah zu, wie die Trauernden weinend Erde auf den Sarg schaufelten, bis der Grabhügel fertig war und aus dem lauten Jammern wieder leises Schluchzen wurde. Song Fanping drehte sich um und trat zu Li Lan und Glatzkopf-Li. Mit Tränen in den Augen sah er die Frau an, nahm aus ihren Händen den Korb entgegen, ging zum Grab zurück, bedeckte es mit den PapierKäsch und Barren und zündete zum Schluss das Totengeld mit einem Streichholz an. Als es aufloderte, wurde aus dem Wimmern abermals lautes Wehklagen. Glatzkopf-Li beobachtete, dass auch seine Mutter herzzerreißend zu schluchzen begann. Sie musste in diesem Moment an ihr eigenes Unglück denken. 58
Es folgte der lange Rückweg in die Stadt. Wieder ging Li Lan hinter dem Trauerzug her, immer noch den Korb in der einen, Glatzkopf-Li an der anderen Hand. Song Fanping, an der Spitze des Zuges, drehte sich mehrmals nach den beiden um, und als der Zug an die Stelle kam, wo sie in ihre Gasse abbiegen mussten, blieb er stehen und sagte leise etwas zu Li Lan. Er lud sie und ihren Sohn zum Abendessen zu sich nach Hause ein, zur Tofu-Mahlzeit zum Gedenken an die Tote, so, wie es in unserer kleinen Stadt Liuzhen Brauch ist. Li Lan zögerte, schüttelte dann den Kopf und bog mit dem Jungen in ihre Gasse ein. Zu Hause angelangt, fiel GlatzkopfLi, der fast den ganzen Tag auf den Beinen gewesen war, sofort in einen tiefen Schlaf, kaum dass er im Bett lag. Li Lan dagegen, zischend Luft durch die Zähne ziehend, saß im hinteren Zimmer und blickte mit leeren Augen aus dem Fenster. Es war schon dunkel, da klopfte es an der Tür. Li Lan fuhr erschrocken hoch und öffnete. Draußen stand Song Fanping. Sein plötzliches Auftauchen versetzte sie in Panik. Sie sah nicht den Korb, den er in der Hand hatte, vergaß, ihn zum Nähertreten aufzufordern, stand einfach nur da, den Kopf gewohnheitsmäßig gesenkt. Erst als Song Fanping ihr die Speisen, die er in seinem Korb gebracht hatte, überreichte, begriff sie, er war gekommen, um sie doch noch an dem Trauermahl teilhaben zu lassen. Es gelang ihr nur mit Mühe, ihrer Aufregung Herr zu werden, während sie die Schüsseln mit den verschiedenen Tofu-Gerichten aus seinen Händen entgegennahm, schnell in ihre eigenen Schüsseln umfüllte und dann sein Geschirr in fliegender Eile abwusch. Als sie ihm die gespülten Schüsseln zurückgab, zitterten ihre Hände. Song Fanping legte die Schüsseln in den Korb und wand59
te sich zum Gehen. Da hatte Li Lan bereits wieder wie gewohnt den Kopf gesenkt. Die Schritte des Mannes verhallten, und ihr fiel siedend heiß ein, dass sie ihn nicht einmal hereingebeten hatte. Als sie aufblickte und die dunkle Gasse hinunterspähte, war er bereits verschwunden.
V Glatzkopf-Li wusste nicht, wie es gekommen war, dass Song Gangs Vater ein Auge auf seine Mutter warf, und er war fast sieben Jahre alt, als er erfuhr, dass dieser Mann Song Fanping hieß. Am Spätnachmittag eines Sommertages nahm Li Lan ihren Sohn an die Hand und ging mit ihm erst zum Frisör, wo sie ihm eine richtige Glatze schneiden ließ, und dann zum Sportplatz gegenüber dem Kino, dem einzigen beleuchteten Sportplatz in unserer kleinen Stadt Liuzhen, der aus diesem Grunde allgemein »Lichtspielfeld« genannt wurde. An diesem Abend sollte die Basketball-Mannschaft von Liuzhen gegen das Team einer anderen kleinen Stadt spielen. Über tausend Männer und Frauen schlappten in ihren Plastiksandalen zu dem Match und umringten das Lichtspielfeld in mehrfach gestaffelten Reihen, sodass es aussah wie eine riesige Grube, an deren Rändern sich der Aushub türmt. Die Männer rauchten, die Frauen knabberten Melonenkerne, Horden von kreischenden Kindern hatten die Bäume erklommen. Sogar auf der Umfassungsmauer standen Witze reißende Männer dicht an dicht. Dennoch versuchten manche von den sich unten Drängenden immer wieder, auch noch einen Platz auf der Mauer zu ergattern. Sie wurden von 60
den bereits oben Stehenden mit Fußtritten und Fausthieben daran gehindert, was aber lediglich dazu führte, dass sie fluchend und schimpfend ihre Anstrengungen hinaufzugelangen verdoppelten. Hier war es, dass Glatzkopf-Li zum ersten Mal mit Song Gang redete. Der Junge, ein Jahr älter als er selbst, trug ein weißes ärmelloses Unterhemd und kurze blaue Hosen. Der Rotz lief ihm aus der Nase, und er hielt sich ängstlich an Li Lans Jackenzipfel fest. Li Lan ihrerseits streichelte sein Haar, streichelte sein Gesicht, streichelte seinen zarten Hals - am liebsten hätte sie ihn wohl vor lauter Liebe aufgefressen! Dann schob sie die beiden Jungen nebeneinander und redete mit lauter Stimme auf sie ein, doch Glatzkopf-Li und Song Gang verstanden dennoch kein einziges Wort, weil um sie herum die Leute laut durcheinanderschrien, die Melonenkern-Knackerinnen über ihren Köpfen die Hülsen ausspuckten, die Zigarettenraucher ihre Rauchringe in die Luft pusteten, die Männer an der Umfassungsmauer sich inzwischen prügelten und von einem der Bäume ein Ast abbrach, sodass zwei Kinder herunterpurzelten. Li Lan redete die ganze Zeit unbeirrt weiter, und schließlich verstanden die beiden Jungen doch noch etwas. Auf Song Gang zeigend, sagte Li Lan zu Glatzkopf-Li: »Das ist dein großer Bruder! Er heißt Song Gang.« Glatzkopf-Li nickte und grüßte Song Gang mit seinem Namen, wie es sich gehört. Dann zeigte Li Lan auf Glatzkopf-Li und sagte zu Song Gang: »Das ist dein kleiner Bruder! Er heißt Glatzkopf-Li.«
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Song Gang hörte diesen Spitznamen zum ersten Mal und kicherte über den spiegelblanken Kahlkopf des anderen: »Glatzkopf-Li? Das ist aber ein komischer Name!« Schon sehr bald sollte ihm jedoch das Lachen vergehen, denn jemand verbrannte ihm mit der glühenden Zigarette den Arm. Die schmerzvoll zusammengekniffenen Augen des weinenden Jungen fand wiederum Glatzkopf-Li komisch. Doch als er gerade losplatzte, berührte ein anderer Mann ihn selbst mit seiner Zigarette am Hals, woraufhin er ebenfalls losheulte. Dann begann das Match. Auf dem gleißend hellen Platz, inmitten des an einen Taifun erinnernden, ohrenbetäubenden Stimmengewirrs, zeigte Song Fanping, was in ihm steckte. Li Lan kriegte den Mund gar nicht mehr zu vor Bewunderung für diesen hochgewachsenen Hünen, seine kraftvollen Sprünge und seine überlegene Technik. Am Ende hatte sie sich heiser geschrien und gerötete Augen vor lauter Aufregung. Jedes Mal, wenn Song Fanping einen Ball in den gegnerischen Korb geworfen hatte, riss er beide Arme hoch und rannte an Li Lan und den Jungs vorbei, als würde er im nächsten Moment abheben. Einmal sprang er direkt unter dem Korb hoch und stopfte den Ball mit beiden Händen von oben durch den Ring, zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben. Auch für die mehr als tausend Zuschauer war es das erste und einzige Mal in ihrem Leben, dass sie so ein spektakuläres Dunking mit eigenen Augen sahen. Sie verstummten wie auf Kommando und blickten einander ungläubig an, als wollten sie sich vergewissern, dass das, was sie soeben erlebt hatten, nicht nur ihrer Fantasie entsprungen war. Im nächsten Moment brandete rund um das Lichtspielfeld ein sol62
cher Höllenlärm auf, wie ihn nicht einmal die japanischen Invasoren vollführt hatten, als sie seinerzeit zum Sturm ansetzten. Song Fanping, selbst verblüfft über seine Großtat, blieb einen Augenblick wie erstarrt unter dem Korb stehen. Als ihm bewusst wurde, was er gerade geleistet hatte, wurden seine Augen ganz rund und sein Gesicht dunkelrot. Er rannte zu Li Lan, streckte seine Arme aus, und schon hatte er Song Gang und Glatzkopf-Li hochgehoben und lief mit ihnen zum Korbbrett, wo er sie, vor Freude außer Rand und Band, wahrscheinlich durch den Ring des Korbständers »gedunkt« hätte, wenn sie nicht vor lauter Angst wie am Spieß gebrüllt hätten. So fiel ihm zum Glück gerade noch rechtzeitig ein, dass die beiden keine Bälle waren. Lachend lief er mit den Jungen wieder zurück, setzte sie ab und nahm im Überschwang der Freude Li Lan in die Arme, die auf diese Weise buchstäblich ein paar Zentimeter über dem Boden schwebte und das vor aller Augen! Damit löste er eine wahre Lachsalve aus. Allerdings reagierten die Leute ganz unterschiedlich: Manche wieherten vor Lachen, andere lächelten, manche lachten schrill, andere heimtückisch, manche fein, andere dreckig, manche blöd, andere gezwungen, manche herzlich, andere falsch - in einem großen Wald nisten allerlei Vögel, und in einer Menschenmenge gibt's Lacher aller Art. Dazu muss man wissen, wenn man zu jener Zeit Zeuge wurde, wie ein Mann eine Frau umarmt, war das etwa das Gleiche wie heute vielleicht der Besuch eines Pornofilms. Nachdem Song die Frau wieder auf die Füße gestellt hatte, lief er mit triumphierend hochgerissenen Armen zurück aufs Spielfeld. Li Lan aber war nach ihrer Starnummer im Porno63
film quasi ein anderer Mensch, denn nur noch die Hälfte der Zuschauer verfolgte das Spiel, die anderen interessierten sich viel mehr für Li Lan, zerrissen sich sensationslüstern das Maul und zeigten mit Fingern auf sie. Natürlich war auch wieder die Rede von ihrem Verflossenen: Ist das nicht die, deren Alter zu Tode kam, als er auf der Toilette Frauenärsche ausspionierte?! Und jetzt geht die mit diesem Mann! Weiß man's doch endlich! - so oder ähnlich redeten sie. Li Lan aber, mit zitternden Lippen und Augen, die vor Glück und Freude in Tränen schwammen, war das in diesem Moment herzlich egal. Nach dem Abpfiff zog Song Fanping sein schweißnasses Hemd aus und gab es Li Lan, die das stinkende Trikot an die Brust drückte, als wäre es eine große Kostbarkeit. Dann zogen die beiden Familien zusammen los, um eine Erfrischung zu sich zu nehmen. Als alle vier saßen, war Li Lans weiße Bluse vorne von Songs Unterhemd so feucht, dass ihre Brüste sich abzeichneten, was sie aber überhaupt nicht bemerkte. Song bestellte zwei Schüsseln Mungbohnensuppe - ein sämiges Erfrischungsgetränk - für die Kinder und zwei Flaschen Brause, beides eisgekühlt. Er öffnete die Flaschen, reichte Li Lan die eine und stürzte selber in einem Zug die zweite hinunter, woraufhin Li Lan ihm ihre Flasche hinüberschob, die sie nicht angerührt hatte. Nach kurzem Zögern goss er auch die zweite Brause hastig hinunter. Als wären die Kinder gar nicht anwesend, saßen die beiden da und verschlangen einander mit den Augen. Song Fanpings Blicke wanderten immer wieder zu Li Lans Brüsten unter der feuchten Bluse, während ihr beim Anblick seines nackten Ober64
körpers, seiner breiten Schultern und seiner muskulösen Arme das Blut in Wallung geriet und sie unwillkürlich errötete. Glatzkopf-Li und Song Gang beachteten ihrerseits die Erwachsenen ebenfalls nicht. Für beide war es das erste Mal, dass sie im Sommer eine eisgekühlte Speise genossen, vorher hatten sie nie etwas Kälteres gekannt als Wasser aus dem Brunnen. Die Mungbohnensuppe aber kam aus einem Kühlschrank! Und obenauf war sie mit weißem Zucker bestreut, der aussah wie Schneeflocken. Wie wunderbar allein schon die Kälte der Schüssel in der Hand - viel erfrischender als Brunnenwasser! Und dann der Zucker, der auf der Suppe langsam durchfeuchtete und dunkel wurde wie ein schmelzender Schneeteppich! Welch ein Hochgefühl aber erst, als sie den Löffel hineinsteckten, ihn dann zum Munde führten und endlich - mitten im glutheißen Sommer - die kühle, süße Suppe auf der Zunge schmeckten! Nach dem ersten Mundvoll war es, als ob eine Maschine angeworfen worden wäre: Die Jungen konnten einfach nicht mehr aufhören und löffelten ihre Suppe so hastig, dass die Kälte im Rachen schmerzte und sie mit weit aufgerissenen Mündern nach Luft schnappten, als hätten sie sich verbrannt, und sich mit der flachen Hand auf die Wangen schlugen wie beim schlimmsten Zahnweh. Gleich darauf aber schlappten sie weiter die köstliche Erfrischung, bis sie aufgegessen war und sie nur noch die Schüssel auslecken konnten. Nachdem auch die letzten Spuren von Mungbohnensuppe verschwunden waren, kamen ihre Zungen noch lange nicht zur Ruhe, denn jetzt leckten sie weiter an den immer noch kühlen Schüsseln herum, bis diese am Ende wärmer waren als ihre Zungen und sie sie schweren 65
Herzens schließlich doch abstellten. Sie schauten auf, sahen die Erwachsenen an - Song Gang seinen Vater, Glatzkopf-Li seine Mutter - und bettelten: »Morgen wieder, ja?« Song Fanping und Li Lan antworteten, ebenfalls unisono: »Na klar!«
VI Glatzkopf-Li und Song Gang wussten nicht, dass Li Lan und Song Fanping zwei Tage später heiraten wollten. Li Lan kaufte zwei Pfund Schanghaier Bonbons, röstete je eine große Portion Puffbohnen und Melonenkerne und mischte alles in einem Holzkübel. Zum Schluss griff sie noch einmal hinein und gab Glatzkopf-Li eine Handvoll. Er sortierte sie auf dem Tisch, zählte einmal und noch einmal: zwölf Puffbohnen, achtzehn Melonenkerne, zwei Bonbons es wurden einfach nicht mehr. Am Tag der Hochzeit war Li Lan schon vor dem Morgengrauen auf den Beinen, zog ihre neue Bluse, die neue Hose und ein Paar glänzende neue Plastiksandalen an, setzte sich auf den Bettrand und beobachtete, wie draußen die Nacht langsam der aufgehenden Sonne wich. Sie zog wie gewohnt zischend die Luft durch die Zähne, diesmal allerdings nicht, weil ihr der Kopf schmerzte, sondern weil sie vor lauter Aufregung wegen der bevorstehenden Hochzeit von Minute zu Minute heftiger atmete. Ihr Gesicht brannte, die Ohren waren heiß, und das Herz wollte ihr fast zerspringen, wie sie so dasaß und voller Ungeduld auf das Ende der Nacht wartete. Als endlich die Morgenröte aufzog, wurde sie immer erregter und ihr Zischen immer lauter, sodass Glatzkopf-Li dreimal 66
aus dem Schlaf hochfuhr. Beim dritten Mal ließ Li Lan den Jungen nicht wieder einschlafen. Er musste unverzüglich aufstehen, sich rasch die Zähne putzen und das Gesicht waschen und dann in größter Eile sein neues Hemd, die neue kurze Hose und die neuen Sandalen anziehen. Während Li Lan vor ihm kniete und ihm die Verschlüsse seiner Sandalen zumachte, hörte sie, dass ein qietschender Pritschenkarren vor ihrer Tür zum Stehen kam. Sie sprang auf wie von der Tarantel gestochen, stürzte zur Tür und riss diese auf. Draußen stand Song Fanping, freudestrahlend. Song Gang, auf dem Karren, begrüßte Glatzkopf-Li fröhlich mit seinem Namen und meinte dann kichernd zu seinem Vater: »Glatzkopf-Li - hört sich ja wirklich zu komisch an!« Inzwischen waren Li Lans Nachbarn zusammengelaufen und beobachteten erstaunt, wie Song Fanping und Li Lan die Wohnungseinrichtung auf dem Karren verstauten. Unter den Zuschauern befanden sich auch drei Mittelschüler: ein gewisser Sun Wei (Sun »der Große«, wie ihn seine Eltern hoffnungsvoll genannt hatten), der wegen seiner langen Mähne auffiel, sowie Liu Chenggong und Zhao Shengli, die beiden späteren Geistesfürsten unserer kleinen Stadt Liuzhen, zu jener Zeit aber noch nicht Schriftsteller Liu und Dichter Zhao, sondern zwei einfache Mittelschüler. Nachdem aus ihnen Schriftsteller Liu und Dichter Zhao geworden waren, sollten sie es sein, die wegen der heimlichen Ausspähung von Frauenhintern Glatzkopf-Li in den Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen Spießruten laufen ließen. Die drei Mittelschüler stellten sich höchst interessiert vor den Karren und fragten Li Lan, dreckig grinsend und einan-
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der verschwörerisch zuzwinkernd: »Da wollen Sie also wieder heiraten, ja?« Li Lan, hochrot, näherte sich mit dem Holzkübel den gaffenden Nachbarn und verteilte ein paar Handvoll Puffbohnen, Melonenkerne und Bonbons. Auch Song Fanping unterbrach die Arbeit und verteilte aus einer Schachtel Zigaretten an die Männer. Puffbohnen kauend, Melonenkerne knackend, Bonbons lutschend sahen die Nachbarn neugierig und vergnügt zu, wie die beiden den Karren mit Kleidung und Bettzeug, Tisch und Bänken, Waschschüssel und Fußwanne, dazu Töpfen, Geschirr, Messern, Löffeln und Essstäbchen beluden. Als alles verstaut war, machten sich die vier auf den Weg. Glatzkopf-Lis wiederverheiratete Mutter und Song Gangs wiederverheirateter Vater gingen vorneweg, die beiden Jungen, die sie mit in die Ehe brachten, hinterher. Der Pritschenkarren rumpelte über die Steinplatten der sommerlich heißen Straßen. Unter der schweren Last schwankte immer mal eine lose Platte. Die hölzernen Strommasten an den Straßenecken summten, als wären es Bienenstöcke. Li Lan hatte nicht nur Glatzkopf-Li, sondern auch Song Gang eine Handvoll von dem Knabberzeug aus ihrem Holzkübel zugesteckt. Zwar balancierten die Kinder sie äußerst vorsichtig auf ihren kleinen Handflächen, doch konnten sie nicht verhindern, dass ihnen ein paar von den Puffbohnen und Melonenkernen durch die Finger rutschten. Beide Hände voll der schönsten Leckereien, mussten sie dennoch darben. Denn sie hatten keine Hand frei, um einen Melonenkern, eine Puffbohne oder einen Bonbon in den Mund zu
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stecken, sosehr ihnen auch das Wasser im Mund zusammenlief. Ein paar Hennen und Hähne liefen den bei den Jungen hinterher und pickten gackernd die heruntergefallenen Kerne auf. Manche drängten sich in ihrer Gier zwischen die Beine der Kinder und hackten sogar flügelschlagend nach ihren Händen, sodass erst recht Kerne und Bohnen herunterfielen. Während Song Fanping den Karren zog und Li Lan mit dem Holzkübel an seiner Seite lief, beide über das ganze Gesicht strahlend, wurde die Menschenansammlung auf den Straßen immer größer. Viele Leute, die die beiden kannten, blieben neugierig stehen, verwundert über die von allerlei Federvieh verfolgten Kinder. Was mochte das wohl bedeuten? Song Fanping stellte immer mal den Karren ab und teilte Zigaretten an die Männer aus, während Li Lan die Frauen und Kinder aus ihrem Eimer mit Knabberzeug bedachte. Beide waren rot und verschwitzt, nickten freudestrahlend ihren Bekannten zu und erzählten ihnen mit zitternder Stimme, sie hätten gerade geheiratet. Alle nickten eifrig, dann wanderte ihr Blick von Song Fanping und Li Lan zu Song Gang und Glatzkopf-Li, und schließlich fingen sie an zu lachen, jeder nach seiner Fasson. »Aha, ihr habt also geheiratet! ... «, sagten sie schmunzelnd. Während Song Fanping und Li Lan in bester Stimmung weiterzogen und unermüdlich alle Bekannten, die sie trafen, über ihre Eheschließung informierten, rauchten diese die spendierten Hochzeits-Zigaretten, lutschten die HochzeitsBonbons, knusperten die Hochzeits-Puffbohnen und knackten die Hochzeits-Melonenkerne. Für die beiden Jungen hinter dem Karren jedoch, die buchstäblich alle Hände voll zu 69
tun hatten, ihre Schätze gegen die gefiederten Verfolger zu verteidigen, gab es nicht einmal einen Hochzeits-Furz. Beim Anblick all der schlemmenden Fremden lief ihnen erst recht das Wasser im Mund zusammen, aber es half alles nichts: Sie konnten nur ihre eigene Spucke schlucken. Die Leute auf der Straße hatten mittlerweile genügend Gesprächsstoff. Welcher von den Jungen ist wohl der Klotz am Bein, wenn Song Fanping und Li Lan sich jetzt zusammentun? So rätselten sie untereinander. Am Ende kamen sie zu dem Schluss: »Alle beide!« Zu den Eltern aber sagten sie: »Passen wirklich gut zusammen, die beiden Buben! ... « Schließlich kamen die vier vor Song Fanpings Haus an. Damit war endlich die eher an einen Vorbeimarsch erinnernde Hochzeitsfeier vorbei. Song Fanping trug die Sachen vom Karren ins Haus, während Li Lan noch vor der Tür stehen blieb und aus ihrem Holzkübel Knabberzeug verteilte, diesmal an Songs Nachbarn. Der Eimer war allerdings schon ziemlich leer, und wenn sie hineingriff, bekam sie immer weniger zu fassen. Glatzkopf-Li und Song Gang lagen inzwischen schon bäuchlings auf dem Bett im hinteren Zimmer, vor sich das Knabberzeug, das feucht und klebrig war, weil sie es die ganze Zeit mit ihren verschwitzten Händen umkrampft hatten. So groß war ihre Gier, dass sie jetzt die ganzen Puffbohnen, Melonenkerne und Bonbons auf einmal in den Mund stopften. Rund und aufgebläht, wie ihre Wangen mit einem Mal waren, erinnerten ihre Gesichter an Kinderpopos. Ihre Münder konnten sie allerdings auf diese Weise nicht mehr bewegen, also mussten sie auch jetzt noch weiter darben. 70
In diesem Moment rief Song Fanping draußen vor dem Haus ihre Namen. Die Schaulustigen, die sich dort drängten, hatten sich an den wiederverheirateten Hochzeitern satt gesehen und wollten jetzt die Söhne des Paares in Augenschein nehmen. Als Glatzkopf-Li und Song Gang auf der Bildfläche erschienen, die Münder immer noch so prall gefüllt, dass ihre Augen zu schmalen Schlitzen verengt waren, brach ein Sturm des Gelächters los. »Ihr habt wohl was Leckeres im Mund?«, fragten die Leute. Die Jungen schwankten zwischen Nicken und Kopfschütteln - sprechen konnten sie ja nicht. Einer von den Gaffern sagte grinsend: »Den Mund haben die beiden ja wirklich voll. Prall wie ein frisch aufgepumpter Fußball! Aber ein bisschen Platz ist immer noch!« Sprach's und lief in Song Fanpings Haus, wo er nach kurzer Suche die Deckel von zwei weißen Porzellantrinkbechern fand, deren Form rund mit einem Knubbel in der Mitte - entfernt an eine Frauenbrust erinnerte. Jedem von den bei den Jungen steckte er einen Knubbel zwischen die Lippen, womit er einen ungeheuren Heiterkeitserfolg bei den Umstehenden erzielte. Die Leute kriegten sich überhaupt nicht mehr ein, lachten nicht nur Tränen, sondern auch Rotz und Spucke und sogar Fürze, weil in ihren Augen Glatzkopf-Li und Song Gang mit den Porzellannippeln im Mund aussahen wie zwei Säuglinge an der Mutterbrust, sprich: an Li Lans Brust. Li Lan, hochrot vor Verlegenheit, schaute Hilfe suchend zu ihrem neuen Ehemann hinüber, der ebenso peinlich berührt war wie sie, und den Kindern die Porzellandeckel aus dem Mund nahm. 71
»Geht rein!«, sagte er. Glatzkopf-Li und Song Gang legten sich abermals auf das Bett, immer noch mit ihren vollgestopften, bewegungsunfähigen Mündern, und sahen einander kummervoll an. So viel Leckeres hatten sie im Mund, und konnten doch nichts davon genießen! Glatzkopf-Li reagierte als Erster: Rasch holte er Stück für Stück mit zwei Fingern das Knabberzeug heraus. Song Gang folgte seinem Beispiel. Dann lagen die wieder ausgegrabenen Puffbohnen, Melonenkerne und Bonbons, klebrig und schleimig glänzend wie Rotz, in zwei Häufchen vor ihnen auf dem eben noch makellos reinen Laken des Hochzeitsbetts. Als die Jungen nun Bohnen und Kerne einzeln in den Mund steckten, mussten sie feststellen, dass sie denselben nicht mehr zukriegten sie hatten ihn allzu lange überdehnt. Ein mitleiderregendes Bild, wie die beiden einander hilf- und ratlos auf die weit aufgesperrten Münder starrten! In diesem Augenblick riefen draußen Song Fanping und Li Lan ein weiteres Mal nach ihnen. Inzwischen waren nämlich Li Lans Nachbarinnen und Nachbarn mitsamt ihren Kindern - Mittelschüler oder noch kleiner - eingetroffen, nachdem sie sich unterwegs mühsam bis zu Song Fanpings Haus durchgefragt hatten. Li Lan war erstaunt und erfreut, sie zu sehen, aber ihre Freude war so kurzlebig wie ein Niesen und schlug im Nu in Enttäuschung um. Denn die Leute waren keineswegs gekommen, um ihr und Song Fanping zur Hochzeit zu gratulieren. Vielmehr waren sie auf der Suche nach ihren vermissten Hennen und Hähnen, die Glatzkopf-Li und Song Gang bis auf die Haupt-
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straße hinterhergelaufen waren. Was danach mit ihnen geschehen war, wusste niemand. Die erregten Besitzer des verirrten Federviehs redeten auf Li Lan und Song Fanping ein: »Wo sind die Hühner, verdammt noch mal? Wo sind sie geblieben?« Die Jungverheirateten hatten keine Ahnung, wovon die Leute redeten. »Was für Hühner?«, fragten sie. »Unsere Hühner!« Aufgeregt durcheinander schreiend, beschrieben Li Lans Nachbarn, wie ihre Hühner aussahen. Viele Leute hätten beobachtet, riefen sie, wie ihr Federvieh hinter den bei den Jungen her auf die Hauptstraße gelaufen sei. Song Fanping wunderte sich: »Hunde laufen hinter Menschen her, das ist bekannt. Aber Hühner? Wie sind sie denn auf die Straße gelangt?« Die erbosten Hühner-Besitzer schrien, viele hätten gesehen, wie Glatzkopf-Li und Song Gang - diese kleinen Bastarde! unterwegs ihren Hennen und Hähnen Melonenkerne und Puffbohnen hingestreut hätten, die dann natürlich von ihnen aufgepickt worden seien. Bis zur Hauptstraße hätten die Kinder sie gelockt! Dies war der Moment, da Song Fanping und Li Lan die beiden nach draußen riefen. »Wo sind die Hühner? Die Hühner!«, stellten sie sie zur Rede: Die beiden konnten ihre aufgerissenen Münder nicht bewegen, sodass sie nur mit heftigem Kopfschütteln ihre absolute Ahnungslosigkeit kundtun konnten. Der elfköpfige Hühner-Suchtrupp, der die Jungen umringte, bestand aus drei Männern, drei Frauen und drei Mittelschülern, dazu noch zwei Jungen, die vielleicht drei oder vier Jahre älter waren als Glatzkopf-Li und Song Gang. 73
Alle redeten auf die beiden ein: »Wo sind die Hühner? Stimmt es, dass sie hinter euch hergelaufen sind?« Als Glatzkopf-Li und Song Gang nickten, drehten sich die Verhörer zu Song Fanping und Li Lan um und riefen: »Habt ihr's gesehen? Sie haben genickt, die kleinen Bastarde!« Dann wandten sie sich erneut den Jungen zu: »Wo sind die Hühner? Verdammt noch mal, wo stecken sie?« Glatzkopf-Li und Song Gang schüttelten den Kopf. Das brachte die Leute erst recht in Wut: »Eben haben sie noch genickt, die Bastarde! Und jetzt schütteln sie den Kopfl« Hühner seien keine Flöhe oder Läuse, schrien sie, die könnten nicht plötzlich einfach so von der Bildfläche verschwinden - sie würden sie jetzt suchen! Und schon waren sie in Song Fanpings Haus, rissen Schränke und Schubladen auf, stöberten unter den Betten und kontrollierten den Inhalt von Töpfen und Schüsseln. Der langhaarige Mittelschüler, jener Sun Wei, schaute Glatzkopf-Li und Song Gang in die Münder und machte die Riechprobe, um zu prüfen, ob sie am Ende nach Hühnerfleisch rochen. Er war sich aber nicht sicher, sodass er Zhao Shengli und, als auch dieser im Zweifel war, Liu Chenggong in die Münder der bei den Jungen hineinriechen ließ. Liu Chenggong schnupperte und befand schließlich: »Ich glaube eigentlich nicht.« Als die Durchsuchung auch nicht das kleinste Hühnerfederchen zutage förderte, verließen die Leute unflätig fluchend und schimpfend das Haus. Song Fanping war inzwischen nicht mehr der freudestrahlende Bräutigam von vor ein paar Minuten, sondern ein totenbleicher Bräutigam, den seine ebenso leichenblasse Braut ängstlich am Jackenzipfel fes74
thielt, da sie ahnte, ihr frischgebackener Ehemann war kurz davor, handgreiflich zu werden. Song Fanping schluckte jedoch seinen Ärger mit übermenschlicher Anstrengung hinunter und reagierte nicht einmal auf die wüsten Beschuldigungen der Eindringlinge, maß sie lediglich mit finsteren Blicken. Draußen setzte der Suchtrupp die Fahndung mit unvermindertem Eifer fort. Nicht einmal der Brunnen wurde ausgelassen, doch die Leute, die nacheinander ihre Köpfe hineinsteckten, erblickten statt ihrer vermissten Hühner nur das eigene Spiegelbild im Wasser. Die Mittelschüler waren wie drei Äffchen auf einen Baum geklettert, um von dort aus nachzuschauen, ob die Hühner vielleicht auf dem Dach seien. Hühner sähen sie keine, schrien sie, aber ein paar Spatzen hüpften dort umher! Nachdem die Leute nichts gefunden hatten, zogen sie wieder ab ohne ein Wort der Entschuldigung. Im Gegenteil: Sie schimpften und zeterten immer noch weiter. Jemand höhnte: »Vielleicht sind sie ja im Klo ertrunken! Beim Ausspionieren von Frauenärschen!« »Interessieren sich Hühner überhaupt für Frauenärsche?« »Hähne schon!« Großes Gelächter - vielmehr: Wiehern - seitens der Männer, Kichern seitens der Frauen. Li Lan zitterte inzwischen am ganzen Körper. Sie wagte nicht einmal mehr, Song Fanpings Jackenzipfel anzufassen, so schuldbewusst war sie, dass sie ihren frisch angetrauten Ehemann mit in diesen alten Skandal hineingezogen hatte. Song Fanping konnte es kaum mehr ertragen, wie die abziehenden Spötter sich gegenseitig die Bälle zuspielten: »Und die Hühner?« 75
»Die warten darauf, dass die Hähne ersaufen! Dann können sie wieder heiraten.« »Komm mal her!«, brüllte Song und zeigte auf den Mann, von dem diese letzte Bemerkung stammte. Alle blieben stehen und wandten sich geschlossen zu ihm um: die drei Männer und die drei Mittelschüler, dazu die drei Frauen und die beiden kleineren Kinder. Song Fanping rief: »Kommt alle hierher!« Jetzt erst recht belustigt, kamen die drei Männer und die drei Mittelschüler zurück und umringten Song Fanping, während die drei Frauen mit den beiden kleineren Jungen an der Hand sich daneben aufstellten, um sich das zu erwartende Schauspiel aus sicherer Entfernung anzuschauen. Im Bewusstsein ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit machten sie sich über Song lustig und fragten, ob er sie vielleicht zum Hochzeits-Schnaps einladen wolle. Mit einem Unheil verkündenden Lächeln antwortete er: »Schnaps gibt's hier keinen, nur Fäuste!« Er zeigte auf einen von den Männern und sagte: »Sag noch mal, was du eben gesagt hast!« Dreckig grinsend fragte der Mann zurück: »Was habe ich denn eben gesagt?« Song Fanping zögerte kurz, dann erwiderte er: »Irgendwas mit Hühnern.« »Ach das!« Der Mann tat, als erinnere er sich mit Mühe. »Ich soll das noch mal sagen?«, vergewisserte er sich. »Wenn du es wagst, das noch einmal zu sagen«, versetzte Song, »dann polier ich dir die Fresse!« Mit einem Seitenblick auf seine Kumpane - und die drei Mittelschüler - fragte der Mann grinsend: »Und wenn nicht?« 76
Song Fanping stutzte einen Moment, dann lächelte er bitter und sagte mit einer wegwerfenden Handbewegung: »Ach, haut schon ab!« Große Heiterkeit ringsumher. Die drei Mittelschüler versperrten Song den Weg und fragten im Chor: »Heiraten die Hennen jemand anders, wenn die Hähne ertrunken sind?« Song Fanping ballte die Faust, ließ sie aber gleich wieder sinken und sah die drei nur kopfschüttelnd an, schob sie beiseite und wollte ins Haus zurück. Da sagte der Mann, der eben schon gesprochen hatte: »Was heißt hier >jemand anders Einen anderen Hahn!« Song fuhr herum und versetzte dem Spötter einen wohlgezielten Fausthieb, sodass der zu Boden ging wie eine weggeworfene alte Bettdecke. Unter dem Eindruck dieses Schlages klappten plötzlich Glatzkopf-Lis und Song Gangs allzu lange aufgerissene Münder vernehmlich zu. Mit blutendem Mund, roten Schleim spuckend, stand jener Mann mühselig auf. Song hatte sich nach seinem Schlag mit einem Sprung aus der Einkreisung befreit. Als die Männer sich jetzt auf ihn stürzten, ging er blitzschnell in die Hocke, grätschte das rechte Bein vor und ließ es kreisen, sodass alle drei Männer zu Fall kamen und auch die drei Mittelschüler ins Taumeln gerieten. (Von da an wussten Glatzkopf-Li und Song Gang, was das ist - ein Beinfeger.) Als die Männer sich wieder aufrappelten und erneut auf ihn losgingen, schoss Songs linkes Bein vor und traf einen der Männer voll in den Bauch. Mit einem Aufschrei ging er zu Boden und riss im Fallen die bei den hinter ihm Stehenden mit. Die drei Männer und die drei Mittelschüler sahen ei-
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nander verblüfft an, als müssten sie sich vergewissern, dass das eben Erlebte keine Einbildung war. Song Fanping stand mit geballten Fäusten vor ihnen. Einer von den Männern rief, man müsse ihn einkreisen, was die sechs auch sofort taten. All seine Finten nützten Song nichts - er konnte den Ring nicht durchbrechen. In dem nun folgenden Getümmel wusste keiner mehr, was eigentlich ablief; manchmal verknäulten sich alle ineinander, als wären sie ein einziger überdimensionierter Baozi (eine mit Hackfleisch gefüllte Dampfnudel, deren Teighülle zu einer kleinen Spitze gezwirbelt wird), dann wieder stoben sie auseinander wie Puffreis. Die beiden Jungen, die seitlich bei den Frauen standen, witterten jetzt ebenfalls Morgenluft, ohrfeigten Glatzkopf-Li und Song Gang, traten sie gegen die Beine und bespuckten sie, dass ihnen Rotz und Speichel nur so von den Gesichtern troffen. Zuerst versuchten sich die beiden zu wehren, ebenfalls mit Ohrfeigen, Fußtritten und gut platzierten Spucksalven, aber ihre Arme und Beine waren zu kurz, um die Gesichter beziehungsweise die Beine ihrer Widersacher zu treffen, und weil sie jünger waren, produzierten sie auch nicht so viel Speichel wie jene. Nach ein paar Runden gaben sich Glatzkopf-Li und Song Gang geschlagen und fingen in ihrer Not an, jämmerlich zu heulen. Song Fanping hörte das zwar, war aber mit seinen sechs Gegnern selber so beschäftigt, dass er sich um die Jungen nicht kümmern konnte. Glatzkopf-Li und Song Gang flüchteten sich daher Schutz suchend zu Li Lan, die jedoch inzwischen noch bitterlicher schluchzte als die Kinder selbst und Song Fanpings Nachbarn und die neugierig stehen gebliebenen 78
Passanten um Beistand für ihren frischgebackenen Ehemann anflehte - vergeblich. Dafür hingen jetzt die Söhne an ihren Jackenschößen, immer noch verfolgt von den älteren Jungen, die die ganze Zeit weiterprügelten und traten und geräuschvoll den Rotz hochzogen, um ihn dann als satten Auswurf ihren unglücklichen Opfern ins Gesicht zu spucken. Während Glatzkopf-Li und Song Gang weinend ihre Mutter um Hilfe anflehten, die ihrerseits weinend die Umstehenden beschwor, ihrem Mann zu helfen, fanden sich erst nach längerer Zeit unter Song Fanpings Nachbarn und den anderen Schaulustigen ein paar Männer erst zwei oder drei, am Ende zehn -, die die auf Song Fanping eindreschenden sechs Kerle auf eine Seite und ihr Opfer auf die andere Seite zogen und sich selbst dazwischen platzierten. Songs Augen waren zugeschwollen, er blutete aus Mund und Nase, und seine Kleidung war zerfetzt. Seine Gegner sahen nicht viel anders aus, nur dass ihre Sachen noch heil waren. Nun begannen die Schlichter ihr segensreiches Wirken. Zu Song Fanping sagten sie, jeder, der seine Hühner verliere, sei naturgemäß betrübt und neige in dieser Stimmung dazu, seinem Ärger mit heftigen Worten Ausdruck zu geben. Zu den anderen Männern sagten sie, sie sollten Gnade vor Recht ergehen lassen und Song zugute halten, dass dies schließlich sein Hochzeitstag sei. Dann schoben sie Song Fanping zum Haus und drängten die anderen Männer auf die Straße, wobei sie weiter auf die Kampfhähne einredeten: »Ist ja gut! Geht jetzt auseinander! Song Fanping, du bleibst drinnen! Und ihr, ihr geht schön nach Hause!« Song Fanping stand mit seinen vielen Blessuren jedoch immer noch mit kämpferisch vorgerecktem Kinn da, und auch 79
seine Widersacher machten nicht Miene zu gehen. Im Bewusstsein ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit waren sie absolut nicht gewillt nachzugeben. So sang- und klanglos dürfe diese Sache nicht enden, zeterten sie. »Hier ist mindestens eine Entschuldigung fällig!« Schließlich fanden die Schlichter eine Lösung: Song Fanping musste jedem eine Zigarette schenken. Damals war es Brauch, dass jemand nach einem verlorenen Kampf auf diese Weise seine Niederlage eingestand und sich so gewissermaßen entschuldigte. Nach kurzem Nachdenken stimmten Songs Gegner zu, weil sie immerhin mindestens nach außen hin den Sieg davongetragen hatten. Sie sagten: »Na gut! Für heute lassen wir ihn laufen.« Die Schlichter gingen nun zu Song Fanping und sagten nicht, dass er sich mit Zigaretten entschuldigen solle, sondern dass er zur Feier seiner Hochzeit Zigaretten an die Männer verteilen möge. Er durchschaute natürlich das Ganze, schüttelte den Kopfund erwiderte: »Hier gibt's keine Zigaretten! Nur zwei Fäuste.« Als er dann aber die verweinte Li Lan und die mit eigenen Tränen und fremdem Rotz verschmierten Gesichter der Söhne sah, kriegte er plötzlich ganz kummervolle Augen. Einen Moment stand er stumm da, dann ging er mit gesenktem Kopf ins Haus, holte eine Schachtel Zigaretten, kam - immer noch mit gesenktem Kopf - wieder heraus und ging zu den drei Männern und drei Mittelschülern hinüber, wobei er im Gehen die Packung aufriss. Nachdem er jedem einzelnen, sogar den Mittelschülern, eine Zigarette in die Hand gedrückt hatte, riefen sie ihm hinterher: »He, lauf nicht weg! Gib uns Feuer!« 80
Im Nu war Songs Miene nicht mehr kummervoll - nur Zorn spiegelte sich auf seinem Gesicht wider. Er schmiss die Zigaretten auf die Erde und wollte sich gerade erneut auf seine Gegner werfen, da stürzte die weinende Li Lan vor und hielt ihn fest. Flüsternd flehte sie ihn an: »Lass mich das machen! Ich gebe ihnen Feuer.« Sie ging mit den Streichhölzern zu den Männern hinüber, wischte sich erst die Tränen ab und zündete dann der Reihe nach die Zigaretten an, die den Männern schon im Mundwinkel klebten. Der langhaarige Mittelschüler namens Sun Wei machte einen Zug und pustete ihr dann absichtlich den Rauch ins Gesicht. Song sah es, brauste aber diesmal nicht auf, sondern wandte sich mit gesenktem Kopf ab und ging ins Haus. Glatzkopf-Li sah, dass sein Stiefvater Tränen in den Augen hatte. Es war das erste Mal, dass er Song Fanping in Tränen, dass er einen großen und starken Mann weinen sah. Als Li Lan allen Feuer gegeben hatte, steckte sie die Streichhölzer in die Tasche und ging zu Glatzkopf-Li und Song Gang hinüber, putzte ihnen mit ihrem Blusenzipfel die Tränen und die fremde Spucke und den fremden Rotz ab, nahm sie an die Hand, ging mit ihnen ins Haus und schloss die Tür hinter sich. Song Fanping, der nie geraucht hatte, saß auf einem Hocker in der Ecke und paffte jetzt fünf Zigaretten hintereinander. Sein Husten hörte sich an, als ob er sich erbreche, und der Schleim, den er vor sich auf den Fußboden spuckte, war blutig. Den Kindern, die völlig verschreckt auf dem Rand des Bettes im vorderen Zimmer hockten, zitterten vor Angst die Beine. Li Lan lehnte an der Tür und hatte die Hände vors 81
Gesicht geschlagen. Die Tränen tropften ihr zwischen den Fingern herunter. Nach der fünften Zigarette stand Song Fanping auf, zog sein zerrissenes Hemd aus, wusch sich die Blutspuren aus dem Gesicht, trat mit seinen Sandalen den blutigen Schleim auf dem Fußboden breit und ging schließlich in das hintere Zimmer. Nach einer kurzen Weile kam er wie ein neuer Mensch zurück. Er hatte ein sauberes, weißes, ärmelloses Unterhemd angezogen und hielt den bei den Jungen, über das ganze grün und blau verschwollene Gesicht strahlend, seine geschlossenen Fäuste hin. »Ratet mal, was da drin ist!«, sagte er. Die Kinder schüttelten stumm den Kopf, sie hatten keine Ahnung. Als Song Fanping die Fäuste öffnete, erblickten sie - zwei Bonbons! Da jauchzten sie wie erlöst auf. Song wickelte die Bonbons aus und steckte sie ihnen in den Mund. Oh, diese köstliche Süße! Seit dem Morgen hatten sich Glatzkopf-Li und Song Gang danach gesehnt - jetzt, wo es schon dunkel wurde, war es endlich so weit! Song Fanping ging zu Li Lan hinüber und tätschelte ihr immer noch mit seinem verschwiemelten Lächeln - den Rücken, streichelte ihr übers Haar und flüsterte ihr mancherlei ins Ohr. Die auf dem Bett sitzenden Söhne waren so mit ihren Bonbons beschäftigt, von denen der Mund so herrlich süß wurde, dass sie sich überhaupt nicht dafür interessierten, was Song da sagte. Nur dass Li Lan nach einem Weilchen wieder lachte, das bemerkten sie schon. Später versammelten sich die vier um den Esstisch. Song Fanping bereitete einen Fisch zu, außerdem ein Gemüsege82
richt, und Li Lan nahm aus ihrem Gepäck eine Schüssel geschmortes Schweinefleisch, das sie beizeiten vorbereitet hatte. Schließlich holte Song noch eine Flasche ShaoxingReiswein und schenkte erst sich selbst, dann auch Li Lan einen Becher voll ein. Li Lan protestierte: Sie trinke keinen Alkohol. Daraufhin sagte er, er auch nicht, und in Zukunft würde es auch keinen mehr geben, aber an diesem Abend, da gehöre Wein einfach dazu! »Es ist doch unser Hochzeits-Wein!«, sagte er. Den Becher in der ausgestreckten Hand, wartete er unter dem schummrigen Licht der Lampe, bis auch die verschämt lächelnde Li Lan ihren Becher hob und er mit ihr anstoßen konnte. Als Song seinen Becher mit einem Zug leerte, verzerrte sich sein Gesicht vor Schmerzen. Den wunden Mund weit aufgerissen, fächelte er sich mit der flachen Hand Luft zu, als ob er eine Peperonischote gekaut hätte. Li Lan musste ihren Wein ebenfalls in einem Zug austrinken. Erst als sie ihr Becherchen absetzte, stellte auch er seins auf den Tisch zurück. Glatzkopf-Li und Song Gang saßen nebeneinander auf einer Holzbank, die so niedrig war, dass sie sich gerade eben mit dem Kinn an der Tischkante abstützen konnten, so wie die Erwachsenen mit ihren Händen auf der Tischplatte. Song Fanping und Li Lan füllten den Kindern abwechselnd Fleisch und Fisch und Gemüse in die Reisschüsseln. Nachdem Glatzkopf-Li von allem gekostet hatte, wollte er nicht weiteressen. Er drehte sich zu Song Gang um und flüsterte: »Bonbons!«
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Der andere hatte gerade noch voller Behagen Fisch und Fleisch gestopft, aber als er das hörte, wollte auch er nicht mehr weiteressen und flüsterte ebenfalls: »Bonbons!« Beide Kinder wussten den Wohlgeschmack von Fisch und Fleisch sehr wohl zu schätzen, denn etwas so Gutes bekamen sie das Jahr über nur selten zu essen. Noch mehr aber stand ihnen der Sinn nach Bonbons, hatten sie doch die wundervolle Süße eben nur so kurz genossen. Inzwischen war da wieder nur ein salziger Geschmack in ihren Mündern. Nachdem sie ihren Wunsch zunächst flüsternd, dann lautstark kundgetan hatten, begannen sie schließlich, im Chor zu rufen: »Bonbons! Bonbons! Bonbons!« Li Lan sagte, es seien keine mehr übrig, sie habe alle Bonbons, alle Melonenkerne und alle Puftbohnen aus dem Holzkübel unterwegs verteilt. Song Fanping schmunzelte. Was für Bonbons sie denn gern essen würden, fragte er die Kinder. Die hoben gleichzeitig die auf dem Tisch liegenden Bonbonpapierchen von vorhin hoch und riefen unisono: »Die da!« Song steckte großspurig die Hände in die Hosentaschen und vergewisserte sich: »Also Bonbons wollt ihr?« Die Jungen nickten energisch und reckten die Hälse, um zu sehen, was er aus seinen Taschen holen würde. Doch er schüttelte den Kopf. »Da sind keine drin«, sagte er. Vor Enttäuschung wären die bei den um ein Haar in Tränen ausgebrochen. Aber Song Fanping sagte: »Keine Bonbons, nur Karamellen.« Die Jungen rissen erstaunt die Augen auf. Dass es auf dieser Welt eine Sorte Bonbons gibt, die Karamellen heißen - das hatten sie ja noch nie gehört! Sie sahen mit angehaltenem 84
Atem zu, wie Song aufstand, alle Taschen nach diesen Karamellen absuchte, sodass ihnen schon das Herz vor Aufregung bis zum Hals schlug, und schließlich eine Tasche nach der anderen umkehrte, um sie ihnen zu zeigen. Dabei redete er ununterbrochen vor sich hin: »Wo sind sie denn? Wo sind denn die Karamellen?« Nachdem auch die letzte Tasche sich als leer erwiesen hatte, wollten Glatzkopf-Li und Song Gang nun doch losplärren, aber da schlug sich Song Fanping an den Kopf und rief: » Jetzt fällt' s mir wieder ein ... « Vorsichtig, als machte er Jagd auf einen Floh oder eine Laus, ging er auf Zehenspitzen ins hintere Zimmer und brachte damit die Kinder zum Lachen. Als er, über sein ganzes verschwollenes Gesicht lächelnd, wieder zum Vorschein kam, sahen die Jungen, dass er einen Beutel Milchbonbons in der Hand hielt. Vor Überraschung schrien sie auf, und dann lutschten sie zum ersten Mal in ihrem Leben Karamellen, Sahnekaramellen, auf deren Einwickelpapier ein großer weißer Hase abgebildet war und die auch so hießen: Karamellen Marke »Großer weißer Hase«. Song erklärte, diese Karamellen habe ihm seine Schwester in Schanghai als Hochzeitsgeschenk per Post geschickt. Dann gab er Li Lan eine davon, kostete selbst ebenfalls eine und teilte jedem der bei den Jungen fünf zu. Die steckten eine Karamelle in den Mund und lutschten ganz langsam, kauten ganz langsam und schluckten ganz langsam ihre Spucke hinunter, die süß und sahnig war wie die Bonbons selbst. Glatzkopf-Li und, seinem Beispiel folgend, gleich darauf auch Song Gang nahmen ein wenig Reis in den Mund und kauten ihn mit der Karamelle zusammen 85
durch, sodass er ebenfalls ganz süß und sahnig schmeckte, sozusagen Reis Marke »Großer weißer Hase«. Während Song Gang ganz verzückt den süßen Reis mümmelte, flüsterte er: »Ach, mein lieber Glatzkopf-Li!« Der murmelte, auch mit vollem Mund: »Ach, mein lieber Song Gang!« Glücklich lächelnd sahen Song Fanping und Li Lan den Kindern zu. Song sagte mit Blick auf Glatzkopf-Lis spiegelnden Kahlkopf: »Wir sollten ihn nicht beim Spitznamen rufen, sondern bei seinem richtigen Namen.« Er schlug sich an die Stirn: »Dabei weiß ich den überhaupt nicht! Nur den Spitznamen. Wie heißt Glatzkopf-Li eigentlich?«, fragte er Li Lan. Die konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und entgegnete: »Eben hast du gesagt, wir sollten den Spitznamen nicht mehr verwenden und schon tust du es selbst!« Song hob kapitulierend die Hände. »Von heute an«, verkündete er, »ist der Spitzname verboten! ... Aber wie heißt das Kind denn nun richtig?« Li Lans Antwort kam prompt: »Glatzkopf-Lis Name -« Sie schlug sich auf den Mund, als sie merkte, dass sie selbst abermals den Spitznamen des Sohnes verwendet hatte. Vergeblich versuchte sie, ihren Lachanfall zu unterdrücken. »Li Guang heißt er«, brachte sie noch hervor, ehe sie wieder losprustete. »Li Guang«, sagte Song Fanping kopfnickend. »wusste ich ja eigentlich schon mal.« Dann wandte er sich zu den beiden Jungen um und sagte: »Song Gang und Glatzkopf-Li, ich muss euch was sagen.« 86
Als Li Lan erneut losgluckste, fragte er vorsichtig: »Hab ich wieder den Spitznamen benutzt?« Li Lan bestätigte es kopfnickend. Song kratzte sich am Schädel und kapitulierte: »Na schön, wir nehmen weiter den Spitznamen! Der richtige Name hört sich ja sowieso ganz ähnlich an.« Dann gab auch er seinem unbezwinglichen Lachreiz nach. Als er sich wieder den Kindern zuwandte, reduzierte er sein Lachen zu einem Lächeln. »Von heute an«, sagte er, »seid ihr Brüder! Ihr gehört jetzt zusammen, müsst in Freud und Leid zusammenstehen und euch gegenseitig helfen! Und ihr müsst fleißig lernen, damit ihr jeden Tag ein Stückchen vorankommt!. .. « So wurden Glatzkopf-Li und Song Gang durch die Hochzeit ihrer Mutter und ihres Vaters zu Brüdern, wurde aus zwei Familien eine. Die beiden Jungen schliefen im vorderen Zimmer, die Eltern im hinteren. Als die Kinder an diesem Abend zu Bett gingen, hatten sie die Einwickelpapiere ihrer Karamellen in der Faust, um immer noch einmal den daran haftenden Milchgeruch zu schnuppern und sich so auf die erneute Begegnung mit dem »Großen weißen Hasen« im Traum vorzubereiten. Vor dem Einschlafen hörte Glatzkopf-Li, wie die ganze Zeit im hinteren Zimmer das Bett quietschte und seine Mutter stöhnte und weinte und manchmal sogar schrie. Es kam ihm vor, als ob sie in dieser Nacht anders weinte als sonst. Eigentlich hörte es sich überhaupt nicht wie Weinen an, eher ein bisschen wie das Klatschen der Ruder des Lastkahns, der gerade auf dem kleinen Kanal unter dem Fenster vorbeifuhr. 87
VII Song Fanping war eine Frohnatur. Infolge der Prügel, die er bezogen hatte, war sein Gesicht so übel zugerichtet, dass ihn schon das leiseste Lächeln schmerzte, doch davon ließ er sich seine gute Laune nicht verderben. Am Tag nach der Hochzeit wusch er seiner Frau demonstrativ vor dem Haus die Haare. Ohne das hämische Lachen der Nachbarn zu beachten, die sich über sein verschwollenes Gesicht amüsierten - in der Tat erinnerte es eher an einen Schweinekopf, wie er beim Schlachter hängt -, goss er das Wasser, das er vom Brunnen geholt hatte, in die Waschschüssel, machte Li Lans Haare nass und seifte sie ein, massierte wie ein gelernter Friseur ihren Kopf, bis er ganz von schönem dickem Seifenschaum bedeckt war, holte dann neues Wasser vom Brunnen, um das Haar sauber zu spülen, das er anschließend mit einem Handtuch trocken rieb, und brachte zum Schluss mit einem Holzkamm ihre Frisur wieder in Ordnung. Li Lan selbst durfte keinen Finger krumm machen. Als sie aufblickte und merkte, dass sich ein gutes Dutzend kichernde Zuschauer - Erwachsene wie Kinder - versammelt hatte, um diesem Schauspiel beizuwohnen, errötete sie vor Verlegenheit. Und vor Glück! Nun verkündete Song Fanping so laut, dass alle es hören konnten, sie würden jetzt einen Spaziergang machen. Seine Frau, deren Haar noch ziemlich nass war, blickte zweifelnd auf sein zerbeultes Gesicht, woraufhin er ihr - sofort im Bilde - leichthin versicherte, es tue gar nicht mehr weh. Dann verschloss er die Haustür und setzte sich, an einer Hand Glatzkopf-Li, an der anderen Song Gang, in Bewegung, sodass Li Lan gar nichts anderes übrig blieb, als sich anzuschließen.
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Auf der Hauptstraße nahmen die Eltern die beiden Jungen in die Mitte. Alle vier fassten einander an den Händen. Jeder, der sie so sah, egal ob Mann oder Frau, fing ziemlich unverhohlen an zu lachen. Allen war natürlich bekannt, dass dies sowohl für Song als auch für seine Frau die zweite Ehe war sehr, sehr ungewöhnlich! -, und sie waren dem landläufigen Vorurteil zufolge fest davon überzeugt, dass die beiden Söhne eher ein Klotz am Bein waren; alle wussten außerdem Bescheid über die wüste Prügelei zwischen dem Bräutigam und sechs Widersachern am Tage seiner Hochzeit. Womit sie allerdings nicht gerechnet hatten, war, dass ebendieser frischgebackene Ehemann, grün und blau, wie er war, sich dennoch froh und munter in der Öffentlichkeit zeigte, jeden Bekannten, den er traf, gut gelaunt begrüßte und, erst auf Li Lan, dann auf die Kinder zeigend, seine neue Familie vorstellte: »Das ist meine Frau. Und das sind beides meine Söhne.« Die Fröhlichkeit, die all diese Leute zur Schau trugen, unterschied sich freilich von der Song Fanpings: Während es sich bei diesem um die freudige Erregung des Neuvermählten handelte, machten jene sich einfach nur über ihn lustig. Li Lan, die sich dessen wohl bewusst war und ahnte, was sie untereinander tuschelten, wenn sie mit Fingern auf sie und ihre Familie zeigten, blickte verlegen zu Boden, woraufhin Song Fanping, dem das natürlich genau so klar war wie ihr, sie leise ermahnte: »Kopf hoch!« Zwei Straßen weiter, als die fröhliche junge Familie an dem Getränkeladen vorbeikam, blieben die Jungen stehen, doch die Eltern zogen sie weiter, als hätten sie ihre sehnsüchtigen Blicke nicht bemerkt. Erst vor dem Fotoatelier machte Song 89
Fanping halt und erklärte vergnügt, jetzt würden sie ein Familienfoto machen lassen - er hatte völlig vergessen, wie verbeult sein Gesicht war. Li Lan rief ihm nach, sie könnten das doch auf später verschieben, aber er stand schon in dem Laden und forderte sie durch die Schaufensterscheibe mit energischer Geste auf, mit den Kindern endlich auch hereinzukommen. Vergeblich, denn sie rührte sich nicht von der Stelle. Song Fanping hatte inzwischen dem Fotografen erklärt, dass er sich und seine Familie ablichten lassen wolle. Erst als der Mann ihn entgeistert anstarrte, dämmerte auch ihm, dass dies vielleicht nicht der geeignete Tag für ein Familienfoto war. Den Kopf prüfend zur Seite geneigt, musterte er sein Gesicht in dem Spiegel, der in dem Atelier hing, und sagte dann zu dem Fotografen: »Na gut, heute also doch nicht. Meine Frau meint, wir sollten es auf später verschieben.« Dieses kleine Erlebnis hatte ihn so belustigt, dass sich erst Li Lan und dann auch die Kinder von seiner Fröhlichkeit anstecken ließen. Allerdings hatten die Jungen keine Ahnung, worüber sie eigentlich lachten. Li Lan befand sich seit ihrer Hochzeit mit Song Fanping in einem Zustand permanenter Hochstimmung. Nachdem ihr erster Mann in der Jauchegrube der öffentlichen Toilette ertrunken war und sie sich sieben Jahre lang mehr schlecht als recht allein durchschlagen musste, hatte sie sich etwas gehen lassen und ihr Haar in einem unordentlichen Dutt aufgesteckt. Jetzt aber war sie wieder dazu übergegangen, es zu einem Zopf zu flechten, wie sie es als junges Mädchen getan hatte noch dazu mit zwei roten Bändern an den Enden! Ihr Gesicht war plötzlich rosig geworden, als hätte sie eine Gin90
seng-Kur gemacht, ihre Migräne war wie weggeblasen, und statt der schmerzlichen Seufzer der vergangenen sieben Jahre vernahm man nun öfter einmal ein munteres Liedchen aus ihrem Munde. Auch ihr neuer Ehemann strotzte nur so vor Gesundheit und guter Laune. Wenn er mit energischen Schritten im Haus hin und her ging, klang das wie ein Trommelwirbel, und wenn er draußen an die Wand pinkelte, rauschte es wie ein Sturzbach. Während ihrer Flitterwochen waren die beiden Wiederverheirateten unzertrennlich wie Leim und Lack und nutzten jede Gelegenheit, sich in das Hinterzimmer zurückzuziehen, nicht ohne die Tür fest hinter sich zuzumachen. Glatzkopf-Li und Song Gang im vorderen Zimmer versuchten, sich einen Reim auf die merkwürdigen Geräusche zu machen, die zu ihnen drangen. Bestimmt haben sich die Eltern da drin versteckt, um ungestört Karamellen Marke »Großer weißer Hase« aus der bewussten Tüte zu knuspern!, dachten die Kinder. Geknuspert wurde nicht nur am Tag, sondern erst recht am Abend. Die Kinder wurden schon zu Bett gebracht, wenn es noch nicht einmal dunkel war. Dann schlossen sich die Eltern im hinteren Zimmer ein, und es kamen ständig jene Geräusche aus ihren Mündern. Die Nachbarskinder tollten noch immer draußen herum, während Glatzkopf-Li und Song Gang schon schlafen sollten. Auch die Eltern würden schlafen gehen, hatten sie gesagt, aber in Wirklichkeit knusperten sie da drinnen die ganze Zeit vor sich hin, sodass den Kindern vom bloßen Zuhören das Wasser im Munde zusammenlief und sie unter Tränen ins Reich der Träume hinüberdämmerten. Wachten 91
sie am nächsten Morgen auf, waren zwar die Tränen getrocknet, doch die Spucke rann ihnen immer noch aus dem Mundwinkel. Eines Tages, als die Eltern sich in der Mittagspause nach dem Essen abermals zum Knuspern ins hintere Zimmer zurückgezogen und die bei den Jungen im vorderen Zimmer mit ihrem ungestillten Verlangen nach Karamellen allein gelassen hatten, spähte Glatzkopf-Li durch eine Türritze nach drinnen, der Bruder dicht hinter ihm, um nur ja nicht zu verpassen, was der andere zu berichten hatte. Zunächst vermeldete er, dass er vier Beine auf dem Bett sehe, die des Vaters zuoberst, die der Mutter darunter. »Sie knuspern im Bett ... «, flüsterte Glatzkopf-Li. Dann wechselte er auf die andere Seite und konnte nun sehen, dass Song Fanping auf Li Lan lag und ihre Hüften mit seinen Händen an sich presste. »Sie umarmen sich beim Knuspern ... «, flüsterte er. Durch einen dritten Türspalt sah Glatzkopf-Li die Gesichter der Eltern, eins oben, eins unten. Sie küssten sich leidenschaftlich, was den Jungen zunächst äußerst amüsierte, weil er es komisch fand, ihn aber dann so faszinierte, dass er gar nicht bemerkte, wie der hinter ihm stehende Song Gang ihn mehrmals in den Rücken puffte und immer wieder fragte: »He! Was machen sie jetzt beim Knuspern? Sag mir doch mal was!« Nachdem Glatzkopf-Li sich sattgesehen hatte, wandte er sich endlich um und erklärte verschwörerisch: »Sie knuspern gar keine Karamellen! Sie knuspern ihre Münder!« Song Gang, der überhaupt nichts verstand, fragte ebenso verschwörerisch zurück: »Ihre Münder?« 92
»Ja! Dein Papa knuspert den von meiner Mama, und meine Mama den von deinem Papa.« Song Gang erschrak, nahm er doch an, dass die beiden dort drinnen wie zwei wilde Tiere übereinander hergefallen seien. In diesem Moment ging die Tür plötzlich auf, und die Eltern standen erschrocken vor den beiden Kindern. Zu seiner Erleichterung stellte Song Gang fest, dass beide noch ihren Mund im Gesicht hatten. Er zeigte mit dem Finger auf den Bruder und sagte: »Er hat mich angelogen! Er hat gesagt, ihr habt eure Münder weggeknuspert.« Glatzkopf-Li schüttelte den Kopf: »Ich habe nur gesagt, ihr knuspert eure Münder! Nicht, dass ihr sie weggeknuspert habt.« Song Fanping und Li Lan kriegten einen roten Kopf und konnten ihre Heiterkeit nur mit Mühe unterdrücken. Ohne etwas zu entgegnen, verließen sie das Haus und gingen wieder zur Arbeit. Als sie fort waren, musste Song Gang sich ordentlich und gerade wie im Kino auf das Bett setzen, damit Glatzkopf-Li ihm beweisen konnte, dass er kein Lügner war. Er rückte eine Sitzbank davor und streckte sich bäuchlings darauf aus. Auf die Bank zeigend, sagte er: »Das ist jetzt meine Mama.« Dann zeigte er auf sich selbst und erklärte: »Und ich bin jetzt dein Papa.« Nachdem das klargestellt war, ging er dazu über, dem Bruder vorzumachen, was es mit dem Mundknuspern auf sich habe. Auf dem Bauch liegend, umarmte er die Sitzbank und küsste sie mit einem schmatzenden Geräusch, wobei er zugleich seinen Körper in rhythmische Bewegung versetzte. »So war's, so haben sie's gemacht.« 93
Song Gang wunderte sich über diese Bewegungen. Wie eine Raupe sah es aus. »Warum bewegst du dich so komisch?«, fragte er. »Weil dein Papa das auch so gemacht hat.« Song Gang kicherte: »Du siehst komisch aus.« »Dein Papa sieht komisch aus!« Als Glatzkopf-Lis Raupenbewegungen auf der Bank immer schneller wurden und er puterrot im Gesicht war und heftig zu schnaufen begann, bekam Song Gang es mit der Angst, sprang auf und schüttelte ihn mit beiden Händen: »He! He! Was tust du denn da?« Allmählich wurden Glatzkopf-Lis Bewegungen langsamer. Er stand auf, zeigte freudig überrascht auf seinen Schritt und sagte: »Wenn ich mich so bewege, wird mein Schniedel richtig steif, das fühlt sich ganz toll an.« Voller Eifer drängte er den Bruder, es auch einmal zu probieren, aber Song Gang sah ziemlich unschlüssig aus. Als er sich schließlich doch auf der Bank ausstreckte, merkte er, dass sie ganz nass war von Glatzkopf-Lis Spucke und noch etwas anderem, das wie Rotz schimmerte. Kopfschüttelnd setzte er sich wieder auf und sagte, auf die Bank zeigend: »Guck dir das bloß mal an: Alles voll von deinem Rotz!« Peinlich berührt, wischte Glatzkopf-Li eilig mit seinem Ärmel die Bank trocken. Dann musste der Bruder sich wieder darauf ausstrecken. Doch kaum hatte er sich hingelegt, sprang er abermals auf und sagte naserümpfend: »Stinkt alles nach deinem Rotz!« Schuldbewusst überlegte Glatzkopf-Li, wie er Song Gang ebenfalls zu dem gehabten Hochgefühl verhelfen könne. Er redete ihm zu, sich so hinzulegen, dass sein Gesicht auf dem anderen Ende der Bank zu liegen kam. Dann brachte er ihm 94
wie ein Trainer bei, wie er sich zu bewegen habe, und korrigierte ihn immer wieder. Als er das Gefühl hatte, dass Song Gang sich halbwegs so bewegte, wie dessen Vater es getan hatte, setzte er sich auf das Bett, wischte sich den Schweiß von der Stirn und fragte befriedigt: »Na? Ist es angenehm? Ist dein Schniedel hart?« Song Gangs Antwort enttäuschte ihn sehr, denn der konnte der ganzen Sache überhaupt nichts abgewinnen. Er richtete sich auf und sagte: »Hart ist die Bank. Drückt so, dass mein Schniedel jetzt wehtut.« Glatzkopf-Li sah den Bruder zweifelnd an. »Wieso tut er weh?«, fragte er. Dann legte er fürsorglich zwei Kissen auf die Bank und holte sogar noch die Kopfkissen der Eltern aus dem hinteren Zimmer, weil er die Bank noch immer nicht weich genug gepolstert fand. Ebenso fürsorglich grinste er Song Gang an und sagte: »So ist es bestimmt angenehm für dich.« Song Gang, der sich dieser geballten Fürsorge nicht gut entziehen konnte, streckte sich folgsam auf den Kissen aus und begann, unter Glatzkopf-Lis Anleitung seinen Unterleib zu bewegen. Nach einem Moment setzte er sich jedoch erneut auf und erklärte, es sei immer noch unangenehm - irgendetwas drücke auf seinen Schniedel. Als wären lauter Kiesel in den Kissen, so fühle es sich an. Da geschah das Wunder: Die Kinder gerieten vor Freude fast außer sich, als sie die von der Hochzeitsfeier übrig gebliebene Tüte Karamellen Marke »Großer weißer Hase« entdeckten, die die Eltern in dem Kissenbezug versteckt hatten. In allen Schränken und Truhen hatten sie vergeblich nach den Karamellen Marke »Großer weißer Hase« gesucht. Dar95
aufhin waren sie unter die Betten gekrochen, von wo sie völlig verdreckt wieder zum Vorschein kamen, hatten unter Decken und Matratzen gestöbert, bis sie fast außer Atem waren: Immer noch keine Spur von den Karamellen Marke »Großer weißer Hase«! Es kam ihnen nachgerade vor, als suchten sie eine Nadel im Heuhaufen. Aber genau in dem Moment, wo sie entmutigt die Suche aufgegeben hatten, waren sie jetzt wie von selbst vor ihren Augen aufgetaucht, die Karamellen Marke »Großer weißer Hase« - in einem Kissenbezug! Die beiden Jungen heulten auf wie zwei hungrige Hunde, schütteten die Bonbons auf das Bett und begannen, vergnügt zu schmausen. Glatzkopf-Li stopfte sich sofort drei auf einmal in den Mund, Song Gang ebenfalls mindestens zwei. Mit Lecken und Lutschen hielten sie sich gar nicht erst auf, sondern kauten die Karamellen mit vollen Backen - es waren ja noch so viele da! Der süße, sahnige Geschmack sollte den ganzen Mund ausfüllen und sich von da aus bis in die Därme ergießen und ihnen aus den Nasenlöchern quellen! Als von den siebenunddreißig Karamellen nur noch vier übrig waren, packte Song Gang plötzlich die Angst, und er brach in Tränen aus. Schluchzend fragte er den Bruder, was sie denn machen würden, wenn die Eltern bei ihrer Rückkehr den Diebstahl bemerkten. Glatzkopf-Li erschauerte bei diesem Gedanken, aber nur ganz kurz, dann verputzte er entschlossen auch noch die verbliebenen vier Bonbons. Song Gang, der mit weit aufgerissenen Augen verfolgte, wie sein Bruder sich ganz allein an den restlichen Karamellen delektierte, fragte weinend: »Wieso hast du denn keine Angst?«
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Erst als Glatzkopf-Li die Bonbons zu Ende gemampft und sich den Mund trocken gewischt hatte, kam seine Antwort: »Jetzt habe ich Angst.« Völlig verängstigt saßen die beiden da und starrten auf die siebenunddreißig Bonbonpapierchen, die wie vom Winde verwehtes Herbstlaub auf dem Bett verstreut waren. Song Gang weinte bitterlich, denn er befürchtete eine strenge Bestrafung. Sicher würde der Vater sie beide grün und blau prügeln, so wie bei der Hochzeit die Männer, die ihn verspottet hatten. Glatzkopf-Li ließ sich von der Panik des anderen anstecken und fing ebenfalls an zu zittern, bis er plötzlich eine Idee hatte: Wie wäre es, wenn sie ein paar Kieselsteine suchten, die etwa genauso groß waren wie die Karamellen, und diese dann in die Bonbonpapierchen wickelten? Song Gangs Tränenfluss versiegte augenblicklich, und er begann, übers ganze Gesicht zu strahlen. Die beiden Jungen liefen vors Haus und suchten unter Bäumen, am Brunnen und auf der Straße, ja sogar an der Hauswand, gegen die Song Fanping zu pinkeln pflegte, einen ganzen Haufen kleiner Steine zusammen, mit denen sie sich wieder auf das Bett zurückbegaben, wo sie sie fein säuberlich einwickelten. Dann taten sie die seltsam geformten »Bonbons« wieder in die Tüte und diese in das Kissen zurück, das sie zum Schluss auf seinen angestammten Platz im elterlichen Bett legten. Als das alles erledigt war, bekam es Song Gang abermals mit der Angst. Laut schluchzend sagte er: »Und sie werden es doch merken!« Glatzkopf-Li heulte nicht. Grinsend schüttelte er den Kopf und beruhigte den Bruder: »Jetzt wissen sie es aber noch nicht!« Schon in diesem zarten Alter war er ein Mensch, der 97
nach der Devise lebte »Verschieb die Sorgen bis übermorgen!«. Nachdem die Karamellen Marke »Großer weißer Hase« aufgegessen waren, galt sein Interesse erneut der Bank. Begleitet von dem jämmerlichen Schluchzen des Bruders streckte er sich abermals bäuchlings darauf aus und bewegte sich wie gehabt, wobei er - inzwischen durch Erfahrung geschult - den Schwerpunkt seines Körpers auf den Unterleib verlegte. Er rieb seinen Schniedel auf der Bank so lange hin und her, bis sein Gesicht wieder puterrot war und er zu keuchen begann. Von jenem Tag an waren Glatzkopf-Li und Song Gang unzertrennlich. Glatzkopf-Li gewann diesen ein Jahr älteren Bruder richtig lieb, zumal er sich jetzt endlich frei und ungebunden draußen herumtreiben konnte. Früher hatte die Mutter ihn nämlich immer eingeschlossen, wenn sie zur Arbeit in die Seidenfabrik ging, sodass er den ganzen Tag allein im Hause bleiben musste. Song Fanping war da anders. Er band seinem Sohn einen Schlüssel um den Hals und erlaubte es ihm, mit Glatzkopf-Li zusammen wie ein Papierdrachen, der sich von seiner Schnur losgerissen hat, durch die Straßen und Gassen unserer kleinen Stadt Liuzhen zu streifen. Er und seine neue Frau hatten zunächst befürchtet, die Söhne würden womöglich ständig in Streit miteinander geraten. Dass die bei den sich so gut vertragen würden, hätten sie nie gedacht. Tatsächlich stammten die Flecken und aufgeschürften Stellen, die die Jungen gelegentlich im Gesicht und am Körper hatten, ausschließlich vom Herumtoben, nicht von Raufereien untereinander. Nur einmal kamen beide mit aufgeplatzten Lippen und blutenden Nasen nach Hause, 98
doch das waren Wunden, die sie sich im vereinten Kampf gegen irgendwelche Nachbarskinder zugezogen hatten. Seit Glatzkopf-Li auf der Bank jene neue Körperfunktion für sich entdeckt hatte, überkam ihn oft das Verlangen, wieder einmal seinen Schniedel zu reiben. Manchmal, wenn er friedlich mit Song Gang die Straße entlanglief, blieb er plötzlich stehen und sagte: »Ich muss jetzt mal ein bisschen reiben.« Er umfasste mit den Armen einen hölzernen Strommast, horchte auf das Summen des Stroms in dem Holz und fing an, seinen Körper daran zu reiben, rauf und runter, runter und rauf, bis er puterrot im Gesicht und ganz außer Puste war. Danach pflegte er zu sagen: »Ah, das tut gut!« Song Gang, neidisch auf den Bruder und dessen unerklärliche Glückseligkeit, drang immer wieder in ihn: »Sag mir bloß mal, warum das bei mir nicht so ist!« Auch diesem war das unerklärlich. Kopfschüttelnd antwortete er: »Genau! Wieso ist das bei dir nicht so?« Gelegentlich kam es vor, dass die beiden gerade über die Brücke gingen, wenn Glatzkopf-Li wieder der Trieb überkam. Er streckte sich dann auf dem Geländer aus, wie seinerzeit auf der Bank, und rieb drauflos, unter ihm der Fluss, der durch unsere kleine Stadt Liuzhen fließt. Fuhr dann, wie es oft geschah, auch noch ein Schleppkahn mit tutender Sirene unter der Brücke hindurch, wurde er noch erregter. Einmal heulte er dabei sogar vor Lust laut auf. Drei Mittelschüler, die gerade vorbeikamen - es waren dieselben, die damals die Schlägerei mit Song Fanping vom Zaun gebrochen hatten -, blieben stehen und starrten verwundert auf Glatzkopf-Li auf dem Brückengeländer. 99
»He, du! Was treibst du da eigentlich?«, riefen sie. Glatzkopf-Li wälzte sich in eine stehende Position und erwiderte, immer noch schwer atmend: »Durch das Reiben wird mein Schniedel steinhart, und das tut so gut ... « Die drei glaubten ihren Ohren nicht zu trauen und gafften ihn mit offenen Mündern an. Doch er fuhr eifrig fort, sie aufzuklären: Man könne sich auch im Stehen an einem hölzernen Strommast reiben, bloß sei das ein bisschen anstrengend, im Liegen ginge es viel leichter. Abschließend verkündete er: »Zu Hause, da mache ich das natürlich auf einer Bank.« Die drei verdutzten Mittelschüler johlten los: »Ganz schön frühreif, dieser Knirps!« Jetzt wusste Glatzkopf-Li endlich, warum das Reiben ihm so guttat, Song Gang aber nicht. Als die drei außer Hörweite waren, zögerte er nicht, dem Bruder seine neu gewonnene Erkenntnis mitzuteilen: »Ich bin nämlich frühreif!« Und dann, sehr selbstzufrieden: »Dein Papa ist wie ich, auch frühreif. Du noch nicht!« Auf ihren Streifzügen durch die Stadt trieben sich die beiden Jungen besonders häufig in der Hauptgeschäftsstraße von Liuzhen herum, der Weststadtgasse. Dort befanden sich die Schmiede, die Schneiderwerkstatt und die Läden des Scherenschleifers und des Zahnreißers. Auch der Stieleisverkäufer Wang ging dort öfter, mit der flachen Hand gegen den Kasten mit dem Eis schlagend und seine Ware laut ausrufend, seinen Geschäften nach. Zuerst blieben die Kinder an der Tür der Schneiderstube stehen und sahen zu, wie der Schneider Zhang, den in unserer kleinen Stadt Liuzhen jedermann kannte, mit einem 100
Bandmaß seinen Kundinnen Maß nahm - erst den Hals, dann die Brust und schließlich das Gesäß - und dabei mit seinen Händen auf ihnen herumfuhrwerkte, worüber sie jedoch nicht etwa wütend wurden, sondern höchstens perlend lachten. Hatten sie sich dort satt gesehen, zogen sie weiter zum Scherenschleifer. Dort saßen die beiden Schleifer - Guan der Ältere, ein Mann in den Vierzigern, und sein fünfzehnjähriger Sohn, Guan der Jüngere auf niedrigen Holzschemeln vor einem wassergefüllten Bottich. Jeder zog ein Messer an dem schräg ins Wasser gehaltenen Schleifstein ab. Das rauschte wie heftiger Regen. Als Nächstes schauten sie dem Zahnreißer Yu in seinem Laden bei der Arbeit zu, das heißt, streng genommen war das gar kein Laden, denn er hatte einfach am Straßenrand einen Regenschirm aus Öltuch aufgespannt, unter dem ein Tisch stand. Darauf waren links ein paar Zahnzangen unterschiedlicher Größe aufgereiht, rechts ein paar Dutzend gezogene Zähne - ebenfalls unterschiedlich groß -, mit denen er Kunden anlocken wollte. Hinter dem Tisch befanden sich eine Holzbank ohne Lehne und daneben ein korbgeflochtener Liegestuhl, auf dem die Kunden Platz nahmen, während Zahnreißer Yu, auf der Bank sitzend, sie behandelte. Solange er keinen Kunden hatte, lag Yu selbst in dem Liegestuhl. Einmal hatte Glatzkopf-Li gesehen, dass die Korbliege leer war, und es sich flugs darauf bequem gemacht, da griff der Zahnreißer reflexartig zu seiner Zange und schickte sich an, ihn zu verarzten. Erst an dem entsetzten Aufschrei des Jungen merkte er, dass das ja gar kein Kunde war. Er riss ihn unsanft hoch und fuhr ihn ärgerlich an: »Du verdammter Rotz101
junge! Hast ja noch das ganze Maul voller Milchzähne! Hau bloß ab!« Am liebsten hielten sich die bei den Jungen in der Werkstatt des Schmieds auf. Schmied Tong hatte einen eigenen Handkarren, damals ein Statussymbol, das seinem Besitzer womöglich noch größeres Ansehen eintrug als heutzutage ein eigener Lastkraftwagen. Damit zog Tong wöchentlich einmal zur Schrottsammelstelle, wo er Kupfer- und Eisenschrott kaufte. Glatzkopf-Li und Song Gang schauten gebannt zu, wie unter Schmied Tongs Hammerschlägen aus dem Kupferschrott ein Spiegelrahmen, aus dem Alteisen eine Sichel oder Hacke wurde. Besonders die vom Amboss stiebenden Funken erregten die Fantasie der Kinder. Song Gang fragte den Schmied: »Die Sterne am Himmel, sind die so entstanden?« »Genau! Die habe ich alle mit meinem Hammer erschaffen.« Song Gangs Ehrfurcht vor dem Schmied wuchs ins Unermessliche. Der ganze Sternenhimmel, so versicherte er Glatzkopf-Li, habe seinen Ursprung in Tongs Werkstatt. Doch der glaubte dem Schmied kein Wort. Er hielt ihn für einen Aufschneider. Die Funken, die er mit seinem Hammer erzeuge, verglühten ja noch in der Schmiede, sagte er verächtlich. Wie auch immer, Glatzkopf-Li hielt sich gern in der Schmiedewerkstatt auf. Seit ihm die drei Mittelschüler die theoretische Begründung für seine Lust am Wichsen geliefert hatten, streckte er sich dort stets auf der Bank aus, auf der er früher Seite an Seite mit Song Gang gesessen hatte, wenn sie Schmied Tong bei der Arbeit zusahen. Jetzt beanspruchte er 102
sie für sich allein, Song Gang musste stehen. Glatzkopf-Li breitete bedauernd die Hände aus und sagte im Brustton der Überzeugung: »Da kann man nichts machen - ich bin eben frühreif!« So lag er auf dem Bauch, bewegte seinen Leib wie eine Raupe, keuchte und schrie wie Song Gang erregt auf, wenn die Funken stoben: »Sterne! Sterne! So viele Sterne ... « Schmied Tong war zu jener Zeit ein junger Mann von Anfang zwanzig, kräftig gebaut und noch nicht mit seiner späteren fettarschigen Frau verheiratet. Während er am Amboss stand, die Eisenzange in der linken Hand, mit der rechten den Hammer schwingend, und das Eisen schmiedete, beobachtete er Glatzkopf-Li. Er wusste, was da ablief, und war sehr verwundert, dass dieser verflixte Rotzjunge es doch tatsächlich auch schon mit sich selber trieb! Abgelenkt, wie er war, hätte er sich um ein Haar mit dem Hammer auf die linke Hand gehauen. Er erschrak, ließ die Zange fallen, als wäre sie glühend heiß, warf fluchend den Hammer zur Seite und stellte den keuchend auf seiner Bank liegenden Glatzkopf-Li zur Rede: »He! Sag mal, wie alt bist du eigentlich?« Stoßweise atmend antwortete der: »Gleich ... - acht.« »Das gibt's doch nicht!«, staunte der Schmied. »So ein Bengel! Ist noch nicht acht und hat schon 'n Geschlechtstrieb.« Seither wusste Glatzkopf-Li, was Geschlechtstrieb bedeutete. Er war überzeugt, Schmied Tongs Redeweise sei zutreffender als die der drei Mittelschüler - schließlich war er viel älter als sie. Hinfort sagte er nicht mehr von sich, er sei frühreif, sondern drückte sich anders aus.
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»Du hast noch keinen Geschlechtstrieb«, beschied er Song Gang. »Dein Papa schon. Und ich auch.« Seine Strommast-Wichstechnik entwickelte er insofern noch weiter, als er begann hinaufzuklettern, sobald er infolge heftigen Reibens vor Anstrengung puterrot im Gesicht war, um dann den Mast wieder herunterzurutschen. Unten angelangt, stöhnte er tief befriedigt auf. »Oh, wie gut das tut!«, sagte er dann zu Song Gang. Einmal, als er gerade am oberen Ende des Strommasts angelangt war, sah er jene drei Mittelschüler kommen und rutschte hastig hinab. Diesmal gab es keinen Erfahrungsbericht für den Bruder. Vielmehr wandte er sich eifrig an die drei Mittelschüler: »Ihr habt ja keine Ahnung! Wenn mein Schniedel hart gerieben ist, ist das nicht frühreif. Der Geschlechtstrieb ist das!«
VIII Song Fanpings und Li Lans stürmische Flitterwochen mündeten in eine beschaulichere, aber nicht weniger harmonische Zweisamkeit. Morgens gingen sie gemeinsam aus dem Haus, und nach der Arbeit kamen sie auch wieder zusammen heim. Songs Schule war nicht weit von zu Hause entfernt, deshalb ging er nach Dienstschluss Li Lan stets bis zur Brücke entgegen und wartete dort ein paar Minuten auf sie, um die letzte Wegstrecke in trauter Eintracht mit ihr zurückzulegen. Gemeinsam kauften sie auch ein, bereiteten die Mahlzeiten und wuschen die Wäsche, ebenso wie sie zusammen zu Bett gingen und zusammen aufstanden. Es schien fast, als wären sie zu keiner Zeit nicht zusammen. 104
Nach einem Jahr bekam Li Lan wieder ihre Kopfschmerzen. In der Freude über ihr neues Eheglück war sie eine Zeit lang von diesem alten Leiden verschont geblieben, doch es verhielt sich damit wie mit Spargeld, das auch mit der Zeit immer mehr wird: Als die Migräne erneut ausbrach, war sie heftiger denn je. Li Lan zog jetzt nicht mehr nur zischend Luft durch die Zähne; der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen, und sie band sich wie eine Wöchnerin ein weißes Handtuch um den Kopf. Den ganzen Tag über trommelte sie mit den Fingern so heftig auf ihren Schläfen herum, dass es im ganzen Haus widerhallte - wie ein Mönch im Tempel, der den Sutren-Holzfisch mit dem Schlegel bearbeitet. Auch ihr Mann litt in jener Zeit ernsthaft an Schlafmangel, denn er wurde in der Nacht oftmals durch Li Lans Stöhnen und Klagen geweckt. Dann stand er auf und holte am Brunnen einen Eimer eiskaltes Wasser, tunkte ein Handtuch ein, wrang das Tuch aus und legte es Li Lan auf die Stirn. Da ihr das große Erleichterung verschaffte, wechselte er ihr wie einer Fieberkranken manchmal in einer Nacht mehrmals das Handtuch. Song Fanping fand, seine Frau müsse eine Zeit lang ins Krankenhaus gehen, um sich auszukurieren. Zu den Ärzten bei uns im Kreis hatte er jedoch kein Zutrauen. Also setzte er sich an den Esstisch und schrieb an seine Schwester in Schanghai, ungefähr einen Brief pro Woche. Darin bat er sie, möglichst bald ein Krankenhaus ausfindig zu machen, in dem Li Lan sich behandeln lassen könne. Die Dringlichkeit seiner Bitte unterstrich er mit zahllosen Ausrufezeichen und Ausdrücken wie »unverzüglich« und »brandeilig«.
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Zwei Monate später kam endlich Antwort von der Schwester: Sie habe ein Krankenhaus gefunden, dort bestehe man allerdings auf einer Überweisung durch das eigentlich zuständige örtliche Hospital. Bei dieser Gelegenheit wurde Li Lan so richtig bewusst, was für einen großartigen Mann sie hatte. Song Fanping ließ sich nämlich für einen halben Tag von der Schule beurlauben, um Li Lan zur Nachmittagsschicht in der Seidenfabrik zu begleiten und dort mit dem Werkleiter zu reden, damit der zustimme, dass seine Frau zur Behandlung ihrer Migräne nach Schanghai führe. Li Lan selbst war viel zu schüchtern, als dass sie das je gewagt hätte - sie hatte noch nie auch nur einen einzigen Tag Krankheitsurlaub beantragt! Als sie jetzt mit ihrem Mann vor dem Büro des Werkleiters stand, bat sie ihn flüsternd, er möge doch allein hineingehen, sie selbst traue sich nicht. Lächelnd stimmte er zu und sagte, sie solle draußen warten, bis er die Sache erledigt habe. Dann ging er hinein. Song Fanping war ein bekannter Mann in unserer kleinen Stadt Liuzhen, denn die Nachricht von seiner unglaublichen Leistung bei jenem Basketballmatch hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Er kam kaum dazu sich vorzustellen, da unterbrach ihn der Werkleiter schon mit einer Handbewegung: Er wisse natürlich, wer er sei - der Mann mit dem fabelhaften Dunking! Dann unterhielten sich die beiden Männer über eine Stunde lang angeregt wie zwei alte Freunde. Song Fanping hätte darüber beinahe vergessen, dass seine Frau vor der Tür auf ihn wartete. Li Lan hörte von draußen gebannt zu, wie die Männer sich unterhielten. Noch viele Jahre später pflegte sie, wenn sie an 106
Song Fanping dachte, innerlich sehr bewegt zu sagen: »Der konnte vielleicht reden!« Als die beiden Männer zusammen aus dem Büro kamen, hatte der Werkleiter nicht nur zugestimmt, dass Li Lan zur Behandlung nach Schanghai führe, er ermahnte sie darüber hinaus, sie solle dort an nichts anderes denken als an ihre Gesundung. Sollte es irgendwelche Schwierigkeiten geben, würde die Fabrik auf jeden Fall helfen. Songs Redegewandtheit, die Li Lan so bewunderte, bewährte sich auch beim anschließenden Besuch im Krankenhaus, wo er sich lebhaft mit einem jungen Arzt unterhielt und dabei vom Hundertsten ins Tausendste kam. Welches Gesprächsthema sie auch berührten - und es waren viele! -, die beiden stellten stets beglückt fest, dass sie sich in allen Punkten einig waren. Während die Männer immer mehr in Fahrt kamen, saß Li Lan daneben und hörte mit großen Augen zu. Vor lauter Bewunderung für Song Fanping vergaß sie sogar ihre Kopfschmerzen. Nie hätte sie sich vorstellen können, dass derart außergewöhnliche Talente in dem Mann schlummerten, mit dem sie seit über einem Jahr zusammenlebte. Nachdem die Überweisung ausgestellt war, ließ der junge Arzt es sich nicht nehmen, die beiden bis ans Tor zu begleiten. Beim Abschied drückte er Song Fanping die Hand und versicherte ihm, dies sei ein Glückstag, weil er einen neuen Freund, eine verwandte Seele in ihm gefunden habe. Sie müssten sich unbedingt einmal bei einem halben Liter Reiswein zusammenhocken, dazu ein bisschen was zum Knabbern besorgen und sich in aller Ruhe ausgiebig unterhalten.
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Auf dem Heimweg fühlte sich Li Lan wie im siebenten Himmel. Immer wieder tastete sie nach Song Fanpings Hand, und wenn er sich dann zu ihr umdrehte, leuchteten ihre Augen hell wie die Flammen im Feuerofen. Zu Hause angekommen, zog sie ihn in das hintere Zimmer, schloss die Tür hinter sich und umarmte ihn liebevoll. Sie barg ihr Gesicht an seiner breiten Brust, sodass ihre Freudentränen sein Hemd netzten. Nach dem unrühmlichen Ende ihres ersten Ehemanns in der Jauchegrube war es dieser von Natur aus ohnehin furchtsamen Frau zur Gewohnheit geworden, sich selbst als minderwertig zu empfinden. Sie hatte sich damit abgefunden, niemanden zu haben, auf den sie sich stützen konnte. Jetzt aber hatte sie Song Fanping, und der machte sie so glücklich, wie sie es nie zu erträumen gewagt hätte. Vor allem hatte sie an ihm einen festen Rückhalt, sodass sie nie mehr mit gesenktem Kopf zu gehen brauchte. Er hatte ihr den Stolz zurückgegeben. Song wusste nicht, warum seine Frau so bewegt war. Lächelnd versuchte er, sich aus ihrer Umarmung freizumachen, und fragte, was das solle. Li Lan schüttelte nur stumm den Kopf und hielt ihn weiter fest umklammert, bis die Söhne im vorderen Zimmer laut und vernehmlich »Wir haben Hunger! Hunger! Hunger!« riefen. Da erst ließ sie ihren Mann los. Als er noch einmal nach dem Grund ihrer Tränen fragte, wandte sie sich verlegen ab, öffnete die Zimmertür und ging rasch hinaus. Am nächsten Tag fuhr Li Lan mit dem Nachmittagsbus nach Schanghai. Schon mittags gingen alle vier von zu Hause los. Song Fanping trug eine graue Reisetasche mit den aufged108
ruckten dunkelroten Schriftzeichen shang und hai auf einer Seite, die er in Schanghai anlässlich seiner ersten Hochzeit gekauft hatte. Sowohl die Erwachsenen als auch die Kinder hatten saubere Kleidung angezogen, denn sie wollten erst noch zum Fotografen gehen. Nachdem Song Fanping am Tag nach der Hochzeit die Absicht, ein Familienfoto machen zu lassen, wegen seines verschwollenen Gesichts nicht hatte verwirklichen können und später überhaupt nicht mehr daran gedacht hatte, war ihm anlässlich von Li Lans Abreise jetzt wieder eingefallen, dass sie das endlich nachholen müssten. 1m Fotoatelier setzte Song seine Frau abermals in Erstaunen, denn dieser anscheinend allwissende Mann wies doch tatsächlich den Fotografen an, die Anordnung der Scheinwerfer zu verändern! Und zwar so, dass keinerlei Schatten auf den Gesichtern der vier Personen lag. Der Fotograf folgte bereitwillig seinen Anweisungen und gab ihm in allen Punkten kopfnickend recht, während er die Stativscheinwerfer verrückte. Anschließend schaute sich Song im Spiegel das Arrangement noch einmal an und ließ den Fotografen ein paar letzte Korrekturen vornehmen. Zum Schluss zeigte er den Kindern, wie sie die Köpfe halten und lächeln sollten. Glatzkopf-Li und Song Gang mussten in der Mitte und Li Lan neben Song Gang Platz nehmen. Er selbst setzte sich neben Glatzkopf-Li. Alle mussten den Blick auf die erhobene Hand des Fotografen richten, und dann gab er - nicht der Fotograf - das Zeichen: »Eins, zwei, drei -lächeln!« »Klack!«, machte es, als der Fotograf den Auslöser betätigte und das strahlende Lächeln der Familie auf einen Schwarzweißfilm bannte. Nachdem Song bezahlt und die blaue Quittung sorgfältig in seiner Brieftasche verstaut hatte, 109
wandte er sich zu den beiden Jungen und versprach ihnen, dass sie in einer Woche die Fotos zu sehen bekämen. Schließlich ergriff er die graue Reisetasche und machte sich mit Frau und Söhnen auf den Weg zum Fernbusbahnhof. Im Wartesaal setzten sich alle vier auf eine Bank. Song Fanping beschrieb mehrmals, wie seine Schwester aussah. Sie würde rechts neben dem Ausgang des Schanghaier Busbahnhofs stehen, sagte er, und eine Zeitung - die liefang Ribao - in der Hand haben, so wie er es in seinem Brief erbeten habe. Während Song auf Li Lan einredete, stand die ganze Zeit ein Mann mit einem Bündel Zuckerrohr vor ihnen und pries unablässig seine Ware an, sodass Glatzkopf-Li und Song Gang das Wasser im Munde zusammenlief und sie ihre Eltern flehentlich bettelnd ansahen. Li Lan, normalerweise so sparsam, dass sie am liebsten selbst auf Essen und Trinken verzichtet hätte, sagte sich, sie würde gleich für einige Zeit von den Kindern getrennt sein, und kaufte ihnen eine ganze Stange Zuckerrohr. Gebannt verfolgten die beiden, wie der Verkäufer sie erst schälte und anschließend in vier Teile schnitt. Von da an war ihnen ziemlich egal, was die Eltern redeten - sie waren vollauf beschäftigt mit ihrem Zuckerrohr. An der Fahrkartenkontrolle bewährte sich Song Fanpings Redegewandtheit ein weiteres Mal: Er überredete den Kontrolleur, nicht nur Li Lan, sondern auch ihn und die Kinder durch die Sperre zu lassen. Alle vier stiegen in den Überlandbus, Li Lan musste sich auf ihren Platz setzen, während Song die graue Reisetasche im Gepäcknetz verstaute und einen jungen Mann bat, sie bei der Ankunft in Schanghai für Li Lan herunterzuheben. Dann stieg er mit den beiden Jungen 110
aus, und alle drei stellten sich vor das Fenster, durch das Li Lan sie unendlich liebevoll anblickte. Song sagte etwas, worauf sie mit einem Kopfnicken reagierte. Zum Schluss schärfte er ihr noch ein, den Kindern bei der Rückkehr unbedingt etwas mitzubringen, woraufhin die Zuckerrohr kauenden Jungen sofort riefen: »Karamellen Marke >Großer weißer Hase
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Wegen der Tag für Tag wie Wellen aufbrandenden und wieder verebbenden Demonstrationen ähnelten die Straßen von Liuzhen inzwischen eher einem Menschenmeer als Verkehrswegen. Immer mehr Männer und Frauen mit roten Binden am Arm, roten Plaketten mit dem Porträt des Vorsitzenden Mao an der Brust und dem rotem Buch mit Zitaten aus Werken Maos in der Hand erfüllten die Straßen mit ihrem an Hundegebell erinnernden Geschrei (lauter revolutionäre Losungen) und mit ihrem Gesang (revolutionäre Lieder, was sonst?). Die Mauern wurden immer dicker von den daraufgepappten Dazibao Wandzeitungen mit großen, handgeschriebenen Schriftzeichen -, die raschelten wie welkes Laub, wenn der Wind darüberfuhr. Man sah jetzt in der Stadt Menschen mit hohen spitzen Papiertüten auf dem Kopf, Menschen mit umgehängten großen Holztafeln vor der Brust und Menschen, die auf alten Töpfen und Schüsseln trommelten und dazu Slogans skandierten, mit denen sie zum Kampf gegen sich selbst aufriefen. Glatzkopf-Li und Song Gang wussten, die Leute mit den hohen Mützen, den Holztafeln und den kaputten Topfdeckeln, das waren die Klassenfeinde, von denen jetzt so viel die Rede war. Jedermann konnte sie nach Belieben ins Gesicht schlagen, ihnen in den Bauch treten, ihnen auf den Nacken rotzen, sie anpinkeln. Sie ließen sich all diese Schikanen ohne Widerworte gefallen und wagten nicht einmal einen Seitenblick auf die Zuschauer entlang der Straßen. Die machten sich einen Spaß daraus, sie zu nötigen, sich selbst ins Gesicht zu schlagen oder Slogans zu rufen, in denen sie erst sich selbst, dann auch noch ihre Vorfahren verunglimpfen mussten. 112
Glatzkopf-Li und Song Gang erlebten den unvergesslichsten Sommer ihrer Kindheit. Sie wussten allerdings nicht, dass dies die Große Kulturrevolution und dass die Welt jetzt eine andere war. Was sie wussten, war lediglich, in Liuzhen war jeden Tag so viel los wie sonst nur an Feiertagen! Wie zwei Straßenköter streunten die beiden Jungen durch unsere kleine Stadt Liuzhen, marschierten mal mit diesem, mal mit jenem Demonstrationszug durch die Straßen, bis sie in Schweiß gebadet waren, und riefen mit anderen wahlweise »Es-lebe«- oder aber »Niedermit«-Slogans, bis sie sich heiser geschrien hatten und ihre Kehlen rot und geschwollen waren wie der Hintern eines Pavians. Glatzkopf-Li packte unterwegs die Gelegenheit beim Schopf, sämtlichen Strommasten unserer kleinen Stadt Liuzhen mehrmals Gewalt anzutun. Als wäre es die natürlichste Sache der Welt, umarmte der gerade acht Jahre alte Junge die hölzernen Masten und rieb sich an ihnen, bis er puterrot im Gesicht war. Dabei ließ sein Interesse für das Geschehen auf der Straße keinen Moment nach, und während er sich an dem Strommast rieb, riss er unbeirrt seine kleine Faust hoch, sobald er in die Slogans der vorüberziehenden Demonstranten einstimmte. Die meisten Leute, die beobachteten, wie Glatzkopf-Li die Masten umarmte, wussten natürlich, was das zu bedeuten hatte. Sie zwinkerten einander mit einem verständnisvollen Lächeln zu, aber keiner sagte etwas, obwohl sie sich insgeheim über den Jungen kaputtlachten. Es gab aber auch welche, die nicht Bescheid wussten. Eine Frau fragte ihn erstaunt: »Junge, was machst du denn da?« Glatzkopf Li warf der Fragerin - sie hieß Mutter Su und betrieb einen Imbissladen am Fernbusbahnhof - einen Blick zu, 113
antwortete aber nicht, denn er war viel zu beschäftigt mit Reiben und mit dem Rufen von Slogans. An seiner Stelle klärten jene drei Mittelschüler, die zufällig wieder des Weges kamen, Mutter Su auf. Diesmal sagten sie nicht, Glatzkopf-Li sei frühreif, vielmehr zeigten sie auf ihn, auf den von ihm umarmten Strommast und auf die Stromleitung und erklärten: »Der erzeugt Strom!« Einige vorüberziehende Demonstranten hörten das und prusteten los, und auch Song Gang, der neben Glatzkopf-Li stand, grinste, obwohl er keine Ahnung hatte, warum. Glatzkopf-Li war es überhaupt nicht recht, so verkannt zu werden. Er hörte auf, sich an dem Mast zu reiben, wischte sich den Schweiß von der Stirn und fertigte die drei Mittelschüler geringschätzig ab: »Ihr habt ja keine Ahnung!« Zu Mutter Su aber sagte er stolz: »Mein Geschlechtstrieb ist über mich gekommen.« Die Frau wurde vor Schreck ganz blass. Kopfschüttelnd murmelte sie: »Wehe! Diese Sünde! ... « Gerade da näherte sich ein neuer Demonstrationszug, der längste, den unsere kleine Stadt Liuzhen je erlebt hatte. Von einem Ende der Straße bis zum anderen erstreckte sich ein Meer von unzähligen roten Fahnen - die großen groß wie Bettlaken, die kleinen klein wie Taschentücher -, die im Winde hin und her wogten und sich ineinander verschlangen, während die Fahnenstangen klackend gegeneinanderschlugen. Mit hoch erhobenem Schmiedehammer rief Schmied Tong, der für die Metallbearbeitung in unserer kleinen Stadt Liuzhen zuständig war, er wolle ein revolutionärer Schmied sein, einer, der sich unerschrocken für die gerechte Sache einsetzt 114
und die Hundeköpfe und Hundebeine der Klassenfeinde platt hämmert wie Sicheln und Hacken und sie zerschlägt wie Eisen- und Kupferschrott. Mit hoch erhobener Zahnzange rief Zahnreißer Yu, der Dentist in unserer kleinen Stadt Liuzhen, er wolle ein parteilicher revolutionärer Zahnarzt sein, der den Klassenfeinden die guten, den Klassenbrüdern und -schwestern die schlechten Zähne zieht. Mit dem Bandmaß um den Hals rief Schneider Zhang, der in unserer kleinen Stadt Liuzhen Kleidung anfertigte, er wolle ein wachsamer und hellhöriger revolutionärer Schneider sein, der seinen Klassenbrüdem und -schwestern die neuesten und schönsten Kleider der Welt näht, den Klassenfeinden aber die schäbigsten Totenkleider - nein, falsch!: die schäbigsten Leichentücher! Mit dem Eiskasten auf dem Buckel rief Stieleis-Wang, der in unserer kleinen Stadt Liuzhen Eis am Stiel verkaufte, er wolle ein niemals schmelzendes revolutionäres Stieleis sein. Im Wechsel Slogans rufend und seine Ware anpreisend versicherte er, in den Genuss seines Stieleises kämen nur Klassenbrüder und -schwestern, keine Klassenfeinde. »Kommt schnell und greift zu! Wer mein Eis am Stiel kauft, ist ein Klassenbruder oder eine Klassenschwester! Wer nichts kauft, ist ein Klassenfeind!«, rief er und machte auf diese Weise glänzende Geschäfte, denn mit jedem Eis bescheinigte er dem Käufer seine revolutionäre Gesinnung. Mit hoch erhobenen Scheren riefen Vater und Sohn Guan, die beiden Scherenschleifer in unserer kleinen Stadt Liuzhen, sie wollten zwei scharfe revolutionäre Scheren sein und allen Klassenfeinden, die sie sähen, schnipp, schnapp die 115
Schwänze abschneiden. Scherenschleifer Guan der Ältere hatte kaum zu Ende gesprochen, da überkam Scherenschleifer Guan den Jüngeren ein unkontrollierbarer Harndrang, sodass er sich, »Schwänze« und »abschneiden« zwischen den Zähnen murmelnd, schleunigst einen Weg durch die Menge bahnte, um sich an der nächsten Mauer zu erleichtern. In der vordersten Reihe marschierte der hünenhafte Song Fanping. Mit ausgestreckten Armen trug er eine mächtige Fahnenstange und an dieser ein riesiges rotes Banner, groß wie zwei Bettlaken. (Wenn das reicht! Wahrscheinlich muss man noch zwei Kopfkissenschoner dazurechnen, dann dürfte es mit der Größe ungefähr hinkommen.) Das rote Fahnentuch bauschte sich im Wind wie die wogende See - man hätte tatsächlich meinen können, Song trüge eine wildbewegte Wasserfläche vorbei. Sein weißes Unterhemd war schweißnass. Die Muskeln seiner Schultern und Arme spielten unter der Haut wie lauter kleine Eichhörnchen. Erregt schienen sogar die Ströme von Schweiß zu sein, die ihm über das gerötete Gesicht liefen, und seine Augen leuchteten wie über den Himmel zuckende Blitze. Als er Glatzkopf-Li und Song Gang erblickte, rief er mit lauter Stimme: »Jungs, kommt mal her!« Das war gerade der Moment, da Glatzkopf-Li, den Strommast umarmend, sich bei den Umstehenden erkundigt hatte, warum Mutter Su »Wehe! Diese Sünde!« gesagt habe. Als er jetzt Song Fanpings Stimme hörte, ließ er sofort von dem Strommast ab und rannte mit Song Gang zu ihm hin. Jeder fasste einen Zipfel vom Unterhemd des Vaters, einer rechts, einer links. Song ließ den Fahnenstock zwischen seinen Fin116
gern ein Stück nach unten gleiten, damit auch die Söhne ihn anpacken konnten, und dann marschierten Glatzkopf-Li und Song Gang, jeder mit einer Hand den Fahnenstock des größten roten Banners in ganz Liuzhen umklammernd, mit an der Spitze des längsten Demonstrationszuges, den unsere kleine Stadt je gesehen hatte! Um nicht hinter den forsch ausschreitenden Vater zurückzufallen, mussten die Jungen im Trab laufen, wurden aber dennoch glühend beneidet von den vielen Kindern an den Straßenrändern, die nur ganz unspektakulär in ungeordneten Haufen nebenherrennen konnten. Auch jene drei hochnäsigen Mittelschüler mussten dämlich lächelnd hinter dem Zug herlaufen. Glatzkopf-Li und Song Gang, eifrig bemüht, mit dem Vater Schritt zu halten wie zwei kleine Hunde mit einem Elefanten, konnten bald nur noch keuchen und japsen. Endlich machte Song auf der Brücke halt, und der Demonstrationszug kam zum Stehen. Die zur Brücke führenden Straßen und Gassen waren schwarz vor Menschen, und alle, alle schauten empor zu Song Fanping! Alle großen und kleinen Fahnen wehten in Richtung Brücke, und das riesige Banner, das Song mit bei den Händen hoch über seinen Kopf erhoben hatte, diese größte rote Fahne in unserer kleinen Stadt Liuzhen, sie knatterte im Wind, als würde ein Feuerwerk abgebrannt. Dann begann er, die Fahne zu schwenken. Glatzkopf-Li und Song Gang reckten die Hälse und verfolgten mit den Augen, wie das ungeheuer große Fahnentuch über ihnen erst von schräg links nach rechts wogte, um nach einer Drehung sogleich wieder zurückzuschwingen. Der Luftstrom, den das über der Brücke wogende rote Banner verursachte, ließ die Haare der Umstehenden ebenfalls im Wind hin und her schwingen. 117
Song Fanpings Fahnenschwenken löste eine gewaltige Welle von Sprechchören aus. Glatzkopf-Li und Song Gang beobachteten, wie unzählige Fäuste gereckt und wieder gesenkt wurden und immer neue Slogans wie Geschützdonner von allen Seiten autbrandeten. Rot vor Erregung, heulte Glatzkopf-Li auf, wie er es sonst nur tat, wenn er Strommasten umarmte. Er schrie dem Bruder zu: »Mein Geschlechtstrieb ist über mich gekommenl« Als er bemerkte, dass auch Song Gang mit dunkelrotem Gesicht, gerecktem Hals und geschlossenen Augen aus Leibeskräften brüllte, freute er sich über die Maßen. Er stupste ihn in die Seite und fragte: »Kriegst endlich auch den Geschlechtstrieb, was?« Dies war der Tag von Song Fanpings größter Glorie. Als die Demonstration zu Ende war und jedermann nach Hause ging, lief er mit den bei den Söhnen an der Hand weiter durch die Straßen. Mit vielen Leuten, die seinen Namen riefen oder seine Hand schütteln wollten, wechselte er ein paar Worte. Glatzkopf-Li und Song Gang begannen, die Nase ziemlich hoch zu tragen. Es kam ihnen vor, als ob alle Einwohner der Stadt ihren Vater kannten. Aufgeregt fragten sie ihn immerfort, wer das eben war, der ihn mit seinem Namen begrüßt oder ihm gerade die Hand geschüttelt hatte. Mit der Zeit hatten die Kinder das Gefühl, als entfernten sie sich immer weiter von zu Hause. Als sie sich erkundigten, wohin sie eigentlich gingen, antwortete Song Fanping laut und schallend: »Ins Gasthaus! Essen!« Im »Volksgasthof« angekommen, winkten ihm alle fröhlich zu, die Kassiererin, bei der man bestellte und bezahlte, ebenso wie die Servierer, die das Essen brachten und das Ge118
schirr abräumten, und die anderen Gäste an den Tischen. Song Fanping winkte mit seiner gewaltigen Pranke zurück, ähnlich wie der Vorsitzende Mao den Massen vom Torturm über dem Tian'anmen aus huldreich zuzuwinken pflegte. Die drei setzten sich an einen Tisch am Fenster. Im Nu waren sie umringt von Kassierern, Servierern und Gästen, die mit ihren Essschüsseln in der Hand herüberkamen. Durch den Lärm aufmerksam geworden, eilten auch die Köche in ihrer fettfleckigen Arbeitskleidung herbei und stellten sich hinter Glatzkopf-Li und Song Gang. Die Leute bestürmten Song Fanping mit zahllosen Fragen zu allen möglichen Themen, vom Großen Führer - dem Vorsitzenden Mao - und der Großen Proletarischen Kulturrevolution bis hin zu Streitereien zwischen Eheleuten und Kinderkrankheiten. Als Träger des größten roten Banners, das es je in Liuzhen gegeben hatte, war er zur wichtigsten Person geworden, die die Stadt überhaupt hervorgebracht hatte. Aufrecht auf seinem Stuhl sitzend, die Hände vor sich auf dem Tisch ausgebreitet, leitete er jede seiner Antworten mit demselben Satz ein: »Der Vorsitzende Mao lehrt uns ... « Alles, was er sagte, waren Worte des Vorsitzenden Mao nichts stammte von ihm selbst. Die Leute hingen an seinen Lippen, nickten zu seinen Antworten nur immer mit den Köpfen wie Körner pickende Hühner und gaben mit offenen Mündern, als hätten sie Zahnschmerzen, allerlei zustimmende Laute von sich. Glatzkopf-Li und Song Gang war mittlerweile ganz flau vor Hunger. So leer waren ihre Mägen, dass sogar ihre Fürze hohl klangen. Dennoch beklagten sie sich nicht, sondern schauten mit 119
unverminderter Aufmerksamkeit bewundernd auf ihren Vater. Song Fanpings Sprechwerkzeuge, das waren für sie die Kehle und die Zunge des Vorsitzenden Mao; die Spucketröpfchen, die er beim Reden verspritzte, das war die Spucke des Vorsitzenden Mao! Die beiden Jungen merkten weder, wie lange sie schon im »Volksgasthof« saßen, noch wann die Sonne unterging und es dunkel wurde. Erst als die Lampen längst brannten, bekamen sie endlich ihre verführerisch dampfenden Brühnudeln. Der über und über mit Öl bespritzte Koch beugte sich über sie und fragte: »Na, schmeckt euch die Nudelsuppe?« »Und wie!«, antworteten beide wie aus einem Mund. Stolz erklärte der ölige Koch: »Das möchte ich auch meinen! ... Andere kriegen nur heißes Wasser - ihr habt Fleischbrühe!« Als sie an diesem Abend wieder zu Hause waren, ging Song Fanping mit den Söhnen zum Brunnen, alle drei nur in kurzen Hosen. Sie übergossen sich mit Wasser und seiften sich ein, dann zog Song einen Eimer Wasser nach dem anderen herauf und spülte erst die Jungen, dann sich selbst ab. Die Nachbarn, die vor ihren Haustüren saßen und fächerwedelnd die abendliche Kühle genossen, unterhielten sich währenddessen mit ihm über die Demonstration. Wie großartig sie gewesen sei und wie imposant Song gewirkt habe, als er das rote Banner schwenkte. Dadurch erwachten Song Fanpings Lebensgeister aufs Neue, obwohl er eigentlich todmüde war. Nachdem die Kinder im Bett lagen, setzte er sich unter die Deckenlampe und schrieb in seiner freudigen Erregung einen langen Brief an Li Lan. Vor dem Einschlafen flüsterte Glatzkopf-Li dem Bruder kichernd zu, sein Vater sei vom 120
Schreiben ganz rot im Gesicht und am Hals. Es dauerte sehr lange, bis Song Fanping alles niedergeschrieben hatte, was an diesem Tag geschehen war. Als die Kinder am nächsten Morgen aufwachten, stand der Vater vor dem Bett, immer noch so freudig erregt wie am Vortag, und hielt ihnen zwei glänzende rote Plaketten mit dem Bildnis des Vorsitzenden Mao hin. Die seien für sie, sagte er. Sie sollten sie auf der Brust tragen, dort, wo das Herz schlägt. Dann steckte er sich selbst eine dritte Plakette an die Brust, nahm das kleine rote Buch - die Worte des Vorsitzenden Mao - in die Hand und verließ mit festem Schritt das Haus, das Gesicht genau so knallrot wie die Worte und die Plakette. Die Kinder hörten noch, wie einer von den Nachbarn ihn fragte: »Wirst du heute wieder das rote Banner schwenken?« Worauf Song laut und deutlich erwiderte: »Klar!« Die Jungen horchten sich gegenseitig ab, um die Stelle zu ermitteln, wo das Herz schlägt, dann steckten sie einander dort das rote Abzeichen an. Auf Song Gangs Plakette schwebte der Vorsitzende Mao über dem Tian'anmen, auf Glatzkopf-Lis über Meereswogen. Die Kinder frühstückten und gingen um acht Uhr aus dem Haus. Auf den von der Morgensonne beschienenen Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen wehten nach wie vor die vielen roten Fahnen, groß wie Bettlaken oder klein wie Taschentücher. Auch sonst war alles so wie am Vortag: Dieselben gut gelaunten Männer und Frauen erschienen zur Demonstration; dieselben Leute waren mit ihren Leimtöpfen an den Wandzeitungs-Mauern zugange; Schmied Tong mit seinem Hammer verkündete wieder, dass er den Klassenfeinden die 121
Hundeköpfe und Hundebeine platt hämmern wolle; Zahnreißer Yu schwenkte wie am Vortag seine Zange und drohte, den Klassenfeinden die gesunden Zähne zu ziehen; StieleisWang, immer noch den Eiskasten schulternd, reihte sich in den Demonstrationszug ein und pries seine nur für Klassenbrüder und -schwestern bestimmte Ware an; Schneider Zhang, wieder mit dem Bandmaß um den Hals, rief abermals, er würde den Klassenfeinden die schäbigsten Totenkleider oder vielmehr: Leichentücher! - schneidern; Scherenschleifer Guan der Ältere schnitt immer noch mit seiner hoch erhobenen Schere schnipp, schnapp den Klassenfeinden die imaginären Schwänze ab, während Scherenschleifer Guan der Jüngere, der ja schon am Vortag eine Stange Wasser in die Ecke gestellt hatte, erneut am Hosenschlitz nestelte. Kurz, jeder Einzelne, der am vorangegangenen Tag gegeifert, gehustet, geniest, gefurzt, gespuckt und gekämpft hatte, war selbstverständlich wieder zur Stelle. Auch die drei Mittelschüler Sun Wei, Zhao Shengli und Liu Chenggong fehlten natürlich nicht. Als sie Glatzkopf-Li und Song Gang mit den Mao-Plaketten an der Brust erblickten, grinsten sie so schmierig, als spielten sie Kollaborateure in einem Film über den Widerstandskrieg gegen die japanischen Aggressoren, was die bei den von vornherein verunsicherte. Der langhaarige Sun Wei zeigte auf einen Strommast und fragte Glatzkopf-Li: »He, Kleiner! Was ist mit deinem Geschlechtstrieb? « Glatzkopf-Li schwante nichts Gutes. Er wich mit Song Gang seitwärts aus und antwortete kopfschüttelnd: »Hab keinen. Jetzt nicht.« Der Langhaarige packte ihn und schob ihn un-
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sanft zu dem Mast. »Na los!«, sagte er mit einem dreckigen Grinsen. »Mach, dass er dir kommt!« Glatzkopf-Li versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. »Ich hab jetzt aber keinen Geschlechtstrieb!«, rief er. Zhao Shengli und Liu Chenggong hatten inzwischen unter großem Hallo Song Gang am Schlafittchen genommen und ebenfalls in Richtung Strommast geschubst. »Und du machst auch, dass dir der Geschlechtstrieb kommt!«, befahlen sie. Song Gang wusste überhaupt nicht, wie ihm geschah. Während er sich loszureißen versuchte, erklärte er seinen Peinigern: »Ich habe gar keinen Geschlechtstrieb, echt! Hab noch nie einen gehabt!« Beide Jungen stießen jedoch auf taube Ohren. Die drei Mittelschüler quälten ihre Opfer, indem sie ihre Nasen, Ohren und Wangen mit den Fingern zwirbelten und kneteten, als ob es sich um Teig für Dampfnudeln handelte, sodass die beiden Jungen vor Schmerzen schrien. Zum Schluss rissen sie ihnen mit einem Ruck die Mao-Plaketten ab und stolzierten davon. Song Gang plärrte laut los; er war so aufgelöst, dass Tränen und Rotz ihm in den Mund liefen und er sie hinunterschlucken musste. Bei allen Vorübergehenden beschwerte er sich, man habe ihm und seinem Bruder den Vorsitzenden Mao gestohlen. Dabei zeigte er anklagend auf die sich entfernenden drei Mittelschüler beziehungsweise als diese nicht mehr zu sehen waren - in die Richtung, in die sie gegangen waren. Immer wieder beschrieb er, wie die geraubten Plaketten aussahen: »Das Gesicht des Vorsitzenden Mao ist rot, bei der einen Plakette war das rote Gesicht über dem Torturm des Tian'anmen, bei der anderen über den Wellen des Meeres...« 123
Glatzkopf-Li weinte nicht, aber auch er zeigte in die Richtung, die die drei Mittelschüler eingeschlagen hatten, und beklagte sich wild empört über die Übeltäter: »Ich habe jetzt nun mal keinen Geschlechtstrieb! Trotzdem wollten die unbedingt, ich soll machen, dass er mir kommt ...« Die Leute fanden das urkomisch und lachten sich schlapp. Dann fiel Glatzkopf-Lis Blick auf den Bruder, der stoßweise schluchzte, als hätte er den Schluckauf. Da wurde auch er traurig und musste sich die Tränen abwischen, zumal ja ihm selbst ebenfalls das Mao-Abzeichen geraubt worden war. Song Gang deutete auf seine Brust. »Die Plakette ... mit dem Vorsitzenden Mao ... habe ich ... heute Morgen erst ... angesteckt!«, stieß er verzweifelt heraus. Auch Glatzkopf-Li zeigte auf seine Brust und rief: »Da drin, das Herz, das klopft noch immer, aber der Vorsitzende Mao hier draußen, der ist nicht mehr da ... « Als den beiden Jungen aufging, dass niemand ihnen helfen würde, fiel ihnen ein: Sie hatten ja einen Vater, und der war so stark, dass er mit einem Bein mehrere Männer zu Fall brachte! Der würde es den drei Mittelschülern schon zeigen und seinen Söhnen wieder zu ihrem Vorsitzenden Mao verhelfen! Am Kragen packen würde er die Diebe wie drei Hühnchen, und durchschütteln würde er sie, sodass sie vor Schreck heulen und mit den Beinen zappeln würden! Song Gang sagte zu Glatzkopf-Li: »Komm, wir gehen zu Papa!« Es war inzwischen Mittagszeit. Hand in Hand liefen die beiden Jungen mit knurrendem Magen durch die Straßen. Wenn sie einander losließen, weil ein Passant unbedingt zwischen ihnen durchgehen musste, fassten sie sich danach sofort wie124
der an. Bei jedem Demonstrationszug schauten sie nach, ob der Fahnenschwinger an der Spitze Song Fanping sei. Dann gingen sie auf den Platz, wo die Kundgebungen stattfanden war der Redner auf dem Podium vielleicht ihr Vater? Überall suchten sie nach ihm, erkundigten sich bei vielen fremden Onkeln, Tanten, Opas und Omas, ob sie Song Fanping gesehen hätten - vergebens! Schließlich gelangten sie zu der Brücke, auf der der Vater am Vortag das rote Banner geschwenkt und wo ihm die ganze kleine Stadt zugejubelt hatte. Heute waren dort keine Fahnen zu sehen, dafür aber ein paar Leute mit großen Holztafeln vor der Brust und hohen Mützen auf dem Schädel, die mit hängenden Köpfen dastanden. Aha, Klassenfeinde!, wussten die beiden. Song Gang fragte die wachhabenden Rebellen mit roten Armbinden, die vor den Klassenfeinden auf und ab gingen: »Habt ihr unseren Papa gesehen?« Einer von den Burschen mit roter Armbinde fragte zurück: »Wer ist euer Papa?« »Mein Papa ist Song Fanping«, antwortete Song Gang. »Der gestern hier die rote Fahne geschwenkt hat.« Glatzkopf-Li ergänzte: »Er ist sehr berühmt! Dem haben sie sogar Fleischbrühe zu den Nudeln spendiert!« Da hörten die beiden hinter sich eine Stimme: »Kinder, ich bin hier.« Sie fuhren herum - ja, das war der Vater. Auf dem Kopf hatte er eine hohe Papiermütze, und vor der Brust baumelte ein großes Holzschild mit der Aufschrift »Grundbesitzer Song Fanping«. Die Zeichen konnten die Kinder nicht lesen, aber was die roten Kreuze bedeuteten, mit denen die Schriftzeichen durchgestrichen waren, das wussten sie wohl: 125
So wurden die Namen von Klassenfeinden ausgeixt. Hochaufragend wie ein Torflügel stand der Vater da und schirmte mit seinem Körper das Sonnenlicht ab, sodass die Söhne im Schatten standen. Als sie zu ihm aufschauten, sahen sie, dass seine Augen fast zugeschwollen und seine Mundwinkel lädiert von Schlägen waren, die man ihm verabreicht hatte. Mit einem gefrorenen Lächeln blickte er die Kinder an. Was mochte geschehen sein, dass er plötzlich in diesen Zustand geraten war? Wo er doch am Tag zuvor noch so Achtung gebietend auf ebendieser Brücke gestanden hatte. Song Gang fragte zaghaft: »Papa, was machst du hier?« »Habt ihr Hunger?«, sagte Song Fanping mit leiser Stimme. Beide Kinder nickten gleichzeitig. Song kramte zwanzig Fen aus seiner Hosentasche, davon sollten sie sich etwas zu essen kaufen. Der Bursche mit der roten Armbinde schrie ihn an: »Hier wird nicht geredet! Runter mit deinem Hundekopf!« Song Fanping senkte gehorsam den Kopf. Die Kinder waren vor Schreck ein paar Schritte zurückgewichen. Während der Bursche mit der Armbinde herumbrüllte, schaute Song kurz zu ihnen hinüber, und sie sahen, dass er lächelte. Da schöpften sie frischen Mut, gingen wieder zu ihm hin und erzählten ihm, dass ihre Mao-Plaketten von jenen drei verdammten Mittelschülern geraubt worden seien. Song Gang fragte: »Kannst du sie ihnen wieder abnehmen?« Song Fanping nickte und sagte: »Ja.« Glatzkopf-Li fragte ihn: »Kannst du sie verdreschen?« Wieder nickte der Vater: »Ja.« Da freuten sich die Jungen. In diesem Moment kam der Bursche mit der roten Armbinde wieder herüber und versetz126
te Song Fanping zwei Ohrfeigen. »Wieso sprichst du mit denen? Hab ich dir nicht das Reden verboten?«, schrie er ihn an. Aus Songs Mundwinkeln rann Blut. »Geht jetzt!«, drängte er die Kinder. Am ganzen Leibe zitternd, rannten die beiden weg, so schnell sie konnten. Immer wieder sahen sie sich nach dem mit gesenktem Kopf auf der Brücke stehenden Vater um. Es schien ihnen, als baumelte sein Kopflose am Hals. Zurück in dem Menschengewühl auf der Hauptstraße, kauften sich die Kinder zwei mit Hackfleisch gefüllte Dampfnudeln, ihre heiß geliebten »Baozi«, und vertilgten sie gierig vor der Tür des Imbissladens. In der Ferne sahen sie, wie ihr Vater auf der Brücke nun nicht nur den Kopf gesenkt, sondern den ganzen Oberkörper vorgebeugt hatte. Jetzt wussten sie, dass dies nicht mehr der Song Fanping vom Vortag war. Song Gang ließ den Kopf hängen und begann, still vor sich hin zu weinen. Wie er sich mit seinen kleinen Fäusten die Tränen aus den Augen rieb, sah es aus, als schaue er durch ein Fernglas. Glatzkopf-Li weinte nicht. Er dachte an seine Plakette mit dem Vorsitzenden Mao über dem Meer - die würde er jetzt wohl doch nicht wiederkriegen. Er ging zu einem Strommast und rieb sich ein paarmal daran, kehrte aber nach kurzer Zeit wieder zu dem schluchzenden Bruder zurück. »Hab gar keinen Geschlechtstrieb«, murmelte er niedergeschlagen. Es war schon dunkel, als Song Fanping sich nach Hause schleppte, so mühsam, als hätte er zwei Beinprothesen. Wortlos ging er an den Kindern vorbei in das hintere Zimmer und blieb zwei Stunden lang wie ein Toter auf dem Bett lie127
gen. Die Jungen hörten ihn nicht ein einziges Mal sich bewegen. Durch das Fenster schien das kalte Licht des Mondes herein. Da bekamen sie es mit der Angst zu tun, schlichen sich zu ihrem Vater in das hintere Zimmer und kletterten auf sein Bett. Als sie schon eine ganze Weile still neben seinen Füßen gesessen hatten, fuhr er plötzlich auf und sagte: »Hey, ihr zwei! Ich bin wohl eingeschlafen?« Dann wurde die Lampe angeknipst, und alle drei waren wieder guter Dinge. Song Fanping begann, das Abendessen zuzubereiten. Die Söhne standen daneben und erwarben jetzt ihre ersten Kochkenntnisse. Wie man Reis und Gemüse wäscht, den Petroleumkocher anzündet und den Reis gart, das alles zeigte Song ihnen. Erst ließ er Glatzkopf-Li Öl in den Wok gießen, dann durfte Song Gang die Pak-ChoiBlätter mit Salz bestreuen, und schließlich führte er ihre Hand und zeigte ihnen, wie man das Gemüse unter Rühren brät. Jeweils nach dreimal Umrühren wechselten sich die beiden Kinder ab. Als jeder neunmal gerührt hatte, war das Gericht fertig, und die drei setzten sich zum Essen an den Tisch. Zwar gab es nur dieses eine Gericht, dennoch trat ihnen beim Essen der Schweiß auf die Stirn, weil es heiß und sättigend war. Nach dem Abendessen sagte Song Fanping zu seinen Söhnen, da er seit der Abreise der Mutter nach Schanghai noch kein einziges Mal mit ihnen am Meer gewesen sei, würde er ihnen am nächsten Tag - wenn es nicht gerade stürmte und goss - die Wellen zeigen und den Himmel darüber und die Seevögel, die zwischen Himmel und Meer fliegen.
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Als Glatzkopf-Li und Song Gang begeistert aufjauchzten, hielt ihnen Song erschrocken die Münder zu, woraufhin die Kinder ihrerseits über seinen panischen Gesichtsausdruck erschraken. Sofort lockerte der Vater seinen Griff und zeigte nach oben. »Die Decke hebt sich noch ab, wenn ihr so schreit«, sagte er lächelnd. Diesen Gedanken fanden die Kinder so komisch, dass sie sich ausschütteten vor Lachen. Dabei hielten sie sich jedoch sicherheitshalber selber die Münder zu.
X Am nächsten Morgen, als Song Fanping und seine Söhne gerade zu ihrem Ausflug ans Meer aufbrechen wollten, erschien ein starkes Aufgebot von Armbinden-Trägern aus Songs Schule - rund ein Dutzend Leute - und besetzte im Nu wie ein Schwarm Krabben jeden Winkel des Hauses. Glatzkopf-Li und Song Gang, nicht ahnend, dass dies eine Haussuchung war, nahmen an, ein paar Freunde des Vaters seien vorbeigekommen. Sie freuten sich über den Besuch so vieler fremder Leute mit roten Armbinden und wuselten vergnügt und aufgeregt durch das Getümmel, als spielten sie Verstecken im Walde. Plötzlich gab es einen ohrenbetäubenden Knall, der sie vor Schreck erzittern ließ. Entsetzt sahen sie, dass der Kleiderschrank umgekippt worden war. Alle Kleider und der gesamte Inhalt der Schubladen waren auf dem Fußboden verstreut, und die Leute mit den Armbinden stocherten darin herum, als suchten sie auf einer Müllhalde nach etwas Brauchbarem.
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Song Fanpings ungebetene Gäste wussten, dass er aus einer Gutsbesitzerfamilie stammte, und waren überzeugt, er habe in der Hoffnung auf einen »Dynastiewechsel« irgendwo noch alte Grundbriefe versteckt, um seine Ansprüche irgendwann einmal geltend machen zu können. Auf der Suche danach nahmen sie sogar die Betten auseinander und wuchteten mit der Brechstange die Dielen hoch. Glatzkopf-Li und Song Gang hatten sich zu ihrem Vater geflüchtet, der lächelnd das wüste Treiben beobachtete. Es war den Kindern ein Rätsel, wie er trotz allem eine so heitere Miene zur Schau tragen konnte. Nachdem das Durchsuchungskommando das ganze Haus verwüstet hatte, ohne fündig geworden zu sein, machte sich einer nach dem anderen davon. Song Fanping, immer noch freundlich lächelnd, begleitete die Leute bis vor die Tür, als verabschiede er liebe Gäste. »Wollt ihr nicht einen Tee trinken, ehe ihr geht?«, redete er ihnen zu. Einer fauchte: »Kein Bedarf!« Lächelnd sah Song ihnen nach, bis sie am Ende der Gasse verschwunden waren. Immer noch lächelnd drehte er sich um, ging ins Haus und sank auf einen Hocker. Für die Kinder erst recht rätselhaft, ja sogar furchterregend, war im selben Moment das Lächeln aus seinem Gesicht verschwunden, als hätte es jemand wie eine Lampe ausgeknipst. Ganz grau sah er plötzlich aus. Nachdem der Vater lange Zeit dagesessen hatte, ohne sich zu rühren, näherten sich ihm die beiden Jungen und fragten zaghaft: »Gehen wir noch ans Meer?« Song Fanping schreckte auf, als erwache er aus einem Traum, antwortete jedoch ohne zu zögern: »Aber klar!« Er 130
deutete auf das strahlende Sonnenlicht, das durchs Fenster fiel, und fügte hinzu: »Das Wetter ist so herrlich, da müssen wir das unbedingt machen!« Dann zeigte er auf die Sachen, die im ganzen Zimmer verstreut lagen, und ordnete an: »Aber erst machen wir hier Ordnung!« Song Fanping stellte den Schrank auf, befestigte die Bettlatten und nagelte die Dielen wieder fest, während Glatzkopf-Li und Song Gang die Wäsche in den Schrank einordneten. Als wäre das Licht plötzlich wieder angegangen, lächelte der Vater jetzt wieder und brachte, ohne die Arbeit zu unterbrechen, auch die Kinder mit allerlei spaßigen Bemerkungen zum Lachen. Mittags war alles wieder ordentlich und sauber sogar sauberer als vorher. Nachdem die drei sich den Schweiß von der Stirn gewischt, sich den Staub von den Kleidern geklopft und ihre Haare vor dem Spiegel gekämmt hatten, wollten sie endlich zu ihrem Ausflug aufbrechen. Als sie jedoch die Tür öffneten, standen sieben oder acht Mittelschüler mit roten Armbinden davor, unter ihnen die drei, die Glatzkopf-Li und Song Gang die Plaketten mit dem Porträt des Vorsitzenden Mao weggenommen hatten. Die beiden Jungen wurden ganz aufgeregt, als sie sie erkannten. »Papa, das sind die drei, die unsere Plaketten geklaut haben! Du musst mit ihnen schimpfen!«, bestürmte Song Gang den Vater. Glatzkopf-Li schrie die drei Mittelschüler an: »Gebt sie wieder her! Gebt uns die Plaketten wieder!« Die Plakettendiebe schoben die beiden Kleinen höhnisch lachend zur Seite, und der langhaarige Sun Wei informierte
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Song Fanping: »Wir sind die Rote Garde und machen jetzt eine Haussuchung!« Mit einem Lächeln erwiderte Song: »Bitte schön! Kommt rein!« Glatzkopf-Li und Song Gang war es ein Rätsel, warum der Vater auch vor diesen Rotgardlern, die nun unter großem Getöse in das Haus einfielen wie ein Bienenschwarm, so katzbuckelte. Im Nu waren der eben wieder aufgestellte Schrank erneut umgekippt, die neu aufgelegten Latten aus den Betten wieder herausgerissen, die frisch genagelten Dielen abermals hochgestemmt und die so sorgfältig gefalteten und eingeordneten Kleidungsstücke wieder überall verstreut. Während aber die Leute aus Song Fanpings Schule, die am Morgen auf ebendiese Weise das Haus auf den Kopf gestellt hatten, jedes Buch und jedes Blatt Papier untersucht hatten, ob da nicht irgendwo ein Grundbrief versteckt wäre, erinnerten diese Rotgardler eher an Wölfe, die in den Schafstall, oder Hunde, die in den Hühnerstall eingedrungen sind. Sie schmetterten das Geschirr und die Töpfe auf den Boden, zerbrachen die Essstäbchen und stopften sich während der ganzen »Haussuchung« die Taschen voll mit Dingen, die ihnen brauchbar erschienen, wobei sie sich ungeniert darüber austauschten, was sie gerade erbeutet hatten. Nachdem die Rotgardler den ganzen Nachmittag lang ihrer Zerstörungswut und Raubgier freien Lauf gelassen hatten und es nichts mehr zu zerschlagen oder zu stehlen gab - ihre Taschen waren ohnehin so prall, dass gar nichts mehr hineingepasst hätte -, verließen sie fröhlich pfeifend das Haus. An der Tür drehte sich der Langhaarige noch einmal um und schrie Song Fanping an: »Du da, komm mal raus!«
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Ebendieser Sun Wei war es gewesen, der ein gutes Jahr zuvor, am Tag von Songs Hochzeit mit Li Lan, gemeinsam mit Liu Chenggong, Zhao Shengli und ihren Vätern jene wüste Schlägerei vom Zaun gebrochen hatte. Damals hatte Song Fanping mit seinem ausgestreckten Bein drei der Angreifer zu Fall gebracht und die drei Mittelschüler schwanken und taumeln lassen. Nun wollten sie sich rächen und demonstrieren, wie gut sie inzwischen den Beinfeger beherrschten. Song Fanping musste sich auf den freien Platz vor der Haustür stellen und zusehen, wie die drei Mittelschüler vor dem athletischen Mann erst ihre Aufwärmübungen machten und danach in die Hocke gingen und versuchten, das gestreckte rechte Bein kreisen zu lassen. Das misslang ihnen immer wieder. Entweder sie verloren das Gleichgewicht und plumpsten auf den Boden, oder sie streiften mit dem Fuß die Erde und wirbelten den Staub auf. Ihre Kumpane schüttelten den Kopf. »So ganz das Wahre ist das nicht«, meinten sie. »Sieht nicht aus wie ein richtiger Beinfeger.« »Wie sieht es denn aus?« »Keine Ahnung! Jedenfalls nicht wie ein Beinfeger.« Jetzt wandte sich der langhaarige Sun Wei an Song Fanping, der mit gesenktem Kopf unerschütterlich wie ein eiserner Turm dastand: »Du da! Sah das eben aus wie ein Beinfeger?« »Aussehen tat es schon so. Bloß, das Wesentliche hat gefehlt.« »Und was ist das Wesentliche? Dass du uns aber nicht anlügst!« Unversehens wurde Song Fanping zum Trainer der drei Mittelschü-
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ler. Zuerst forderte er sie auf, genau hinzuschauen, wie er es mache. Dann führte er ihnen den Beinfeger aus der Hocke zweimal vor. Die umstehenden Mittelschüler waren sich einig, so sei es richtig, und schnalzten mit der Zunge vor Bewunderung über seine Gelenkigkeit und Geschicklichkeit. Als Nächstes veranschaulichte Song den Bewegungsablauf noch einmal ganz langsam. Der Beinfeger, erklärte er, bestehe eigentlich nur aus drei Elementen - hinhocken, Bein kreisen lassen, sofort wieder aufrichten -, die aber organisch zu einer einzigen Bewegung verbunden werden müssten, daher sei Geschwindigkeit unabdingbar. Wichtig sei es auch, den Schwerpunkt nach vorn zu verlagern, denn nur so habe man genug Kraft, um sich mit beiden Händen kurz auf dem Boden abzustützen, während das Bein kreise. Anschließend ließ Song die Schüler üben. Immer wieder unterbrach er sie und machte vor, wie es richtig ging. Zum Schluss sagte er, ihre Bewegungen seien jetzt in Ordnung, nur das Tempo stimme noch nicht. »Das Ganze muss schnell ablaufen! Man darf gar nicht merken, dass das eigentlich drei Bewegungen sind. Diese Schnelligkeit aber, die kommt nicht über Nacht. Ihr müsst jeden Tag üben, so lange, bis man denkt, das alles eine einzige Bewegung ist. Erst dann habt ihr es geschafft!« Nachdem Song Fanping an diesem Nachmittag den drei Mittelschülern als geduldiger Trainer mit Wort und Tat den Beinfeger beigebracht hatte, fühlten diese sich fit genug, ihm zu beweisen, wie gut sie nun seien. Sie befahlen ihm strammzustehen, dann führte Zhao Shengli als Erster unter allgemeinem Beifall den Beinfeger aus der Hocke zunächst noch einmal allein vor, um danach im Ernst zu versuchen, Song 134
mit seinem kreisenden Bein zu Fall zu bringen. Der aber hielt wie ein Eisenturm dem Angriff stand, während Zhao selbst bäuchlings auf der Erde landete, Mund und Nase im Dreck. Großes Hohngelächter bei den Zuschauern. Als Nächster versuchte Liu Chenggong sein Glück. Ein prüfender Blick auf den hünenhaften Song verstärkte seine Befürchtung, er könnte womöglich ebenfalls aufs Maul fallen. Aber was war das? Der Kerl stand ja breitbeinig da! »Ich weiß, warum er nicht umgefallen ist!«, rief er triumphierend und befahl Song Fanping, die Füße nebeneinanderzustellen. Dann ging er in die Hocke, ließ aber vor lauter Angst, wie Zhao mit dem Gesicht im Dreck zu landen, nicht das Bein kreisen, sondern trat Song mit dem ausgestreckten Fuß voll vors Schienbein. Der Schmerz bewirkte, dass Song Fanping bedenklich wankte, dennoch hielt er sich aufrecht, was ihm den Beifall der Zuschauer eintrug. Der langhaarige Sun Wei war als Dritter an der Reihe. Er stellte sich hinter Song, mit dem Gesicht zu dessen Rücken, ging anschließend ungefähr zehn Meter rückwärts, nahm Anlauf wie beim Weitsprung und trat ihm schließlich mit voller Wucht in die Kniekehle. Wie vom Blitz gefällt brach Song in die Knie, woraufhin der Langhaarige sich selbst Beifall spendete: »Klasse!«, rief er und drehte sich stolz zu seinen Kumpanen um. »So muss man's machen!« Einer von den anderen Mittelschülern wandte ein: »Das war aber kein richtiger Beinfeger.« »Wieso denn nicht?«, rief Sun Wei und versetzte dem auf der Erde knienden Song Fanping einen Tritt. »Sag du's ihnen - war's einer?« Song nickte und sagte mit leiser Stimme: »Ja.« 135
Nachdem Song Fanping durch Sun Weis abgewandelten Beinfeger zu Fall gebracht worden war, zogen die Mittelschüler, ein - ebenfalls abgewandeltes - munteres Liedchen pfeifend, davon. Erst als sie weg waren, stand Song Fanping auf und wandte sich zu Glatzkopf-Li und Song Gang um. Sein leiblicher Sohn ließ den Kopf hängen und rieb sich stumm die Tränen aus den Augen, während der Stiefsohn ihn mit vor Schreck geweiteten Augen anstarrte. Beide waren völlig verstört. Wie konnte es sein, dass ihr Vater - für sie der stärkste Mann überhaupt - plötzlich wehrlos den Schikanen dieser Mittelschüler ausgeliefert war, als wäre er ein kleines Küken? Song Fanping klopfte sich den Schmutz von der Hose und sagte, als wäre gar nichts geschehen: »Kommt mal her, ihr beiden.« Song Gang, sich immer noch die Augen reibend, und Glatzkopf-Li, der sich am Kopf kratzte, wackelten zu ihm hin. »Na, wollt ihr auch den Beinfeger lernen?«, fragte der Vater. Die Kinder erschraken. Song sah sich nach allen Seiten um, dann hockte er sich vor ihnen hin und flüsterte verschwörerisch: »Wisst ihr, warum die mich nicht umlegen konnten? Es gibt einen Trick, den habe ich ihnen nicht gezeigt. Weil ich den nur euch beiden beibringen möchte!« Sofort vergaßen Glatzkopf-Li und Song Gang alles, was eben geschehen war. In ihrer freudigen Erregung jauchzten sie wieder auf wie am Vortag, woraufhin Song Fanping ihnen abermals erschrocken die Münder zuhielt. Die beiden schauten nach oben und sagten wie aus einem Munde: »Aber hier ist doch keine Decke!« 136
Der Vater sah sich abermals besorgt nach allen Seiten um. »Stimmt, eine Decke kann hier nicht hochgehen«, sagte er. »Aber die Leute sollen doch nicht mitkriegen, was ich euch beibringen will.« Das leuchtete den Kindern ein, und der Unterricht begann in völliger Stille. Zunächst mussten sich die beiden hinter Song Fanping aufstellen und all seine Bewegungen nachmachen, dann drehte er sich um und erklärte ihnen, worauf es besonders ankäme. Nach einer halben Stunde fand er, sie hätten es jetzt begriffen und könnten mit der praktischen Übung beginnen. Er stellte sich in Positur und ließ zuerst Glatzkopf-Li probieren, ihn zu Fall zu bringen. Der hockte sich neben ihn, streckte das Bein aus, ließ es kreisen - und schon saß der Vater auf seinen vier Buchstaben! Er stand wieder auf, und nun war Song Gang an der Reihe, der ebenso mühelos mit ihm fertig wurde wie der Bruder. Ächzend und stöhnend massierte Song Fanping seinen Hintern und klopfte sich den Staub von der Hose. »Ihr beide habt den Bogen raus!«, sagte er anerkennend. »Braucht keinen Gegner zu fürchten!« Anschließend halfen die Kinder dem Vater gut gelaunt beim Aufräumen der zum zweiten Mal verwüsteten Wohnung. Sie waren so glücklich über das neu erworbene Können und ihre dadurch erlangte Unbesiegbarkeit, dass ihnen die mühselige Arbeit überhaupt nichts ausmachte. Gemeinsam mit dem Vater stellten sie den Schrank wieder hin und legten die Bettlatten neu auf, lernten sogar, die Dielen wieder festzunageln. Dann sammelten sie die Scherben und zerbrochenen Essstäbchen auf und brachten sie auf den Müllhaufen vor dem Haus. So liefen sie geschäftig hin und her, bis ihnen plötzlich 137
einfiel, sie hatten ja den ganzen Tag noch nichts gegessen! Der Hunger ließ ihren Eifer schlagartig erlahmen, sie krochen aufs Bett und schliefen ein, kaum dass sie die Augen geschlossen hatten. Sie wussten nicht, wie lange sie geschlafen hatten, als der Vater sie weckte und ankündigte, dass das Essen fertig sei. Im Zimmer brannte jedenfalls schon das Licht. Song nahm die schlaftrunkenen Kinder auf den Arm - einen rechts, einen links - und trug sie zum Esstisch, auf dem wie am Vortag abermals nur eine Schüssel mit Pak-Choi und drei Schüsseln Reis standen. Die vier Schüsseln waren zum Glück der Zerstörung durch die Rotgardisten aus der Mittelschule entgangen, obwohl auch sie Sprünge und Scharten aufwiesen. Als die Kinder zu essen anfangen wollten, stellten sie fest, dass da keine Essstäbchen waren. Die hatten ja die Mittelschüler zerbrochen sie selbst hatten sie auf den Müll gebracht! Jetzt saßen sie da, die Schale mit dem verführerisch dampfenden Reis in der Hand, das appetitlich grüne Gemüse vor Augen, und wussten nicht, wie sie ohne Stäbchen ihr Essen in den Mund befördern sollten! Song Fanping, der schon aufgestanden war, um die vergessenen Essstäbchen zu holen, blieb abrupt stehen, als auch ihm einfiel, dass es keine mehr gab. Im trüben Licht der Lampe warf er einen riesigen Schatten auf die Wand; sein Kopf war groß wie eine Waschschüssel. Einen Moment stand er bewegungslos da, dann drehte er sich geheimnisvoll lächelnd zu den Kindern um. »Habt ihr schon mal die Essstäbchen unserer Vorfahren gesehen?«, fragte er die Söhne. Die schüttelten den Kopf. »Was waren das für Stäbchen?«, fragten sie. Ihre Neugier war erwacht. 138
Song Fanping lachte und ging zur Tür. »Wartet einen Moment, ich hole sie«, sagte er. Dann schlich er sich auf Zehenspitzen hinaus und machte sorgfältig die Tür hinter sich zu. Er tat so geheimnisvoll, als bräche er tatsächlich zu einer Reise in die Vorzeit auf. Die Kinder sahen einander ganz perplex an: Wie würde er es wohl anstellen, Essstäbchen von den Vorfahren herbeizuschaffen? ... Was für einen tollen Vater sie doch hatten! Nach einer Weile wurde die Tür aufgestoßen und Song Fanping erschien, verschmitzt lächelnd, beide Hände hinter dem Rücken versteckt. Die Kinder fragten: »Und? Hast du die Stäbchen von den Vorfahren?« Er nickte und kam zum Tisch. Erst als er saß, zeigte er den Söhnen, was er in den Händen hielt - ein Paar Essstäbchen für jeden. Die Jungen betrachteten sie eingehend: Von der Länge her unterschieden sich die Stäbchen nicht von denen, die sie kannten, bloß dass sie unterschiedlich dick waren und irgendwie knotig, manche auch ein bisschen krumm. Glatzkopf-Li kam zuerst die Erleuchtung: »Das sind Zweige!«, rief er. Song Gang, der es auch gemerkt hatte, fragte den Vater: »Wieso sehen die Essstäbchen der Vorfahren aus wie Zweige?« »Weil es Zweige sind! Damals gab es noch keine Essstäbchen. Unsere Vorfahren nahmen stattdessen Zweige.« Aha, so war das also! Neugierig griffen die Kinder zu den von Song Fanping gerade erst abgebrochenen Zweigen und begannen, damit zu essen. Der leicht bittere Geschmack zog ihnen anfangs den Mund zusammen, aber sonst taugten die Essstäbchen der Vorfahren hervorragend auch für Speisen 139
von heute. Jedenfalls langten die bei den herzhaft zu, bis sie schließlich satt und ermattet waren und aufgestoßen hatten. Jetzt erst wurde ihnen bewusst, dass es draußen schon dunkel war. Dabei hatten sie doch einen Ausflug machen wollen! Es war weder windig noch regnerisch gewesen, und die Sonne hatte den ganzen Tag so hell geschienen, dass man nur blinzeln konnte - dennoch waren sie nicht am Meer gewesen! Song Fanping, der die betrübten Gesichter der Jungen sah, fragte, ob ihnen die Essstäbchen der Vorfahren vielleicht doch nicht gefielen. Sie schüttelten den Kopf. »Die sind schon in Ordnung. Aber ans Meer kommen wir heute nicht!«, klagte Song Gang. Der Vater erwiderte lachend: »Wer sagt denn das?« »Die Sonne ist doch schon weg«, meinte Glatzkopf-Li. »Dafür scheint aber der Mond!«, entgegnete Song Fanping. Bei strahlendem Sonnenschein hatten sie am Morgen aufbrechen wollen, jetzt endlich, in der kühlen Mondnacht, nahm Song seine Söhne an der Hand, einen rechts, einen links, und machte sich mit ihnen auf den Weg. Als sie nach einem langen Marsch auf mondhellen Straßen zum Meer kamen, stieg gerade die Flut, und die Brandung donnerte an die Küste. Auf dem Deich, wo sich zu dieser Stunde außer ihnen kein Mensch aufhielt, wehte eine kühle Brise. Von hier aus wirkte die Gischt der heranrollenden Brecher wie ein lang gezogener heller Streifen, der sich bald grau verfärbte, bald ins Schwärzliche spielte. Die Sicht war mal gut, dann wieder schlechter, je nachdem, ob der Mond hinter Wolken versteckt war oder nicht. 140
Unwillkürlich jauchzten die Kinder laut auf, als sie das Meer erblickten, sahen sie es doch zum ersten Mal bei Nacht und fanden es ungeheuer aufregend, wie es sich auf geheimnisvolle Weise unablässig zu verändern schien. Diesmal hielt ihnen Song Fanping nicht den Mund zu, sondern streichelte ihnen übers Haar und ließ sie nach Herzenslust jauchzen, während er selber gedankenverloren in die Dunkelheit über der See starrte. Dann ließen sich alle drei auf dem Deich nieder, inmitten des Tosens von Wind und Wellen, über sich den bleichen Mond hinter Wolkenfetzen, vor sich die in der Dunkelheit immer wieder näher kommende und sich gleich wieder zurückziehende See. Mit der Zeit wurde den Kindern dieses nächtliche Meer unheimlich, und sie schmiegten sich eng an den Vater, der schützend seine Arme um sie legte. Niemand weiß, wie lange die drei dort sitzen blieben. Am Ende schliefen die beiden Jungen ein, und Song Fanping trug sie nach Hause, einen an der Brust, einen auf dem Rücken. XI Es wurden von Tag zu Tag mehr »Versammlungen für Kritik und Kampf« in unserer kleinen Stadt Liuzhen abgehalten; auf dem Sportplatz der Mittelschule, wo sie stattfanden, herrschte vom frühen Morgen bis zum späten Abend ein Betrieb wie beim Tempelfest. In aller Frühe ging Song Fanping mit der bewussten Holztafel von zu Hause los. Am Schultor angekommen, hängte er sie sich um den Hals und blieb mit gesenktem Kopf so lange dort stehen, bis alle Teilnehmer an der Kritik-Versammlung an ihm vorbei das Tor passiert hatten. Dann nahm er die Ta141
fel ab, griff zum Besen und begann, die Straße vor der Schule zu kehren. War eine Versammlung zu Ende, hängte er sich die Tafel wieder um und stellte sich mit gesenktem Kopf in Erwartung der herausströmenden Teilnehmer neben das Tor, um sich von ihnen treten, beschimpfen und anspucken zu lassen, was er ohne ein einziges Widerwort über sich ergehen ließ, so unsanft er auch hin- und hergeschubst wurde. Anschließend begann dann auch schon die nächste Kritikund Kampf-Versammlung. Erst nach Einbruch der Dunkelheit, wenn er sich sicher war, dass niemand mehr auf dem Schulsportplatz war, ging er mit Holztafel und Besen nach Hause. Glatzkopf-Li und Song Gang hörten an seinen schweren Schritten, dass der Vater sich näherte. Todmüde kam er zur Tür herein und ließ sich stumm auf einen Hocker fallen. Nach einer Weile wusch er mit Wasser aus dem Brunnen erst sein Gesicht und wischte danach mit einem Lappen den Staub, die Spuren diverser Fußtritte und die Spucke zahlloser Kinder von der Holztafel. Währenddessen waren die Söhne mucksmäuschenstill und warteten geduldig, bis der Vater fertig war, wussten sie doch aus Erfahrung, er würde ein anderer Mensch sein und mit ihnen lachen und lustig sein, sobald er selbst und die Tafel wieder sauber waren. Die Kinder hatten, wie schon gesagt, keine Ahnung, was die Aufschrift »Grundbesitzer Song Fanping« auf der Tafel bedeutete, doch war ihnen sehr wohl bewusst, welch verhängnisvolle Folgen das Auftauchen dieser fünf Schriftzeichen hatte: Vorher hatte der Vater auf der Brücke in Glanz und Gloria das rote Banner geschwenkt, jetzt konnte jeder Rotzbengel ihn anspucken und anpinkeln. Schließlich fassten sich 142
die bei den ein Herz und fragten ihn: »Was bedeuten eigent1ich diese Schriftzeichen?« Song Fanping, der gerade die Holztafel abwischte, stutzte. Dann lachte er auf und sagte: »Ihr kommt ja im Herbst sowieso in die Schule, da kann ich euch schon mal ein bisschen Lesen beibringen. Fangen wir also mit diesen fünf Zeichen an!« Für die Jungen begann nun die erste Unterrichtsstunde ihres Lebens. Zunächst hielt der Vater sie an, gerade zu sitzen und die Hände ordentlich vor sich auf den Tisch zu legen. Anschließend hängte er die Holztafel an die Wand und holte eins von den »Essstäbchen unserer Vorfahren«. All diese Vorbereitungen auf die Lesestunde nahmen fast dreißig Minuten in Anspruch, während deren die Spannung der Kinder ins Unermessliche wuchs. Song Fanping stellte sich vor die Holztafel, räusperte sich und begann: »Wir fangen jetzt mit dem Unterricht an! Vorab zwei Regeln zur Disziplin: Erstens, es wird nicht herumgezappelt! Zweitens, wer etwas sagen möchte, muss sich melden!« Dann zeigte er mit dem» Essstäbchen« auf das erste der fünf Schriftzeichen, das für »Erde, Boden, Grund« steht. »Dieses Zeichen«, sagte er, »liest sich di. Überlegt mal, was es wohl bedeutet. Wer von euch kann mir das sagen?« Während Song Fanping auf das Schriftzeichen deutete, trat er mit dem Fuß fest auf den Boden und gab den Kindern zugleich mit den Augen einen kleinen Wink. Glatzkopf-Li kam Song Gang zuvor. Er zeigte auf den Fußboden und rief: »Ich weiß es!«
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»Moment!«, unterbrach ihn der Vater. »Wer etwas zu sagen hat, meldet sich gefälligst!« Glatzkopf-Li hob folgsam den Arm und sprudelte los: »Da unten, das ist die Erde, du stehst auf der Erde - di heißt also >Erde<.« »Richtig! Du bist ein gescheites Kerlchen.« Anschließend zeigte Song auf das zweite Zeichen, das »Herr, Leiter, Besitzer« und auch »Haupt-, Wichtigster« bedeutet. »Das hier ist ein bisschen schwieriger, es liest sich zhu«, sagte er. »Denkt mal nach, ob ihr das nicht schon mal gehört habt!« Wieder meldete sich Glatzkopf-Li schneller als der Bruder, aber diesmal ließ ihn der Vater nicht antworten. »Eben durftest du als Erster reden«, sagte er, »jetzt ist dein Bruder an der Reihe. Song Gang, überleg mal: Woher kennst du dieses Schriftzeichen zhu?« Song Gang sagte zögernd: »Ist das vielleicht das zhu von Mao zhuxi?« »Genau! Das ist das zhu, das in >der Vorsitzende Mao< vorkommt. Du bist wirklich ein kluges Kerlchen!« Glatzkopf-Li beschwerte sich: »Er hat sich aber nicht gemeldet!« Song Fanping sagte zu Song Gang: »Richtig, du hast dich eben nicht gemeldet. Hol das bitte jetzt nach!« Während Song Gang eilig den Arm hob, fragte er besorgt: »Aber ist das nicht zu spät, wenn ich mich jetzt erst melde?« Da lachte der Vater herzlich. »Das ist schon in Ordnung«, sagte er. An diesem Abend lernten die Kinder fünf Schriftzeichen: di, also »die Erde« von »auf der Erde«; zhu, das erste von den zwei Zeichen für »Vorsitzender« (eigentlich: »die Person, die auf dem Haupt-Platz sitzt«), die sie jeden Tag in Verbindung mit dem Namen Mao - »der Vorsitzende Mao« 144
(Mao zhuxi) - hörten; und schließlich die drei Schriftzeichen song, fan und ping, die den Namen des Vaters ergaben. In ihrer kindlichen Vorstellung verbanden sie sich zu etwas Ähnlichem wie »der Vorsitzende Mao auf der Erde ist Song Fanping«. Tag für Tag zog Song mit seiner großen Holztafel morgens los, um erst spätabends wieder heimzukehren - nicht viel anders als die Gemüseverkäuferinnen, die ihre Körbe morgens auf den Markt und abends wieder nach Hause schleppten. Unterdessen trieben sich Glatzkopf-Li und Song Gang nach wie vor den ganzen Tag auf den Straßen herum und lernten die Stadt auf diese Weise gründlich kennen. Wohin die Bewohner unserer kleinen Stadt je ihren Fuß gesetzt hatten, dorthin gingen auch sie, und sogar da, wo sonst nur Hühner, Enten, Katzen oder Hunde hinkamen, kannten sie sich aus. Nach wie vor waren die Straßen, auf denen unzählige rote Fahnen wehten, von so vielen Menschen bevölkert, als wäre immerzu gerade eine Kinovorstellung zu Ende. Auch die Zahl der Leute mit Schandmützen und umgehängten Holztafeln nahm immer mehr zu. Nachdem Song Fanping anfangs die Straße vor der Mittelschule allein gefegt hatte, gesellten sich sehr bald zwei weitere Lehrer zu ihm. Zu dritt standen sie nun mit gesenkten Köpfen vor dem Schultor. Auf der Tafel des einen der beiden Neuankömmlinge eines älteren Mannes, dünn und bebrillt - standen, wie auf Songs Tafel, auch die beiden Schriftzeichen di und zhu (dizhu = »Grundbesitzer«). Als sie das sahen, schnatterten die beiden Jungen aufgeregt los: »Oh, du bist ja auch der Vorsitzende Mao auf der Erde!«
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Der Mann wurde bei diesen Worten totenbleich. Vor Angst zitternd stammelte er: »Ich bin Grundbesitzer, bin ein schlechter Mensch! Schlagt mich ruhig! Beschimpft mich! Kritisiert mich und bekämpft mich!« Auf ihren Streifzügen durch die Straßen sahen Glatzkopf-Li und Song Gang öfter die Mittelschüler Sun, Zhao und Liu unter einer Platane den Beinfeger üben. Den Baum umfassend, drehten sie fast täglich dort mit gestrecktem Bein ihre Kreise. Sun Wei, der Langhaarige, brachte mit fliegender Mähne eine fast zirkusreife 360-Grad-Drehung um die Platane zustande, während Zhao Shengli und Liu Chenggong höchstens eine halbe Drehung schafften, ehe sie entweder mit dem Hintern auf der Erde landeten oder das gestreckte Bein nicht mehr hochhalten konnten. Folglich machten sie Sun Wei zu ihrem Trainer. Mit den Fingern seine Haarpracht bändigend, wiederholte er, was Song Fanping seinerzeit gesagt hatte: »Schnell müsst ihr sein! Noch schneller! So schnell, dass man nicht erkennt, dass es eigentlich drei Bewegungen sind. Es muss aussehen wie eine einzige Bewegung...« Glatzkopf-Li und Song Gang hatten nur Verachtung für das ungelenke Gehampel der drei, wussten sie doch, denen fehlte der entscheidende Trick zum perfekten Beinfeger, ein Trick, über den sie - Glatzkopf-Li und Song Gang - allein verfügten, da ihr Vater ihn damals diesen Mittelschülern vorenthalten und nur ihnen, seinen Söhnen, beigebracht hatte. Deshalb konnten sie ihre Heiterkeit kaum verbergen, wenn sie Hand in Hand an den dreien vorbeikamen. Die waren aber so in ihre Übungen vertieft, dass sie es gar nicht mitbekamen, wie
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die beiden Rotznasen sich mehr oder minder unverhohlen über sie lustig machten. Inzwischen war der Langhaarige dazu übergegangen, eine doppelte Drehung um die Platane zu üben (der Mensch soll sich ja nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen ... ). Dabei war er einmal so schnell geworden, dass es ihn aus der Umlaufbahn trug und er der Länge nach in den Schmutz flog. GlatzkopfLi und Song Gang, die das zufällig beobachtet hatten, prusteten los, woraufhin die drei Mittelschüler sich unverzüglich mit grimmigen Gesichtern vor ihnen aufbauten; Sun Wei nahm sich nicht einmal die Zeit sich abzuputzen. »Was gibt's hier zu lachen, ihr Hosenscheißer? «, schnauzte er drohend. Die beiden Jungen aber ließen überhaupt keine Angst erkennen. Song Gang sah zu Sun auf und antwortete keck: »Über deinen Beinfeger haben wir gelacht.« »Habt ihr das gehört?« Der Langhaarige sah seine Kumpane ungläubig an. »Die machen sich über meinen Beinfeger lustig!« »Was der so Beinfeger nennt!«, sagte Song Gang geringschätzig zu Glatzkopf-Li. Glatzkopf-Li kicherte. »Genau!« Die drei Mittelschüler wussten nicht, was sie von der Überheblichkeit der beiden Kleinen halten sollten. »Was soll'n der Scheiß!«, riefen Sie. Da tönte Song Gang: »Damit ihr's bloß wisst: Es gibt einen Trick, den hat Papa euch nicht gezeigt, dabei ist er am wichtigsten. Uns hat er ihn aber beigebracht!«
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»Verdammte Scheiße!«, fluchte der Langhaarige. »Willst du damit sagen, du kannst den Beinfeger auch?« Song Gang nickte und zeigte auf den Bruder: »Beide können wir ihn!« Die drei Mittelschüler hielten sich den Bauch vor Lachen. »Ihr wollt den Beinfeger können? Seid doch viel zu klein! Nicht mal so lang wie unsere Schwänze seid ihr!« Sun Wei befahl: »Mach mal vor!« Song Gang ließ sich nicht zweimal bitten. »Stell dich auf«, sagte er. Der Langhaarige staunte. »Der will, dass ich mich aufstelle«, sagte er ungläubig grinsend zu seinen Kumpanen. »Verdammt noch mal, glaubt der vielleicht, er kann mich umlegen?« Inmitten allgemeiner Heiterkeit stellte er sich aber doch in Positur, erst mit gegrätschten, dann mit geschlossenen Beinen und schließlich auf einem Bein. »Wie soll ich mich denn nun hinstellen?«, fragte er Song Gang. Der zeigte auf den Boden und antwortete: »Mit beiden Beinen auf der Erde.« Während Sun Wei höchst amüsiert Song Gangs Anweisung Folge leistete, fragte dieser den Bruder: »Soll ich erst? Oder willst du?« Glatzkopf-Li hatte irgendwie ein mulmiges Gefühl. »Mach du mal!«, sagte er. Song Gang ging ein paar Schritte rückwärts, nahm Anlauf und »fegte« das Bein des feixenden Langhaarigen, dem das überhaupt nichts auszumachen schien - es war, als hätte ein Hase mit seinem Pfötchen nach einem Hund getreten. Song Gang dagegen rollte wie ein Gummiball durch den Schmutz. Er rappelte sich auf und schaute verwirrt zu Glatzkopf-Li hinüber: Was war denn das gewesen? Im Gegensatz zu seinem 148
ahnungslosen Bruder war Glatzkopf-Li sofort im Bilde, was es mit Song Gangs Beinfeger auf sich hatte. Bei dem Hohngelächter der drei Mittelschüler schwante ihm nichts Gutes. Grinsend hob der Langhaarige das Bein, fegte mit einer gekonnten Drehung Song Gang so mühelos beiseite, dass der einen Purzelbaum schlug, und sagte zu Glatzkopf-Li: »Hoffentlich hast du gut zugeguckt! So sieht nämlich ein Beinfeger aus.« Sprach's, und probierte seinen Beinfeger gleich noch einmal aus - diesmal an Glatzkopf-Li, der prompt ebenfalls einen Sturz hinlegte. Schleunigst nahmen die beiden vor den Mittelschülern Reißaus. Die machten sich jedoch eine Gaudi daraus, sie zu verfolgen wie drei Straßenköter zwei Küken. Ein ums andere Mal schleuderten sie Glatzkopf-Li und Song Gang mit ihren Beinfegern durch die Luft. Kaum hatten die sich aufgerappelt, da lagen sie schon wieder mit dem Gesicht im Schmutz. Die drei Verfolger amüsierten sich königlich und feuerten sich gegenseitig zu immer neuen Heldentaten an. Plötzlich rief der langhaarige Sun Wei: »Los, wir probieren jetzt mal einen Kombi-Beinfeger!« Ein Kombi-Beinfeger? Nun, das war nichts anderes als ein Beinfeger, mit dem Glatzkopf-Li und Song Gang gleichzeitig zur Strecke gebracht wurden. Jetzt fielen sie also gleichzeitig in den Dreck und schürften sich nicht nur Gesicht und Hände auf, sondern stießen zu allem Überfluss auch noch mit den Köpfen zusammen, und zwar so heftig, dass sie Sterne sahen und ihnen der Schädel dröhnte wie ein tuckernder Traktorenmotor. Ein paar Vertreter der revolutionären Volksmassen unserer kleinen Stadt Liuzhen, die Zeugen wurden, wie drei Mittelschüler zwei Vorschulkinder schikanierten, stellten Erstere 149
empört zur Rede. Ob sie sich nicht schämten! Sie benähmen sich ja nicht anders als die Kriegsherren in der alten Gesellschaft: Die Großen quälen die Kleinen, die Starken misshandeln die Schwachen - eine Schande! Feige, wie sie waren, gaben Zhao Shengli und Liu Chenggong keinen Mucks von sich. Der langhaarige Sun Wei jedoch war auch diesmal nicht um eine Ausrede verlegen: »Das sind doch die Söhne von Song Fanping, dem Grundbesitzer!«, sagte er. »Kleine Grundbesitzer sind das!« Da verstummten die Vertreter der revolutionären Massen und sahen untätig zu, wie Glatzkopf-Li und Song Gang immer wieder auf die Nase flogen und mit den Köpfen zusammenstießen, bis sie am Ende liegen blieben, unfähig, sich ein weiteres Mal aufzuraffen. Ihre drei Peiniger, mittlerweile selbst verschwitzt und außer Puste, umringten sie und schrien sie schadenfroh wiehernd an, sie sollten gefälligst wieder aufstehen, aber Glatzkopf-Li und Song Gang hatten nicht mehr die Kraft dazu. »Wir bleiben lieber liegen«, murmelten sie. Im selben Moment ging ihnen schlagartig auf, dass dies ja überhaupt die beste - und einzige! - Art war, sich den Beinfegern der drei Mittelschüler zu entziehen! Einfach liegen bleiben! Mochten die drei sie ruhig treten und anbrüllen oder sonstwie einschüchtern, sie würden nicht aufstehen! Schließlich versuchten die drei es mit einem Trick: »Wenn ihr aufsteht, hören wir mit den Beinfegern auf!« Glatzkopf-Li und Song Gang gingen ihnen jedoch nicht auf den Leim und blieben liegen. Der Langhaarige zeigte auf einen hölzernen Strom mast in der Nähe und sagte lockend zu
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Glatzkopf-Li: »Was ist mit deinem Geschlechtstrieb, Kleiner? Na los, geh schon hin!« Glatzkopf-Li schüttelte den Kopf und sagte: »Hab jetzt keinen Geschlechtstrieb.« Auch Zhao Shengli und Liu Chenggong ermunterten ihn: »Geh und reib dich ein bisschen, dann kommt er dir schon.« Glatzkopf-Li blieb bei seiner Weigerung: »Heute nicht. Reibt euch doch selbst, dass ihr den Geschlechtstrieb kriegt.« »Verdammte Scheiße!«, schimpften die drei. »Was sind das für beschissene kleine Arschlöcher!« Der Langhaarige schlug vor: »Stellen wir doch die bei den Arschlöcher einfach auf, dann können wir weitermachen!« Gerade wollten die beiden anderen diesen Vorschlag in die Tat umsetzen, da trat als Retter der Bedrängten der revolutionäre Schmied Tong auf den Plan. »Hände weg!«, brüllte er. Die Donnerstimme des Schmieds ließ die drei Mittelschüler vor Schreck erzittern. »Aber das sind doch kleine Grundbesitzer ... «, stammelte Sun Wei. »Was heißt hier kleine Grundbesitzer?«, entgegnete Schmied Tang. »Blumen des Vaterlands sind sie!« Der Langhaarige wagte nicht, dem hünenhaften Schmied zu widersprechen, zumal dessen Wortwahl ja dem parteioffiziellen Sprachgebrauch entsprach. Der Schmied zeigte jetzt auf ihn und die bei den anderen Mittelschüler und sagte: »Und ihr, ihr seid auch Blumen des Vaterlands!« Die drei sahen einander an, prusteten los und machten sich davon.
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Schmied Tang sah ihnen einen Moment nach, warf einen Blick auf Glatzkopf-Li und Song Gang, immer noch auf der Erde, drehte sich um und ging gemessenen Schrittes ebenfalls davon. Im Gehen wiederholte er noch einmal laut und vernehmlich: »Alle Kinder sind Blumen des Vaterlandes!« Glatzkopf-Li und Song Gang richteten sich mühsam auf und blickten einander an. Beider Gesichter waren völlig zerschunden. Song Gang beschäftigte vor allem die Frage, wieso er den Langhaarigen mit seinem Beinfeger nicht zu Fall gebracht hatte. Ob der Bruder ihm das wohl erklären könne? Könnte es sein, dass er den entscheidenden Trick doch nicht angewendet habe? Glatzkopf-Li fuhr ihn wütend an: »Es gibt gar keinen entscheidenden Trick! Dein Papa hat uns was vorgemacht.« Song Gang schüttelte seinen verbeulten Kopf und sagte: »Seine Söhne hinters Licht führen, das würde er nie tun. Er ist doch unser Papa!« »Dein Papa ist er, nicht meiner!«, schrie Glatzkopf-Li. Nachdem sie sich eine Weile gestritten hatten, wischte sich Song Gang Rotz und Tränen ab und sagte: »Komm, wir gehen hin und fragen ihn selbst!« Als die Kinder an der Mittelschule ankamen, war gerade eine Kritikund Kampf-Versammlung zu Ende gegangen. Song Fanping und die bei den anderen Männer standen mit umgehängten Holztafeln und gesenkten Köpfen am Tor, umringt von zahlreichen Schülern, die gerade herausgekommen waren und, angespornt von mehreren Armbindenträgern, Slogans gegen die drei »Grundbesitzer« schrien. Die Kinder konnten nicht wissen, dass die eben zu Ende gegangene große Kritik- und Kampf-Versammlung jetzt hier draußen mit 152
einer kleinen Kritik- und Kampf-Versammlung fortgesetzt wurde. Sie zwängten sich zwischen den dicht gedrängten Schülern durch, bis sie zu Song Fanping vorgedrungen waren. Song Gang zupfte ihn an der Jacke und sagte: »Papa, den entscheidenden Trick beim Beinfeger, den hast du uns doch beigebracht, stimmt's?« Als vom Vater keine Antwort kam und dieser weiter mit tief gesenktem Kopf stumm dastand, fühlte sich Song Gang so gekränkt, dass er in Tränen ausbrach und ihn - den eigenen Vater! - schubste. »Papa!«, rief er. »So sag doch GlatzkopfLi endlich, dass es stimmt! ... « Song Fanping reagierte immer noch nicht. Da rief Glatzkopf-Li: »Du hast uns belogen! Du hast uns den Beinfeger nicht richtig gezeigt! ... Außerdem hast du uns bei den Schriftzeichen auf der Tafel belogen. Da steht >Grundbesitzer< drauf, und nicht >der Vorsitzende Mao auf der Erde<, wie du gesagt hast!« Glatzkopf-Li hatte nicht geahnt, welch verhängnisvolle Folgen seine Worte haben würden. Was jetzt geschah, versetzte ihn in Angst und Schrecken. Die Leute mit den roten Armbinden stutzten kurz, dann fielen sie mit Fausthieben und Fußtritten über Song Fanping her und schlugen ihn halb tot. Sie trampelten auf dem am Boden Liegenden herum und brüllten, er solle endlich seine Schuld gestehen, seine niederträchtigen Angriffe auf den Großen Führer, den Großen Lehrer, den Großen Befehlshaber, den Großen Steuermann den Vorsitzenden Mao! Glatzkopf-Li hatte noch nie einen so grässlich zugerichteten Menschen gesehen. Mit blutüberströmtem Gesicht - selbst die Haare waren von Blut gerötet - lag Song Fanping da, hilf153
los seinen Peinigern ausgeliefert. Zahlreiche Erwachsene und auch Kinder traten den Wehrlosen mit Füßen, als wäre er kein Mensch, sondern eine Treppe. Song Fanping versuchte nicht, sich den Tritten zu entziehen, nur seine Augen bewegten sich: Er suchte die Kinder. Als er Glatzkopf-Lis Blick begegnete, kam es diesem vor, als wolle der Vater ihm mit den Augen etwas sagen. Den Jungen befiel ein Grausen. Einen Augenblick später wurde er jedoch weggedrängt, sodass er ihn nicht mehr sehen konnte, nur noch den Bruder, der sich weinend zu seinem Vater vorarbeitete, um alsbald wieder zurückgedrängt zu werden. Dem achtjährigen Song Gang fiel außer Weinen und Schluchzen nichts Besseres ein, als sich mit aller Kraft immer wieder durchzudrängeln, doch je größer die Menge der Zuschauer wurde, desto mehr wuchs die Entfernung von seinem Vater. Am Ende kam aus Song Gangs weit aufgerissenem Mund kein Ton mehr. Tränenüberströmt, das Gesicht rotzverschmiert, bewegte er die Lippen, als riefe er Glatzkopf-Li etwas zu, aber der hörte überhaupt nichts. Als Song Gang merkte, dass er mit seinem Gebrüll nichts ausrichtete, versetzte er Glatzkopf-Li einen Faustschlag. Der revanchierte sich ebenfalls mit einem Fausthieb. Wie beim Poker, wo ein Spieler immer wieder die Karten des anderen übertrumpft, versetzten die beiden Jungen einander abwechselnd Faustschläge. Insgesamt waren es sechsunddreißig. XII Song Fanping wurde, nachdem man ihn brutal zusammengeschlagen hatte, in einem großen Gebäude, einer Art Speicher, gefangengesetzt. In der darauffolgenden Woche wech154
selte Song Gang kein Wort mit Glatzkopf-Li. Er sprach überhaupt nicht mehr, konnte es gar nicht, denn seitdem er an jenem Tag so verzweifelt geschluchzt und geschrien hatte, war seine entzündete Kehle wie zugeschwollen. Keinen Ton brachte er hervor, nur noch sabbern konnte er. Glatzkopf-Li war sich bewusst, dass er es war, der mit seinen »entlarvenden« Worten den Vater hinter Schloss und Riegel gebracht hatte. Im Schlaf sah er immer wieder die Szene vor sich, wie Song Fanping, am Boden liegend und den Tritten seiner Peiniger wehrlos ausgeliefert, mit den Augen angstvoll nach ihm und Song Gang gesucht hatte. So schwer ihm ums Herz war, nach außen hin gab er sich dennoch betont taff und machte sich sogar noch lustig über den Bruder. Wie ein After sei dessen Mund, spottete er, weil nur laut entweichende Luft herauskäme. Er war jetzt sehr einsam. Allein stromerte er durch die Straßen, allein ruhte er sich im Schatten der Bäume aus, allein hockte er sich am Fluss hin, um mit den Händen einen Schluck Wasser zu schöpfen, allein redete er mit sich selbst ... Er stellte sich an den Straßenrand und wartete, hoffte, ein gleichaltriger Junge, ebenso einsam wie er, würde des Weges kommen. Der Schweiß brach ihm aus und wurde von der Sonne wieder getrocknet, einmal und noch einmal, aber er sah nur Demonstranten und ihre roten Fahnen, keinen zweiten einsamen kleinen Jungen. Alle Kinder seines Alters, die er ausmachte, liefen an der Hand ihrer Mutter an ihm vorbei. Keiner redete mit ihm, keiner würdigte ihn auch nur eines Blickes, höchstens einmal jemand, der ihn im Vorbeigehen versehentlich angerempelt oder beim Ausspucken seinen Fuß getroffen hatte. 155
Einzig und allein jene drei Mittelschüler interessierten sich für ihn. Wenn sie ihn sahen, riefen sie ihm schon von weitem fröhlich winkend zu: »Hey, Knirps! Wie steht's mit deinem Geschlechtstrieb? Na los, mach schon, reib dich!« Glatzkopf-Li wusste genau, sie wollten nur wieder den Beinfeger an ihm ausprobieren, damit er sich vor Angst in die Hose machte und hinterher sein Gesicht wieder grün und blau geschwollen war. Deswegen rannte er fort, so schnell er konnte. Die drei Mittelschüler fanden das urkomisch und johlten hinter ihm her: »Brauchst nicht wegzulaufen, wir tun dir nichts!« Den ganzen Sommer lang war Glatzkopf-Li auf der Flucht vor den drei Mittelschülern und ihren Beinfegern. Immer wieder rannte er vor ihnen davon, immer wieder stolperte er und rappelte sich wieder auf. Seine schmerzenden achtjährigen Beine drohten unter ihm wegzubrechen, seine achtjährige Lunge schien zu glühen, so heiß war sein Atem, sein achtjähriges Herz klopfte so wild, als wollte es zerspringen - der ganze achtjährige Junge war mehr tot als lebendig von der Hetzjagd, die die drei immer wieder mit ihm veranstalteten. Jedes Mal war er am Ende seiner Kräfte, wenn er sich schließlich in die Gasse rettete, in der Schmied Tong, Schneider Zhang, die beiden Scherenschleifer Guan und Zahnreißer Yu - inzwischen zum revolutionären Schmied, revolutionären Schneider, revolutionären Scherenschleifer beziehungsweise revolutionären Zahnreißer mutiert - ihrem jeweiligen Gewerbe nachgingen. Wenn ein potenzieller Kunde mit dem Stoff für ein Kleidungsstück die Schneiderwerkstatt betrat, vernahm ihn 156
Schneider Zhang zunächst zu seiner klassenmäßigen Herkunft. Handelte es sich um einen »armen Bauern«, bediente er ihn zuvorkommend. Bei einem »Mittelbauern« nahm er immerhin noch den Stoff ab und den Auftrag an. War der Betreffende jedoch ein »Grundbesitzer«, riss Schneider Zhang sofort die Faust hoch, brüllte ein paar revolutionäre Parolen und schrie dem vor Angst schlotternden, mit seinem Stoff davoneilenden Grundbesitzer-Kunden von der Ladentür aus hinterher: »Dir würde ich höchstens das allerschäbigste Totenhemd nähen, äh, das allerschäbigste Leichentuch!« Das Revolutionäre Bewusstsein von Guan dem Älteren und Guan dem Jüngeren, den beiden Scherenschleifern, war noch höher als das des Schneiders: Von armen Bauern nahmen sie kein Geld, Mittelbauern knöpften sie einen Wucherpreis ab, und Grundbesitzer vergraulten auch sie von vornherein. Dem Hals über Kopf davonstürzenden GrundbesitzerKunden riefen sie, mit hoch erhobenen Scheren schnipp, schnapp die Luft zerschneidend, von der Tür ihrer Werkstatt aus nach: »Wart nur, wir machen aus dir eine schwanzlose alte Grundbesitzer- Vettel!« Zahnreißer Yu war ein revolutionärer Opportunist. Er befragte seine Kunden nicht zu ihrer Klassenzugehörigkeit, wenn sie zu ihm kamen, und holte das Verhör auch nicht nach, wenn sie sich auf der Korbliege, die als Behandlungsstuhl diente, ausgestreckt hatten. Selbst wenn sie schon den Mund aufrissen, damit er den kranken Zahn sehen konnte, interessierte er sich immer noch nicht für ihre klassen mäßige Herkunft. Zahnreißer Yu wollte nämlich beides - die Revolution und sein Geld. Handelte es sich um einen Grundbesitzer, so sein Kalkül, würde ihm ein Geschäft entgehen und 157
er nichts verdienen. Andererseits - ohne Verhör kein revolutionärer Zahnreißer! Alles nur eine Frage des richtigen Zeitpunkts: Er begann mit der Vernehmung genau in dem Moment, da er mit seiner Zange den schlimmen Zahn im Mund des Patienten packte. »Raus mit der Sprache! Welche Klassenherkunft?«, fragte er. Die Zahnzange im Mund, röchelte der Patient etwas Unverständliches. Zahnreißer Yu legte sein Ohr fast an die Lippen seines armen Opfers und tat, als ob er lausche. »Armer Bauer?«, rief er. »Dann ist's ja gut! Da zieh ich dir den schlimmen Zahn.« Und schon war der Zahn gezogen, die blutende Wunde mit einem Wattebausch, den er mit einer Pinzette in den Mund des Patienten beförderte, verschlossen. Dann wies er ihn an, fest zuzubeißen, um das Blut zu stillen. Auf diese Weise stopfte Zahnreißer Yu dem Patienten im wahrsten Sinne des Wortes den Mund und machte ihn kurzerhand zum armen Bauern, selbst wenn er vielleicht in Wirklichkeit ein Grundbesitzer war. Hoch befriedigt hielt er ihm den gezogenen Zahn unter die Nase und sagte: »Siehst du, das ist der schlimme Zahn eines armen Bauern! Wärst du Grundbesitzer, hätte ich dir nicht diesen gezogen, sondern einen gesunden.« Dann verlangte er mit einer Miene, aus der sowohl seine revolutionäre Gesinnung als auch seine Geschäftstüchtigkeit sprachen, sein Geld: »Der Vorsitzende Mao lehrt uns, >eine Revolution ist kein Gastmahl<. Das Ziehen eines revolutionären Zahns macht null Komma zehn revolutionäre Yuan.«
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Der revolutionäre Schmied Tong wiederum erkundigte sich prinzipiell nicht nach der klassenmäßigen Herkunft seiner Kunden. Zu einem aufrechten Revolutionär wie ihm würde sich ohnehin kein Klassenfeind trauen, davon war er überzeugt. Er schlug sich an die Brust und verkündete: »Bei mir kaufen nur die fleißigen armen Bauern oder unteren Mittelbauern ihre Sicheln und Hacken. Ein Grundbesitzer hätte eh keine Verwendung für so was - die Ausbeuterklasse, das sind doch alles nur faule Prasser!« Je höher die Wogen der Revolution gingen, desto revolutionärer wurde die Arbeit von Schmied Tong, Schneider Zhang und den bei den Scherenschleifern Guan. Mit nacktem Oberkörper, eine revolutionäre rote Binde um den Arm, stand Schmied Tong am Amboss und fertigte - nein, keine Sicheln und Hacken mehr, sondern Spitzen für die vielen Lanzen mit roten Troddeln, die jetzt gebraucht wurden. Sobald sie fertig geschmiedet waren, wurden sie zum Scherenschleifer schräg gegenüber gebracht. Dort saßen Guan der Ältere und Guan der Jüngere, ebenfalls mit nacktem Oberkörper und ebenfalls mit revolutionären roten Armbinden, breitbeinig auf ihren niedrigen Schemeln und schliffen im Schweiße ihres Angesichts die Lanzenspitzen scharf. Die geschärften Lanzenspitzen wurden unverzüglich Schneider Zhang im Laden nebenan übergeben, der zwar ein ärmelloses Unterhemd trug, aber auch nackte Arme hatte und auch eine revolutionäre rote Armbinde trug. Schneider Zhang gab sich inzwischen nicht mehr mit so etwas Profanem wie Kleidung ab, sondern nähte jetzt rote Fahnen und rote Armbinden; darüber hinaus fertigte er nur noch die roten Troddeln für die Lanzen. Ja, die Große Kulturrevolution verwandelte un159
sere kleine Stadt Liuzhen langsam, aber sicher in einen zweiten Jinggangshan (dies der Name des Gebirges, in dem 1927 der erste Stützpunkt von Mao Zedongs Roter Armee errichtet wurde), einen Ort, wo - in Maos Worten - »am Fuße des Berges ein Fahnenmeer wogt, vom Gipfel hoch oben Hörner erschallen und lustiger Trommelschlag«. An Zahnreißer Yus Arm prangte zwar auch eine rote Binde ein Geschenk von Schneider Zhang -, doch wenn er mit ansah, wie emsig Tong, die beiden Guan und Zhang werkten, um in perfekter Kooperation ihre Lanzen herzustellen, kam er sich irgendwie ausgeschlossen vor. Lanzen hatten ja keine Zähne, die er hätte ziehen oder füllen können, und das Einsetzen von künstlichen Zähnen verbot sich erst recht. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als hingestreckt auf seiner Korbliege des Rufes der Revolution zu harren. Wenn Glatzkopf-Li sich alles angeschaut und zugesehen hatte, wie Tong, die beiden Guan und Zhang in ihren Werkstätten - oder sollte man sagen Waffenfabriken? - diese Lanzen mit den roten Troddeln anfertigten, schlenderte er gähnend hinüber zu Zahnreißer Yu, in den Schatten des Öltuchschirms, den dieser aufgespannt hatte. Ohne Song Gang, mit dem er sonst von früh bis spät zusammen gewesen war, langweilte er sich so sehr, dass er aus dem Gähnen gar nicht mehr herauskam. Da Gähnen bekanntlich ansteckt, blieb es nicht aus, dass auch Yu beim Anblick von Glatzkopf-Lis weit aufgesperrtem Mund in dessen herzhaftes Gähnen einstimmte. Während Zahnreißer Yu früher auf seinem Tischchen lauter schlechte Zähne zur Schau gestellt hatte, die von seinen Patienten stammten, hatte er inzwischen auch ein paar irrtüm160
lich entfernte gesunde Zähne dazugelegt. Daran sollten die vorüberkommenden Vertreter der revolutionären Massen seinen festen Klassenstandpunkt erkennen. All diese guten Zähne kämen aus den Mündern von Klassenfeinden, erklärte Zahnreißer Yu jedem, der es hören wollte (oder auch nicht), so auch dem achtjährigen Jungen, der da unter seinen Schirm getreten war. Er richtete sich halb aus seiner liegenden Stellung auf und zeigte auf das gute Dutzend gesunder Zähne auf dem Tisch. »Diese gesunden Zähne, die habe ich alle den Klassenfeinden gezogen!«, sagte er. »Und die da«, das waren die zu Werbezwecken ausgebreiteten schlechten Zähne, »das sind kranke Zähne, die ich Klassenbrüdern und schwestern gezogen habe.« Glatzkopf-Li nickte pflichtschuldig und betrachtete lustlos die klassenfeindlichen guten und die klassenbrüderlichen beziehungsweise -schwesterlichen schlechten Zähne auf dem Tisch - er fand sie ziemlich langweilig. Dann ließ er sich auf dem Schemel neben der Korbliege nieder und fuhr fort, mit weit aufgerissenem Mund zu gähnen. Zahnreißer Yu, der sich den ganzen Vormittag auf seiner Liege gelangweilt hatte und froh über jede Gesellschaft war, und sei es auch nur Glatzkopf-Li, gefiel es gar nicht, dass auch der jetzt nur mit ihm um die Wette gähnte. Er setzte sich auf und tätschelte den Jungen am Kopf. »Der Strommast dort drüben«, sagte er und zeigte auf die gegenüberliegende Straßenseite, »willst du dir den nicht mal vornehmen? ... « Glatzkopf-Li schüttelte den Kopf. »Hab ich schon mal«, sagte er. »Kannst es doch noch mal machen«, ermunterte
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ihn Zahnreißer Yu. »Hab keinen Bock. Die Strommasten in der Stadt habe ich alle schon paarmal gehabt.« »Heiliger Strohsack!«, rief Zahnreißer Yu. »Früher, da wärst du Kaiser geworden, hättest 'n Harem gehabt. Heute würde man dich als üblen Sittenstrolch ins Gefängnis werfen und erschießen.« Bei den Worten »Gefängnis« und »erschießen« blieb Glatzkopf-Li das gerade begonnene Gähnen im Hals stecken. Mit vor Schreck geweiteten Augen fragte er: »Sie meinen, wegen eines Strommasts kommt man ins Gefängnis? Oder wird erschossen?« »Natürlich«, Zahnreißer Yu schlug jetzt eine andere Tonart an, »kommt es dabei auch auf deinen Klassenstandpunkt an.« »Was für einen Klassenstandpunkt? «, fragte Glatzkopf-Li verständnislos. Zahnreißer Yu zeigte auf den Mast auf der gegenüberliegenden Straßenseite und fragte den Jungen: »Sind diese Masten für dich Klassenfeindinnen oder Klassenschwestern?« Angesichts von Glatzkopf-Lis Begriffsstutzigkeit kam Yu immer mehr in Fahrt. »Nehmen wir mal an, du siehst den Mast als Klassenfeindin an. Dann ist es, als ob du ihn - vielmehr: sie - kritisierst und bekämpfst, wenn du es ihr besorgst. Betrachtest du den Mast aber als Klassenschwester, dann musst du ihn - nein, sie! - heiraten, sonst zählt es als Vergewaltigung«, dozierte Zahnreißer Yu, von den eigenen Worten hingerissen. »Jetzt sagst du mir, du hast es schon mit allen Strommasten in der Stadt getrieben, da hättest du also soundso viele Klassenschwestern vergewaltigt! Klar würdest du da ins Gefängnis kommen und erschossen werden!« 162
Zahnreißer Yu hatte mit seinen Worten Glatzkopf-Lis Befürchtungen wegen »Gefängnis« und »Erschießung« zerstreut. Beruhigt verengten sich die eben noch vor Schreck geweiteten Augen des Jungen zu normalen Schlitzen. Yu tätschelte seinen Kopf und fragte: »Na? Hast du das kapiert? Weißt du jetzt, was Klassenstandpunkt ist?« »Ja«, nickte Glatzkopf-Li. »Dann kannst du mir ja sagen, ob du die Masten als Klassenfeindinnen ansiehst oder als Klassenschwestern.« Glatzkopf-Li blinzelte angestrengt. Endlich sagte er: »Und wenn es nun Klassenstrommasten für mich sind?« Zahnreißer Yu stutzte. Dann prustete er los: »So ein verflixter kleiner Bastard!« Nachdem Glatzkopf-Li eine halbe Stunde lang Zahnreißer Yus Heiterkeit über sich ergehen gelassen hatte, war er ihrer überdrüssig und schlenderte zurück zur Werkstatt von Schmied Tong, auf dessen Bank er sich fläzte und, mit dem Rücken an der Wand lehnend, zusah, wie die Lanzenspitzen geschmiedet wurden. Mit dem schweren Schmiedehammer bearbeitete Schmied Tong das Eisen so energisch, dass die Funken nach allen Seiten stoben. Dabei rutschte ihm die rote Binde am rechten Arm ständig herunter. Jedes Mal, wenn er sie mit der linken Hand, in der er die Zange mit dem Werkstück hielt, wieder hochschob, stach er mit der Lanzenspitze in die Luft. Während der schweißüberströmte Schmied das Eisen hämmerte, beobachtete er aus dem Augenwinkel Glatzkopf-Li. Sonst hatte sich der kleine Bastard doch immer gleich bäuchlings auf der Bank ausgestreckt und begonnen, sich darauf zu reiben, dachte er. Wieso hockt er jetzt so miesepetrig da und 163
lässt die Flügel hängen wie ein krankes Huhn? Schließlich fragte er ihn geradezu: »Sag mal, willst du die Bank heute gar nicht vögeln?« »Vögeln?«, fragte der Junge kichernd, weil ihm das Wort so komisch vorkam. Dann schüttelte er den Kopf und sagte mit einem traurigen Lächeln: »Ich habe jetzt keinen Geschlechtstrieb.« Schmied Tong grinste. »So ein kleiner Bastard und schon impotent!« Glatzkopf-Li lachte erst mit, dann erkundigte er sich: »Was bedeutet >impotent« Der Schmied ließ den Hammer sinken und wischte sich mit dem Handtuch, das ihm um den Hals hing, den Schweiß von der Stirn. »Mach mal deinen Hosenschlitz auf«, sagte er, »und schau dir deinen Schniedel an.« Glatzkopf-Li tat wie ihn geheißen. »Na? Ganz klein und weich, stimmt's?«, fragte Schmied Tong. Der Junge bestätigte es kopfnickend. »Weich wie Hefeteig.« »Das nennt man Impotenz«, belehrte ihn Schmied Tong und legte sich das Tuch wieder um den Hals. »Wenn dein Schniedel hart ist wie eine kleine Kanone, die jeden Moment losballert, dann heißt das, der Geschlechtstrieb ist da. Wenn der Schniedel aber weich ist wie Hefeteig, dann bist du impotent.« »Ach so! Da bin ich also impotent!«, sagte der Junge so überrascht von dieser Erkenntnis, als hätte er gerade einen neuen Erdteil entdeckt. Bereits in diesem zarten Alter erfreute sich Glatzkopf-Li in unserer kleinen Stadt Liuzhen einer gewissen Berühmtheit. 164
Unter den Einwohnern unserer kleinen Stadt gab es ein paar Müßiggänger, die sich den ganzen Tag auf den Straßen herumtrieben, mal ein Stück mit einer Demonstration mitliefen, die Fäuste reckten und ein paar Slogans riefen, mal aber auch nur, müßig an eine Platane gelehnt, vor sich hin gähnten. Diese Leute kannten Glatzkopf-Li alle. Sobald sie ihn sahen, erwachten ihre Lebensgeister. Sie fingen an zu lachen und riefen einander zu: »Der Junge, der es mit den Masten treibt, ist wieder da!« Glatzkopf-Li jedoch war nicht mehr der, der er einmal gewesen war. Seit Song Fanping in dem Speicher gefangen gehalten wurde, Song Gang heiser geschrien war und nicht mehr mit ihm sprach und er selbst, niedergeschlagen und mit knurrendem Magen, mutterseelenallein durch die Gegend strich, hatte er keinerlei Interesse mehr an den hölzernen Strommasten am Straßenrand. Größtes Interesse an ihm aber hatten nach wie vor jene Müßiggänger. Mit den Augen dem ununterbrochenen Strom der vorbeiziehenden Demonstranten folgend, traten sie ihm in den Weg, deuteten unauffällig auf den nächsten Strommast und flüsterten: »Hey, Kleiner! Haben dich schon lange nicht mehr an den Strommasten rummachen gesehen ... « Glatzkopf-Li schüttelte den Kopf und erwiderte laut und vernehmlich: »Ich vögele die nicht mehr.« Die Tagediebe bogen sich vor Lachen. Sie umringten Glatzkopf-Li, sodass der nicht weglaufen konnte, und warteten ab, bis der Demonstrationszug außer Hörweite war. Dann fragten sie ihn abermals: »Warum vögelst du sie denn nicht?«
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Weltmännisch öffnete der Junge die Hose, um ihnen seinen Penis vorzuführen. »Seht ihr's?«, sagte er. »Seht ihr meinen Schniedel?« Während die Männer sich eifrig über ihn beugten, um ihm in die Hose zu schauen, stießen sie mit den Köpfen zusammen, nur um sogleich ein zweites Mal zusammenzustoßen, weil sie bestätigend nickten. Die schmerzenden Schädel reibend, versicherten sie, jawohl, sie sähen Glatzkopf-Lis Schniedel, woraufhin der Junge, ebenso weltgewandt, wie er eben die Hose heruntergelassen hatte, die nächste Frage an sie richtete: »Ist er hart wie eine kleine Kanone oder weich wie Hefeteig?« Die Männer wussten zwar nicht, worauf er hinauswollte, nickten aber vorsichtshalber mit den Köpfen: »Weich ist er. Weich wie Hefeteig.« »Genau deswegen vögele ich jetzt nicht!«, erklärte Glatzkopf-Li, sehr von oben herab. Dann winkte er, ganz der edle Recke, der sich anschickt, zu neuen Abenteuern aufzubrechen, den Männern huldvoll zu und ließ sie stehen. Nach ein paar Schritten wendete er sich noch einmal um und verkündete, von Schwermut ergriffen: »Ich bin nämlich impotent!« Durch das schallende Gelächter, das er damit auslöste, besserte sich seine Laune augenblicklich. Hoch erhobenen Hauptes schritt er würdevoll davon. Dem nächsten hölzernen Strommast, an dem er vorbeikam, versetzte er einen Fußtritt, einfach nur, um zu zeigen, dass er mit Strommasten ein für alle Mal gebrochen hatte.
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XIII Glatzkopf-Li hatte bei seinen Streifzügen durch die Stadt keinen Fen in der Tasche. War er durstig, trank er Flusswasser, war er hungrig, hatte er keine andere Wahl, als die eigene Spucke zu schlucken und nach Hause zu gehen, zurück in das unbeschreibliche Chaos, das dort herrschte. Seit Song Fanping in jenem Speicher einsaß, hatten nämlich noch zwei »Haussuchungen« stattgefunden. Der abermals umgestürzte Schrank blieb liegen, denn die Kraft der Kinder reichte nicht aus, um ihn wieder aufzustellen, und der Fußboden war übersät mit Kleidungsstücken und Wäsche, weil die beiden zu träge waren, sie aufzuheben. Jedes Mal, wenn ein Durchsuchungskommando auftauchte, hatte sich Glatzkopf-Li aus dem Staub gemacht und es Song Gang überlassen, allein mit der Situation fertig zu werden und sich mit seiner heiseren Fistelstimme mit den Leuten auseinanderzusetzen, was ihm fraglos so manche Ohrfeige von jenen - ebenso fraglos höchst unduldsamen - Randalierern eintrug. Song Gang ging in diesen Tagen überhaupt nicht aus dem Haus. Wie ein gelernter Küchenchef kochte er Reis und briet PakChoi, ganz wie der Vater es den beiden Kindern beigebracht hatte. Im Unterschied zu seinem Bruder, der alles längst vergessen hatte, entsann sich Song Gang genau an die Unterweisung durch Song Fanping. Wenn der Bruder hungrig und niedergeschlagen nach Hause kam, wartete er stets schon mit dem fertigen Essen auf ihn, und der Tisch war mit Reisschüsseln und jenen zwei Paar »Essstäbchen unserer Vorfahren« gedeckt. Glatzkopf-Li griff schon heißhungrig nach seinem Reisnapf und begann gierig zu schlingen, während Song 167
Gang noch irgendetwas Unverständliches fistelte, das er korrekt als »Da bist du ja endlich!«, interpretierte. Glatzkopf-Li hatte keine Ahnung, wie schwer es Song Gang in diesen Tagen hatte. Immer wieder musste er sich mit dem Petroleumkocher herumschlagen, erst vorsichtig ein Streichholz anbrennen und dann ebenso vorsichtig die Dochte anzünden, die täglich ein Stückchen weiter herausgezogen werden mussten, weil sie kürzer gebrannt waren. Danach war er jedes Mal in Schweiß gebadet und hatte nach Petroleum stinkende Hände und schwarze Fingernägel. Der Reis, den er kochte, war halb roh. Glatzkopf-Li kam es vor, als äße er nicht Reis, sondern Bohnen, so knirschte es beim Kauen. Der halb gare Reis lag ihm schwer im Magen; er begann oft schon zu rülpsen - ebenfalls knirschend -, ehe er satt war. Auch das von Song Gang bereitete Gemüsegericht schmeckte ihm überhaupt nicht. Bei Song Fanping war der Pak-Choi immer schön grün und knackig geblieben, bei Song Gang jedoch war er gelb und pappig - wie mariniertes Wintergemüse sah er aus, und außerdem waren schwarze Petroleumschlieren darin. Mal war er versalzen, mal wieder zu fad. Glatzkopf-Li redete ja eigentlich nicht mit dem Bruder, aber beim Essen sammelte sich so viel Wut in ihm an, dass er schließlich explodierte: »Der Reis ist roh und das Gemüse pappig. Bist eben der Sohn eines Grundbesitzers!« Song Gangs Gesicht lief vor Ärger rot an. Er begann, sich mit seiner Fistelstimme zu verteidigen, aber Glatzkopf-Li, der kein Wort verstand, unterbrach ihn: »Hör auf zu fisteln! Klingt ja, als ob Mücken furzen oder Wanzen pissen!« Als Song Gang endlich wieder reden konnte, hatte er inzwischen herausgekriegt, wie Reis gegart wird. Das von Song 168
Fanping hinterlassene Gemüse hatten die Kinder längst aufgegessen, sodass sie jetzt nur noch Reis hatten, und auch davon nicht mehr viel. Song Gang füllte den garen Reis in zwei Schüsseln und stellte die Flasche mit Sojasoße auf den Tisch. Den zur Tür hereinkommenden Bruder begrüßte er freudestrahlend: »Heute ist er gar!«, krächzte er. Der Reis war tatsächlich hervorragend, jedes Körnchen schimmerte wie poliert. In Glatzkopf-Lis Erinnerung blieb dies der beste Reis, den er je gegessen hatte, obwohl er im Laufe seines Lebens noch öfter Reis essen sollte, der besser war als der damals von Song Gang gekochte. Im Übrigen war Glatzkopf-Li überzeugt, der perfekte Reis des Bruders sei nur ein Zufallstreffer gewesen - auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn. Immerhin hatten die beiden Jungen an jenem Abend garen Reis zu essen, nicht halb rohen wie an den vorangegangenen Tagen. Gemüse war zwar keins mehr da, aber es gab ja die Sojasoße. Die gossen die Kinder über den dampfenden Reis und rührten gut um. Jetzt sahen die Reiskörner aus wie geschminkt, manche waren dunkel, manche hell, manche rötlich, und das Aroma der Sojawürze verbreitete sich mit dem Dampf des Reises im ganzen Raum. Es war inzwischen dunkel geworden. Während die Kinder ihre leckere Abendmahlzeit aßen, war der Mond aufgegangen und schien durch das Fenster. Ein leichter Wind wehte ums Dach. Den Mund voller Sojasoßen-Reis, murmelte Song Gang mit seiner heiseren Stimme: »Wann kommt wohl Papa zurück?« 169
Bei diesen Worten traten ihm Tränen in die Augen. Er setzte die Schüssel ab und begann, mit gesenktem Kopf zu schluchzen, wobei er zugleich den im Mund verbliebenen Reis hinunterschluckte. Die Augen reibend, weinte er so bitterlich, dass es ihn schüttelte. Seine heisere Stimme klang wie eine mit halb leerer Batterie laufende, immer wieder aussetzende Alarmsirene: u-uuh, uh, u-uuh, uh ... Auch Glatzkopf-Li ließ den Kopf hängen, ihm war plötzlich ebenfalls schwer ums Herz. Eigentlich hatte er sich ein bisschen mit Song Gang unterhalten wollen, zum Dank für den guten Reis, den dieser gekocht hatte, am Ende tat er es aber doch nicht. Ist ja schließlich der Sohn eines Grundbesitzers!, sagte er sich. Am nächsten Tag war es auch schon wieder vorbei mit dem perfekt gekochten Reis. Ein Blick auf die schrumpligen, alles andere als schimmernden Reiskörner in der Schüssel genügte Glatzkopf-Li, um Bescheid zu wissen: Heute war wieder halb roher Reis angesagt. Song Gang saß am Tisch und war mit einem Experiment beschäftigt. Den Reis in der einen Schüssel hatte er sorgfältig mit Salz bestreut, den in der anderen Schüssel mit Sojasoße besprenkelt. Er kostete erst von dem gesalzenen halb rohen Reis, dann von dem mit Soja gewürzten halb garen Reis und war auch schon zu einem Ergebnis gekommen, als Glatzkopf-Li zur Tür hereinkam. Der gesalzene halb rohe Reis sei viel delikater, informierte er den Bruder begeistert, als der mit Sojasoße vermischte halb gare Reis. Es sei aber wichtig, immer nur eine kleine Menge Reis auf einmal zu salzen und diese dann unverzüglich in den Mund zu befördern, ehe das Salz sich aufgelöst habe, sonst schmecke man es nämlich nicht mehr. 170
Glatzkopf-Li war fuchsteufelswild. »Ich will garen Reis! Halb rohen esse ich nicht!«, schrie er den Bruder an. Song Gang blickte auf und teilte ihm eine schlechte Nachricht mit: »Das Petroleum ist alle. Das Feuer ist ausgegangen, ehe der Reis gar war.« Da legte sich Glatzkopf-Lis Wut; er setzte sich zu Tisch und machte sich notgedrungen über seinen halb garen Reis her. Ohne Petroleum kein Feuer, das war natürlich nicht zu leugnen, dachte er im Stillen. Aber wie schön wäre es, wenn Song Gang Petroleum pissen und Feuer furzen würde! .. . Dem Rat des Bruders folgend, streute er etwas Salz auf den Reis, den er zwischen den Essstäbchen hatte, und beförderte ihn sofort in den Mund. Seine Augen leuchteten auf: Das körnige Salz und der halb rohe Reis knirschten so schön im Mund, und vor allem die Salzkörnchen schmeckten hervorragend, wenn man sie zerbiss. Glatzkopf-Li verstand jetzt, warum Song Gang ihn aufgefordert hatte, den Reis zu essen, ehe das Salz sich aufgelöst hatte. So, wie man mit dem Zündstein Feuer macht, entstand der Wohlgeschmack des Salzes beim Kauen durch die Reibung der Körner zwischen den Zähnen. Sobald aber die Körnchen aufgelöst waren, schmeckten sie nicht mehr köstlich, sondern nur noch salzig. Zum ersten Mal konnte Glatzkopf-Li auch halb rohem Reis noch etwas Positives abgewinnen. Genau in diesem Moment eröffnete Song Gang ihm eine weitere schlechte Nachricht: »Der Reis ist auch alle.« Abends aßen die beiden Jungen den mittags übrig gelassenen halb garen Reis, wieder mit Salz bestreut. Am nächsten Morgen wachten sie erst auf, als die helle Sonne ihnen auf den Hintern schien. Nach dem Aufstehen gingen sie wie ge171
wohnt vors Haus und entleerten an der Hausecke ihre Blasen, zogen einen Eimer Wasser aus dem Brunnen und machten Katzenwäsche. Erst danach fiel ihnen wieder ein, dass sie nichts mehr zu essen hatten, nicht mal 'nen Furz. GlatzkopfLi setzte sich auf die Schwelle und gedachte abzuwarten, was der Bruder sich einfallen lassen würde, um sie beide zu ernähren. Song Gang durchsuchte ein weiteres Mal den umgestürzten Schrank und die auf dem Boden verstreute Kleidung, ob da womöglich doch noch irgendwo etwas Essbares zutage käme - vergebens. Er musste sich mit seiner eigenen Spucke statt eines Frühstücks begnügen. Glatzkopf-Li, der natürlich ebenfalls nichts anderes zu schlucken bekam, streunte wie gewohnt durch die Straßen und Gassen. Zuerst war er noch springlebendig, aber gegen Mittag fühlte er sich wie ein Ball, aus dem die Luft entwichen ist. Der hungrige Achtjährige erinnerte jetzt eher an einen Achtzigjährigen. Nicht genug damit, dass ihm schwindlig war, es ihm vor den Augen flimmerte und er kaum noch krauchen konnte - wegen seines leeren Magens bekam er auch noch einen quälenden Schluckauf. Mit schräg gehaltenem Kopf saß er lange unter einer Platane am Straßenrand und beobachtete die Vorübergehenden. Er sah genau, wie einem Mann, der einen fleischgefüllten Baozi verspeiste, der Fleischsaft aus den Mundwinkeln troff, und wie ihn der Mann mit der Zunge wegleckte. Eine Passantin, die im Gehen Melonenkerne knackte, traf mit den ausgespuckten Hülsen sogar sein Haar. Am meisten erbitterte ihn aber ein Straßenköter, der mit einem Knochen im Maul an ihm vorüberlief.
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Glatzkopf-Li wusste nicht, wie er schließlich wieder nach Hause gelangt war - er wusste nur, dass er vor Hunger umkam! Dass er daheim etwas zu essen bekommen würde, wagte er von vornherein nicht zu hoffen; er wollte sich einfach aufs Bett legen. Als er jedoch die Tür öffnete, sah er von hinten Song Gang am Tisch sitzen und - essen! So vom Hunger geschwächt er auch war, die unerwartete Freude verlieh ihm immerhin genug Kraft, um zum Tisch zu stürzen. Doch er hätte sich gar nicht zu beeilen brauchen, denn jetzt sah er, was der Bruder »aß«: Er hatte eine Schüssel klares Wasser vor sich. Erst nahm er ein wenig Salz in den Mund, wartete, bis es sich aufgelöst hatte, und trank dann einen Schluck Wasser. Anschließend nippte er von der Sojasoße, bewegte die köstliche Würze mit genüsslich gewölbten Wangen im Munde hin und her und führte, wenn die Mundhöhle lange genug mit der Soße gebeizt war, erneut die Schale mit dem Wasser zum Mund. Der mit seiner Salz-Soja-Wasser-Diät beschäftigte Song Gang war viel zu sehr vom Hunger geschwächt, um mit Glatzkopf-Li auch noch reden zu wollen. Stumm zeigte er auf die zweite Schüssel klares Wasser auf dem Tisch, die er für den Bruder bereitgestellt hatte. Glatzkopf-Li setzte sich und folgte trotz seiner bitteren Enttäuschung dem Beispiel Song Gangs. Ein bisschen Salz und Sojasoße, dazu eine Schüssel Wasser, das war immerhin besser als gar nichts. Hinterher hatte er das Gefühl, zu Mittag gegessen zu haben, obwohl es ja eigentlich gar nichts gegeben hatte. Zumindest war ihm jetzt ein bisschen wohler als vorher. Er legte sich aufs Bett und redete sich selbst gut zu: Vielleicht gibt es im Traum etwas zu essen ... Dann schlief er, sich die Lippen leckend, ein. 173
Und tatsächlich! Kaum im Reich der Träume angekommen, stieß er schon auf einen riesigen Dämpfkorb aus geflochtenem Bambus, aus dem der Dampf wölkte. Mehrere weiß gekleidete Köche wuchteten den gewaltigen Deckel mit lauten »Hau-ruck!«-Rufen hoch, sodass die fleischgefüllten Baozi dicht gedrängt wie die Teilnehmer einer Kritik- und KampfVersammlung auf dem Schulsportplatz - zum Vorschein kamen und Glatzkopf-Li genau sehen konnte, aus allen trat oben, wo der Teig zusammengezwirbelt war, schon der Fleischsaft heraus! Dann setzten die Köche jedoch den Deckel wieder auf die Baozi seien noch nicht gar, sagten sie. Glatzkopf-Li widersprach: Sie seien sehr wohl gar, es käme ja schon der Saft heraus. Aber die Köche beachteten ihn überhaupt nicht. So stellte er sich daneben und wartete. Als er sah, dass ein Fleischsaftrinnsal aus dem Dämpfkorb floss, sagten die Köche endlich, ja, jetzt seien die Baozi gar. Wieder nahmen sie mit »Hauruck!«-Rufen den Deckel ab, und dann sagten sie »Lang zu!«. Als ob er ins Wasser springe, stürzte sich Glatzkopf-Li in den Dämpfkorb, raffte einen Armvoll Baozi, aus denen köstlicher Saft austrat, und biss heißhungrig in den ersten hinein. Da wachte er auf. Song Gang hatte ihn wachgerüttelt. »Ich hab sie gefunden!«, krächzte er mit seiner heiseren Stimme. Im selben Moment, da Glatzkopf-Li so unsanft geweckt wurde, waren die Fleisch-Baozi, eben noch zum Greifen nahe, plötzlich spurlos verschwunden. Vor Enttäuschung heulte er laut los und trat wütend nach dem Bruder. Im nächsten Augenblick begann er jedoch unter Tränen zu lachen, denn da hatte er das Geld und die Lebensmittelmarken entdeckt, 174
die Song Gang vor seinen Augen hin und her schwenkte. Zwei Fünf- Yuan-Scheine waren es, das sah er genau. Glatzkopf-Li verstand kein Wort von dem aufgeregten Wortschwall des Bruders, der nicht müde wurde, ihm zu schildern, wie er die von Song Fanping versteckten Geldscheine und Lebensmittelmarken entdeckt hatte. Er konnte nur an eins denken: Fleisch-Baozi, aus denen der Saft troff! Plötzlich kehrte auch seine Energie zurück. Er sprang aus dem Bett und rief: »Los! Wir kaufen jetzt Baozi.« Aber Song Gang schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »erst müssen wir Papa fragen. Nur wenn er ja sagt, kaufen wir Baozi.« »Ehe wir deinen Papa finden, sind wir längst verhungert.« Song Gang schüttelte abermals den Kopf. »Wir verhungern schon nicht. Es dauert bestimmt nicht lange, bis wir ihn finden«, sagte er. Geld war da, Lebensmittelmarken waren da, gleich würde es auch Baozi geben - wozu musste dieser dusselige Song Gang erst noch seinen Scheiß-Papa fragen! Vor lauter Ungeduld stampfte Glatzkopf-Li mit dem Fuß auf. Ich reiß ihm das Geld und die Marken weg!, dachte er. Song Gang durchschaute seine Absicht jedoch und steckte eilig Geld und Lebensmittelmarken in die Tasche. Die Jungen begannen, miteinander zu ringen. Bald lagen sie beide am Boden. Song Gang hielt mit den Händen seine Hosentaschen fest zu, während Glatzkopf-Li versuchte, dennoch hineinzugreifen. Da sie den ganzen Tag nichts gegessen hatten, waren sie so entkräftet, dass sie ihren Ringkampf immerfort unterbrechen mussten, um mit aufgerissenem Mund keuchend Atem zu schöpfen. Schließlich gelang es 175
Song Gang, sich aufzurappeln. Als er zur Tür hinausstürzen wollte, versperrte ihm Glatzkopf-Li, der inzwischen auch wieder stand, den Weg. Vor Erschöpfung konnten sich die Jungen kaum auf den Beinen halten. Nachdem sie eine Weile stumm und erbittert einander gegenübergestanden und ein wenig verschnauft hatten, drehte sich Song Gang um und ging in die Küche. Glatzkopf-Li hörte, wie er Wasser aus der Kruke schöpfte und gluckernd seinen Durst stillte. Dann stellte er sich erneut vor ihn hin und schrie mit seiner heiseren Stimme: »Du, ich bin stark!« Ein einziger Schubs, und schon stand Glatzkopf-Li nicht mehr in der Tür, sondern saß auf seinem Hosenboden. Song Gang sprang über ihn hinweg und rannte davon, um seinen Grundbesitzer-Vater zu suchen. Wie ein totes Schwein lag Glatzkopf-Li noch eine ganze Weile vor dem Haus auf der Erde, dann raffte er sich auf und setzte sich, nunmehr eher an einen kranken Hund erinnernd, auf die Schwelle. Er heulte vor Hunger, aber davon wurde er nur noch hungriger, sodass er das Jaulen gleich wieder einstellte. Ein leichter Wind wehte und ließ die Blätter an den Bäumen rascheln. Die Sonne schien hell auf seine Zehen. Wie schön wäre es, dachte Glatzkopf-Li, wenn man das Sonnenlicht wie geschnetzeltes Fleisch essen könnte oder den Wind schlürfen wie eine Fleischbrühe! Nach einem Weilchen stand er auf und stürzte in der Küche mehrere Becher Wasser hinunter. Danach fühlte er sich etwas besser, machte die Tür hinter sich zu und ging los. An diesem Nachmittag bekam er nichts Essbares zu sehen, während er sich ziellos durch die Straßen schleppte. Dafür traf er aber wieder auf die bewussten drei Mittelschüler. Er 176
lehnte gerade an einer Platane, als er jemanden hämisch lachen und »Hey, Kleiner!«, rufen hörte. Als er aufblickte, war er bereits von den dreien umringt. Ihre grinsenden Gesichter verhießen nichts Gutes: Sie wollten gewiss wieder den Beinfeger an ihm ausprobieren. Diesmal lief er nicht davon - er hätte auch gar nicht die Kraft dazu gehabt -, sondern murmelte nur: »Ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen.« Der langhaarige Sun Wei erwiderte: »Wie wär's stattdessen mit einem Beinfeger? « Glatzkopf-Li bettelte: »Heute bitte nicht. Von mir aus morgen.« »Das könnte dir so passen!«, sagten die drei. »Heute und morgen gibt's Beinfeger für dich!« Glatzkopf-Li zeigte auf einen Strommast in der Nähe und sagte flehend: »Keinen Beinfeger, bitte! Aber ich könnte den Strommast vögeln.« Das fanden die drei urkomisch. Der Langhaarige sagte: »Erst ein Beinfeger, und zum Nachtisch das Vögeln!« Während Glatzkopf-Li sich kummervoll die Tränen aus den Augen wischte, berieten die drei Mittelschüler, wer als Erster mit dem Beinfeger dran wäre. Wie liebevolle Brüder wollte jeder den beiden anderen den Vortritt lassen. In diesem Augenblick erschien Song Gang auf der Bildfläche. Mit einem Baozi in der Hand lief er über die Straße direkt auf Glatzkopf-Li zu, ließ sich vor ihm auf die Erde plumpsen und zog im gleichen Atemzug auch den Bruder zu sich hinunter. Dann reichte der völlig verschwitzte Song Gang ihm den gefüllten Baozi, der noch dampfte, und Glatzkopf-Li biss so heißhungrig hinein, dass der Fleischsaft herausspritzte. Gleich dieser erste Bissen blieb ihm im Halse 177
stecken. Während er bewegungslos dasaß und den Hals reckte, klopfte der Bruder ihm mit der flachen Hand auf den Rücken und sagte voller Genugtuung zu den drei Mittelschülern: »Wir sitzen hier gut! Wollen mal sehen, wie ihr jetzt den Beinfeger macht.« »Scheiße!« Die drei sahen sich an und wiederholten: »Verdammte Scheiße!« Während die Mittelschüler berieten, was sie mit den beiden Jungen machen und ob sie sie vielleicht mit Gewalt in eine stehende Position bringen sollten, warnte Song Gang sie: »Wir schreien um Hilfe! Alle Leute werden zusammenlaufen!« »Verdammte Scheiße!«, rief der Langhaarige abermals. »Steht auf! Oder habt ihr keinen Mumm?« »Fegt uns ruhig weg! Oder habt ihr nicht genug Mumm?«, konterte Song Gang. Die Mittelschüler wussten nicht, was sie mit den renitenten Brüdern anfangen sollten, und verlegten sich darauf, wüst zu fluchen. Inzwischen hatte Glatzkopf-Li seinen Baozi aufgegessen. Er fühlte sich jetzt wieder so stark, dass er in Song Gangs Spott mit einstimmte: »Wir haben's hier sehr bequem, bequemer als daheim im Bett!« Von den drei Mittelschülern kamen noch ein paar weitere Verwünschungen, dann verlegte sich der Langhaarige auf eine sanftere Tonart. Geradezu freundschaftlich redete er Glatzkopf-Li zu: »Komm schon, Kleiner! Steh auf! Wir tun dir garantiert nichts. Geh und vögele den Strommast!« Glatzkopf-Li grinste und leckte sich so intensiv den Fleischsaft aus den Mundwinkeln, dass sein Kopf hin und her wa178
ckelte. »Ich vögele den Mast nicht. Vögelt ihn doch selbst! Ich bin impotent, damit ihr's wisst!«, sagte er vergnügt. Die Mittelschüler, die das Wort »impotent« nicht kannten, sahen einander verdutzt an. Schließlich fragte Zhao Shengli: »Was soll denn das sein - impotent?« Glatzkopf-Li antwortete, ohne mit der Wimper zu zucken: »Mach deine Hose auf und guck dir deinen Schniedel an!« Den Jungen argwöhnisch beäugend, legte Zhao Shengli Hand an seinen Hosenschlitz. Glatzkopf-Li ermunterte ihn: »Schau nach, ob er hart ist wie eine kleine Kanone oder weich wie Hefeteig!« Zhao betastete den fraglichen Körperteil durch den Stoff der Hose. »Wozu nachschauen? Jetzt ist er jedenfalls weich wie Hefeteig.« Glatzkopf-Li trompetete triumphierend: »Da bist du also auch impotent!« Inzwischen war den drei Mittelschülern aufgegangen, was »impotent« bedeutete. Sun Wei und Liu Chenggong lachten Zhao Shengli aus: »Du Blödmann, weißt nicht mal, was impotent ist!« Das ging Zhao sehr gegen die Ehre. Er versetzte GlatzkopfLi einen Tritt und sagte: »Du kleiner Bastard, du bist vielleicht impotent! Meiner war heute früh beim Aufwachen sogar noch härter als eine kleine Kanone!« Hilfreich sprang Glatzkopf-Li ihm bei: »Morgens warst du eben noch nicht impotent. Erst nachmittags.« »Quatsch!«, erwiderte Zhao. »Ich bin niemals impotent. Das ganze Jahr über nicht, vierundzwanzig Stunden am Tag nicht.« »Angeber!«, entgegnete Glatzkopf-Li und zeigte auf den Strommast in der Nähe. »Vögele ihn! Zeig es uns!« 179
»Den Strommast?«, schnaubte Zhao Shengli. »Nur ein Bastard wie du vögelt Masten. Ich vögele deine Alte, wenn ich vögeln will.« Glatzkopf-Li erwiderte verächtlich: »Mit dir würde meine Mama nie vögeln.« Auf Song Gang, neben ihm, zeigend, trumpfte er auf: »Die vögelt nur mit dem Papa von dem da.« Während Sun Wei und Liu Chenggong sich vor Lachen bogen, ließ Zhao Shengli einen Haufen wüster Verwünschungen vom Stapel. Den dreien war inzwischen klar, dass sie diese beiden kleinen Strolche nicht zum Aufstehen bringen würden - selbst wenn das Meer austrocknete und die Felsen verwitterten, würden sie es nicht schaffen! Sie überlegten hin und her, was sie mit ihnen machen sollten, erwogen erneut, sie mit Gewalt auf die Füße zu stellen und dann gleich wieder mit einem Beinfeger umzulegen, bis Glatzkopf-Li plötzlich rief: »Schmied Tong kommt!« Ihm war gerade eingefallen, wie der Schmied ihn und den Bruder seinerzeit gerettet hatte. Die drei Mittelschüler drehten die Köpfe und schauten die Straße hinunter: Weit und breit kein Schmied in Sicht! Da versetzten sie den beiden Jungen noch ein paar abschließende Fußtritte und zogen davon, begleitet vom Wehgeschrei ihrer Opfer. Glatzkopf-Li war dem Beinfeger glücklich entgangen und hatte obendrein einen Fleisch-Baozi zwischen die Zähne gekriegt. Ärgerlich war allein, dass er sich überhaupt nicht mehr an dessen Geschmack erinnerte. Er wusste nur, er hatte zu hastig geschlungen und viermal an einem zu großen Bissen gewürgt, woraufhin Song Gang ihm auf den Rücken geklopft hatte. Während es ihn in der Kehle würgte, erzählte 180
ihm der Bruder, habe er einen ganz langen Hals gemacht; wie ein Schwan, so habe es ausgesehen. Von da an vertrugen sich die Brüder wieder. Jetzt saßen sie einander gegenüber und kicherten vergnügt. Das dauerte fast eine Minute. Dann nahmen sie Hand in Hand ihre Streifzüge durch die Stadt wieder auf. Song Gang berichtete, er habe den Vater gefunden. Der wohne jetzt in einem Speicher, wo zahlreiche Leute festgehalten würden, von denen manche weinten und manche schrien. Glatzkopf-Li wollte wissen, warum. Song Gang vermutete, in dem Speicher seien wohl irgendwelche Schlägereien im Gange. An diesem Nachmittag zogen die bei den Jungen durch drei Hauptstraßen, gingen über zwei Brücken und liefen zum Schluss noch eine Gasse entlang, bis sie schließlich zu dem Speicher kamen, in dem Grundbesitzer und Kapitalisten, aktive Konterrevolutionäre und Leute mit konterrevolutionärer Vergangenheit, kurz: alle Klassenfeinde interniert waren. Glatzkopf-Li entdeckte den Vater des langhaarigen Sun Wei. Er stand mit einer roten Binde am Arm rauchend vor dem Tor und fuhr Song Gang an: »Was willst du denn schon wieder?« Song Gang zeigte auf den Bruder. »Das ist mein Bruder Glatzkopf-Li«, sagte er. »Er möchte Papa besuchen.« Sun Weis Vater musterte Glatzkopf-Li. »Was ist mit deiner Mutter?«, fragte er. »Die besucht in Schanghai den Arzt.« »Die besucht nicht den Arzt, sie ist beim Arzt!«, verbesserte der Mann grinsend.
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Dann zertrat er den Zigarettenstummel auf der Erde, stieß das Tor des Speichers auf und rief: »Song Fanping! Song Fanping, raustreten!« Durch das geöffnete Tor erhaschte Glatzkopf-Lis Blick einen Mann, der auf dem Boden lag und von einem anderen Mann mit einem Gürtel ausgepeitscht wurde. Von dem Ausgepeitschten, der mit den Armen den Kopf zu schützen versuchte, kam kein Laut, der Auspeitscher dagegen brüllte wie am Spieß, als ob er es sei, der die Schmerzen aushalten musste. Vor Schreck zitterte Glatzkopf-Li am ganzen Leib, und auch Song Gang wurde totenbleich. Beide Kinder waren so verstört, dass sie gar nicht bemerkten, wie Song Fanping herauskam. Plötzlich stand er in voller Größe vor ihnen und fragte: »Na, habt ihr Fleisch-Baozi gegessen?« Glatzkopf-Li blickte auf und sah, dass das Unterhemd des Vaters blutbefleckt, sein Gesicht grün und blau und seine Augen zugeschwollen waren. Da war ihm klar, man hatte auch ihn misshandelt. Song Fanping hockte sich vor dem Jungen hin, streichelte ihm über das Haar und scherzte: »Dir klebt ja der Fleischsaft noch in den Mundwinkeln!« Glatzkopf-Li ließ den Kopf hängen und fing an, bitterlich zu weinen. Wie sehr bereute er jetzt seinen Verrat! Hätte er nur nicht damals am Schultor den Vater mit seinen Worten bloßgestellt! Dann wäre ihm die Quälerei hier in diesem Speicher erspart geblieben. Und dennoch war er so gut zu ihm! Bei diesem Gedanken weinte der Junge erst recht Rotz und Wasser. »Es tut mir leid«, stieß er verzweifelt hervor. Während Song Fanping ihm mit dem Daumen die Tränen aus den Augen wischte, sagte er lächelnd »Du wirst dir doch
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nicht etwa Rotz in die Augen gezogen haben?«, und brachte damit den weinenden Jungen zum Lachen. Inzwischen waren die Wehlaute und das Wutgeheul, die durch den Türspalt aus dem Speicher nach draußen drangen, immer lauter geworden. Dazu kam ein an- und wieder abschwellendes Stöhnen und Wimmern, das an die Paarungslaute von Ochsenfröschen erinnerte. Glatzkopf-Li fürchtete sich. Zitternd stand er mit Song Gang neben dem Vater, der scheinbar nichts hörte und munter auf die Jungen einredete. Sein linker Arm baumelte irgendwie seltsam an ihm herunter wie eine Armprothese kam er den Kindern vor. Dass ihn die Schläger dort drinnen ausgekugelt hatten, konnten sie nicht wissen. Als sie ihn fragten, warum der Arm so komisch pendele, schlenkerte Song Fanping ihn ein wenig hin und her und sagte: »Ach, er ist müde. Jetzt soll er sich mal ein paar Tage ausruhen.« Die bei den Jungen kamen aus dem Staunen nicht heraus. Was der Vater alles konnte! Jetzt ließ er gar seinen Arm baumeln, damit der sich ein paar Tage erholen konnte! Um die Neugier der Kinder zu befriedigen, brachte Song Fanping inmitten der unheimlichen Klagelaute und des wilden Gebrülls, das aus dem Inneren des Speichers zu vernehmen war, seinen Söhnen bei, wie man seinen Arm ausruhen lässt. Zuerst mussten sie eine Schulter schräg nach unten fallen und den Arm locker baumeln lassen. Er sagte, mit diesem Arm dürften sie nichts machen, müssten so tun, als wäre er gar nicht vorhanden. Am besten sollten sie überhaupt nicht mehr an ihn denken. (Dabei zeigte er auf seine Schläfen.) Als er dann das Gefühl hatte, Glatzkopf-Li und Song Gang hätten den Bogen einigermaßen raus, mussten die beiden sich 183
hintereinander aufstellen, er kommandierte »Eins, zwei! Eins, zwei!«, und ließ sie vor dem Tor des Speichers mit schiefer Schulter und locker herabhängendem Arm hin und her marschieren. Glatzkopf-Li und Song Gang hatten das Gefühl, bei jedem Schritt mache der sich erholende Arm eine Schlenkerbewegung. Mit lauten Rufen des Erstaunens und der Begeisterung bewunderte einer am anderen, wie dessen Arm im Gelenk schlenkerte. Song Fanping fragte: »Na, schlenkern sie?« Wie aus einem Munde antworteten beide: »Und wie!« Der Vater des langhaarigen Sun Wei, der dem munteren Treiben der drei zuschaute, hatte erst dreckig gegrinst, prustete dann lauthals los und hielt sich am Ende den Bauch vor Lachen. Als er sich endlich wieder ein bisschen beruhigt hatte, sagte er, immer noch glucksend: »So, und jetzt ist's genug! Rein mit dir!« Mit schlenkerndem Arm ging Song Fanping in den Speicher zurück. Ehe das Tor sich hinter ihm schloss, drehte er sich noch einmal zu den Söhnen um und rief: »Zu Hause schön weiterüben, ja?« Glatzkopf-Li und Song Gang vergaßen völlig die schaurigen Geräusche, die an diesem Nachmittag aus dem Speicher zu ihnen gedrungen waren, vergaßen auch das verschwollene Gesicht ihres Vaters. Im Gedächtnis blieb ihnen einzig die Aufforderung, weiter zu üben. Auf dem Heimweg ließen sie vergnügt die Schulter hängen und den Arm schlenkern - mal den rechten, mal den linken -, und selbst als sie zu Hause angekommen und zu Bett gegangen waren, machten sie immer noch weiter und ließen einen Arm aus dem Bett baumeln. 184
Dabei stellten sie fest, dass es im Liegen noch viel besser ging als im Gehen. Das Dumme war nur, dass nach kurzer Zeit der baumelnde Arm eingeschlafen war. XIV Für die Brüder Glatzkopf-Li und Song Gang ging das Leben ohne Eltern weiter, und es war gar nicht so schlecht. Wenn kein Reis mehr im Haus war, zogen die Jungen zum Beispiel einträchtig mit dem großen Sack zum Reisladen, wo sie ihren Spaß an dem Gerät hatten, mit dem der Reis gewogen wurde. Zuerst mussten sie die Öffnung des Sacks über den Füllstutzen stülpen, dann wurde ein Schieber betätigt, und schon ergoss sich durch die Rinne aus Weißblech wie auf einer Rutschbahn ein Strom von Reiskörnern in ihren Sack. Zum Schluss klatschten die beiden mit den flachen Händen kräftig gegen den Blechstutzen, um auch noch die letzten daran klebenden Körner in den Sack zu befördern. Das schepperte so schön laut! Allerdings spie der Verkäufer Gift und Galle und verpasste ihnen über den Ladentisch hinweg Kopfnüsse. Einträchtig gingen die Jungen mit ihrem Korb auch auf den Gemüsemarkt. Während sie die ausgelegten Pak-ChoiStauden begutachteten, zupften sie heimlich die Außenblätter ab, sodass nur die frischen zarten Herzen übrig blieben. Die alte Gemüsehändlerin regte sich darüber so auf, dass ihr die Tränen kamen. Zwei kleine Bastarde!, das seien die Jungen, so keifte sie. Ein schlimmes Ende würde es mit ihnen nehmen! An ihrem eigenen Atem sollten sie ersticken! Beim Trinken sollte ihnen das Wasser zwischen den Zähnen hängen bleiben, und die Ärsche und Schwänze sollten ihnen zu185
wachsen, damit sie nicht mehr scheißen und pinkeln könnten! Glatzkopf-Li und Song Gang lebten äußerst sparsam und ernährten sich rein vegetarisch, als wären sie zwei Mönche, die es mit der Ordensregel besonders genau nehmen. Als sie sich am Ende die pflanzliche Kost gründlich übergegessen hatten, beschlossen sie, zum Fluss zu gehen, um Krebse zu fangen. Unterwegs ging ihnen jedoch auf, dass sie gar nicht wussten, wie man sie überhaupt zubereitet. Ehe sie auch nur den Schatten eines Krebses zu Gesicht bekommen hatten, zerbrachen sie sich schon den Kopf, was sie mit ihrem Fang anstellen sollten. Frittieren? Oder kurz im Wok braten? Oder doch lieber in Wasser kochen? Kurz entschlossen bogen sie zu jenem Speicher ab, in dem der Vater einsaß, um ihn um Rat zu fragen. Als sie fast dort angekommen waren, ließen sie wie selbstverständlich eine Schulter nach unten sacken und einen Arm baumeln. Song Fanping, immer noch mit baumelndem linkem Arm, erklärte den Söhnen, alle drei Zubereitungsarten seien geeignet, nur sollten sie darauf achten, dass man die Krebse erst verzehren kann, nachdem sie ihre Farbe verändert haben. »Sobald sie rot sind wie eure Zungen, sind sie gar!«, schärfte er ihnen ein. »Und merkt euch: Die Krebse halten sich im flachen Wasser auf!« Die Kinder mussten die Hosenbeine bis übers Knie aufkrempeln. »Wenn das Wasser so tief ist, dass die Hose feucht wird«, warnte er sie, »dann dürft ihr nicht weitergehen. Im tiefen Wasser sind keine Krebse. Nur Schlangen!« Glatzkopf-Li und Song Gang überlief es kalt. Sie ahnten ja nicht, dass der Vater ihnen nur Angst machte, weil er be186
fürchtete, sie könnten im tiefen Wasser ertrinken. Eifrig nickend versprachen sie aufzupassen, dass das Wasser höchstens bis zum Knie reichte. Dann wollten sie sich mit schiefer Schulter und baumelndem Arm wieder auf den Weg zum Fluss machen, aber Song Fanping rief sie noch einmal zurück und sagte, sie sollten erst von zu Hause einen Bambuskorb holen. »Einen Korb? Wozu das?«, wunderten sich die beiden. Song Fanping fragte zurück: »Was nimmt man denn zum Fischefangen?« Die Kinder überlegten, schließlich sagte Song Gang: »Eine Rute.« »Mit einer Rute kann man nur angeln. Zum Fischefangen braucht man ein Netz. Und wenn man Krebse fangen will, nimmt man einen Bambuskorb«, belehrte der Vater die Söhne. Mit seitlich baumelndem linkem Arm, den imaginären Korb über den angewinkelten rechten Arm gehängt, den Oberkörper vorgebeugt, demonstrierte Song Fanping vor dem Tor des Speichers, wie man Krebse fängt. Wenn sie im Wasser stünden, belehrte er die Kinder, müssten sie aufpassen wie ein Wachtposten. Den Korb sollten sie schräg ins Wasser halten und schnell herausziehen, sobald ein Krebs hineingeschwommen sei. »So fängt man Krebse!«, schloss er und richtete sich wieder auf. Dann fragte er die Jungen, ob sie das alles verstanden hätten. Die sahen einander an - jeder hoffte, der andere würde nicken. Daraufhin sagte er, er würde es ihnen noch einmal erklären. Als er sich wieder bückte, fiel den Söhnen auf, dass etwas nicht stimmte. »Du hast deine Hosen nicht hochgekrempelt! «, rief Glatzkopf-Li. 187
Song Fanping lachte auf, bückte sich, krempelte sich die Hosenbeine hoch und führte ein zweites Mal vor, wie man Krebse fängt. Jetzt beteuerten beide Jungen unisono, sie hätten es nun verstanden. Am Fluss angelangt, krempelten sie die Hosenbeine hoch und wateten hinein, bis das Wasser ihnen bis zum Knie reichte. Dann hielten sie den Korb schräg ins Wasser, wie der Vater es ihnen gezeigt hatte, und warteten, dass Krebse hinein schwammen. Einen geschlagenen Nachmittag lang standen sie schweißüberströmt unter der sengenden Sonne dieses Sommertages im Wasser. Während die Fische sich durch Bewegungen ihrer Schwanzflossen fortbewegten, hüpften die Krebse gleichsam durch das Wasser, stellten die Jungen überrascht fest. Auch in ihrem Korb schnellten die gefangenen Tiere noch hin und her. Einmal fingen die beiden sogar fünf auf einen Schlag, woraufhin sie in wildes Triumphgeheul ausbrachen, was wiederum die anderen Krebse verscheuchte. Als die Brüder das bemerkten, hielten sie sich sofort den Mund zu, aber es war schon zu spät, sie mussten an eine andere Stelle umziehen. Im Abendrot setzten sie sich am Ufer ins Gras und zählten ihre Beute: Es waren siebenundsechzig Krebse! An diesem Abend ähnelten die beiden in Miene, Sprechweise und Gangart den Trägern jener Roten Armbinden, die durch unsere kleine Stadt Liuzhen stolzierten. Mit siebenundsechzig kleinen Krebsen in ihrem Bambuskorb stolzierten nun auch sie durch die Stadt. Alle Straßenpassanten, die in den Korb schauten, konnten sich nicht wieder beruhigen: »Diese kleinen Bastarde, die haben ja wirklich was drauf«, meinten sie, worüber Glatzkopf-Li große Genugtuung emp188
fand. Zum ersten Mal gefiel es ihm, als »kleiner Bastard« bezeichnet zu werden. »Eben! Wir kleinen Bastarde haben echt was draufl«, sagte er voller Stolz zu Song Gang. Zu Hause angekommen, wies er den Bruder an, die siebenundsechzig kleinen Bastarde von Krebsen zu kochen. Als das Wasser langsam heiß wurde, rief er aufgeregt: »Hörst du, wie die siebenundsechzig kleinen Bastard-Krebse im Topf herumhüpfen?« Dann war es mit einem Mal still im Topf. Die Kinder lüpften den Deckel und stellten fest, dass die Krebse rot geworden waren. Ihnen fiel ein, dass der Vater gesagt hatte, sie seien gar, wenn sie rot wie ihre Zungen seien. Song Gang streckte seine Zunge heraus und fragte den Bruder, ob es schon so weit sei. »Die Krebse sind sogar noch röter als deine Zunge«, befand Glatzkopf-Li. Dann streckte er seinerseits die Zunge heraus und ließ Song Gang vergleichen. Auch der meinte, die Krebse seien röter als Glatzkopf-Lis Zunge. »Also dann -los!«, riefen beide. »Jetzt geht es den kleinen Bastarden an den Kragen!« Da sie vorher noch nie Krebse selbst gefangen und selbst gekocht hatten, wussten sie nicht, dass Salz in das Kochwasser gehört. Sie aßen also ein paar von den faden Krebsen, doch irgendwie schmeckten sie ihnen nicht so recht. In dieser Situation bewies Song Gang ein weiteres Mal, dass verborgene Talente in ihm schlummerten, denn er hatte den Einfall, ein wenig Sojasoße in die Essschale zu gießen und dann die Krebse hin einzutunken, ehe er sie in den Mund beförderte. Glatzkopf-Li folgte seinem Beispiel. »Diese kleinen Bastarde von Krebsen«, frohlockte er, »die schmecken ja 189
noch zehnmal besser als die kleinen Bastarde von FleischBaozi!« In diesem Moment konzentrierten sich die beiden Jungen ausschließlich aufs Essen, wobei ihnen selbst die Tatsache, dass sie gerade aßen, überhaupt nicht bewusst war. Nach der Mahlzeit blieben sie noch am Tisch sitzen und schwelgten im gerade gehabten Genuss, bis erst von Song Gang, dann auch von Glatzkopf-Li ein kräftiger Rülpser kam und sie sich endgültig damit abfinden mussten, dass alle siebenundsechzig Krebse wirklich schon vertilgt waren. Die Jungen wischten sich die Lippen und versicherten einander, am nächsten Tag würden sie unbedingt wieder Krebse essen. An den darauffolgenden Tagen interessierten sie sich überhaupt nicht mehr für das Geschehen auf den Straßen, sondern nur noch für den kleinen Fluss und die Krebse darin. Jeden Tag brachen sie in aller Frühe mit ihrem Korb auf und kehrten erst abends wieder nach Hause zurück. Zunächst flussaufwärts, dann - auf dem Rückweg - flussabwärts zogen sie unermüdlich ihre Bahnen durch das Wasser, bis am Ende ihre Füße bleich und käsig wie die einer Wasserleiche waren, ihre Gesichter aber dank der neuerdings so guten Ernährung rund und rosig wie die von irgendwelchen Kapitalisten. Als echte Autodidakten brachten sie sich selbst bei, wie man Krebse kocht, unter Rühren kurz brät und frittiert. Sie fanden heraus, dass zu sautierten Krebsen Sojasoße, zu frittierten dagegen Salz am besten passt. Darüber hinaus kam ihnen auch noch der Zufall zu Hilfe. Einmal hatten sie nämlich über hundert Krebse gefangen, die sie frittierten, wobei sie sie allerdings ein wenig zu lange im heißen Öl schwimmen ließen. Als sie von den verbrannten 190
Krebsen kosteten, stellten sie zu ihrer freudigen Überraschung fest, dass die Krebspanzer kross und überaus aromatisch waren, ein Geschmack, der dem Krebsfleisch selbst abging. Nach kurzer Zeit schon hatten sie fast die Hälfte verspeist, da hielt Song Gang plötzlich im Kauen inne und bestimmte: »Der Rest ist jetzt für Papa!« Glatzkopf-Li sagte: »Gut!« Als die Kinder mit der Essschüssel, in die sie die verbliebenen Krebse gefüllt hatten, aus dem Haus traten, erklärte Song Gang, er würde jetzt noch hundert Gramm Reiswein kaufen. Er stellte sich vor, dass der Vater sich bestimmt sehr freuen würde, wenn er ein bisschen Wein zu seinen frittierten Krebsen bekäme, und machte dem Bruder gleich einmal vor, wie Song Fanping vor Freude laut aufjauchzen würde, doch der meinte, das höre sich eher an, als ob jemand um Hilfe schrie. Wenn Song Fanping den Mund voller Krebsfleisch und Wein hätte, meinte er, wäre er wohl kaum in der Lage, noch irgendwelche Geräusche von sich zu geben, selbst wenn es ihm gelänge, den Mund so weit aufzureißen, wie Song Gang es eben vorgemacht hatte. Vielmehr würde er über das ganze Gesicht strahlen - »So!« - und geräuschlos ausatmen »So!«. Song Gang war von Glatzkopf-Lis Darbietung seinerseits nicht überzeugt und meinte, es sähe aus, als ob der Bruder gähne. Wie dem auch sei, die Jungen nahmen eine leere Schüssel mit, die sie sich im Lebensmittelladen mit Reiswein füllen ließen. Der Verkäufer sah die Krebse in der anderen Schüssel, schnupperte daran und erklärte, der Duft sei schon in Ordnung - aber ob der Geschmack wohl auch so gut sei ... ? 191
Die Jungen kicherten nur und sagten, der Geschmack sei sogar noch besser als der Geruch. Im Gehen hörten sie gerade noch, wie der Verkäufer seine Spucke hinunterschluckte. Es war schon dämmrig, als sich die beiden auf den Weg zu Song Fanpings Speicher machten, der eine die Schüssel mit den frittierten Krebsen in der Hand balancierend, der andere die mit dem Reiswein. Unterwegs stießen sie abermals auf die drei beinfegenden Mittelschüler, die ihnen schon von weitem entgegenriefen: »Hal-loo! Wen haben wir denn da?« Den Brüdern schwante nichts Gutes. Ohne die Schüsseln mit Krebsen und Wein hätten sie sich sofort aus dem Staub gemacht, so aber war kein Gedanke an Wegrennen. Es blieb ihnen nur, sich - plumps! ganz schnell auf die Erde zu setzen. Umstellt von sechs Beinfeger-Beinen, die Schüsseln mit beiden Händen umklammernd, blickten Glatzkopf-Li und Song Gang zu ihren drei Widersachern auf. »Wir sitzen schon!«, trumpfte Song Gang auf. Glatzkopf-Li hatte erwartet, die drei würden sagen, sie sollten aufstehen, wenn sie Mumm in den Knochen hätten, und hatte schon die Entgegnung parat: Fegt uns doch weg, wenn ihr Mumm in den Knochen habt! Aber es kam anders, denn Sun Wei, Zhao Shengli und Liu Chenggong, die sich inzwischen nebeneinander vor sie hingehockt hatten, interessierten sich ausschließlich für die Schüssel mit den Krebsen. Sun Wei zog hörbar die Luft ein und sagte: »Riecht echt gut! Sogar besser als im Restaurant ... « Zhao Shengli hatte den Reiswein entdeckt. »Die kleinen Scheißer haben auch noch Wein dabei!«, rief er.
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Glatzkopf-Lis Hände, mit denen er die Schüssel umklammerte, begannen zu zittern. Sicher hatten sie es auf die Krebse abgesehen! Und tatsächlich, da kam es auch schon: »Na komm schon, Kleiner! Lass mal kosten!« Als plötzlich sechs Hände nach den Krebsen langten, rief Glatzkopf-Li so laut er konnte: »Schmied Tong hat gesagt, wir Kinder sind alle Blumen des Vaterlandes!« Die bloße Nennung dieses Namens reichte aus, um die gierigen Hände zurückzucken zu lassen. Die drei Mittelschüler schauten sich nach allen Seiten um, aber als sie Schmied Tong nirgends sahen und auch sonst keiner von den Passanten auf sie achtete, langten sie erneut nach den Krebsen. Glatzkopf-Li brüllte los und war drauf und dran, den Dieben in die Hand zu beißen, da schrie Song Gang plötzlich: »Kauft Krebse! Kauft Krebse!«, wobei er dem Bruder in die Rippen stieß. Da fiel bei Glatzkopf-Li der Groschen - tatsächlich, zahlreiche Passanten waren stehen geblieben! Schnell folgte er Song Gangs Beispiel und rief ebenfalls: »Kauft Krebse! Kauft Krebse!« Durch die vielen Neugierigen, die die kleinen Marktschreier im Nu anlockten, wurden die drei Mittelschüler abgedrängt. In ihrer Enttäuschung und Wut stießen sie wüste Verwünschungen aus, die weder bei Song Gangs Vater noch bei Glatzkopf-Lis Mutter halt machten, sondern sicherheitshalber auch noch deren Vorfahren mit einschlossen. Dann zogen sie unverrichteter Dinge ab. Jemand fragte: »Was sollen die Krebse denn kosten?« Song Gang antwortete: »Einen Yuan das Stück.« 193
»Was?«, rief der Mann erstaunt. »Was ist daran so wertvoll?« »Riechen Sie mal! «, forderte Song Gang ihn auf und ließ den Bruder die Schüssel hochhalten. »Das sind frittierte Krebse!« Die Leute schnupperten den Duft, der aus der über Glatzkopf-Lis Kopf schwebenden Schüssel aufstieg. »Sehr aromatisch, das stimmt schon«, meinte jemand. »Aber ein Fen für zwei Stück, das wäre auch noch genug Geld.« Jemand anders sagte: »Für einen Yuan, da kriegst du ja einen Krebs aus purem Gold! Diese bei den kleinen Bastarde sind nichts anderes als gierige Spekulanten!« »Goldene Krebse kann man aber nicht essen«, erwiderte Song Gang und stand auf. »Duften tun sie auch nicht!«, ergänzte Glatzkopf-Li und erhob sich ebenfalls. Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass die drei Mittelschüler wirklich weg waren, bahnten sich die Brüder erleichtert eine Gasse durch die Menge und machten sich mit ihren beiden Schüsseln abermals auf den Weg. Als sie endlich an dem Speicher ankamen, hielt wieder der Vater des langhaarigen Sun Wei, der gerade um ein Haar die Krebse in Glatzkopf-Lis Schüssel gestohlen hätte, Wache vor dem Tor. Der Mann fragte die Kinder grinsend: »Na, wieso lasst ihr denn die Arme nicht baumeln?« »Heute geht das nicht. Wegen der Schüsseln.« Inzwischen hatte Sun Weis Vater den Duft der Krebse gerochen. Er trat näher, um den Inhalt der Schüsseln zu begutachten, nahm einen Krebs und steckte ihn in den Mund. »Wer hat die zubereitet?«, fragte er. »Wir!«, antwortete Glatzkopf-Li. 194
Der Mann wunderte sich. »Na, so was! Diese kleinen Bastarde könnten ja glatt beim Staatsbankett kochen!« Sprach's, und wollte sich einen weiteren Krebs nehmen, doch Glatzkopf-Li zog die Schüssel schnell weg. Nun streckte der Mann beide Hände aus: Die Kinder sollten ihm Wein und Krebse aushändigen. Als sie nichts dergleichen taten, nur noch weiter zurückwichen, öffnete er schließlich fluchend das Tor des Speichers mit einem Fußtritt und brüllte hinein: »Song Fanping! Raustreten! Deine Söhne sind da. Mit Essen und Trinken.« Bei den magischen Worten »Essen und Trinken« tauchten auf einmal fünf oder sechs Männer mit roten Armbinden aus dem Speicher auf. Sie sahen sich suchend um und fragten: »Wo gibt's hier was zu essen und zu trinken?« Beim Anblick der frittierten Krebse lief ihnen das Wasser im Munde zusammen. Mit geblähten Nüstern erklärten sie, es dufte köstlich, köstlicher sogar als Schweinefett. Die Männer, die normalerweise nichts anderes als Rettich und PakChoi zwischen die Zähne bekamen, höchstens einmal im Monat ein bisschen Schweinefleisch, umringten im Nu die beiden Jungen wie eine Mauer zwei kleine Bäumchen, streckten begehrlich die Hände nach Glatzkopf-Lis Krebsen aus und verlangten vielstimmig, er solle sie kosten lassen. Dabei ging ein förmlicher Spuckeregen auf die Kinder nieder. Glatzkopf-Li und Song Gang hielten schützend die Hände über die Schüsseln und schrien in ihrer Panik um Hilfe. In diesem Moment der höchsten Not trat, immer noch mit baumelndem Arm, der Vater aus dem Speichertor. Als die Söhne ihn erblickten, riefen sie: »Papa, komm schnell her!«
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Song Fanping ging zu den Kindern hinüber, die sich sofort erleichtert hinter seinen Rücken flüchteten und ihm von dort aus die Krebsschüssel und die Weinschüssel hinhielten. Song Gang sagte: »Papa, wir haben Krebse für dich frittiert und auch noch hundert Gramm Reiswein gekauft.« Song Fanping, der ja seine baumelnde linke Hand nicht benutzen konnte, nahm mit der rechten die Krebse von Glatzkopf-Li entgegen, kostete jedoch nicht selbst davon, sondern reichte die Schüssel zuvorkommend an die Armbindenträger weiter. Mit dem Wein von Song Gang wollte er es ebenso machen, doch die Roten Armbinden waren so beschäftigt mit den Krebsen, dass er die Schüssel einstweilen in der Hand behielt. Da so viele Hände gleichzeitig nach den Krebsen langten - man wurde an die Äste eines Baumes erinnert, nur dass diese Äste nach unten wuchsen -, war die Schüssel im Handumdrehen leer. Dann kam der Reiswein an die Reihe, den Song Fanping ihnen so unterwürfig hinhielt. Jeder nahm einen großen Schluck, und schon war auch diese Schüssel leer. Die Kinder konnten hören, wie der Wein den Männern durch die Kehle gluckerte. Vor Kummer kamen den beiden die Tränen. Sie hatten sich solche Mühe gegeben, den Vater zu erfreuen, und nun hatte er von den Krebsen und dem Wein nicht einmal kosten können! Traurig murmelte Song Gang: »Wir hatten uns schon vorgestellt, wie du dich freuen würdest, und jetzt ... « Song Fanping hockte sich vor seinen Söhnen hin und streichelte ihre verweinten Gesichter. Es war inzwischen dunkel geworden. Kein Wort kam von ihm, nur die Tränen wischte er ihnen ab. Plötzlich sahen die Kinder, dass auch der Vater
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weinte. Er lächelte sie an, doch dabei rannen aus seinen Augen Tränen. Nachdem die Roten Armbinden sich an Song Fanpings Krebsen und seinem Wein gütlich getan hatten, fingen sie plötzlich an, mit Füßen nach ihm zu treten. »Aufstehen!«, brüllten sie. »Ab mit dir in den Speicher!« Song Fanping wischte sich über die Augen, tätschelte erst Glatz-kopf-Li, dann Song Gang das Gesicht und flüsterte: »Geht jetzt nach Hause.« Dann richtete er sich zu seiner vollen Größe auf. Jetzt hatte er keine Tränen mehr in den Augen, sondern lächelte die Roten Armbinden sogar an. Ungebeugt wie ein Held ging er trotz seines baumelnden linken Arms mit festen Schritten zum Tor des Speichers. Dort wandte er sich zu den Kindern um und winkte ihnen mit der gesunden Hand noch einmal zu, nicht weniger hoheitsvoll als der Vorsitzende Mao, wenn er den demonstrierenden Millionen vom Torturm über dem Tian'anmen aus zuwinkte. XV Noch viele Jahre später äußerte sich Glatzkopf-Li über seinen Stiefvater stets nur mit anerkennend hochgerecktem Daumen und dem immer gleichen Ausdruck: »Ein großartiger Mann!« Song Fanping machte in jenem Speicher - in Wahrheit ein Gefängnis - viel Schlimmes durch. Sein linker Arm schwoll allmählich immer mehr an, nachdem man ihn ausgekugelt hatte, doch kam kein einziger Klagelaut von ihm. Er schickte weiter regelmäßig Briefe an seine Frau ins Krankenhaus nach Schanghai. Für Li Lan war jener begeisterte und begeisternde erste Brief, den er auf dem Höhepunkt seiner Popularität 197
nach dem Fahneschwenken auf der Brücke an sie geschrieben hatte, wie eine stimulierende Hormongabe gewesen, zumal es der erste Brief war, den sie je von einem Mann erhalten hatte. Glatzkopf-Lis leiblicher Vater hatte nämlich nie an sie geschrieben. Das Höchste an »Romantik«, zu dem sich dieser später in der Toilette ertrunkene Mann je aufraffte, war ein leises Klopfen an Li Lans Fenster, wenn er sie in tiefer Nacht zu einem Gang durch die Reisfelder abholte, wo er sie aufs Kreuz zu legen gedachte. Verständlich also, dass sie über und über rot wurde, als sie Song Fanpings ersten Brief in Empfang nahm, und dass auch später noch jeder weitere Brief Erröten und Herzklopfen bei ihr auslöste. Obwohl Song Fanping mittlerweile längst vom Sockel gestürzt worden war, klangen seine Briefe so enthusiastisch wie eh und je. Seine Frau sollte die Wahrheit nicht erfahren, um den Heilungsprozess nicht zu stören. Er schilderte seine Situation in so rosigen Farben, dass Li Lan das Gefühl hatte, ihr Mann würde vom mächtigen Strom der Großen Kulturrevolution unaufhaltsam immer weiter nach oben geschwemmt. Sogar nachdem Song Fanping in dem Speicher gefangen gesetzt worden war, die Roten Armbinden sein Schultergelenk ausgekugelt hatten und er den linken Arm nicht mehr benutzen konnte, hielt er mit der rechten Hand diese Fiktion weiter aufrecht - in seinen Briefen nämlich, die die Söhne für ihn zur Post bringen mussten. Der Vater des langhaarigen Sun Wei händigte sie ihnen jeweils am Tor des Speichers aus. Als Song Fanping seine Briefe noch selbst aufgeben konnte, hatte er die Briefmarke stets in die rechte obere Ecke des Umschlags geklebt. Glatzkopf-Li und Song Gang, die nicht wuss198
ten, wohin die Marke gehörte, weil sie vorher noch nie etwas damit zu tun gehabt hatten, beobachteten auf dem Postamt, wie jemand die Briefmarke auf die Rückseite des Umschlags klebte. Da machte Glatzkopf-Li es genauso. Beim nächsten Brief war Song Gang mit Markenaufkleben an der Reihe. Als er sah, dass ein Mann die zugeklebte Lasche auf der Rückseite des Kuverts zusätzlich mit einer Briefmarke sicherte, folgte er seinem Beispiel. Inzwischen konnte in dem Krankenhaus, in dem Li Lan lag, von einer ordentlichen medizinischen Behandlung längst keine Rede mehr sein. Jeden Tag fanden dort Kritik- und Kampf-Versammlungen statt, und die Ärzte, die sie kannte, verschwanden einer nach dem anderen in der Versenkung. Sie wurde immer unruhiger und ihr Heimweh immer größer. Song Fanping war jedoch strikt gegen eine vorzeitige Heimkehr und redete ihr in seinen Briefen zu, sie solle unbedingt erst einmal ihre Migräne gründlich auskurieren. Doch Li Lan kam in ihrem Krankenbett jeder Tag nach gerade so lang vor wie ein Jahr. Unzählige Male las sie die Briefe ihres Mannes - für sie der einzige Trost in ihrer Schanghaier Einsamkeit -, obwohl sie sie längst in- und auswendig kannte. Dabei wendete sie auch die Umschläge immer wieder hin und her und stellte fest, dass ab einem bestimmten Datum die Briefmarke nicht mehr klebte, wo sie sonst geklebt hatte, sondern mal auf der Rückseite des Umschlags, mal auf der Verschlusslasche. Wenn sie ein Kuvert mit der Marke auf der Rückseite erhielt, sagte sie sich: Nächstes Mal klebt sie bestimmt auf der Lasche!
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Glatzkopf-Li und Song Gang hielten sich streng daran, immer abwechselnd die Marken aufzukleben und den Umschlag dann in den Briefkasten zu werfen. Diese Regelmäßigkeit empfand Li Lan vage als beunruhigend. Sie kam immer mehr ins Grübeln, und mit der Zeit wurde ihre Unruhe so groß, dass sie vor lauter Sorge kaum noch schlafen konnte. Unnötig zu sagen, dass sich dadurch auch ihre Kopfschmerzen wieder verschlimmerten. Schließlich schickte sie, die sonst stets alles so machte, wie Song Fanping es wollte, ihrem Mann einen Brief, in dem sie zum ersten Mal auf ihrer eigenen Meinung beharrte. Sie habe sich entschlossen, schrieb sie, nach Hause zurückzukehren, weil sich wegen der Kulturrevolution sowieso kein Arzt mehr auf der Station blicken lasse. Als Song Fanping seine Frau seinerzeit in den Bus setzte, hatte er ihr versprochen, sie in Schanghai persönlich wieder abzuholen, sobald ihre Krankheit geheilt sei. Schon um ihre geheimen Ängste zu beschwichtigen, fragte Li Lan daher jetzt zaghaft an, ob es dabei bleibe. Erst nach einem halben Monat kam die Antwort ihres Mannes. Zu dem Zeitpunkt, da Song Fanping den Brief schrieb, war er gerade über eine Stunde lang mit Lederriemen ausgepeitscht worden. Ein durch nichts zu erschütternder Mann, der auch im Kerker noch zu seinem Wort steht, versprach er seiner Frau ohne Wenn und Aber, sie in Schanghai abzuholen. Sogar Tag und Stunde legte er fest: An dem und dem Tage solle Li Lan um zwölf Uhr mittags am Tor des Krankenhauses auf ihn warten. Über diesen Brief - es war der letzte, den sie von ihrem Mann erhalten sollte - vergoss Li Lan Tränen der Erleichte200
rung. Sie schlug sich all ihre Sorgen aus dem Kopf und hatte nach langer Zeit zum ersten Mal wieder eine ruhige Nacht. An dem besagten Tag floh Song Fanping aus dem Speicher. Er nutzte den Moment, da Sun Weis Vater auf die Toilette gegangen war, um das Tor leise einen Spaltbreit zu öffnen und unbemerkt hinauszuschlüpfen. Eine Stunde nach Mitternacht kam er zu Hause an. Die Kinder schliefen fest. Er knipste das Licht an und streichelte die beiden behutsam. Zuerst wurde Song Gang wach. Als er sich die Augen rieb und den Vater auf der Bettkante sitzen sah, schrie er in seiner freudigen Überraschung so laut auf, dass er damit auch Glatzkopf-Li aufweckte. Song Fanping eröffnete den Kindern, Li Lan würde zurückkommen, seine Frau, ihre Mutter! In aller Frühe würde er mit dem Bus nach Schanghai fahren und dann mit dem Nachmittagsbus mit ihr zusammen heimkommen. Auf die tiefe Dunkelheit draußen deutend, fügte er hinzu: »Wenn die Sonne wieder untergeht, sind wir schon wieder da.« Wie zwei muntere Äffchen hüpften die Jungen in ihrer Freude auf dem Bett umher, bis Song Fanping sie mit einer Geste seiner rechten Hand ermahnte, sich zu beruhigen. Er zeigte nach rechts und nach links und flüsterte: »Wir wollen doch die Nachbarn nicht aufwecken!« Da hielten sich Glatzkopf-Li und Song Gang schuldbewusst die Münder zu und krabbelten ganz leise aus dem Bett. Song Fanping blickte sich bekümmert in der Wohnung um, wo der umgestürzte Schrank immer noch auf dem Fußboden lag und alles voller verstreuter Kleidungsstücke war. »Wenn eure Mama sieht, dass es hier schlimmer aussieht als auf einer Müllkippe, wird sie gewiss ärgerlich und kehrt gleich 201
wieder um. Und was machen wir dann?«, fragte er die Kinder. Die sahen jetzt ebenfalls ziemlich bekümmert aus. »Was meint ihr, wie könnten wir sie wohl daran hindern, wieder nach Schanghai zu fahren? «, fragte der Vater weiter. Die Jungen überlegten einen Moment, dann - »indem wir sauber machen!« »Genau!«, rief Song Fanping. Dann bückte er sich, hob den umgefallenen Schrank mit der gesunden rechten Hand an, schob die Schulter darunter und richtete sich und zugleich den Schrank wieder auf. Die Kinder staunten nicht schlecht, dass ihr Vater mit einem derart großen Möbelstück einfach so mit links fertig wurde - oder vielmehr: mit rechts, denn die baumelnde linke Hand durfte sich ja nach wie vor ausruhen. Dem Beispiel des Vaters folgend, legten sie nun ebenfalls Hand an (in ihrem Fall sogar beide Hände), um die Wohnung wieder in Ordnung zu bringen. Sie halfen, die verstreute Wäsche aufzuheben, schafften den Müll hinaus und putzten den Schmutz von Tisch und Schemeln, während Song Fanping einhändig ausfegte und den Fußboden wischte. Als alles sauber und ordentlich war, begannen draußen schon die Hähne zu krähen, und der Himmel schimmerte milchig grau wie ein Fischbauch. Glatzkopf-Li und Song Gang setzten sich auf die Schwelle und schauten zu, wie ihr Vater den Wassereimer aus dem Brunnen hochzog, sich einseifte und anschließend abspülte, alles mit der rechten Hand, wie er dann ins Haus zurückging - inzwischen hatten sie sich umgedreht und schauten nach drinnen - und, immer noch nur mit der rechten Hand, saubere Kleidung anlegte: Er trug jetzt ein ärmelloses rotes Unter202
hemd mit gelben Schriftzeichen auf der Brust (die die Kinder nicht lesen konnten, die aber Song Fanpings Erklärung zufolge den Namen seiner Universität bedeuteten, in deren Basketballmannschaft er seinerzeit gespielt hatte) und ein Paar beige Plastiksandalen, ein Geschenk Li Lans, die er vorher nur einmal, am Tag der Hochzeit, getragen hatte. Erst jetzt fiel den Jungen auf, dass der baumelnde linke Arm des Vaters dicker als sonst war und die Hand aussah, als trüge er Baumwollhandschuhe. Dass das ein Ödem war, wussten sie natürlich nicht. Als sie Song fragten, warum seine linke Hand dicker als die rechte sei, antwortete er, das käme von ihrem Erholungsurlaub: »Sie isst nur und arbeitet nicht, da nimmt sie eben zu.« Glatzkopf-Lis und Song Gangs Bewunderung für diesen Vater, der einen Arm arbeiten ließ, während der andere sich ausruhen konnte und dabei auch noch Speck ansetzte, wuchs ins Unermessliche. »Wann nimmt denn dann deine rechte Hand zu?«, wollten sie wissen. »Die kommt schon auch noch an die Reihe«, erwiderte der Vater lächelnd. Dann ging die Sonne auf. Song Fanping, der ja die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte, gähnte mehrmals herzhaft. Er sagte, die Jungen sollten wieder zu Bett gehen und noch ein bisschen schlafen, aber sie schüttelten mit dem Kopf und blieben auf der Schwelle sitzen, sodass er halb über sie hinwegsteigen musste, als er sich auf den Weg zum Frühbus machte, um seine Frau in Schanghai abzuholen. Jetzt, da der hochgewachsene Mann nicht mehr die Türöffnung versperrte, konnte die Morgenröte ungehindert eindringen und die ganze Wohnung in rotes Licht tauchen. Die Kinder staunten 203
nicht schlecht, dass ihr Zuhause vor lauter Sauberkeit förmlich glänzte wie ein blankgeputzter Spiegel. Song Gang drehte sich um und rief dem sich entfernenden Vater nach: »Papa, Papa! Komm zurück!« Da kehrte Song Fanping tatsächlich noch einmal um. Sein Sohn fragte: »Was, meinst du, wird die Mama sagen, wenn sie sieht, wie sauber hier alles ist?« »Sie wird sagen: >Ich fahre nicht wieder nach Schanghai zurück.<« Darüber freuten sich die Jungen, und auch der Vater stimmte in ihre Fröhlichkeit ein. Dann setzte er sich abermals in Bewegung, und zwar mit festen Schritten, die wie Hammerschläge in der Gasse widerhallten. Nach zehn oder fünfzehn Metern blieb er noch einmal stehen, und die Kinder sahen, wie er mit der rechten Hand vorsichtig die linke, baumelnde Hand in seine Hosentasche versenkte. Als er weiterging, baumelte sie nicht mehr. Die eine Hand in der Tasche, die andere beim Gehen energisch hin- und herschwingend, hätte der stattliche Mann, der da der am Horizont erscheinenden Sonne entgegenging, einem heroischen Filmepos entsprungen sein können. XVI Als Song Fanping am Fernbusbahnhof in der Oststadt ankam, sah er einen Mann mit roter Armbinde und mit einem Knüppel in der Hand auf den Stufen zum Eingang des Bahnhofsgebäudes stehen. Auch der Mann hatte bemerkt, wie Song sich von der Brücke her näherte, und sofort fünf weitere Armbindenträger aus dem Wartesaal zu sich herausgerufen. Song ahnte, sie waren seinetwegen da, zögerte aber nur kurz und ging dann direkt auf sie zu. Er wollte ihnen Li Lans 204
Brief zu lesen geben, besann sich dann jedoch anders und ließ es sein. Alle sechs Roten Armbinden, die ihn auf der Treppe erwarteten, waren mit Knüppeln bewaffnet. Song Fanping zog die baumelnde linke Hand aus der Hosentasche heraus, stieg die Treppe hinauf und war im Begriff, ihnen zu erklären, er wolle nicht fliehen, sondern lediglich seine Frau aus Schanghai heimholen, da prasselten schon die ersten Stockhiebe auf ihn nieder. Als er instinktiv versuchte, sich davor zu schützen, trafen ihn die Schläge mit solcher Wucht auf die Schulter, dass er glaubte, der Knochen wäre gebrochen. Dennoch wehrte er mit dem verletzten rechten Arm weiter die Knüppel ab, so gut es ging, drang auch tatsächlich bis in den Wartesaal vor und bewegte sich in Richtung Fahrkartenschalter, immer verfolgt von der wilden Horde der Armbindenträger, die auf ihn eindroschen. Er hatte das Gefühl, sein rechter Arm würde ihm gleich abfallen, so unerträglich war der Schmerz. Auch auf seine Schultern hagelten unzählige Hiebe nieder, und ein Ohr schien abgerissen zu sein. Als er endlich, umzingelt von den prügelnden Armbindenträgern, zum Schalter vorgedrungen war, sah er, dass der Fahrkartenverkäuferin vor Entsetzen fast die Augen aus dem Kopf sprangen. Mit dem ausgekugelten linken Arm, den er dank übermenschlicher Anstrengung plötzlich doch wieder heben konnte, wehrte er weiter die auf ihn herunterregnenden Hiebe ab, während er zugleich mit der rechten Hand Geld aus der Tasche holte, es unter der Scheibe hindurchschob und mit fester Stimme zu der Frau dahinter sagte: »Einmal Schanghai, bitte.«
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Da sackte der Frau der Kopf zur Seite, und im nächsten Moment lag sie ohnmächtig auf dem Fußboden. Das war so verstörend, dass Song Fanping den ausgekugelten linken Arm sinken ließ und einen Moment lang versäumte, sich vor den Knüppeln zu schützen. Im Nu wurde er von zahlreichen Hieben am Kopf getroffen, sodass er mit klaffenden Wunden, aus denen das Blut strömte, zusammenbrach und an der Wand entlang auf den Fußboden rutschte, während die Schläger fortfuhren, blindwütig auf ihn einzudreschen, bis ihre Knüppel zerbrachen. Nun kamen die Beine zum Zuge, denn jetzt begannen die sechs Roten Armbinden, erbarmungslos auf ihrem Opfer herumzutrampeln. Mehr als zehn Minuten lang traten sie wieder und wieder zu und ließen von dem am Boden liegenden Song Fanping erst ab, als der sich nicht mehr rührte. Schwer atmend umstanden sie den Wehrlosen, massierten ihre schmerzenden Gliedmaßen und wischten sich den Schweiß von der Stirn. Schließlich ließen sie sich, todmüde und erschöpft, auf ein paar Stühle fallen, über denen an der Decke ein Ventilator rotierte, ohne jedoch ihr Opfer aus den Augen zu lassen und ihre unflätigen Verwünschungen zu unterbrechen: »Verfluchter Scheißkerl! ... « Die Armbindenträger kamen aus dem Speicher, der in Wahrheit ein Gefängnis war. Sie hatten bei Tagesanbruch entdeckt, dass Song Fanping entflohen war, und sich sofort in zwei getrennten Suchtrupps in Richtung Busbahnhof und Flusshafen auf den Weg gemacht. Vor den sechs Roten Armbinden, die Song auf dem Busbahnhof aufgelauert und ihn unter wüstem Gebrüll zusammengeschlagen hatten, waren die auf ihren Bus wartenden Leute in panischer Angst aus dem Wartesaal auf die Trep206
penstufen vor dem Bahnhofsgebäude geflüchtet. Mehrere Kinder schrien wie am Spieß, ein paar Frauen hatten angstverzerrte Gesichter, und manche spähten verstohlen durch die Tür nach drinnen, aber kein Einziger wagte sich zurück in den Wartesaal. Erst als der Überlandbus nach Schanghai aufgerufen wurde, gingen die Leute zögernd hinein - die Busbahnsteige waren nur von drinnen aus zugänglich - und drückten sich vor Angst schlotternd an den unter dem Deckenventilator fläzenden Roten Armbinden vorbei. Ohnmächtig, wie er war, hatte Song Fanping offenbar im Unterbewusstsein doch mitbekommen, wie der Bus aufgerufen wurde. Jedenfalls war er erwacht, zog sich mühsam an der Wand hoch, wischte sich das Blut aus den Augen und setzte sich schwankend Richtung Sperre in Bewegung. Die dort auf die Fahrkartenkontrolle Wartenden schrien entsetzt auf, während die sich unter dem Ventilator von ihren Strapazen erholenden Roten Armbinden beim Anblick ihres wieder auferstandenen und tatsächlich auch noch zur Sperre wankenden Opfers ihren Augen nicht trauen wollten. Ungläubig sahen sie einander an. Plötzlich schrie einer von ihnen: »Er darf nicht entwischen!« Da klaubten die sechs ihre zerbrochenen Knüppel vom Fußboden auf und stürzten sich erneut in blinder Wut auf Song Fanping. Diesmal jedoch leistete er Widerstand. Die zur Faust geballte Rechte schwingend, bewegte er sich zugleich in Richtung Sperre. Entsetzt schlug der Fahrkartenkontrolleur das gerade geöffnete Gittertor wieder zu und rannte davon. Jetzt blieb Song Fanping kein anderer Ausweg, als sich seine Verfolger mit der Faust vom Leibe zu halten. Doch die sechs Roten Armbinden umzingelten den gerade 207
erst aus dem Koma wiedererwachten Mann und prügelten erneut brutal auf ihn ein, bis das Blut spritzte. Trotz seines verzweifelten Widerstands trieben sie ihn vor sich her aus dem Wartesaal. Auf der Treppe strauchelte er, kam zu Fall und rollte die Stufen hinunter. Sofort hatten die sechs ihn wieder umringt und begannen, mit den Füßen auf ihm herumzutrampeln und ihm ihre zerbrochenen Knüppel, die spitz und scharf wie Bajonette waren, in den Leib zu rammen. Als einer seinen Unterleib durchbohrte, krümmte Song Fanping sich wie im Krampf zusammen, nur um sich sogleich wieder zu strecken, nachdem jener Armbindenträger den Stock herausgezogen und sich ein gewaltiger Schwall Blut aus der Wunde auf den Erdboden ergossen hatte. Dann regte er sich nicht mehr. Auch die sechs Roten Armbinden waren am Ende ihrer Kraft und hatten sich schwer keuchend hingekauert, um zu verschnaufen. Sehr bald wurde ihnen jedoch die trotz der frühen Stunde schon unerträgliche Gluthitze zu viel, und sie verzogen sich in den Schatten eines Baumes, wo sie sich mit ihren Unterhemden den Schweiß abwischten. Sie nahmen an, dass Song Fanping diesmal wirklich am Ende sei, aber als der Überlandbus langsam aus dem Bahnhof herausfuhr, erwachte der Kerl doch tatsächlich ein weiteres Mal aus seiner Ohnmacht! Er richtete sich sogar auf, machte wankend ein paar Schritte in Richtung des fahrenden Busses, winkte mit der rechten Hand, um ihn zum Anhalten zu bewegen, und rang sich ein paar abgehackte Wörter ab: »Ich - will- noch mit ... « Da stürzten sich die frisch ausgeruhten sechs Roten Armbinden erneut auf ihn und warfen ihn wieder zu Boden. So 208
unbeugsam er sonst war, diesmal leistete Song Fanping keinen Widerstand, sondern bettelte um Gnade. Jetzt war sein Lebenswille stärker. Blut spuckend, blutige Tränen weinend, die rechte Hand auf den Unterleib gepresst, aus dem das Blut hervorschoss, kniete er sich mit letzter Kraft vor seinen Peinigern hin und beschwor sie, von ihm abzulassen. Er fingerte Li Lans Brief aus der Hosentasche und faltete ihn auseinander, wundersamerweise mit Hilfe der eigentlich längst bewegungsunfähigen linken Baumelhand, denn er wollte beweisen, dass er wirklich nicht vorhatte zu fliehen. Aber keine Hand streckte sich ihm entgegen, um den Brief entgegenzunehmen. Statt dessen setzten die tretenden, trampelnden und stampfenden Füße ihr Vernichtungswerk fort, und zwei weitere zerbrochene Stöcke, messerscharf und spitz wie Bajonette, wurden in seinen Leib gestoßen und wieder herausgezogen, sodass das Blut aus zahlreichen Öffnungen des gleichsam leck gewordenen Körpers hervorspritzte. Mehrere Einwohner unserer kleinen Stadt Liuzhen sahen mit eigenen Augen, wie die sechs Roten Armbinden Song Fanping abschlachteten. Mutter Su aus dem Schnellimbiss am Busbahnhof war so erschüttert, dass sie in Tränen ausbrach. Sie wischte sich die Augen, schüttelte den Kopf und gab undeutliche Laute von sich - Schluchzen? Stöhnen? -, während sie das Geschehen beobachtete. Als es mit Song Fanping zu Ende ging, wurde den sechs Roten Armbinden plötzlich bewusst, dass sie Hunger hatten. Sie ließen fürs Erste von ihm ab und gingen in Mutter Sus Imbissladen. Todmüde wie Hafenarbeiter nach einem langen Tag schwerer körperlicher Arbeit ließen sie sich auf die Hocker fallen und waren sogar zum Reden viel zu erschöpft. 209
Mutter Su kam mit gesenktem Kopf von draußen herein, setzte sich wortlos vor die Ladentheke und schaute auf die sechs Roten Armbinden, die schlimmer als die wilden Tiere gewütet hatten. Die Männer hatten sich inzwischen ein wenig erholt, riefen nach ihrem Frühstück - Sojamilch, Ölstriezel, Dampfnudeln - und stürzten sich heißhungrig darauf, auch wie die wilden Tiere. In diesem Moment kamen die fünf Roten Armbinden, die die Bootsanlegestelle überwacht hatten, schweißüberströmt und tatendurstig angerannt. Sie hatten gehört, dass Song Fanping am Busbahnhof gefasst worden war, und wollten es sich nun nicht nehmen lassen, auch ihre Knüppel noch zum Einsatz zu bringen. Also droschen sie blindwütig auf den bewegungslos auf der Erde liegenden Song Fanping ein, bis ihre Stöcke ebenfalls sämtlich zerbrochen waren und sie nur noch mit den Füßen nach ihm treten und auf ihm herum trampeln konnten. Als die ersten sechs Roten Armbinden gesättigt aus Mutter Sus Imbissstube traten, nahmen die fünf von der Anlegestelle sofort ihre Plätze ein. Die beiden Trupps - die ersten sechs und die später dazugekommenen fünf, insgesamt also elf Rote Armbinden - fuhren fort, abwechselnd auf Song Fanping herumzutrampeln, obwohl längst kein Lebenszeichen mehr von ihm kam. Schließlich hielt Mutter Su es nicht mehr länger aus. Sie sagte: »Vielleicht ist er ja schon tot ... « Da ließen die elf Roten Armbinden von ihrem Opfer ab, wischten sich den Schweiß von der Stirn und zogen triumphierend, wenn auch humpelnd nach ihrer kräftezehrenden Beinarbeit, davon. Mutter Su, die ihnen hinterherblickte,
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dachte: Das sind keine Menschen - so grausam können doch Menschen gar nicht sein! XVII Währenddessen schliefen Glatzkopf-Li und Song Gang noch fest; sie träumten davon, wie Li Lan sich freuen würde, wenn sie heimkäme. Erst gegen Mittag wachten sie auf. Voller Vorfreude machten sie sich sofort auf den Weg zum Busbahnhof, obwohl der Vater gesagt hatte, er würde erst bei Sonnenuntergang mit der Mutter zu Hause ankommen. Nein, so lange konnten sie nicht warten - sie wollten dabei sein, wenn der Bus mit den Eltern in den Bahnhof einfuhr! Als sie das Haus verließen, folgten sie dem Beispiel des Vaters, steckten die linke Hand in die Hosentasche und ließen die rechte hin und her schwingen. Bemüht, es den lässigen Kinohelden gleichzutun, ahmten sie deren schaukelnden Gang nach, was sie allerdings eher wie die typischen Kollaborateure des chinesischen Films aussehen ließ. Schon von der Brücke aus sahen die Kinder Song Fanping auf dem Platz vor dem Busbahnhof, einen Haufen blutigen Fleisches, an dem die Passanten mit scheuen Seitenblicken und gemurmelten Kommentaren vorbeigingen, so auch Glatzkopf-Li und Song Gang, denn sie hatten den Vater nicht erkannt. Ein Arm unter dem Bauch, der andere zur Seite gekrümmt, ein Bein ausgestreckt, das andere angezogen, das Gesicht nach unten, so lag Song Fanping da, von Fliegen umschwirrt. Kopf, Hände und Füße, alle verletzten und blutenden Körperteile wimmelten von Schmeißfliegen. Erschrocken und angewidert sahen es die bei den Jungen. Song Gang fragte einen Mann: »Wer ist das? Ist er tot?« 211
Der Mann schüttelte den Kopf, sagte nur, er wisse es auch nicht und verzog sich unter einen Baum, wo er begann, sich mit seinem Strohhut Kühlung zuzufächeln. Glatzkopf-Li und Song Gang stiegen die Stufen zum Wartesaal hinauf. Sie hatten das Gefühl, von der sengenden Sonne ausgedörrt zu werden, wenn sie auch nur einen Moment länger draußen stehen blieben. An der Decke des Wartesaals drehten sich zwei große Ventilatoren, unter denen sich die Leute drängten und halblaut unterhielten - man musste unwillkürlich an zwei Fliegenschwärme denken. Die Jungen stellten sich dazu, der eine zu diesem, der andere zu jenem Schwarm, aber die Luft von den Ventilatoren erreichte sie nicht; wo der Luftstrom noch hinkam, war kein Platz mehr für sie. Da schlenderten sie hinüber zu dem Fahrkartenschalter und stellten sich auf die Zehenspitzen, um hineinspähen zu können. Die Fahrkartenverkäuferin hinter dem Fenster saß da und starrte mit leerem Blick vor sich hin, als wäre sie schwachsinnig. Sie hatte sich von dem Schreck in der Morgenstunde noch nicht wieder erholt. Als die Stimmen der Kinder sie plötzlich aus ihrem dumpfen Brüten rissen, schrak sie auf, schaute die bei den einen Moment starr an und schnauzte: »Was gibt's hier zu gaffen?!« Schnell duckten sich die Kinder und liefen weiter zur Sperre. Die Gittertür stand halb offen, aber ein Bus war nicht zu sehen, nur ein Fahrkartenkontrolleur mit einem Teebecher in der Hand. Der Mann kam näher und schnauzte ebenfalls los: »Was habt ihr hier verloren?!« Nachdem Glatzkopf-Li und Song Gang auch hier die Flucht ergriffen und in dem Wartesaal ziellos ein paar Runden gedreht hatten, erschien plötzlich an der Eingangstür Stieleis212
Wang mit seinem Hocker in der Hand und dem Eiskasten auf dem Rücken. Er stellte den Hocker direkt am Eingang ab, setzte sich und begann, mit seinem Holzklotz auf den Kasten zu schlagen und seine Ware anzupreisen: »Kauft Stieleis! Hier gibt's Stieleis für Klassenbrüder und Klassenschwestern!« Den Kindern lief das Wasser im Munde zusammen, als sie vor ihm standen. Ohne sein Klappern zu unterbrechen, ließ Stieleis-Wang die Jungen nicht aus den Augen. Deren Blick fiel jetzt wieder auf den Mann, der draußen vor der Treppe auf dem Bauch lag, in genau der gleichen Haltung wie eben. Auf Song Fanping zeigend, fragte Song Gang den Eisverkäufer: »Wer ist denn das?« Stieleis-Wang neigte den Kopf zur Seite und beäugte misstrauisch die bei den Jungen, gab jedoch keine Antwort. »Ist er tot?«, fragte Song Gang weiter. Da brüllte Stieleis-Wang los: »Haut ab, wenn ihr kein Geld habt! Eure Spucke könnt ihr woanders schlucken!« Glatzkopf-Li und Song Gang erschraken und liefen schnell die Treppe hinunter. Als sie Hand in Hand abermals an dem mit Fliegen bedeckten Mann vorbeigingen, der dort in der Gluthitze lag, blieb Song Gang plötzlich wie angewurzelt stehen. Er zeigte auf die beigen Sandalen des Mannes und rief: »Der Mann hat Papas Sandalen an!« Dann entdeckte er das rote Unterhemd. »Das ist auch Papas Hemd!«, schrie er. Was war geschehen? Die Jungen sahen einander ratlos an. Nach einem kurzen Moment sagte Glatzkopf-Li: »Das ist nicht Papas Hemd, da müssten ja gelbe Schriftzeichen drauf 213
sein.« Song Gang nickte erst, doch dann schüttelte er den Kopf: »Die gelbe Schrift war vorne drauf.« Die Kinder kauerten sich hin, verscheuchten die Fliegen und zogen das Hemd unter dem Mann ein Stückchen weiter heraus. Als tatsächlich ein paar gelbe Schriftzeichen zum Vorschein kamen, richtete Song Gang sich auf und brach in Tränen aus. Weinend fragte er den Bruder: »Ob das unser Papa ist?« Auch Glatzkopf-Li schluchzte los. »Weiß nicht«, stieß er hervor. Die weinenden Kinder sahen sich Hilfe suchend um, aber niemand nahm Notiz von ihnen. Da hockten sie sich wieder hin und verscheuchten die Fliegen von Song Fanpings Kopf; damit sie besser sehen konnten, ob er es wirklich sei. Doch das Gesicht war von Blut und Schmutz so verkrustet, dass sie sich immer noch nicht sicher waren. Er ähnelte ein bisschen dem Vater, aber war er es wirklich? Sie richteten sich auf und beschlossen, doch lieber jemand anders zu Rate zu ziehen. Zuerst wandten sie sich an zwei Männer, die rauchend unter einem Baum standen. Auf Song Fanping zeigend, fragten sie sie: »Ist der Mann da unser Vater?« Die Männer stutzten, dann schüttelten sie den Kopf: »Wir kennen euren Vater gar nicht.« Glatzkopf-Li und Song Gang gingen die Stufen wieder hinauf und stellten sich vor Stieleis-Wang auf. Weinend fragte ihn Song Gang: »Ist der Mann, der da liegt, unser Papa?« Stieleis-Wang schlug noch ein paarmal mit dem Holz auf den Kasten und warf den bei den einen ärgerlichen Blick zu. Schließlich raunzte er: »Haut ab!« Glatzkopf-Li war gekränkt: »Wir schlucken doch unsere Spucke gar nicht!« 214
»Haut trotzdem ab!«, beharrte Stieleis-Wang. Hand in Hand gingen die beiden weinenden Jungen abermals in den Wartesaal und fragten die Leute, die sich immer noch unter den Ventilatoren drängten, ob der Mann, der draußen auf der Erde liege, ihr Vater sei. Ob irgendjemand ihnen das sagen könne? So kläglich sich das anhörte, sorgte die Frage der Kinder dennoch für einen großen Heiterkeitsausbruch. Lachend fragten die Leute einander, ob man jemals zwei solche Schwachköpfe gesehen hätte, die den eigenen Vater nicht erkennen und fremde Leute bitten müssen, es ihnen zu sagen. Jemand machte den beiden ein Zeichen: »Kommt mal her, ihr Knirpse!« Als die Jungen vor ihm standen, beugte er sich zu ihnen hinunter und fragte: »Kennt ihr meinen Vater?« Die beiden verneinten kopfschüttelnd. Da fuhr der Mann fort: »Wer kennt ihn denn dann?« Die Kinder überlegten und antworteten gleichzeitig: »Sie!« »Na also!« Der Mann scheuchte sie mit einer Handbewegung fort. »Den eigenen Papa muss man selbst erkennen«, sagte er. Immer noch Hand in Hand und immer noch weinend verließen die beiden Jungen den Wartesaal und gingen abermals die Stufen hinunter. Als sie wieder vor dem auf der Erde liegenden Mann standen, schluchzte Song Gang: »Natürlich kennen wir unseren eigenen Papa. Aber das Gesicht, das ist so voller Blut, man kann es ja gar nicht richtig sehen!« Sie gingen hinüber zur Imbissstube. Dort war niemand außer Mutter Su, die gerade die Tische abwischte. Durch ihre bisherigen Erfahrungen verunsichert, wagten die Kinder 215
nicht, hineinzugehen, deshalb sagte Song Gang von der Tür aus mit leiser Stimme: »Wir wollten Sie etwas fragen, aber wir haben Angst, Sie werden böse ... « Mutter Su schaute auf, sah die weinenden Jungen vor ihrer Tür, taxierte mit einem schnellen Blick ihre Kleidung und sagte dann: »Ihr wollt doch nicht etwa betteln?« »Nein!«, rief Song Gang und zeigte hinter sich in Richtung des auf der Erde liegenden Mannes. »Wir möchten Sie fragen, ob der da unser Papa ist.« Mutter Su ließ ihren Wischlappen sinken. Sie hatte Glatzkopf-Li erkannt - das war doch der kleine Strolch, der sich an hölzernen Strommasten rieb und behauptete, sein Geschlechtstrieb sei über ihn gekommen! Sie warf ihm einen strengen Blick zu und wandte sich dann wieder Song Gang zu: »Wie heißt denn euer Papa?« »Er heißt Song Fanping.« »Um Himmels willen!«, schrie Mutter Su auf. Dann rief sie abwechselnd den Himmel, ihre Mutter und ihre Vorfahren um Beistand an, bis sie schließlich, völlig erschöpft und schwer atmend, zu den verständnislos diesem Ausbruch beiwohnenden Kindern sagte: »Er liegt ja schon seit Stunden dort, ich hab gedacht, seine Angehörigen sind alle tot ... « Die beiden Jungen wussten überhaupt nicht, wovon sie redete. Daher fragte Song Gang noch einmal: »Ist er unser Papa?« Mutter Su wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagte: »Er heißt jedenfalls Song Fanping.« Song Gang schluchzte sofort los. Unter Tränen sagte er zu seinem Bruder: »Ich wusste, es ist Papa, deswegen musste ich gleich weinen, als ich ihn gesehen habe.« 216
Ebenfalls laut schluchzend sagte Glatzkopf-Li: »Ich musste ja auch weinen, als ich ihn sah.« Das durchdringende Klagegeschrei der Kinder zerriss die Stille des heißen Sommertages und verscheuchte sogar die Fliegen, mit denen Song Fanpings Leichnam bedeckt war. Song Gang kniete sich neben seinen toten Vater, GlatzkopfLi folgte seinem Beispiel, und dann betrachteten beide mit gesenkten Köpfen sein dick verschorftes Gesicht. Nachdem Song Gang mit den Fingern das von der Sonne getrocknete Blut vorsichtig entfernt hatte, sah er, dass es wirklich das Gesicht des Vaters war. Er drehte sich zu Glatzkopf-Li um, ergriff seine Hand und sagte: »Es ist Papa.« Glatzkopf-Li nickte und sagte schluchzend: »Es ist Papa ... « Mit weit geöffneten Mündern knieten die Jungen auf der Erde vor dem Busbahnhof und weinten zum Steinerweichen. Sie schrien ihren Kummer zum Himmel empor, bis ihr durchdringendes Wehgeschrei plötzlich verstummte, als seien ihm die Flügel gebrochen: Tränen und Schleim hatten ihre Kehlen verstopft, und erst nachdem sie sie durch intensives Schlucken wieder freigemacht hatten, brach aus ihren nach wie vor weit aufgerissenenen Mündern erneut jenes markerschütternde Klagegeschrei hervor, das den ganzen Raum zwischen Himmel und Erde auszufüllen schien. Zusammen weinten die beiden, zusammen schubsten sie den regungslosen Körper vor ihren Füßen in der Hoffnung auf ein Lebenszeichen, zusammen riefen sie wieder und wieder »Papa! Papa! Papa! ... « Es kam aber kein Lebenszeichen von Song Fanping.
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Die Jungen wussten nicht mehr weiter. »Heute früh, da war doch alles noch in Ordnung. Wieso bloß ist er jetzt plötzlich taub und stumm?«, rief Glatzkopf-Li. Song Gang wandte sich an die vielen Gaffer, die sich inzwischen versammelt hatten: »Bitte retten Sie meinen Papa!« Die ganze Zeit über heulten die verzweifelten Kinder Rotz und Wasser. Als Song Gang sich etwas zu energisch das Gesicht mit der Hand abwischte, traf der Schleim das Hosenbein eines der Umstehenden, der den Unglücksraben sogleich am Schlafittchen fasste und wüst beschimpfte. Just in diesem Moment passierte Glatzkopf-Li das gleiche Malheur, wieder mit demselben Mann, nur dass diesmal die Sandalen betroffen waren. Daraufhin packte der erboste Mann den Jungen an den Haaren, und dann drückte er beide Kinder unsanft nach unten, damit sie ihn mit ihren Hemden abputzten. Als die schluchzenden Jungen versuchten, Hose und Schuh des Mannes zu säubern, machten sie die Sache nur noch schlimmer, denn noch mehr Rotz und noch mehr Tränen ergossen sich auf die Kleidung des Mannes. »Hört auf zu wischen, verdammt noch mal!«, schrie er, halb ärgerlich, halb belustigt. Glatzkopf-Li und Song Gang aber wollten ihn partout nicht gehen lassen, als wäre er der rettende Strohhalm für sie: Einer umklammerte sein Bein, der andere hielt seine Hose fest. Als der Mann zurückwich, rutschten die Kinder ihm kniend hinterher und flehten ihn an: »Retten Sie unseren Papa! Bitte, bitte, retten Sie Papa!« Der Mann stieß sie unsanft zurück und versuchte, seine Beine aus ihrem Klammergriff zu befreien, vergebens! Mehr als zehn Meter schleifte er die an ihm hängenden Kinder mit, 218
doch sie lockerten weder ihren Griff noch hörten sie auf, ihn um Hilfe anzuflehen. Schließlich blieb er stehen und wischte sich den Schweiß ab. Vor Anstrengung außer Atem und immer noch unschlüssig, ob er nun losbrüllen oder doch lieber loslachen sollte, wandte er sich an die umstehenden Gaffer: »Schaut euch bloß diese Schweinerei an! Meine Hose, meine Sandalen, meine Seidensocken ... Was denken sich die verflixten Gören bloß!« Auch Mutter Su vom Imbissladen war unter den Zuschauern. Da sie ganz vorne stand, bekam sie das herzzerreißende Schluchzen der beiden Kinder als Erste mit. Selbst den Tränen nahe, appellierte sie jetzt an das Mitgefühl des Mannes: »Es sind doch Kinder ... « Der Mann brauste auf: »Kinder?! Zwei beschissene kleine Höllenfürsten sind das!« »Haben Sie Erbarmen«, redete Mutter Su ihm zu. »Helfen Sie den beiden kleinen Höllenfürsten, die Leiche zu bergen!« »Was?!«, rief der Mann. »Das fehlte noch, dass ich diese dreckige, stinkende Leiche auf den Buckel nehme!« Mutter Su wischte sich die Augen. »Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte sie. »Ich habe einen Pritschenkarren, den kann ich Ihnen leihen.« Sie ging in ihren Laden und kehrte nach kurzer Zeit mit dem Karren zurück. Dann machte sie sich zur Sprecherin der bei den Kinder und bat die Umstehenden inständig, sie möchten doch bitte mithelfen, Song Fanping auf den Pritschenkarren zu heben. Daraufhin verzogen sich einige, und andere wichen sicherheitshalber ein paar Schritte zurück. Jetzt wurde Mutter Su böse und rief: »Du da! Und du, und du! Und du 219
auch!« Dabei zeigte sie erst auf die vier von ihr Auserkorenen, dann auf den Toten. »Egal, ob das ein guter Mensch war oder ein schlechter«, sagte sie, »er ist jetzt tot. Und einen Toten muss man wegschaffen. Schließlich kann er hier nicht ewig liegen bleiben!« Am Ende fanden sich vier Männer, die sich bückten, Song Fanpings Hände und Füße packten, »Eins! Zwei! Drei!« zählten und bei »Drei!«, den Leichnam des hünenhaften Mannes unter Aufbietung aller Kräfte hochhoben und - wieder mit »Eins! Zwei! Drei!« - auf die Ladefläche warfen, sodass der Karren gefährlich schwankte. Hochrot vor Anstrengung erklärten sie, der Tote sei ja schwerer als ein Elefant! Zum Schluss rieben sie sich die Hände sauber. Einer der Männer roch an seinen Fingern und fragte Mutter Su: »Können wir uns bei Ihnen im Laden die Hände waschen?« »Bitte!«, sagte Mutter Su kopfnickend. Dann wandte sie sich wieder an den von Glatzkopf-Li und Song Gang umklammerten Mann: »Haben Sie Erbarmen, bringen Sie den Toten weg!« Der Mann schaute auf die beiden Jungen herunter, die immer noch vor ihm knieten und seine Beine ums Verrecken nicht loslassen wollten. »Ja, es bleibt mir wohl wirklich nichts anderes übrig«, seufzte er schließlich mit einem resignierten Lächeln. Dann schrie er Glatzkopf-Li und Song Gang an: »Verdammt noch mal, lasst mich doch endlich los!« Die Jungen gehorchten, standen auf und folgten dem Mann zu dem Pritschenkarren. Als er die Zugstange aufnahm, fuhr er sie an: »Na, sagt schon - wo wohnt ihr?«
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Song Gang schüttelte energisch den Kopf und bat: »Ins Krankenhaus, bitte!« »Verdammt noch mall«, fluchte der Mann und stellte den Karren wieder ab. »Der Mann ist tot! Das Scheißkrankenhaus kann dem auch nicht mehr helfen!« Song Gang wollte es nicht glauben. »Ist mein Papa tot?«, wandte er sich an Mutter Su. Die nickte. »Ja, er ist tot. Geh jetzt nach Hause, du armer Junge«, sagte sie. Anders als eben noch, da er den Kopf in den Nacken geworfen und seinen Schmerz laut herausgeschrien hatte, senkte Song Gang jetzt schluchzend den Kopf, und Glatzkopf-Li tat es ihm nach. Beide hörten Mutter Su zu dem Mann sagen: »Der Himmel wird es Ihnen vergelten.« »Ach Quatsch! Angeschissen bin ich, und meine Ahnen bis ins achtzehnte Glied gleich mit dazu!«, fertigte der Mann sie rüde ab, während er sich mit dem Karren in Bewegung setzte. Schluchzend wankten die bei den Jungen an diesem Nachmittag vor dem Pritschenkarren mit ihrem bis zur Unkenntlichkeit entstellten toten Vater her durch die Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen. Sie weinten so verzweifelt, dass ihnen von Zeit zu Zeit die Luft wegblieb und ihr Schluchzen plötzlich verstummte, nur um im nächsten Moment wie die Explosion einer Handgranate erneut aus ihnen hervorzubrechen. Ihr durchdringendes Wehgeschrei übertönte sogar die revolutionären Lieder und die revolutionären Parolen der demonstrierenden Massen und lockte sowohl Demonstranten als auch sonstige Passanten herbei, die sich wie eben die Schmeißfliegen um den Toten auf der Erde jetzt um den Pritschkarren drängten, sodass der Mann, der den Karren 221
zog, kaum vom Fleck kam. Auch die erregten Debatten der Leute untereinander und ihre Fragen an den Karrenzieher erinnerten an das Gesumm der Fliegen. Der Mann verlor schließlich die Geduld und fuhr die vor ihm herlaufenden Kinder an: »Hört endlich auf zu plärren, verdammt noch mal! Schlimm genug, dass ich einen Toten wegschaffe - da muss sich nicht auch noch die ganze Stadt das Maul darüber zerreißen!« Viele Leute - insgesamt vielleicht vierzig oder fünfzig - fragten ihn, wer denn der Tote sei. Darüber geriet er mit der Zeit immer mehr in Wut. Anfangs hatte er noch geantwortet, der Mann auf dem Karren heiße Song Fanping und sei Lehrer an der Mittelschule, aber bald wurde er es müde, immer wieder dasselbe zu wiederholen. Sie sollten ihre Augen aufmachen und gucken, wer da weine, dann wüssten sie, wer die Angehörigen des Toten seien, rief er. Als ihm am Ende auch das zu viel wurde, fertigte er die Frager kurzerhand mit »Keine Ahnung!« ab. Der Mann, der da an diesem heißen Sommertag im Schweiße seines Angesichts einen schweren Karren ziehen musste, noch dazu mit einer Leiche darauf - und wer hat schon gern etwas mit Toten zu schaffen! -, der zudem mit ausgedörrter Kehle und am Gaumen klebender Zunge die Fragen derart vieler Neugieriger beantworten sollte, dieser Mann kochte innerlich vor Wut. Es bedurfte nur eines geringfügigen Anstoßes, um ihn explodieren zu lassen. Als jemand wissen wollte, in welchem Verwandtschaftsverhältnis denn der Tote zu ihm stehe, blaffte er den Frager rüde an: »Du meinst wohl: zu dir?«
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Der Frager glaubte seinen Ohren nicht zu trauen: »Was hast du da eben gesagt?« »'n Verwandter von dir ist er!« Bleich vor Wut, zog sich der Frager wortlos sein Unterhemd über den Kopf, sodass sein muskelbepackter Oberkörper zum Vorschein kam, zeigte drohend mit dem Finger auf den Karrenzieher und brüllte: »Sag das noch einmal! Sag das noch ein einziges Mal, und ich sorge dafür, dass du auch auf so einem Scheißkarren landest!« Dann setzte er noch eins drauf: »Ich mach ein Doppelbett aus deinem Karren«, höhnte er. Der andere stellte den Karren ab und entgegnete, ebenfalls mit einem höhnischen Grinsen: »Du meinst ein Doppelbett für deinen Verwandten und dich, ja?« Dann ging er auf seinen Gegner zu und schrie ihm von ganz nah ins Gesicht: »Ein Totenbett für deine ganze Scheißsippschaft!« Jener Mann holte aus und landete einen Kinnhaken im Gesicht des Karrenziehers, mit dem er ihn gefährlich ins Wanken brachte. Der hatte gerade halbwegs wieder das Gleichgewicht gefunden, da brachte der Muskelmann ihn mit einem gut platzierten Fußtritt vollends zu Fall und knallte ihm seine Fäuste einmal, zweimal, dreimal, viermal, fünfmal ins Gesicht, sodass ihm schwarz vor Augen wurde. Als Glatzkopf-Li und Song Gang, die weinend weitergelaufen waren und nichts von alldem mitbekommen hatten, sich schließlich doch einmal umdrehten, sahen sie, wie ihr Wohltäter am Boden lag und von einem anderen Mann mit Fäusten traktiert wurde. Laut schreiend stürzte sich Song Gang auf den Muskelmann, und Glatzkopf-Li tat es ihm nach. Wie zwei Straßenköter verbissen sich die beiden Jungen in sei223
nem Bein und seiner Schulter, sodass der Mann vor Schmerz brüllte. Mit Fausthieben und Fußtritten gelang es ihm endlich, sie abzuschütteln, doch als er gerade wieder auf den Füßen stand, stürzten sich die Kinder erneut auf ihn. Song Gang biss ihn in den Arm, Glatzkopf-Li in die Hüfte, durch die Kleidung bis ins Fleisch. Der Mann mochte sie noch so schmerzhaft an den Haaren ziehen, sie noch so brutal ins Gesicht schlagen - sie hörten nicht auf, ihn überall zu beißen. Der Muskelmann, groß und kräftig wie der tote Song Fanping, schrie vor Schmerzen wie eine Sau, die gerade abgestochen wird, bis sich am Ende der Karrenzieher aufrappelte und den Mann von den Kindern befreite. »Schluss jetzt! Hört auf, ihn zu beißen!«, rief er. Da ließen die Brüder endlich von ihm ab. Der Mann, der am ganzen Körper blutete, war nach dem plötzlichen Überfall der Kinder völlig außer Fassung. Als sich die drei mit dem Karren erneut auf den Weg machten, sahen sie, dass er immer noch dastand und wie ein Schwachsinniger vor sich hin stierte. Auch die Jungen hatten sich zahlreiche Blessuren zugezogen, ganz zu schweigen von dem Karrenzieher, dessen Gesicht eine einzige blutende Wunde war. Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück: Die Kinder wagten nicht mehr zu weinen, und der Mann reagierte einfach nicht mehr auf die Fragen, mit denen er nach wie vor von den Passanten bedrängt wurde. Als die Jungen, die sich immer wieder nach ihm umdrehten, bemerkten, wie ihm der Schweiß über das blutige Gesicht herunterlief, zog Song Gang sein Hemd aus und hielt es ihm
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hin, wobei er den Arm so weit wie möglich hochrecken musste. »Hier, Onkel, für den Schweiß«, sagte er. Der Karrenzieher schüttelte den Kopf: »Nicht nötig!« Song Gang trottete mit dem Unterhemd in der Hand ein Stückchen weiter, dann drehte er sich wieder um und fragte: »Onkel, hast du Durst?« Als der Mann ohne zu antworten mit gesenktem Kopf weiterging, fügte der Junge hinzu, er habe Geld und könne ihm ein Stieleis kaufen. Aber der Mann schüttelte wieder nur den Kopf und sagte, gegen den Durst könne er seine Spucke hinunterschlucken. Danach setzten alle drei ihren Weg wieder schweigend fort. Glatzkopf-Li und Song Gang hatten sich inzwischen eigentlich schon so weit unter Kontrolle, dass sie nicht mehr laut schluchzten, aber als Song Gang sich immer wieder zu dem Mann umdrehte, dem er etwas Gutes tun wollte, und dabei jedes Mal seinen toten Vater sah, fing er doch wieder an zu weinen und steckte damit auch Glatzkopf-Li an. Aus Furcht, der Karrenzieher könnte böse werden und sie ausschimpfen, pressten sich die Kinder die Hände vor die Münder und wimmerten nur leise vor sich hin. Von dem Mann hinter ihnen kam kein Laut mehr, erst als sie fast zu Hause waren, sagte er wieder etwas, plötzlich mit ganz veränderter Stimme. Richtig freundlich hörte es sich an: »Ihr müsst nicht weinen, ich werde sonst bloß auch noch traurig.« Als die drei schließlich - umringt von einem Dutzend müßigen Zuschauern, die ihnen bis hierher gefolgt waren - am Haus von Song Fanping ankamen, maß der Karrenzieher die Schaulustigen mit einem prüfenden Blick und fragte, ob ihm vielleicht jemand helfen könne, den Toten vom Karren he225
runterzuheben, doch es kam keinerlei Reaktion. Ohne weitere Worte an die Gaffer zu verschwenden, wandte sich der Mann jetzt an die beiden Jungen und wies sie an, die Deichsel heruntergedrückt zu halten, damit der Pritschenkarren nicht in eine Schräglage geriete. Dann fasste er den Toten schwer wie ein mächtiger Baumstamm - unter den Achseln und zog ihn vom Karren herunter und ins Haus hinein, keine leichte Sache für jemanden, der einen halben Kopf kleiner war als Song Fanping. Er lief in gekrümmter Haltung, und sein rasselnder Atem hörte sich an, als käme er aus einem Blasebalg und nicht aus der Lunge. Nachdem er endlich den Leichnam auf das Bett im hinteren Zimmer gewuchtet hatte, ließ er sich schwer atmend und mit schiefem Kopf auf einen Schemel fallen. Glatzkopf-Li und Song Gang standen daneben und wagten nicht, ihn anzusprechen. So verging eine ganze Weile. Als der Mann ein wenig verschnauft hatte, drehte er sich um, warf einen Blick auf die neugierig durch die offene Tür hereinspähenden Gaffer und fragte die Jungen, wer noch zum Haushalt gehöre. Sie antworteten, ihre Mama, die sei zwar in Schanghai, käme aber in Kürze zurück. Da nickte der Mann beruhigt, forderte die Kinder mit einer Handbewegung auf, sich vor ihn hinzustellen, tätschelte ihre Schultern und fragte: »Ihr wisst doch, wo die Rote- Fahne-Gasse ist?« Die Brüder nickten. »Am Anfang der Gasse, da wohne ich. Ich heiße Tao, Tao Qing. Wenn irgendetwas ist, wisst ihr, wo ihr mich findet, ja?« Mit diesen Worten stand er auf und ging vors Haus. Die dort versammelten Gaffer stoben sofort auseinander, um nur ja 226
nicht eine Berührung mit dem Mann zu riskieren, der gerade einen Toten an seine Brust gedrückt hatte. Die Kinder waren ihm nach draußen gefolgt, und als der Mann die Deichsel des Pritschenkarrens ergriff, sagte Song Gang, wie er es von Mutter Su gehört hatte: »Der Himmel wird es Ihnen lohnen.« Der Mann nickte kurz und machte sich mit dem leeren Karren wieder auf den Weg. Glatzkopf-Li und Song Gang sahen gerade noch, wie er sich mit der linken Hand die Augen rieb. Den ganzen Nachmittag hielten die beiden Wache neben ihrem toten Vater. Der war so fürchterlich zugerichtet - die Haut in Fetzen, der Körper voll klaffender Wunden, und überall Blut -, dass die Kinder ein Grausen überkam. Er bewegte sich nicht, aus seinem offen stehenden Mund kam kein Laut, die Augen waren weit aufgerissen, aber die Augäpfel sahen aus wie zwei kleine Kiesel, stumpf und glanzlos. Glatzkopf-Li und Song Gang hatten geweint und geschrien (und auch gebissen), jetzt begannen sie zu zittern. Sie sahen die Menschen, die durch Fenster und Tür zu ihnen hereinspähten, und hörten das Summen und Brummen ihrer aufgeregten Unterhaltung: Was für ein Mensch Song Fanping gewesen und wie er umgekommen sei und wie leid einem doch die bei den Jungen tun könnten. Bei diesen Worten musste Song Gang ein bisschen weinen, und Glatzkopf Li gleich mit, aber dann schauten beide wieder wie eben angstvoll auf die Schaulustigen draußen auf der Gasse. Das Summen und Brummen kam übrigens nicht nur von den Gaffern, sondern auch von unzähligen Fliegen, die von überall her herbeiflogen, sich auf Song Fanpings Leichnam niederließen und wie wirbelnde schwarze Schneeflocken das
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ganze Zimmer erfüllten. Ihr Gesumm übertönte sehr bald sogar das der Leute auf der Gasse. Schließlich begannen die Fliegen, auch Glatzkopf-Li, Song Gang und die Schaulustigen vor der Tür zu belästigen. Die Kinder hörten, wie die Leute sich auf Arme und Beine, Gesicht und Brust klatschten und schimpfend und fluchend auseinanderstoben. Die Sonne hatte sich inzwischen rot gefärbt. Als die Brüder vors Haus traten, sahen sie sie untergehen. Da fiel ihnen wieder ein, was der Vater am Morgen gesagt hatte: Wenn die Sonne unterginge, würde er mit Li Lan nach Hause kommen. Also würde ihre Mama jetzt wohl bald zurückkehren, dachten sie, fassten einander an der Hand und brachen im letzten Licht des Tages abermals zum Busbahnhof auf. Als sie an Mutter Sus Imbissladen vorbeikamen, rief Song Gang ihr zu: »Wir holen Mama ab, sie kommt aus Schanghai.« Dann standen die beiden an der Haltestelle, wo die Busse einfuhren. Sie stellten sich auf die Zehenspitzen und spähten mit langen Hälsen ins Weite, in die Richtung, aus der der Bus kommen würde. Und tatsächlich: Fern am Horizont sahen sie eine Staubwolke, die sich rasch näherte. Es war ein Bus, der da angebraust kam! Jetzt konnten sie sogar das Hupen hören. Song Gang drehte sich zu dem Bruder um und rief: »Mama kommt!« Dabei liefen ihm die Tränen übers Gesicht, und auch Glatzkopf-Li ging es nicht anders. Eine gewaltige Staubwolke hinter sich herschleppend, fuhr der Überlandbus in den Bahnhof ein und kam nach einer letzten Kurve, durch die die Kinder in den vollen Genuss der Staubwolke kamen, zum Ste228
hen. Als der Staub sich langsam gesetzt hatte und sie wieder etwas sehen konnten, gingen bereits die ersten Passagiere mit Koffern und Taschen an den beiden Jungen vorbei aus dem Bahnhofheraus, zuerst nur zwei oder drei, dann immer mehr; doch ihre Mutter entdeckten die beiden nicht. Song Gang fragte zaghaft den Mann, der als Allerletzter, lange nach den anderen Fahrgästen, herauskam: »Das war doch der Bus aus Schanghai, oder?« Der Mann nickte. Als er näher hinschaute und die verweinten Gesichter der Kinder bemerkte, fragte er: »Zu wem gehört ihr denn? Was macht ihr eigentlich hier?« Daraufhin begannen die Jungen bitterlich zu weinen. Der Mann erschrak und suchte mit seinem Gepäck eilig das Weite, nicht ohne sich mehrmals neugierig nach den bei den umzudrehen. Die Brüder riefen ihm hinterher: »Wir sind die Söhne von Song Fanping. Song Fanping ist tot. Wir warten, dass Li Lan zurückkommt. Li Lan ist unsere Mama ... « Aber da war der Mann längst über alle Berge. Glatzkopf-Li und Song Gang blieben weiter an der Tür stehen, durch die die ankommenden Passagiere gehen mussten, denn sie nahmen an, Li Lan würde mit dem nächsten Bus eintreffen. Lange Zeit harrten sie dort aus. Das große hölzerne Portal des Wartesaals war längst geschlossen, das Scheren gitter vor der Tür zum Ankunft-Bahnsteig ebenfalls, aber sie standen immer noch da und warteten, dass ihre Mutter aus Schanghai zurückkäme. Als es völlig dunkel war, kam die Chefin des Imbissladens herüber, jene Mutter Su, und steckte ihnen zwei FleischBaozi zu. »Hier, Kinder, esst, solange sie noch warm sind«, sagte sie. 229
Während die Kinder aßen, sagte Mutter Su: »Heute kommt kein Bus mehr, der Bahnhof hat ja auch schon zugemacht. Ihr müsst jetzt heimgehen. Kommt morgen wieder!« Die Brüder vertrauten Mutter Su. Sie nickten folgsam und gingen, die Baozi mampfend und ihre Tränen wegwischend, nach Hause. Sie hörten gerade noch, wie Mutter Su seufzte: »Die armen Kinder! ... « Song Gang blieb stehen, wandte sich um und rief ihr zu: »Der Himmel wird es Ihnen vergelten!« XVIlI Schon vor Tagesanbruch stand Li Lan am Portal des Krankenhauses, obwohl Song Fanping geschrieben hatte, er würde erst mittags eintreffen. Nach der langen Trennung von ihrem Mann - über zwei Monate war die Sehnsucht wie eine gewaltige Welle über sie hinweggerollt, sodass sie schon erwachte, als es draußen noch ganz dunkel war, und auf der Bettkante sitzend auf den Sonnenaufgang wartete. Eine frisch operierte Zimmergenossin, die von ihren Schmerzen geweckt worden war, sah sie wie einen Geist dort auf dem Bett sitzen, schreckte hoch und begann, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass es wirklich nur Li Lan war, vor Schmerzen zu stöhnen. Flüsternd entschuldigte sich die schuldbewusste Li Lan bei der Frau, der um ein Haar die frische Narbe wieder aufgeplatzt wäre. Dann verließ sie mit ihrer Reisetasche die Station und ging zum Ausgang. Zu dieser Stunde war noch kein Mensch unterwegs, nur die einsame Li Lan stand still und stumm neben ihrer ebenso einsamen Reisetasche vor dem Portal des Krankenhauses, zwei schwarze Schatten, über die der alte Pförtner fürchter230
lich erschrak, als er, am Hosenschlitz nestelnd, aus seiner Loge trat, um draußen sein Wasser abzuschlagen (der Arme litt wegen Vergrößerung der Prostata an vermehrtem Harndrang). Er zitterte so sehr, dass die Hälfte schon vorzeitig in die Hose ging. »Wer ist da?«, rief er. Li Lan erzählte ihm, wie sie heiße und in welchem Zimmer auf weIcher Station sie gelegen habe und dass sie heute entlassen würde und hier auf ihren Mann warte. Der Alte schien sich jedoch immer noch nicht von seinem Schreck erholt zu haben, denn er zeigte auf den zweiten Schatten und fragte: »Und wer ist das?« »Das ist meine Tasche«, erwiderte Li Lan und hob sie hoch. Jetzt erst atmete der Alte erleichtert auf, ging hinters Haus und erleichterte sich von dem restlichen Urin, wobei er vor sich hin murmelte: »So was! Einen so zu erschrecken! Die ganze Scheißhose ist nass!« Li Lan, die das mitgekriegt hatte, ergriff beschämt ihre Tasche und trat aus dem Portal hinaus. An einer Straßenbiegung blieb sie unter einem hölzernen Strommast stehen, lauschte dem Summen des Stroms und schaute zurück zu dem dunklen Eingang des Krankenhauses. Plötzlich wurde sie ganz ruhig. Auf dem Bett im Krankenzimmer hatte sie das Gefühl gehabt, nur auf den Tagesanbruch zu warten, hier an dieser Straßenecke jedoch wartete sie auf Song Fanping! In ihrer Vorstellung sah sie schon, wie ihr stattlicher Ehemann voller Freude auf sie zu eilte. Die schmächtige Frau, die da reglos in der Dunkelheit wartete, konnte einem wirklich ein bisschen Angst machen. Ein Mann, der sie erst sah, als er sich ihr bis auf wenige Meter genähert hatte, erschrak und wechselte vorsichtshalber auf 231
die andere Straßenseite, von wo aus er sich immer wieder nach ihr umdrehte. Ein anderer Mann lief ihr fast in die Arme, als er um die Ecke bog. Obwohl er mit gespielter Nonchalance an Li Lan vorüberging, sah sie an seinen Schultern, dass er vor Angst zitterte, und musste unwillkürlich lachen. Bei diesem Gelächter des »Gespenstes« war es endgültig um die Fassung des Mannes geschehen: Er rannte davon, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Erst die Strahlen der aufgehenden Sonne, die die Straße erhellten, setzten Li Lans Auftritt als Nachtgespenst ein Ende und ließen sie wieder zu einer Frau werden, die einfach an einer Ecke auf jemanden wartet. Als die Straße sich allmählich belebte, ergriff sie ihre Reisetasche und ging zum Portal des Krankenhauses zurück. Jetzt begann die eigentliche Wartezeit für sie. Den ganzen langen Vormittag stand sie nun dort, vor Aufregung hochrot im Gesicht. Die Straße vor ihr war voll wehender roter Fahnen, und der Strom der Demonstranten riss ebenso wenig ab wie die revolutionären Parolen, die sie brüllten und die die glühende Hitze dieses Sommertages noch unerträglicher erscheinen ließen. Der Pförtner, der Li Lan ja bereits kannte, beobachtete verwundert diese merkwürdige Frau, die ihn schon frühmorgens so erschreckt hatte, dass er sich in die Hose machte, und die nun erregt allen Demonstranten - oder vielmehr: überhaupt allen Vorbeikommenden - forschend ins Gesicht schaute. Li Lans Erregung, die Erregung einer Frau, die in der erregten Menge ihren Gatten suchte, wurde zu einem Teil der allgemeinen Erregung auf der Straße, ein kleiner Bach gewissermaßen, der in einen breiten Strom mündet. 232
Als der Pförtner sie lange Zeit dort Ausschau halten sah, ohne dass jemand gekommen wäre, sie abzuholen, ging er zu ihr hinaus und fragte: »Wann kommt denn Ihr Mann?« Li Lan wandte sich zu ihm um: »Mittags«, antwortete sie. Kopfschüttelnd ging der Alte in seine Loge zurück und schaute auf die Uhr, die dort an der Wand hing: Sie zeigte erst kurz vor zehn. Er dachte, es gibt wirklich Dinge zwischen Himmel und Erde, die gibt es gar nicht! Da steht diese Frau hier seit dem frühen Morgen und wartet auf einen Mann, der erst mittags kommen soll! Jetzt war seine Neugier richtig erwacht. Er musterte Li Lan und fragte sich, wie lange diese Frau wohl schon keinen Mann mehr gehabt habe. Schließlich konnte er nicht länger an sich halten, ging wieder zu ihr hinaus und fragte, wie lange sie schon von ihrem Mann getrennt sei. »Über zwei Monate«, erwiderte Li Lan. Der Pförtner grinste. Nur gute zwei Monate, dachte er, und kann es gar nicht mehr erwarten! Sieht nach nichts aus, dürr und schrumpelig - dabei ist sie in Wirklichkeit ein strammer Feger! Li Lan hatte inzwischen schon fast sechs Stunden am Straßenrand ausgeharrt und die ganze Zeit weder einen Tropfen Wasser noch ein Körnchen Reis zu sich genommen. Dennoch war sie nach wie vor hochrot vor fiebriger Aufregung. Je näher die Mittagsstunde rückte, desto unruhiger wurde sie. Die Blicke, mit denen sie die vorüberkommenden Männer musterte, waren wie Nägel, mit denen sie sie durchbohrte. Ein paarmal erspähte sie jemanden, der von weitem wie Song Fanping aussah. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und winkte aufgeregt, und ihre Augen füllten sich mit Freu-
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dentränen. Dass sie jedes Mal gleich wieder enttäuscht wurde, konnte ihre Erregung kaum dämpfen. Es war schon nach zwölf Uhr, da erschien zwar nicht Song Fanping, dafür aber seine Schwester. In Schweiß gebadet, weil sie sich nur durch rücksichtsloses Drängeln aus dem überfüllten Bus, mit dem sie gekommen war, heraus quälen konnte, eilte sie auf das Portal des Krankenhauses zu und sah zu ihrer großen Erleichterung Li Lan dort stehen. »Ein Glück, du bist noch nicht fort!«, rief sie. Sich den Schweiß von der Stirn wischend, überschüttete sie die Schwägerin mit einem regelrechten Redeschwall, erzählte, wie sie unterwegs befürchtet habe, zu spät zu kommen, und wie sie deshalb um ein Haar in einen Bus zum Fernbusbahnhof umgestiegen wäre, das aber »zum Glück!« - dann doch nicht getan habe. Sie überreichte Li Lan eine Tüte Karamellen Marke »Großer weißer Hase« - »für die Kinder!«. Li Lan nahm sie kopfnickend entgegen, lächelte ihrer Schwägerin dankbar zu und verstaute sie in ihrer Tasche, ohne jedoch etwas zu sagen, denn sie wandte nach wie vor kein Auge von den vorüberziehenden Menschen. Auch die Schwägerin begann jetzt, mit Li Lan zusammen, die Männer auf der Straße zu mustern. Ihr war es unerklärlich, wieso ihr Bruder immer noch nicht aufgetaucht war. Sie tippte auf ihre Armbanduhr und sagte: »Er müsste längst da sein. Es ist schon fast eins!« Nach einer halben Stunde erklärte Song Fanpings Schwester, sie könne nicht länger warten und müsse schleunigst an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Noch im Gehen tröstete sie Li Lan: Song Fanping stecke bestimmt im Stau, er müsse ja vom Fernbusbahnhof zum Krankenhaus dreimal umsteigen, 234
und die Straßen seien von den Demonstranten verstopft, schon Fußgänger kämen kaum durch, und dann erst ein Bus! Mit diesen Worten verabschiedete sie sich eilig, kam aber sogleich nicht minder eilig noch einmal zurück, um Li Lan zuzurufen: »Wenn ihr den Nachmittagsbus nicht schafft, könnt ihr bei mir übernachten!« Li Lan harrte weiter am Portal des Krankenhauses aus. Ihr leuchtete die Vermutung der Schwägerin ein, dass Song Fanping unterwegs aufgehalten worden sei, und sie fuhr fort, die in endloser Folge an ihr vorüberziehenden Männer aufgeregt zu mustern. Mit der Zeit wurde sie jedoch immer müder und konnte sich vor Hunger kaum noch auf den Beinen halten, sodass sie sich schließlich auf die Treppe vor der Pförtnerloge setzte und sich mit dem Rücken an den Türrahmen lehnte, ohne aber ihren Blick von der Straße zu wenden. Der alte Pförtner blickte auf die Wanduhr: Es war schon nach zwei. Er sagte zu Li Lan: »Sie sind seit dem frühen Morgen hier, und jetzt ist es zwei Uhr durch. Die ganze Zeit haben Sie ununterbrochen hier gestanden - müssen Sie denn nicht endlich mal was essen und trinken?« Li Lan drehte sich lächelnd zu ihm um und entgegnete: »Ich halt's schon noch aus!« Der Alte fuhr fort: »Kaufen Sie sich doch schnell was zu essen. Zwanzig Meter weiter rechts, da ist ein Imbissladen.« Li Lan schüttelte den Kopf. »Was ist, wenn er kommt, während ich weg bin?« »Ich kann ja aufpassen. Sagen Sie mir nur, wie er aussieht.« Li Lan überlegte. Dann schüttelte sie den Kopf: »Ich warte lieber doch hier.«
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Danach wechselten die beiden keine weiteren Worte. Der Alte saß in der Pförtnerloge hinter seinem Fenster und beantwortete die Fragen der Auskunft Einholenden, während Li Lan immer noch auf der Treppe neben der Tür saß und jeden Vorübergehenden anschaute. Nach einer Weile stand der Alte auf, trat zu Li Lan und sagte: »Ich kann ja für Sie etwas zu essen kaufen.« Li Lan zuckte erschrocken zusammen. Da wiederholte der Pförtner sein Angebot und streckte ihr auffordernd die Hand entgegen. Jetzt verstand sie. Hastig kramte sie Geld und Lebensmittelmarken aus der Tasche. Der Alte fragte: »Was wollen Sie? Baozi? Mit Fleisch gefüllt oder mit Bohnenpaste? Oder lieber eine Schüssel Suppe mit Fleischtäschchen?« Li Lan reichte dem Mann Geld und Marken und sagte: »Wenn Sie mir zwei Dampfnudeln kaufen könnten? Das wäre sehr nett.« Der Pförtner erwiderte: »Na, sparsam sind Sie ja wirklich!« Dann ging er los, nicht ohne sich noch einmal umzudrehen und sie zu ermahnen: »Lassen Sie niemanden in die Pförtnerloge! Alles Staatseigentum da drin!« Li Lan nickte: »Ich weiß.« Es war schon gegen halb vier Uhr nachmittags, als Li Lan endlich etwas zu essen kriegte. Sie brach kleine Stücke von einer Dampfnudel ab, steckte sie einzeln in den Mund, kaute gründlich und schluckte sie langsam hinunter. Da sie den ganzen Tag nichts getrunken hatte, fiel ihr das Schlucken schwer; wie bittere Medizin kamen ihr die Bissen vor. Der Alte bemerkte ihre Schluckbeschwerden und reichte ihr seinen eigenen Teebecher. Li Lan leerte langsam den mit braunem Bodensatz völlig verkrusteten Becher und aß die 236
Dampfnudel zu Ende. Die zweite wickelte sie in Papier und steckte sie in die Reisetasche. Nachdem sie etwas im Magen hatte, fühlte sie, wie ihre Kraft allmählich wieder zurückkehrte. Sie stand auf und sagte zu dem Alten: »Sein Bus ist um elf in Schanghai angekommen. Selbst wenn er zu Fuß gegangen wäre, müsste er inzwischen hier sein.« »Und ob! Sogar wenn er auf allen vieren gekrochen wäre!«, pflichtete der Pförtner ihr bei. Li Lan vermutete mittlerweile, Song Fanping habe eventuell einen späteren Bus genommen, weil ihm am Morgen etwas Wichtiges dazwischengekommen sei. Vielleicht sollte sie lieber zum Fernbusbahnhof fahren? Der Nachmittagsbus würde um fünf Uhr in Schanghai eintreffen. Sie beschrieb dem Alten genau, wie Song Fanping aussah, und bat ihn für den Fall, dass ihr Mann wider Erwarten doch noch hierher zum Krankenhaus kommen sollte, ihm auszurichten, sie sei zum Fernbusbahnhof gefahren, um dort auf ihn zu warten. Der Alte beruhigte sie: Sobald ein besonders hochgewachsener Mann auftauche, würde er ihn fragen, ob er Song Fanping sei. Li Lan ergriff ihre Reisetasche und ging los. Nachdem sie ein Weilchen an der Bushaltestelle gewartet hatte, kam sie jedoch erneut an den Schalter zurück. »Was gibt's denn noch?«, fragte der Pförtner. »Ich habe etwas vergessen.« »Was denn?« Li Lan sah dem Alten tief in die Augen und sagte feierlich: »Ich danke Ihnen. Sie sind ein guter Mensch.«
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Mit ihrer schweren Tasche quetschte sich die schmächtige Frau in den überfüllten Bus. Ganz benommen von dem Gerüttel und dem Gestank - Achselschweiß, Fußschweiß, Mundgeruch -, drängte sie sich ein paar Haltestellen weiter wieder hinaus. Da sie dreimal umsteigen musste, machte sie diese Tortur dreimal durch. Von den Strahlen der untergehenden Sonne in rotes Licht getaucht, kam sie um fünf Uhr nachmittags am Busbahnhof an. Vor Aufregung war ihr Gesicht wieder so gerötet wie vormittags auf ihrem Beobachterposten am Portal des Krankenhauses. Sie stellte sich so auf, dass sie alle ankommenden Busse einfahren und eine Busladung Passagiere nach der anderen herauskommen sah. Dabei ließ sie ihre sehnsuchtsvollen Blicke über die Köpfe all dieser Reisenden schweifen, wusste sie doch, ihr Song Fanping würde sie alle um Haupteslänge überragen. Dass er durch jene Tür kommen würde, stand in diesem Augenblick für sie nach wie vor fest. Die Möglichkeit, dass etwas passiert sein könnte, kam ihr überhaupt nicht in den Sinn. Zu eben dieser Zeit warteten am Fernbusbahnhof unserer kleinen Stadt Liuzhen Glatzkopf-Li und Song Gang auf ihre Mutter. Als dort das große Tor geschlossen wurde, wurde auch das in Schanghai geschlossen, aber als die beiden Söhne mit den Baozi, die ihnen Mutter Su geschenkt hatte, nach Hause gingen, stand Li Lan immer noch vor dem Ausgang des Schanghaier Busbahnhofs. Es wurde schon dunkel, und Song Fanping war nicht gekommen! Auch nachdem das große Gittertor zur Haltestelle der ankommenden Busse zugesperrt worden war, blieb sie wie in Trance dort stehen. Sie hatte das Gefühl, ihr Schädel sei völlig leer gefegt. 238
Die Nacht verbrachte sie vor dem Eingang zum Wartesaal. Sie hatte überlegt, ob sie zu Song Fanpings Schwester fahren solle, aber sie kannte deren Adresse nicht. Die Schwägerin hatte nicht daran gedacht, sie ihr zu geben, weil sie ja genau wie Li Lan selbst gar nicht mit der Möglichkeit rechnete, dass ihr Bruder nicht käme. Und Song Fanping hätte ohnehin gewusst, wo sie wohnte. Auf diese Weise musste Li Lan in dieser Sommernacht wie eine obdachlose Bettlerin auf der Erde schlafen, umschwirrt von unzähligen Stechmücken, die sie aber überhaupt nicht bemerkte, weil sie bald in einen unruhigen Schlaf fiel, bald hochschreckte, um sogleich wieder wie betäubt wegzudämmern. Nach Mitternacht gesellte sich eine geistesgestörte Frau zu ihr. Zuerst setzte sie sich neben sie, betrachtete sie intensiv und brach in gellendes Gelächter aus, von dem Li Lan unsanft aus dem Schlaf gerissen wurde. Als sie im Licht der Straßenlaterne die verwahrloste Frau erblickte, schrie sie erschrocken auf, woraufhin die Irre einen noch durchdringenderen Schrei ausstieß und aufsprang, als hätte Li Lan sie erschreckt, nur um sich sogleich wieder zu setzen und Li Lan weiter mit ihrem irren Lachen anzustarren, als wäre nichts geschehen. Li Lan hatte ihre Fassung gerade wiedergewonnen, da fing die Frau an, ein Liedchen zu summen, das sie aber immer wieder durch zusammenhangloses Geplapper unterbrach. Die abgerissenen Laute, die sie von sich gab, erinnerten an das Tacken eines Maschinengewehrs. Jetzt hatte Li Lan keine Angst mehr. Sie verstand zwar nicht, was die Frau sagte, aber der gleichmäßige Geräuschpegel hatte für sie etwas unge-
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mein Beruhigendes. Sie lächelte die Irre an und dämmerte bald wieder ein. Li Lan wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie im Halbschlaf ein klatschendes Geräusch vernahm. Sie hob die schweren Lider und sah, dass die Frau immer noch neben ihr saß und mit den Armen herumfuchtelte, um die Mücken zu verscheuchen, zugleich aber versuchte, sie zwischen den flachen Händen zu zerquetschen. Nachdem sie vielleicht ein Dutzend Mal in die Hände geklatscht hatte, pflückte sie die Mücken sorgfältig von der Handfläche ab, steckte sie in den Mund und verschluckte sie, wieder begleitet von ihrem irren Lachen. Dadurch wurde Li Lan an die Dampfnudel in ihrer Reisetasche erinnert. Sie setzte sich auf, holte sie hervor, brach eine Hälfte ab und hielt sie der Verrückten unter die Nase, doch die schien die Dampfnudel überhaupt nicht zu bemerken, sondern fuhr ungerührt mit ihrer Mückenjagd fort. Gerade in dem Moment, da Li Lan es müde wurde, ihr die Dampfnudel hinzuhalten, grapschte die Frau danach, sprang auf, gab irgendwelche unverständlichen Laute von sich und rannte die Treppe vor dem Wartesaal hinunter, als suche sie etwas. Zuerst lief sie ein paar Schritte nach links, dann ein paar Schritte nach rechts, um schließlich mit der halben Dampfnudel in der Hand nach vorn zu verschwinden. Als sie schon ziemlich weit entfernt war, verstand Li Lan plötzlich, was sie die ganze Zeit gerufen hatte: Gege, gege! Bruder, Bruder! Unter der trüben Straßenlaterne war nur noch Li Lan übrig geblieben. Während sie ihre Dampfnudel kaute, fühlte sie sich leer und ausgepumpt. Gerade hatte sie den letzten Bis240
sen hinuntergeschluckt, da ging die Straßenbeleuchtung plötzlich aus. Sie schaute auf, in die Strahlen der aufgehenden Sonne, und plötzlich traten ihr Tränen in die Augen. Li Lan nahm den Frühbus nach Hause. Noch bei der Ausfahrt aus dem Schanghaier Bahnhof schaute sie zurück, ob nicht Song Fanping doch noch käme. Erst als der Bus die Stadt längst hinter sich gelassen hatte, vor den Fenstern nur noch Felder vorbeirauschten, schloss sie die Augen, lehnte den Kopf an den Fensterrahmen und ließ sich von den Fahrgeräuschen des Busses in einen unruhigen Schlaflullen. Während der dreistündigen Fahrt schreckte sie immer wieder auf, nur um gleich wieder einzunicken; die ganze Zeit über gingen ihr jene Briefumschläge nicht aus dem Kopf. Warum klebten die Briefmarken jedes Mal woanders?, fragte sie sich wieder und wieder. Darüber wurde sie allmählich immer unruhiger. Sie wusste genau, für Song Fanping galt: »Ein Mann - ein Wort!« Wenn er sagte, er würde sie in Schanghai abholen, dann würde er sein Wort auch halten, komme, was wolle. Da er nicht aufgetaucht war, musste also etwas Unvorhergesehenes geschehen sein. Allein dieser Gedanke ließ sie erzittern. Je mehr sich der Bus unserer kleinen Stadt Liuzhen näherte, desto stärker wurde Li Lans Vorahnung drohenden Unheils. Inzwischen hatte sie das sichere Gefühl, dass mit Song Fanping etwas Schlimmes passiert war. Am ganzen Leib zitternd, schlug sie die Hände vors Gesicht. Sie wagte nicht, sich ihre Befürchtungen noch konkreter auszumalen, um nicht vollends zusammenzubrechen. Nur die Tränen liefen ihr über die Wangen.
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In unserer kleinen Stadt Liuzhen angekommen, ergriff Li Lan ihre graue Reisetasche, auf der in roter Farbe der Name der Stadt prangte, wo sie die letzten zwei Monate zugebracht hatte, und stieg als Letzte aus dem Bus. Sie ging hinter den anderen Fahrgästen in Richtung Bahnhofsvorplatz her. Ihre Füße waren schwer wie Blei, und sie hatte das Gefühl, jeder Schritt bringe sie ihrem Verhängnis näher. Als sie zitternd und voller Angst aus dem Bahnhofsgebäude trat und zwei erbärmlich schluchzende Jungen, die aussahen, als wären sie die letzten Tage in einer Müllkippe begraben gewesen, auf sie zustürzten, wusste sie, dass sich ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet hatten. Ihr wurde schwarz vor Augen, und die Reisetasche fiel ihr aus der Hand, denn die beiden verschmutzten Jungen waren Glatzkopf-Li und Song Gang, die der Mutter weinend entgegenriefen: »Papa ist tot!« XIX Li Lan blieb bewegungslos stehen, als wäre sie von jemandem dort hingestellt und vergessen worden, während Glatzkopf-Li und Song Gang schluchzend immerfort wiederholten: »Papa ist tot!« Trotz des strahlend hellen Sommertages war nichts als tiefe Finsternis um sie herum. Es war, als wäre sie plötzlich blind und taub - sie sah nichts und hörte nichts mehr. Nachdem sie mehr als zehn Minuten lang in totenähnlicher Starre verharrt hatte, klärte sich allmählich die Dunkelheit vor ihren Augen, das Klagegeschrei der Kinder drang immer lauter zu ihr durch, und sie sah vor sich wieder den Busbahnhof unserer kleinen Stadt Liuzhen und die tränenüberströmten, rotzverschmierten Gesichter ihrer beiden 242
Söhne, die an ihrer Kleidung zerrten und schluchzend riefen: »Papa ist tot!« Li Lan nickte fast unmerklich mit dem Kopf und flüsterte: »Ich weiß.« Als sie sich nach ihrer Reisetasche bückte, fand sie sich plötzlich auf dem Erdboden knien. Im Fallen hatte sie die an ihrer Jacke hängenden Jungen mit sich in den Staub gezogen. Sie half ihnen auf und erhob sich mühsam auch selbst, wobei sie sich auf der Reisetasche abstützte, doch als sie sich abermals nach der Tasche bückte, gaben die Beine erneut unter ihr nach, und wieder kniete sie auf der Erde, am ganzen Leibe zitternd. Glatzkopf-Li und Song Gang bekamen es mit der Angst zu tun, rüttelten sie und schrien: »Mama! Mama!« Auf die Schultern der beiden Jungen gestützt, erhob sich Li Lan und tat einen tiefen Seufzer. Dann ergriff sie ein drittes Mal ihre Tasche und setzte sich mühsam in Bewegung. Unter der sengenden Mittagssonne war ihr so schwindlig, dass sie beim Laufen taumelte und wankte. Auf dem Bahnhofsvorplatz war noch die getrocknete Blutlache zu sehen, in der Song Fanping gelegen hatte. Ein paar tote Fliegen waren auf dem braunroten Erdreich zurückgeblieben. Song Gang zeigte auf die Blutspur und sagte zu Li Lan: »Hier ist Papa gestorben.« Bei diesen Worten fing er abermals bitterlich zu weinen an, und auch Glatzkopf-Li konnte seine Tränen nicht zurückhalten. Li Lans Reisetasche fiel ein weiteres Mal auf den Boden, während sie mit gesenktem Kopf auf die dunkle Blutkruste starrte. Nach einem Moment schaute sie auf, sah sich nach allen Seiten um und blickte zu den Kindern, die sie nur schemenhaft wahrnahm, denn in ihren Augen standen Tränen. 243
Sie kniete nieder, öffnete den Reißverschluss der Tasche und holte ein Hemd heraus, das sie auf der Erde ausbreitete. Nachdem sie die toten Fliegen sorgfältig abgeklaubt und beiseite geworfen hatte, häufte sie den dunkelroten Sand mit bei den Händen auf das Hemd. Sie klaubte ein paar nicht vom Blut durchtränkte Klümpchen heraus und setzte ihr Werk fort, bis am Ende das blutgetränkte Erdreich vollständig abgetragen war. Und selbst dann noch kniete sie und fingerte suchend herum, als hoffe sie, Goldklümpchen im Sand zu finden. Die Frau, die so lange auf der Erde kniete, hatte viele Schaulustige unter ihnen Bekannte von Li Lan, aber auch völlig Fremde - angelockt, die einen dichten Kreis um sie bildeten und sich über sie austauschten. Einige fingen an, über Song Fanping zu reden und darüber, wie er bei lebendigem Leibe totgeschlagen worden war. Das alles war auch für GlatzkopfLi und Song Gang neu, die jetzt zum ersten Mal hörten, wie man ihren Vater mit Knüppeln auf den Kopf gedroschen, wie man ihm den Brustkorb eingetreten und ihm zum Schluss die zersplitterten Stöcke in den Leib gespießt hatte. Bei jedem neuen Detail stimmten die Kinder aufs Neue ihr schrilles Wehgeschrei an. Li Lan, die das ebenfalls alles mit anhören musste, wurde immer wieder von konvulsivischem Zittern geschüttelt. Einmal schaute sie auf und blickte den Sprecher an, ehe sie weiter im Sand nach Blutspuren ihres toten Mannes suchte. Schließlich kam Mutter Su aus dem Imbissladen herüber und schimpfte die taktlosen Schwätzer lautstark aus: »Hört doch endlich auf! Wie könnt ihr im Angesicht seiner Frau und seiner Kinder so reden! Ach, ihr wisst ja überhaupt nicht 244
mehr, was Menschlichkeit ist!« Zu Li Lan sagte sie: »Und du gehst jetzt mit den Kindern nach Hause.« Li Lan nickte, band die Zipfel des mit dem dunkelroten Sand gefüllten Hemdes zusammen und verstaute den Beutel in der Reisetasche. Die Mittagszeit war längst vorbei, als die drei abzogen, vorneweg die Mutter mit der schweren Tasche, die ihr die Schultern herunterzog, Hand in Hand dahinter die Kinder. Den Heimweg legte Li Lan zurück, ohne zu weinen noch zu wehklagen. Während sie sich taumelnd und wankend ihrer Wohnung näherte, machte sie mehrere Pausen, vielleicht, weil die Reisetasche so schwer war. Dabei schien sie die Kinder kaum wahrzunehmen, denn sie sprach kein Wort mit ihnen. Auch die beiden Jungen weinten nicht mehr und schwiegen ebenfalls die ganze Zeit. Etlichen Bekannten, die Li Lan unterwegs ansprachen, nickte sie kurz zu, ohne sie weiter zu beachten. Als sie zu Hause ankam und auf dem Bett ihren bis zur Unkenntlichkeit entstellten toten Ehemann erblickte, brach sie zusammen. Gleich darauf hatte sie sich jedoch bereits wieder erhoben. Immer noch ohne zu weinen, stand sie schweigend vor dem Bett, schüttelte nur unablässig den Kopf. Sie streckte die Hand aus, um vorsichtig das Gesicht des Toten zu berühren, zog sie aber erschrocken eilig wieder zurück, als befürchte sie, ihm wehzutun. Einen Moment lang verharrte ihre Hand in der Schwebe, dann begann sie, Song Fanpings wirres Haupthaar zu ordnen, wobei ein paar tote Fliegen herausfielen. Da fing sie an, mit der rechten Hand nach und nach alle Fliegen von seinem Körper abzuklauben und sie in die linke zu tun. Den ganzen Nachmittag lang war sie damit beschäf245
tigt. Einige Nachbarn beobachteten sie von draußen durch das offen stehende Fenster, zwei kamen sogar herein und sprachen sie an, doch von ihr kam noch immer kein Laut. Sie reagierte lediglich mit Kopfnicken oder Kopfschütteln. Als die Eindringlinge wieder weg waren, schloss Li Lan Fenster und Tür. Gegen Abend hatte sie das Gefühl, alle toten Fliegen eingesammelt zu haben, setzte sich auf den Bettrand und starrte abwesend in das Abendrot vor dem Fenster. Glatzkopf-Li und Song Gang, die den ganzen Tag lang nichts gegessen hatten, standen einige Zeit laut schluchzend neben ihr, ehe sie sich endlich - als habe sie sie gerade erst bemerkt - zu ihnen umwandte und sie leise ermahnte: »Ihr dürft nicht weinen, wir wollen niemanden hören lassen, wie wir weinen.« Da pressten die Kinder sofort die Hand vor den Mund. Glatzkopf-Li sagte zaghaft: »Wir haben Hunger.« Als erwache sie gerade aus einem Traum, stand Li Lan auf und gab den beiden Geld und Lebensmittelmarken, damit sie sich etwas zu essen holten. Im Gehen sahen die Kinder Li Lan schon wieder wie benommen auf dem Bettrand sitzen. Sie kauften drei Baozi, von denen sie zwei bereits auf dem Heimweg aufaßen. Den dritten hielten sie der Mutter hin, die immer noch in der gleichen Haltung dasaß. Sie blickte geistesabwesend auf den Hefekloß und fragte: »Was ist das?« Die Jungen antworteten: »Ein Baozi!« Li Lan nickte, als habe sie verstanden, biss ein Stückchen ab, kaute ganz langsam und schluckte, ebenfalls ganz langsam, das Gekaute hinunter, die ganze Zeit beobachtet von den Kindern. Als sie aufgegessen hatte, sagte sie: »Geht jetzt schlafen.« 246
Nachts kam es den Kindern im Halbschlaf vor, als liefe jemand unablässig im Hause hin und her und als würde immer wieder Wasser ausgeschüttet. Das war Li Lan, die unentwegt zum Brunnen lief und Wasser holte, um Song Fanpings Leichnam gründlich zu säubern. Anschließend zog sie ihm saubere Kleidung an. Wie es ihre schmächtige Mutter schaffte, den hochgewachsenen Vater aus- und wieder anzukleiden, erfuhren die Jungen nicht, ebenso wenig, wann sie sich endlich schlafen gelegt hatte. Als Li Lan am nächsten Morgen das Haus verlassen hatte, fanden die Kinder Song Fanping ordentlich und sauber gekleidet wie einen Bräutigam auf dem Bett liegen. Selbst das Laken unter ihm hatte die Mutter gewechselt. Nur war das sorgfältig gewaschene Gesicht blau und lila verfärbt. Der tote Song Fanping lag an der Außenseite des Bettes. Auf der der Wand zugewandten Seite sah man auf dem Kopfkissen und am Nacken des Toten mehrere lange Haare: Gewiss hatte Li Lan diese Nacht, die letzte Nacht mit Song Fanping, eng an ihren toten Mann geschmiegt verbracht. Seine blutbefleckte Kleidung und das blutige Laken waren in einem Holzzuber unter dem Bett eingeweicht. Auf dem Wasser schwammen noch einige letzte tote Fliegen, die in den Nähten verborgen gewesen waren. In jener Nacht flossen Li Lans Tränen wie ein Sturzregen. Während sie Songs Körper säuberte und voller Entsetzen seine zahllosen Wunden erblickte, zitterte sie am ganzen Leib und konnte mehrmals einen Aufschrei erst im letzten Moment ersticken. Immer wieder verlor sie das Bewusstsein und zwang sich nur mit letzter Kraft und mit blutig gebissenen Lippen wieder ins Leben zurück. Unmöglich sich vorzus247
tellen, wie sie diese Nacht überstand, welch ungeheure Willenskraft es sie kostete, nicht durchzudrehen und verrückt zu werden. Später, als sie auf dem Bett lag, die Augen geschlossen, den Kopf auf Song Fanpings Brust gebettet, fiel sie nicht in Schlaf, sondern in eine tiefe Ohnmacht, die die ganze lange Nacht andauerte. Erst die Strahlen der aufgehenden Sonne holten sie schließlich vom schwarzen Abgrund der Trauer und des Schmerzes ins Leben zurück. Mit rot geweinten Augen machte sich Li Lan auf den Weg zum Laden des Sargtischlers. Sie hatte alles Geld, das im Haus war, mitgenommen, denn sie wollte den besten Sarg für ihren Mann besorgen. Doch das Geld reichte nicht aus, sie konnte dafür nur einen Sarg aus rohen Brettern kaufen, noch dazu den kürzesten von den vier Särgen, die dort aufgereiht waren. Kurz vor der Mittagszeit kam sie wieder nach Hause, gefolgt von vier Männern, die jene kümmerliche Bretterkiste auf ihren Schultern trugen. Sie traten ins Haus und stellten den Sarg neben dem Bett der bei den Jungen ab, die mit vor Schreck geweiteten Augen das Geschehen verfolgten. Die verschwitzten Männer wischten sich mit den Handtüchern, die sie wie einen Schal trugen, den Schweiß ab, fächelten sich mit ihren Strohhüten Kühlung zu und sahen sich suchend um. »Und die Leiche? Wo ist sie denn?«, riefen sie. Wortlos öffnete Li Lan die Tür zum hinteren Zimmer, wortlos sah sie die Männer an. Der Anführer der vier warf einen Blick auf den Toten und winkte seinen Gefährten, dann gingen sie hinein. Nach kurzer geflüsterter Beratung packten sie Song Fanping an Händen und Füßen, der Anführer rief »Hauruck!«, und die vier hoben ihn aus dem Bett, die Gesichter vor Anstrengung blaurot verfärbt wie Schweineleber. 248
Mit Mühe bugsierten sie den Leichnam durch die enge Tür und legten ihn, noch mühsamer, in den Sarg. Allerdings passten die Füße nicht hinein. Keuchend und schnaufend standen die Männer neben dem Sarg. Wie viel Song Fanping zu Lebzeiten gewogen habe, fragten sie Li Lan, die am Türrahmen lehnte. Als sie leise antwortete, ihr Mann habe gut einhundertachtzig Pfund gewogen, sagte der Vormann mit einem wissenden Lächeln: »Kein Wunder, dass er so schwer ist, ein Toter wiegt ja doppelt. Mehr als dreihundertsechzig Pfund! ... Mann, oh Mann - die spürst du vielleicht im Kreuz!« Die Männer berieten, was sie mit Song Fanpings Füßen anstellen sollten - der Tote war einfach zu lang für den kurzen Sarg! Eine geschlagene Stunde mühten sie sich schwitzend und fluchend ab. Zuerst legten sie seinen Kopf schräg, konnten jedoch die Füße immer noch nicht im Sarg unterbringen. Am Ende befanden sie, er müsse auf der Seite liegen und die angewinkelten Beine mit den Händen umfassen. Das aber ließ Li Lan nicht zu. Tote müssten mit dem Gesicht nach oben bestattet werden, sagte sie, denn auch sie wollten noch etwas von der irdischen Welt sehen. Sie bat die Männer: »Legen Sie ihn nicht auf die Seite, sonst kann er uns aus dem Jenseits nicht sehen.« Der Vormann erwiderte: »Selbst wenn er auf dem Rücken liegt, kann er uns nicht sehen! Denn über ihm ist der Sargdeckel und darüber noch Erde. Außerdem - der Mensch umfasst ja auch im Mutterleib seine Knie, und wenn der Tote das jetzt so macht, da hat er es später, bei seiner Wiedergeburt, umso leichter.« 249
Noch während Li Lan den Kopf schüttelte und zu einer Erwiderung ansetzte, hatten die vier sich schon gebückt und mit »Hauruck!« den toten Song Fanping in eine Seitenlage gebracht. Jedoch mussten sie feststellen, dass der Sarg zu schmal für den hünenhaften Mann war. Auch wenn er auf der Seite lag und die angewinkelten Knie wie ein Embryo mit den Händen umfasste, waren die Beine noch zu lang. Kopfschüttelnd wischten sich die Männer den Schweiß mit dem Unterhemd ab und fluchten wütend los: »So ein Scheißsarg aber auch! Verdammt, der ist ja kaum größer als eine Fußwanne!... « Li Lan ließ bekümmert den Kopf hängen, während die Männer sich hinsetzten oder an die Wand lehnten, um einen Moment auszuruhen und erneut zu beraten. Schließlich sagte der Vormann zu ihr: »Es gibt nur eine Möglichkeit: Wir brechen die Knie und biegen die Unterschenkel nach oben. Dann passt er rein.« Li Lan erbleichte. Voller Entsetzen schüttelte sie immer wieder den Kopf. »Nein! Das dürfen Sie nicht ... «, rief sie zitternd. »Dann eben nicht!« Damit standen die Männer auf, sammelten ihre Tragjoche und Seile ein, erklärten noch einmal kopfschüttelnd und mit ratlos ausgebreiteten Händen, sie seien mit ihrer Weisheit am Ende, und verließen das Haus. Li Lan folgte ihnen auf die Gasse und fragte kläglich: »Gibt es nicht vielleicht doch noch eine andere Möglichkeit?« Die Männer aus der Sargtischlerei drehten sich um und sagten: »Nein! Sie haben es doch selbst gesehen.«
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Dann gingen sie mit ihrem Tragegerät weiter, die arme Li Lan immer hinterher. »Gibt es wirklich keine andere Möglichkeit?«, fragte sie noch einmal. »Nein«, fertigten die Männer sie schroff ab. Als sie am Ende der Gasse angelangt waren und sahen, dass Li Lan ihnen immer noch folgte, blieb der Vormann stehen und sagte: »Überlegen Sie doch einmal selbst! Wo gibt' s denn so was - ein Toter, dessen Füße aus dem Sarg herausragen! Alles andere ist doch besser als das.« Da senkte Li Lan traurig den Kopf und sagte leise: »Tun Sie, was Sie für richtig halten.« Die vier gingen wieder zurück, gefolgt von der armen Li Lan, die nur immer wieder stumm den Kopf schüttelte, stumm vor den Sarg trat und stumm den darin liegenden Song Fanping betrachtete. Dann beugte sie sich hinunter und krempelte vorsichtig die Hosenbeine des Toten bis übers Knie hoch. Als sie dabei wieder die schrecklichen Wunden an seinen Unterschenkeln sah, erzitterte sie abermals am ganzen Leib. Sie blickte auf und schaute, als sie den Blicken der Kinder begegnete, schnell weg, fasste sie an die Hand und zog sie mit gesenktem Kopf mit sich ins hintere Zimmer. Nachdem sie die Tür zugemacht hatte, sank sie aufs Bett und schloss die Augen. Glatzkopf-Li und Song Gang setzten sich neben sie. Da umfasste sie ihre Schultern und zog sie an sich. Im vorderen Zimmer rief der Vormann: »Wir fangen jetzt an.« Li Lan erzitterte, als hätte sie einen Stromschlag bekommen, und mit ihr erzitterten die Kinder. Vor dem Haus hatten sich inzwischen zahlreiche Menschen versammelt, Nach251
barn und zufällig vorübergehende Passanten sowie von ihnen herbeigerufene weitere Schaulustige. So dicht war das Gewühl, dass einige Gaffer von den Nachkommenden durch die offene Tür bis ins Haus gedrängt wurden. Inmitten des aufgeregten Stimmengewirrs der Zuschauer begannen die vier Männer aus dem Sargladen, Song Fanpings Knie zu brechen. Wie sie das taten, konnten Li Lan und die Kinder im hinteren Zimmer nicht sehen. Sie hörten sie nur sagen, sie würden einen Ziegelstein nehmen. Nachdem anscheinend mehrere Ziegel zerbrochen waren, ohne dass die Männer ihr Ziel erreicht hatten, regte jemand an, es mit der stumpfen Seite eines Küchenbeils zu versuchen. Später schlug offenbar jemand anders noch ein weiteres Gerät vor - wegen des Lärms, der draußen herrschte, konnten die drei im hinteren Zimmer nicht genau verstehen, was vorne gesprochen wurde. Sie hörten nur die aufgeregten Rufe der Zuschauer, außerdem das unablässige dumpfe Geräusch wuchtiger Schläge und dazwischen sekundenlang das helle Knacken splitternder Knochen. Glatzkopf-Li und Song Gang zitterten so sehr, dass es rauschte wie das Laub der Bäume im Sturmwind. Erschrocken sahen sie an sich herab: Wieso zitterten sie so? Da merkten sie, dass es Li Lans Hände auf ihren Schultern waren, deren Vibration sich auf sie übertrug; die Mutter bebte am ganzen Leib wie ein laufender Motor. Endlich hatten die vier Männer es geschafft, Song Fanpings starke Knie zu brechen. Der Vormann wies die anderen an, die Brocken der geborstenen Ziegelsteine aus dem Sarg zu klauben. Einen Moment später hörte man ihn die Anweisung geben, die Hosenbeine herunterzukrempeln und die gebro252
chenen Unterschenkel hineinzustecken. Schließlich klopfte er an die Tür zum Hinterzimmer und rief: »Kommen Sie und sehen Sie es sich an. Wir wollen jetzt den Sarg zumachen.« Immer noch am ganzen Leibe zitternd stand Li Lan auf, öffnete zitternd die Tür und ging zitternd ins vordere Zimmer. Niemand weiß, wie schwer ihr die wenigen Schritte bis zum Sarg fielen. Dann sah sie Song Fanpings abgebrochene Unterschenkel auf seinen Oberschenkeln liegen, als wären es die eines anderen Mannes, und wankte, fiel jedoch nicht. Der Anblick der zerschmetterten Knie des Toten blieb ihr erspart, denn sie steckten in den Hosenbeinen, doch die an den Sargbrettern klebenden Knochensplitter und Haut- und Fleischfetzen, die nahm sie wahr. Beide Hände fest auf den Sarg gestützt, blickte Li Lan unendlich liebevoll in das verquollene, deformierte Antlitz des Mannes, der die große Liebe ihres Lebens gewesen war. Ganz intensiv spürte sie das Fluidum, das von ihm ausging, während er sich auf einer menschenleeren Straße durch eine wüste Einöde nach ihr umwandte und ihr zuwinkte, ehe er seinen Weg zur Gelben Quelle fortsetzte. Glatzkopf-Li und Song Gang, die auf dem Bett im hinteren Zimmer saßen, hörten die Mutter mit zitternder Stimme sagen: »Sie können den Sarg jetzt zumachen. « XX Glatzkopf-Li und Song Gang erfuhren nie, woher Li Lan die Kraft nahm durchzuhalten. Seit sie aus dem Busbahnhof getreten war und die schluchzenden Söhne erblickt hatte, dann auf der Erde kniend die blutgetränkte Erde eingesammelt 253
und zu Hause die grässlich zugerichtete Leiche gesehen, anschließend einen Sarg aus dünnen Brettern gekauft und schließlich eingewilligt hatte, dass die vier Männer aus der Sargtischlerei Song Fanpings Knie zerschmetterten, war kein einziger Klagelaut über ihre Lippen gekommen. Die Kinder dagegen hatten schon mehrmals die Münder aufgerissen, um lauthals loszuschluchzen, vor allem, als sie mit anhören mussten, wie dem Vater die Beine gebrochen wurden, hatten aber jedes Mal sofort wieder die Lippen fest aufeinandergepresst, weil ihnen rechtzeitig einfiel, was die Mutter ihnen eingeschärft hatte: Sie dürften niemanden wissen lassen, dass sie weinten! An jenem Abend bereitete Li Lan ein Tofu-Gericht zu. So war es Brauch in unserer kleinen Stadt Liuzhen, und jeder, der ein Begräbnis auszurichten hatte, verstand sich darauf. Li Lan stellte die große Schale mit Tofu und dazu eine kleinere Schüssel sautierten Pak-Choi auf den von der Deckenlampe erleuchteten Esstisch, um den sich die drei nach Einbruch der Dunkelheit versammelt hatten. Neben dem Tisch stand der Sarg, auf dem ein Öllämpchen brannte, die Leuchte des langen Lebens, die Song Fanpings Weg ins Jenseits erhellen sollte, damit er nicht strauchelte. Den ganzen Nachmittag lang sagte Li Lan kein einziges Wort, und auch Glatzkopf-Li und Song Gang wagten nicht zu reden, sodass im Hause Totenstille herrschte, die erst zu Ende war, als Li Lan das Essen die erste Mahlzeit seit ihrer Rückkehr aus Schanghai - zubereitete und heißer Dampf aufstieg. Während sie vor dem Petroleumkocher stand, liefen ihr unablässig Tränen über das Gesicht, aber sie wischte sie nicht weg. 254
Als sie die große Schüssel mit Tofu und die kleine mit Gemüse auf den Tisch stellte, sahen die Kinder, dass ihr Gesicht tränenüberströmt war, und als sie ihnen auftat, war es immer noch tränenüberströmt. Dann wandte sie sich um und holte die Essstäbchen. Lange stand sie bewegungslos im Schlagschatten der Lampe, ehe sie tränenüberströmt mit den sechs zu Essstäbchen umfunktionierten Stöckchen wieder an den Tisch trat. Wie eine Schlafwandlerin setzte sie sich tränen überströmt hin und betrachtete tränen überströmt die Stäbchen in ihrer Hand. Mit zitternder Stimme sagte Song Gang: »Das da sind die Essstäbchen unserer Vorfahren.« Tränenüberströmt sah Li Lan ihre Söhne fragend an. Erst als sie mit ihrem Bericht über die Herkunft der Stäbchen fertig waren, begann sie endlich, die unablässig herabrinnenden Tränen zu trocknen. Dann teilte sie die Stäbchen aus und sagte leise: »Wirklich schön, die Essstäbchen unserer Vorfahren.« Bei diesen Worten blickte sie mit einem fast unmerklichen Lächeln zu dem Sarg hinüber. So zärtlich war dieses Lächeln, als säße Song Fanping dort drüben und schaue sie an. Als sie dann ihre Essschüssel in die Hand nahm, war ihr Gesicht erneut tränenüberströmt. Unter Tränen begann sie zu essen, in völliger Stille. Glatzkopf-Li sah, dass auch Song Gang die Tränen in die Essschüssel liefen, da konnte er die Tränen ebenfalls nicht mehr zurückhalten. Lautlos weinend nahmen die drei ihre Mahlzeit ein. Am Morgen nach diesem Tofu-Mahl wusch und kämmte sich Li Lan sorgfältig, nahm die bei den Jungen an die Hand und ging aufrecht und erhobenen Hauptes mit ihnen aus dem 255
Haus. Inmitten der wehenden roten Fahnen und der von den Demonstranten gebrüllten Parolen ging sie mit ihren Söhnen so zielstrebig die kulturrevolutionären Straßen entlang, als wäre außer ihr niemand unterwegs und als würden die Leute nicht mit Fingern auf sie zeigen. Ihr erstes Ziel war der Stoffladen. Während die anderen Kunden sich alle mit rotem Tuch für Fahnen und Armbinden eindeckten, kaufte sie schwarzen Flor und weißes Tuch. Die Leute im Laden beobachteten sie neugierig. Jemand, der in ihr die Frau von Song Fanping erkannte, stellte sich mit erhobener Faust neben sie und brüllte »Nieder mit Li Lan!«. Mit unerschütterlichem Gleichmut bezahlte sie, gleichmütig rollte sie ihre Einkäufe zusammen, und gleichmütig verließ sie das Geschäft, den schwarzen Flor und das weiße Tuch an die Brust drückend. Glatzkopf-Li und Song Gang hatten jeder einen Zipfel der Bluse ihrer Mutter gepackt und bemühten sich, mit ihr Schritt zu halten. Als Nächstes führte ihr Weg Li Lan zu dem Fotoatelier, denn sie hatte bei der Durchsicht der Habseligkeiten ihres Mannes eine blaue Quittung gefunden, die sie lange drehte und wendete, ehe ihr einfiel, dass ja vor ihrer Abreise nach Schanghai beim Fotografen ein Familienfoto gemacht worden war. Ihr Mann hatte offensichtlich das fertige Foto niemals abgeholt. Daraus schloss sie, dass er gleich danach in Schwierigkeiten geraten war. Der Fotograf brauchte eine ganze Weile, ehe er das Foto endlich gefunden hatte. Als Li Lan es entgegennahm, zitterte ihre Hand. Das Foto, den schwarzen Flor und den weißen Stoff an die Brust gepresst, verließ sie das Atelier und setzte aufrecht und hocherhobenen Hauptes ihren Gang durch die 256
Straßen fort. Die Kinder hatte sie in diesem Augenblick völlig vergessen, in ihrem Kopf war nur Platz für die Erinnerung an Song Fanping und seine Frohnatur. Sie sah wieder vor sich, wie er den Fotografen instruiert hatte, wo der Scheinwerfer platziert werden müsste und wann der Auslöser zu betätigen sei, und wie fröhlich die vierköpfige Familie sich danach auf den Weg zum Fernbusbahnhof gemacht hatte. Dort hatte sie ihrem Mann zum Abschied zugewinkt und ihn zum letzten Mal lebend gesehen, denn als sie aus Schanghai zurückkehrte, war es vorbei mit ihm und seiner Frohnatur. Die Hand, in der sie die Tüte mit dem Foto hielt, zitterte, und nur mit allergrößter Anstrengung konnte sie der Versuchung widerstehen, das Familienbild gleich hier auf der Straße hervorzuholen. Ebenso große Anstrengung kostete es sie, ihren aufrechten Gang durchzuhalten. An der Brücke wurde sie durch einen Zug von Demonstranten aufgehalten. An eben dieser Stelle hatte Song Fanping seinerzeit in Glanz und Gloria das rote Banner geschwenkt, was sie natürlich nicht wissen konnte. Als sie jetzt jedoch stehen bleiben musste, konnte sie sich nicht länger beherrschen, holte das Foto aus der Tüte und blickte in das lächelnde Gesicht ihres Mannes. Noch ehe sie auch die drei anderen fröhlichen Gesichter wahrnahm, brach sie ohnmächtig zusammen. Drei Tage lang hatte sie sich eisern beherrscht und sich von ihrem ungeheuren Schmerz nicht übermannen lassen, jetzt aber genügte eine Fotografie des freundlich lächelnden Song, sie wie mit der Axt zu fällen. Glatzkopf-Li und Song Gang, die - immer noch je einen Blusenzipfel umklammernd - hinter Li Lan gestanden hatten, schauten plötzlich in das erschrockene Gesicht eines frem257
den Mannes statt auf den Rücken ihrer Mutter. Dann erst sahen sie diese mit geschlossenen Augen auf der Erde liegen. Schluchzend hockten sie sich hin und rüttelten und stupsten sie an, doch es kam keine Reaktion. Das markerschütternde Geschrei der Kinder lockte immer mehr Gaffer an, die einen dichten Kreis um die drei bildeten. In ihrer Hilflosigkeit und Verlassenheit flehten Glatzkopf-Li und Song Gang, die inzwischen neben Li Lan auf der Erde knieten, die Umstehenden an, ihre Mutter zu retten. Dass sie das Bewusstsein verloren hatte, war den Jungen nicht klar. Schluchzend fragten sie die Leute: »Warum ist Mama umgefallen?« Keiner von den Zuschauern hockte sich zu den Kindern, alle standen nur herum und unterhielten sich angeregt. Schließlich beugte sich doch ein Mann zu ihnen hinunter und sagte: »Klappt ihr mal das Augenlid nach oben und seht nach, ob die Pupille vergrößert ist.« Eilig befolgten die beiden Jungen diesen Rat und legten Li Lans Augäpfel frei, die sie für die Pupillen hielten, weil sie den Unterschied nicht kannten. Die Gesichter nach oben gewandt, riefen sie: »Sie sind sehr groß!« Jener Mann sagte: »Dann ist sie wahrscheinlich tot.« Als die Kinder das hörten, brachen sie abermals in Tränen aus, wobei sie sich instinktiv trostsuchend aneinanderklammerten. Da sagte ein anderer Mann: »Hört auf zu heulen! Ihr wisst doch noch gar nicht, was eine Pupille ist. Bestimmt habt ihr sie mit dem Augapfel verwechselt. Fühlt ihr mal lieber den Puls! Wenn ihr spürt, wie er klopft, ist sie nicht tot.« Glatzkopf-Li und Song Gang hörten schlagartig auf zu weinen. Eifrig fragten sie: »Wo ist denn der Puls?«
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Der Mann streckte die linke Hand aus und zeigte mit der rechten auf sein Handgelenk: »Hier!« Jedes Kind griff nach einer von Li Lans Händen und betastete die Handgelenke, doch keiner von beiden konnte eine Stelle finden, wo es klopfte. Der Mann fragte: »Klopft es?« Glatzkopf-Li schüttelte den Kopf: »Nein.« Dann sah er Song Gang gespannt an, aber der schüttelte auch den Kopf und sagte: »Nein.« Der Mann richtete sich auf. »Da ist sie vielleicht wirklich tot«, sagte er. Nunmehr vollends verzweifelt, rissen die Kinder ihre Münder auf und plärrten abermals los. Weil ihnen davon die Luft ausging, verstummten sie immer wieder, um im nächsten Moment gleichzeitig erneut in lautes Wehgeschrei auszubrechen. Weinend klagte Song Gang: »Papa ist tot, und jetzt ist auch Mama tot!« In diesem Moment erschien Schmied Tong. Er drängte sich durch die Menge, hockte sich hin, schob die beiden Jungen zur Seite und herrschte sie an, sie sollten aufhören zu weinen. »>Vergrößerte Pupille<, >klopfender Puls<. Das ist was für den Arzt«, sagte er, »davon verstehen kleine Knirpse wie ihr einen Furz! Legt lieber mal das Ohr an die Brust und horcht, ob ihr Herz noch klopft!« Song Gang wischte sich Rotz und Tränen ab und tat wie ihn geheißen. Nach einem Moment schaute er auf und sagte aufgeregt zu seinem Bruder: »Es scheint zu klopfen!« Da putzte sich auch Glatzkopf-Li eilig das Gesicht ab und horchte an der Brust der Mutter. Auch er hörte, wie ihr Herz pochte. Kopfnickend bestätigte er: »Ja, es klopft.«
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Schmied Tong richtete sich auf und stauchte die beiden Männer, die eben mit den Kindern geredet hatten, zusammen. »Keine Ahnung, aber dumm rumquatschen! Kleinen Kindern Angst machen, das ist das Einzige, was ihr könnt!« Dann neigte er sich über die beiden Jungen und sagte: »Sie ist nicht tot, nur ohnmächtig. Lasst sie ruhig noch ein Weilchen hier liegen, dann steht sie von ganz allein wieder auf.« Schlagartig hörten die Kinder auf zu weinen. Song Gang wischte sich die Tränen ab und schaute den Schmied strahlend an. »Der Himmel wird es Ihnen vergelten!«, sagte er. Das gefiel dem Schmied. Lächelnd erwiderte er: »Schon recht, mein Junge.« Die Brüder setzten sich beruhigt neben ihre Mutter. Es kam ihnen jetzt vor, als schliefe sie. Song Gang nahm das Foto, das auf die Erde gefallen war, betrachtete es einen Moment und reichte es an Glatzkopf-Li weiter, der es ebenfalls anschaute und dann vorsichtig wieder in die Papiertüte steckte. Die Menschenmenge auf der Brücke wuchs immer mehr an. Zahlreiche Neugierige drängelten sich zu den Kindern und ihrer Mutter durch, warfen einen Blick auf die drei, erkundigten sich bei anderen, was geschehen sei, und arbeiteten sich dann durch den Kreis der Gaffer wieder nach außen, während die Brüder geduldig längere Zeit wartend dasaßen und einander immer mal wieder verstohlen zulächelten. Plötzlich setzte sich Li Lan auf. Da riefen sie den Umstehenden jauchzend zu: »Mama ist aufgewacht!« Li Lan wusste nicht, was geschehen war. Sie merkte nur, dass sie auf der Erde saß, und stand verlegen auf. Sorgfältig klopfte sie sich den Staub von der Kleidung und drückte Foto, schwarzen Flor und weißes Tuch wieder an die Brust, 260
während Glatzkopf-Li und Song Gang abermals je einen Zipfel ihrer Bluse ergriffen. Dann drängten sich die drei mit gesenkten Köpfen durch die Menge der Gaffer und machten sich auf den Heimweg. Unterwegs blieb Li Lan stumm, und auch die Kinder wagten nicht zu sprechen, obwohl sie vor freudiger Erregung beinahe platzten. Ganz fest hielten sie den Blusenzipfel ihrer verloren geglaubten und glücklich wiedergewonnenen Mutter. Von Zeit zu Zeit liefen sie ein Stückchen vor, um sie von vorn zu sehen, und wenn sie dann wieder hinter ihr gingen, sahen sie einander verschwörerisch lächelnd an. XXI Am vierten Tag nach Song Fanpings Tod erschien ein alter Bauer mit einem klapprigen Pritschenkarren an Li Lans Haustür. Bekleidet mit einer von Flicken übersäten Hose und einem Trikothemd, blieb er draußen stehen und schaute blind vor Tränen und ohne ein Wort zu sagen auf den Sarg im vorderen Zimmer. Der Mann war Song Fanpings Vater, der Großvater von Song Gang, jener Grundbesitzer, der vor der Befreiung - das heißt, vor der Gründung der Volksrepublik 1949 - ein paar Dutzend Hektar sein Eigen genannt hatte, dem aber nach der vollständigen Aufteilung seiner Felder außer dem abwertenden Status eines »alten Grundbesitzers« nichts von seinem einstigen Wohlstand geblieben war, sodass er jetzt schlechter dastand als die ärmsten der »armen Bauern« und »unteren Mittelbauern« in seinem Dorf. Dieser »alte Grundbesitzer« war gekommen, um seinen »Grundbesitzer«-Sohn heimzuholen.
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Bereits am Abend des Vortages hatte Li Lan Song Gangs Sachen zusammengepackt. Die beiden Jungen hatten, auf dem Bett sitzend, schweigend zugesehen, wie sie erst ihre eigene Kleidung, den Beutel mit der von Song Fanpings Blut getränkten Erde und schließlich auch noch eine Tüte Karamellen Marke »Großer weißer Hase« aus der grauen Reisetasche mit dem Schriftzug »Schanghai« herausnahm, anschließend Song Gangs Kleider und die ganze Tüte Karamellen hineinpackte, die Bonbons aber, als sie Glatzkopf-Lis erwartungsvolle Miene bemerkte, wieder herausholte und dem Jungen eine Handvoll reichte - Song Gang bekam nur zwei Stück -, ehe sie die Tüte wieder in der Reisetasche verstaute. Den Bonbons lutschenden Brüdern war zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, was am nächsten Tag passieren würde, und selbst als vormittags Song Gangs Grundbesitzer-Großvater vor der Tür stand, wussten sie noch nicht, dass sie schon sehr bald getrennt würden. Song Fanpings kümmerlicher Sarg und Song Gangs Reisetasche wurden auf dem klapprigen Pritschenkarren verstaut, den der weißhaarige alte Grundbesitzer mit hängendem Kopf zog. Dahinter ging Li Lan mit den Kindern an der Hand. Alle vier hatten schwarzen Trauerflor um den Arm und eine Schärpe aus weißem Stoff um die Taille gebunden. Glatzkopf-Li konnte sich später nicht erinnern, an seiner Mutter je einen so stolzen Gesichtsausdruck wahrgenommen zu haben wie an jenem Morgen. Sein leiblicher Vater hatte ihr nur Hass und Schande gebracht, Song Fanping dagegen Liebe und Würde. Als wäre sie gerade dem heroischen Opernfilm »Das rote Frauenbataillon« entsprungen, schritt Li Lan mit hoch erhobenem Haupt hinter dem Karren her. 262
Der Rücken des alten Grundbesitzers vor dem Karren dagegen war so krumm, dass man hätte meinen können, er stünde als Angeklagter vor einer Kritik- und Kampf-Versammlung, zumal er auch immer wieder die Hand an die Augen führte, um sich die Tränen abzuwischen. Unterwegs kamen ihnen zwei Demonstrationszüge frontal entgegen. Die Parolen verstummten wie auf Kommando, die revolutionären Massen hörten auf, die kleinen roten Fähnchen zu schwenken, die sie in der Hand hielten, und begannen, lebhaft über die vier Trauernden, ihren Karren und den Sarg zu debattieren. Ein Mann mit roter Armbinde trat an Li Lan heran und fragte: »Wer ist das in dem Sarg?« »Mein Mann«, antwortete sie ruhig und stolz. »Und wer war dein Mann?« »Song Fanping, Lehrer an der Mittelschule von Liuzhen.« »Woran ist er gestorben?« »Er wurde bei lebendigem Leibe totgeschlagen.« »Warum?« »Weil er ein Grundbesitzer war.« Bei diesen letzten Worten, die Li Lan laut und vernehmlich artikuliert hatte, erzitterten Glatzkopf-Li und Song Gang, und der alte Grundbesitzer vor dem Karren erschrak so heftig, dass er nicht einmal mehr wagte, die Tränen abzuwischen. Die demonstrierenden revolutionären Massen waren stehen geblieben, überrascht, dass diese schmächtige Frau es wagte, so selbstbewusst aufzutreten. Der Mann mit der roten Armbinde sagte: »Wenn dein Mann ein Grundbesitzer war, dann bist du also die Frau eines Grundbesitzers.« Li Lan nickte emphatisch. »So ist es«, sagte sie.
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Der Mann drehte sich zu den revolutionären Massen um. »Habt ihr gesehen«, rief er, »wie unverschämt das Weib ist?« Dann schlug er Li Lan so brutal ins Gesicht, dass ihr Kopf zur Seite flog und das Blut aus dem Mund schoss. Sie aber lachte nur und fuhr mit stolz erhobenem Kopf fort, ihm ins Gesicht zu schauen. Der Mann mit der roten Armbinde schlug abermals zu, und wieder flog ihr Kopf zur Seite, doch sie lachte immer noch und sah ihm immer noch erhobenen Hauptes in die Augen. »Reicht das jetzt?«, fragte sie. Der Mann erstarrte. Mit ungläubigem Staunen sah er erst Li Lan, dann die umstehenden Demonstranten an. »Wenn Sie nämlich genug geprügelt haben, würde ich jetzt gern weitergehen«, fuhr Li Lan fort. Der Mann mit der roten Armbinde ließ eine wüste Schimpfkanonade los und versetzte Li Lan zwei weitere Ohrfeigen, sodass ihr Kopf erst nach links, dann nach rechts flog. Abschließend schrie er: »Hau ab, du Miststück!« Mit blutendem Gesicht, aber immer noch lächelnd, nahm Li Lan die beiden Jungen wieder an die Hand und setzte unter den staunenden Blicken der revolutionären Massen ihren Weg fort. »Heute wird nämlich mein Mann begraben«, erklärte sie ihnen lächelnd. Bei diesen Worten quollen ihr die Tränen über die Lider, Glatzkopf-Li und Song Gang begannen loszuschluchzen, und auch der alte Grundbesitzer weinte so heftig, dass es ihn schüttelte. Li Lan wies die Kinder zurecht: »Hört auf zu weinen!« Laut und vernehmlich fügte sie hinzu: »Vor fremden Leuten wird nicht geweint!«
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Die bei den Jungen pressten sich die Hände auf die Münder, um ihr Schluchzen zu ersticken, doch die Tränen konnten sie nicht zurückhalten. Obwohl sie den Kindern das Weinen verboten hatte, rannen Li Lan selber nach wie vor Tränen über das Gesicht. Unter Tränen lächelnd ging sie weiter. Die vier verließen die Stadt durch das Südtor, und nachdem sie über eine schwankende und quietschende Holzbrücke gegangen waren und die ersten Zikaden hörten, wussten sie, dass jetzt das freie Land mit seinen schlammigen Wegen begann. Es war inzwischen Mittag. Über den Feldern, die sich bis zum Horizont erstreckten, sah man den Rauch unzähliger Herdfeuer aufsteigen. Die sommerliche Flur war so leer, dass man hätte meinen können, dass es unter dem Himmel nur diese vier Menschen und dazu Song Fanping in seinem Sarg gäbe. Jetzt endlich ließ Songs Vater, der wie ein alter Ochse vor dem Pflug den Karren mit seinem toten Sohn zog, seinen Tränen freien Lauf. Seine Jammerlaute, genau so zittrig wie der ganze klapprige Greis, zogen erneute Heularien von Song Gang und Glatzkopf-Li nach sich. Zwar pressten sie nach wie vor beide Hände fest auf den Mund, doch brach ihr Schluchzen stoßweise zwischen den Fingern hervor und bahnte sich sogar einen Weg durch die Nase, die sie sich vergeblich zuhielten. Als sie den Kopf hoben und ihre Mutter ängstlich von der Seite her ansahen, sagte diese: »Weint ruhig!« Kaum waren die beiden Worte heraus, schluchzte auch Li Lan selbst verzweifelt los. Zum ersten Mal hörten die Kinder ihre Mutter so herzzerreißend und hemmungslos weinen. Es war, als wollte sie alle Klagelaute, die sich in ihr aufgestaut hatten, auf einmal loswerden. Da lockerte sich erst bei Song Gang, dann auch bei Glatzkopf-Li der Druck seiner Finger 265
endlich konnten sich die Kinder gehen lassen! Laut weinend und schluchzend setzten die vier ihren Weg fort, eine trauernde Familie, die gemeinsam weinte. Alle ließen ihren Tränen freien Lauf. Jetzt brauchten sie nichts mehr zu befürchten, sie befanden sich ja schon auf dem Land, inmitten der weiten Felder, unter dem hohen Himmel. Den Kopf in den Nacken gelegt, als betrachte sie den Himmel, schrie Li Lan ihren ganzen Schmerz aus sich heraus; Song Fanpings krummer alter Vater weinte mit gesenktem Kopf, als wolle er Träne für Träne in die Erde säen; und Glatzkopf-Li und Song Gang wischten sich die pausenlos fließenden Tränen so heftig ab, dass sie den Sarg des Vaters benetzten. Ihre Klagelaute hörten sich an wie eine Kette von Explosionen, vor denen die Spatzen auf den Bäumen rechts und links der Straße erschrocken auseinanderstoben, als würden sie von Sprühwasser eingenebelt. Lange Zeit setzten die vier Trauernden ihren Weg fort, bis am Ende Song Fanpings alter Vater nicht mehr weiterkonnte, den Karren abstellte und sich völlig erschöpft vom vielen Weinen auf die Erde hockte. Auch die anderen blieben stehen und rasteten. Als sie sich allmählich wieder gefasst hatten, wischte Li Lan sich die Augen trocken und erklärte, jetzt würde sie den Karren ziehen, aber das ließ Song Fanpings alter Vater nicht zu - er würde den Sohn auf seinen letzten Weg bringen. Den Rest der Strecke legten die vier ohne zu weinen schweigend zurück; das Quietschen des Karrens war das einzige Geräusch. Als sie zu dem Weiler kamen, aus dem Song Fanping stammte, warteten am Dorfeingang bereits einige zerlumpt gekleidete Verwandte, die auch das Grab schon 266
ausgehoben hatten und nun, gestützt auf ihre Spaten, des Toten harrten. Song Fanping wurde unter einer Ulme am Dorfeingang begraben. Nachdem sein Sarg in die Grube hinabgelassen worden war und einige Verwandte Erde darauf schaufelten, kniete sich sein alter Vater daneben und sortierte sorgsam die Steinchen heraus. Li Lan folgte seinem Beispiel. Je höher die Erdschicht in der Grube wurde, desto mehr richteten sich die beiden Steinchensammler allmählich wieder auf. Anschließend gingen alle zu der strohgedeckten Hütte des Alten, in der nicht viel mehr stand als ein Bett, ein schäbiger alter Kleiderschrank und ein ebenso abgenutzter Esstisch. Einige arme Verwandte setzten sich und aßen, und auch Glatzkopf-Li und Song Gang verzehrten ein wenig von dem Mahl aus trockenem Reis und Salzgemüse. Song Fanpings alter Vater jedoch, der mit hängendem Kopf auf einem niedrigen Schemel in der Ecke saß und sich die Tränen abwischte, nahm keinen einzigen Bissen zu sich, ebenso wenig wie Li Lan. Sie öffnete den Kleiderschrank, nahm Song Gangs Kleider aus der Reisetasche, faltete sie ordentlich und legte sie und auch jene Tüte Karamellen Marke »Großer weißer Hase«, wie Glatzkopf-Li sehr wohl sah - in den Schrank. Als sie damit fertig war, stand sie einfach nur da und schaute mit leeren Augen auf die beiden Kinder. Es wurde ein stiller Nachmittag. Nachdem die Verwandten fertig gegessen und die vier allein in der Hütte zurückgelassen hatten, hörte man keinen Laut mehr. Glatzkopf-Li blickte nach draußen, sah Bäume und einen Teich, Spatzen, die auf den Zweigen hin und her hüpften, und Schwalben, die 267
aus ihrem Nest unter dem Dachfirst herausschossen. Auch Song Gang sah das alles. Beide Jungen wären allzu gern hinausgelaufen, um sich ein wenig umzusehen. Doch wagten sie es nicht und blieben wohl oder übel auf ihrer Bank sitzen, von wo aus sie ab und zu einen verstohlenen Blick auf ihre trauernde Mutter und Song Fanpings alten Vater riskierten. Schließlich brach Li Lan das Schweigen. Sie sagte, es sei Zeit aufzubrechen, damit sie vor Einbruch der Dunkelheit wieder in der Stadt wären. Der alte Mann stand tatterig auf und kramte aus dem Kleiderschrank eine Dose, aus der er eine Handvoll gekochte Saubohnen holte. Die stopfte er Glatzkopf-Li in die Hosentasche. Zusammen gingen die vier wieder zum Dorfeingang. Auf Song Fanpings Grabhügel lagen ein paar herabgefallene Blätter, die Li Lan aufsammelte und beiseite warf. Sie weinte jetzt nicht mehr, sondern stand mit gesenktem Kopf vor dem Grab. Die Brüder hörten sie sagen: »Wenn die Kinder groß sind, leiste ich dir Gesellschaft.« Dann drehte sie sich um, hockte sich vor Song Gang hin und streichelte sein Gesicht. Als der Junge ebenfalls die Hand ausstreckte und ihr über die Wange streichelte, brach sie in Tränen aus und zog ihn an sich. »Mein Sohn«, sagte sie zu ihm, »du musst dich um deinen Großvater kümmern, er ist alt und möchte, dass du bei ihm bleibst ... Ich werde dich aber oft besuchen ... « Obwohl Song Gang nicht wusste, was das alles zu bedeuten hatte, nickte er und sah dabei zu Glatzkopf-Li hinüber. Nach einer Weile erhob sich Li Lan aus ihrer hockenden Stellung und wischte sich die Tränen ab. Sie sah Song Fanpings alten Vater an, als wolle sie etwas sagen, bewegte sogar die Lippen, 268
brachte aber keinen Laut hervor. Schließlich drehte sie sich um und nahm Glatzkopf-Li an die Hand. So machten sich die beiden auf den Weg. Mit schweren Füßen - wie zwei Mopps, mit denen die Dielen geputzt werden schleppte sich Li Lan die schlammige Landstraße entlang, ohne noch einmal zurückzuschauen. Glatzkopf-Li hatte noch immer nicht begriffen, dass er ab jetzt von Song Gang getrennt sein würde. An der Hand der Mutter wandte er sich zur Seite und hielt Ausschau nach dem Bruder - warum ließ der bloß so lange auf sich warten ... ? Song Gangs Großvater hatte den Enkel angefasst und stand mit ihm vor Song Fanpings Grab. Es war Song Gang völlig unbegreiflich, wieso die Mutter und der Bruder langsam weggingen und sich weiter und weiter entfernten, während er selber nach wie vor hier stand. Er blickte auf und bemerkte, dass der Großvater ihnen nachwinkte. Da hob er zögernd die Hand schulterhoch und winkte auch. Als Glatzkopf-Li, der sich an der Hand seiner Mutter immer noch fortwährend nach Song Gang umdrehte, sah, wie dieser ihm zuwinkte, hob er seinerseits die Hand bis in Schulterhöhe und winkte zurück. XXII Von nun an war Glatzkopf-Li ganz allein. Seine Mutter ging morgens aus dem Haus und kehrte erst abends zurück. Die Seidenfabrik, in der sie arbeitete, hatte zwar die Produktion eingestellt, um mit voller Kraft »Revolution zu machen«, aber da die Heirat mit Song Fanping ihr den Status einer Grundbesitzer-Gattin eingetragen hatte, musste sie jeden Tag in die Fabrik gehen, um dort Kritik und Kampf über sich 269
ergehen zu lassen. Glatzkopf-Li, der in Song Gang seinen einzigen Spielkameraden verloren hatte, langweilte sich, weil er sich jetzt den ganzen Tag allein draußen herumtreiben musste wie ein welkes Blatt im Wasser oder ein Fetzen Papier auf der Straße. Er wusste nichts mit sich anzufangen und streifte einfach nur ziellos durch die Stadt. War er müde, suchte er sich ein Ruheplätzchen, hatte er Durst, trank er ein paar Schlucke an irgendeinem Wasserhahn, den er unterwegs sah, und wenn der Hunger ihn überkam, ging er schnell mal nach Hause, um ein wenig kalten Reis und einen Rest Gemüse in sich hineinzustopfen. Er hatte keine Ahnung, was in der Welt geschah, warum zum Beispiel mit fortschreitender Entwicklung der Großen Proletarischen Kulturrevolution immer mehr Menschen mit hohen Spitzmützen und umgehängten Holzschildern auf den Straßen zu sehen waren. Auch Mutter Su aus dem Imbissladen hatte es mittlerweile erwischt: Sie wurde als Hure kritisiert und bekämpft, denn sie hatte eine Tochter, aber keinen Ehemann - klar, dass sie eine Nutte war! Eines Tages sah Glatzkopf-Li von fern eine rothaarige Frau an einer Straßenecke stehen. Da er vorher noch nie eine Rothaarige gesehen hatte, rannte er neugierig hin und stellte fest, dass die rote Haarfarbe vom Blut herrührte. Ein Holzschild vor der Brust, stand die Frau mit gesenktem Kopf auf einer Bank, neben ihr ein Mädchen, das ein paar Jahre älter als Glatzkopf-Li sein mochte und sich ängstlich an ihrem Jackenzipfel festhielt. Erst als der Junge ganz nahe heranging und der Frau von unten ins Gesicht schaute, erkannte er die Chefin des Imbissladens.
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Neben Mutter Su und dem Mädchen - es war ihre Tochter, Su Meistand noch eine zweite Bank und darauf mit gesenktem Kopf kein anderer als der Vater des langhaarigen Sun Wei. Dieser Mann, der sich seinerzeit mit Song Fanping geprügelt und später, geschmückt mit einer roten Armbinde, vor der Tür des Speichers wie ein Halbgott seines Amtes gewaltet hatte, trug jetzt ebenfalls eine Schandmütze auf dem Kopf und hatte ein großes Holzschild um den Hals. Vor der Befreiung hatte nämlich Sun Weis Großvater in unserer kleinen Stadt Liuzhen einen Reisladen besessen, der allerdings während der Kriegswirren pleite gegangen war. Als nun Ausmaß und Intensität der Kulturrevolution immer mehr zunahmen, entsann man sich wieder an den Sohn des Reishändlers - Sun Weis Vater - und stempelte ihn zum »Kapitalisten«. Das entsprechende Holzschild vor seiner Brust war sogar noch größer als seinerzeit das des »Grundbesitzers« Song Fanping. Wie Glatzkopf-Li war jetzt auch der langhaarige Sun Wei auf sich allein gestellt, denn nachdem seinem Vater als Klassenfeind die Schandmütze aufgesetzt und das große Holzschild umgehängt worden waren, hatten sich seine beiden Kumpel Zhao Shengli und Liu Chenggong unverzüglich von ihm losgesagt. Sun Wei übte jetzt übrigens nicht mehr auf der Straße den Beinfeger. Das blieb seinen beiden ehemaligen Freunden vorbehalten, die dreckig zu grinsen begannen, sobald sie Glatzkopf-Li nur erblickten. Der nahm dann jedes Mal Reißaus, weil er genau wusste, was sie im Schilde führten. War es zu spät, um zu flüchten, setzte er sich sofort auf seine vier Buchstaben und trompetete schelmisch: »Ich sitze schon!« 271
Dann hatten die beiden Helden keine Verwendung mehr für ihre Wunderwaffe, konnten ihm nur noch einen Tritt versetzen und ihn beschimpfen: »Du verdammter Scheiß-Kerl!« (Man beachte: Früher hatten sie ihn einfach nur als »Kerl« tituliert, jetzt war er zum »Scheiß-Kerl« avanciert.) Glatzkopf-Li begegnete häufig dem Langhaarigen, der mutterseelenallein wie er selbst durch die Straßen bummelte oder am Brückengeländer lehnte, wobei er stets den Kopf zur Seite geneigt hielt. Sun Wei wurde von allen geschnitten, niemand klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter, und selbst Zhao Shengli und Liu Chenggong taten, als ob sie ihn nicht kannten, wenn sie zufällig auf ihn stießen. Allein Glatzkopf-Li behandelte ihn wie eh und je, will heißen, er rannte weg oder setzte sich auf die Erde, sobald er ihn nur erblickte. Auch Sun Wei seinerseits nannte ihn wie früher »Kerl« (ohne vorangestelltes »Scheiß-«). Mit der Zeit wurde Glatzkopf-Li es müde wegzulaufen, kam er doch dabei jedes Mal völlig außer Atem und stank aus dem Mund vor Erschöpfung. Da war es doch besser, sich gleich auf die Erde plumpsen zu lassen; so konnte er außerdem in aller Ruhe das Geschehen auf der Straße beobachten. Von da an ließ er sich, sobald der Langhaarige sich näherte, blitzartig auf die Erde fallen, als müsse er sich einen Sitzplatz sichern, und empfing Sun Wei mit der kessen Bemerkung, er sitze bereits, der andere könne ihm höchstens noch einen Fußtritt verpassen. Der Langhaarige lachte aber nur verächtlich, berührte mit der Fußspitze Glatzkopf-Lis Hintern und fragte: »Sag mal, Kleiner, wieso setzt du dich immer hin, wenn du mich siehst?« 272
Mit einem schlauen Grinsen antwortete Glatzkopf-Li: »Weil ich Angst vor deinen Beinfegern habe.« Das fand Sun Wei komisch. »Kannst aufstehen, Kleiner! Ich tu dir nichts«, sagte er grinsend. Glatzkopf-Li schüttelte den Kopf: »Ich stehe erst auf, wenn du wieder weg bist.« »Verdammt, ich hab gesagt, ich tu dir nichts! Los, steh auf1« Glatzkopf-Li glaubte ihm nicht so recht. »Ich sitze hier sehr gut«, sagte er. »Verdammt noch mal!«, fluchte Sun Wei, zog sich aber tatsächlich zurück, im Gehen ein Gedicht des Vorsitzenden Mao trällernd: »So frag doch die weite Welt, wer wohl bestimmt über Wohl, über Weh ... « Auf diese Weise gingen die beiden Einzelgänger, die sich bei ihren Streifzügen durch die Straßen so häufig begegneten, weiterhin getrennte Wege: Glatzkopf-Li blieb dabei, entweder wegzulaufen oder sich - platsch! - auf die Erde zu setzen, während Sun Wei den Jüngeren mit seiner Angst vor einem Überraschungsangriff jedes Mal verächtlich auslachte. Eines Mittags jedoch ließ Glatzkopf-Li in seiner Wachsamkeit nach. Er hatte großen Durst, denn viele Leute hatten inzwischen ihre Wasserhähne mit Schlössern gesichert; erst der achte Hahn, den er aufsuchte, ließ sich aufdrehen. Nachdem er getrunken und seinen verschwitzten Kopf mit dem kalten Wasser gekühlt hatte, kam von hinten jemand, der den von ihm gerade zugedrehten Hahn wieder aufdrehte und sich geräuschvoll mit dem kühlen Nass labte. Er hatte sich hinuntergebeugt und das Auslaufventil zwischen die Lippen genommen, als ob er an einem Stück Zuckerrohr nuckele. Den Kopf schräg unter dem Hahn, den Hintern in die Höhe ge273
reckt, trank er gierig und furzte dabei, was Glatzkopf-Li sehr lustig fand. Als der andere fertig getrunken hatte und sich wieder aufrichtete, blaffte er Glatzkopf-Li an: »Hey, Kleiner, was gibt's hier zu lachen!?« Jetzt merkte Glatzkopf-Li, wen er vor sich hatte, war aber so aufgekratzt, dass er vergaß, sich rechtzeitig auf die Erde fallen zu lassen. »Wenn du furzt, hört es sich an, als ob du schnarchst«, gluckste er. Während sich Sun Wei verächtlich lächelnd die Finger mit Wasser aus dem Hahn benetzte, um seine Tolle zu bändigen, fragte er Glatzkopf-Li: »Was ist mit dem anderen Knirps?« Damit konnte nur Song Gang gemeint sein. »Der andere Knirps ist jetzt wieder im Dorf«, antwortete Glatzkopf-Li. Der Langhaarige nickte, drehte den Hahn zu, schüttelte seine Mähne und winkte Glatzkopf-Li, er solle mitkommen. Der tat das auch, aber nach ein paar Schritten fiel ihm siedend heiß doch wieder jener Beinfeger ein, und schon saß er auf der Erde. Als Sun Wei, der das nicht sofort gemerkt hatte, sich umdrehte und Glatzkopf-Li auf der Erde sitzen sah, wunderte er sich: »Was machst du denn, Kleiner?« Glatzkopf-Li zeigte auf seine Beine: »Dein Beinfeger - du weißt schon.« Der Langhaarige lachte schallend. »Wenn ich dich umlegen wollte, hätte ich das längst tun können.« Das leuchtete Glatzkopf-Li ein, aber so ganz traute er dem Frieden immer noch nicht. »Du hast es wahrscheinlich bloß vergessen?«, fühlte er vor. Der andere winkte ab: »Ach was! Ich tue dir nichts, wir sind doch jetzt Freunde.«
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Durch dieses unerwartete» Wir sind doch jetzt Freunde« fühlte sich Glatzkopf-Li so geschmeichelt, dass er wie elektrisiert aufsprang. Und tatsächlich, Sun Weis Beinfeger blieb aus! Vielmehr legte der Langhaarige ihm freundschaftlich die Hand um die Schultern und ging so mit ihm die Straße entlang, seine prachtvolle Mähne schüttelnd und vor sich hin trällernd: »So frag doch die weite Welt, wer wohl bestimmt über Wohl, über Weh ... « Glatzkopf-Li war vor Aufregung ganz rot im Gesicht. Sun Wei sieben Jahre älter als er! -, der war jetzt sein Freund! Seit Song Fanping tot war, konnte in puncto Beinfeger keiner ihm das Wasser reichen, und sein Haar, das die Ohren bedeckte, flatterte beim Gehen so schön im Wind! Dazu noch das geträllerte Gedicht, das durch Sun Weis eigene Zutaten (»doch« und »wohl« stammten nicht vom Vorsitzenden Mao) erst den letzten Pfiff erhielt - kurz: Glatzkopf-Li fühlte sich dermaßen geehrt, eine solche Persönlichkeit begleiten zu dürfen, dass ihn in diesem Moment nicht einmal die Träger der roten Armbinden hätten beeindrucken können. An der Brücke begegneten den beiden Zhao Shengli und Liu Chenggong, von deren Gesichtern man die Überraschung ablesen konnte, Sun Wei in Gesellschaft eines Knirpses wie Glatzkopf-Li zu sehen. Als wäre überhaupt nichts geschehen, trällerte der Langhaarige sein abgewandeltes Mao-Gedicht vor sich hin: »So frag doch die weite Welt -« »- wer wohl bestimmt über Wohl, über Weh ... «, fiel Glatzkopf-Li beflissen ein. Höchst amüsiert tuschelten Zhao und Liu miteinander. Sun Wei, dem klar war, dass sie sich über ihn lustig machten, zischte Glatzkopf-Li zu: »Hey, Kleiner! Lauf nicht neben mir, bleib hinter mir!« 275
Das reichte, um Glatzkopf-Li von seinem hohen Ross herunterzuholen. Jetzt durfte er nicht einmal mehr neben Sun Wei gehen, sollte hinter seinem Arsch herlaufen wie ein Kotfresser! Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern trottete er enttäuscht hinter dem Langhaarigen her. Er wusste jetzt, dass er für diesen nur ein Lückenbüßer war, weil er sonst keine Freunde mehr hatte. Dennoch blieb er ihm auf den Fersen; das war immer noch besser, als allein zu sein. Womit er überhaupt nicht gerechnet hatte: Am nächsten Morgen erschien Sun Wei bei ihm zu Hause. Er war gerade fertig mit seinem Frühstück, da hörte er ihn vor der Tür sein ewiges Mao-Gedicht trällern: »So frag doch die weite Welt, wer wohl bestimmt über Wohl, über Weh ... « Als Glatzkopf-Li hocherfreut die Tür aufmachte, winkte Sun Wei ihm wie einem alten Freund zu und sagte: »Gehen wir?« Glatzkopf-Li hielt sich, wenn auch äußerst vorsichtig, wieder neben dem Langhaarigen, der nichts dagegen zu haben schien, wie er erleichtert feststellte. Am Ende der Gasse blieb Sun Wei plötzlich stehen und fragte: »Sieh mal nach, ob meine Hose kaputt ist.« Glatzkopf-Li bückte sich hinter ihn, konnte aber kein Loch entdecken. Sun Wei forderte ihn auf, noch einmal ganz genau hinzuschauen. Als Glatzkopf-Li mit seiner Nase fast den Hintern des Langhaarigen berührte, ließ dieser plötzlich einen gewaltigen Furz, der ihn wie ein Windstoß mitten ins Gesicht traf. Sun Wei schüttete sich aus vor Lachen und trompetete im Weitergehen »So frag doch die weite Welt«, woraufhin Glatzkopf-Li eilfertig einstimmte: »- wer wohl bestimmt über Wohl, über Weh ... « 276
Ihm war sehr wohl klar, der andere hielt ihn zum Narren, doch das machte ihm nichts aus. Wichtig für ihn war nur, ob er neben ihm gehen durfte oder hinter ihm laufen musste. Den Rest dieses Sommers verbrachten die bei den Jungen zusammen. Von morgens bis abends trieben sie sich draußen herum, manchmal sogar bis nach Einbruch der Dunkelheit. Sun Wei hatte nichts übrig für abgelegene Orte, er streifte gern durch belebte Straßen, und so hielt sich auch GlatzkopfLi jetzt den ganzen Tag dort auf. Wie die Fliegen stets über der Jauchegrube kreisen, kannten auch die beiden Jungen nur noch die Hauptverkehrsstraßen der Stadt. Sun Wei war sehr stolz auf sein langes Haupthaar. Mindestens zweimal am Tag stieg er die Stufen zum Fluss hinab, ging in die Hocke und schöpfte ein wenig Wasser, mit dem er die in die Stirn fallenden Strähnen bändigte. Anschließend betrachtete er sein undeutliches Spiegelbild im Wasser, schüttelte befriedigt die Mähne und pfiff dabei vergnügt vor sich hin. Mit der Zeit ging Glatzkopf-Li auch auf, warum er diese seltsame Vorliebe für die großen Straßen hatte: Dort gab es Glasscheiben, in denen man sich spiegeln konnte! Wenn Sun Wei vor einem Schaufenster stehen blieb und anfing zu pfeifen, hätte Glatzkopf-Li selbst mit geschlossenen Augen sagen können, dass er wieder einmal den tadellosen Sitz seiner Frisur kontrollierte. Häufig trafen die bei den bei ihren Streifzügen auf Sun Weis Vater. Dann eilte Sun Wei stets mit gesenktem Kopf an ihm vorbei, als fürchte er, erkannt zu werden. Sein Vater hatte eine spitze Schandmütze aus Papier auf dem Kopf und fegte wie weiland Song Fanping die Straße, vormittags einmal und nachmittags 277
ein zweites Mal. Immer wieder wurde er von Passanten angeblafft: »He, du da! Hast du auch all deine Verbrechen gestanden?« Dann antwortete er unterwürfig: »Jawohl.« »Vielleicht war da doch noch was! Denk lieber noch mal nach!« Sun Weis Vater verbeugte sich und sagte kopfnickend: »Das werde ich tun.« Manchmal wurde er von Kindern angeschrien »Heb die Faust und rufe >Nieder mit mir!<“, woraufhin er gehorsam tat wie ihn geheißen. Bei solchen Gelegenheiten juckte es Glatzkopf-Li, ihn ebenfalls einmal anzuschreien. Wenn da nur nicht sein Sohn neben ihm gegangen wäre! Einmal konnte er sich nicht beherrschen und kommandierte »Noch mall«, als Sun Weis Vater gerade »Nieder mit mir!«, gerufen hatte. Der Mann schüttelte folgsam zweimal die erhobene Faust und brüllte zweimal »Nieder mit mir!«, Sun Wei aber versetzte Glatzkopf-Li einen kräftigen Fußtritt und zischte: »Verdammt! Guck hin, wem der Hund gehört, den du schlägst!« Wenn der Langhaarige mitbekam, dass jemand mit einer Schandmütze auf dem Kopf kritisiert und bekämpft wurde, trat er allerdings selbst im Vorübergehen kurz einmal nach dem Betreffenden, und Glatzkopf-Li tat es ihm nach. Das war für beide ein solches Hochgefühl, als hätte ihnen jemand eine Portion Nudeln der drei Köstlichkeiten spendiert. Sun Wei sagte zu Glatzkopf-Li: »So einen Lumpen treten, das ist wie das Abputzen nach dem Scheißen.« Sun Weis Mutter, jene scharfzüngige Frau, die am Tage der Hochzeit von Li Lan und Song Fanping wegen eines verirrten 278
Huhns eine regelrechte Schimpfkanonade losgelassen hatte, war ein anderer Mensch geworden, seit ihr Mann eine Schandmütze trug und ein großes Holzschild um den Hals hängen hatte. Jetzt redete sie mit sanfter Stimme und lächelte die Leute sogar an. Fürsorglich wie eine Mutter behandelte sie besonders Glatzkopf-Li, der vormittags öfter an ihrer Haustür erschien, denn sie wusste, er war der einzige Freund ihres Sohnes. Sah sie, dass sein Gesicht schmutzig war, wischte sie es ihm mit ihrem eigenen Handtuch sauber, und wenn er einen Knopf verloren hatte, musste er das betreffende Kleidungsstück ausziehen, damit sie den Knopf wieder annähen konnte. Häufig fragte sie ihn leise, wie es denn seiner Mutter gehe, und wenn Glatzkopf-Li dann den Kopf schüttelte und sagte, er wisse es auch nicht, seufzte sie und hatte Tränen in den Augen, sodass sie sich schnell abwenden musste. Die Freundschaft zwischen Glatzkopf-Li und Sun Wei sollte nicht von langer Dauer sein. Außer Demonstranten waren auf den Straßen mittlerweile Männer mit Scheren und Haarschneidegeräten zugange, die sich Personen mit engen Hosenbeinen und Männer mit langen Haaren schnappten, ihnen die Hosenbeine in Streifen schnitten wie die Fransen eines Mopps beziehungsweise ihnen abenteuerlich struppige Wuschelköpfe verpassten. Denn enge Hosenbeine und, bei Männern, lange Haare - das war »bourgeoises« Teufelszeug! Auch Sun Wei entging ihnen nicht. Eines Morgens - Glatzkopf-Li und sein langhaariger Freund (wie stets mit seinem unvermeidlichen Mao-Gedicht auf den Lippen) waren gerade zu ihrem täglichen Streifzug durch die Stadt aufgebrochen und hatten von fern Sun Weis Vater er279
blickt, wie er mit gesenktem Kopf die Straße fegte - kam ein Trupp Rote Armbinden mit Scheren und Haarschneidegeräten angerannt. Glatzkopf-Li, durch das Getrappel aufmerksam geworden, blickte sich um und sah die Männer zu seiner Überraschung genau auf sich zu eilen. Als er sich wieder zu Sun Wei umwandte, rannte dieser bereits in kopfloser Flucht in Richtung seines fegenden Vaters, verfolgt von den Armbindenträgern, die an Glatzkopf-Li vorbei hinter ihm herjagten. Sein Freund, der Mittelschüler, der sonst stets mit gesenktem Kopf hastig an seinem Straßenfeger-Vater vorbeigeeilt war, wenn er ihn unterwegs traf, rannte jetzt zu ihm hin, um seine über alles geliebten langen Haare zu retten. »Papa, hilf mir!«, schrie er im Laufen. Plötzlich tauchte mitten auf der Straße ein weiterer Armbindenträger auf, der Sun Wei ein Bein stellte, sodass der sich überschlug und sich nicht schnell genug wieder aufrappeln konnte, um seinen Verfolgern zu entkommen. Die stürzten sich jetzt von allen Seiten auf ihn und drückten ihn auf die Erde. Inzwischen war auch Glatzkopf-Li herbeigeeilt. Er sah, dass Sun Weis Vater ebenfalls angelaufen kam, dabei aber seine spitze Mütze verlor und sie erst wieder aufheben und erneut aufsetzen musste, ehe er - mit einer Hand die Schandmütze festhaltend - weiterrennen konnte. Mehrere kräftige Armbindenträger hielten Sun Wei fest und schoren ihm mit dem Haarschneidegerät sein schönes langes Haar ab. Er leistete verzweifelt Widerstand, schlug um sich und trat - nachdem man ihm die Arme heruntergedrückt hatte - mit den Füßen nach seinen Gegnern, als mache er Schwimmbewegungen, bis sich schließlich zwei Rote Arm280
binden auf seine Knöchel knieten und ihn so bewegungsunfähig machten. Selbst dann noch kam er immer wieder mit dem Kopfhoch und schrie: »Papa! Papa! ... « War es die übermäßige Kraftanstrengung der Roten Armbinden oder Sun Weis verzweifelter Widerstand? Wie auch immer, das Haarschneidegerät, mit dem die Roten Armbinden wie mit einer Säge auf Sun Weis Kopf und Hals herumfuhrwerkten, rutschte ab und brachte ihm eine tiefe Wunde am Hals bei, aus der sofort das Blut hervorschoss. Obwohl das Gerät, mit dem sie zugange waren, über und über rot gefärbt war, schnitten sie weiter an den Haaren des Jungen herum, dessen Halsschlagader sie durchtrennt hatten. Glatzkopf-Li wurde unfreiwilliger Zeuge eines schrecklichen Geschehens. Das Blut aus der Arterie spritzte mehr als zwei Meter hoch, sodass Gesichter und Körper der Roten Armbinden im Nu vom Blut gerötet waren und sie erschrocken hochschnellten. Sun Weis Vater mit seiner spitzen Mütze, der inzwischen bei seinem Sohn angelangt war und sah, wie aus dessen Hals das Blut wie aus einer Fontäne emporschoss, flehte sie an, von ihm abzulassen. Er kniete sich auf die blutbefleckte Erde, wobei erneut die Schandmütze herunterfiel, die er diesmal jedoch nicht aufhob, und nahm den Sohn, dessen Kopf am Hals baumelte, als wäre er abgebrochen, in seine Arme und rief seinen Namen, doch es kam keine Reaktion. In seiner übermächtigen Angst wandte er sich an die Umstehenden: »Ist mein Sohn tot?« Niemand antwortete ihm. Die Roten Armbinden, die Sun Wei getötet hatten, wischten sich das Blut aus dem Gesicht, sahen sich bestürzt nach allen Seiten um, selbst zu Tode erschrocken über das, was gerade geschehen war. Da erhob 281
sich Sun Weis Vater, brüllte »Ihr - ihr habt meinen Sohn ermordet!«, und wollte sich auf sie stürzen, doch stoben sie fluchtartig nach allen Richtungen auseinander, sodass der wutschäumende Vater nicht wusste, wen von ihnen er verfolgen und seine geballten Fäuste spüren lassen sollte. Inzwischen waren mehrere andere Rote Armbinden dazugekommen. Sie beschimpften Sun Weis Vater wüst und befahlen ihm, sofort auf seinen Straßenfeger-Posten zurückzukehren. Da ging Sun Weis Vater in seinem ohnmächtigen Zorn mit den Fäusten auf sie los. Es folgte eine wilde Schlägerei; vier Männer prügelten auf einen ein. Ineinander verkrallt wie wilde Tiere, rollten die Kämpfenden als unentwirrbares Knäuel von einer Straßenseite auf die andere, stets umringt von der Menge der Zuschauer (unter ihnen GlatzkopfLi), die mal näher rückten, mal wieder zurückwichen. Sun Weis Vater, brüllend wie ein tobender Löwe, setzte sich mit Fausthieben, Fußtritten und Kopfstößen gegen die vier zur Wehr, sodass sie trotz ihrer Übermacht nichts gegen ihn ausrichten konnten. Glatzkopf-Li fuhr es durch den Kopf, dass er zwar seinerzeit dem starken Song Fanping im Kampf klar unterlegen gewesen war, ihn in diesem Moment jedoch ganz sicher besiegt hätte. Die Zahl der Roten Armbinden auf der Straße nahm immer mehr zu. Am Ende umringten mehr als zwanzig Sun Weis Vater und griffen ihn abwechselnd an, bis er schließlich auf dem Boden lag. Ebenso wie es Song Fanping ergangen war, traktierten sie ihn jetzt mit Fußtritten und trampelten auf ihm herum. Erst als er sich nicht mehr rührte, ließen sie, keuchend vor Anstrengung, von ihm ab. Nach einiger Zeit kam
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er wieder zu sich, da brüllten sie ihn an: »Aufstehen! Mitkommen!« Jetzt wieder so unterwürfig wie zuvor, wischte sich Sun Weis Vater das Blut aus dem Gesicht, zwang sich, trotz seiner zahllosen Wunden aufzustehen, und setzte sogar jenen Schandhut, an dem nun das Blut seines Sohnes klebte, sorgfältig wieder auf den Kopf. Während er sich mit tief gesenktem Kopf von den Roten Armbinden abführen ließ, entdeckte er Glatzkopf-Li unter den Zuschauern. Weinend bat er ihn: »Lauf zu meiner Frau, sag ihr, unser Sohn ist tot.« Als der Junge, am ganzen Leibe zitternd, dort ankam - immer noch am Vormittag dieses Tages -, und Sun Weis Mutter ihn allein vor der Tür stehen sah, nahm sie an, er wolle zu ihrem Sohn. Verwundert fragte sie: »Ihr seid doch eben zusammen losgegangen?« Glatzkopf-Li schüttelte den Kopf, zitterte aber so sehr, dass er kein Wort herausbrachte. Da entdeckte Sun Weis Mutter Blutspuren in seinem Gesicht und rief erschrocken: »Habt ihr euch geprügelt?« Glatzkopf-Li fasste sich an die Wange und betrachtete dann seine Hand, an der jetzt Blut klebte. Das aus Sun Weis Hals hervorspritzende Blut hatte auch sein Gesicht benetzt! Er fing an zu weinen. »Sun Wei ist gestorben«, schluchzte er. Er sah am Gesicht der Frau, wie sie panische Angst befiel. Stumm vor Entsetzen, sah sie ihn unverwandt an. Es kam ihm vor, als schiele sie auf einmal. Er wiederholte seine Worte und ergänzte: »Auf der Straße!« Sun Weis Mutter verließ taumelnd ihr Haus, wankte die Gasse entlang und gelangte auf die Hauptstraße, gefolgt von Glatzkopf-Li, der ihr in abgerissenen Sätzen berichtete, wie 283
ihr Sohn zu Tode gekommen war und wie ihr Mann anschließend mit den Roten Armbinden gekämpft hatte. Sun Weis Mutter beschleunigte ihre Schritte immer mehr; mit zunehmendem Tempo gewann sie auch ihr Gleichgewicht wieder und wankte jetzt nicht mehr. Als sie zu rennen begann, versuchte Glatzkopf-Li zunächst, Schritt zu halten, blieb aber nach ein paar Schritten stehen und blickte ihr hinterher. Er sah von fern, dass sie neben ihrem Sohn in die Knie brach, und hörte, wie sie ein markerschütterndes Klagegeschrei anstimmte, ein Heulen, als habe man ihr einen Dolch in die Brust gestoßen. Von da an hörte Sun Weis Mutter nicht mehr auf zu weinen. Obwohl ihre Augen rot und geschwollen waren wie zwei Glühbirnen, weinte sie unaufhörlich weiter. Sich an den Mauern abstützend, begab sie sich an den folgenden Tagen schon morgens an die Stelle, wo ihr Sohn zu Tode gekommen war. Dort stand sie, starrte auf die Blutspuren ihres Kindes und schluchzte herzzerreißend. Erst wenn es dunkel war, ging sie - immer an den Häuserwänden entlang - nach Hause, um am nächsten Morgen abermals an jenem Ort ihren Sohn zu betrauern. Als Bekannte versuchten, sie zu trösten, wandte sie sich ab, als schäme sie sich, und senkte ihren Kopf ganz tief. Sie verfiel zunehmend in Apathie und starrte nur mehr teilnahmslos vor sich hin. Ihre Kleidung, ihre Haare und ihr Gesicht wurden von Tag zu Tag schmutziger, und sogar ihr Gang wurde immer seltsamer. Sie setzte nämlich den rechten Fuß und den rechten Arm, den linken Fuß und den linken Arm jeweils gleichzeitig nach vorn wie ein Passgänger oder -
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wie man in unserer kleinen Stadt Liuzhen sagt - als liefe sie an Krücken. An der Stelle, wo ihr Sohn ums Leben gekommen war, sank sie zu Boden, kraftlos und schlaff wie eine Bewusstlose, und wimmerte leise vor sich hin. Viele hielten sie für geistesgestört, doch wenn sie zufällig einmal aufschaute und den Blicken der Gaffer begegnete, wandte sie sich jedes Mal schnell ab, senkte den Kopf und wischte sich verstohlen die Tränen ab. Später ging sie dazu über, von vornherein den Kopf an eine Platane am Straßenrand zu lehnen, damit niemand sah, wie sie weinte. Der Fall löste in unserer kleinen Stadt Liuzhen lebhafte Diskussionen aus. Manche Leute sagten, Sun Weis Mutter sei bereits verrückt, andere dagegen verneinten dies, da sie noch Scham empfinde, konnten aber auch keine rechte Erklärung für ihr seltsames Verhalten finden. Vielleicht handele es sich ja um Depressionen, meinten sie. Eines Tages verlor Sun Weis Mutter, die weiter täglich auf der Straße auftauchte, ihre Schuhe und ging fortan barfuß. Auch sonst wurde ihre Kleidung immer nachlässiger, bis sie am Ende völlig nackt an der bewussten Stelle saß. Dort war das Blut ihres Sohnes inzwischen von mehreren Regengüssen weggewaschen worden. Nach wie vor blickte sie zu Boden und weinte untröstlich, nach wie vor drehte sie sich weg, wenn sie bemerkte, dass sie beobachtet wurde, drückte ihr Gesicht an die Platane und wischte sich heimlich die Tränen ab. Inzwischen aber waren sich alle Leute einig: Ja, sie ist verrückt, völlig verrückt! Die arme Frau wusste nicht einmal mehr, wo ihr Zuhause war. Nach Einbruch der Dunkelheit verließ sie den Ort ihrer 285
Trauer und begann, in den Straßen und Gassen unserer kleinen Stadt Liuzhen ihr Haus zu suchen. Wenn sie dann in tiefer Nacht auf leisen Sohlen wie ein Geist irgendwo auftauchte, jagte sie so manchem Bewohner unserer kleinen Stadt Liuzhen einen so fürchterlichen Schreck ein, dass er meinte, sein letztes Stündlein habe geschlagen. Später konnte sie sich auch nicht mehr erinnern, wo ihr Sohn gestorben war, und eilte den ganzen Tag hektisch hierhin und dorthin wie jemand, der noch einen Zug erwischen muss. Dabei rief sie immer wieder den Namen ihres Kindes, als ob sie ihn zum Essen nach Hause beordere: »Sun Wie! Sun Wei!« Zum Schluss verschwand sie aus unserer kleinen Stadt Liuzhen. Erst mehrere Monate nach ihrem Fortgang fiel den Leuten auf, dass sie sie längere Zeit nicht gesehen hatten. Sie erkundigten sich untereinander, wieso sich die Mutter dieses Sun Wei plötzlich nicht mehr blicken ließe. Sun Weis einstige Kumpel Zhao Shengli und Liu Chenggong wussten, wohin sie gegangen war. Sie standen inmitten der Bewohner unserer kleinen Stadt Liuzhen und wedelten mit den Händen in Richtung Süden: »Sie ist weggegangen, schon lange!« »Weg?«, fragte jemand. »Wohin denn?« »Aufs Land.« Zhao und Liu waren möglicherweise die Letzten, die sie gesehen hatten. Sie hatten an dem betreffenden Tag auf der hölzernen Brücke vor dem Südtor gestanden und geangelt, als sie Sun Weis Mutter durchs Tor kommen sahen. Sie hatte sogar wieder etwas an, eine Bluse, die Mutter Su ihr eines Abends heimlich aufgenötigt hatte. Ursprünglich hatte Mutter Su ihr auch eine Hose gebracht, doch hatte Sun Weis Mutter sie jetzt nicht mehr an. Da sie gerade ihre Regel hatte, rann ihr Blut zwischen den Beinen herunter, als sie über die 286
Brücke ging, sodass Zhao Shengli und Liu Chenggong fast die Augen aus dem Kopf fielen. Sun Weis Vater wurde noch am selben Tag, an dem sein Sohn starb, in jenem Speicher, der in Wahrheit ein Gefängnis war, interniert. Den Mann, der Song Fanpings Wächter gewesen war, hatte es nun selbst erwischt, weil er beim Anblick seines blutüberströmten toten Sohnes an jenem Tag ausgerastet war und sich auf die revolutionären Rebellen mit den roten Armbinden gestürzt hatte. Man sagt, die Roten Armbinden hätten ihm sogar dieselbe Pritsche zugewiesen, auf der vormals Song Fanping gelegen hatte. Noch am selben Tag begannen sie, ihn zu foltern. Sie fesselten ihn an Händen und Füßen, fingen eine streunende Katze und steckten sie ihm in die Hose, die sie oben und unten zubanden. Die Katze fuhrwerkte in Panik die ganze Nacht darin herum und biss und kratzte Sun Weis Vater, sodass der vor Schmerzen bis zum Morgen wie ein Wahnsinniger heulte. Seine Mitgefangenen mussten das angstschlotternd mit anhören; einige Nervenschwache machten sich vor lauter Angst sogar in die Hose. Für den nächsten Tag hatten sich die Roten Armbinden eine weitere Strafe für Sun Weis Vater ausgedacht: Er musste sich bäuchlings auf die Erde legen, und dann bearbeiteten sie seine Fußsohlen mit einer Drahtbürste. Das schmerzte und juckte so unerträglich, dass er begann, mit Armen und Beinen zu zucken, als mache er Schwimmbewegungen. Darüber schütteten sich die Armbindenträger vor Lachen aus. »Weißt du, wie man das nennt?«, grölten sie.
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Sun Weis Vater, heulend und am ganzen Leibe zuckend, musste darauf auch noch antworten. Unter Tränen stieß er hervor: »Ich - ich ich - weiß es - nicht ... « Vor Lachen prustend, rief eine Rote Armbinde: »Kannst du schwimmen?« Sun Weis Vater schnappte verzweifelt nach Luft, beantwortete aber notgedrungen auch diese Frage: »Ja.« ,»Die Ente geht baden< wird das genannt«, brüllten die Armbindenträger im Chor. »Du bist jetzt eine Ente, die baden geht!« Das fanden sie so komisch, dass sie sich überhaupt nicht mehr einkriegten vor Lachen. Auch am dritten Tag ließen die Roten Armbinden nicht von Sun Weis Vater ab. Sie stellten eine brennende Zigarette senkrecht auf den Boden, und dann musste ihr Opfer die Hose herunterlassen. Schon dabei verzerrte sich sein Gesicht vor Schmerz zu einer Fratze und die Zähne schlugen aufeinander, laut klappernd, als hantiere Schmied Tong in seiner Werkstatt mit dem Eisen. Denn da die wilde Katze ihm die Beine zerfleischt hatte, tat es so weh, als würde ihm die Haut bei lebendigem Leibe abgezogen, als er sich jetzt aus der an den Wunden festklebenden Hose schälte. Blut und Eiter liefen ihm nur so an den Beinen herunter. Nun sollte er sich hinsetzen, und zwar so, dass er mit dem After die brennende Zigarette berührte. Einer von den Armbindenträgern legte sich neben ihn auf den Boden und kontrollierte, ob der weinende Mann es auch richtig machte, dirigierte seinen Hintern mal ein wenig nach links, dann wieder nach rechts, bis die Glut der Zigarette sich gen au unter dem After befand. Da kommandierte er: »Hinsetzen!«
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Als Sun Weis Vater spürte, wie sein After versengte, kam ein langgezogenes Zischen von ihm, nicht wegen des Schmerzes, für den er schon nahezu unempfindlich war, sondern weil er den Gestank seines verbrannten Fleisches roch. Währenddessen brüllte jene Rote Armbinde ihn wieder und wieder an: »Hinsetzen!! Hinsetzen habe ich gesagt!!!« Da ließ er sich auf die brennende Zigarette fallen, die ihm den Anus verbrannte und dann ausging. Als er wie ein Toter dort saß, umringt von den Roten Armbinden, die sich den Bauch hielten vor Lachen, fragte ihn einer: »Weißt du, wie man das nennt?« Apathisch den Kopf schüttelnd, sagte Sun Weis Vater leise: »Ich weiß es nicht.« Der Mann versetzte ihm einen Fußtritt. „>Mit dem Arsch rauchen<, so nennt man das!«, verkündete er. »Wiederhole: Wie heißt das?« „>Mit dem Arsch rauchen<“, wiederholte Sun Weis Vater mit gesenktem Kopf. Nach all den Quälereien in diesem Speicher, der Nacht für Nacht von den Schmerzensschreien der Insassen widerhallte, schwollen seine Beine immer mehr an. Blut und Eiter rannen aus seinen zahllosen Wunden. Jede Stuhlentleerung verursachte ihm unerträgliche Schmerzen. Weil er es nicht über sich brachte, sich abzuwischen - der verschmorte After brannte wie Feuer, wenn man ihn berührte -, sammelten sich Exkremente an jener Stelle, sodass das Fleisch allmählich in Fäulnis überging. Der ganze Mann war eine einzige schwärende Wunde: Stehen tat weh, Sitzen tat weh, Liegen tat weh, die Lage Verändern tat weh, und ruhig Daliegen tat auch weh.
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Mehr tot als lebendig, musste er zudem immer neue Foltern über sich ergehen lassen. Nur tief in der Nacht, wenn er, am ganzen Leibe wund, auf seiner Pritsche lag, hatte er für kurze Zeit ein wenig Ruhe vor seinen Peinigern. Das Einzige, was nicht wehtat, war das Denken. Er dachte in jenen Tagen unablässig an seinen Sohn und seine Frau. Wo mochten sie seinen Sohn begraben haben?, fragte er sich wieder und wieder. Dann sah er vor sich eine malerische Landschaft, in der sich das Grab des Sohnes befand, und manchmal kam ihm dieser schöne Ort sehr vertraut vor, manchmal jedoch sehr fremd. Immer wieder dachte er auch an seine Frau - wie es ihr jetzt wohl ergehen mochte? Er vergegenwärtigte sich ihren Schmerz über den Verlust des Sohnes. Gewiss hatte sie stark abgenommen, setzte kaum noch einen Fuß vor die Tür und wartete still und teilnahmslos zu Hause auf seine Rückkehr. Der Gedanke an Selbstmord ließ ihn nicht mehr los und wurde immer drängender. Allein das nächtliche Brüten über den Sohn und seine einsame, hilflose Frau hielt ihn immer wieder davon zurück. Er war überzeugt, dass sich seine Frau in der Hoffnung, einen Blick auf ihn zu erhaschen, Tag für Tag vor dem Tor des Speichers einfinde, und schaute jedes Mal, wenn das Tor geöffnet wurde, gespannt nach draußen. Einmal wurde seine Sehnsucht so übermächtig, dass er vor einer Roten Armbinde niederkniete und den Mann anflehte, ihn zur Tür gehen zu lassen, falls seine Frau zu Besuch käme. Es war bei dieser Gelegenheit, dass er von ihrer Geistesgestörtheit erfuhr und hörte, sie irre nackt und bloß durch die Straßen.
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Der Mann hatte nämlich nur dreckig gelacht und ein paar weitere Rote Armbinden dazugeholt, die Sun Weis Vater informierten, dass seine Frau schon vor längerer Zeit verrückt geworden sei. In seiner Gegenwart unterhielten sie sich äußerst angeregt über ihr Aussehen: Richtig üppige Titten habe sie, nur leider hingen die so schlaff nach unten. Und ihr Schamhaar, das sei ja schön buschig, aber so was von schmutzig! Da klebe sogar Stroh dran... Sun Weis Vater hockte mit gesenktem Kopf vor den Männern auf der Erde, zu erschüttert, um zu weinen. Als er an diesem Abend seinen schmerzenden Körper auf die Pritsche bettete, tat ihm nun auch das Denken weh, so weh, als würde sein Gehirn durch einen Fleischwolf gedreht. Gegen zwei Uhr morgens hatte er einen klaren Moment, in dem er den unwiderruflichen Entschluss fasste, seinem Leben ein Ende zu setzen. Unmittelbar danach hörte der Schmerz in seinem Kopf auf, und er konnte wieder nüchtern denken. Ihm fiel ein, dass er vor über einem Monat unter dem Bett einen großen Nagel entdeckt hatte. Damals war ihm zum ersten Mal der Gedanke an Selbstmord gekommen. Nun war sein endgültiger Entschluss, den Freitod zu suchen, mit diesem Nagel verbunden. Er stand mühsam auf und kniete sich neben das Bett. Nach langem Herumtasten fand er den Nagel, hob mit der Schulter das Bettgestell an, zog einen der Ziegel, auf denen die Füße standen, hervor und setzte sich, gegen die Wand gestützt, auf die Erde. In diesem Augenblick empfand er überhaupt keine Schmerzen mehr - in der Stunde des Todes war der Schmerz plötzlich von ihm abgefallen. Er atmete tief durch, drückte 291
mit der linken Hand den Nagel auf seinen Scheitel und ergriff mit der rechten den Ziegelstein. In Gedanken bei seinem toten Sohn, lächelte er und flüsterte: »Ich komme!« Dann sauste der Stein auf den Nagel und durchbohrte die Schädeldecke. Dennoch vermochte er nach wie vor klar zu denken. Als er die Rechte hob, um zum zweiten Mal zuzuschlagen, dachte er an seine verwirrt umherirrende Frau, die von nun an keine Menschenseele mehr haben würde, und ihm kamen die Tränen. »Verzeih mir«, flüsterte er ihr zu. Mit dem zweiten Schlag trieb er den Nagel noch ein Stück weiter hinein, bis ans Hirn. Aber das Denken funktionierte noch immer. Sein letzter Gedanke galt den niederträchtigen Armbindenträgern. Hass und Wut wurden so übermächtig, dass er mit hervorquellenden Augen und dröhnender Stimme seinen imaginären Peinigern durch die Dunkelheit des Speichers zubrüllte: »Tod euch allen!« Dann trieb er mit letzter Kraft den Nagel tief ins Hirn hinein; der Ziegelstein zersprang dabei in lauter kleine Stücke. Sein letzter wilder Ausbruch hatte alle Insassen des Speichers aus dem Schlaf gerissen, aber nicht nur ihnen brach vor Angst der kalte Schweiß aus, auch ihren Bewachern, den Roten Armbinden, fuhr der Schreck in die Glieder. Nachdem sie Licht gemacht hatten, sahen sie Sun Weis Vater mit hervorquellenden Augen reglos in einer Ecke des Raumes schief an der Wand lehnen, um ihn herum Bruchstücke eines Ziegelsteins. Als sie ihn dort scheinbar unmotiviert sitzen sahen, dachte zunächst keiner an Selbstmord. Eine Rote Armbinde schnauzte ihn sogar noch an: »Steh auf, verdammt noch mal! Was glotzt du Scheißkerl mich so an!?«
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Er ging näher und versetzte Sun Weis Vater einen Fußtritt, da rutschte dieser in sich zusammen, sodass der Mann vor Schreck ein paar Schritte zurückwich und zwei von den Häftlingen anwies nachzuschauen, was mit dem Kerl los sei. Die beiden hockten sich vor Sun Weis Vater hin, konnten aber außer seinen zahllosen Wunden keine akute Todesursache feststellen. Erst als sie versuchten, den Toten aufzurichten, merkten sie, dass Kopf und Haar von frischem Blut gerötet waren, und untersuchten daraufhin die Schädeldecke genauer. Am Ende wurden sie fündig: »Da ist ein Nagel!«, riefen sie erschrocken. »Er hat sich einen Nagel in den Kopf geschlagen!« Die Nachricht von diesem außergewöhnlichen Selbstmord verbreitete sich mit Windeseile in unserer kleinen Stadt Liuzhen. Li Lan erfuhr davon, als ein paar Nachbarn vor ihrem Fenster sich ganz bestürzt darüber unterhielten, wie Sun Weis Vater sich das Leben genommen habe: So etwas könne man sich ja gar nicht vorstellen! Nein, das sei wirklich kaum zu glauben! Einfach unvorstellbar sei das! ... Sechs Zentimeter lang sei der Nagel gewesen! Wie er den überhaupt in den Schädel hämmern konnte, ohne abzurutschen, so akkurat, als ob er einen Schrank zusammennagele ... Und so tief, dass der Nagelkopf kein bisschen überstand und kaum zu ertasten war! ... Wie er das überhaupt angestellt habe, eigenhändig einen so langen Nagel ... Man würde ja schon davor zurückschrecken, jemandem anders einen solchen Nagel in den Schädel zu schlagen, und nun erst sich selbst! ... Li Lan hörte sich das alles am Fenster mit an. Als die Nachbarn weg waren, drehte sie sich um und sagte trübselig lä-
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chelnd zu sich selbst: »Wenn jemand wirklich sterben will, dann findet er immer einen Weg.« XXIII Auf den Straßen von Liuzhen ging es mittlerweile immer chaotischer zu. Nahezu täglich gab es Tumulte und Prügeleien unter den revolutionären Massen. Glatzkopf-Li verstand nicht, warum die Leute wie die wilden Tiere mit Fäusten, Fahnenstangen und Knüppeln aufeinander losgingen, wo sie doch alle gleichermaßen rote Armbinden trugen und rote Banner schwenkten. Einmal wurde er sogar Zeuge eines Kampfes mit Küchenbeilen und Äxten, bei dem es zahlreiche Schwerverletzte gab und Strommasten, Platanen, Häuserwände und Straßenpflaster mit Blut befleckt wurden. Li Lan ließ ihren Sohn jetzt nicht mehr aus dem Haus. Da sie befürchtete, Glatzkopf-Li könnte durch das Fenster entwischen, nagelte sie es kurzerhand zu. Morgens, wenn sie in die Seidenfabrik aufbrach, schloss sie ihn ein, und erst bei ihrer Rückkehr gegen Abend wurde die Haustür wieder aufgesperrt. Für Glatzkopf-Li begann nun eine wahrhaft einsame Phase seiner Kindheit. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang war seine Welt auf zwei Zimmer reduziert, in denen er den totalen Krieg gegen Ameisen und Kakerlaken aufnahm. Zuerst legte er sich unter dem Bett auf die Lauer, ein Schüsselchen mit Wasser in der Hand. Sobald die Ameisen hervorkamen, bespritzte er sie zunächst, um sie anschließend eine nach der anderen zu zerquetschen. Nachdem aber einmal direkt vor seiner Nase eine fette Ratte vorübergehuscht war, traute er sich nicht mehr unter das Bett und ging stattdessen 294
zu Überraschungsangriffen auf die Kakerlaken im Schrank über. Damit sie ihm nicht entkommen konnten, stieg er selber in den Schrank und machte die Tür hinter sich zu. In dem spärlichen Licht, das durch die Ritzen fiel, beobachtete er, einen Schuh in der Hand, die hin und her huschenden Kakerlaken und schlug sie tot, sobald sich die Gelegenheit bot. Einmal schlief er in dem Schrank ein. Als Li Lan abends heimkehrte und ihn nicht fand, bekam sie einen fürchterlichen Schreck, rief überall nach ihm, auch draußen auf der Gasse - sogar im Brunnen schaute sie nach -, bis Glatzkopf-Li endlich doch ihr Rufen hörte und aus dem Schrank hervorkam. Da sank sie wie gelähmt auf den Fußboden, das Gesicht leichenblass, die Hände auf die Brust gepresst, und konnte lange Zeit kein Wort herausbringen. In dieser Zeit von Glatzkopf-Lis totaler Vereinsamung besuchte ihn eines Tages Song Gang. Ohne seinem Großvater etwas zu sagen, war er in aller Frühe mit fünf Karamellen Marke »Großer weißer Hase« in der Tasche in seinem Dorf aufgebrochen und hatte sich mühsam bis Liuzhen durchgefragt. Gegen Mittag stand er vor Glatzkopf-Lis Fenster, klopfte und rief: ,>Glatzkopf-Li! Glatzkopf-Li! ... Bist du da drin? Hier ist Song Gang.<« Glatzkopf-Li, der - schläfrig vor Langeweile - auf dem Bett döste, sprang auf, stürzte zum Fenster und hämmerte seinerseits dagegen, allerdings von innen. »Song Gang! Song Gang! Ich bin hier!«, rief er. »Mach mir auf!« »Die Tür ist zugeschlossen, die kriege ich nicht auf.« »Dann das Fenster!« »Ist zugenagelt.«
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Die Brüder - der eine drinnen, der andere draußen - sprachen (vielmehr: schrien) eine ganze Weile aufgeregt durch das geschlossene Fenster miteinander und trommelten dabei gegen das Glas. Sie konnten einander nicht einmal sehen, weil Li Lan die untere Scheibe mit Zeitungspapier beklebt hatte. Schließlich erklomm Glatzkopf-Li mit Hilfe eines Hockers, den er unter das Fenster gerückt hatte, das Fensterbrett und konnte endlich durch die obere, nicht verklebte, Scheibe seinen Bruder sehen (und dieser ihn). Song Gang, der dieselbe Kleidung wie am Tag von Song Fanpings Begräbnis trug, schaute zu dem Jüngeren auf und rief mit einem verlegenen Lächeln: »Glatzkopf-Li, ich hab dich vermisst.« Glatzkopf-Li trommelte mit beiden Händen gegen die Scheibe und antwortete weinend: »Ich dich auch, Song Gang.« Dieser holte nun die fünf Karamellen Marke »Großer weißer Hase« aus der Tasche und hielt sie dem Bruder hin. »Siehst du die Bonbons? Die hab ich für dich mitgebracht«, rief er. Glatzkopf-Li war überwältigt. »Song Gang, ich sehe sie! Du bist echt lieb!«, rief er. Ihm lief das Wasser im Munde zusammen, aber die Fensterscheibe trennte ihn ja von den Karamellen in der Hand des Bruders. Er rief: »Song Gang, du musst dir was überlegen, wie du die Karamellen hier reinkriegst!« Song Gang ließ die Hand mit den Bonbons sinken und überlegte. »Ich stecke sie durch die Türritze.« Glatzkopf-Li kletterte hastig vom Fensterbrett herunter und eilte zur Tür. Da, wo die Ritze am breitesten war, bewegte sich ein Bonbonpapier auf und ab, doch der Bonbon selbst 296
ließ sich nicht durchstecken. »Er passt nicht durch!«, vermeldete Song Gang. Glatzkopf-Li rieb sich vor Ungeduld Ohren und Wangen. »Du musst dir was anderes ausdenken«, rief er. Er konnte den keuchenden Atem des Bruders auf der anderen Seite der Tür hören. Dann: »Nein, er passt wirklich nicht durch ... Aber du kannst schon mal daran riechen!« Während Song Gang die Karamelle draußen vor die Türritze hielt, drückte Glatzkopf-Li von drinnen die Nase an die Ritze und atmete tief ein: Ja, das war er, der köstlichmilchige Duft! Er brach in Tränen aus. »Glatzkopf-Li, warum weinst du?«, fragte Song Gang. »Weil ich sie rieche, die Karamellen Marke >Großer weißer Hase
Das vertraute Gespräch der Kinder durch die verschlossene Tür zog sich bis in den Nachmittag hin. Als Song Gang bemerkte, dass die Sonne schon tief stand und jetzt über dem Brunnen schien, sprang er erschrocken auf, klopfte gegen die Tür und rief dem Bruder zu, er müsse jetzt gehen. Der Weg sei lang, und er wolle beizeiten wieder zurück sein. Glatzkopf-Li klopfte seinerseits gegen die Tür und bat ihn, noch ein Weilchen mit ihm zu reden: »Es ist doch noch nicht dunkel!« Song Gang erwiderte: »Zum Glück! Im Dunkeln würde ich mich verlaufen!« Ehe er aufbrach, versteckte er noch die fünf Karamellen Marke »Großer weißer Hase« unter der Steinplatte vor der Haustür - wenn er sie auf das Fenstersims legte, würden sie womöglich gestohlen, meinte er. Nach ein paar Schritten kehrte er noch einmal zurück: Unter der Steinplatte würden vielleicht die Regenwürmer sich über die Bonbons hermachen, deswegen würde er sie jetzt in zwei Platanenblätter einwickeln und dann wieder unter die Platte legen. Abschließend linste er noch einmal durch die Türritze und sagte: »Auf Wiedersehen, GlatzkopfLi!« Glatzkopf-Li fragte betrübt: »Wann wirst du mich denn wieder einmal vermissen?« Kopfschüttelnd erwiderte der Bruder: »Ich weiß es nicht.« Glatzkopf-Li lauschte angespannt auf seine sich entfernenden Schritte, die Schritte eines neunjährigen Jungen, so leicht wie die einer Ente. Dann spähte er durch die Türritze und bewachte seine Bonbons unter der Steinplatte. Sobald sich jemand dem Haus näherte, begann sein Herz wie wild zu 298
klopfen, weil er Angst hatte, der Betreffende könnte die Steinplatte vor der Tür umdrehen. Er hoffte inständig, die Dämmerung möge ein wenig schneller anbrechen, damit die Mutter heimkehre und die Tür öffne, sodass er endlich in den ersehnten Genuss der Karamellen Marke »Großer weißer Hase« käme. Nachdem Song Gang mit leichten Schritten die Gasse hinter sich gelassen hatte, schaute er sich auf der Hauptstraße nach allen Seiten um. Er sah die vertrauten Gebäude und Platanen, sah Leute, die sich schlugen, Leute, die weinten, Leute, die lachten - manchen, die er kannte, lächelte er zu, aber sie beachteten ihn nicht. Ein wenig enttäuscht, gelangte er nach dem Passieren zweier großer Straßen und einer hölzernen Brücke zum Südtor. Als er hindurchgegangen war und an die erste Kreuzung kam, wusste er nicht mehr weiter. Es war zwar noch nicht dunkel, aber er hatte sich trotzdem verlaufen. Da stand er nun, ein Häufchen Unglück, an der Kreuzung und blickte erst nach links - da waren Felder und Häuser -, dann nach rechts - da war nichts als der weite Horizont. Wohin sollte er sich nur wenden? Nach längerer Zeit kam endlich ein Mann des Weges, bei dem er sich, nachdem er ihn mit »Onkel! Onkel!« auf sich aufmerksam gemacht hatte, nach dem Dorf seines Großvaters erkundigte. Der Mann schüttelte den Kopf, sagte, er wisse nicht Bescheid, und entfernte sich - nunmehr den ganzen Körper schüttelnd - immer weiter von Song Gang, der inmitten der weiten Flur stand, ganz allein unter dem grenzenlosen Himmel, und in seiner Angst erst ein bisschen weinte, sich aber schließlich die Tränen abwischte und zurücklief, zurück zum Südtor und in unsere kleine Stadt Liuzhen. 299
Seit Song Gang weg war, hatte Glatzkopf-Li die ganze Zeit durch die Türritze gespäht, auf die Dauer eine doch sehr ermüdende Tätigkeit, von der ihn die Augen schmerzten. Plötzlich sah er seinen Bruder kommen. In der Annahme, ihn habe abermals die Sehnsucht nach ihm Glatzkopf-Li überkommen, hämmerte er aufgeregt gegen die Tür und rief voller Freude: »Song Gang, habe ich dir wieder gefehlt?« Aber der Bruder draußen vor der Tür schüttelte den Kopf und sagte betrübt: »Ich habe mich verlaufen, hab den Rückweg nicht gefunden. Dabei muss ich dringend zurück.« Glatzkopf-Li aber lachte nur darüber. Er hämmerte gegen die Tür und tröstete Song Gang: »Reg dich nicht auf! Wenn Mama nach Hause kommt, bringt sie dich auf den Weg, die kennt ihn ja.« Das leuchtete Song Gang ein. Er nickte heftig. Dann schaute er durch die Türritze nach drinnen, sah aber nur GlatzkopfLis Rücken und setzte sich, ebenfalls mit dem Rücken an die Tür gelehnt, auf die Erde. Rücken an Rücken, aber durch die Tür getrennt, unterhielten sich die beiden abermals über alles Mögliche. Jetzt war es Song Gang, der Glatzkopf-Li berichtete, was er unterwegs in der Stadt erlebt hatte, wo es eine Schlägerei gegeben, wo jemand geweint und wo jemand gelacht hatte. Darüber fielen ihm plötzlich wieder die Karamellen Marke »Großer weißer Hase« ein. Schnell hob er die Steinplatte auf und nahm die Bonbons heraus. Er teilte dem Bruder mit, zum Glück seien die Regenwürmer noch nicht darüber hergefallen. Gefährlich sei dieses Versteck aber dennoch, denn die Tierchen hätten eben ein Loch in ein Blatt ge-
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fressen. Er verstaute die fünf Bonbons sorgfältig in seiner Hosentasche, die er zusätzlich mit der Hand zuhielt. Nach einem Augenblick flüsterte er: »Du, Glatzkopf-Li, ich bin so hungrig, hab nichts zu Mittag gegessen. Ob ich vielleicht einen Bonbon ... ?« Als Glatzkopf-Li mit der Antwort zögerte, weil er sich nicht gleich überwinden konnte zuzustimmen, fuhr er fort: »Ich habe wirklich großen Hunger. Lass mich einen lutschen, ja?« Glatzkopf-Li, hinter der Tür, nickte und sagte: »Du kannst vier essen. Lass mir bloß einen übrig.« Song Gang, vor der Tür, nickte ebenfalls und sagte: »Nein, einer reicht mir.« Er nahm einen Bonbon aus der Tasche, betrachtete ihn einen Moment und zog den süßen Duft durch die Nase ein. Als Glatzkopf-Li nur dieses Geräusch hörte, nicht aber das erwartete Schmatzen, das beim Lutschen entsteht, fragte er erstaunt: »Wieso schnaufst du mit dem Mund?« Song Gang antwortete kichernd: »Ich hab den Bonbon gar nicht im Mund. Rieche nur daran.« »Warum denn?« Song Gang schluckte. »Ich lutsche ihn nicht«, sagte er. »Diese Karamellen habe ich für dich mitgebracht. Mir reicht es, daran zu riechen.« In diesem Augenblick kehrte Li Lan zurück. Glatzkopf-Li hörte, wie sie vor freudiger Überraschung aufschrie und ihre Schritte beschleunigte, hörte Song Gang »Mama!«, rufen, hörte schließlich einen endlosen Strom von Wörtern - ein regelrechtes Maschinengewehrfeuer -, als die Mutter Song Gang in die Arme nahm, und das alles, während er, Glatzkopf-Li, drinnen eingeschlossen war wie ein Gefängnisinsasse! Obwohl er gegen die Tür bummerte 301
und laut schrie, dauerte es eine kleine Ewigkeit, ehe Li Lan es mitbekam und die Tür öffnete. Endlich konnten die beiden Jungen sich richtig wiedersehen. Sie hielten sich an den Händen und sprangen in ihrer Freude so lange jauchzend umher, bis sie in Schweiß gebadet waren und der Nasenschleim ihnen in den Mund lief; mehr als zehn Minuten lang ging das so. Plötzlich fielen Song Gang die Karamellen Marke »Großer weißer Hase« in seiner Hosentasche wieder ein. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, holte die Bonbons aus der Tasche und übergab einen nach dem anderen - eins, zwei, drei, vier, fünf - dem Bruder. Der versenkte vier in seiner eigenen Hosentasche, wickelte den fünften aber sofort aus und steckte ihn in den Mund. Li Lan, die den ganzen Tag lang in der Seidenfabrik kritisiert und bekämpft worden war, hatte es vor lauter Erschöpfung kaum bis nach Hause geschafft. Sobald sie jedoch Song Gang erblickt hatte, waren ihre Lebensgeister wieder erwacht. Vor Aufregung war sie ganz rot im Gesicht. Es war das erste Mal seit dem Tod ihres Mannes, dass sie so froh war. Sie sagte, zur Feier des Tages würde sie den Kindern ein Festessen spendieren, nahm die beiden Jungen an die Hand und ging mit ihnen in den »Volksgasthof«, Nudeln essen. Als sie so in der Dämmerung die Hauptstraße entlanggingen, kam es Glatzkopf-Li vor, als wäre er schon jahrelang nicht mehr dort gewesen. Vor Freude sprang er mehr, als dass er ging, und auch Song Gang bewegte sich hüpfend vorwärts wie der Bruder. Li Lan, zwischen ihren bei den Söhnen, strahlte übers ganze Gesicht. Glatzkopf-Li hatte sie schon lange nicht mehr lächeln gesehen. Über ihr Lächeln freuten
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sich die Jungen so sehr, dass sie erst recht übermütig umhersprangen. Als sie auf die Brücke kamen, stand dort mit gesenktem Kopf Mutter Su aus dem Imbissladen, das Holzschild um den Hals gehängt, neben ihr ihre Tochter Su Mei, die sich an ihrer Bluse festklammerte. Song Gang fragte Mutter Su: »Warum muss ein so guter Mensch wie Sie auch ein großes Holzschild tragen?« Mutter Su antwortete nicht; Su Mei wischte sich ein paar Tränen aus den Augen. Li Lan, die mit gesenktem Kopf daneben stand, stupste Glatzkopf-Li an und flüsterte ihm zu, er solle Su Mei einen Bonbon schenken. Glatzkopf-Li musste ein bisschen schlucken, holte aber folgsam eine Karamelle aus der Tasche und reichte sie dem Mädchen, wenn auch mit Widerstreben. Su Mei blickte auf und lächelte Li Lan zu, die ihr Lächeln erwiderte. Nach einem Moment nahm Li Lan Song Gang wieder an die Hand, um weiterzugehen. Im Gehen drehte er sich noch einmal nach Mutter Su um und sagte: »Machen Sie sich keine Sorgen! Der Himmel wird es Ihnen vergelten!« Mutter Su erwiderte leise: »Mein lieber Junge, der Himmel wird es dir auch vergelten.« Sie hob den Kopf, blickte auch Li Lan und Glatzkopf-Li an und sagte: »Der Himmel wird es euch allen vergelten!« Dann kamen die drei zum» Volksgasthof«. Da waren sie schon lange nicht mehr gewesen. Das letzte Mal hatte Song Fanping die bei den Jungen an dem Tag seines Triumphs, als er das große rote Banner geschwenkt hatte, dorthin ausgeführt. Als sie damals ihre Nudeln bestellt hatten, waren alle Gäste des Restaurants zusammengelaufen und hatten sie um303
ringt, und der Koch hatte ihnen Fleischbrühe spendiert. Diesmal ging es eher trist zu. Li Lan bestellte zwei Schüsseln Brühnudeln für die Kinder, für sich selbst aber nichts. Sie würde zu Hause Reste essen, erklärte sie. Glatzkopf-Li und Song Gang fielen so heißhungrig über die dampfenden Nudeln her, dass ihnen der Rotz nur so aus der Nase lief und sie ihn immer wieder hochziehen mussten. Ihnen kam das Gericht genauso köstlich vor wie beim letzten Mal. Und tatsächlich: Als jener Koch, den sie damals kennengelernt hatten, in einer ruhigen Minute an ihren Tisch kam, flüsterte er ihnen zu: »Ich habe euch Fleischbrühe gegeben!« Es war schon dunkel, als Li Lan mit den beiden Jungen am Lichtspielfeld vorbeikam. Die drei setzten sich auf einen großen Stein am Rand und schauten auf den vom bleichen Licht des Mondes beschienenen leeren Platz. Li Lan standen die gleißenden Scheinwerfer und der hitzige Wettkampf von damals noch klar vor Augen, und sie erinnerte sich daran, wie Song Fanping seine überragenden Fähigkeiten als Basketballer dabei zur Geltung gebracht hatte. Vor allem dachte sie an jenes sensationelle Dunking, bei dem die Zuschauer zuerst schlagartig verstummt, dann aber in donnernden Applaus ausgebrochen waren. Sie sagte zu den Kindern: »Seit euer Papa tot ist, gibt es auf der ganzen Welt keinen mehr, der so ein Dunking hinkriegt.« Bei diesen Worten spielte ein Lächeln um Li Lans Lippen. Song Gang blieb zwei Tage. Am Morgen des dritten Tages erschien in aller Frühe sein Großvater, jener alte Grundbesitzer, mit einem Kürbis. Er kam nicht ins Haus, sondern blieb mit gesenktem Kopf vor der Tür stehen. Als Li Lan ihn liebevoll »Papa« nannte und ihn ins Haus ziehen wollte, 304
wurde er rot und schüttelte den Kopf. Er ließ sich einfach nicht bewegen, hereinzukommen. Li Lan blieb nichts anderes übrig, als dem alten Grundbesitzer einen Hocker vor die Tür zu stellen, damit er sich wenigstens hinsetzen konnte. Doch nicht einmal das tat er. Er beugte sich lediglich ein wenig vor, um den Kürbis ins Haus zu legen, danach blieb er weiter geduldig vor der Tür stehen und sah von dort aus zu, wie der Enkel drinnen sein Frühstück beendete. Als Song Gang schließlich herauskam, nahm er ihn an die Hand, nickte Li Lan zu - eigentlich war es eher ein tiefer Diener - und ging mit dem Jungen los. Glatzkopf-Li lief zur Tür und schaute dem Bruder traurig hinterher, der sich seinerseits immer wieder traurig nach ihm umdrehte. Er hob die Hand bis in Schulterhöhe und winkte Glatzkopf-Li zu. Der hob die Hand ebenfalls bis in Schulterhöhe und winkte Song Gang zu. In der Folgezeit kam Song Gang fast jeden Monat einmal zu Besuch in die Stadt, allerdings nicht mehr allein, sondern mit dem Großvater, der auf dem Markt Gemüse verkaufte. Es war noch dunkel, und Glatzkopf-Li lag noch in tiefem Schlaf, wenn die beiden durch das Südtor in die Stadt kamen. Song Gang eilte dann mit zwei Stauden frischem PakChoi durch die dämmrigen Straßen zu Glatzkopf-Lis Haus, legte das Gemüse heimlich auf die Türschwelle und lief sogleich zurück zu seinem Großvater auf den Markt - alles noch vor Sonnenaufgang -, um ihm beim Verkaufen zu helfen: »Kauft Pak-Choi! Ganz frisch! ... « Die beiden hatten oftmals schon kurz nach Tagesanbruch ihre gesamte Ware verkauft. Das Tragjoch mit den leeren Körben auf den Schultern und den Enkel an der Hand, mach305
te der Alte jedes Mal extra einen Umweg zu Glatzkopf-Lis Haus. Dort standen die beiden still vor der Tür und lauschten, ob sich drinnen etwas rührte und Mutter und Sohn vielleicht gerade aufstanden. Aber die waren zu dieser Stunde noch nicht wach, und auch das Gemüse lag immer noch, wo Song Gang es abgelegt hatte. Großvater und Enkel blieb nichts anderes übrig, als ebenso leise, wie sie gekommen waren, wieder abzuziehen. Im ersten Jahr nach ihrer Trennung brachte Song Gang dem Bruder jedes Mal, wenn er in die Stadt kam, ein paar Karamellen Marke »Großer weißer Hase« mit, die er, in ein Platanenblatt gewickelt, unter der Steinplatte vor der Tür versteckte. Glatzkopf-Li hatte keine Ahnung, wie viele Bonbons es waren, die Li Lan dem Bruder seinerzeit mitgegeben hatte, aber er kam - von wenigen Unterbrechungen abgesehenin diesem Jahr nahezu jeden Monat in den Genuss von ein paar Karamellen Marke »Großer weißer Hase«. Wenn Li Lan aufstand, die Haustür öffnete und die beiden von Tau bedeckten Pak-Choi-Stauden entdeckte, rief sie Glatzkopf-Li zu: »Song Gang war da!« Daraufhin war Glatzkopf-Lis erste Reaktion, die bewusste Steinplatte umzudrehen und die in Blätter gewickelten Bonbons hervorzuholen. Danach aber rannte er in Richtung Hauptstraße davon. Li Lan wusste, er wollte den Bruder sehen, und ließ ihn laufen. Sobald Glatzkopf-Li sich vergewissert hatte, dass Song Gang nicht mehr auf dem Gemüsemarkt war, machte er sofort kehrt und rannte zum Südtor, wo er ihn mehrmals gerade noch abpasste. Wenn er in der Ferne seinen Bruder hinter dem Alten mit dem Tragjoch hergehen sah, schrie er aus Leibeskräften: »Song Gang! Song Gang!« 306
Dann drehte sich Song Gang um und schrie, ebenfalls aus Leibeskräften: »Glatzkopf-Li! Glatzkopf-Li!« Glatzkopf-Li stand da, winkte und rief den Namen des Bruders, während dieser, ohne stehen zu bleiben, immer wieder zurückschaute, dem Jüngeren zuwinkte und auch seinen Namen rief. Das ging so lange, bis Glatzkopf-Li den anderen nicht mehr sehen konnte. Selbst dann noch blieb er weiter dort stehen und schrie: »Song Gang! Song Gang! ...« Aus der Ferne kam aber jedes Mal nur das Echo zurück: » ... Gang! ... Gang!«
XXIV Die Tage und Monate vergingen. Unversehens waren sieben Jahre ins Land gegangen. In unserer kleinen Stadt Liuzhen war es Brauch, dass Frauen, die ihren Gatten verloren hatten, mindestens dreißig und höchstens einhundertachtzig Tage lang ihre Haare nicht wuschen. Li Lan hatte sich seit dem Tod Song Fanpings nicht mehr den Kopf gewaschen. Kein Außenstehender ahnte, wie groß ihre Zuneigung zu dem Verstorbenen gewesen war, eine Liebe, noch viel tiefer als der Ozean. Obwohl sie die Haare nicht wusch, rieb sie sie doch häufig mit Haaröl ein, sodass sie schön schwarz glänzten, und kämmte sie straff nach hinten, ehe sie hoch erhobenen Hauptes durch die Stadt ging, begleitet vom Geschrei der Kinder, die ihr hinterherriefen: »Grundbesitzerfrau! Grundbesitzerfrau! ... « Um ihre Lippen spielte stets ein stolzes Lächeln, denn ihre Ehe mit Song Fanping war zwar schon nach einem
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Jahr und zwei Monaten wieder vorüber gewesen, doch in ihrem Herzen dauerte sie länger als ein ganzes Menschenalter! Weil Li Lan sieben Jahre lang die Haare zwar ständig mit Öl einrieb, sie aber nicht wusch, wurde der von ihnen ausgehende säuerliche Gestank immer penetranter. War er anfangs nur im Hause wahrnehmbar - ein Geruch wie nach stinkenden Socken -, stieg er mit der Zeit sogar den Passanten auf der Straße in die Nase. Deshalb begannen die Leute in unserer kleinen Stadt Liuzhen, ihr aus dem Weg zu gehen, und selbst die Kinder, die ihr »Gutsbesitzerfrau!«, nachgerufen hatten, liefen nun Hals über Kopf davon, wenn sie sie erblickten, nicht ohne sich die Nase zuzuhalten und »Alte Stinkerin!« zu rufen. Li Lan rechnete sich das zur Ehre an, denn genau dies war ihre Absicht: Die Leute sollten ständig daran erinnert werden, dass sie die Witwe von Song Fanping war. Nachdem Glatzkopf-Li eingeschult worden war und er gelegentlich Formulare ausfüllen musste, in denen auch nach dem Namen des Vaters gefragt wurde, hielt sie ihn jedes Mal ohne zu zögern an, Song Fanpings Namen hinzuschreiben. Das bereitete dem Jungen Unannehmlichkeiten, denn da er »Song Fanping« als Vater angab, musste er in der Spalte »soziale Herkunft« auch »Grundbesitzer« eintragen, sodass er in der Schule und seitens der Mitschüler so manche Diskriminierung als »kleiner Grundbesitzer« zu erdulden hatte. Nur Li Lan und Song Gang, wenn er zu Besuch kam, nannten ihn weiterhin Glatzkopf-Li. Alle anderen schienen seinen Namen vergessen zu haben, am Ende sogar die Lehrer. Wurde er zum Beispiel von einem Lehrer aufgerufen,
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hörte sich das jetzt so an: »Kleiner Grundbesitzer, steh auf, sag mal den Text her!« Mit zehn Jahren entsann sich Glatzkopf-Li, dass er ja auch einen leiblichen Vater hatte, jenen Spanner, der beim Versuch, auf der öffentlichen Toilette Frauenärsche auszuspähen, in der Jauche ertrunken war. Dessen Namen wollte er jetzt in der Rubrik »Vater« einsetzen, um der Abstempelung als »Grundbesitzer« zu entgehen. Das führte zu einer Auseinandersetzung mit der Mutter, die gerade bei der Zubereitung der Mahlzeit war. Als er sie fragte, wie sich der Name seines Vaters schreibe, stutzte sie und sah ihn verblüfft an. Dann antwortete sie: »Song Fanping.« Glatzkopf-Li erwiderte mit gesenktem Kopf: »Ich meine den anderen Papa.« Da verfinsterte sich ihre Miene, und ihre Stimme wurde scharf: »Es gibt keinen anderen Papa!« Li Lan war stolz auf ihren Beinamen »Gutsbesitzerfrau« und ließ Song Fanping voller Stolz in ihrem Herzen weiterleben. Dieser Stolz hielt sieben Jahre lang an, exakt bis zu dem Tag, an dem ihr vierzehnjähriger Sohn beim Ausspähen von Frauenärschen erwischt wurde. Da brach Li Lan zusammen. Als Glatzkopf-Li danach wieder einmal ein Formular ausgefüllt und als Vater »Song Fanping« angegeben hatte, radierte sie diesen Namen aus und setzte stattdessen »Liu Shanfeng« ein, einen Namen, der dem Jungen völlig unbekannt war; in der nachfolgenden Spalte »soziale Herkunft« verbesserte sie »Grundbesitzer« zu »armer Bauer«. Doch als sie dem Sohn das korrigierte Formular zurückgab, radierte dieser seinerseits »Liu Shanfeng« und »armer Bauer« aus und schrieb erneut »Song Fanping« und »Grundbesitzer« 309
hin, denn jetzt, mit vierzehn, machte es Glatzkopf-Li nichts mehr aus, als »kleiner Grundbesitzer« tituliert zu werden. Während er den Namen seines leiblichen Vaters tilgte, murmelte er: »Mein Papa ist Song Fanping!« Li Lan schaute ihren Sohn an, als sähe sie ihn zum ersten Mal, so erstaunt war sie über diese Worte. Als Glatzkopf-Li aufblickte, senkte sie sofort den Kopf und zischelte: »Dein leiblicher Vater hieß aber Liu Shanfeng.« »Was heißt hier Liu Shanfeng!«, rief Glatzkopf-Li verächtlich. »Wäre der mein Papa, dann wäre Song Gang nicht mein Bruder!« Seit dem Zwischenfall auf der öffentlichen Toilette war Glatzkopf-Li ohnehin nicht mehr der »kleine Grundbesitzer«, sondern der »kleine Arsch«, weil sein verstorbener leiblicher Vater der »alte Arsch« war. Dieser anrüchige Vater war eigentlich längst vergessen, aber jetzt wurde die alte Geschichte wieder ausgegraben, und so nannten GlatzkopfLis Schulkameraden ihn nun »kleiner Arsch«. Sogar die Lehrer bedienten sich mit der Zeit dieses Schimpfnamens: »Kleiner Arsch, du hast heute Ordnungsdienst!«, hieß es dann etwa. Mit dem Stolz, den Li Lan als Gattin von Song Fanping empfunden hatte, war es schlagartig vorbei, seit sie wegen ihres Sohnes aufs Neue unter ihrer gefühlten Minderwertigkeit als Witwe eines im Abort ertrunkenen Mannes litt. Sie ging nicht länger hoch erhobenen Hauptes durch die Straßen jetzt war sie wieder so verschüchtert wie vierzehn Jahre zuvor, eilte nur noch mit gesenktem Kopf hastig dahin und drückte sich an den Hausmauern entlang, weil sie das Gefühl hatte, dass alle mit Fingern auf sie zeigten und sich das Maul 310
zerrissen. Sie ging nur ungern aus dem Haus, und selbst in ihren eigenen vier Wänden schloss sie sich im hinteren Zimmer ein, wo sie stundenlang starr und stumm auf der Bettkante vor sich hin brütete. Auch ihre Migräne peinigte sie mehr denn je; vor Schmerzen zog sie unablässig Luft zischend durch die Zähne ein. Glatzkopf-Li, der mittlerweile begonnen hatte, das Geheimnis von Lin Hongs Hintern zu vermarkten, war bereits in den Genuss zahlreicher Portionen Nudeln der drei Köstlichkeiten (und gelegentlich auch mal einer Schüssel gewöhnlicher Brühnudeln) gekommen, sodass er gut genährt war und vor Gesundheit strotzte. Auf der Straße stolzierte er einher wie ein Filmstar, und es war ihm herzlich gleichgültig, dass er als »kleiner Arsch« verspottet wurde. Diejenigen, die das taten, hatten überhaupt keine Ahnung! Wer wirklich Bescheid wusste - zum Beispiel Zhao Shengli, Liu Chenggong oder Scherenschleifer Guan der Jüngere, also Leute, mit denen er in Bezug auf Lin Hongs Hintern ins Geschäft gekommen war -, nannte ihn »König der Ärsche«. Dieser Spitzname, der Glatzkopf-Li sehr gut gefiel und den er durchaus zutreffend fand, stammte von den beiden Dichterfürsten unserer kleinen Stadt Liuzhen - Zhao Shengli und Liu Chenggong waren ja mittlerweile längst zu »Dichter Zhao« beziehungsweise »Schriftsteller Liu« avanciert. Ein paar Monate lang bestand übrigens eine enge freundschaftliche Beziehung zwischen dem jugendlichen Glatzkopf-Li und den beiden Nachwuchs-Geistesgrößen unserer kleinen Stadt Liuzhen. Sie rührte von ihrer gemeinsamen Liebhaberei her: der Erforschung und Erörterung von Lin 311
Hongs wohlgestaltetem Hintern. Zhao und Liu arbeiteten sich auf verschiedenste Weise an diesem Sujet ab - mal realistisch, mal lyrisch, mal eher beschreibend, mal eher metaphorisch, mal als Schilderung, mal als Erörterung. Die Ergebnisse ihrer Bemühungen legten sie dann Glatzkopf-Li vor, der das letzte Wort haben und entscheiden sollte, welche Formulierungen am prägnantesten, welche am lebensechtesten seien. Am treffendsten seien die realistischen Ausdrucksweisen und am lebensechtesten die lyrischen, so lautete unweigerlich sein Urteil. Nachdem die Dichterfürsten und Glatzkopf-Li das Thema erschöpfend abgehandelt hatten, hörte der Kontakt wieder auf. Im Übrigen stammten viele der wohlgesetzten Worte, mit denen die beiden Lin Hongs Hintern gerecht zu werden versucht hatten, aus während der Kulturrevolution konfiszierten Büchern, die sie bei mehreren Raubzügen zu nachtschlafender Zeit gestohlen hatten; Glatzkopf-Li hatte mehr als einmal vor dem Lagerhaus, in dem die Bücher unter Verschluss gehalten wurden, Schmiere gestanden. Der einzige von den Eingeweihten, der Glatzkopf-Li nicht »König der Ärsche« nannte, war Schmied Tong. Weil sein Versuch, ihm das kostbare Geheimnis von Lin Hongs Hintern für eine Schüssel gewöhnlicher Brühnudeln abzuluchsen, fehlgeschlagen war und er bei diesem sprichwörtlichen »versuchten Hühnerdiebstahl« eine Handvoll »Lockreis« in Gestalt einer Portion Brühnudeln - eingebüßt hatte, pflegte er dem Jungen ein dröhnendes »Kleiner Bastard-Arsch!«, entgegenzurufen, sobald er ihn zu Gesicht bekam. Das ließ Glatzkopf-Li jedoch völlig kalt. Er schlug dem Schmied le-
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diglich ganz gelassen vor: »Ach, nennen Sie mich doch lieber >König der Ärsche<.« Manchmal traf er unterwegs Lin Hong, die zu jener Zeit achtzehn Jahre alt war. Wenn es im Volksmund heißt, eine Achtzehnjährige sei wie eine Blume, dann war sie wahrlich wie ein ganzer Strauß Blumen. Auf der Straße verschlangen alle Männer das liebreizende Mädchen mit den Augen, doch sie anzusprechen wagte keiner - außer Glatzkopf-Li! Voll überströmender Herzlichkeit, als wäre er ein guter alter Bekannter, steuerte er auf sie zu und rief: »Hallo, Lin Hong! Wir haben uns ja schon ewig nicht mehr gesehen. Wie geht es dir denn so?« Lin Hong errötete vor Scham. Wie konnte dieser fünfzehnjährige kleine Unhold, der auf der Toilette ihren Hintern ausspioniert hatte, es wagen, neben ihr herzugehen! Der Kerl tat ja so, als bemerke er die fassungslos staunenden oder aber spöttisch grinsenden Gesichter ringsumher überhaupt nicht! Als Glatzkopf-Li im selben vertraulichen Ton fortfuhr »Zu Hause alles in Ordnung?«, zischte sie wutentbrannt: »Verschwinde!« Glatzkopf-Li drehte sich um und bedeutete dem hinter ihm gehenden Mann mit einer Handbewegung, er möge sich gefälligst wegscheren, so als hätte Lin Hong nicht ihn, sondern jenen gemeint. Dann bot er sich dem Mädchen, das vor Zorn den Tränen nahe war, als Beschützer an: »Wohin gehst du? Ich werde dich begleiten.« Das war mehr, als Lin Hong ertragen konnte. »Hau ab, du Wüstling!«, rief sie. Als Glatzkopf-Li sein Spielchen fortsetzte und sich abermals umschaute, schrie sie wutentbrannt: »Du bist gemeint! Hau ab!« 313
Inmitten des dröhnenden Gelächters der Straßenpassanten blieb Glatzkopf-Li stehen und blickte der sich entfernenden graziösen Gestalt bedauernd hinterher. Betrübt wischte er sich über die Lippen und beklagte sich bei den Umstehenden: »Sie ist anscheinend immer noch böse auf mich!« Kopfschüttelnd tat er einen tiefen Seufzer und sagte, ganz reuiger Sünder: »Das war ein schwerer Fehler, ich hätte das damals echt nicht machen dürfen!« Es konnte nicht ausbleiben, dass seine diversen Missetaten auch seiner Mutter zu Ohren kamen. Sie ließ deswegen den Kopf immer tiefer hängen, hatte sie doch jetzt nicht nur an dem wiederaufgelebten Skandal um ihren ersten Ehemann zu tragen, sondern zusätzlich an dem um ihren Sohn. Vergoss sie jedoch früher deswegen bittere Tränen, so konnte sie inzwischen nicht mehr weinen. Sie sagte auch kein Wort zu dem Treiben ihres Sohnes, kümmerte sich überhaupt nicht darum, denn sie war sich darüber im Klaren, dass sie gegen diesen Jungen nicht mehr ankam. Wenn sie nachts vor Kopfweh aufwachte, was häufig geschah, zermarterte sie sich jedoch jedes Mal den Kopf, wie es wohl mit Glatzkopf-Li weitergehen sollte. Am Ende solch einer schlaflosen Nacht stand meist die verzweifelte Frage: Mein Gott, warum hast du mich so einen Teufel in Menschengestalt gebären lassen? Nachdem Li Lan psychisch zusammengebrochen war, ging es auch physisch mit ihr bergab: Ihre Migräne wurde immer schlimmer, und später kamen noch Probleme mit den Nieren dazu. Während Glatzkopf-Li von den vielen Nudeln der drei Köstlichkeiten, die er schlemmte, von Tag zu Tag pausbäckiger wurde, sah Li Lan immer bleicher und ausgemergelter aus. Schließlich konnte sie nicht mehr zur Arbeit gehen, 314
musste sich krank schreiben lassen und sich täglich im Krankenhaus spritzen lassen. Ärzte und Schwestern, die trotz Mundschutz den sauren Gestank ihrer Haare rochen, wandten sich angeekelt ab, wenn sie mit ihr redeten, und verabreichten ihr die Injektionen von der Seite. Als sich Li Lans Zustand am Ende so stark verschlechterte, dass sie stationär behandelt werden musste, wurde ihr gesagt: »Aufgenommen werden Sie aber nur mit gewaschenen Haaren!« Beschämt senkte Li Lan den Kopf, ging nach Hause und gab sich dort zwei Tage lang ganz allein ihrem Kummer hin. Während dieser Zeit dachte sie ausschließlich an Song Fanping, sein lächelndes Antlitz und seine sonore Stimme. Wenn sie sich jetzt den Kopf wüsche, dachte sie, würde sie ihn enttäuschen, ihren über alles geliebten Mann! Später aber überlegte sie sich, sie würde gewiss nicht mehr sehr lange leben und schon bald im Jenseits mit Song Fanping wieder vereint sein, und dann würde womöglich auch ihm der von ihrem Kopf ausgehende Gestank missfallen. Deshalb packte sie am Sonntagmittag saubere Kleidung in einen Bambuskorb, rief Glatzkopf-Li, der gerade ausgehen wollte, zurück und sagte nach einem Moment des Zauderns: »Meine Krankheit ist unheilbar, da will ich noch einmal baden, ehe ich sterbe.« Es war das erste Mal nach dem Zwischenfall in der Toilette, dass Li Lan ihren Sohn um seine Begleitung bat. Zwar hatte er wie sein Vater Schande über sie gebracht - und diesem Mann würde sie das niemals verzeihen, mochte er dabei auch umgekommen sein! -, aber bei Glatzkopf-Li war es etwas anderes: Er war immerhin Fleisch von ihrem Fleische. Als sich Li Lan mit ihrem Sohn zusammen auf den Weg zum Badehaus machte, ging ihr schlagartig auf, dass der Junge in315
zwischen größer als sie war. Ein glückliches Lächeln erhellte für einen Moment ihr Gesicht, und einem plötzlichen Impuls folgend hakte sie sich bei ihm ein, obwohl sie wusste, dass sogar ein derart harmloser körperlicher Kontakt in der Öffentlichkeit Aufsehen erregte. Sie war inzwischen so kurzatmig, dass sie sich alle zwanzig Meter an einen Baum lehnen und ein wenig verschnaufen musste. Währenddessen stand Glatzkopf-Li neben ihr, grüßte zahlreiche vorbeikommende Passanten und erzählte ihr hinterher, wer das gerade gewesen sei. Li Lan stellte erstaunt fest, dass ihr fünfzehnjähriger Sohn mehr Bekannte hatte als sie selbst wesentlich mehr. Obwohl das Badehaus nur fünfhundert Meter von ihrer Wohnung entfernt war, brauchte Li Lan über eine Stunde dorthin. Jedes Mal, wenn sie eine Pause machen musste, harrte Glatzkopf-Li geduldig neben ihr aus und plauderte altklug über alle möglichen Ereignisse, die sich in Liuzhen zugetragen hatten, Ereignisse, von denen Li Lan nie etwas gehört hatte. Plötzlich sah sie ihren Sohn mit ganz anderen Augen. Zuerst freute sie sich, aber dann dachte sie nur: Ja, wenn er ein anständiger Mensch wäre, so wie Song Gang, dann würde er wohl seinen Weg machen, aber leider ... Dieser Sohn ist ein Teufel in Menschengestalt! - das war das Fazit, das sie im Stillen zog. Als die bei den endlich am Eingang des Badehauses standen, musste Li Lan noch ein letztes Mal, an die Mauer gelehnt, verschnaufen. Die Hand des Sohnes umklammernd, beschwor sie ihn, vor dem Badehaus auf sie zu warten. Glatzkopf-Li nickte und sah ihr hinterher, als sie hineinging. Ihr Gang war schleppend wie der einer gebrechlichen Alten, aber
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ihr sieben Jahre lang nicht gewaschenes Haar war immer noch schwarz und glänzend. Er musste sehr lange vor dem Badehaus ausharren. Vom langen Stehen taten ihm bald die Beine und am Ende sogar die Zehen weh. Einige von den vielen Leuten, die mit geröteten Gesichtern und feuchten Haaren herauskamen, versäumten nicht, ihm im Vorbeigehen ein »Kleiner Arsch!«, an den Kopf zu werfen, manche aber grüßten ihn auch als »König der Ärsche«. Erstere strafte er mit Verachtung, ohne einen Blick auf sie zu verschwenden; Letztere aber begrüßte er äußerst zuvorkommend, denn das waren alles Kunden, die Nudeln der drei Köstlichkeiten gelöhnt hatten, und GlatzkopfLi wusste sehr wohl, dass man es mit Höflichkeit im Leben einfach weiter bringt. Auch Schmied Tong war im Badehaus gewesen. Als er Glatzkopf-Li an der Tür stehen sah, begrüßte er ihn mit »Na, du kleiner BastardArsch!«. Hinter sich zeigend, schlug er ihm vor: »Geh doch auch rein! Da gibt's viel zu sehen! Ärsche, dass dir die Augen übergehen!« Glatzkopf-Li schnaufte nur verächtlich und erwiderte: »Was wissen Sie schon! Von zu vielen Ärschen hat man gar nichts, da weiß man ja überhaupt nicht, welcher das Hingucken lohnt!« Ganz der erfahrene Fachmann, hielt er die gespreizten Finger einer Hand hoch und belehrte den Schmied: »Mehr als fünf dürfen es nicht sein, weniger als zwei allerdings auch nicht. Bei mehr als fünf Ärschen kommt man durcheinander, bei weniger als zwei - also bei einem sieht man zwar alles genau und kann es sich auch merken, aber es fehlt der Vergleich!« 317
Schmied Tong, der aussah, als fiele es ihm gerade wie Schuppen von den Augen, sagte beinahe ehrfurchtsvoll: »Du kleiner Bastard-Arsch, du hast wirklich was drauf! Irgendwann werde ich dir wohl doch einmal Nudeln der drei Köstlichkeiten spendieren müssen.« Glatzkopf-Li winkte höflich ab. Dann korrigierte er die Ausdrucksweise des Schmieds: »Nennen Sie mich doch >König der ÄrscheKönig der Ärsche
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Zum ersten Mal hatte Glatzkopf-Li das Gefühl, seine Mutter sei alt geworden - wie eine Oma, so wirkte sie nun. Als Li Lan sich an der Hand ihres Sohnes mühsam nach Hause schleppte, traf sie unterwegs mehrere Bekannte, die alle bei ihrem Anblick zusammenfuhren, dann näher hinschauten und schließlich erschrocken fragten: »Li Lan? Bist du das?« Li Lan nickte nur matt und sagte mit ebenso matter Stimme: »Ja, ich bin's.« XXV Als sich Li Lan zu Hause im Spiegel eingehend musterte, erschrak sie selbst, wie gealtert sie plötzlich aussah. Eine dunkle Vorahnung sagte ihr, wenn sie einmal im Krankenhaus sei, würde sie es womöglich nicht wieder verlassen. Deshalb verschob sie den Gang ins Krankenhaus noch einmal um ein paar Tage, obwohl ja ihre Haare nach dem Bad nicht mehr jenen sauren Gestank verströmten, den zu beseitigen man ihr zur Auflage gemacht hatte. Während dieser Zeit hütete sie nicht etwa das Bett, sondern begann damit, ihre Angelegenheiten zu ordnen. Am meisten Sorgen bereitete ihr Glatzkopf-Li. Was würde mit ihm werden, wenn sie tot wäre? Sie saß am Tisch, den sorgenvollen Blick auf den Sohn gerichtet, und seufzte von Zeit zu Zeit: »Wie wirst du jetzt bloß zurechtkommen?« Sie war überzeugt, es würde kein gutes Ende mit ihm nehmen, wenn er schon als Vierzehnjähriger auf der öffentlichen Toilette Frauenärsche ausspionierte. Nicht auszudenken, was für Freveltaten er dann erst nach Vollendung des achtzehnten Lebenjahres verüben würde! Im Geiste sah sie ihren Sohn schon als Verbrecher im Gefängnis enden. Ehe sie ins 319
Krankenhaus ginge, würde sie daher versuchen, die Zukunft des Jungen zu regeln, so ihr Entschluss. Das Hausbuch an die Brust gedrückt, auf Glatzkopf-Lis Arm gestützt, suchte sie das Amt für Zivilverwaltung des Kreises auf. Der armen Li Lan war angst und bange, denn sie war sich nur allzu sehr bewusst, dass sie die Frau eines Grundbesitzers und noch dazu die Mutter eines kleinen Ganoven war. Vor Angst bebend und mit furchtsam gesenktem Kopf betrat sie das Gebäude, in dem das Amt untergebracht war, und erkundigte sich schüchtern: »Wer ist denn, bitte, für Waisen zuständig?« In dem Büro, in das Glatzkopf-Li sie geleitete, saß ein Mann in den Dreißigern Zeitung lesend an seinem Schreibtisch. Der Junge erkannte ihn sofort: Es war derselbe, der sieben Jahre zuvor den toten Song Fanping mit dem Pritschenkarren vom Busbahnhof nach Hause transportiert hatte. Glatzkopf-Li entsann sich sogar, dass sein Name Tao Qing war. Freudig erregt rief er: »Ach, Sie sind das! Sie sind Tao Qing!« Li Lan zupfte ihn erschrocken am Ärmel: Wie konnte er nur so unhöflich sein! Sie verneigte sich unterwürfig und sagte: »Spreche ich mit Genosse Tao?« Tao Qing nickte. Während er die Zeitung aus der Hand legte, musterte er Glatzkopf-Li eingehend. Anscheinend erinnerte auch er sich an den Jungen. Li Lan, die an der Tür stehen geblieben war und nicht wagte näher zu treten, fuhr mit zitternder Stimme fort: »Genosse Tao, ich möchte Sie gern etwas fragen.« Tao erwiderte lächelnd: »Aber so kommen Sie doch bitte erst einmal herein!« 320
Li Lan schlug beschämt den Blick nieder und sagte: »Meine soziale Herkunft ist schlecht ... « Aber Tao Qing wiederholte, immer noch lächelnd: »Kommen Sie herein!« Bei diesen Worten stand er auf und schob Li Lan einen Stuhl hin. Voller Angst ging sie ein wenig näher, doch seiner Aufforderung sich zu setzen, wagte sie nicht Folge zu leisten. Tao Qing deutete auf den Stuhl und beharrte: »Nehmen Sie doch Platz, dann können wir besser reden.« Zögernd setzte sich Li Lan hin und überreichte ihm beflissen das Hausbuch. Sie zeigte auf Glatzkopf-Li und sagte: »Das ist mein Sohn, sein Name steht im Hausbuch.« Tao Qing blätterte kurz in dem Buch. »Ja, ich hab's gesehen«, sagte er. »Was haben Sie denn auf dem Herzen?« Li Lan antwortete mit einem bitteren Lächeln: »Ich habe eine Harnvergiftung und werde wohl bald sterben. Dann hat mein Sohn keine Angehörigen mehr. Könnten Sie vielleicht Sozialhilfe für ihn bewilligen?« Tao Qing sah erschrocken erst Li Lan, dann ihren Sohn an. Schließlich nickte er: »Ja, das ließe sich schon machen. Das wären acht Yuan pro Monat plus Bezugsmarken für zwanzig Pfund Getreideprodukte sowie 01- und Stoffmarken einmal im Quartal, bis er anfängt zu arbeiten.« Li Lan war durch diese Zusage immer noch nicht beruhigt. »Aber meine soziale Herkunft ... Ich bin die Frau eines Grundbesitzers«, sagte sie. Lächelnd gab Tao ihr das Hausbuch zurück. »Machen Sie sich keine Gedanken deshalb. Das ist mir alles bekannt. Las-
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sen Sie das einfach meine Sorge sein! Ihr Sohn soll sich von jetzt ab an mich wenden.« Endlich atmete Li Lan erleichtert auf. Vor Freude flog eine tiefe Röte über ihr blasses Gesicht. Tao hatte sich inzwischen Glatzkopf-Li zugewandt. Schmunzelnd sagte er: »Du also bist Glatzkopf-Li! Hab schon viel gehört von dir. Da war doch noch einer - wie hieß der gleich?« Glatzkopf-Li wusste, er meinte Song Gang. Ehe er antworten konnte, stand Li Lan jedoch auf und wollte, auf seinen Arm gestützt, gehen, war ihr doch nur allzu klar, worauf Tao mit seinen Worten »Hab schon viel gehört von dir« anspielte, auf die Arschbeschau auf der Toilette nämlich. Sie bedankte sich überschwänglich und verließ das Büro. Als sie wieder auf der Straße stand, lehnte sie sich erleichtert an einen Baum und ächzte schwer atmend: »Dieser Genosse Tao Qing, das ist wirklich ein guter Mensch.« Da erzählte Glatzkopf-Li ihr, dass er es gewesen war, der Song Fanpings Leichnam damals nach Hause gebracht hatte. Vor Aufregung färbte sich Li Lans Gesicht puterrot. Ohne sich auf den Arm des Sohnes stützen zu müssen, ging sie mit schnellen Schritten allein wieder zurück zu dem Verwaltungsgebäude und in Taos Büro. »Mein Wohltäter! Ich danke Ihnen!«, rief sie und machte einen Kotau vor ihm. (Das sah freilich eher aus, als stürze sie; sie schlug sich die Stirn auf, weil sie sie so hart auf den Fußboden knallte.) Dann brach sie in Tränen aus. Tao Qing, der gar nicht wusste, wie ihm geschah, war aufgesprungen. Erst allmählich entnahm er ihrem tränenreichen Gestammel, warum diese Frau einen Kotau vor ihm machte. Er wollte der Knienden aufhelfen, aber erst als Li Lan noch 322
zwei weitere Male ihre Stirn vor ihm auf den Fußboden geknallt hatte, gelang es ihm mit viel Zureden, sie zum Aufstehen zu bewegen. Dann führte er sie am Arm bis vors Portal des Amtes für Zivilverwaltung, wo er sich von ihr verabschiedete. Mit anerkennend hochgerecktem Daumen flüsterte er ihr noch zu: »Song Fanping war ein ganz besonderer Mensch!« Als Tao Qing weg war, sagte Li Lan, die vor Aufregung am ganzen Leibe zitterte und sich die Freudentränen trocknete, zu ihrem Sohn: »Hast du das gehört? Hast du gehört, was Genosse Tao gerade gesagt hat? ... « Vom Amt für Zivilverwaltung aus schlug sie den Weg zum Sargtischler ein. Ihre Stirn blutete, und sie musste alle paar Schritte eine Pause machen. Jedes Mal wenn sie stehen blieb, konnte sie sich nicht enthalten, Taos Worte noch einmal zu wiederholen: »Song Fanping war ein ganz besonderer Mensch!« Mit einer ausholenden Armbewegung sagte sie voller Stolz zu Glatzkopf-Li: »Alle Leute hier in Liuzhen denken insgeheim so. Nur trauen sie sich nicht, es auszusprechen!« Auf den Arm des Sohnes gestützt, gelangte sie im Schneckentempo schließlich zum Laden des Sargtischlers. Auf der Schwelle sank sie nieder, rang nach Atem und wischte sich das Blut von der Stirn. Lächelnd sagte sie zu den Angestellten der Tischlerei: »Da bin ich wieder!« Die Männer, die sie alle wiedererkannten, fragten: »Für wen ist denn diesmal der Sarg bestimmt?« »Für mich selber«, antwortete Li Lan verlegen.
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Die Männer stutzten. Dann prusteten sie los. »Das haben wir ja noch nie erlebt, dass ein Lebender einen Sarg für sich selbst kauft!«, riefen sie lachend. Ebenfalls lächelnd erwiderte Li Lan: »Das stimmt - ich habe es auch noch nicht erlebt.« Sie zeigte auf Glatzkopf-Li und fuhr fort: „Mein Sohn ist noch klein, der weiß nicht, was für einen Sarg er für mich kaufen soll, deswegen will ich den jetzt schon mal aussuchen. Dann braucht er ihn später nur noch abzuholen.« Den Männern war der stadtbekannte Junge, der mit gespielter Gleichgültigkeit an der Tür stand, natürlich ein Begriff. Mit einem anzüglichen Grinsen sagten sie zu Li Lan: „S0 klein ist Ihr Sohn ja nun auch nicht mehr ... « Li Lan ahnte, warum die Männer grinsten, und senkte beschämt den Kopf. Dann suchte sie sich den billigsten Sarg aus. Er kostete nur acht Yuan und war wie der für Song Fanping aus dünnen Brettern gezimmert und nicht lackiert. Mit zitternden Händen zog sie das Taschentuch, in dem sie ihr Geld eingewickelt hatte, aus der Bluse und zahlte vier Yuan an. Die restlichen vier Yuan würden bei Abholung des Sarges bezahlt, sagte sie. Nachdem Li Lan die Angelegenheit mit Glatzkopf-Lis Waisengeld geregelt und dann auch noch ihren Sarg bestellt hatte, fiel ihr ein Stein vom Herzen (vielmehr: zwei Steine). Jetzt hätte sie eigentlich beruhigt ins Krankenhaus gehen können, aber sie rechnete sich an den Fingern aus, dass es nur noch sechs Tage bis zum »Fest des Hellen Lichts«, dem Totenfest, waren. Da schüttelte sie ganz leicht den Kopf und sagte sich, dass sie an diesem Tag an Song Fanpings Grab ih-
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res verstorbenen Mannes gedenken und erst danach ins Krankenhaus gehen würde. Mühsam und mit vielen Pausen schleppte sie sich in die XinhuaBuchhandlung von Liuzhen und kaufte in der Schreibwarenabteilung einen Stapel weißes Papier, mit dem sie ebenso mühselig wieder nach Hause wankte. Dann setzte sie sich an den Tisch und begann, Gold- und Silberbarren und Kupferkäsch aus Papier zu verfertigen, so wie sie es zu jedem Totenfest seit Song Fanpings Tod getan hatte. Jedes Mal hatte sie mit einem Korb voller Totengeld den langen Weg zu dem entlegenen Dorf auf sich genommen und es am Grab ihres Mannes verbrannt. Inzwischen war Li Lan durch ihre Krankheit so geschwächt, dass sie eine Pause machen musste, immer wenn ein neuer Papierbarren fertig war. Beim Dekorieren der Kupfer-Käsch und beim Beschriften der Barren mit den Schriftzeichen für »Gold« oder »Silber« zitterten ihr die Hände so sehr, dass sie statt eines Nachmittags, wie früher, jetzt vier ganze Tage brauchte, ehe sie ihr Werk vollendet hatte, die Papierbarren ordentlich in den Korb geschichtet und die aufgefädelten Papierkäsch vorsichtig darauf gelegt waren. Sie lächelte befriedigt und tat einen tiefen Seufzer, aber dann liefen ihr schon wieder die Tränen herunter, weil sie fühlte, dass dies ihr letzter Besuch an Song Fanpings Grab werden würde. Am Abend rief sie Glatzkopf-Li an ihr Bett, musterte ihn eingehend und kam zu dem Schluss, dass er jenem Liu Shanfeng kein bisschen ähnlich sah. Erleichtert lächelnd sagte sie mit matter Stimme: »Übermorgen ist das Fest des Hellen Lichts. Ich möchte gern das Grab im Dorf besuchen, aber ich bin zu schwach für den langen Weg-« 325
»Keine Sorge, Mama, ich nehme dich huckepack«, unterbrach sie Glatzkopf-Li. Lächelnd schüttelte Li Lan den Kopf, sie wollte auf etwas anderes hinaus: »Lauf morgen ins Dorf und hol Song Gang, dann könnt ihr mich abwechselnd auf den Rücken nehmen.« »Das ist nicht nötig!« Glatzkopf-Li schüttelte energisch den Kopf. »Ich kann das alleine!« »Nein, das kommt nicht infrage«, entgegnete Li Lan. »Der Weg ist zu lang, es wäre zu anstrengend für dich allein.« »Ach was! Dann suche ich mir einen großen Baum und ruhe mich ein bisschen aus«, erklärte der Junge mit einer lässigen Handbewegung. Aber die Mutter gab nicht nach: »Geh und hol Song Gang!« »Das werde ich nicht tun! Ich lass mir schon was einfallen«, erwiderte er gähnend. Dann ging er ins vordere Zimmer, um sich schlafen zu legen. An der Tür drehte er sich noch einmal zu Li Lan um und sagte: »Mama, mach dir keine Sorgen. Ich verspreche dir, dass ich dich ganz bequem aufs Dorf bringe und genauso auch wieder zurück in die Stadt.« Dann ging er zu Bett. Es dauerte keine fünf Minuten, da war dem Fünfzehnjährigen die Lösung eingefallen. Befriedigt schloss er die Augen und begann sogleich zu schnarchen. Am Nachmittag des nächsten Tages ging Glatzkopf-Li ganz gemächlich aus dem Haus. Sein Ziel war das Krankenhaus. Dort spazierte er den Korridor entlang, als wäre er ein Familienangehöriger, der seinen kranken Verwandten besuchen will. Als im Stationszimmer gerade niemand war, huschte er hinein und durchwühlte in aller Seelenruhe einen Haufen leerer Infusionsflaschen. Flink sortierte er ein Dutzend benutzter Traubenzuckerflaschen aus und hielt sie einzeln ge326
gen das Licht, um zu prüfen, in welcher Flasche am meisten Nährlösung zurückgeblieben war. Die versteckte er unter seinem Hemd, witschte unbemerkt aus dem Stationszimmer und gleich darauf aus dem Krankenhaus. Auf der Straße holte er die Infusionsflasche hervor, hielt sie ab und zu hoch und schwenkte sie hin und her, um sich zu vergewissern, wie viel Traubenzuckerlösung noch darin sei. Seiner Schätzung nach waren es vielleicht hundert Milliliter. Um sicherzugehen, betrat er einen Sojawürze-Laden, an dem er vorbeikam, hielt dem Verkäufer die Flasche unter die Nase und fragte ihn, wie viel Traubenzucker das wohl noch sei. Der Verkäufer, ein alter Hase, schwenkte die Flasche ein wenig und verkündete das Ergebnis: zwischen fünfzig und hundert Milliliter. Glatzkopf-Li freute sich sehr. »Das gibt ordentlich Kraft!«, sagte er. Die Flasche mit den »zwischen fünfzig und hundert Millilitern« Traubenzuckerlösung schwenkend, machte er sich auf den Weg zu Schmied Tong, von dem er wusste, dass er einen eigenen Pritschenkarren besaß. Auf den hatte er es abgesehen: Er wollte ihn für einen Tag ausleihen, um Li Lan in das Dorf und an das Grab zu befördern. Von der Tür der Werkstatt aus sah er ein Weilchen zu, wie der Schmied im Schweiße seines Angesichts mit dem Hammer das Eisen bearbeitete. Dann winkte er ihm zu, als wäre er ein hoher Funktionär auf Inspektionsreise, und rief: »Machen Sie doch mal kurz Pause!« Verwundert über die bedeutungsvolle Miene, mit der Glatzkopf-Li es sich auf der Bank - der nämlichen, die er als Kind »gevögelt« hatte bequem machte, legte Schmied Tong tatsächlich den Hammer aus der Hand, griff nach seinem Hand327
tuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Misstrauisch fragte er den Jungen: »Was führst du kleiner Bastard im Schilde?« Grinsend erwiderte Glatzkopf-Li: »Schulden eintreiben will ich!« »Du verflixter kleiner Bastard!« Schmied Tong schleuderte das Handtuch zu Boden. »Wann hätte ich je bei dir Schulden gemacht?« Immer noch grinsend, erinnerte Glatzkopf-Li den Schmied: »Vor zwei Wochen, an der Tür des Badehauses, da haben Sie etwas zu mir gesagt.« »Was habe ich denn zu dir gesagt?« Glatzkopf-Li zeigte mit einem selbstgefälligen Lächeln auf seine Nase. »Sie haben gesagt«, antwortete er, »ich hätte wirklich was drauf, und Sie würden mir irgendwann wohl einmal Nudeln der drei Köstlichkeiten spendieren müssen.« Jetzt entsann sich Schmied Tong. Er hängte sich das Handtuch wieder um den Hals und erwiderte barsch: »Stimmt, das habe ich gesagt. Na, und?« Glatzkopf-Li ging dazu über, ihm Honig ums Maul zu schmieren: »Eine Persönlichkeit wie Sie, von dem ein lautes Wort genügt, um ganz Liuzhen erzittern zu lassen, solch ein Mann wird doch wohl sein Wort nicht brechen!?« Glatzkopf-Lis schmeichlerische Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. »Du kleiner Bastard!«, fluchte Schmied Tong, lächelte aber dabei. Sein Ton war gar nicht mehr barsch, als er nach einem Moment des Überlegens, jetzt genauso selbstgefällig wie der Junge eben, fortfuhr: »Ich habe gesagt, ich würde dich irgendwann zu einer Schüssel Nudeln der drei Köstlichkeiten einladen - irgendwann! Das kann noch lange
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dauern. Wann das sein wird, weiß ich doch heute noch nicht!« »Sie sind echt schlagfertig!«, schmeichelte ihm GlatzkopfLi mit anerkennend emporgerecktem Daumen. Dann kam er mit breitem Grinsen zur Sache: »Also gut, ich verzichte auf Ihre Nudeln. Leihen Sie mir für einen Tag Ihren Pritschenkarren, dann sind wir quitt.« Schmied Tong wusste nicht, welche Arznei Glatzkopf-Li ihm da aus seiner Kalebasse verkaufen, worauf er hinauswollte. »Was hast du denn mit meinem Pritschenkarren vor?«, fragte er. »Ach!«, antwortete Glatzkopf-Li seufzend. »Meine Mutter möchte das Grab meines Vaters auf dem Dorf besuchen. Sie wissen ja, sie ist krank und nicht gut zu Fuß, da möchte ich sie auf Ihrem Karren dorthin bringen.« Bei diesen Worten stellte er die Flasche mit der Infusionslösung auf die Bank neben sich. Schmied Tong wunderte sich: »Was machst du denn mit der Flasche?« »Das ist eine Wasserflasche aus Armeebeständen«, belehrte ihn der Junge. »Der Weg ins Dorf ist lang, und die Sonne brennt so heiß, da wird meine Mama bestimmt Durst haben. Ich tue Wasser in die Flasche, dann kann sie das trinken.« »Na so was!«, staunte Schmied Tong. »Du kleiner Bastard bist ein pietätvoller Sohn? Sieht man dir gar nicht an.« Glatzkopf-Li lächelte bescheiden. Die Flasche schwenkend sagte er: »Da drin sind noch zwischen fünfzig und hundert Milliliter Traubenzucker- Nährlösung!« Jetzt war Schmied Tong so weit: »Also gut. Ich leihe dir den Karren, weil du so ein guter Sohn bist«, erklärte er ohne große Umstände. 329
Glatzkopf-Li bedankte sich überschwänglich. Dann klopfte er mit der flachen Hand auf die Bank und bedeutete dem Schmied mit vielsagender Miene, er möge sich neben ihn setzen. »Ich kann Ihren Pritschenkarren nicht für umsonst borgen«, sagte er. »Ich möchte mich erkenntlich zeigen, Sie wissen ja: Gutes wird mit Gutem vergolten ... « Schmied Tong verstand nicht, worauf er hinauswollte: »Was willst du damit sagen?« Glatzkopf-Li senkte die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern: »Lin Hongs Hintern ... « »A-haa!« Jetzt war Schmied Tong im Bilde. Wie zwei Verschwörer setzten sich die beiden nebeneinander auf die Bank, und Glatzkopf-Li enthüllte dem Schmied in allen Einzelheiten das Geheimnis von Lin Hongs Hintern. An der spannendsten und aufregendsten Stelle verstummte er jedoch plötzlich. Nachdem der Schmied einen Augenblick atemlos gewartet hatte, sprach der Junge weiter, aber nicht mehr über Lin Hongs Hintern. Vielmehr berichtete er, wie Dichter Zhao ihn im kritischen Moment am Schlafittchen gekriegt hatte. Bitter enttäuscht sprang Schmied Tong auf und fuchtelte mit den Fäusten vor einem imaginären Sparringspartner herum. »Verdammter Bastard, dieser Dichter Zhao!«, fluchte er. Zwar kannte er immer noch nicht die ganze Wahrheit über Lin Hongs Hintern, doch ließ er seine Enttäuschung nicht an dem Jungen aus. Als er ihm den Pritschenkarren übergab, sagte er vielmehr großmütig: »Wenn du ihn später noch mal haben willst, brauchst du es nur zu sagen.« Glatzkopf-Li steckte die im Krankenhaus stibitzte Infusionsflasche in seine Jackentasche und zog mit dem Pritschen330
karren zum Laden von Zahnreißer Yu. Er hatte es nämlich auf dessen korbgeflochtenen Liegestuhl abgesehen, den er auf dem Pritschenkarren festbinden wollte - Li Lan sollte es auf dem Weg ins Dorfbequem haben! Zahnreißer Yu hatte sich gerade in dem besagten Liegestuhl ausgestreckt, um ein Nickerchen zu machen, als Glatzkopf-Li den geborgten Pritschenkarren geräuschvoll direkt vor ihm abstellte, sodass er vor Schreck zusammenfuhr. Als er sah, dass da nur Glatzkopf-Li und ein Karren waren, beide definitiv keine Kunden, schloss er träge wieder die Augen. Glatzkopf-Li trat unter den Öltuchschirm, die Hände hinter dem Rücken verschränkt (wieder wie ein hoher Kader auf Inspektionstour), und betrachtete eingehend erst die Zange, dann die gezogenen Zähne, die auf dem Tischchen des Zahnreißers ausgelegt waren. Die Kulturrevolution, die mittlerweile in ihrem Endstadium angekommen war, hatte sich von einem reißenden Strom zu einem murmelnden Bächlein abgeschwächt. Zahnreißer Li brauchte seinen korrekten Klassenstandpunkt nicht mehr mittels unnötig gezogener gesunder Zähne unter Beweis zu stellen. Im Gegenteil: Hätte er jetzt weiter gesunde Zähne auf seinem Tischchen ausgelegt, so wäre das nur seiner zahnärztlichen Reputation abträglich gewesen. So anpassungsfähig er auch war, warf er die irrtümlich gezogenen gesunden Zähne jedoch nicht etwa weg, sondern bewahrte sie zusammen mit seinem Geld sicher auf, denn er dachte sich: Man weiß ja nie - aus einem murmelnden Bächlein kann irgendwann doch wieder ein reißender Strom werden, und dann kommen dir diese Zähne sehr gut zupass ...
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Als Glatzkopf-Li keine gesunden Zähne in der Auslage entdeckte, klopfte er auf den Tisch und fragte mit betont lauter Stimme den auf seiner Korbliege dösenden Dentisten: »Wo sind denn die guten Zähne geblieben? « »Was für gute Zähne?« Höchst ungnädig öffnete Zahnreißer Yu die Augen. »Na, die, die Sie gezogen haben!«, sagte Glatzkopf-Li und zeigte auf den Tisch. »Die lagen früher hier, das weiß ich genau.« »Einen Furz weißt du!«, erwiderte Zahnreißer Yu erbost und richtete sich auf. »Ich habe noch nie einen gesunden Zahn gezogen! Nur kranke!« Glatzkopf-Li, der nicht damit gerechnet hatte, dass der andere sich so erregen würde, setzte sofort ein Lächeln auf und stellte nun seinerseits seine Anpassungsfähigkeit unter Beweis. »Natürlich! Selbstverständlich haben Sie niemals gesunde Zähne gezogen - ich weiß gar nicht, wie ich darauf gekommen bin!«, rief er, sich an die Stirn schlagend. Er zog den Schemel dichter an die Liege heran und begann, Zahnreißer Yu ähnlich wie gerade Schmied Tong Honig ums Maul zu schmieren. »Man weiß ja, Sie sind der beste Zahnarzt im Umkreis von fünfzig Kilometern! Selbst mit geschlossenen Augen würden Sie nie einen gesunden Zahn ziehen!« Das ging Zahnreißer Yu runter wie Öl. Beifällig nickend sagte er: »Das ist wohl wahr.« Glatzkopf-Li hielt jetzt den Zeitpunkt für gekommen, um allmählich sein Anliegen zur Sprache zu bringen. »Sie sind doch schon viele Jahre hier tätig - es sind mehr als zwanzig Jahre, nicht wahr? - da kennen Sie gewiss alle Mädchen in Liuzhen«, begann er. 332
»Nicht nur die Mädchen!«, unterbrach ihn Zahnreißer Yu stolz. »Die alten Frauen auch. Wenn ein Mädchen heiratet oder eine Alte begraben wird - ich erfahre es noch am gleichen Tag.« »Sagen Sie«, fuhr Glatzkopf-Li fort, »wer ist eigentlich das hübscheste Mädchen in Liuzhen?« »Lin Hong!«, antwortete Zahnreißer Yu ohne zu zögern. »Natürlich LinHong!« »Ja, und sagen Sie«, fragte Glatzkopf-Li weiter, »wer von all den Männern hier in Liuzhen hat schon mal Lin Hongs blanken Hintern gesehen?« »Na du!« Zahnreißer Yu zeigte höchst belustigt auf den Jungen. »Kein anderer als du kleiner Bastard.« Der Junge nickte ungerührt und beugte sich zu Zahnreißer Yu hinunter. »Soll ich Ihnen was über Lin Hongs Hintern erzählen?«, flüsterte er. Zahnreißer Yu wurde sofort ganz ernst. Er richtete sich aus seinem Liegestuhl auf, sah sich nach allen Seiten um und wartete, bis niemand in der Nähe war. »Fang an!«, flüsterte er. Mit seinen funkelnden Augen und seinem offenen Mund sah er aus, als warte er, dass ihm die fleischgefüllten Pfannkuchen vom Himmel herab geradewegs ins Maul fliegen. Gerade deshalb hüllte sich Glatzkopf-Li jetzt wohlweislich in Schweigen und bestätigte damit neuerlich das Urteil gewisser männlicher Personen in unserer kleinen Stadt Liuzhen, die da meinten, dieser fünfzehnjährige kleine Bastard sei raffinierter und durchtriebener als ein fünfzigjähriger alter Bastard. Zahnreißer Yu, der die fest zusammengepressten Lip-
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pen des Jungen sah, drängte ihn voller Ungeduld: »Red schon!« Glatzkopf-Li strich mit der Hand träumerisch über den Korbliegestuhl. »Diesen Liegestuhl, den möchte ich mir gern für einen Tag borgen«, sagte er mit einem (nicht ganz echten) Lächeln. »Dann würde ich Ihnen Lin Hongs Hintern Millimeter für Millimeter beschreiben.« Sobald Zahnreißer Yu härte, dass der Junge es auf seine Korbliege abgesehen hatte, schüttelte er energisch den Kopf. »Das geht nicht«, antwortete er. »Wie soll ich ohne den Liegestuhl Zähne ziehen?« Glatzkopf-Li baute ihm eine goldene Brücke: »Sie haben doch noch den Schemel. Und selbst wenn Ihre Kunden stehen müssten, würde das nichts an Ihrem Ruf als bester Zahnarzt im weiten Umkreis ändern!« Zahnreißer Yu lachte kollernd auf, doch im Stillen überschlug er rasch die Vor- und Nachteile, kam zu dem Schluss, dass ein Tag ohne Liegestuhl im Tausch gegen das Geheimnis von Lin Hongs Hintern eigentlich doch ein ganz gutes Geschäft sei, und nickte zum Zeichen des Einverständnisses. »Aber nur einen Tag!«, sagte er. Glatzkopf-Li näherte seinen Mund dem Ohr des Zahnreißers und begann, in wohlgesetzter Rede Lin Hongs Hintern zu beschreiben. Gestählt durch sechsundfünfzig Portionen Nudeln der drei Köstlichkeiten und geformt durch die literarische Sprache von Dichter Zhao und Schriftsteller Liu, hatte er es darin mittlerweile zu großer Meisterschaft gebracht, sodass Lin Hongs Hintern in seiner Darstellung noch faszinierender als der einer Himmelsfee erschien. Zahnreißer Yu lauschte völlig hingerissen, wie gebannt von einer spannen334
den Gespenstergeschichte. An der aufregendsten Stelle jedoch verstummte Glatzkopf-Li plötzlich: Sein Blick war auf den Öltuch-Schirm gefallen - den könnte er doch auch ... »Sprich weiter!«, rief Zahnreißer Yu erregt. Glatzkopf-Li wischte sich den Mund ab und zeigte auf den Schirm. »Den möchte ich auch für einen Tag ausleihen«, sagte er. »Wenn man dir den kleinen Finger reicht, nimmst du gleich die ganze Hand!«, erregte sich Zahnreißer Li. »Erst pumpst du dir die Liege, jetzt willst du noch den Schirm - was bleibt mir dann eigentlich noch, außer diesem Tisch? Ich stehe nackt und bloß da wie ein gerupfter Spatz!« Glatzkopf-Li wiegte den Kopf. »Ist ja nur für einen Tag«, beruhigte er ihn. »Übermorgen haben Sie all Ihre Federn wieder.« Dem Leser eines traditionellen Romans vergleichbar (»Wenn der geneigte Leser wissen will, wie es weitergeht, möge er das nächste Kapitel lesen!«), blieb dem vor Ungeduld brennenden Zahnreißer Yu keine andere Wahl als zuzustimmen, dem Jungen auch den Schirm zu borgen. Nach zwei, drei weiteren Sätzen über Lin Hongs Hintern aber hörte er nur noch, wie Dichter Zhao Glatzkopf-Li zur Unzeit festgenommen hatte. Verblüfft blieb er einen Augenblick stumm und zeigte keinerlei Reaktion. Dann fragte er argwöhnisch: »Was ist denn nun los? Wie kommst du von Lin Hongs gepflegtem Arsch plötzlich auf Dichter Zhaos Pratzen?« »Ich kann nichts dafür!«, erwiderte Glatzkopf-Li resigniert. »Der Bastard hat mir alles verdorben. Und Ihnen jetzt auch!« 335
Zahnreißer Yu wurde fuchsteufelswild. Seinen ganzen Frust ließ er an Dichter Zhao aus, wenn auch nur verbal. »So ein Bastard, dieser Zhao! Dem werde ich bei Gelegenheit einen gesunden Zahn ziehen, darauf kann der sich verlassen!« Glatzkopf-Li lud den Korbliegestuhl und den ÖltuchRegenschirm auf Schmied Tongs Karren und zog weiter zum Lager des Warenhauses unserer kleinen Stadt Liuzhen, wo er sich an den Verantwortlichen heranmachte, das Geheimnis von Lin Hongs Hintern ein weiteres Mal verkaufte und im Gegenzug einen Haufen Stricke auslieh. Das große Werk war damit vollendet. Revolutionäre Massenlieder vor sich hin pfeifend kehrte er mit seinem quietschenden Karren im Triumph nach Hause zurück. Es war inzwischen dunkel geworden, und Li Lan war bereits schlafen gegangen. Sie hatte sich gleich nach dem Abendessen ins Bett gelegt, um Kräfte für den langen Fußmarsch am nächsten Tag zu sammeln. Da sie es aufgegeben hatte, Glatzkopf-Li zu erziehen, seit er wegen der Arschbeschau in Liuzhen zu einer Berühmtheit geworden war, nahm sie es seufzend hin, dass er häufig erst spätnachts nach Hause kam. Glatzkopf-Li, der an den dunklen Fenstern sah, dass Li Lan schon schlief, stellte leise den Karren ab, öffnete vorsichtig die Tür, tastete nach der Schnur des Lichtschalters, setzte sich an den Tisch und fiel wie ein hungriger Wolf über das Abendessen her, das die Mutter ihm bereitgestellt hatte. Im Licht der Lampe im Zimmer und des Mondes vor dem Haus machte er sich anschließend daran, den Liegestuhl auf dem Karren mit den Stricken festzuzurren. Zum Schluss spannte er den Regenschirm auf und steckte den Stock in das eigent-
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lich für ein Trinkglas bestimmte Loch in der Armlehne des Korbstuhls, wo er ihn mit einem weiteren Strick festband. Mitternacht war längst vorbei, als er fertig war. Er kontrollierte alles ein weiteres Mal ganz genau, verstärkte an den entscheidenden Stellen die Verbindungen noch einmal zusätzlich mit Stricken und umrundete schließlich zweimal sein Werk. Zufrieden grinsend freute er sich daran, dass Karren, Liege und Schirm fest und sicher vertäut waren und nun ein einziges Ganzes bildeten, vergleichbar dem menschlichen Körper mit Armen und Beinen. Gähnend ging er zu Bett, musste jedoch feststellen, dass er vor lauter Angst, sein Meisterwerk könnte gestohlen werden, nicht einschlafen konnte. Kurzerhand nahm er seine Bettdecke, erklomm Schmied Tongs Pritschenkarren, streckte sich in Zahnreißer Yus Korbliege aus, schloss die Augen und lag im nächsten Moment - nunmehr aller Sorgen ledig - in tiefem Schlaf. Als es hell wurde und Li Lan sah, dass das Bett des Sohnes leer war und die Decke fehlte, stand sie vor einem Rätsel. Kopfschüttelnd trat sie vors Haus. Im nächsten Moment schrie sie vor Schreck laut auf. Sprachlos blickte sie auf ihren Sohn, der in seine Bettdecke gewickelt in einem Liegestuhl unter einem riesigen Öltuch-Regenschirm auf einem Pritschenkarren lag - gewiss das erstaunlichste Gefährt, das man je gesehen hatte! Li Lans Schreckenslaut hatte Glatzkopf-Li aufgeweckt. Als er das erschrockene Gesicht seiner Mutter sah, rieb er sich den Schlaf aus den Augen und kletterte vom Karren herunter. Voller Stolz erzählte er ihr, woher Pritschenkarren, Liegestuhl, Regenschirm und Stricke stammten, und schloss
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seinen Bericht mit den Worten: »Mama, diesmal wirst du's unterwegs bequem haben!« Li Lan sah ihren Sohn - den »Teufel in Menschengestalt« an und fragte sich, woher ein Fünfzehnjähriger schon so viel Erfindergeist nahm. Es kam ihr vor, als kenne sie diesen Menschen überhaupt nicht, der immer wieder für irgendwelche völlig unerwarteten, absolut ungewöhnlichen Einfälle gut war. Nach dem Frühstück füllte Glatzkopf-Li vorsichtig die Traubenzuckerlösung in der Infusionsflasche mit heißem Wasser aus der Thermosflasche auf. »Da drin sind zwischen fünfzig und hundert Milliliter Traubenzucker-Nährlösung!«, erklärte er der Mutter. Dann breitete er seine Steppdecke fürsorglich über den Liegestuhl - der Weg sei holprig, da täte eine Unterlage gut -, drückte mit dem linken Fuß die Deichsel des Karrens nach unten, half Li Lan ebenso fürsorglich beim Hinaufklettern und bettete sie schließlich nicht minder fürsorglich auf den Liegestuhl. Da lag sie nun, den Korb mit PapierBarren und Kupferkäsch fest im Arm, und schaute hinauf zu dem ÖltuchRegenschirm, der sie vor Sonne und Regen schützen sollte. Glatzkopf-Li legte ihr noch die mit Nährlösung und Wasser gefüllte Infusionsflasche in den Schoß - die sei für sie, falls sie unterwegs Durst bekäme, sagte er. Li Lan war darüber zu Tränen gerührt. Als Glatzkopf-Li ihre Tränen bemerkte, fragte er erschrocken nach dem Grund. »Es ist schon gut«, sagte Li Lan und wischte sich die Augen trocken. Wieder lächelnd, fügte sie hinzu: »Lass uns aufbrechen, mein lieber Junge!« 338
Auf dem luxuriösesten Pritschenkarren thronend, den unsere kleine Stadt Liuzhen je gesehen hatte, wurde Li Lan an jenem Morgen von ihrem Sohn an den staunenden Passanten vorbei durch die Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen gezogen. Die Leute sperrten Mund und Nase auf und glaubten ihren Augen nicht zu trauen, als sie den aufgemotzten Karren erblickten. Jemand rief Glatzkopf-Li beim Namen und erkundigte sich, woher dieses merkwürdige Dingsda stamme. »Dingsda?«, erwiderte er, sehr von oben herab. »Das ist der Sonderkarren meiner Mutter.« »Sonderkarren ?« »Sie wissen nicht mal, was ein Sonderkarren ist?«, fragte der Junge in dem selben hochfahrenden Ton. »Das Flugzeug des Vorsitzenden Mao heißt Sondermaschine, sein Zug heißt Sonderzug, sein Auto Sonderwagen. Warum? Weil kein anderer damit reisen darf! Der Pritschenkarren, auf dem meine Mutter liegt, heißt Sonderkarren. Warum? Aus demselben Grund: weil andere damit nicht reisen dürfen!« Der Frager lächelte verständnisvoll, und auch Li Lan musste lachen. Während sie ihren Sohn beobachtete, wie er ihren Sonderkarren voller Selbstbewusstsein die Straße entlangzog, war sie von widerstreitenden Empfindungen erfüllt. Wie sein leiblicher Vater, jener Liu Shanfeng, hatte er Schande über sie gebracht. Aber jetzt - jetzt machte er sie stolz, ebenso wie sein Stiefvater Song Fanping sie stolz gemacht hatte. Die weiblichen Bewohner unserer kleinen Stadt Liuzhen sahen in Li Lans Sonderkarren eher so etwas wie eine Brautsänfte. Kichernd fragten sie Li Lan, ob sie etwa heute heirate.
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Li Lan errötete. »Nein«, erwiderte sie, »ich will ins Dorf zum Grab meines Mannes.« Glatzkopf-Li hatte inzwischen mit dem Sonderkarren das Südtor passiert. Am plötzlich lauter werdenden Knarren des Karrens merkte Li Lan, dass sie gerade über jene Holzbrücke fuhr und gleich der ungepflasterte Weg übers flache Land beginnen würde. Als sie die gute Landluft einatmete und der frische Frühlingswind ihr Gesicht umschmeichelte, richtete sie sich unter dem Öltuchschirm auf. Vor ihren Augen entfalteten sich die im Sonnenlicht golden schimmernden Rapsfelder mit den mäandernden Ackerrainen, deren saftig grüne Grasstreifen rechts und links wie Intarsien aus Smaragd wirkten. Aus der Ferne grüßten da und dort ein paar Häuser und Bäume, auf dem nahe gelegenen Teich schwammen Enten sogar deren Spiegelbild im Wasser konnte sie erkennen -, und neben der Straße flatterte eine Schar Sperlinge ... Wie unendlich reizvoll war diese Frühlingslandschaft, deren Schönheit Li Lan bei dieser - ihrer letzten - Fahrt aufs Land von ihrem rumpelnden Karren aus in sich aufnahm. Dann fiel ihr Blick auf den Sohn, der mit gekrümmtem Rücken den Karren zog und sich immer wieder den Schweiß aus dem Gesicht wischte. Das tat ihr in der Seele weh, und sie redete ihm zu, anzuhalten und eine Pause zu machen, aber er schüttelte nur den Kopf: Er sei nicht müde. Als sie ihm dann die Infusionsflasche hinhielt, damit er wenigstens einen Schluck trinke, schüttelte er abermals den Kopf und sagte: »Das Wasser - und die Traubenzuckerlösung -, die sind für dich!« Jetzt merkte Li Lan, was für einen guten Sohn sie hatte. Vor Freude zerdrückte sie erst ein paar Tränen, lächelte dann vor 340
Glück und schluchzte schließlich: »Mein lieber Junge, ich bitte dich, ich flehe dich an - ruh dich ein bisschen aus und trink etwas!« Da aber hatte Glatzkopf-Li bereits in der Ferne, am Dorfeingang, Song Gang erspäht, neben dem sein Großvater, an einen Baum gelehnt, auf der Erde saß. Die beiden warteten dort wie in jedem Jahr am Totenfest auf ihn und die Mutter. Die Augen mit der Hand abschirmend, hatte Song Gang das merkwürdige Gefährt, das sich aus der Ferne näherte, ebenfalls bemerkt, doch war es ihm nicht in den Sinn gekommen, dass dies sein Bruder und seine Mutter sein könnten. Nachdem Glatzkopf-Li Song Gang erblickt hatte, richtete er sich ein wenig aus seiner vorgebeugten Haltung auf, verfiel in eine schnellere Gangart, sodass Li Lan in dem rumpelnden Karren tüchtig durchgeschüttelt wurde, und rief »Song Gang! Song Gang!«. Song Gang winkte und rannte los, dem Bruder entgegen: »Glatzkopf-Li! Glatzkopf-Li! ... «, rief er. XXVI Wieder zu Hause, legte sich Li Lan ins Bett und dachte nach: Was zu erledigen war, hatte sie erledigt, jetzt konnte sie beruhigt ins Krankenhaus gehen. Das tat sie schon am nächsten Tag. Wie sie geahnt hatte, wurde ihr Zustand allmählich immer kritischer, sodass die Ärzte sie tatsächlich nicht entlassen wollten. Nach zwei Monaten konnte sie nur noch mittels Katheter Wasser lassen und hatte ständig hohes Fieber. Meist dämmerte sie wie benommen vor sich hin, und die Abstände zwischen den Momenten, da sie bei klarem Bewusstsein war, wurden immer größer. 341
Seit sich ihr Zustand verschlechtert hatte, ging Glatzkopf-Li nicht mehr zur Schule, sondern wachte den ganzen Tag am Krankenbett seiner Mutter. Wenn Li Lan mitten in der Nacht aus ihrer Lethargie erwachte, fand sie oftmals ihren schlafenden Sohn auf dem Bauch neben sich liegen, ganz am Rand, um sie nicht zu stören. Weinend rief sie immer wieder seinen Namen und flehte ihn an, nach Hause zu gehen. Als sie den Tod nahen fühlte, überkam sie eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrem anderen Sohn. Glatzkopf-Li musste sein Ohr ganz nah an ihre Lippen halten, weil sie mittlerweile nur noch ganz leise sprechen konnte, so leise wie das Gesumm einer Mücke. Sie bat ihn inständig, ins Dorf zu laufen und Song Gang zu holen. Das tat Glatzkopf-Li jedoch nicht, denn der lange Weg ins Dorf und wieder zurück in die Stadt hätte ihn einen halben Tag gekostet, und während dieser Zeit hätte sich niemand um die Mutter gekümmert. Stattdessen lief er zu der hölzernen Brücke vor dem Südtor und wartete, auf dem Geländer hockend, zwei Stunden lang, bis endlich ein aus der Stadt zurückkehrender Bauer des Weges kam. Den fragte er, in welchem Dorf er wohne: Es war nicht das Dorf, in dem Song Gang lebte. Nachdem er vielleicht ein Dutzend Leute angesprochen und schon die Hoffnung aufgegeben hatte, war er drauf und dran, sich wie ein Marathonläufer doch selber auf den Weg zu machen, da kam schließlich ein alter Mann mit einem Ferkel unter dem Arm vorbei, der tatsächlich aus dem richtigen Dorf stammte. Glatzkopf-Li sprang wie elektrisiert von dem Geländer herunter und hätte den Alten am liebsten umarmt. In seiner Freude schrie er mehr, als dass er sprach,
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als er den Mann instruierte, was er seinem Bruder ausrichten solle: Song Gang müsse unverzüglich in die Stadt kommen und einen gewissen Glatzkopf-Li aufsuchen, es sei äußerst dringend. Am nächsten Morgen stand Song Gang schon in aller Frühe vor der Tür. Glatzkopf-Li hatte die ganze Nacht im Krankenhaus bei der Mutter gewacht und war gerade eingeschlafen, als der Bruder klopfte. Schlaftrunken öffnete er ihm. Song Gang rief aufgeregt: »Was ist denn bloß passiert?« Glatzkopf-Li rieb sich den Schlaf aus den Augen und sagte: »Mit Mama geht es zu Ende. Sie will dich sehen. Du musst sie im Krankenhaus besuchen!« Song Gang brach in Tränen aus. »Heul jetzt nicht!«, ermahnte ihn Glatzkopf-Li. »Geh lieber gleich hin. Ich lege mich noch ein bisschen aufs Ohr, komme später nach.« Da machte Song Gang kehrt und rannte los, während Glatzkopf-Li die Tür schloss und sich wieder hinlegte. Eigentlich wollte er nur noch ein Stündchen schlafen, aber er war von den vielen durchwachten Nächten so übermüdet, dass er erst mittags wieder munter wurde. Als er dann auf die Station kam, bot sich ihm ein erstaunlicher Anblick: Li Lan saß aufrecht im Bett und unterhielt sich mit Song Gang! Sie sprach auch viel lauter als noch am Vortag. Song Gang, der auf einem Schemel neben dem Bett hockte, erzählte gerade vom Leben auf dem Dorf. Glatzkopf-Li fragte sich, ob es vielleicht das Wiedersehen mit Song Gang war, das diese unerwartete Besserung ihres Zustands bewirkt hatte. Er wusste nicht, dass dies der letzte Widerschein der Abendsonne war, ein kurzes Aufflackern ih343
rer Lebensgeister vor dem nahen Tod. Als Li Lan ihn zur Tür hereinkommen sah, lächelte sie und sagte ebenso liebevoll wie besorgt: »Du bist so dünn geworden ... « Zu der Ärztin sagte sie, sie habe solche Sehnsucht nach ihrem Zuhause. Ob sie nicht wenigstens einmal wieder dort vorbeischauen dürfe, wo sie sich doch heute so viel besser fühle und außerdem beide Söhne um sich habe. Die Ärztin, die natürlich wusste, dass es mit Li Lan ohnehin bald zu Ende gehen würde, stimmte kopfnickend zu, schärfte aber den Söhnen ein, sie unbedingt nach spätestens zwei Stunden wieder zurückzubringen. Song Gang, damals schon einen Kopf größer als GlatzkopfLi und auch stärker als er, nahm die Mutter huckepack. Während die drei durch die Stadt in Richtung ihres Hauses gingen, bestaunte Li Lan mit großen Augen wie ein kleines Kind die Leute und die Häuser. Einige der Passanten kannten sie, sprachen sie an und fragten, ob es ihr besser gehe. Li Lan freute sich darüber sehr und antwortete, ja, sie fühle sich ein bisschen besser. Als sie am Lichtspielplatz vorbeikamen, dachte sie wieder an Song Fanping. Den Arm um Song Gangs Schulter gelegt, sagte sie richtig glücklich zu ihm: »Song Gang, du wirst deinem Vater immer ähnlicher!« Zu Hause angelangt, sah sie sich tief bewegt im Zimmer um und betrachtete voller Rührung den Tisch, die Hocker und den Schrank, die Wände und die Fenster, die Spinnweben an der Decke und den Staub auf dem Tisch. Ihre Augen schienen alles aufzusaugen wie ein Schwamm das Wasser. Sie setzte sich auf einen Hocker, gestützt von Song Gang, der dahinter stand, und ließ sich von Glatzkopf-Li einen Putzlappen reichen. Während sie sorgfältig den Staub von der Tischplat344
te wischte, sagte sie: »Es ist so schön, wieder zu Hause zu sein.« Danach war sie so erschöpft, dass sie sich von den Söhnen zu ihrem Bett führen ließ, wo sie fast augenblicklich einschlief. Nach einer Weile öffnete sie jedoch die Augen wieder und bat die beiden, sich an ihr Lager zu setzen, ordentlich nebeneinander wie in der Schule. Mit schwacher Stimme begann sie: »Ich werde bald sterben ... « Song Gang fing sofort an zu schluchzen, und auch Glatzkopf-Li senkte den Kopf und wischte sich die Tränen ab. Li Lan fuhr fort: »Ihr dürft nicht weinen, meine lieben Söhne!« Song Gang nickte folgsam und hörte auf zu schluchzen; auch Glatzkopf-Li schaute auf, als Li Lan weitersprach. »Meinen Sarg habe ich ja schon bestellt. Begraben werden möchte ich neben eurem Vater. Hatte eigentlich versprochen, erst zu ihm zu gehen, wenn ihr groß seid ... Nun kann ich doch nicht so lange warten. Das tut mir sehr leid ... « Als Song Gang aufschluchzte, musste auch Glatzkopf-Li den Kopf wieder senken und sich die Tränen abwischen. Li Lan ermahnte ihre Söhne abermals: »Ihr sollt doch nicht weinen!« Song Gang rieb sich die Augen und unterdrückte das Schluchzen, Glatzkopf-Li aber ließ den Kopf nach wie vor hängen. Mit einem Lächeln fuhr Li Lan fort: »Mein Körper ist ganz sauber, ihr braucht mich nicht zu waschen, wenn ich tot bin. Und was die Kleidung betrifft: Hauptsache, sie ist nicht schmutzig. Nur einen Pullover dürft ihr mir nicht anziehen, der hat so viele Knoten. Die würden mich im Jenseits stören. Lieber eine Baumwollbluse ... « Vor 345
Erschöpfung fielen ihr die Augen zu, und sie schlief wieder ein. Als sie nach einer Viertelstunde aufwachte, sagte sie glücklich lächelnd zu ihren beiden Söhnen: »Eben habe ich die Stimme eures Vaters gehört, er hat mich gerufen.« Sie bat Song Gang, die Truhe unter dem Bett hervorzuziehen. Glatzkopf-Li und Song Gang öffneten sie und betrachteten ihren Inhalt: ein Bündel mit der von Song Fanpings Blut getränkten Erde, die in ein Taschentuch gewickelten drei Paar »Essstäbchen unserer Vorfahren« und schließlich drei Abzüge des Familienfotos mit Song Fanping. Zwei davon seien für die Söhne bestimmt, sagte Li Lan, damit jeder ein Bild hätte, wenn er irgendwann selbst eine Familie gründen würde. Sie sollten sie unbedingt gut aufheben. Das dritte Foto wolle sie ins Jenseits mitnehmen, um es Song Fanping zu zeigen, denn der habe das fertige Bild ja nicht mehr zu Gesicht bekommen. Auch die Essstäbchen der Vorfahren wolle sie mitnehmen, ebenso die Erde mit dem Blut ihres Mannes. »Verteilt sie auf mir, wenn ich im Sarg liege«, bat sie. Die Söhne mussten sie stützen und ihr helfen, die Hände in die blutgetränkte Erde zu stecken, die inzwischen ganz schwarz war. Sie bewegte die Finger und sagte mit einem seligen Lächeln: »Ganz warm fühlt sie sich an.« Dann fuhr sie fort: »Ich werde jetzt bald euren Vater sehen, darüber bin ich sehr froh. Sieben Jahre, sieben lange Jahre, hat er auf mich warten müssen ... Ich habe ihm so viel zu erzählen, von dir, Song Gang, und von dir, Glatzkopf-Li. Das wird bestimmt lange dauern, viele Tage lang und viele Nächte.« Während sie erst den einen Sohn, dann den anderen ansah, hatte sie zu weinen begonnen. »Aber was wird aus euch?«, 346
schluchzte sie. »Einer fünfzehn, der andere sechzehn - ich mache mir solche Sorgen um euch! Ihr müsst gut auf euch aufpassen und auch aufeinander, meine lieben Söhne! Ihr seid doch Brüder ... « Nach diesen Worten schloss sie die Augen und schien bald wieder zu schlafen. Als sie nach einer Weile erwachte, schickte sie Glatzkopf-Li los, er solle ein paar Baozi kaufen. Allein mit Song Gang, tastete sie nach seiner Hand und eröffnete ihm ihren Letzten Willen: »Song Gang, Glatzkopf-Li ist dein jüngerer Bruder. Du als der Ältere musst dich um ihn kümmern, dein ganzes Leben lang, hörst du? Um dich mache ich mir keine Sorgen, Song Gang. Aber um ihn. Wenn der Junge nicht auf Abwege gerät, wird er es einmal weit bringen. Ansonsten, fürchte ich, landet er im Gefängnis ... Song Gang, du musst an meiner Stelle auf ihn aufpassen, er darf nicht auf die schiefe Bahn kommen! Versprich mir, Song Gang, dass du dich immer um ihn kümmern wirst, egal, was er anrichtet!« Song Gang wischte sich die Tränen ab und nickte. »Mach dir keine Sorgen, Mama«, sagte er. »Ich werde mich um ihn kümmern, solange ich lebe. Wenn ich nur noch eine letzte Schüssel Reis zu essen, nur noch eine letzte Jacke anzuziehen habe - Glatzkopf-Li soll sie bekommen.« Li Lan schüttelte unter Tränen den Kopf: »Nein, die letzte Schüssel Reis, die teilt ihr Brüder euch, und die letzte Jacke müsst ihr abwechselnd anziehen!« Diesen Tag, den letzten in ihrem Leben, verbrachte Li Lan schlafend in ihrem Bett. Erst gegen Abend - die Strahlen der Abendsonne fielen durchs Fenster und tauchten das ganze Zimmer in glutrotes Licht erwachte sie wieder. Als sie die 347
Söhne miteinander tuscheln hörte, strahlte sie vor Freude, weil sich die beiden so gut verstanden. Mit schwacher Stimme murmelte sie, sie müsse jetzt wohl ins Krankenhaus zurück. Song Gang nahm sie wieder auf den Rücken. Während sie vor dem Haus standen und auf Glatzkopf-Li warteten, der noch abschloss, sagte Li Lan abermals: »Es war so schön, wieder zu Hause zu sein.« Im Krankenhaus wachten die Söhne weiter am Bett ihrer Mutter, der es viel besser zu gehen schien. Wenn sie ein wenig gedöst hatte und dann wieder erwachte und die bei den immer noch im vertrauten Gespräch neben ihrem Lager sitzen sah, drängte sie sie jedes Mal, doch zum Schlafen nach Hause zu gehen. Es wurde aber ein Uhr morgens, ehe Glatzkopf-Li und Song Gang endlich durch die stillen Straßen heimgingen. Glatzkopf-Li wusste inzwischen, dass Song Gang ein begeisterter Leser war. Er erzählte ihm, dass die in der Anfangsphase der Kulturrevolution bei Haussuchungen beschlagnahmten Dinge sämtlich in einem großen Gebäude in der RoteFahne-Gasse gelagert wurden - Bücher, Bilder, Spielzeug, alle möglichen Sachen, man könne sich das gar nicht vorstellen. Glatzkopf-Li berichtete dem Bruder auch von Zhao Shenglis und Liu Chenggongs Raubzügen, bei denen die beiden zahlreiche gute Bücher hatten mitgehen lassen. »Weißt du, wieso die jetzt zu Dichter Zhao und Schriftsteller Liu geworden sind?«, fragte er ihn. »Weil sie diese Bücher erst geklaut und dann gelesen haben! Am Ende konnten sie selber schreiben.«
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Auf leisen Sohlen schlichen sich die Brüder zu jenem Haus, um eine Scheibe einzuschlagen und einzusteigen, aber die Fenster waren längst nicht mehr verglast, und sie konnten ungehindert hineinklettern. Drinnen stellten sie fest, dass andere vor ihnen das Lager ausgeplündert und nur noch ein paar leere Schränke übriggelassen hatten. So gründlich die beiden Burschen herumstöberten, sie fanden nichts außer einem einzelnen roten Pumps. Da beide nie zuvor rote oder gar hochhackige Schuhe gesehen hatten, glaubten sie anfangs, sie hätten etwas überaus Seltenes und Wertvolles gefunden. Nachdem sie das dunkle Lagerhaus auf dem gleichen Weg, wie sie hineingekommen waren, wieder verlassen hatten, stellten sie sich unter eine Straßenlaterne und zogen - als sie sich unbeobachtet fühlten - den Pumps unter dem Hemd hervor, um ihren Fund näher zu untersuchen. Sie standen vor einem Rätsel: Was mochte dieses seltsame Ding nur darstellen? Einen Schuh vielleicht? Wohl eher nicht. Oder war es womöglich ein Boot, ein Spielzeugboot? Am Ende kamen sie übereinstimmend zu dem Schluss, dass es auf jeden Fall ein Spielzeug war, egal, ob Boot oder Schuh. Gut gelaunt gingen sie mit ihrer Beute nach Hause, wo sie sich auf das Bett setzten, den roten Pumps ein weiteres Mal gründlich untersuchten und abschließend befanden: Jawohl, es handelte sich um ein Spielzeug, und zwar um eins, wie man es noch nie gesehen hatte! Dann versteckten sie den Pumps unter dem Bett. Am nächsten Tag erwachten sie erst, als ihnen bereits die helle Sonne auf den Hintern brannte, und als sie völlig außer Atem im Krankenhaus ankamen, war Li Lans Bett leer. Die beiden standen wie vom Donner gerührt da - was war nur ge349
schehen? Da kam eine Schwester herein und teilte ihnen mit, Li Lan sei gestorben; man habe sie bereits in der Leichenkammer aufgebahrt. Song Gang brach sogleich in Tränen aus und lief heulend durch die Korridore des Krankenhauses zur Leichenkammer. Glatzkopf-Li, der anfangs tränenlos und wie benommen dem Bruder folgte, schluchzte sofort ebenfalls los - und sogar noch lauter als Song Gang -, als er seine Mutter starr und steif auf einer Lagerstatt aus Beton liegen sah. Die Augen der toten Li Lan waren immer noch weit geöffnet. So übermächtig ihre Sehnsucht auch war, die beiden Söhne, um die sie sich bis zuletzt solche Sorgen gemacht hatte, in ihrer Todesstunde noch einmal zu sehen, sie hatte sie nicht mehr zu Gesicht bekommen, als ihre Augen brachen. Song Gang kniete auf dem Betonestrich neben der Toten und weinte so heftig, dass es ihn schüttelte. Der schluchzende Glatzkopf-Li stand zitternd und schwankend wie ein Bäumchen im Wind vor der Betonpritsche. In dieser Stunde der Trauer, da beide vor Schmerz ganz aufgelöst waren, kam Glatzkopf-Li zum ersten Mal zu Bewusstsein, dass er jetzt eine Waise war und nur noch Song Gang hatte, ebenso wie Song Gang nur ihn. Später nahm Song Gang die tote Li Lan auf den Rücken und trug sie, gefolgt von Glatzkopf-Li, nach Hause. Unterwegs liefen ihm unablässig die Tränen übers Gesicht, und auch Glatzkopf-Li wischte sich ständig die Augen. Der hemmungslose Schmerz war stiller Trauer gewichen. Als die bei den jedoch am Lichtspielplatz vorbeikamen, heulte Song Gang wieder laut los. »Gestern hat Mama hier noch mit mir gesprochen ... «, schluchzte er. Vor Kummer konnte er kaum 350
weitergehen. Daraufhin bat ihn der ebenfalls weinende Glatzkopf-Li, ihn die Mutter tragen zu lassen. Song Gang aber schüttelte den Kopf: »Du bist der Kleinere, ich muss für dich sorgen.« So zogen die bei den Jungen mit der Toten weinend durch die Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen. Wenn Li Lans Leichnam von seinem Buckel herunterrutschte - was fortwährend geschah -, blieb Song Gang stehen und machte einen krummen Rücken wie ein Flitzbogen, damit der hinter ihm gehende Bruder ihn vorsichtig wieder hinaufschieben konnte. Schließlich gab er es auf, sich wieder aufzurichten, und lief die ganze Zeit mit gekrümmtem Rücken, während der Jüngere seitlich neben ihm hertrabte und mit beiden Händen die tote Mutter abstützte. Beide gingen so fürsorglich mit der Toten um, als ob Li Lan nicht gestorben wäre, sondern nur schliefe und man ihr nicht wehtun dürfe. Vielen, die das mit ansahen, ging dieser Anblick nahe, darunter auch Mutter Su und Su Mei, ihrer Tochter. »Li Lan war ein guter Mensch«, sagte Mutter Su unter Tränen. »Zu traurig, dass sie schon gehen musste! Wo sie doch zwei so gute Söhne hatte.« Zwei Tage später sah man die beiden Burschen mit Schmied Tongs Pritschenkarren, auf dem der von ihrer Mutter selbst ausgesuchte Sarg stand, abermals die Straßen der Stadt entlanggehen. Der Sarg barg die tote Li Lan und außer ihr das Familienfoto, die drei Paar »Essstäbchen unserer Vorfahren« sowie die von Song Fanpings Blut getränkte Erde. Song Gang zog den Karren, während Glatzkopf-Li hinterherging und aufpasste, dass der Sarg nicht herunterrutschte. Beider Rücken war gekrümmt wie ein Bogen, damit sie die Ladeflä351
che des zweirädrigen Karrens parallel zur Straße halten konnten. Keiner von beiden weinte jetzt mehr, das Quietschen des Karrens war das einzige Geräusch, das zu hören war. Sieben Jahre früher war ein anderer Sarg auf die gleiche Weise befördert worden, der Sarg mit dem toten Song Fanping. Damals war es der alte Grundbesitzer gewesen, der den Karren zog, während Li Lan und die Kinder von hinten schoben, alle vier von tiefer Trauer und Verzweiflung erfüllt, die sie jedoch nicht zu zeigen wagten. Jetzt, da aus den Kindern junge Burschen geworden waren, Li Lan im Sarg lag und von ihren Söhnen auf dem Weg ins Jenseits geleitet wurde, hätten Song Gang und Glatzkopf-Li ihrem Schmerz freien Lauf lassen können; doch sie konnten nicht weinen. Durch das Südtor verließen sie die Stadt und kamen auf die schlammige Landstraße. An dieser Stelle hatte Li Lan sieben Jahre zuvor gesagt »Weint ruhig!«, und alle vier hatten endlich so hemmungslos geschluchzt, dass sogar die Spatzen auf den Bäumen erschrocken auseinandergestoben waren. Jetzt waren da wieder ein Pritschenkarren und ein Sarg aus dünnen Brettern, waren die Flur wieder so weit und der Himmel wieder so hoch, doch nicht vier Menschen, sondern nur noch zwei gaben dem Leichnam das Geleit, und von diesen beiden kam kein Klagelaut. Einer vorn, einer hinten, einer ziehend, einer schiebend, beide so gebückt laufend, dass der Sarg auf dem Karren sie noch überragte, sahen sie von fern nicht wie Menschen aus, sondern wie der vordere und der hintere Teil ihres Gefährts. Die beiden Burschen brachten ihre tote Mutter in das Dorf, in dem Song Fanping zur Welt gekommen und aufgewachsen 352
war und wo er in seinem Grab am Dorfeingang schon sieben Jahre darauf wartete, endlich mit seiner Frau vereint zu sein. Der alte Grundbesitzer stand, auf einen Stock gestützt, neben dem Grab seines Sohnes und sah so hinfällig aus, als sei auch er selbst dem Tode nahe. Ohne den Ast in seiner Hand hätte er sich zweifellos nicht aufrecht halten können. (Da er zu arm war, um sich einen richtigen Krückstock kaufen zu können, hatte ihm Song Gang diese behelfsmäßige Gehhilfe geschnitzt.) Neben Song Fanpings Grab war eine Grube ausgehoben worden, wieder von jenen armen Verwandten, die genauso zerlumpt aussahen wie sieben Jahre zuvor und die wie damals auf ihre Spaten gestützt neben der Grube warteten. Als Li Lans Sarg hinabgesenkt wurde, weinte der alte Grundbesitzer so herzzerreißend, dass er gefährlich schwankte und Song Gang ihm helfen musste, sich auf die Erde zu setzen. Gegen einen Baumstamm gelehnt, sah der Alte weinend mit an, wie die Grube mit Sand gefüllt wurde, und murmelte in Abständen: »So eine gute Frau! Mein Sohn hatte wirklich Glück, sie zu finden! ... Mein Sohn hatte Glück, eine so gute Frau zu heiraten! ... Er hatte wirklich Glück! ... « Li Lans Grabhügel wurde ebenso hoch aufgeschüttet wie der von Song Fanping. Währenddessen fuhr der alte Grundbesitzer mit seinem tränenreichen Loblied auf die tote Schwiegertochter fort: Wie sie alljährlich am Totenfest am Grab ihres Gatten getrauert, am Frühlingsfest ihm selbst einen Neujahrsbesuch abgestattet und ihn auch sonst jedes Jahr mehrmals besucht habe ... Schließlich bat Song Gang seinen Bruder, dem weinenden Großvater aufzuhelfen und ihn dann auf 353
dem Rücken nach Hause zu tragen. Auch die armen Verwandten zogen mit ihren Spaten ab. Song Gang schaute ihnen nach, bis sie sich zwischen den Hütten verloren hatten. Dann vergewisserte er sich, dass er allein und ringsum alles ruhig war, und kniete an Li Lans Grab nieder. »Mama, sei ohne Sorge«, versprach er ihr, »wenn ich nur noch eine letzte Schüssel Reis zu essen, nur noch ein letztes Hemd anzuziehen habe Glatzkopf-Li soll sie bekommen!«
Teil II Lassen wir die Toten ruhen - halten wir's mit den Lebenden! Li Lan hatte ihren letzten Atemzug ausgehaucht und ihren letzten Weg angetreten, um in den unermesslichen Weiten des Jenseits auf die Suche nach ihrem verstorbenen Gatten Song Fanping zu gehen. Wie mochte es ihren beiden Söhnen im Diesseits ergehen? Das Leben von Song Gangs Großvater drohte jederzeit zu verlöschen wie eine flackernde Kerze im Wind. Der alte Grundbesitzer war ans Bett gefesselt, nahm nur alle paar Tage einige Mundvoll Reis und ein wenig Wasser zu sich und bestand fast nur noch aus Haut und Knochen. Als er das Ende nahen fühlte, ergriff er die Hand des Enkels und schaute flehend durch die Tür nach draußen. Song Gang wusste, was er ihm mit diesem Blick sagen wollte. An windstillen Abenden nahm er also seinen Großvater huckepack und ging mit ihm im Dorf langsam von Hof zu Hof, damit er ein letztes Mal all die vertrauten Gesichter sehen und auf diese Weise Abschied nehmen konnte. Jedes Mal verharrte er mit dem 354
Großvater auf dem Rücken unter der Ulme am Dorfeingang neben Song Fanpings und Li Lans Gräbern, und beide sahen schweigend zu, wie die Sonne unterging und das letzte Abendrot am Westhimmel verglühte. Wenn der Bursche den Großvater, der ihm so leicht vorkam wie ein kleines Bündel Reisig, wieder zu Bett gebracht hatte, lag der alte Mann bewegungslos wie ein Toter da. Am nächsten Morgen aber öffnete er mit den ersten Strahlen der Morgensonne doch wieder langsam die Augen - das Lebenslicht glomm noch in ihm, obwohl er längst nicht mehr sprechen konnte und selbst zum Lächeln zu schwach war. In der Dämmerung des ihm vom Schicksal bestimmten Sterbetages, unter der Ulme am Grab seines Sohnes und seiner Schwiegertochter, hob der alte Grundbesitzer plötzlich den Kopf und lächelte. Song Gang konnte dieses Lächeln des Großvaters nicht sehen, weil er ihn ja auf dem Rücken trug, aber er hörte, wie der alte Mann ihm leise ins Ohr flüsterte: »Jetzt hat das Leid ein Ende.« Dann sank der Kopf des alten Grundbesitzers, der reglos wie ein Schlafender auf Song Gangs Rücken lag, auf dessen Schulter. Der Bursche stand ruhig da und sah zu, wie der Weg nach Liuzhen allmählich von der hereinbrechenden Nacht verschluckt wurde. Schließlich wandte er sich um und ging im Mondschein zurück ins Dorf. Es war, als baumele der Kopf des Großvaters im Rhythmus seiner Schritte hin und her. Zu Hause legte er den Alten wie gewohnt vorsichtig auf sein Bett und deckte ihn zu. In der Stille der Nacht öffnete der alte Grundbesitzer die Augen zweimal ein wenig, weil er seinen Enkel noch einmal sehen wollte, doch um ihn war nichts als tiefe Finsternis. Da schloss er seine Augen, um sie 355
nie wieder mit den ersten Strahlen der Morgensonne zu öffnen. Am nächsten Morgen stand Song Gang wie gewöhnlich auf, ohne zu merken, dass sein Großvater gestorben war. Noch bemerkte er es im Laufe des Tages, denn dass der Alte reglos und ohne zu essen oder zu trinken im Bett blieb, war inzwischen ein so vertrauter Anblick, dass er sich überhaupt nichts dabei dachte. Als er abends wie an jedem Tag den Großvater huckepack nahm, kam der ihm irgendwie steif vor. Der Kopf des Alten rutschte ihm von der Schulter, als er aus der Tür trat, sodass er hinter sich langte, um ihn zurechtzurücken. Während Song Gang mit seinem Großvater durch das Dorf ging, pendelte dessen Kopf wieder im Rhythmus seiner Schritte hin und her, fühlte sich jetzt auch ganz schwer und hart an, wie ein Stein. Am Dorfeingang angekommen, hatte Song Gang plötzlich ein schlimmes Vorgefühl, denn der pendelnde Kopf des Großvaters war noch mehrmals von seiner Schulter herabgerutscht, und wenn er nach hinten fasste, hatten seine Finger jedes Mal die kalten Wangen des Alten berührt. Er blieb unter der Ulme stehen und hielt seine Hand geraume Zeit unter die Nase des Großvaters: Kein Atem zu spüren! Nur seine eigene Hand wurde langsam kalt. Da wusste er, der Großvater war tatsächlich gestorben. Am Vormittag des nächsten Tages sahen die Dorfbewohner Song Gang mit gebeugtem Nacken von Haus zu Haus gehen. Mit der linken Hand stützte er seinen toten Großvater, den er auf dem Rücken trug, unter den rechten Arm hatte er eine zusammengerollte Binsenmatte geklemmt, und in der rechten Hand hielt er einen Spaten. »Großvater ist gestorben«, sagte er traurig zu den Leuten. 356
Die armen Verwandten des alten Grundbesitzers folgten dem Jungen zum Dorfeingang, und auch die anderen Dorfbewohner kamen und halfen ihm, die Binsenmatte auszubreiten, auf die er den Großvater ebenso vorsichtig bettete, wie er ihn sonst immer auf sein Bett gelegt hatte. Dann rollten mehrere von den Verwandten die Matte mit dem Toten zusammen und banden sie mit drei Seilen zu - das war der Sarg des alten Grundbesitzers. Ein paar Männer halfen beim Ausheben der Grube. Song Gang nahm das Mattenbündel mit dem toten Großvater in die Arme, trug es zu dem offenen Grab, ließ sich erst auf ein Knie, dann auch auf das andere nieder, legte seinen Großvater in die Grube, stand wieder auf, wischte sich die feuchten Augen und begann, den Toten mit Erde zu bedecken, während einige von den Frauen aus dem Dorf, die ihn so einsam und verlassen werken sahen, ihre Tränen nicht zurückhalten konnten und anfingen zu schluchzen. Nachdem er den alten Grundbesitzer neben dessen Sohn und Schwiegertochter begraben hatte, trauerte Song Gang vierzehn Tage lang. Anschließend begann er, seine Sachen zusammenzupacken, obwohl die neunundvierzigtägige Trauerzeit noch nicht um war. Die baufällige Hütte und die schäbigen Möbel überließ er den armen Verwandten. Einen Dorfbewohner, der in der Stadt zu tun hatte, bat er, Glatzkopf-Li auszurichten, er würde bald zurückkommen. Am Morgen des Abreisetages wachte Song Gang um vier Uhr auf. Er öffnete die Haustür, schaute zum Sternenhimmel hinauf und dachte, dass er gleich den Bruder wiedersehen würde. Eilig schloss er die Tür hinter sich und lief zum Dorfeingang, wo er einen Moment verharrte, um auf den vom 357
Mond beschienenen Weiler zurückzublicken, in dem er die letzten zehn Jahre zugebracht hatte. Er senkte den Kopf und schaute auf die drei Gräber, die älteren von Song Fanping und Li Lan und das frische des alten Grundbesitzers, mit dem er zehn Jahre lang auf Gedeih und Verderb verbunden gewesen war. Dann schlug er den mondhellen, menschenleeren Weg in die schlafende Stadt und zu Glatzkopf-Li ein, denn mit diesem würde er hinfort auf Gedeih und Verderb verbunden sein. Im Morgengrauen kam er mit seiner Reisetasche staubbedeckt und müde am Südtor unserer kleinen Stadt Liuzhen an, seiner alten und neuen Heimat. Es war dieselbe Tasche, die Li Lan nach Schanghai ins Krankenhaus mitgenommen und in der sie bei ihrer Rückkehr, als sie die Nachricht vom Tod ihres Mannes erhielt, vor dem Busbahnhof kniend die vom Blut des toten Song Fanping getränkte Erde geborgen hatte, dieselbe Tasche, in die sie später Song Gangs Kleidung und jene Tüte Karamellen Marke »Großer weißer Hase« gepackt hatte, als sie den Sohn zum Großvater aufs Land brachte. Jetzt enthielt die Tasche nichts als ein paar abgetragene Kleidungsstücke, Song Gangs ganzen Besitz. Als Knabe war er fortgegangen, als stattlicher Jüngling kehrte er nun heim - und stand vor verschlossener Tür! Auch Glatzkopf-Li, der ja inzwischen wusste, dass Song Gang an diesem Tag kommen würde, hatte in seiner Vorfreude ab vier Uhr nicht mehr geschlafen, sondern sich, sobald es hell wurde, auf den Weg zum Schlosser gemacht, um einen zweiten Hausschlüssel für den Bruder anfertigen zu lassen. Er konnte ja nicht ahnen, dass Song Gang schon zu nachtschlafender Zeit aufgebrochen war und in aller Frühe zu Hause ankom358
men würde. So musste dieser über zwei Stunden lang mit seiner Tasche vor der Tür ausharren, während Glatzkopf-Li seinerseits ein paar Straßen weiter wartete, dass der Schlosser endlich seinen Laden aufsperrte. Song Gang war zu jener Zeit schon genauso groß, wie sein Vater es gewesen war, hatte allerdings nicht dessen kräftige Statur, sondern war mager und blass. Aus seiner Kleidung war er längst herausgewachsen, die Jacke endete über der Taille, und Ärmel und Hosenbeine waren mit anders farbigem Stoff verlängert worden. Geduldig wartete er vor der verschlossenen Tür seines einstigen Elternhauses auf Glatzkopf-Lis Rückkehr, wechselte nur immer mal die Hand, in der er die Reisetasche trug, denn die wollte er nicht abstellen, weil sie dann womöglich schmutzig geworden wäre. Glatzkopf-Li sah Song Gang schon von weitem und eilte wie der Blitz zu ihm hin, doch dieser lange Lulatsch, der da mit seiner Reisetasche vor der Tür wartete und abwesend vor sich hin starrte, bemerkte überhaupt nicht, wie er sich von hinten an ihn anschlich! Erst als er ihn so kräftig in den Hintern trat, dass er bedenklich wankte, erkannte Song Gang den Bruder an seinem Gelächter. Es folgte eine freundschaftliche, wenn auch - buchstäblich! - viel Staub aufwirbelnde Kabbelei unter Brüdern, die sage und schreibe dreißig Minuten andauerte. Mal trat Glatzkopf-Li mit dem linken, mal mit dem rechten Fuß zu, mal war es ein »GottesanbeterinnenTritt«, mal ein Beinfeger, während Song Gang, immer noch seine Reisetasche umklammernd, hin und her hüpfte und sprang, um den Attacken des Bruders auszuweichen, gewissermaßen der Schild, der den Speer-Glatzkopf-Li abwehrt, das Ganze begleitet vom unbändigen Gelächter der wieder 359
vereinten Brüder. Erst lachten sie Tränen, dann lief ihnen der Rotz aus der Nase, und am Ende hatten sie sich im wahrsten Sinne des Wortes krumm- und schiefgelacht und standen nur noch da und husteten ab. Da endlich kramte der keuchende Glatzkopf-Li den nagelneuen Hausschlüssel aus der Tasche, drückte ihn dem Bruder in die Hand und rief: »Schließ auf!« Wie Unkraut, auf dem ständig herumgetrampelt und das wieder und wieder von Fahrzeugrädern überrollt wird, aber trotzdem weiter wächst, waren auch die bei den Brüder prächtig gediehen. Als Glatzkopf-Li die Mittelschule abschloss - das war genau zu der Zeit, da die Große Kulturrevolution beendet war und die Ära der Reformen und der Öffnung des Landes nach außen begann -, wollte zunächst kein Betrieb einen Taugenichts mit so einem schlechten Leumund einstellen. Am Ende war es Tao Qing, inzwischen stellvertretender Chef des Kreisamtes für Zivilangelegenheiten, der sich eingedenk des grausigen Endes von Song Fanping vor dem Busbahnhof und des Kotaus von Li Lan, bei dem sie sich die Stirn blutig geschlagen hatte, des Burschen erbarmte und ihn als Arbeiter in der dem Amt für Zivilangelegenheiten unterstehenden Geschützten Werkstatt einstellte, wo es insgesamt fünfzehn Mitarbeiter gab, außer Glatzkopf-Li noch zwei Hinkende, drei geistig Behinderte, vier Blinde und fünf Gehörlose. Song Gang war polizeilich nach wie vor in Liuzhen gemeldet, sodass er nach seiner Rückkehr in die Stadt ohne Weiteres eine Anstellung als Arbeiter in der Metallfabrik fand, der nämlichen Fabrik, in der Liu Chenggong - vielmehr: Schrift-
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steller Liu - als Leiter der Einkaufs- und Absatzabteilung amtierte. Die Brüder bekamen am selben Tag ihren ersten Monatslohn ausgezahlt. Song Gang, dessen Arbeitsplatz näher an der Wohnung lag, stand an der Tür und wartete auf Glatzkopf-Li, die rechte Hand in der Hosentasche, um die darin befindlichen achtzehn Yuan Renminbi, »Volksgeld«, zu sichern. (So aufregend war dieser erste Zahltag, dass die Hand schweißnass war.) Als Glatzkopf-Li, über das ganze Gesicht strahlend, endlich von der Arbeit heimkam, hatte auch er die rechte Hand in der Hosentasche, woraus Song Gang sofort schloss, dass er ebenfalls in seiner - gewiss gleichermaßen schweißnassen - Hand seinen Lohn umkrampfte. »Hast du ... ?«, rief er ihm entgegen. Glatzkopf-Li, der sah, wie freudig erregt der Bruder war, nickte und fragte seinerseits »Und du?«, woraufhin nun wiederum Song Gang nickte. Die beiden gingen ins Haus und schlossen hinter sich die Tür, als fürchteten sie, jemand könnte ihnen ihr Geld wegnehmen. Sogar die Fenstervorhänge zogen sie zu. Dann setzten sie sich gut gelaunt auf das Bett, um ihre Monatslöhne, sechsunddreißig schweißfeuchte Yuan, immer wieder zu zählen, Glatzkopf-Li mit vor Freude leuchtenden, Song Gang mit zu einem Schlitz verengten Augen. Song Gang war nämlich zu jener Zeit schon so kurzsichtig, dass er sich die Geldscheine mit beiden Händen ganz dicht unter die Nase halten musste, um überhaupt etwas zu sehen. Glatzkopf-Li schlug vor, beide sollten ihr Geld zusammenlegen, und Song Gang solle es verwalten. Der fand das auch ganz in Ordnung, schließlich war er der Ältere. Er schichtete die Scheine säu361
berlich aufeinander, faltete sie ordentlich zusammen, ließ den Bruder noch ein letztes Mal nachzählen, gönnte dann auch sich selbst ein weiteres Mal das Glücksgefühl des Geldzählens und sagte schließlich freudestrahlend: »So viel Geld habe ich noch nie gesehen!« Bei diesen Worten war er vom Bett aufgesprungen und hatte sich prompt den Kopf an einem Deckenbalken gestoßen. Er öffnete seine angestückelte Hose und verstaute das Geld sorgfältig in einer kleinen Innentasche seiner ebenfalls aus unterschiedlichen Stoffresten zusammengenähten Unterhose. Glatzkopf-Li staunte über das kunstvolle Täschchen und fragte Song Gang, wer es ihm genäht habe. Der antwortete, er selbst - genau wie die ganze Unterhose. Glatzkopf-Li staunte: »Waaas?! Bist du ein Mann oder eine Frau?« »Ich kann sogar Pullover stricken!«, antwortete Song Gang kichernd. Das Erste, was die Brüder sich an diesem ersten Zahltag gönnten, war ein Besuch im »Volksgasthof«, wo jeder eine Schüssel dampfende Brühnudeln verspeiste. Glatzkopf-Li hatte eigentlich Nudeln der drei Köstlichkeiten bestellen wollen, aber Song Gang war dagegen: Erst wenn sich ihr Leben später weiter verbessert habe, könne man an solchen Luxus denken. Das leuchtete auch Glatzkopf-Li ein, zumal er sich sagte, diesmal müsse er selbst und nicht irgendein Interessent für Lin Hongs Hintern seine Nudeln bezahlen. Also stimmte er zu, dass es bei Brühnudeln blieb. Song Gang ging zur Bezahltheke, band seine Hose auf und nestelte, die Augen fest auf die Frau hinter dem Tresen gerichtet, das Geld aus seiner Unterhose. Glatzkopf-Li, der danebenstand, grinste dreckig, aber die Kassiererin - eine Frau 362
zwischen vierzig und fünfzig - wartete mit ungerührter Miene, bis Song Gang fertig war; anscheinend erlebte sie so etwas nicht zum ersten Mal. Song Gang reichte ihr einen EinYuan-Schein und wartete, seinen Hosenbund zuhaltend, auf das Wechselgeld. Zwei Portionen Brühnudeln, das machte achtzehn Fen, also bekam er zweiundachtzig Fen heraus, einen Schein zu fünfzig, einen zu zwanzig und einen zu zehn Fen sowie eine Zwei-Fen-Münze. Er faltete die Geldscheine in der Reihenfolge ihres Nennwerts zusammen, verstaute sie samt der Münze in der Innentasche seiner Unterhose und band abschließend seine Hose wieder zu. Dann nahm er mit Glatzkopf-Li an einem freien Tisch Platz. Nach ihrem Mahl verließen die beiden, den Schweiß von der Stirn wischend, den »Volksgasthof« und gingen in das Stoffgeschäft »Rote Fahne«, wo sie dunkelblauen Baumwoll-Köper kauften. Dort war die Kassiererin ein Mädchen, das nicht viel älter als zwanzig sein konnte. Als Song Gang auch hier wieder die Hose aufknöpfte und die Hand in seiner Unterhose versenkte, wurde das Mädchen puterrot, zumal Glatzkopf-Li dreckig grinsend daneben stand. Sie drehte sich rasch weg und rettete sich in eine angeregte Unterhaltung mit ihrer Kollegin. Diesmal fummelte Song Gang besonders lange in seinem Innentäschchen herum, wobei er halblaut vor sich hin zählte, hatte aber, als er die Finger endlich herauszog, tatsächlich ganz genau den fälligen Betrag in der Hand. Während das Mädchen, immer noch mit rotem Kopf, das Geld entgegennahm, fragte Glatzkopf-Li den Bruder erstaunt: »Wo hast du denn das gelernt? Du bist doch kein Blinder!«
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Song Gang kniff seine kurzsichtigen Augen zusammen und blickte die Verkäuferin freundlich lächelnd an, während er sich die Hose zuband. Anscheinend bemerkte er ihre Schamröte überhaupt nicht. »Wenn du die Geldscheine ordentlich sortierst«, antwortete er dem Bruder, »dann weißt du immer, was für einen Nennwert der soundsovielte Schein hat.« Mit dem Stoff zogen die Brüder weiter zu Schneider Zhang, wo sie sich jeder einen Kader-Anzug, eine sogenannte MaoUniform, anmessen ließen und Song Gang zum dritten Mal seine Hose öffnete und sich zum dritten Mal in den Schritt fasste, um nach dem Geld zu suchen. Schneider Zhang, das Bandmaß um den Hals gehängt, sah interessiert zu und meinte schmunzelnd: »Also, Geld verstecken - das kannst du!« Als Song Gang ihm die Scheine reichte, hielt er sie sich unter die Nase. »Riechen ein bisschen nach Schwanz ... «, sagte er. Als die Brüder den Laden verlassen hatten, fragte der kurzsichtige Song Gang, der sich nicht sicher war, wie er Schneider Zhangs Bemerkung verstehen sollte: »Hat der wirklich an unserem Geld gerochen?!« Glatzkopf-Li wusste nun, wie nötig der Bruder eine Brille brauchte. Deshalb schlug er vor, zum Optiker zu gehen, aber Song Gang wollte davon nichts hören: Wenn es ihnen noch ein wenig besser gehe, meinte er, sei immer noch Zeit dafür. Eben, als es um Nudeln der drei Köstlichkeiten ging, hatte Glatzkopf-Li zugestimmt zu verzichten, jetzt aber blieb er stehen und schrie seinen Bruder an: »Wenn wir so lange warten, bist du blind!«
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Der plötzliche Ausbruch seines Bruders erschreckte Song Gang. Er kniff die Augen zusammen und stellte fest, dass zahlreiche Straßenpassanten neugierig stehen geblieben waren. Da bat er Glatzkopf-Li, ein wenig leiser zu sprechen. Der senkte tatsächlich die Stimme, zischte ihm aber wütend zu, sie seien geschiedene Leute, wenn er sich nicht noch heute eine Brille bestelle. Dann, wieder lauter, befahl er: »Los, wir gehen zum Optiker!« Sprach's, und schlug mit zielsicheren Schritten den Weg zum Brillenladen ein, den zaudernden Song Gang im Schlepptau. Jetzt gingen die beiden nicht neben-, sondern hintereinander, wie zwei, die sich gerade gestritten haben, Glatzkopf-Li in Siegerpose vornweg, während Song Gang dahinter die beleidigte Leberwurst spielte. Einen Monat später waren ihre dunkelblauen Kaderuniformen und auch Song Gangs schwarzgerahmte Brille fertig. Glatzkopf-Li hatte auf dem teuersten Modell bestanden, was Song Gang prompt Tränen in die Augen trieb, einerseits, weil es ihm um das viele Geld leid tat, andererseits, weil er über die Fürsorglichkeit seines Bruders gerührt war. Kaum aber hatte er die neue Brille aufgesetzt und das Geschäft verlassen, da schrie er vor Überraschung auf. »Ich sehe jetzt alles ganz klar!«, rief er voller Freude. Die Welt sähe aus wie frisch gewaschen, teilte er dem Bruder aufgeregt mit. Glatzkopf-Li meinte lachend, wo er doch nun vier Augen habe, würde er bestimmt als Erster mitkriegen, wenn ein hübsches Mädchen vorbeikomme, dann solle er ihm schnell ein Zeichen geben. Song Gang nickte grinsend und begann allen Ernstes, die Mädchen auf der Straße für Glatzkopf-Li abzuchecken. 365
Die beiden Burschen, die in ihren nagelneuen dunkelblauen Anzügen die Hauptstraße unserer kleinen Stadt Liuzhen entlanggingen, erregten ziemliches Aufsehen. Ein paar alte Männer, die am Straßenrand Go spielten, sperrten Mund und Nase auf, als sie die Brüder, die sie noch am Vortag abgerissen wie zwei Bettler erlebt hatten, plötzlich in der Uniform von Funktionären - mindestens Kreisebene! - wiedersahen. Zutiefst beeindruckt seufzten sie: »Ja, ja! Die Vergoldung macht den Buddha, und Kleider machen Leute!« Hochgewachsen und gut aussehend, wirkte Song Gang mit seinem dunklen Brillengestell wie ein Gelehrter, während der untersetzte Glatzkopf-Li trotz der Kader-Uniform irgendwie an einen Banditen erinnerte. Wenn sich die beiden Unzertrennlichen auf den Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen blicken ließen, dachten die alten Leute unweigerlich an zwei Mandarine, einen Zivil- und einen Militärbeamten. Die jungen Mädchen dagegen drückten sich weniger höflich aus. Für sie waren die beiden eher wie zwei Figuren aus dem Volksbuch »Die Pilgerfahrt nach dem Westen«: der heilige, aber leider etwas weltfremde Mönch San Zang und sein Begleiter, der vorlaute Rüpel Zhu Bajie mit dem Eberkopf. II Song Gang, der in aller Stille begonnen hatte, sich für Literatur zu begeistern, hatte größte Hochachtung vor Schriftsteller Liu, der als Leiter der Abteilung Einkauf und Absatz in derselben Metallfabrik arbeitete wie er. Auf Lius Schreibtisch stapelten sich die Literaturzeitschriften, und er liebte es, von Büchern und deren Machern zu schwadronieren und jeden in der Fabrik, den er zu fassen kriegte, mit hochgestochenem 366
Gewäsch gnadenlos zuzutexten. Das Dumme war nur, die Arbeiter verstanden ihn ums Verrecken nicht und glotzten ihn bloß blöd grinsend an. Untereinander rätselten sie, ob Schriftsteller Liu bei seinen Ausführungen über literarische Dinge sich vielleicht gar nicht der chinesischen, sondern einer fremden Sprache bediente. Denn sonst wäre es ja kaum zu erklären, dass man kein Wort verstand. Als das am Ende auch Schriftsteller Liu zu Ohren kam, bestand sein verächtlicher Kommentar nur aus einem Wort: »Banausen!« Dass jetzt ein echter Literaturfreund in der Fabrik arbeitete, war für ihn ein wahrer Glücksfall, da Song Gang nicht nur seinen Ansichten zu literarischen Fragen zu folgen vermochte, sondern ihm darüber hinaus geradezu ehrfürchtig lauschte und an den passenden Stellen nickte oder lachte. In seiner Begeisterung über die sich abzeichnende Seelenverwandtschaft ließ Schriftsteller Liu Song Gang gar nicht wieder los, wenn er ihn zu fassen bekam. Als er ihn einmal beim Pinkeln auf dem Klo traf, redete er dort geschlagene zwei Stunden auf ihn ein, wobei ihn weder der durchdringende Gestank noch das Ächzen und Stöhnen der Männer zu stören schien, die dort hockten und ihr Geschäft verrichteten. Seitdem Song Gang da war, kam er sich wie ein Literatur-Guru vor, ein Hochgefühl, das er angesichts all der Banausen um ihn herum vorher nie gekannt hatte. Bei denen konnte er sich den Mund fusselig reden, ohne dass sie auch nur eine Miene verzogen! Er begann, Song Gang die Zeitschriften auf seinem Schreibtisch zu leihen. Sorgfältig wischte er mit dem Ärmel den Staub von einer Nummer der Shouhuo, »Ernte«, ab und blätterte das Heft vor Song Gangs Augen Seite für Seite auf, 367
um ihm zu demonstrieren, dass es makellos und ohne Schmutzflecken oder Risse war. Genau so würde er die Zeitschrift auch bei der Rückgabe kontrollieren, kündigte er an. »Wenn du das Heft beschädigst, zahlst du Strafe!«, schloss er streng. Song Gang nahm Schriftsteller Lius Zeitschriften mit nach Hause und las sie begierig. Später begann er heimlich, selbst zu schreiben. Ein halbes Jahr brauchte er, um den Entwurf einer Erzählung zu Papier - wohlgemerkt: Altpapier - zu bringen: drei Monate für den Entwurf und noch einmal drei Monate für die Überarbeitung. Erst danach schrieb er das Ganze ins Reine, ordentlich auf Manuskriptpapier mit rotem Gitterkaro für die Schriftzeichen. Sein erster Leser war natürlich Glatzkopf-Li, der beim Anblick des Manuskripts erstaunt ausrief »So dick? «, und den Bruder geradezu ehrfürchtig ansah, nachdem er die Seiten durchgezählt hatte. »Dreizehn Seiten! Echt spitze!«, sagte er. Als er zu lesen begann, kam die nächste Überraschung: »Deine Schriftzeichen sehen ja toll aus!« Dann vertiefte er sich in die Lektüre. Song Gang, der ihn gespannt beobachtete, wartete vergeblich auf weitere überraschte Ausrufe, stellte aber fest, dass der Bruder immer nachdenklicher wurde. Er war sich keineswegs sicher, ob sein erstes Werk gelungen oder vielleicht doch eher wirr und unverständlich war. »Wie liest es sich denn?«, fühlte er vor. Als Glatzkopf-Li in seinem nachdenklichen Schweigen verharrte, war er vollends verunsichert. »Gefällt dir nicht, stimmt's?«, fragte er beklommen. Aber Glatzkopf-Li würdigte ihn immer noch keiner Antwort. Da ließ Song Gang alle Hoffnungen fahren - sein Bruder konnte nichts mit seinem 368
Werk anfangen, es war einfach schlecht geschrieben, das war jetzt klar! In diesem Moment öffnete Glatzkopf-Li plötzlich den Mund und sagte nur ein einziges Wort: »Prima!« Dann kam aber doch noch etwas: »Gut geschrieben!« Dies sei eine durchaus gelungene Erzählung, dozierte er, die zwar noch nicht ganz das Niveau von Lu Xun oder Ba Tin erreiche, aber allemal besser sei als die Machwerke von Schriftsteller Liu und Dichter Zhao. »Die sehen jetzt ganz schön alt aus!«, schloss er vergnügt. Song Gang war ebenso überrascht wie erfreut über dieses Urteil. Vor Aufregung konnte er abends nicht einschlafen und las, begleitet von Glatzkopf-Lis Schnarchen, seine Erzählung, die er doch längst auswendig hersagen konnte, noch fünfmal von vorn bis hinten durch. Je länger er sich damit beschäftigte, desto übertriebener kam ihm Glatzkopf-Lis Lob vor. Als Bruder konnte der selbstverständlich gar nicht umhin, sein Werk zu loben, dachte er. Andererseits ... Seine positive Einschätzung war ja nicht unbegründet, hatte er doch sogar mehrere Beispiele für besonders gut gelungene Passagen angeführt, die auch ihm selbst bei der wiederholten Lektüre gut gefallen hatten. Kurzum, Song Gang schöpfte neuen Mut und beschloss, seine Erzählung Schriftsteller Liu zur Begutachtung vorzulegen. Wenn auch der sie gut fände, wäre sie vielleicht wirklich nicht ganz so schlecht. Gesagt, getan. Als er am nächsten Tag hoch verlegen Schriftsteller Liu aufsuchte, hatte der gerade Toilettenpapier in der Hand, denn er musste dringend aufs Klo. Überrascht, dass sein Schüler jetzt selbst anfing zu schreiben, nahm er die dreizehn Seiten entgegen und setzte seinen Weg zur Toilette 369
fort, nicht ohne schon unterwegs mit der Lektüre zu beginnen. Mit der einen Hand die Hose öffnend, las er weiter und legte Song Gangs Werk auch nicht aus der Hand, während er grunzend und ächzend sein Geschäft verrichtete. Als er damit fertig war, hatte er auch die Geschichte zu Ende gelesen. Den nicht benutzten Rest seines Klopapiers und die Manuskriptseiten in der Hand, verließ er die Toilette und ging mit gerunzelter Stirn in sein Büro zurück. Den ganzen Vormittag verbrachte er damit, Song Gangs Erzählung zu redigieren. Mit dem Rotstift nahm er auf jeder Seite zahllose Korrekturen vor, und auf die letzte Seite, wo unter dem Text noch freier Platz war, schrieb er eine ausführliche Beurteilung. Als Song Gang nach Feierabend mit einem verlegenen Lächeln wieder an der Tür stand, bedeutete Schriftsteller Liu ihm mit einer auffordernden Geste näher zu treten. Mit ernster Miene überreichte er ihm sein Manuskript. »Was ich zu sagen habe, steht alles hier«, sagte er. Song Gang fiel sofort das Herz in die Hose, als er die über und über rot markierten Seiten erblickte. So schlecht also war seine Erzählung! Schriftsteller Liu zog gönnerhaft ein eigenes Werk aus seiner Schreibtischschublade. Feierlich, als wäre es ein kostbarer Schatz, überreichte er es Song Gang mit den Worten: »Schau dir vielleicht mal an, wie ich schreibe!« Am Abend las Song Gang sein Manuskript mit den Verbesserungen von Schriftsteller Liu sowie dessen abschließendes Urteil mehrmals gründlich durch, wurde aber beim besten Willen nicht daraus schlau. Was wollte Liu ihm eigentlich sagen? Genauso erging es ihm mit dessen eigener Erzählung, die er ebenfalls mehrmals las, ohne dass er hätte sagen können, worin ihre Qualitäten bestanden. 370
Glatzkopf-Li, der sah, wie sein Bruder vor lauter Versunkenheit Essen und Schlafen vergaß, rückte mit seinem Schemel neugierig näher und warf zunächst einen Blick auf Schriftsteller Lius Gesamteinschätzung der Erzählung seines Bruders. »Was für ein Quatsch!«, rief er. Dann nahm er sich Lius neues Werk vor, das ebenso wie Song Gangs Erzählung auf genormtem Manuskriptpapier geschrieben war. Er wedelte die sechs Seiten geringschätzig hin und her - »So wenig?« - und vertiefte sich in die Lektüre. Schon nach den ersten Seiten warf er das kostbare Werk jedoch beiseite. »So was von langweilig! Lohnt überhaupt nicht«, befand er. Dann ging er gähnend zu Bett und begann sogleich zu schnarchen. Gewissenhaft, wie er war, beschäftigte sich Song Gang weiter mit den Verbesserungen Lius und mit dessen neuer Erzählung, wurde jedoch aus den Korrekturen beim besten Willen nicht schlau. Das abschließende Gesamturteil war im Grunde ein Totalverriss; lediglich ganz zum Schluss hatte sich Schriftsteller Liu ein paar ermutigende Worte abgerungen. Bei aller Enttäuschung tröstete Song Gang sich damit, dass gute Medizin nun einmal bitter schmecken müsse; immerhin hatte Liu Zeit und Mühe für ihn aufgewendet. Und da bekanntlich eine Hand die andere wäscht, fühlte er sich bemüßigt, auf der letzten Seite unter dem Text von dessen neuem Opus ebenfalls eine Einschätzung zu Papier zu bringen. Er begann mit ein paar lobenden Worten und wies erst zum Schluss auf gewisse Unzulänglichkeiten hin. Anders als Schriftsteller Liu, dessen Kritik von ausgestrichenen Wörtern und sonstigen Verbesserungen wimmelte, schrieb er seine eigene Rezension zunächst auf Schmierpapier ins Un371
reine, überarbeitete sie sorgfältig und kopierte sie erst ganz zum Schluss auf die letzte Seite von Lius Manuskript. Als er am nächsten Tag gleich bei Arbeitsbeginn Schriftsteller Liu sein Werk zurückgab, saß dieser mit übereinandergeschlagenen Beinen auf seinem Stuhl und wartete lächelnd auf Song Gangs Elogen. Doch der sagte völlig unerwartet: »Meine Meinung habe ich auf der letzten Seite zu Papier gebracht.« Mit einem Mal ganz ernst, schaute Schriftsteller Liu sofort dort nach: Tatsächlich! Da hatte dieser Song Gang doch nicht nur eine Beurteilung in sein kostbares Manuskript geschrieben, sondern obendrein auch noch auf bestimmte Schwächen hingewiesen! Er bekam einen regelrechten Wutanfall, sprang erregt auf, schlug auf den Tisch und schrie Song Gang vor Zorn stotternd an: »Du - du - du ... ! Wie kannst du es wagen, jemandem wie mir ans Bein zu pinkeln!« Song Gang, der überhaupt nicht wusste, wie ihm geschah und warum der andere so wütend war, stammelte: »Aber wieso denn? ... « Schriftsteller Liu hielt ihm die letzte Seite seines Manuskripts unter die Nase: »Da! Was ist das?« »Da habe ich meine Meinung hingeschrieben ... «, entgegnete Song Gang beunruhigt. Außer sich vor Wut, schleuderte Schriftsteller Liu sein Werk auf den Fußboden, nur um es sofort wieder aufzuheben. Die Blätter streichelnd, als wolle er sie um Vergebung bitten, fuhr er zugleich fort, Song Gang anzuschreien: »Wie kannst du es wagen, in meinem Manuskript herumzuschmieren!«
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Endlich fiel bei Song Gang der Groschen. Jetzt ebenfalls ärgerlich, erwiderte er: »Du hast ja auch in meinem Manuskript herumgeschmiert.« Schriftsteller Liu erstarrte. Nunmehr erst recht fuchsteufelswild, bearbeitete er seinen Schreibtisch mit den Fäusten. »Was glaubst du, wer du bist?«, schrie er. »Und wer ich bin? Dein Scheißmanuskript! Wenn ich da drauf geschissen und gepinkelt hätte, wär's noch zu viel der Ehre gewesen, du verdammter Mutterficker!« Jetzt geriet Song Gang ebenfalls in Wut. Er ging auf Schriftsteller Liu zu und rief: »Lass meine Mutter aus dem Spiel, hörst du! Wenn du meine Mutter beschimpfst-« »Ja? Was machst du dann, hä?«, unterbrach ihn der andere. Er hatte schon die Fäuste geballt, doch gleich darauf ließ er sie in Anbetracht der Tatsache, dass Song Gang einen halben Kopf größer war, lieber wieder sinken. »Dann verprügele ich dich!«, antwortete Song Gang nach kurzem Zögern. »Dass ich nicht lache!«, schrie Schriftsteller Liu. In seiner Empörung über den sonst so respektvollen, ja ehrerbietigen Song Gang, der es jetzt wagte, ihm Prügel anzudrohen, griff er nach dem Fläschchen mit roter Tinte auf seinem Schreibtisch und schleuderte es ihm ins Gesicht. Im Nu waren Song Gangs Brille, Gesicht und Kleidung rot gefärbt. Song Gang nahm die Brille ab und verstaute sie in seiner Brusttasche, dann näherte er sich Schriftsteller Liu mit gespreizten Händen, als wolle er ihn erwürgen, wurde aber von den herbeigeeilten Mitarbeitern der Abteilung Einkauf und Absatz daran gehindert und vor die Tür bugsiert, während Schriftsteller Liu, der sich in einer Ecke seines Büros in Sicherheit ge373
bracht hatte, zeterte, seine Untergebenen sollten Song Gang aufs Polizeirevier schaffen. Die brachten ihn jedoch nicht zur Polizei, sondern in seine Werkhalle zurück, wo er, mit rotem Kopf, von dem immer noch Tinte herunterlief, auf eine Bank sank. Um ihn herum standen die Mitarbeiter der Einkaufs- und Absatzabteilung, die ihn zu beruhigen versuchten, sowie seine ebenfalls zusammengelaufenen Kollegen, die wissen wollten, was geschehen sei. Die Männer aus Schriftsteller Lius Abteilung schilderten den gesamten Hergang haarklein, waren allerdings weniger auskunftsfähig, als jemand fragte, worum es bei der Auseinandersetzung eigentlich gegangen sei. »Irgendwas mit Literatur. Aber davon verstehen wir nichts«, sagten sie kopfschüttelnd. Song Gang saß stumm daneben. Wie konnte Schriftsteller Liu, sonst immer betont vornehm und kultiviert, plötzlich so ausfällig werden wie der allerschlimmste Hausdrachen? Schlimmere Schimpfwörter im Munde führen als der letzte Bauer zu Hause im Dorf? Er konnte sich überhaupt nicht mehr beruhigen - so etwas durfte sich niemand erlauben, die Bauern in seinem Dorf nicht, und Schriftsteller Liu erst recht nicht! Nachdem die anderen endlich weg waren, ging er zum Ausguss und säuberte erst seine Brille und dann auch sein Gesicht, das unter der roten Tinte totenbleich war. Totenbleich kehrte er an seinen Arbeitsplatz zurück, und totenbleich kam er in der Mittagspause zu Hause an. Als Glatzkopf-Li wenig später auch kam und den Bruder mit finsterem Gesicht und besudelter Kleidung - die rote Tinte hatte Muster wie eine Landkarte gebildet - am Tisch sitzen fand, erkundigte er sich, was vorgefallen sei. Als Song Gang 374
mit seinem Bericht fertig war, verließ Glatzkopf-Li ohne ein Wort das Haus und stapfte, an seinem ganzen stämmigen Körper bebend, davon. Er wusste, in welcher Gasse Schriftsteller Liu wohnte, dieser Kerl, der es nicht einmal merkte, wenn jemand es gut mit ihm meinte! Dem würde er es jetzt zeigen! Als er auf die Hauptstraße kam, sah er den Gesuchten, der eben mit einer Flasche in der Hand um die Ecke bog, um im Auftrag seiner Frau Sojawürze zu kaufen. Glatzkopf-Li blieb stehen und schrie: »Hey, Knirps! Komm mal her!« Schriftsteller Liu kam diese Aufforderung irgendwie bekannt vor. Als er sich umdrehte und Glatzkopf-Li kampflustig auf der anderen Straßenseite stehen sah, fiel ihm ein, dass er zusammen mit Dichter Zhao - und auch Sun Wei - als Halbstarker Glatzkopf-Li häufig mit ebendiesen Worten zu sich beordert hatte, um ihn mit einem Beinfeger aufs Kreuz zu legen. Ihm war sofort klar, dass Glatzkopf-Li ihn wegen der Sache mit Song Gang sprechen wollte. Nach kurzem Zögern ging er mit seiner Flasche über die Straße. Glatzkopf-Li empfing ihn mit einer wüsten Schimpfkanonade: »Du verdammter Bastard! Wieso kippst du Scheißkerl Tinte über meinem Bruder aus? Du bist wohl lebensmüde, oder was?« Schriftsteller Liu zitterte vor Zorn. Dass er auf Song Gang nicht mit Fäusten losgegangen war, lag einzig und allein daran, dass der einen halben Kopf größer war. Dieser GlatzkopfLi aber, der war einen halben Kopf kleiner als er - von dem hatte er nichts zu befürchten. Er wollte sich eigentlich mit ein paar passenden Schimpfwörtern revanchieren, überlegte es sich dann jedoch anders. Vor den inzwischen versammel375
ten neugierigen Passanten wollte er lieber nicht aus der Rolle fallen. Stattdessen sagte er von oben herab: »Befleißige dich gefälligst einer weniger schmutzigen Ausdrucksweise, ja?« Glatzkopf-Li lachte höhnisch auf, packte mit der linken Hand Schriftsteller Lius Jacke und hielt ihm die zur Faust geballte Rechte unter die Nase. »Meine Ausdrucksweise? Ja, die ist schmutzig!«, schrie er. »Und deine saubere Fresse, die wird auch gleich schmutzig sein!« Angesichts dieser Furchtlosigkeit bekam es Schriftsteller Liu mit der Angst zu tun. Glatzkopf-Li war zwar kleiner, aber auch ziemlich stämmig ... Gern hätte er sich seinem Griff entwunden, andererseits wollte er vor all diesen Zuschauern sein Schriftsteller-Image nicht aufs Spiel setzen und tippte deshalb Glatzkopf-Li nur ganz leicht mit der flachen Hand auf die Finger, in der Hoffnung, er würde von allein loslassen. Dazu sprach er: »Ich als Intellektueller habe keine Lust, mich mit dir anzulegen -« »Aber ich! Gerade Intellektuelle verkloppe ich besonders gern!« Und schon knallte Glatzkopf-Lis Faust einmal, zweimal, dreimal, viermal mit voller Wucht in Lius Gesicht, dass dessen Kopf nur so hin und her flog. Einmal in Fahrt, legte Glatzkopf-Li gleich noch ein fünftes, sechstes, siebtes und achtes Mal nach, sodass nunmehr der ganze Schriftsteller hin und her flog und schließlich kniend zu Boden ging, nur um von Glatzkopf-Lis Linker sogleich wieder hochgerissen zu werden und sich den neunten, zehnten, elften und zwölften Fausthieb einzufangen. Die Flasche mit Sojawürze fiel klirrend zu Boden und mit ihr der ganze Schriftsteller, einer Ohnmacht nahe. Aber Glatzkopf-Li riss ihn abermals hoch, um sein Gesicht weiter mit der Faust zu bearbeiten, als wäre 376
es ein Sandsack zum Üben. Die Augen zugeschwollen, Mund und Nase von Blut triefend, erinnerte Schriftsteller Liu an das Opfer eines Verkehrsunfalls, nachdem Glatzkopf-Lis Faust insgesamt achtundzwanzigmal in seinem Gesicht gelandet war. Als Glatzkopf-Li am Ende nicht mehr genug Kraft in seiner linken Hand hatte, um Liu weiter aufrecht zu halten, sank dieser wie ein Sandsack in sich zusammen, aber ehe er vollends am Boden lag, packte Glatzkopf-Li ihn mit der Linken blitzschnell von hinten am Kragen, sodass er nun kniete. »Schaut ihn euch an, den Intellektuellen!«, sagte GlatzkopfLi hohnlachend zu den Umstehenden und fing an, den Rücken des Schriftstellers mit seiner Faust zu bearbeiten. Elfmal hintereinander schlug er zu, bis Lius schrille Schmerzensschreie allmählich in ein dumpfes Geheul übergingen. Erstaunt fragte Glatzkopf-Li die Zuschauer: »Habt ihr das gehört? Der Intellektuelle singt ein Arbeitslied!« Als mache er ein wissenschaftliches Experiment, boxte er Schriftsteller Liu noch einmal in den Rücken und lauschte auf dessen Schmerzenslaute, die tatsächlich an das »Hejyoh!« einer Kolonne Arbeiter erinnerten. Fünfmal schlug er noch zu, jedes Mal mit dem gleichen Ergebnis, als hätte er sich mit seinem Opfer vorher abgesprochen. Ganz aufgeregt wandte sich Glatzkopf-Li wieder an die Umstehenden: »Endlich merkt man wieder, dass er ein Werktätiger ist. Ich hab das aus ihm rausgeprügelt!« Inzwischen selbst schweißüberströmt, ließ Glatzkopf-Li den Schriftsteller schließlich los. Der sackte sogleich in sich zusammen und blieb wie ein abgestochenes Schwein bewegungslos auf der Erde liegen. Glatzkopf-Li wischte sich den 377
Schweiß von der Stirn und verkündete befriedigt: »Für heute soll's das gewesen sein!« Dann fiel ihm etwas ein: Da gab es doch noch einen weiteren Intellektuellen, Dichter Zhao, Schriftsteller Lius alten Kumpan ... »Dieser Dichter Zhao«, sagte er zu den Umstehenden, »das ist noch so ein Intellektueller. Ihr könnt ihm ausrichten, er kriegt auch seine Abreibung von mir, spätestens in sechs Monaten, damit man wieder merkt, dass er ein Werktätiger ist.« Mit diesen Worten verließ er triumphierend den Ort des Geschehens. Schriftsteller Liu, der nach Glatzkopf-Lis achtundzwanzig rechten Geraden mit blutüberströmtem Gesicht wie bewusstlos unter einer Ulme am Straßenrand lag, war Gegenstand lebhafter Diskussionen unter den zahlreichen Schaulustigen, die neugierig einen Augenblick stehen blieben und dann weitergingen, ohne etwas zu unternehmen. Endlich, nach Beendigung der Mittagspause, sahen ein paar Arbeiter aus der Metallfabrik auf dem Weg zurück zur Arbeit ihren Abteilungsleiter dort liegen, blutüberströmt, mit verdrehten Augen und zu einem blöden Grinsen verzerrtem Mund, und brachten ihn schleunigst ins Krankenhaus. Auf der Bahre in der Notaufnahme beteuerte Schriftsteller Liu immer wieder, nicht Glatzkopf-Li habe ihn so zugerichtet, sondern Li Kui. Die Arbeiter, die ihn eingeliefert hatten, wussten nicht, worauf er hinauswollte. »Welcher Li Kui?«, fragten sie ihn. Hustend und Blut spuckend, keuchte Schriftsteller Liu: »Li Kui aus >Die Räuber vom Liangshan-Moor<.« Der sei doch aber im Buch und nicht in Liuzhen, wandten die Männer verwundert ein. Schriftsteller Liu nickte: Jawohl, 378
aber Li Kui sei dem Buch entsprungen, um ihn zu verprügeln. Die Arbeiter mussten lachen. Warum sollte er das tun?, wollten sie wissen. Schriftsteller Liu nutzte die Gelegenheit, um den im Volk so beliebten sagenhaften Helden ein bisschen schlecht zu machen: Li Kui sei eben ein tollkühner Wirrkopf, der vielleicht viele Muskeln, aber nur wenig Grips habe. Den habe man einfach falsch informiert, da sei er am falschen Ort aufgetaucht und habe die falsche Person verprügelt. Schriftsteller Liu hustete noch ein bisschen, spuckte noch ein wenig Blut und schloss mit schwacher Stimme: »Glatzkopf-Li! So einer könnte es doch mit mir überhaupt nicht aufnehmen!« Die Arbeiter aus der Metallfabrik kriegten es mit der Angst zu tun. Besorgt fragten sie den Arzt, ob es sein könnte, dass ihr Abteilungsleiter übergeschnappt sei. Der Arzt beruhigte sie aber und meinte, ganz so schlimm sei es nun auch wieder nicht. Es handele sich vielmehr um eine besondere Art von paranoider Wahrnehmung infolge erlittener Schläge. »Wenn er morgen früh aufwacht, ist alles wieder gut«, sagte er. Als Glatzkopf-Lis großspurige Ankündigung, sein nächstes Opfer werde Dichter Zhao sein, diesem zu Ohren kam, wurde er vor Wut blass und schnaufte ein paarmal verächtlich durch die Nase, was sich anhörte, als furze er. Obwohl er normalerweise Kraftausdrücke vermied, entfuhr ihm jetzt ein solcher: »Dieser verdammte kleine Bastard!« Jedem Bewohner unserer kleinen Stadt Liuzhen, den er zu fassen kriegte, erzählte er, wie er diesen Kerl seinerzeit, also vor elf, zwölf Jahren, unzählige Male mit seinen Beinfegern aufs Kreuz gelegt habe, sodass der heulend und sich überschla379
gend auf seinem Hintern die halbe Straße hinuntergeschlittert sei. Abschaum!, Abschaum sei der Kerl!, sagte er. Seit er von ihm - Dichter Zhao - dabei ertappt wurde, wie er im zarten Alter von vierzehn Jahren auf der öffentlichen Toilette Frauenärsche ausspionierte, hasse er ihn und warte nur auf eine Gelegenheit, sich zu rächen. Während er sich daran erinnerte, wie er mit Glatzkopf-Li damals im Triumph durch die Straßen paradierte, hatten sich Dichter Zhaos Wangen wieder gerötet. Auch seine Stimme klang jetzt wieder sonorer. Als dann jedoch jemand sagte, Glatzkopf-Li habe angekündigt, ihn zu verprügeln, damit man endlich merke, er sei ein Werktätiger, wurde er abermals blass vor Wut. Mit vor Zorn bebender Stimme rief er: »Ich werde ihn verprügeln, ihr werdet es schon sehen! Einen Intellektuellen werde ich aus diesem Werktätigen machen! Ich prügele ihn windelweich, dann wird er nie wieder zotige Ausdrücke benutzen! Respekt bringe ich ihm bei, Achtung vor dem Alter und vor Minderjährigen! Kultur! Genau, Kultur werde ich in den hineinprügeln!« Jemand von den Zuhörern wandte schmunzelnd ein: »Aber dann erreichst du am Ende mit deinen Prügeln, dass ein >Dichter Li< aus ihm wird.« Dichter Zhao stutzte. »Das würde mir dann auch nichts mehr ausmachen«, murmelte er, etwas lahm. So großspurig er in der Öffentlichkeit dahergeredet hatte, so nachdenklich, ja beunruhigt war er jedoch zu Hause, in seinen eigenen vier Wänden. Angenommen, es gäbe einen Kampf zwischen ihm und Schriftsteller Liu, überlegte er, so einen richtig großen Kampf mit zig Runden, dann wäre er, Dichter Zhao, ihm wahrscheinlich ein kleines bisschen über380
legen - wobei selbst das keineswegs sicher wäre -, GlatzkopfLi aber hatte Schriftsteller Liu nicht die Spur einer Chance gelassen, sondern ihn so übel zugerichtet, dass er plötzlich paranoide Wahnvorstellungen hatte, seinen Gegner für Li Kui hielt und sich so zum Gespött der ganzen Stadt machte! Was, wenn es ihm - Dichter Zhao - genauso erginge? Oder sogar noch schlimmer? Dieser Teufelsbraten, dieser Glatzkopf-Li, der kannte ja keine Skrupel, obwohl er so ein nichtsnutziger Milchbart war. Der schlug ohne Rücksicht auf Verluste einfach so zu - achtundzwanzigmal habe er Schriftsteller Liu seine Faust ins Gesicht geknallt, hieß es! Bei ihm selbst, dachte Dichter Zhao, würde er womöglich nicht achtundzwanzig-, sondern zweiundachtzigmal zuschlagen und ihm nicht bloß paranoide Wahnvorstellungen verschaffen, sondern ihn für sein ganzes weiteres Leben zum Schwachkopf oder Paranoiker machen ... Das Ergebnis all dieser Überlegungen war, dass Dichter Zhao es von da an nach Möglichkeit vermied, sich in der Öffentlichkeit blicken zu lassen. Wenn es sich gar nicht vermeiden ließ, lief er wachsam wie ein Späher oder Kundschafter durch die Straßen und hatte die Augen und Ohren überall, um gegen eventuelle Aktivitäten des Feindes - Glatzkopf-Li gewappnet zu sein und im Notfall rasch in einer kleinen Seitengasse Unterschlupf suchen zu können. Schriftsteller Liu wurde nach zwei Tagen aus dem Krankenhaus entlassen, hütete aber noch einen ganzen Monat lang zu Hause das Bett. Für Glatzkopf-Li hatte die Sache keine Folgen, außer dass Tao Qing ihn zu sich ins Amt für Zivilangelegenheiten bestellte und ihm eine Standpauke hielt. Wenn er später gefragt wurde, warum er Schriftsteller Liu verprügelt 381
und aus einem Intellektuellen einen schlichten Werktätigen gemacht habe, stritt er grinsend alles ab und behauptete: »Das war gar nicht ich, das war Li Kui!« Song Gang nahm es sich sehr zu Herzen, dass sein Bruder den Schriftsteller krankenhausreif geschlagen hatte. Er hatte sich an jenem Tag zwar selber sehr über Liu geärgert, aber dass Glatzkopf-Li ihn so übel zugerichtet hatte, fand er auch wieder nicht richtig. Eigentlich hatte er vor, Schriftsteller Liu einen Krankenbesuch abzustatten, doch fürchtete er, Glatzkopf-Li könnte verstimmt sein, und ließ es bleiben. Erst als abzusehen war, dass Schriftsteller Liu sich auf dem Wege der Besserung befand und in Kürze wieder auf seinen Posten in der Abteilung Einkauf und Absatz der Metallfabrik zurückkehren würde, hatte Song Gang das Gefühl, er dürfe seinen Besuch nun nicht länger aufschieben. Nach langem Zögern kam er endlich zur Sache. »Man müsste Schriftsteller Liu einmal besuchen ... «, sagte er. Glatzkopf-Li wedelte mit der Hand und erwiderte: »Tu's, wenn du es für richtig hältst. Aber lass mich aus dem Spiel.« Song Gang druckste weiter herum: Da der Mann zusammengeschlagen worden sei, müsste man ihm vielleicht irgendetwas mitnehmen, wenn man ihn besuche ... Glatzkopf-Li wusste nicht, worauf er hinauswollte: »Du stotterst so herum - was willst du eigentlich sagen? «, fragte er. Da musste Song Gang mit der Sprache herausrücken: Er hatte vor, ein paar Äpfel für Schriftsteller Liu zu kaufen. Glatzkopf-Li lief das Wasser im Munde zusammen, denn er hatte noch nie einen Apfel gegessen. Das sprach er auch aus. »Außerdem - hältst du es wirklich für gut, diesen Werktäti382
gen so zu verwöhnen?«, fügte er hinzu. Als er jedoch sah, wie unglücklich der Bruder dreinschaute, der stumm und mit gesenktem Kopf am Tisch saß, gab er sich einen Ruck. Song Gangs Schulter tätschelnd, sagte er: »Also gut, kauf ein paar Äpfel und besuche diesen Werktätigen!« Song Gang lächelte dankbar, aber Glatzkopf-Li sagte kopfschüttelnd: »Um die Äpfel geht es mir überhaupt nicht. Ich befürchte etwas ganz anderes: Mich hat es ganz schön Kraft gekostet, ihn so zu vermöbeln, damit man wieder merkt, dass er ein Werktätiger ist. Wenn er jetzt Äpfel zu essen kriegt, ist das womöglich alles für die Katz, und er fühlt sich wieder als Intellektueller.« Die im Obstladen erworbenen fünf Äpfel brachte Song Gang erst einmal nach Hause. Den größten, schön rotbackigen legte er für Glatzkopf-Li beiseite, die übrigen packte er in seine alte Schultasche. Dann machte er sich, den Ranzen auf dem Rücken, auf den Weg zu Schriftsteller Liu. Der unterhielt sich gerade im Hof mit einem Nachbarn, denn er war ja längst wieder gesund. Als er jedoch hörte, wie Song Gang sich vor dem Hoftor erkundigte, wo er wohne, ließ er den Nachbarn stehen, lief schnell ins Haus und legte sich auf sein Bett. Song Gang, der ganz behutsam, um den Patienten nicht zu erschrecken, das Zimmer betrat, fand ihn mit geschlossenen Augen auf seinem Krankenlager ausgestreckt. Als er näher trat, öffnete Schriftsteller Liu müde die Augen, schloss sie aber nach einem Moment gleich wieder. Song Gang wartete einen Augenblick, dann sagte er leise: »Entschuldige bitte.«
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Schriftsteller Liu machte abermals die Augen auf und warf einen Blick auf Song Gang, dann fielen ihm die Augen wieder zu. Song Gang blieb unschlüssig stehen. Schließlich packte er die vier Äpfel aus und legte sie auf den Tisch vor dem Bett. »Ich habe hier ein paar Äpfel für dich hingelegt«, flüsterte er. Kaum hatte Schriftsteller Liu das Wort »Äpfel« gehört, riss er nicht nur die Augen auf, sondern gewissermaßen den ganzen Körper: Er fuhr aus dem Bett hoch, sah die Früchte auf dem Tisch und begann, übers ganze Gesicht zu strahlen. »Wirklich nett von dir!«, sagte er. Sprach's, und griff sich einen Apfel, wischte ihn flüchtig am Bettlaken ab und biss gierig hinein, dass es schmatzte. Glücklich lächelnd, sodass die Augen nur noch schmale Schlitze waren, mahlte er Bissen für Bissen. Selbst beim Hinunterschlucken schmatzte er noch. Wie Glatzkopf-Li vorausgesagt hatte, kam nach dem Genuss schon eines einzigen Apfels sogleich wieder der Intellektuelle in Schriftsteller Liu zum Vorschein: Als wäre zwischen ihnen überhaupt nichts vorgefallen, unterhielt er sich mit Song Gang wie eh und je äußerst angeregt über sein großes Thema, die Literatur. III Ein halbes Jahr war vergangen, ohne dass Glatzkopf-Li Gelegenheit gehabt hätte, den Werktätigen in Dichter Zhao durch eine Tracht Prügel wieder ans Licht zu holen, wie er es den Bewohnern von Liuzhen angekündigt hatte. In Wahrheit hatte er sein diesbezügliches Gelöbnis total vergessen, denn es
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gab anderes, Wichtigeres, zu bedenken: Glatzkopf-Li war jetzt der Chef in der Geschützten Werkstatt. Als er dort angefangen hatte, bekleideten die beiden Hinkebeine die Funktionen des Leiters und Stellvertretenden Leiters, doch keine sechs Monate später waren sie es, die mit größter Bereitwilligkeit Glatzkopf-Lis Anweisungen befolgten. Der neue Chef war zu jener Zeit noch nicht einmal zwanzig Jahre alt. Die Geschützte Werkstatt war von Tao Qing quasi im Alleingang ins Leben gerufen worden. Er hatte gehofft, auf diese Weise den Lebensunterhalt der beiden Hinkenden, drei geistig Behinderten, vier Blinden und fünf Gehörlosen sichern zu können. Zu seinem Leidwesen musste er feststellen, dass die Werkstatt nicht nur keinen Gewinn erwirtschaftete, sondern Jahr für Jahr Verluste machte und von seinem Amt für Zivilverwaltung sogar noch subventioniert werden musste. Da die finanziellen Mittel, die Tao als dafür Zuständiger zur Verfügung hatte, ohnehin knapp bemessen waren, musste er alljährlich »die östliche Wand niederreißen, um die westliche zu reparieren«. Dass er Glatzkopf-Li dort einen Arbeitsplatz verschafft hatte, verdankte dieser, wie wir wissen, Li Lans denkwürdigem Kotau. Tao Qing hatte dabei nicht im Traum mit der Möglichkeit gerechnet, dass die Geschützte Werkstatt schon im ersten Jahr von Glatzkopf-Lis dortiger Tätigkeit schwarze Zahlen schreiben und sowohl die Löhne für die vierzehn Behinderten erwirtschaften als auch bei der vorgesetzten Behörde einen Profit von 57224 Yuan abliefern würde. Noch erstaunlicher war das Betriebsergebnis im darauffolgenden Jahr, wo Tao Qing sich über einen Reingewinn von sage und 385
schreibe 150000 freuen konnte, also durchschnittlich 10 000 pro Beschäftigten. Hocherfreut bestellte der Kreisvorsteher ihn zu sich und erklärte, Tao Qing sei mit Sicherheit der erfolgreichste Leiter (!) eines Amtes für Zivilverwaltung im ganzen Land. Dann bat er ihn vertraulich, einen Teil des von der Geschützten Werkstatt abgeführten Gewinns für den Kreis abzuzweigen, damit bestimmte Finanzlöcher an anderer Stelle gestopft werden könnten. Nachdem Tao Qing zum Dank als Chef des Amtes für Zivilverwaltung bestellt worden war, beschloss er, bei Gelegenheit einmal in der Geschützten Werkstatt, die er schon mehrere Jahre nicht mehr aufgesucht hatte, vorbeizuschauen. Er kam gerade von einer Sitzung und wollte sich ein wenig die Beine vertreten und machte einen Spaziergang dorthin. Er wusste längst, dass die bei den Hinkebeine sich um nichts kümmerten und nur noch dem Namen nach Leiter waren, Glatzkopf-Li aber der wahre Chef war. Er hatte auch gehört, dass Glatzkopf-Li keine sechs Monate nach seiner Ankunft in der Geschützten Werkstatt mit den beiden Hinkenden, den drei geistig Behinderten, den vier Blinden und den fünf Gehörlosen ins Fotoatelier gezogen war, um ein Gruppenbild machen zu lassen, mit dem er anschließend nach Schanghai fuhr. In Schanghai lief er zwei Tage von Geschäft zu Geschäft und von Firma zu Firma, zeigte überall das Gruppenbild herum und erklärte den jeweiligen Leitern, welches die Hinkenden, welches die geistig Behinderten, welches die Blinden und welches die Gehärlosen waren. Am Ende deutete er stets auf sein eigenes Konterfei und schloss mit den Worten: »Der da ist der Einzige, der nicht hinkt und weder geistig behindert noch blind oder taub ist.« 386
Überall war man voller Mitleid, und als Glatzkopf-Lis zehn Dampfnudeln, mit denen er sich in Mutter Sus Imbissladen vor seiner Abreise vorsorglich verproviantiert hatte, aufgegessen waren, hatte er tatsächlich einen langfristigen Vertrag mit einer großen Firma über die Lohnfertigung von Kartons in der Tasche. Damit begann der grandiose Aufstieg der Geschützten Werkstatt. Als Tao Qing dort erschien, traf er auf den Stellvertretenden Leiter, der gerade aus der Toilette gehinkt kam. Er fragte, wo er den Leiter finde, und bekam zur Antwort, der arbeite in der Werkstatt. Tao ließ ihn zu sich bitten und ging schon einmal in das Büro voraus. Bei seinem letzten Besuch hatten dort zwei Tische gestanden, und die beiden hinkenden Leiter waren beim Go-Spiel gewesen, bei dem sie ständig Züge zurücknahmen und einander beschimpften. Jetzt hing dort das bewusste Gruppenfoto an der Wand, und es gab nur noch einen Schreibtisch. Tao Qing wunderte sich: Hatte der hinkende Leiter seinen Stellvertreter etwa aus dem Büro weggeekelt? Kaum hatte er sich in dem Schreibtischsessel niedergelassen, kam freudestrahlend Glatzkopf-Li zur Tür hereingestürmt: »Ich grüße Sie, Amtsleiter Tao!« Auch Tao Qing freute sich, Glatzkopf-Li wiederzusehen. »Du machst einen guten Job«, sagte er lächelnd. Glatzkopf-Li schüttelte den Kopf. »Wir stehen noch ganz am Anfang, müssen uns weiter anstrengen«, entgegnete er bescheiden. Tao Qing nickte zustimmend. Dann fragte er Glatzkopf-Li, ob er mit seiner Arbeit zufrieden sei, was dieser eifrig nickend bejahte: Sein Job mache ihm großen Spaß. Nachdem sich die beiden noch eine Weile unterhalten hatten, schaute 387
Tao zur Tür hinaus, denn er wunderte sich, dass sich der Leiter immer noch nicht blicken ließ. Die Werkstatt war ja nebenan, und selbst wenn er als Hinkebein nicht gut zu Fuß war, hätte er längst da sein müssen. »Wieso ist denn euer Leiter noch nicht da?«, erkundigte er sich bei Glatzkopf-Li. Der stutzte, dann zeigte er auf seine Nase und sagte: »Ich bin doch da! Ich bin der Leiter.« »Du?«, staunte Tao Qing. »Warum erfahre ich so etwas denn nicht?« Glatzkopf-Li antwortete lächelnd: »Sie haben so viel um die Ohren, da wollte ich Sie nicht damit behelligen.« Tao Qings Miene verfinsterte sich. »Und was ist mit den beiden ursprünglichen Leitern?«, fragte er. Glatzkopf-Li erwiderte kopfschüttelnd: »Die sind nicht mehr Leiter.« Jetzt wurde Tao klar, warum im Büro nur noch ein Schreibtisch stand. Er zeigte darauf und fragte: »Dann ist das hier dein Schreibtisch?« »Ja«, antwortete Glatzkopf-Li kopfnickend. Da wurde Tao plötzlich ganz amtlich. »Über die Funktion des Leiters der Werkstatt wird auf dem Dienstweg entschieden!«, belehrte er Glatzkopf-Li. »Zuerst berät die Leitung des Amtes für Zivilverwaltung, dann geht ein entsprechender Vorschlag an die Kreisregierung, die darüber zu befinden hat-« »Genau! Sie haben ganz recht«, unterbrach ihn GlatzkopfLi aufgeregt. »Dann entlassen Sie doch die beiden ursprünglichen Leiter ganz offiziell und ernennen mich ganz offiziell zum neuen Direktor!« Tao Qing erwiderte ernst: »Das steht nicht in meiner Macht.« 388
»Sie sind wirklich zu bescheiden, Amtsleiter Tao«, konterte Glatzkopf-Li grinsend. »Wer anders als Sie sollte darüber befinden, wer hier der Chef sein soll?« Halb ernst, halb belustigt entgegnete Tao Qing: »Du hast wirklich keine Ahnung vom Dienstweg!« Als der selbst ernannte Direktor Glatzkopf-Li ihn anschließend zu einem Rundgang in die Werkstatt führte, wo die vierzehn Behinderten Kartons klebten, wusste Tao Qing erst recht nicht, ob er lachen oder ärgerlich werden sollte. Denn alle, auch die bei den Hinkenden, die ehemals als Leiter und Stellvertretender Leiter fungiert hatten, nannten GlatzkopfLi respektvoll »Direktor Li«. Neben Tao Qing stehend, klatschte Direktor Glatzkopf-Li kräftig in die Hände, woraufhin die vierzehn Behinderten ebenfalls kräftig applaudierten, aber offenbar noch nicht kräftig genug, denn Glatzkopf-Li sah sich bemüßigt sie aufzufordern: »Amtsleiter Tao ist zu Besuch gekommen, jetzt klatscht mal schön laut! So laut, als ob hier Knallfrösche abgebrannt werden!« Die vierzehn getreuen Paladine applaudierten aus Leibeskräften, so stark, dass es sie förmlich schüttelte. Aber das reichte Glatzkopf-Li immer noch nicht: »Und jetzt ruft ihr alle >Willkommen, Amtsleiter Tao!<«wies er sie an. Die bei den Hinkenden und die vier geistig Behinderten brüllten sich die Kehle heiser: »Willkommen, Amtsleiter Tao!« Die fünf Gehörlosen aber öffneten nur stumm ihre Münder und lachten fröhlich, wussten sie doch nicht, was ihre Kollegen da riefen. Glatzkopf-Li lief schnell zu ihnen hinüber und bedeutete ihnen, sie sollten ihm auf den Mund schauen, den er wie ein nach Luft schnappender Fisch so lange aufriss und wieder schloss, bis die fünf endlich kapiert hatten. Drei von ihnen 389
waren allerdings nicht nur taub, sondern zugleich stumm, sodass nur die beiden anderen »Willkommen, Amtsleiter Tao!«, brüllten, das aber geradezu ohrenbetäubend. Mit anerkennend gehobenem Daumen gab ihnen Glatzkopf-Li seine Zufriedenheit zu verstehen. Schon aber wartete das nächste Problem darauf, von ihm gelöst zu werden: Die drei geistig Behinderten riefen nämlich nicht »Willkommen, Amtsleiter Tao!«, sondern »Willkommen, Direktor Li!« - ein peinlicher Gesichtsverlust für ihn, der sein sofortiges Eingreifen erforderte. Wie ein Chorleiter stellte er sich vor den dreien auf und übte mit ihnen »Willkommen, Amtsleiter Tao!«, doch so heftig er mit beiden Armen dirigierte, so laut er es ihnen vorsprach - die drei riefen nach wie vor »Willkommen, Direktor Li!«. Als Tao Qing seinem unbezwingbaren Lachreiz nachgab und herausplatzte, bat Glatzkopf-Li, peinlich berührt: »Amtsleiter Tao, geben Sie mir ein bisschen Zeit! Wenn Sie das nächste Mal kommen, können die es - dafür garantiere ich Ihnen!« »Nicht nötig«, wehrte Tao Qing ab. »Immerhin geht ihnen ja >Direktor Li< schon recht flott von den Lippen.« Als er mit Glatzkopf-Li die Werkstatt verließ, fügte er mit Blick auf die beiden Hinkenden hinzu: »Ich habe ja immer schon vermutet, dass die beiden hier nur nominell die Leiter sind, aber jetzt weiß ich, sie sind nicht mal das!« Zwei Monate später wurde Glatzkopf-Li offiziell zum Leiter der Geschützten Werkstatt ernannt. Als Tao Qing ihn zu sich bestellte und ihm die von der Kreisregierung ausgefertigte Ernennungsurkunde vorlas, wurde Glatzkopf-Li vor Aufregung ganz rot. Er erzählte Tao, dass die drei geistig Behinderten inzwischen wunderbar »Amtsleiter Tao« sagen 390
könnten. Tao Qing nahm das schmunzelnd zur Kenntnis, wurde aber sogleich wieder ganz ernst. Die offizielle Ernennung zum Werkleiter sei wegen seines früheren Fehlverhaltens auf größten Widerstand gestoßen, sagte er und vertraute Glatzkopf-Li flüsternd an, die anderen im Amt dächten alle, er sei ein Blutsverwandter von ihm. Auf alle Fälle solle er sich zusammennehmen und seine Alleingänge in Zukunft unterlassen. Abschließend informierte er ihn, welche Gewinnspanne im laufenden Jahr von ihm erwartet würde: »Du lieferst 200000 ab, verstanden?«, sagte er und hielt dabei zwei Finger hoch. Glatzkopf-Li reckte drei Finger hoch und antwortete: »Sie bekommen 300 000! Wenn ich das nicht schaffe, trete ich zurück.« Während Tao Qing noch zufrieden nickte, hatte GlatzkopfLi die Ernennungsurkunde zusammengerollt und machte Miene, sie in die Tasche zu stecken. Tao fragte: »Was tust du denn da?« »Ich nehme sie mit nach Hause.« Tao Qing schüttelte den Kopf. »Du hast wirklich keine Ahnung von den Vorschriften! Diese Urkunde geht an die Organisationsabteilung, die kommt in deine Akte. Du bist doch jetzt Staatsfunktionär!« »Staatsfunktionär? Ich?«, fragte Glatzkopf-Li überwältigt zurück. »Dann muss ich aber die Urkunde erst recht mitnehmen. Song Gang muss sie doch auch sehen!« Tao Qing, der sich an die zwölf Jahre zurückliegende Begegnung mit dem unglücklichen und zugleich so liebenswerten Knaben erinnerte, zögerte einen Moment, gestattete dann aber Glatzkopf-Li, dem Bruder die Ernennungsurkun391
de zu zeigen. Er schärfte ihm jedoch ein, sie am Nachmittag unbedingt wieder zurückzubringen. Ehe Glatzkopf-Li hinausging, verbeugte er sich vor Tao Qing und sagte: »Ich bedanke mich aufrichtig, dass ich Leiter sein darf.« Tao klopfte ihm auf die Schulter und entgegnete: »Du brauchst dich nicht zu bedanken, hast mich ja ohnehin vor vollendete Tatsachen gestellt.« »Vor vollendete Tatsachen gestellt« - dieser Ausdruck gefiel Glatzkopf-Li über die Maßen, und er beschloss, ihn sich zu merken. Als er ihn beim Verlassen des Amtes für Zivilverwaltung grinsend noch einmal vor sich hin sprach, klang er allerdings schon ganz anders als eben bei Tao Qing. Allen Bekannten, die er unterwegs traf, zeigte er stolz seine Ernennungsurkunde und erklärte, er sei jetzt Direktor Li. Auf der Brücke begegnete er Schmied Tong. Er zog ihn neben sich auf die Brüstung und erzählte ihm großtuerisch, wie er zum Leiter der Geschützten Werkstatt geworden sei. Tatsächlich habe er das Amt ja schon längst ausgeübt, dieses Stück Papier - dabei wedelte er die Urkunde vor seinen Augen hin und her - sei lediglich eine Bestätigung seiner Stellung. »Richtig!«, rief Schmied Tong. »Das ist wie bei der Ehe, da warten die Leute auch nicht bis zur Hochzeit, wenn sie miteinander schlafen wollen. Die Eheurkunde ist bloß eine nachträgliche Bestätigung. Legalisierung sagt man wohl dazu.« »>Legalisierung<, das trifft es genau!«, sagte Glatzkopf-Li. »Um es mit den Worten von Amtsleiter Tao zu sagen: Vor vollendete Tatsachen stellen, so nennt man das. Ich habe
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dem Mädchen 'n dicken Bauch gemacht, da konnte sie gar nicht anders als mich heiraten!« Als er nach Hause kam, hatte Song Gang schon gekocht und wartete am gedeckten Tisch. Glatzkopf-Li, ganz wie der typische Emporkömmling, streifte die Speisen mit einem verächtlichen Blick und murmelte: »Da ist man nun Direktor und muss sich jeden Tag mit solchem Zeugs vollstopfen ... « Song Gang, der ja nicht wusste, dass sein Bruder nicht mehr nur selbsternannter, sondern offiziell ernannter Leiter der Geschützten Werkstatt war, grinste nur und machte sich über seinen Reis her. Da entrollte Glatzkopf-Li seine Ernennungsurkunde und hielt sie Song Gang unter die Nase, der mechanisch weiterkaute und das Dokument studierte. Elektrisiert sprang er auf, versuchte, mit vollem Mund etwas zu sagen, spuckte, als das misslang, das Gekaute in die hohle Hand, atmete tief durch und rief: »Glatzkopf-Li, da bist du wirklich-« Gelassen verbesserte ihn der Bruder: »Direktor Li, bitte sehr!« »Direktor Li, da bist du wirklich Direktor Li!« Ganz aus dem Häuschen vor Freude, sprang Song Gang im Zimmer umher und boxte mit seiner Rechten, in der sich noch immer der halb gekaute Reis befand, Glatzkopf-Li mehrmals vor die Brust, sodass der Brei nach allen Seiten spritzte. Glatzkopf-Li wischte sich den Papp aus dem Gesicht, ohne sich die Laune verderben zu lassen, war aber auch aufgesprungen und hatte sich lachend in Sicherheit gebracht. Wie schon einmal- als Song Gang mit der Reisetasche aus dem Dorf zurückgekommen war - tollten die beiden spielerisch kämpfend durch das Zimmer, nur dass diesmal Song Gang der »Angreifer« war und Glatzkopf-Li sich vor dessen Fäus393
ten zu schützen versuchte. Erst als alle Stühle und Schemel am Boden lagen und die beiden sich so oft an dem Tisch gerempelt hatten, dass alle Speisen aus den Schüsseln geschwappt waren und sich über die gesamte Tischplatte verteilt hatten, hielt Song Gang inne, merkte, dass das ausgespuckte Essen noch immer an seiner Hand klebte, wischte es mit einem Lappen ab, kratzte die verschütteten Speisen in die Essschüsseln zurück, stellte die umgekippten Stühle wieder hin und forderte schließlich mit einer einladenden Geste seinen Bruder auf, sich wieder zu setzen: »Direktor Li, ich bitte zu Tisch!« Vom Lachen völlig außer Atem, schüttelte Glatzkopf-Li den Kopf. »Nein!«, keuchte er. »Direktor Li hat jetzt Appetit auf Nudeln der drei Köstlichkeiten! « Song Gangs Augen leuchteten auf. »Richtig!«, rief er. »Das muss ja gefeiert werden.« Mit einem verächtlichen Blick auf die Speisen auf dem Tisch fasste er Glatzkopf-Li um die Schultern und verließ mit ihm das Haus. Nachdem er abgeschlossen hatte und sie ein Stück weit von zu Hause weg waren, blieb er plötzlich stehen und fragte, was eine Portion Nudeln der drei Köstlichkeiten koste. Glatzkopf-Li sagte es ihm: fünfunddreißig Fen. Song Gang nickte, ging zurück, nestelte mit dem Gesicht zur Haustür in seiner Unterhose und holte siebzig Fen heraus, die er in die Jackentasche steckte, um alsdann befriedigt wieder zu seinem Bruder aufzuschließen. »Jetzt, wo du Werkleiter bist«, erläuterte er, »kann ich als älterer Bruder eines Werkleiters schließlich nicht mehr vor den Leuten im Schritt herumwirtschaften, da würde ja der Herr Direktor das Gesicht verlieren.«
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Wie zwei triumphierende Helden schritten die Brüder durch die Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen, GlatzkopfLi mit seiner Ernennungsurkunde in der Hand. Unterwegs musste er sie auf Song Gangs Bitten hin noch zweimal aufrollen, damit der sie anschauen und den Text laut und vernehmlich, als ob er ein Gedicht rezitiere, vorlesen konnte. »Ich freue mich so!«, sagte Song Gang, und seine Worte kamen von Herzen. Schon von der Tür des Volksgasthofs aus rief Song Gang der Frau hinter der Theke zu: »Zwei Portionen Nudeln der drei Köstlichkeiten!« Er holte die abgezählten siebzig Fen aus der Tasche und knallte die Scheine mit Schwung auf die Theke. Die Frau schrak zusammen und murmelte: »Muss das sein? Sind doch nur siebzig Fen und keine zehn Yuan!« Satt und verschwitzt machten sich die Brüder nach ihrem Mahl auf den Heimweg. Glatzkopf-Li zeigte noch dreimal Bekannten seine Urkunde, und Song Gang blieb noch zweimal stehen, um sie laut vorzulesen. Zu Hause wollte der Ältere sie in Verwahrung nehmen, da sei sie sicherer, meinte er. Glatzkopf-Li jedoch entgegnete, Amtsleiter Tao Qings Miene und Tonfall kopierend: »Du hast wirklich keine Ahnung von den Vorschriften! Diese Urkunde geht an die Organisationsabteilung, die kommt in meine Akte. Ich bin doch jetzt Staatsfunktionär!« Darüber war Song Gang nun vollends begeistert; seine Bewunderung für den Bruder wuchs ins Unermessliche. Die Urkunde ehrfürchtig auf seinen ausgebreiteten Händen balancierend, las er sie noch einmal von vorn bis hinten, als wollte er sich jedes einzelne Wort einverleiben. Der Gedan395
ke, dass er sie nie wieder zu Gesicht bekommen würde, bedrückte ihn, aber dann hatte er eine Idee: Er konnte sie ja abschreiben! Schnell holte er ein Blatt Papier und schwarze Tusche und machte eine ordentliche Abschrift von der Ernennungsurkunde, sogar das Amtssiegel malte er mit roter Tusche so sorgfältig ab, dass Glatzkopf-Li anerkennend mit der Zunge schnalzte und erklärte, das gemalte Siegel sehe echter aus als das Original. Erleichtert aufatmend gab Song Gang dem Bruder die Urkunde zurück. »In Zukunft können wir uns diese Abschrift hier anschauen«, sagte er und betrachtete wohlgefällig sein Werk. Wenn Song Gang, der ja beider Lohn verwaltete, irgendwelche Ausgaben plante, beriet er sich jeweils vorher mit Glatzkopf-Li und holte dessen Zustimmung ein. Nachdem der jetzt aber offiziell zum Leiter der Geschützten Werkstatt ernannt worden war, kaufte er eigenmächtig ein Paar Lederschuhe für ihn. Als Direktor könne er nicht mehr mit seinen abgelatschten Segeltuchschuhen herumlaufen, erklärte er, als er ihm die glänzenden schwarzen Schuhe überreichte. Glatzkopf-Li freute sich sehr. Er zählte an den Fingern alle Leute in Liuzhen auf, die etwas zu sagen hatten und die alle schwarze Lederschuhe trugen, vom Sekretär der Kreisparteileitung und dem Kreisvorsteher über die Amtsleiter der Kreisregierung bis hin zu den Direktoren der großen Staatsbetriebe. »Und ich gehöre jetzt auch dazu!«, schloss er. Auch Glatzkopf-Lis buntscheckiger Pullover, den Li Lan ihm seinerzeit aus mehreren aufgeribbelten alten Pullovern gestrickt hatte, war inzwischen ziemlich schäbig. Song Gang kaufte anderthalb Pfund cremefarbene Wolle und begann, nach Feierabend einen Pullover für seinen Bruder zu stri396
cken. Da er ihm das Strickzeug immer wieder anhielt, um zu sehen, ob er passte, saß der fertige Pullover wie angegossen, als Glatzkopf-Li das gute Stück nach einem Monat zum ersten Mal überzog. Auf der Brust hatte Song Gang sogar ein Muster eingestrickt, ein Schiff, das mit geblähten Segeln die Wellen durchpf1ügte. Ein Segelschiff auf großer Fahrt sei das, ein Symbol für die glänzende Zukunft, die Glatzkopf-Li vor sich habe. Glatzkopf-Li war voller Bewunderung. »Song Gang, du bist der Größte!«, rief er. »Du kannst eben alles, sogar Frauenarbeit.« Wenn Glatzkopf-Li aus dem Haus ging, trug er seine schwarzen Lederschuhe und seine dunkelblaue Kaderuniform. Die hatte er stets bis oben zugeknöpft; sogar die Kragenhäkchen waren geschlossen. Seit er jedoch seinen cremefarbenen neuen Pullover anhatte, lief er mit offener Jacke herum, damit die Wellen und das Segelschiff zur Geltung kämen. Die Hände in den Hosentaschen, um die Jackenschöße mit den Armen seitlich festzuklemmen, stolzierte er mit vorgerecktem Brustkorb einher und lächelte jeden, den er traf, breit an. Die Frauen in unserer kleinen Stadt Liuzhen hatten noch nie einen Pullover gesehen, auf dem ein Segelschiff in voller Fahrt eingestrickt war. Sobald Glatzkopf-Li sich sehen ließ, war er im Nu umringt, und fünf, sechs weibliche Hände betasteten gleichzeitig seinen neuen Pullover, um herauszubekommen, wie so etwas wohl zustande gebracht werde. Voll des Lobes, machten sich die Frauen gegenseitig auf die Details dieses seltenen Kunstwerks aufmerksam, während Glatzkopf-Li sie mit hochgerecktem Hals gewähren ließ und sich schmunzelnd anhörte, wie sie seinen neuen Pullover 397
priesen. Als sie ihn fragten, wer denn so gescheit und geschickt sei, ein solches Werk zu verfertigen, antwortete er stolz: »Song Gang! Außer Kinder kriegen kann der alles!« Nachdem die Frauen unserer kleinen Stadt Liuzhen das Design von Schiff und Segel bewundert hatten, begannen sie sich dafür zu interessieren, was für ein Schiff das eigentlich sei, das Song Gang da in den Pullover gestrickt hatte. »Ist es vielleicht ein Fischerboot?«, fragten sie Glatzkopf-Li. »Ein Fischerboot!«, schnaufte er entrüstet. »Das ist ein Schiff auf großer Fahrt!« Er war so erbost über die kleinkarierte Frage der Frauen, dass er jetzt ihre tastenden Hände unsanft abwehrte. Diesen Weibern seinen schönen Pullover mit dem Schiff auf großer Fahrt zu zeigen, so kam es ihm nun vor, war nichts anderes als Perlen vor die Säue zu werfen! Im Weggehen drehte er sich noch einmal zu den Frauen um und höhnte: »Was könnt ihr denn außer Kinder kriegen?« IV Seit Glatzkopf-Li Werkleiter war, musste er häufig an Sitzungen mit anderen Fabrikdirektoren teilnehmen, alles Männer in Kaderuniform und schwarzen Lederschuhen. Er näherte sich ihnen stets freundlich lächelnd, schüttelte Hände und erkundigte sich nach dem Befinden, sodass er nach ein paar Monaten ein geradezu brüderliches Verhältnis zu ihnen hatte. Da er nun zur Hautevolee in unserer kleinen Stadt Liuzhen gehörte, legte er sich einen unerträglich arroganten Gesichtsausdruck zu und behandelte andere sehr von oben herab.
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Als er jedoch eines Tages auf der Brücke Lin Hong begegnete, war der sonst so überhebliche Glatzkopf-Li hoch verlegen. Aus der hübschen Siebzehnjährigen, die er sechs Jahre zuvor heimlich ausgespäht hatte, war eine blühende Schönheit geworden. Sie kam direkt auf Glatzkopf-Li zu, ohne ihn allerdings in der Menschenmenge zu bemerken. Als sie auf gleicher Höhe mit ihm war, wurde sie von jemandem gegrüßt und drehte sich zu dem Betreffenden um, sodass ihr Zopf fast Glatzkopf-Lis Nase streifte. Wie vom Donner gerührt, sah er ihr nach und konnte nur noch seufzen: »So schön, so wunderschön ... « Seit er Werkleiter war, hatte er Lin Hong, die Schöne von Liuzhen, fast vergessen, aber jetzt, da er sie plötzlich wiedersah, war er schlagartig so erregt, dass er Nasenbluten bekam. Zwei dünne Fäden Blut rannen ihm aus den Nasenlöchern in den Mund. Das wiederum erregte beachtliches Aufsehen und sprach sich in der Stadt fast so schnell herum wie seinerzeit die Sache mit den ausgespähten Frauenärschen auf der öffentlichen Toilette. Endlich hatten die Leute in unserer kleinen Stadt Liuzhen wieder etwas zu lachen. Sie zählten die Jahre an den Fingern ab und stellten übereinstimmend fest, dass in Liuzhen seit damals nichts Aufregendes mehr passiert sei. Richtig langweilig sei es all die Jahre gewesen - den Leuten sei ja regelrecht die Decke auf den Kopf gefallen! Das hatte sich jetzt geändert, jetzt konnte man über GlatzkopfLis neue Eskapade tratschen, und das Schönste war: Wieder ging es um Lin Hong! Glatzkopf-Li würdigte die Gaffer keines Blicks. Sein Nasenbluten sei ein »Blutopfer«, so wie es überall auf der Welt der
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Liebe dargebracht würde, beschied er die Spötter. Er schlug sich an die Brust: »Und wer außer mir sollte es bringen?« Die alten Leute in unserer kleinen Stadt Liuzhen stimmten ihm zu. Sie sahen die Sache ohnehin in einem milderen Licht: »Er ist nun mal ein Promi, da ist ein bisschen Extravaganz schon in Ordnung.« Glatzkopf-Li, dem das zu Ohren kam, fühlte sich geschmeichelt. Beifällig nickend sagte er: »Ja ja, bei uns Prominenten gibt's einfach viel mehr Gesprächsstoff als bei gewöhnlichen Leuten.« Der Mann, der Schriftsteller Liu mit seinen Prügeln zu paranoiden Wahnvorstellungen verholfen hatte, wurde jetzt selbst zum Paranoiker: Er konnte nicht aufhören, sich den Kopf zu zerbrechen, warum Lin Hong wohl bei ihrer Begegnung so dicht an ihm vorbeigegangen war, dass ihr Zopf um ein Haar seine Nasenspitze gestreift hätte. Am Ende seiner Überlegungen verschmolzen Beziehungs- und Größenwahn bei ihm zu der Überzeugung, Lin Hong müsse sich in ihn verliebt haben oder stünde zumindest kurz davor, sich in ihn zu verlieben. Wenn ihre Begegnung spät abends stattgefunden hätte, da es auf der Straße still und menschenleer war, wäre Lin Hong mit Sicherheit stehen geblieben, hätte ihn liebevoll angeschaut und ihren Blick gar nicht mehr von ihm losreißen können, bis sie sich sein Gesicht in allen Einzelheiten eingeprägt hätte, dachte er bei sich. In dem fürchterlichen Gewühl, das an jenem Tag auf der Brücke herrschte, war das natürlich leider nicht möglich gewesen ... Blöd grinsend, sagte er zu seinem Bruder: »Ich glaube, Lin Hong ist in mich verliebt.« 400
Song Gang kannte natürlich das Mädchen auch und wusste, dass von der Schönen aus Liuzhen alle Männer in unserer kleinen Stadt träumten. Ihm selbst erschien sie so unerreichbar wie der Mond oder die Sterne am Himmelszelt. Dass Glatzkopf-Li plötzlich behauptete, Lin Hong interessiere sich für ihn, machte ihn sprachlos. War es denn überhaupt denkbar, dass sie sich in den Mann verliebt hatte, der vor über sechs Jahren auf der öffentlichen Toilette ihren Hintern ausgespäht hatte? Völlig perplex fragte er den Bruder: »Wieso soll sie sich denn in dich verliebt haben?« »Ich bin Direktor Li!«, erwiderte Glatzkopf-Li und schlug sich an die Brust. »Sieh dich doch um - unter den zwei Dutzend Werkleitern hier in Liuzhen bin ich der einzige junge unverheiratete Mann.« »Stimmt! Das ist überhaupt wahr«, rief Song Gang, heftig nickend. »Man sagt doch immer >Schöne Frau, kluger Mann - Traumgespann!<. Das trifft genau auf euch beide zu.« »Richtig!« Glatzkopf-Li boxte den Bruder freundschaftlich in die Seite und sagte mit glitzernden Augen: »Genau das hatte ich übrigens auch auf der Zunge: Schöne Frau, kluger Mann - Traumgespann!« Nachdem Song Gang seinem Bruder auf diese Weise die theoretische Grundlage für die Liebe zwischen ihm und Lin Hong geliefert hatte, begann Glatzkopf-Li, dem Mädchen ganz im Ernst nachzusteigen. Das hatten zwar vor ihm schon viele andere junge Männer aus unserer kleinen Stadt Liuzhen auch getan - oder taten dies noch immer -, doch hatten sie dieses Unterfangen wegen Aussichtslosigkeit einer nach dem anderen schnell wieder aufgegeben. Glatzkopf-Li mit seinem unerschütterlichen Selbstwertgefühl ließ sich davon aber 401
nicht beirren und begann sogleich, Nägel mit Köpfen zu machen. Sein Bruder diente ihm dabei als Berater. Aus den zerfledderten alten Büchern, die er gelesen hatte, wusste Song Gang, dass in früheren Zeiten vor kriegerischen Auseinandersetzungen stets ein Bote mit einem Fehdebrief zur Gegenpartei entsandt wurde. »Vielleicht sollte man bei einer Liebeswerbung auch einen Boten vorschicken?«, sinnierte er. »Selbstverständlich!«, stimmte ihm Glatzkopf-Li zu. »Sie muss sich ja vorbereiten können, sonst kommt das für sie viel zu plötzlich, und sie wird vor Aufregung ohnmächtig. Das wäre eine schöne Bescherung!« Zu seinen Boten erkor er fünf sechsjährige Jungen aus unserer kleinen Stadt Liuzhen, die er auf dem Weg in die Geschützte Werkstatt beim Herumtoben auf der Straße zufällig traf. Die Jungen hatten mit Fingern auf ihn gezeigt und heftig untereinander gestritten, ob dieser Kahlkopf tatsächlich der Mann sei, der Frauenärsche ausspioniert und beim Anblick von Lin Hong Nasenbluten gekriegt hatte. Einer meinte, das sei nicht er, sondern ein gewisser Glatzkopf-Li gewesen. Glatzkopf-Li dachte bei sich: Schon diese kleinen Bastarde haben gehört, was man sich über mich erzählt - da bin ich also schon zu Lebzeiten ein Mythos geworden! Er blieb stehen und winkte die Kinder mit bedeutsamer Miene zu sich. Die fünf Rotznasen kamen näher und schauten zu dem berühmten Sohn unserer kleinen Stadt Liuzhen auf. Mit dem Daumen auf sich deutend, sagte er: »Ich bin Glatzkopf-Li!« Die Jungen schauten ehrfürchtig auf den großen Li, der ihnen mit einer entsprechenden Geste nahe legte, erst einmal 402
den Rotz hochzuziehen, und sie dann fragte: »Kennt ihr auch Lin Hong?« Allgemeines Kopfnicken. »Klar! Die aus der Wirkerei.« Zufrieden schmunzelnd sagte Glatzkopf-Li, er würde ihnen jetzt eine sehr ehrenvolle Aufgabe übertragen: Wie die Katzen, die nachts auf die Mäuse lauern, sollten sie am Tor der Wirkwarenfabrik auf Lin Hong lauern und, sobald sie von der Arbeit kam, im Chor rufen »Glatzkopf-Li will dir seine Liebe erklären!«. (Diese letzten Worte sprach er ihnen mit nachgeahmt kindlicher Stimme vor.) Vergnügt plärrten die Jungen im Chor: »Glatzkopf-Li will dir seine Liebe erklären!« »So ist es richtig«, lobte Glatzkopf-Li die Lausebengel und tätschelte allen die Köpfe. »Es kommt aber noch ein Satz: >Bist du bereit?<« »Bist du bereit?«, brüllten die Kinder. Hochzufrieden, wie schnell sie gelernt hatten, zählte Glatzkopf-Li sie durch, kaufte für zwei Fünf-Fen-Münzen, die er aus seiner Hosentasche kramte, an einem Verkaufskiosk zehn Bonbons, verteilte fünf davon an die Jungen und steckte die restlichen fünf in die Tasche. Die könnten sie sich nach Erledigung ihres Auftrags bei ihm in der Geschützten Werkstatt abholen, sagte er. Dann entließ er sie wie ein Offizier, der auf dem Schlachtfeld den Befehl zum Sturm gibt. »Marsch, marsch!«, rief er, in Richtung Wirkwarenfabrik zeigend. Die Jungen, die in Windeseile die Bonbons ausgewickelt und in den Mund gestopft hatten, machten jedoch, glücklich lutschend, überhaupt keine Miene, sein Kommando zu befolgen, sodass Glatzkopf-Li es noch einmal wiederholte. Als 403
auch das nichts fruchtete, schrie er: »Los! Ab mit euch, verdammt noch mal!« Die Jungen sahen einander an, dann fragten sie: »Was bedeutet eigentlich >seine Liebe erklären« »Seine Liebe erklären - ja, was heißt das ... ?« Nach einem Moment angestrengten Nachdenkens antwortete GlatzkopfLi: »Das heißt heiraten und miteinander schlafen, wenn es dunkel ist.« Als die fünf in fröhliches Gelächter ausbrachen, wies Glatzkopf-Li abermals mit seinem kurzen Arm gebieterisch in Richtung Wirkwarenfabrik, woraufhin sie sich in Reih und Glied aufstellten und endlich abmarschierten. Dazu brüllten sie: »Glatzkopf-Li will dir seine Liebe erklären! Dich heiraten! Mit dir schlafen! Bist du bereit?« »Verdammt! Kommt zurück!«, rief Glatzkopf-Li. »Nix heiraten! Nix schlafen! Nur Liebe erklären!«, schärfte er ihnen ein. An diesem Nachmittag zogen die fünf Liebesboten, ihren Text skandierend, durch die Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen zur Wirkwarenfabrik. Für die Leute war der Auftritt von Glatzkopf-Lis krakeelenden Sonderbeauftragten eine ganz neue Erfahrung. Nicht im Traum hätten sie an die Möglichkeit gedacht, dass jemand zu solch einem Mittel greifen und fünf Rotzlöffel, die den Kleinkinderhosen mit dem durchgehenden Schlitz noch nicht entwachsen waren, als Postillons d' Amour zu seiner Angebeteten entsenden würde. Schmunzelnd und kopfschüttelnd meinten sie, dem müsse jemand ins Hirn geschissen haben, sonst wäre er unmöglich auf so einen Blödsinn verfallen. Oder hatte durch den ständigen Umgang mit zwei Hinkebeinen, drei Debilen, vier 404
Blinden und fünf Gehörlosen am Ende sein eigener Verstand gelitten? ... An diesem Meinungsaustausch beteiligte sich auch Dichter Zhao, der sich dem allgemeinen Konsens anschloss. Er kenne Glatzkopf-Li schon sehr lange, sagte er, und wisse genau Bescheid über ihn. Früher sei Glatzkopf-Li zwar nicht gerade intelligent, aber auch nicht dumm gewesen. Immer mehr verblödet sei er erst, seit er in der Geschützten Werkstatt arbeite, vor allem seit er der Chef all dieser Hinkenden, geistig Behinderten, Blinden und Gehörlosen sei. Gebildet, wie er war, schloss der Dichter mit der passenden Spruchweisheit: »Wer mit Tusche hantiert, der färbt sich schwarz, wer Zinnober gebraucht, der färbt sich rot.« Mittlerweile marschierten die Rotzbengel weiter mit Getöse durch die Straßen und übten ihren Text, als wäre es ein Lied. In der ersten Straße ging es noch um »Liebe erklären«, in der zweiten schon um »heiraten«, in der dritten aber waren die Kinder wieder bei »schlafen« angelangt. Während sie noch »schlafen« brüllten, erinnerten sie sich, dass Glatzkopf-Li ihnen die Erwähnung dieses Wortes ausdrücklich untersagt hatte und schalteten schnell auf »heiraten« zurück, doch dann fiel ihnen ein, dass auch dieses Wort tabu sein sollte - also zurück zum Anfang! Bloß, was war der Anfang? Sosehr sie sich mühten, ihn sich wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, dieser merkwürdige Ausdruck »Liebe erklären« war einfach weg. Die fünf Jungen blieben stehen, schauten einander ratlos an und wischten sich mit den Fingern den Rotz von der Nase, um dann die schmierigen Hände am Hintern abzuputzen, sodass es aussah, als hätten lauter Spinnenasseln Schleimspuren auf ihren Hosenböden hinter405
lassen - und waren am Ende immer noch nicht auf den gesuchten Ausdruck gekommen! Der Zufall wollte es, dass in diesem Moment Dichter Zhao um die Straßenecke bog. Es dauerte eine Weile, bis er aus der erregten Debatte der Kinder schlau geworden war. Dann aber witterte er seine Chance, es diesem Glatzkopf-Li heimzuzahlen, diesem Kerl, der gelobt hatte, den Werktätigen in ihm wieder herauszuprügeln. Übel grinsend winkte er die fünf Jungen näher zu sich heran und sagte mit gedämpfter Stimme: »Der Ausdruck, den ihr sucht, ist >Liebe machen<.« Die Jungen sahen einander unschlüssig an. So ähnlich hatte es sich angehört, aber so ganz schien es auch wieder nicht zu stimmen ... Dichter Zhao wiederholte im Brustton der Überzeugung: »>Liebe machen<. Kann gar nichts anderes gewesen sein.« Das fanden die Jungen am Ende auch und zogen erleichtert weiter. Vor dem verschlossenen Stahltor der Wirkerei stellten sie sich auf und riefen im Chor: »Glatzkopf-Li will mit dir Liebe machen!« Der alte Pförtner in seiner Loge neben dem Tor zum Werksgelände spitzte die Ohren. Was riefen die Knilche da? ... Erst beim dritten Mal hatte er es verstanden. Wutentbrannt ergriff er den Besen, der an der Wand hinter der Tür lehnte, und stürmte hinaus zu den fünf Jungen, die erschrocken auseinanderstoben. Mit dem Besen herumfuchtelnd, schickte ihnen der Alte wüste Flüche hinterher: »Ihr verdammten Mutterficker! Ihr Großmutterficker! ... «
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Die Kinder scharten sich zitternd und zagend wieder zusammen und setzten sich - aus sicherer Entfernung - gegen die ungerechte Behandlung durch den Pförtner zur Wehr: »Aber es war doch Glatzkopf-Li, der uns geschickt hat!« »Na und? Was heißt hier Glatzkopf-Li?«, brüllte der Alte und schleuderte den Besen auf die Erde. »Der Mutterficker soll bloß kommen und mit mir Liebe machen! Dem werde ich den Arsch versohlen!« Die fünf Jungen schüttelten ihre Köpfe im gleichen Takt, als wären es fünf Knarren, die von fünf Hausierern geschwenkt würden. »Nicht mit Ihnen!«, riefen sie im Chor. »Mit Lin Hong!« »Und wenn's mit seiner eigenen Mutter wäre, das ist mir alles wurscht!«, schrie der Alte unerbittlich. »Hier wird überhaupt keine Liebe gemacht!« Nun wagten sich die Jungen nicht mehr in die Nähe des Tors und verzogen sich hinter einen Straßenbaum, von wo aus sie den Pförtner in seiner Loge beobachten konnten. Sobald er herauskam, verbargen sie sich schnell hinter dem Baumstamm, wenn er wieder hineinging, steckten sie vorsichtig ihre Köpfe wieder heraus. So warteten sie, GlatzkopfLis Anweisung getreulich befolgend, wie die Katzen, die nachts auf die Mäuse lauern. Endlich wurde die Klingel zum Schichtende geläutet, und sie sahen Lin Hong mit ein paar anderen Arbeiterinnen lachend und schwatzend aus dem Tor kommen. Zwei von ihnen, die das Mädchen kannten, winkten heftig, um sie auf sich aufmerksam zu machen, und riefen mit gedämpfter Stimme ihren Namen, während die drei anderen ihre wachsamen Blicke weiter auf das Pförtnerhaus richteten. 407
Als Lin Hong die Kinder bemerkte, die sie mit geheimnisvoller Miene zu sich winkten, blieb sie neugierig stehen. Auch ihre Kolleginnen gingen nicht weiter und neckten sie, jetzt habe sich ihre Schönheit wohl sogar schon bis zu kleinen Buben mit Schlitzhosen herumgesprochen. In diesem Moment brüllten die fünf Jungen im Chor los: »Glatzkopf-Li will mit dir Liebe machen!« Einer von ihnen erläuterte: »Glatzkopf-Li ist der, der auf dem Klo deinen Arsch gesehen hat.« Lin Hong war erbleicht, während ihre Kolleginnen nach anfänglicher Verblüffung hinter vorgehaltener Hand losplatzten und die fünf Kinder unermüdlich weiterschrien: »Glatzkopf-Li will mit dir Liebe machen!« Vor Zorn traten Lin Hong Tränen in die Augen. Mit fest zusammengepressten Lippen eilte sie, ohne nach rechts und links zu schauen, davon, verfolgt von dem unstillbaren Gelächter der anderen Arbeiterinnen. Da fiel den fünf Jungen ein, dass sie den zweiten Teil ihrer Botschaft ja noch gar nicht losgeworden waren. Wie lauter kleine Hasen rannten sie hinter Lin Hong her und schrien ihr nach: »Bist du bereit?« Dann erst blieben sie glücklich und erleichtert, endlich ihre ehrenvolle Mission erfüllt zu haben, mit vor Eifer und Anstrengung geröteten Gesichtern zurück. Die Arbeiterinnen holten die Jungen ein und streichelten ihnen liebevoll übers Haar, als meinten sie es sonstwie gut mit ihnen, dabei kam es ihnen nur darauf an, den wahren Hergang in Erfahrung zu bringen. Sie bogen sich vor Lachen und konnten sich überhaupt nicht mehr einkriegen, als die Kinder ihnen bereitwillig und in allen Einzelheiten schilderten, welchen Auftrag Glatzkopf-Li ihnen gegeben hatte. 408
Anschließend trabten die fünf Jungen zur Geschützten Werkstatt, wo sie jedoch vor verschlossener Tür standen, weil auch dort schon längst Arbeitsschluss war. Da fragten sie sich zu Glatzkopf-Lis Wohnung durch. Durch den Lärm vor der Haustür aufmerksam geworden, kamen Glatzkopf-Li und Song Gang heraus und trafen auf die fünf Kinder, deren geöffnete Hände sich Glatzkopf-Li entgegenreckten. Der war sofort im Bilde: Jetzt war die versprochene Belohnung fällig. Er holte die fünf Bonbons aus der Tasche und verteilte sie auf die fünf Hände. Im Nu waren die fünf Bonbons ausgewickelt und in den fünf Mündern der fünf Jungen verschwunden. Erwartungsvoll fragte Glatzkopf-Li: »Na, hat sie sich gefreut?« Dabei verzog er sein Gesicht zu einem verschämten Lächeln. »Hat sie ungefähr so ausgesehen?« Die fünf schüttelten die Köpfe und antworteten: »Geweint hat sie.« Erschrocken wandte sich Glatzkopf-Li zu Song Gang um: »So sehr hat sie das aufgeregt!« Dann fragte er gespannt: »Aber sie ist bestimmt ganz rot geworden, nicht wahr?« Die fünf schüttelten abermals die Köpfe und erwiderten: »Bleich sah sie aus. Und grün.« Glatzkopf-Li schaute seinen Bruder zweifelnd an: »Das kann nicht stimmen! Sie muss rot geworden sein.« »Nein! Sie war bleich und grün!«, beharrten die Jungen. Argwöhnisch blickte Glatzkopf-Li sie an und fragte: »Vielleicht habt ihr was Falsches gerufen?« »Gar nicht!«, protestierten die Kinder. »Wir haben alles richtig gemacht. Haben gerufen >Glatzkopf-Li will mit dir Liebe machen.< und hinterher >Bist du bereit?<.« 409
Glatzkopf-Li ging in die Luft. Brüllend wie ein wildes Tier schrie er die fünf an: »Von wem habt ihr das? Wer hat gesagt, ihr sollt >Liebe machen< rufen? Raus mit der Sprache, verdammt noch mal!« Die fünf vor Angst schlotternden Kinder, die Dichter Zhao nicht kannten, stammelten irgendetwas, doch wurde nicht klar, von wem sie ihren Text hatten. Währenddessen wichen sie immer weiter zurück, um schließlich in wilder Flucht fortzurennen. Glatzkopf-Li war so wütend, dass er erst weiß, dann grün im Gesicht wurde und ebenso bleich aussah wie Lin Hong, als sie seine Botschaft vernahm. Oder sogar noch bleicher. Er fuchtelte mit den Fäusten herum und schrie: »Wenn ich den Bastard erwische, diesen Klassenfeind, diesen verfluchten, dem werde ich's zeigen, der soll die Diktatur des Proletariats zu spüren kriegen!« Er keuchte vor Zorn wie ein Blasebalg. Song Gang klopfte ihm besänftigend auf die Schulter. Die Wut bringe schließlich nichts, meinte er, er solle sich lieber schleunigst bei Lin Hong entschuldigen. Am nächsten Tag standen die Brüder bei Schichtschluss am Tor der Wirkerei. Glatzkopf-Li war ein bisschen nervös, als die Arbeiterinnen in Grüppchen an ihm vorbei aus der Fabrik kamen. Er würde mannhaft allein vor sie hintreten, sagte er zu Song Gang, aber der möge doch bitte aus einigem Abstand verfolgen, wie die Sache laufe, um ihm im Ernstfall zu Hilfe kommen zu können. Lin Hong sah Glatzkopf-Li schon von weitem am Tor stehen. Während ihre Kolleginnen erstaunt aufschrien, setzte sie selbst unbeirrt, wenn auch mit totenbleichem Gesicht, ihren Weg zum Ausgang fort, wobei ihre Augen unwillkürlich 410
ein wenig länger auf dem hübschen Gesicht des stattlichen jungen Mannes neben Glatzkopf-Li verweilten. Es war das erste Mal, dass sie Song Gang bewusst wahrnahm. Als Glatzkopf-Li das Mädchen erblickte, rief er, nicht ohne kummervolles Pathos: »Lin Hong, es ist alles ein Missverständnis! Die kleinen Bastarde gestern, die haben etwas Falsches gerufen. Sie sollten nicht >Liebe machen< rufen, sondern >Liebe erklären<. >Glatzkopf-Li - also ich - will dir seine Liebe erklären!<« Diese Worte und dazu Glatzkopf-Lis Miene - das war zu viel für die Arbeiterinnen, die in Grüppchen hinter und neben Lin Hong liefen. Sie kringelten sich förmlich vor Lachen. Die zornige Lin Hong aber konnte nichts Komisches daran finden und ging betont gleichgültig an Glatzkopf-Li vorbei, der ihr jedoch auf den Fersen blieb. Während er sich ständig mit der Faust heftig an die Brust schlug, dass es klang, als trommele er den Rhythmus zu seinen Worten, beteuerte er: »Es war wirklich so - auf Ehre und Gewissen!« Unbeeindruckt von dem Hohngelächter der Arbeiterinnen fuhr er fort, sich zu rechtfertigen: »Die kleinen Bastarde, die haben wirklich was Falsches gerufen! Das ist Sabotage von irgendeinem Klassenfeind gewesen ... « Plötzlich packte ihn heiliger Zorn. Er hörte auf, sich gegen die Brust zu trommeln, und fuchtelte stattdessen mit hoch erhobenen Armen erregt herum. »Dieser Klassenfeind«, rief er, »der sabotiert unsere proletarisch-revolutionären Gefühle, der hat den kleinen Bastarden mit Absicht >Liebe machen< beigebracht. Aber, Lin Hong, du kannst ganz beruhigt sein: Dieser Klassenfeind mag sich noch so gut verstecken, ich bekomme den verdammten Kerl zu fassen! Und dann kriegt er die Diktatur 411
des Proletariats zu spüren!« Er schloss mit der eindringlichen Mahnung: »Lin Hong, wir dürfen auf gar keinen Fall den Klassenkampf vergessen!« Das war zu viel. Lin Hong drehte sich zu ihm um und stieß zwischen den Zähnen eine so schlimme Verwünschung aus, wie sie sie in ihrem ganzen Leben noch nie ausgestoßen hatte: »Ich wollte, du wärst tot!« Glatzkopf-Li, eben noch vor gerechter Empörung bebend, verschlug es die Sprache. Er wusste überhaupt nicht, wie ihm geschah. Erst als die Arbeiterinnen aus der Wirkerei schon weitergegangen und auch ihr schadenfrohes Gelächter und ihre Spottreden nicht mehr zu hören waren, erwachte er aus seiner Erstarrung und machte Miene, hinter den Frauen herzurennen, doch Song Gang hielt ihn fest und untersagte es ihm. Da blieb er voller Groll stehen und blickte Lin Hong nur noch sehnsüchtig nach. Auf dem Heimweg saß Glatzkopf-Li nach wie vor auf seinem hohen Ross, denn er hatte keineswegs das Gefühl, eine Niederlage erlitten zu haben. Song Gang dagegen war niedergeschlagen, als wäre er - und nicht Glatzkopf-Li - der abgewiesene Liebhaber. »Ich glaube, Lin Hong hat doch nichts mit dir im Sinn«, sagte er sorgenvoll zu Glatzkopf-Li. »Quatsch!«, versetzte der und fügte selbstsicher hinzu: »Das kann gar nicht sein.« Song Gang jedoch beharrte kopfschüttelnd: »Aber dann hätte sie nicht so sauer reagiert!« Da sah sich Glatzkopf-Li bemüßigt, seinen Bruder aufzuklären: »Das verstehst du nicht. Frauen sind nun mal so! Je mehr ihnen an dir liegt, desto schlechter behandeln sie dich. Wenn sie dich gern haben, tun sie, als ob sie überhaupt nichts von dir wissen wollen.« 412
Das leuchtete Song Gang ein. »Woher weißt du denn das alles?«, fragte er staunend. »Reine Erfahrungssache!«, erwiderte Glatzkopf-Li herablassend. »Du weißt ja, ich komme auf Sitzungen oft mit den anderen Fabrikdirektoren zusammen, die sagen das alle. Und das sind alles gestandene Männer, die wissen, wo's langgeht.« Song Gang nickte bewundernd. Natürlich, der Bruder verkehrte eben in ganz anderen Kreisen als er selbst; klar, dass er da einen viel weiteren Horizont hatte. »Da gibt es doch so eine Redensart, die passt genau«, unterbrach Glatzkopf-Li seine Gedanken. » ... Scheiße! Ich komme nicht darauf!«, sagte er und schlug sich an den Kopf. Den ganzen Weg über grübelte er weiter darüber nach, aber auch nach siebzehn »Verdammt!«, war ihm der gesuchte Ausdruck nicht eingefallen, ebenso wenig seinem Bruder, der sich genauso den Kopf zermarterte. Kaum dass sie zu Hause angekommen waren, kramte Song Gang sein »Lexikon der chinesischen Redensarten« aus der Schulzeit hervor und begann, auf dem Bett sitzend, darin zu suchen. Es dauerte eine ganze Weile, dann fragte er vorsichtig: »Meintest du vielleicht >mit jemandem Katz und Maus spielen« »Genau!«, freute sich Glatzkopf-Li. »Genau das lag mir auf der Zunge!« Bis in die tiefe Nacht hinein berieten die Brüder über das weitere Vorgehen gegenüber der Katz und Maus spielenden Lin Hong. Song Gang erwies sich als talentierter Sandkastenstratege, schließlich kannte er seinen Sunzi. (Er hatte das zerfledderte Exemplar der zweieinhalb Jahrtausende alten 413
»Kriegskunst des Sunzi« zwar nicht zur Gänze gelesen, aber immerhin ... ) Er schloss die Augen, um sich die Strategeme des Meisters ins Gedächtnis zu rufen, öffnete sie dann wieder, als er die Situation des Gegners - hier: Lin Hong - analysierte und kam zu dem Schluss, ihr Katz-und-Maus-Spiel sei ein überaus raffinierter Schachzug. »Richtig ausgefuchst ist die Frau. Vormarsch oder Rückzug, beides lässt sie sich damit offen!«, erklärte er. Dann blätterte er abermals in seinem Lexikon und fand tatsächlich weitere passende Redensarten, die auf Sunzis Strategemen beruhten. Triumphierend die fünf Finger einer Hand reckend, sagte er zu Glatzkopf-Li: »Es gibt fünf Taktiken, um Lin Hang in diesem Spiel zu besiegen.« »Und die wären?«, fragte Glatzkopf-Li in freudiger Erwartung. Song Gang senkte einen Finger nach dem anderen, während er die zu jeweils vier chinesischen Schriftzeichen komprimierten Taktiken aufzählte: »>Etwas durch die Blume sagen<, >mit der Tür ins Haus fallen<, >der Feind steht vor den Toren<, >tief ins feindliche Hinterland vordringen< und >steter Tropfen höhlt den Stein<.« Die ersten beiden Taktiken, erläuterte er, hätten sie ja schon angewendet: Gestern hätten die Kinder Glatzkopf-Lis Gefühle verblümt ausgedrückt, während er mit seinem eigenen Auftritt heute quasi mit der Tür ins Haus gefallen sei. Was die dritte Taktik betreffe - >der Feind steht vor den Toren< -, bedeute dies, er dürfe nicht mehr allein operieren, sondern müsse mit der gesamten Belegschaft der Geschützten Werkstatt ausrücken, damit Lin Hong eine Vorstellung von seinem - Direktor Lis - wahren Wert als Mann bekomme. 414
Ausschlaggebend sei jedoch die vierte Taktik, betonte Song Gang, denn der tiefe Vorstoß ins Hinterland des Feindes entscheide über Sieg oder Niederlage. »Ja, und was heißt das konkret?«, fragte Glatzkopf-Li mit funkelnden Augen. »Du rückst ihr auf die Bude!«, antwortete Song Gang. »>Tief ins feindliche Hinterland vorstoßen< bedeutet, du gehst zu ihr nach Hause und bringst die Eltern auf deine Seite, frei nach dem Motto >Wer die Räuber fangen will, muss zuerst ihren Hauptmann fassen<.« Das leuchtete Glatzkopf-Li ein. Kopfnickend fragte er: »Und was bedeutet >steter Tropfen höhlt den Stein« »Du lässt dich täglich bei ihr blicken, lässt nicht nach, bis sie ihren Widerstand aufgibt.« Glatzkopf-Li schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und rief: »Song Gang, du bist der geborene Einflüsterer!« Ohne Zeit zu verlieren, begann er am nächsten Tag mit der Umsetzung des Kriegsplans und ließ »den Feind vor den Toren« aufmarschieren. Mit seinen vierzehn hinkenden, debilen, blinden und tauben Paladinen flanierte er durch die Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen, zum Gaudi zahlreicher Einwohner, die sich das seltene Schauspiel natürlich nicht entgehen ließen und vor Lachen wieherten, sodass sie hinterher ganz heiser waren. Da Glatzkopf-Li befürchtete, die beiden Hinkebeine könnten zurückfallen, weil sie so langsam waren, ließ er sie an der Spitze seines Liebeswerber-Zuges marschieren. Das hatte jedoch zur Folge, dass dieser immer wieder ins Stocken geriet. Der eine Hinkende hatte nämlich einen Linksdrall, während der andere die äußerste rechte Straßenseite bevorzugte, was 415
wiederum die Hand in Hand hinter ihnen her gehenden drei geistig Behinderten ganz konfus machte: Mal folgten sie dem Linken, mal ordneten sie sich einträchtig hinter dem Rechten ein, sodass auch die vier Blinden, die sie bald links, bald rechts mit ihren Bambusstöcken ertasteten, kopfscheu wurden, über sie stolperten und hinfielen. Zwar rappelten sie sich wieder auf und marschierten tapfer weiter, hatten nun aber die Richtung verloren. Während einer vorwärts ging, liefen zwei zurück und ein Weiterer seitwärts. Als er am Straßenrand mit seinem Bambusstöckchen an eine Ulme stieß, rief er verzweifelt: »Direktor Li! Direktor Li, wo bin ich denn hier?« Glatzkopf-Li hatte unter diesen Umständen alle Hände voll zu tun. Kaum hatte er die beiden zurücklaufenden Blinden umgelenkt, da war der eine, der in die richtige Richtung ging, schon wieder von den drei Hinkenden zu Fall gebracht worden, während der Blinde an der Ulme immer noch flehentlich um Hilfe rief. Zum Glück waren da noch die fünf Gehörlosen, die von Glatzkopf-Li mit eindringlichen Handbewegungen aufgefordert wurden, nicht mehr in geschlossener Formation weiterzumarschieren, sondern erst einmal die Blinden individuell zu betreuen. Einer sollte sich um den an der Ulme kümmern, die anderen sollten aufpassen, dass den vor ihnen marschierenden drei Blinden nichts passierte beziehungsweise dem Hingefallenen schleunigst wieder aufhelfen. Während Glatzkopf-Li die fünf Männer mit Händen und Füßen herumkommandierte, als führe er einen Freudentanz auf, fand er sogar noch Zeit, um den Zuschauern am Straßen416
rand, auf seine Ohren deutend, zuzurufen: »Die fünf sind nämlich taub!« Bei der Neuformierung seiner Liebeswerber ging ihm auf, dass die beiden Hinkenden an der Spitze des Zuges das eigentliche Problem waren. Er eilte nach vorn und ließ sie die Plätze tauschen: Der mit dem Linksdrall musste jetzt auf der rechten Seite laufen und der mit dem Rechtsdrall auf der linken. Auf diese Weise strebten sie nicht mehr auseinander, stießen vielmehr nach ein paar Schritten zusammen, um sich sogleich erneut zu trennen und nach wenigen Schritten abermals zusammenzustoßen, und so weiter. Nun konnte Glatzkopf-Li seine volle Aufmerksamkeit wieder den fünf Gehörlosen zuteil werden lassen, und siehe da, seine pantomimischen Anweisungen fielen jetzt auf fruchtbaren Boden. Die fünf verstanden, was von ihnen erwartet wurde. Zwei liefen links und drei rechts, um wie Feldgendarmen darüber zu wachen, dass die Marschordnung nicht wieder durcheinander geriet. Nachdem alle Hindernisse glücklich ausgeräumt waren und der Zug der Liebeswerber zügig vorwärts marschierte, wischte sich Glatzkopf-Li den Schweiß von der Stirn und winkte den sich königlich amüsierenden Zuschauern am Straßenrand wie ein hoher Funktionär auf Inspektionsreise huldvoll zu. Allen Leuten, die sich neugierig erkundigten, wohin denn dieser seltsame Zug unterwegs war, erzählte er treuherzig, er habe die gesamte Belegschaft der Geschützten Werkstatt mobilisiert, weil er das Strategem »der Feind steht vor den Toren« anwenden und deshalb zur Wirkwarenfabrik marschieren wolle, um Lin Hong seine bergehohe, um nicht zu sagen: ozeanische Liebe zu offenbaren. »Sie soll erfahren, 417
dass meine Liebe zu ihr höher ist als die höchsten Berge und tiefer als das tiefste Meer!«, erklärte er. Das war nun etwas so unerhört Neues für unsere kleine Stadt Liuzhen, dass es sich in Windeseile herumsprach und sich alle Müßiggänger auf den Straßen, Männlein wie Weiblein, Alt und Jung, kurzerhand ebenfalls in Richtung Wirkerei in Bewegung setzten. Ihnen schlossen sich auch viele Verkäuferinnen und Verkäufer aus den Geschäften und noch mehr Arbeiterinnen und Arbeiter aus den Fabriken an, sodass die Menschenmasse immer mehr anschwoll und Glatzkopf-Lis Liebeswerber- Truppe von allen Seiten einkreiste, bis sich am Ende eine einzige unübersehbare Menge auf die Wirkwarenfabrik zu wälzte. Der alte Pförtner wurde ganz aufgeregt, als sich so viele Menschen vor seinem Tor versammelten. Seit der Kulturrevolution, schwor er, habe er nie wieder einen solchen Menschenauflauf erlebt. »Man könnte denken, der Vorsitzende Mao persönlich sei gekommen«, meinte er im Scherz. Jemand aus der Menge erwiderte in dem gleichen scherzhaften Ton: »Der ist doch schon ein paar Jahre tot!« Der Alte antwortete betrübt: »Ja, wer wüsste nicht, dass unser verehrter Vorsitzender nicht mehr unter uns weilt!« Glatzkopf-Li ordnete unterdessen vor dem Tor seine Heerscharen. Er gliederte sie in zwei Reihen. Die zwei Hinkenden, die vier Blinden und die zwei Gehörlosen, die nicht stumm waren, bildeten die erste Reihe; in die zweite Reihe stellte er die drei geistig Behinderten und die drei Taubstummen. Zu Hause in der Geschützten Werkstatt hatte er einen Vormittag lang mit ihnen geübt, und zwar sollten nur die acht in der ersten Rei418
he rufen, während die sechs in der zweiten Reihe die Aufgabe hatten, kräftig zu applaudieren. Hinsichtlich der drei Debilen hatte er seine Lehren aus dem Besuch von Tao Qing gezogen. Ihm war klar, »eine drei Fuß dicke Eisschicht ist nicht das Ergebnis eines einzigen Frosttages«, wie es so schön heißt sie würden todsicher wieder »Direktor Li« rufen, wenn es eigentlich »Lin Hong« heißen müsste. Daher hatte er den ganzen Vormittag lang mit ihnen - buchstäblich - das Mundhalten trainiert und sie sich mit beiden Händen den Mund zuhalten lassen. Dennoch traute er ihnen jetzt, da sie vor dem Tor der Wirkerei standen, immer noch nicht so ganz und ließ sie vorsichtshalber noch drei weitere Male üben, und siehe da, es klappte! Sobald er seine Hände hob, klatschten die drei Debilen ihre sechs Hände auf ihre Münder. Glatzkopf-Li kontrollierte noch einmal bei jedem Einzelnen, ob die Lippen auch wirklich fest verschlossen waren, dann sagte er zufrieden: »Prima! Da kommt nichts durch.« Inzwischen herrschte ein Höllenlärm. Glatzkopf-Li wandte sich zu der unübersehbaren Menschenmenge um, riss die Arme hoch und stieß sie sogleich energisch wieder hinunter, als wäre er der große Karajan persönlich, aber erst nachdem er das sieben mal getan hatte, verebbte der Lärm endlich, bis auf ein paar vereinzelte Geräusche. Den Zeigefinger auf die Lippen gelegt und unausgesetzt »Psst!«, machend, drehte sich Glatzkopf-Li immer wieder um hundert achtzig Grad, bis er allmählich selbst rammdösig wurde. Immerhin - die Menschen waren inzwischen mucksmäuschenstill. »Alle machen jetzt schön mit, ja? «, rief er in die Menge. »Ja!«, kam es vielstimmig zurück.
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Glatzkopf-Li nickte zufrieden, doch als abermals vereinzelte Stimmen die Stille durchbrachen, legte er schnell wieder den Finger an die Lippen, machte »Psst!« und nahm seine Drehbewegung wieder auf. Es hatte noch nicht zum Feierabend geläutet, da erschien in Begleitung einiger anderer Männer am Tor der Wirkerei deren Direktor namens Liu, ein stadtbekannter Kettenraucher, der vom frühen Morgen bis zum späten Abend nie ohne seine Zigarette anzutreffen war und täglich drei Schachteln rauchte. Ihm war hinterbracht worden, dass Glatzkopf-Li als »Feind vor den Toren« stehe und fast die gesamte Einwohnerschaft unserer kleinen Stadt Liuzhen mitgebracht habe. Direktor Liu, ein Mann von Mitte dreißig, erschrak, als er den Menschenauflauf vor seinem Tor erblickte. Dieser Glatzkopf-Li, dachte er bei sich, was ist das für ein verdammter Vollidiot! Weil er ihn jedoch von vielen gemeinsamen Sitzungen her gut kannte, winkte er ihm schon von weitem zu und rief, durchaus freundschaftlich: »Direktor Li! Direktor Li!« Als er dann aber neben »Direktor Li« stand, vergaß er in seiner Erregung für einen Moment sogar seine geliebte Zigarette, die im übrigen schon fast aufgeraucht war. »Was machst du denn bloß! Guck dir das nur an - das ganze Tor ist versperrt, wie sollen denn die Arbeiterinnen nach Hause kommen?«, zischte er vorwurfsvoll. Glatzkopf-Li grinste. »Direktor Liu, du brauchst bloß Lin Hong herauszuschicken, damit wir kurz mit ihr reden können, dann ziehe ich sofort meine Truppen zurück«, sagte er. Direktor Liu war klar, dass ihm wohl nichts anderes übrig bleiben würde. Mit einer jähen Handbewegung - die Glut 420
seiner Zigarette hatte ihm soeben die Finger verbrannt - warf er den Stummel fort, nickte kurz, zündete sich die nächste Kippe an, tat einen gierigen Zug und bedeutete dann einem aus seinem Gefolge, er solle Lin Hong holen. Zehn Minuten später erschien das Mädchen, mit steifen Armen und geballten Fäusten, den Kopf gesenkt, ungelenk staksend, als wäre sie gehbehindert. Die Menge johlte los, sodass sich Glatzkopf-Li bemüßigt fühlte, seine KarajanNummer zu wiederholen. Als der Lärm sich allmählich wieder legte und er sich umdrehte, stand Lin Hong bereits neben ihm. Schnell gab er seinen vierzehn Paladinen das vereinbarte Zeichen, das heißt, er hielt mit der Linken den Mund zu, während er zugleich die Rechte energisch nach oben riss. Erstaunlicherweise reagierten die drei Debilen in der hinteren Reihe am schnellsten: Sie klappten sich sofort die Hände vor den Mund. Als Nächste fingen die drei Taubstummen in der zweiten Reihe an, aus Leibeskräften zu klatschen, aber dann setzte auch schon der Chor der acht Hinkebeine, Blinden und Gehörlosen aus der vorderen Reihe ein: »Lin Hong! Lin Hong! Lin Hong!« Ohne zu zögern stimmte die unübersehbare Menge hinter ihnen ein: »Lin Hong! Lin Hong! Lin Hong!« Nun setzten die acht aus der vorderen Reihe programmgemäß fort: »Bitte werde First Lady in der Geschützten Werkstatt! Bitte werde First Lady in der Geschützten Werkstatt!...« Aufgeregtes Gemurmel in der Menge. Erst nachdem die acht Hinkebeine, Blinden und Gehörlosen ihr Sprüchlein viermal wiederholt hatten, verstanden es die Zuhörer endlich und reduzierten es praktischerweise auf seinen Kern. »First 421
Lady! First Lady! First Lady!«, schallte es aus Hunderten Kehlen. Glatzkopf-Lis Augen leuchteten. Tief ergriffen seufzte er: »Das ist die Stimme der Massen - wenn das nicht eindeutig ist! ... « Endlich schaute auch Lin Hong auf - bisher hatte sie eisern den Kopf gesenkt. Als sie die gewaltige Menschenmenge erblickte, blieb sie erschrocken stehen. In diesem Moment passierte etwas völlig Unerwartetes. Einer von den drei geistig Behinderten, der sich ursprünglich ganz brav den Mund zugehalten hatte, geriet durch den Anblick von Lin Hongs Schönheit, der sich ihm bot, als sie den Kopf hob, so aus der Fassung, dass er die vor ihm stehenden Blinden zur Seite schob und mit ausgebreiteten Armen auf die junge Frau zulief, wobei er sabbernd immer wieder rief: »Schwesterchen! Knuddeln! Knuddeln!« Erst ging ein Raunen durch die Menge, aber dann brach eine ohrenbetäubende Lachsalve los. So laut war der Lärm, dass man hätte denken können, eine Bombe wäre soeben über dem Platz explodiert. »Scheiße! Verfluchte Scheiße!«, vor sich hin murmelnd, stürzte Glatzkopf-Li, der nicht damit gerechnet hatte, dass einer von den geistig Behinderten sich plötzlich verlieben würde, auf den Mann zu und schrie ihn mit mühsam gedämpfter Stimme an: »Du trittst sofort ins Glied zurück, du verdammter Idiot!« Der tat jedoch nichts dergleichen, sondern entwand sich Glatzkopf-Lis Griffen und rannte weiter Richtung Lin Hong, »Schwesterchen! Knuddeln!« rufend. Glatzkopf-Li holte ihn wieder ein und hielt ihn diesmal fest umklammert. »Lin Hong kann nicht mit dir knuddeln!«, re422
dete er ihm leise zu. »Die soll doch mit mir knuddeln. Denn dann ist sie die First Lady. Knuddelt sie mit dir, ist sie bloß die Frau eines Schwachkopfs.« Erbost, dass er daran gehindert wurde, zu Lin Hong vorzudringen, boxte der liebestolle Mann Glatzkopf-Li mit voller Wucht auf das linke Auge, sodass er vor Schmerz aufschrie. Während er ihn mit seiner rechten Hand von hinten an der Jacke festhielt, winkte er mit der Linken seine restlichen Mannen herbei: »Nehmt ihn fest, aber dalli!« Der Debile, der sich wunderte, dass er plötzlich nicht vom Fleck kam, ruderte mit den Armen wie ein Ertrinkender, während die dreizehn anderen Paladine sich in Marsch setzten, voran die fünf Gehörlosen, dicht gefolgt von den bei den anderen geistig Behinderten, die sich fortwährend nach allen Seiten umschauten, weil sie nicht begriffen, was eigentlich vor sich ging, und den bei den Hinkebeinen - der eine mit dem Links-, der andere mit dem Rechtsdrall- sowie als Nachhut den vier Blinden, die immerhin mitbekommen hatten, dass etwas im Busche war, und sich ohne Hast, mit den Bambusstöcken vor sich auf den Erdboden klopfend, ihren Weg suchten. Die fünf Gehörlosen und die beiden Hinkebeine drückten mit vereinten Kräften den verliebten Debilen zu Boden, während die beiden anderen geistig Behinderten kichernd daneben standen und die Blinden sich wie vier Feldwachen in einer Reihe aufstellten und im Takt mit ihren Stöcken auf den Boden klopften. Der zur Strecke gebrachte Debile quiekte jetzt wie ein Schwein beim Schlachter: »Schwesterchen! Knuddeln! ... « Glatzkopf-Li blieb unter den gegebenen Umständen nichts anderes übrig, als - etwas überstürzt - seine überfallartige 423
Liebeswerbung nach dem Motto »der Feind steht vor den Toren« abzubrechen. Die linke Hand auf sein schmerzendes Auge pressend, gab er mit der Rechten seinen dreizehn Gefolgsmännern das Zeichen, sich unter Mitnahme des ausgeflippten Schwachsinnigen wieder in die Geschützte Werkstatt zurückzuziehen. Die bei den Hinkenden bahnten abermals den Weg, die zwei geistig Behinderten und fünf Gehörlosen den renitenten Debilen fest im Griff - gingen dahinter, und am Schluss folgten die vier Blinden. Weil der Mann nach wie vor heftig sabbernd »Schwesterchen! Knuddeln!« vor sich hin brabbelte, wischten sich die ihn bändigenden fünf Gehörlosen ständig seine Spucke aus dem Gesicht. Die beiden anderen Debilen dagegen, ebenso von dem Spuckeregen betroffen, schauten erstaunt nach oben und konnten sich nicht erklären, wieso ihre Gesichter trotz des strahlend blauen Himmels so feucht waren. Die Einwohner unserer kleinen Stadt Liuzhen kamen in ihren angeregten Diskussionen über die Ereignisse dieses Nachmittags zu dem Schluss, dass das eigentliche Highlight nicht die Begegnung zwischen Glatzkopf-Li und Lin Hong, sondern der Angriff des liebeskranken geistig Behinderten auf Glatzkopf-Li gewesen sei, in dessen Ergebnis GlatzkopfLis linkes Auge wie ein grüner Apfel aussah und er vor Schmerz die Zähne zusammenbiss. Tenor des schadenfrohen Tratsches war, man hätte nie gedacht, einer von den behinderten Untergebenen Glatzkopf-Lis würde um der gerechten Sache willen zur Gegenseite überlaufen und mit einem einzigen Fausthieb einen »einäugigen Drachen« aus seinem Chef machen. Das alte Sprichwort treffe eben immer noch zu: »Für einen Freund bringt man jedes Opfer, für eine Frau op424
fert man jeden Freund« - eine unumstößliche Wahrheit sei das, die für jeden gelte, selbst für einen Schwachsinnigen! Von da aus führte ihre Gedankenreihe die Leute wieder zurück zu Glatzkopf-Li: Wenn der sein blaues Auge jetzt noch mit einer schwarzen Klappe schützen würde, sprachen sie untereinander, dann könnte der glatt für einen europäischen Piraten durchgehen! Drei Tage nach seinem verunglückten Aufmarsch vor den Toren des »Feindes« - die Schwellung seines linken Auges fiel immer noch sehr auf - wandte Glatzkopf-Li die vierte Taktik an, die ihm von Song Gang empfohlen worden war. Er stieß tief ins feindliche Hinterland vor, sprich: Er suchte Lin Hong in ihrer Wohnung auf, und zwar diesmal in Begleitung des Bruders, seines »Einflüsterers«, um jederzeit auf dessen raffinierte Tricks zurückgreifen zu können, falls abermals etwas Unvorhergesehenes passieren sollte. Mindestens drei solcher Kniffe erwarte er von Song Gang, sagte er, drei Finger hochhaltend, damit er zur Not darunter seine Wahl treffen könne. Während die beiden - einer groß, der andere klein, einer wie ein Zivilbeamter, der andere wie ein General - unter solch munteren Reden durch die Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen marschierten, war Glatzkopf-Li in bester Stimmung. Er fand Song Gangs Idee, tief ins feindliche Hinterland vorzustoßen und Lin Hongs Eltern für sich zu gewinnen, ausgesprochen clever und lobte ihn in den höchsten Tönen dafür: »Dein Spruch mit dem Räuberhauptmann, den man zuerst fangen muss, wenn man die ganze Bande fassen will, der ist echt klasse!«
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Song Gang jedoch, der mit einer Literaturzeitschrift unter dem Arm neben dem Bruder herlief, teilte dessen Siegessicherheit keineswegs. Von den fünf Taktiken, die er ihm vorgeschlagen hatte, waren immerhin schon drei fehlgeschlagen, und ob Glatzkopf-Li mit der vierten Erfolg haben würde, war für ihn mehr als fraglich. Als die beiden vor Lin Hongs Tür standen, erklärte er, er würde nicht mit hineingehen, sondern draußen auf der Straße warten. Es sei ihm peinlich mitzugehen. Glatzkopf-Li aber wollte davon nichts hören, da sie doch nun einmal zusammen gekommen seien. »Warum sollte dir das peinlich sein?«, rief er. »Ich bin es doch, der ihr seine Liebe erklärt! Es reicht, wenn du zuschaust.« Song Gang wurde rot. »Red nicht so laut!«, flüsterte er. »Auch wenn ich nur zuschaue, ist es mir peinlich.« »Dir ist wirklich nicht zu helfen!«, erwiderte Glatzkopf-Li kopfschüttelnd. »Du taugst nur zum Einflüsterer, zu sonst nichts.« Sprach's und marschierte voller Selbstsicherheit in den Wohnhof, den Lin Hongs Familie sich mit mehreren anderen Haushalten teilte. Der Raum zwischen den im Karree angeordneten ebenerdigen Gebäuden war im Augenblick menschenleer, nur drei Türen zum Hof standen offen. Gut gelaunt rief Glatzkopf-Li »Guten Tag, Onkel! Guten Tag, Tante!« und trat auf gut Glück durch eine der geöffneten Türen. Als er drinnen ein junges Paar, das ihn erstaunt anstarrte, am Tisch sitzen sah, breitete er entschuldigend die Hände aus und sagte, immer noch gut gelaunt: »Oh, 'tschuldigung, ich habe mich geirrt.«
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Dann probierte er es an der nächsten offenen Tür und hatte diesmal die richtige getroffen. Lin Hongs Eltern waren beide zu Hause. Sie kannten Glatzkopf-Li nicht, und als dieser stämmige junge Mensch sie nonchalant mit »Onkel« hier und »Tante« da begrüßte, sahen sie einander verblüfft an: Wer war dieser Mann, der da plötzlich mitten in ihrer Wohnung stand und sich ungeniert umschaute? Lächelnd fragte Glatzkopf-Li: »Lin Hong ist wohl nicht zu Hause?« Beide Eltern nickten gleichzeitig. »Sie ist einkaufen«, sagte Lin Hongs Mutter, was Glatzkopf-Li mit einem Kopfnicken quittierte. Dann trat er, die Hände in den Hosentaschen, in die Küche und schaute sich dort ausgiebig um. Lin Hongs Eltern, immer noch rätselnd, wer dieser Mensch wohl sei, waren aufgestanden und ihm gefolgt. Am Kohleherd bückte sich Glatzkopf-Li und inspizierte den Pappkarton, in dem die Eierbriketts aufbewahrt wurden. »Onkel«, fragte er, indem er sich aufrichtete, »der Kasten ist ja ganz voll - die Briketts haben Sie bestimmt gestern erst gekauft, nicht?« Lin Hongs Vater nickte mechanisch, verbesserte sich aber sofort: »Vorgestern.« Glatzkopf-Li nickte seinerseits verständnisinnig und widmete sich nunmehr der Reiskruke, deren Holzdeckel er hochhob. Als er sich vergewissert hatte, dass sie gut gefüllt war, sagte er: »Und den Reis haben Sie gestern gekauft, Onkel, ja?« Diesmal schüttelte Lin Hongs Vater erst den Kopf, um gleich darauf nickend zu bestätigen: »Ja, den habe ich gestern gekauft.«
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Nun zog Glatzkopf-Li die rechte Hand aus der Tasche, fuhr sich über seinen kahlen Schädel und machte Lin Hongs Eltern ein generöses Angebot: »Kohle schleppen, Reis kaufen, solche schweren körperlichen Arbeiten, die kann ich übernehmen, darum brauchen Sie beiden Altchen sich in Zukunft nicht mehr zu kümmern.« Jetzt endlich gab Lin Hongs Mutter ihre Zurückhaltung auf: »Wer sind Sie denn eigentlich?«, fragte sie. »Sie kennen mich nicht?«, entgegnete Glatzkopf-Li so erstaunt, als hätte er soeben einen Chinesen getroffen, der nicht weiß, dass Peking die Hauptstadt von China ist. »Ich bin Direktor Li von der Geschützten Werkstatt«, sagte er, sich an die Brust schlagend. »Mein Name ist Li Guang, aber alle nennen mich Glatzkopf-Li.« Bei diesen Worten wurde Lin Hongs Vater plötzlich ganz grün im Gesicht: Das also war der Kerl, der damals den Hintern seiner Tochter heimlich ausgespäht hatte und sie heute immer wieder bis aufs Blut reizte, sodass sie vor Zorn weinte! Und dieser Sittenstrolch, der in ganz Liuzhen berüchtigt war, der wagte es auch noch, ihr auf die Bude zu rücken! Vor Wut berstend, schrie er: »Raus! Raus, sage ich! Raus!« Er griff nach dem Besen im Türwinkel, seine Frau nach dem Handfeger auf dem Tisch, und dann rückten sie vereint gegen Glatzkopf-Li vor, der - mit bei den Händen seinen Kahlkopf schützend - mit wenigen Sätzen das Weite gewann. Der Hof war inzwischen von zahlreichen Bewohnern bevölkert, die, durch den Lärm aufmerksam geworden, begierig darauf warteten, was als Nächstes kommen würde. Glatzkopf-Li trug eine Miene absoluten Unverständnisses zur Schau, während er auf Lin Hongs zornbebende Eltern 428
einredete: »Ein Missverständnis! Das ist alles ein Missverständnis! Ich habe den Kindern gar nicht beigebracht, sie sollen >mit dir schlafen< rufen. Das war ein Sabotageakt! Von einem Klassenfeind! ... « Als Lin Hongs Eltern dennoch bei ihrem »Raus!«, blieben, versuchte er es noch einmal: »Es ist wirklich ein Missverständnis! Der Schwachsinnige, der ist unterwegs ausgeflippt, ich konnte da gar nichts machen. Es heißt immer:«, dies war an die neugierigen Nachbarn gerichtet, »>im Angesicht der Schönheit werden selbst Helden schwach.< Bei Idioten ist es eben auch nicht anders.« Lin Hongs Eltern schrien jedoch noch immer »Raus!« und hörten nicht auf, ihn mit Besen und Handfeger zu bearbeiten. Die Schläge des Vaters auf seine Schultern und das Gefuchtel der Mutter vor seiner Nase gingen Glatzkopf-Li allmählich auf die Nerven. Dennoch redete er ihnen weiter gut zu, während er zugleich ihren Attacken auszuweichen versuchte: »Bitte lassen Sie das doch! Wir werden ja bald alle eine Familie sein, Sie meine Schwiegereltern, ich Ihr Schwiegersohn. Wie sollen wir später miteinander auskommen, wenn Sie mich jetzt so wenig nett behandeln?« »Verpiss dich!«, brüllte Lin Hongs Vater und drosch noch einmal auf Glatzkopf-Lis Schulter. »Du sollst dich verpissen!«, schrie auch Lin Hongs Mutter und haute ihm den Handfeger um die Ohren. Glatzkopf-Li blieb nichts anderes übrig, als sich mit großen Sätzen auf die Straße zu retten. Erst nachdem er sich vergewissert hatte, dass die erbosten Eltern am Hoftor verharrten und keine Miene machten, ihn zu verfolgen, blieb er stehen. Aus sicherer Entfernung wollte er immer noch versuchen, 429
das »Missverständnis« aufzuklären, doch Lin Hongs Vater, mit dem Besen auf ihn zeigend, kam ihm zuvor: »Der Kerl da, das ist 'ne Warzenkröte, die nach Schwanenfleisch lechzt!«, höhnte er (das war an die zahlreichen Gaffer auf der Straße gerichtet), und seine Frau, den Handfeger schwenkend, stimmte ein: »Dass du's weißt« - dies an Glatzkopf-Lis Adresse -, »meine Tochter kriegst du nie! Diese Blume wird nie auf deinem Misthaufen blühen!« Glatzkopf-Li sah sich um - hier die schadenfrohe Menge der Gaffer, dort Lin Hongs wutentbrannte Eltern, dazwischen wie ein begossener Pudel sein Bruder -, nein, hier konnte er nicht länger bleiben! Er gab Song Gang ein Zeichen, und dann verließen die bei den überstürzt die ungastliche Stätte, Glatzkopf-Li vorneweg, Song Gang hinter ihm. Während sie durch die Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen liefen, konnte Glatzkopf-Li sich über seine herbe Niederlage gar nicht wieder beruhigen. Er hatte sich immer für etwas Besonderes gehalten, eine Persönlichkeit, wie man sie im Umkreis von tausend Meilen kein zweites Mal findet (na gut: hundert Meilen). Und nun sollte er plötzlich eine Warzenkröte sein! Und ein Misthaufen! »Alles Scheiße!«, sagte er zu Song Gang. »Aber, was soll's auch Helden haben mal' ne Pechsträhne.« Glatzkopf-Lis Groll über die Verunglimpfung als Warzenkröte und Misthaufen dauerte exakt eine Woche. Danach war der Drang, Lin Hong seine Liebe zu erklären, wieder so stark wie eh und je. Mit unvermindertem Eifer nahm er seine Nachstellungen wieder auf, und zwar bediente er sich jetzt der letzten der von Song Gang empfohlenen Taktiken: »Steter Tropfen höhlt den Stein.« 430
Er begann, dem Mädchen auf der Straße aufzulauern; Song Gang musste ihn wieder dabei begleiten. Sobald er Lin Hong erblickte, heftete er sich wie ihr Liebhaber und/oder Leibwächter an ihre Fersen und begleitete die junge Frau, die sich vor Zorn die Lippen wund biss und bittere Tränen vergoss, bis zu ihrer Haustür. Dabei redete er die ganze Zeit beruhigend auf sie ein und stellte ihr darüber hinaus, als wäre er ihr Verlobter, gewandt seinen Bruder vor: »Das ist mein älterer Bruder, Song Gang. Er wird bei unserer Hochzeit mein Trauzeuge sein.« Sobald der selbsternannte Liebhaber und/oder Leibwächter bemerkte, dass die Blicke irgendeines anderen männlichen Straßenpassanten auf Lin Hong gerichtet waren, zeigte er dem Betreffenden drohend die Faust und bellte mit böser Stimme: »Was guckst du? Noch einmal, und du kriegst was aufs Auge!« V Zu Hause angelangt, warf sich Lin Hong jedes Mal auf ihr Bett und weinte verzweifelt in die Kissen. Nachdem sie das zehnmal getan hatte, trocknete sie ihre Tränen und hörte auf zu weinen. Ihr war klar geworden, dass es nichts nützte, sich im Verborgenen zu grämen; dass sie sich etwas einfallen lassen musste, um mit diesem unverschämten Kerl fertig zu werden. Mit seinem Strategem »steter Tropfen höhlt den Stein« hatte Glatzkopf-Li zwar nicht erreicht, was er erreichen wollte, dafür hatte er aber etwas anderes bewirkt: Lin Hong war jetzt entschlossen, sich schnellstens nach einem potenziellen Ehemann umzuschauen.
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Diese Denkweise war zu jener Zeit unter jungen Mädchen weit verbreitet, und so lag es nahe, dass auch Lin Hong meinte, den lästigen Glatzkopf-Li am ehesten loszuwerden, indem sie sich einen Verehrer zulegte. Zunächst ließ sie die unverheirateten jungen Männer unserer kleinen Stadt Liuzhen Revue passieren und traf eine gewisse Vorauswahl. Dann machte sie sich sorgfältig zurecht, band sich ein cremefarbenes Seidentuch um den Hals und unternahm einen Spaziergang durch unsere kleine Stadt Liuzhen. Lin Hong, die sich früher selten einmal in der Öffentlichkeit gezeigt hatte, wurde mit der Zeit zu einer Art »Engel der Straße«, sehr zur Freude der männlichen Einwohnerschaft unserer kleinen Stadt Liuzhen. Manchmal in Begleitung ihrer Mutter, manchmal in Gesellschaft von Arbeitskolleginnen, war sie nahezu täglich, wenn es dämmerte, in der Stadt unterwegs, um erst im Schein des Mondes wieder heimzukehren. Sie war sich damals schon durchaus bewusst, dass ihre Schönheit sich überall herumgesprochen hatte und viele Männer in sie vernarrt waren. Wo der Mann war, den sie selbst liebte, das wusste sie jedoch nicht. Eine Zeit lang hatte sie gehofft, ihre Eltern würden ihr die Entscheidung abnehmen, stellte dann aber fest, dass sie allzu leicht zufriedenzustellen waren: Sobald ein junger Mann, der halbwegs infrage kam, einen Brautwerber vorbeischickte, gerieten sie vor Freude ganz aus dem Häuschen und meinten, der Betreffende sei ja nun wirklich viel besser als jener unsägliche Glatzkopf-Li. All diese Freier würdigte Lin Hong selbst jedoch keines Blickes, geschweige denn irgendwelcher Gefühle. Es blieb ihr daher nichts anderes übrig, als die Sache selber in die Hand zu nehmen und einen ihr genehmen Bräutigam 432
zu suchen. Wenn sie auf die Pirsch ging und einem hübschen Jüngling begegnete, pflegte sie ihn aufmerksam zu betrachten, um sich dann abzuwenden, einen - zwei - drei - vier - fünf Schritte weiter zu gehen und sich dann mit einem entzückenden Lächeln in ihrem reizenden Gesicht noch einmal nach dem Betreffenden umzuwenden und sich zu vergewissern, dass der junge Mann ihr total hingerissen hinterher schaute. In unserer kleinen Stadt Liuzhen gab es insgesamt zwanzig junge Männer, die Lin Hong auf diese Weise zwei oder mehr Male aufmerksam betrachtet hatte. Neunzehn davon machten sich darautbin Hoffnungen, nur einer reagierte überhaupt nicht: Song Gang. Die neunzehn waren überzeugt, Lin Hongs Blicke hätten etwas zu bedeuten, besonders jener zweite Blick. Das konnte nur heißen, sie war verliebt! Infolgedessen gaben sie sich den wildesten Fantastereien hin und konnten nachts vor Aufregung nicht mehr schlafen. Acht von den neunzehn waren bereits verheiratet. Seufzend und mit sich und der Welt hadernd, bereuten sie, sich so früh schon für ihr ganzes Leben gebunden und nun nicht einmal die Möglichkeit zu haben, einen glücklichen Kantenball zu schmettern. Zwei von den acht Verheirateten, deren Frauen eher unansehnlich waren, fuchste das besonders. Wenn sie manchmal mitten in der Nacht aufwachten, zwickten sie in ihrer Frustration schon mal ihre friedlich schlummernde Liebste - einer stets in den Oberschenkel, der andere in den Hintern, beides gleich schmerzhaft -, sodass die armen Frauen erschrocken aus ihren Träumen hochfuhren und vor Schmerz aufschrien, was wiederum die Übeltäter so erschreckte, dass sie sich schlafend stellten und sich mit 433
Schnarchen aus der Affäre zogen. Die Frauen konnten sich das seltsame Gebaren ihrer Männer nicht erklären und schoben ihre blauen Flecke an Oberschenkel beziehungsweise Hintern auf sexuelle Gewaltfantasien, die die Kerle im Schlaf überkamen. Am Tage machten sie ihrer Empörung lautstark Luft, abends aber weigerten sie sich kategorisch, zu ihren Männern unter die Decke zu schlüpfen. Das würde ihnen Angst machen, erklärten sie. Neun weitere von den neunzehn Männern hatten feste Freundinnen; auch sie seufzten und haderten mit sich und der Welt. Das Sprichwort hat schon recht, dachten sie, wer es eilig hat, kann keinen heißen Reisbrei essen, man soll eben nichts überstürzen! Insgeheim spielten sie sogar mit dem Gedanken, ihrer derzeitigen Freundin den Laufpass zu geben, erneut auf den Kriegspfad zu gehen und Lin Hong nachzusteigen. Acht von diesen neun wogen das Pro und Contra einer solchen Entscheidung sorgfältig ab: Gewiss, ihre Freundinnen waren nicht so attraktiv wie Lin Hong, aber es war doch ein ziemlicher Kraftakt gewesen, sie überhaupt für sich zu interessieren und sie dann mit List und Tücke so weit zu bringen, dass sie sie an sich heran ließen und schließlich sogar mit ihnen ins Bett gingen. Und außerdem hatte Lin Hong sie ja auch nur zweimal angeschaut. Ob das wirklich etwas zu bedeuten hatte, war mehr als fraglich, während sie mit ihren Freundinnen immerhin schon Nägel mit Köpfen gemacht (und diese Nägel bereits in das Brett eingeschlagen) hatten. Eine Ente, die schon fast gar ist, dachten sie bei sich, die lässt man nicht wieder fortfliegen. Deswegen gierten sie nur in Gedanken nach Lin Hong, unternahmen aber nichts Konkretes. Gehörten diese acht von den besagten neun jun434
gen Männern mit festen Freundinnen zum Typus des besonnenen Liebhabers, so war der neunte eher ein Abenteurertyp, denn er begann, zweigleisig zu fahren. Während er am Abend noch seine aktuelle Freundin mit heißen Liebesschwüren ins Bett lockte, kaufte er am Morgen danach klammheimlich zwei Kinokarten, von denen er eine in die eigene Brusttasche steckte, die andere aber Lin Hong überbringen ließ. Diese jedoch war mittlerweile so etwas wie der Sherlock Holmes unserer kleinen Stadt Liuzhen geworden. Sie wusste genau Bescheid über jeden einzelnen der bewussten zwanzig jungen Männer, und so war ihr auch bekannt, dass jener Abenteurertyp mit einer festen Freundin zusammenwohnte. Als sie die Kinokarte in Empfang nahm, ließ sie sich nichts anmerken, war aber innerlich empört, dass jemand kurz vor seiner Hochzeit es wagte, sich in dieser Weise an sie heranzumachen. Zu jener Zeit waren ja die Menschen ziemlich konservativ: Sobald ein Mann mit einer Frau geschlafen hatte, war das eine Abwertung für beide, den Mann und die Frau, denn damit war sozusagen aus einem Neuwagen ein Altwagen geworden, für den sich nur noch der Gebrauchtwarenhändler interessierte. Lin Hong wusste, dass die Freundin des Abenteurertyps Verkäuferin im Stoffgeschäft »Rote Fahne« war. Sie suchte also das Geschäft auf, schaute sich die bunt gemusterten Stoffe an und unterhielt sich dabei mit der Freundin des Abenteurers. Schließlich holte sie die Kinokarte hervor und überreichte sie der Verständnislosen. Dann erklärte sie ihr, diese stamme von ihrem Freund, und erzählte dem verstörten Mädchen den Hergang in allen Einzelheiten. Abschlie435
ßend warnte sie sie: »Ihr Freund, der ist der Chen Shimei von Liuzhen!«, und spielte damit auf jenen Gelehrten in der Ming-Zeit an, der seine Karriere einer liebenden Frau verdankte, die er schnöde fallen ließ. Jener Abenteurertyp nun war niemand anders als der einst weit und breit bekannte, später von panischer Angst erfasste Dichter Zhao. Nichts Böses ahnend, machte er sich gegen Abend in bester Laune auf den Weg ins Kino. Jemand will gehört haben, dass er unterwegs sogar vergnügt vor sich hin pfiff. Nachdem er eine halbe Stunde vor dem Eingang gewartet und der Film schon begonnen hatte, schlich er sich leise wie ein Dieb in den dunklen Zuschauerraum, tastete sich, nach der Helligkeit draußen fast blind, zu seinem Sitzplatz vor und setzte sich neben die Frau, deren Gesicht er zwar nicht erkennen konnte, von der er jedoch fest annahm, sie sei Lin Hong. »Ich wusste, du würdest kommen, Lin Hong!«, flüsterte er selbstsicher und begann unverzüglich, seiner Freundin mit schmeichelnder Stimme und in wohlgesetzten Worten ins Ohr zu flüstern, welch tiefe Gefühle er für sie Lin Hong - hege. Er kam jedoch nicht weit, denn bald ertönte ein spitzer Schrei, der an das Warnsignal einer Lokomotive erinnerte, und im nächsten Moment prasselten auf Dichter Zhao zahllose saftige Ohrfeigen nieder. In seiner Verblüffung über diesen Überraschungsangriff kam er gar nicht auf den Gedanken, sich zu verteidigen. Er saß wie vom Donner gerührt da, das Gesicht schutzlos den Schlägen ausgeliefert. Da die Stimme seiner Freundin infolge ihrer extremen Wut völlig 436
verändert war, erkannte er sie auch nicht an den Lauten, die sie dabei von sich gab. Überzeugt, es sei Lin Hong, die ihn ohrfeige, wurde er selbst nun ebenfalls wütend, denn eine derartige Behandlung seitens einer liebenden Frau empfand er als absolut verfehlt. Mit gedämpfter Stimme versuchte er, die Tobende zu besänftigen: »Lin Hong, nun lass doch mal gut sein! Was sollen denn die Leute denken!« Dichter Zhaos Freundin schrie: »Ich schlag dich tot, du verdammter - Chen Shimei von Liuzhen!« Jetzt endlich erkannte der Dichter seine Freundin. Erschrocken versuchte er, mit den Armen seinen Kopf zu schützen, während er die Schläge der kreischenden Frau über sich ergehen ließ. Dabei lief die ganze Zeit der Film auf der Leinwand weiter - es war der Kung-FuFilm »Der Shaolin- Tempel« -, sodass einige Zuschauer hinterher sagten, sie hätten gleich zwei Kämpfer in Aktion erlebt, Li Lianjie im Film und Dichter Zhaos Freundin im Saal; der Kampf im Saal sei aber eindeutig spannender gewesen. Danach zu urteilen, wie sie wutschnaubend den Dichter vertrimmt habe, müsse Dichter Zhaos Freundin eine erstklassige Kämpferin sein, auf jeden Fall besser als der Held des Films! Dichter Zhao hatte es nun in der ganzen Stadt abermals zu trauriger - Berühmtheit gebracht. Sein Bekanntheitsgrad war sogar noch größer, als es seinerzeit der des Frauenärsche ausspähenden Glatzkopf-Li gewesen war. Und was seine Freundin betraf, so machte sie selbstverständlich Schluss mit ihm und heiratete einen anderen, dem sie alsbald einen pummligen Sohn gebar. Dichter Zhao blieb nichts als bittere Reue; er fand nie wieder eine Freundin, geschweige denn eine Ehefrau. Später, als ihm wieder einmal sein Unglück so 437
recht bewusst wurde, sagte er zu Schriftsteller Liu: »Ich weiß jetzt, was das heißt - auf Wolle ausgehen und geschoren heimkehren!« Schriftsteller Liu fand das sehr lustig. Er musste daran denken, wie er sich selbst seinerzeit genau wie Dichter Zhao allerlei Hoffnungen in Bezug auf Lin Hong gemacht hatte und fast seine jetzige Ehefrau ihretwegen fallen gelassen hätte. Er schlug ihm auf die Schulter und sagte, halb tröstend, halb selbstgefällig: »Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung.« Nur zwei von den neunzehn jungen Männern, die sich auf Lin Hong Hoffnungen machten, waren echte Junggesellen. Diese beiden stolzen Söhne Liuzhens begannen jetzt, ihre Liebeswerbung ernsthaft umzusetzen. Beide erklärten, weder verheiratet zu sein noch eine Freundin zu haben. Einer gewährte Lin Hongs Eltern darüber hinaus Einblick in seine Krankenakte, aus der hervorgehe, dass er weder geistesgestört noch chronisch krank sei. Daraufhin schleppte der andere flugs die Krankenakten seiner Eltern an, blätterte sie vor Stolz geschwellt vor Lin Hongs Vater und Mutter auf dem Tisch auf, als wären es kostbare Bilder, die er ihnen da zeigte, und forderte sie auf, sich die Krankengeschichten genau anzuschauen, damit sie sähen, dass seine Eltern niemals an Psychosen oder chronischen Krankheiten gelitten hätten. Was ihn selbst betreffe, sagte er und schlug sich dabei an die Brust, so gebe es von ihm nicht einmal eine Krankenakte! Er wisse gar nicht, was das sei - krank sein. So gesund sei er, dass er niemals auch nur geniest habe. Wenn er als kleines Kind jemanden niesen sah, habe er sich immer sehr gewundert und gedacht, aha!, mit der Nase kann man also auch furzen. 438
Kaum hatte er zu Ende gesprochen, verspürte der Freier ein Kribbeln in der Nase und riss unwillkürlich den Mund weit auf - ganz offensichtlich kündigte sich ein Niesen an. Als schlucke er Gift, unterdrückte er mit gefletschten Zähnen das Niesen und bemäntelte es schnell mit einem vorgetäuschten Gähnen. »Hab letzte Nacht nicht so gut geschlafen«, murmelte er entschuldigend. Nachdem die beiden echten Junggesellen mehrmals bei Lin Hong zu Hause vorgesprochen hatten, war deren Verhalten zwar nach wie vor weder kalt noch warm, doch ihre höflichen Eltern trugen eine so freundliche Miene zur Schau, dass die bei den sich schon als zukünftige Schwiegersöhne sahen und mit »Mama« hier und »Papa« da nur so um sich warfen. Ihre plumpe Vertraulichkeit verursachte Lin Hongs Eltern eine Gänsehaut, und sie protestierten gegen diese Anrede. Daraufhin bewies der eine immerhin einen gewissen Takt, indem er zu »Onkel« und »Tante« überging, während der andere, dickfelliger sogar als Glatzkopf-Li, weiter bei »Mama« und »Papa« blieb: Früher oder später werde er sie ja ohnehin so nennen - warum also nicht früher? Mit finsterer Miene knurrten die solchermaßen Angeredeten: »Wer ist hier dein Papa? Wer deine Mama?« Lin Hong selbst hatte für die beiden Schönlinge auch wegen ihres Geizes nur tiefste Verachtung. Nicht allein, dass sie jedes Mal mit leeren Händen erschienen - sie trödelten auch noch absichtlich bis zur Essenszeit herum, in der Hoffnung, eine Mahlzeit zu ergattern. Doch halt! Einer von den bei den hatte einmal ein Geschenk für Lin Hong mitgebracht, eine Handvoll Melonenkerne. Während er sich mit ihr und ihren Eltern unterhielt, saß er die ganze Zeit mit der rechten Hand 439
in der Hosentasche da und passte den Moment ab, wo Vater und Mutter in der Küche verschwanden. Da hielt er ihr die Melonenkerne so feierlich hin, als handele es sich um einen Diamanten aus Südafrika. Lin Hong gab vor, die Kerne in seiner schweißigen Hand, vermischt mit Flusen aus der Hosentasche, nicht zu bemerken und wandte sich angeekelt ab. So ein Idiot!, dachte sie. Dagegen ist ja Glatzkopf-Li noch Gold. Als ihre Eltern sahen, dass die Freier nicht wichen, forderten sie sie aus purer Höflichkeit auf, mit ihnen zu Abend zu essen. Schon nach der ersten Mahlzeit bei Lin Hong zu Hause posaunten die beiden überall herum, sie hätten etwas mit ihr. Der eine prahlte, wie fürsorglich die Mutter ihm mit ihren eigenen Essstäbchen die Speisen vorgelegt habe, während der andere - nachdem ihm das zu Ohren gekommen war - herum fabulierte, wie verliebt ihn Lin Hong angeschaut habe, als sie selbst ihm auftat. Darüber hinaus veranlassten beide Freier ihre Freunde und Bekannten, überall erfundene Geschichten über die angeblich so tiefe Liebe zwischen ihnen und Lin Hong zu verbreiten. Die Freunde hielten das für verfrüht. Klar, reden koste nichts, wandten sie ein, aber es wäre doch mehr als blamabel, wenn Lin Hong die Geschichten am Ende nicht bestätige. Die Freier wollten von solchen Bedenken jedoch nichts hören. Keiner von beiden mochte hinter dem Mitbewerber zurückstehen, wo der doch den Mund so voll nahm. Hinzu kam die Überlegung, dass es ihnen schon allein zur Ehre gereichte, überhaupt um Lin Hong geworben zu haben, selbst wenn sie damit am Ende keinen Erfolg haben würden. Auf jeden Fall würden dadurch ihr eigener Marktwert gesteigert und ihre Ausgangsposition entschei440
dend verbessert, falls sie sich später einmal um ein anderes Mädchen bemühen sollten. Am Ende kam es zur unvermeidlichen Konfrontation zwischen den beiden eingebildeten Liebhabern. Der eine ließ sich gerade auf offener Straße lang und breit über sein Liebesverhältnis mit Lin Hong aus, als der andere vorbeikam. Als er die Prahlereien des Rivalen nicht mehr ertrug, rief er laut: »Alles Quatsch!« Was folgte, war eine erbitterte Schlammschlacht zwischen den Kontrahenten vor den Augen und Ohren der interessierten Öffentlichkeit unserer kleinen Stadt Liuzhen. Anfangs nahmen die Zuschauer an, die beiden würden handgreiflich werden, denn während sie einander auf das Übelste beschimpften, rollten sie sich die Ärmel hoch, erst die linken, dann - gleichzeitig - auch die rechten. Die Gaffer wichen ein Stück zurück, um Platz für die Kampfhähne und den erwarteten Boxkampf zu schaffen. Die beiden hockten sich jedoch hin und krempelten auch ihre Hosenbeine hoch, was die Zuschauer erst recht in Stimmung brachte, weil jetzt, wie sie sich untereinander versicherten, alles auf einen richtig harten, einen begeisternden Fight um die Krone eines Boxweltmeisters im Leichtgewicht hindeutete. Nachdem die zwei Freier ihre vier Hosenbeine bis über ihre vier Knie hoch gekrempelt hatten und es fürs Erste nichts weiter hochzukrempeln gab, gingen sie jedoch immer noch nicht aufeinander los, sondern fuhren lediglich mit ihren wechselseitigen Beschimpfungen fort wie gehabt, bloß dass sie sich jetzt noch häufiger den Schaum vom Mund wischen mussten. Gerade begannen die Massen in unserer kleinen Stadt Liuzhen ungeduldig zu werden, da erschien Glatzkopf-Li auf der 441
Bildfläche. Auf dem Rückweg vom Rapport bei Tao Qing im Amt für Zivilverwaltung sah er den Menschenauflauf auf der Straße und erkundigte sich bei einem der Umstehenden nach dem Anlass. Der sagte, ein wenig übertreibend: »Der Dritte Weltkrieg wird gleich ausbrechenl« Da leuchteten Glatzkopf-Lis Augen auf, und er drängelte sich, um besser sehen zu können, durch die Zuschauer nach vorn durch. Deren ohnehin ausgelassene Stimmung wurde durch sein Erscheinen noch weiter angeheizt. Jetzt würden sie endlich mal ein wirklich tolles Schauspiel erleben, riefen sie sich gegenseitig zu - eine »Begegnung der beiden Helden« (wie damals in der Tang-Zeit) laufe ja bereits, aber wenn Glatzkopf-Li nun auch noch mitwirke, seien die drei Hauptfiguren aus dem Historienschinken »Die drei Reiche« komplett! (Den volkstümlichen Roman über die Kämpfe zwischen den chinesischen Teilreichen Wu, Shu Han und Wei im dritten Jahrhundert kannte natürlich jeder.) Als Glatzkopf-Li hörte, wie die beiden Freier unentwegt mit dem Finger auf den jeweils anderen zeigten und sich die eigene Spucke abwischten und geiferten, und beide von sich selbst behaupteten, der Freund Lin Hongs zu sein, überkam ihn heiliger Zorn. Mit einem Satz sprang er dazwischen, packte mit jeder Hand einen der Kampfhähne am Revers und brüllte: »Lin Hong ist meine Freundin!« Die beiden, die überhaupt nicht mit Glatzkopf-Lis Auftauchen gerechnet hatten, verstummten vor lauter Schreck. Glatzkopf-Li ließ den rechten Freier los, knallte seine Faust dem linken zweimal ins Gesicht und verpasste diesem schon mit dem ersten Schlag ein blaues Auge. Anschließend verfuhr er mit dem rechten genauso. Die beiden schrien vor Schmerz 442
und vergaßen darüber vollständig, sich zu wehren, sehr zum Missfallen der enttäuschten Zuschauer. Da sah man endlich mal, wie ein leibhaftiger Wiedergänger von Cao Cao aus »Die drei Reiche« erst den großen Helden Liu Bei und dann auch noch Sun Quan vertrimmte, und dann taten sich die beiden nicht einmal zum Gegenangriff zusammen (wie es ja im »Drehbuch« von den drei Reichen vorgesehen war)! Einige von den Zuschauern schlüpften in ihrer Erregung sogar in die Rolle des schlauen Zhuge Liang und feuerten die Zusammengeschlagenen lautstark an, sich gegen Cao Cao sprich: Glatzkopf-Li - zusammenzuschließen. Einer der Umstehenden rief dem rechten Freier unentwegt zu »Tu dich mit Wu zusammen, und dann los gegen Wei!«, als wäre der tatsächlich der Held Liu Bei, der mit dem König von Wu gemeinsame Sache gegen das Reich Wei machen sollte. Diese Rufe drangen jedoch gar nicht zu den Adressaten durch, denn sie waren halb benommen und so schwindlig von Glatzkopf-Lis Fausthieben, dass sich ihnen alles drehte. Was sie allerdings doch hörten, waren Glatzkopf-Lis beharrliche Fragen, von denen seine Schläge wie bei einem Polizeiverhör durchsetzt wurden: »Los, redet! Wessen Freundin ist Lin Hong?« »Deine ... «, ächzten die beiden Männer, die ihr letztes Stündlein gekommen sahen. Die Bürger unserer kleinen Stadt Liuzhen schüttelten enttäuscht die Köpfe. »Absolute Versager!«, schimpften sie und griffen gleich noch eine Figur aus »Die drei Reiche« auf, den unfähigen letzten Herrscher des Königreichs Shu Han. »Wie A Dou sind die Kerle! Alle beide!« 443
Voller Verachtung ließ Glatzkopf-Li die Freier laufen. Dann fegte er mit grimmiger Miene die umstehenden Gaffer beiseite. Die selbst ernannten Zhuge Liangs von eben zogen erschrocken die Köpfe ein und tauchten, ausnahmsweise einmal sprachlos, in der Menge unter. Glatzkopf-Li aber rief, begleitet von einer raumgreifenden Geste: »Sollte noch einmal jemand wagen zu behaupten, Lin Hong sei seine Freundin, dann schlage ich den so zusammen, dass er sich nie wieder davon erholt!« Mit diesen Worten stolzierte er hocherhobenen Hauptes davon. Viele von den Umstehenden hörten, wie er im Weggehen hochbefriedigt vor sich hin murmelte: »Der Vorsitzende Mao hatte schon recht: >Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen.<« Die beiden Freier wagten es nach Glatzkopf-Lis unvergesslicher Abreibung nicht mehr, Lin Hong nachzustellen. So unsterblich hatten sie sich blamiert, dass sie schnell zu Boden blickten, wenn sie ihr auf der Straße begegneten. Bei solchen Gelegenheiten musste Lin Hong unwillkürlich lächeln. Da hat dieser Bandit, dieser unsägliche Glatzkopf-Li, tatsächlich mal was Gutes bewirkt, dachte sie. Soweit Lin Hong sehen konnte, waren die unverheirateten Männer von Liuzhen nichts anderes als wucherndes Unkraut; keinen einzigen himmelhohen starken Baum gab es unter ihnen. »Blick ich nach vorn, ist da niemand, schau ich zurück, folgt auch keiner«, genauso traurig wie der TangDichter, von dem dieses Gedicht stammte, war auch siebis ein Mann in ihrer Vorstellung immer mehr Gestalt gewann, ein hübscher und intelligenter junger Mann mit reiner Haut 444
und einer Brille. Er war zwar auch kein starker Baum, aber in ihren Augen immerhin ein Bäumchen und als solches jenen Unkraut-Männern haushoch überlegen, denn ein Baum konnte wachsen, vielleicht sogar bis in den Himmel, Unkraut dagegen würde stets nur den Boden bedecken. Dieser Mann, der ihr Interesse und ihre Zuneigung erregte, war Song Gang. VI Song Gang entsprach genau dem damaligen Idealbild eines wohlgeratenen jungen Mannes. Er hatte stets ein Buch oder eine Zeitschrift in der Hand, war zurückhaltend und höflich und außerdem eine stattliche Erscheinung. Wenn er bemerkte, dass die Augen eines jungen Mädchens wohlgefällig auf ihm ruhten, errötete er. Während Glatzkopf-Li seine Strategie »steter Tropfen höhlt den Stein« an Lin Hong ausprobierte, hatte er sich stets im Hintergrund gehalten. Gerade die Tatsache, dass er seinen Bruder begleitete, während dieser auf Freiersfüßen ging, hob ihn in den Augen des Mädchens über alle anderen jungen Männer unserer kleinen Stadt Liuzhen weit hinaus. Glatzkopf-Li, der sich solche Mühe gab, ihre Liebe zu erlangen, ahnte nicht, dass sie sich insgeheim längst in seinen schweigsamen Bruder verguckt hatte. Während Glatzkopf-Li, töricht wie er war, Lin Hongs Leibwächter mimte und eifersüchtig darüber wachte, dass ja kein anderer Mann es wagte, die Augen zu ihr zu erheben, trottete Song Gang stets mit gesenktem Kopf stumm neben ihm her. Lin Hong hatte sich inzwischen an Glatzkopf-Lis Nachstellungen so weit gewöhnt, dass sie sie gelassener hinnahm als 445
zu Anfang. Sie hatte gelernt, durch ihn hindurchzuschauen und mit unbeteiligter Miene ihren Weg fortzusetzen, sobald er auftauchte. Wenn sie um eine Straßenecke bog, nutzte sie die Gelegenheit, rasch einen Blick auf Song Gang zu werfen, und dabei trafen sich die Blicke der bei den viermal. Während Song Gang sich jedes Mal erschrocken abwendete, spielte um Lin Hongs Lippen ein Lächeln. Ihr entging auch nicht sein gepeinigter Gesichtsausdruck während GlatzkopfLis unverschämten Tiraden, mit denen er sie so erboste. Sie sah daran, dass Song Gang in diesem Moment ihretwegen vor Scham fast verging, und deshalb durchströmte sie plötzlich ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Da Glatzkopf-Li sie nahezu täglich belästigte, sah sie auch Song Gang täglich. Beim Anblick seines manchmal verwirrten, manchmal traurigen Gesichts war ihr Herz von Freude erfüllt wie von dem melodischen Plätschern eines Bachs. Selbst Glatzkopf-Li war ihr nachgerade nicht mehr so zuwider, denn seinen Nachstellungen verdankte sie immerhin die Möglichkeit, jeden Tag seinen Bruder zu sehen, dessen markante Gestalt mit dem stets gesenkten Kopflautlos durch ihre Träume geisterte. Obwohl Lin Hong hoffte, eines Nachmittags oder Abends würde Song Gang leibhaftig vor der Tür stehen und - wie jene unverschämten Freier - einfach hereinkommen, war sie sich doch sicher, dass er gerade das im Unterschied zu jenen niemals tun würde. Vielmehr würde er lange Zeit schüchtern draußen stehen bleiben, und wenn er endlich vor ihr stünde, würde er verlegen herumstottern. Gerade solche Männer jedoch waren ihr die liebsten, und bei der bloßen Vorstellung
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von Song Gangs verlegenem Gesicht strich sie sich unwillkürlich über ihre ohnehin schon glühenden Wangen. Eines Abends erschien er tatsächlich. Er blieb unschlüssig an der Tür stehen und fragte Lin Hongs Mutter mit stockender Stimme: »Tante, ist Lin Hong zu Hause? « Lin Hong, die sich in ihrem Zimmer aufhielt, geriet in größte Verwirrung, als die Mutter mit der Nachricht kam, jener junge Mann, der stets mit Glatzkopf-Li zusammenstecke, wolle sie sprechen. Schon wollte sie aufspringen und zu ihm hinausstürzen, doch dann überlegte sie es sich anders und sagte leise: »Er soll reinkommen.« Mit einem verständnisvollen Lächeln ging die Mutter zu Song Gang zurück und teilte ihm liebenswürdig mit, ihre Tochter erwarte ihn in ihrem Zimmer. Song Gang war sehr nervös, denn er war nicht aus eigenem Antrieb gekommen, sondern gezwungenermaßen. Glatzkopf-Li hatte nämlich das Gefühl, sein steter Tropfen während der letzten fünf Monate habe den Stein mitnichten gehöhlt, und weil sich dieses fünfte Strategem damit ebenfalls als vollkommen untauglich erwiesen habe, müsse man erneut tief ins feindliche Hinterland vorstoßen. Eingedenk seiner in Lin Hongs Heim erlittenen Schmach - Stichworte »Misthaufen« und »Warzenkröte«! hielt er es jedoch nicht für opportun, selber in Erscheinung zu treten. Vielmehr sollte sein Einflüsterer Song Gang als Ehestifter für ihn agieren. Der jedoch sträubte sich mit Händen und Füßen und erklärte sich erst nach einem Wutanfall des Bruders widerstrebend bereit, den Auftrag zu übernehmen. Als Song Gang in Lin Hongs Zimmer trat, lehnte das Mädchen mit dem Rücken zu ihm an dem vom Abendrot erleuch447
teten Fenster und flocht sich die Haare zu zwei Zöpfen. Wie sie da stand, von der Abendsonne in ein vom Himmel kommendes Licht getaucht, dessen Reflexe auf ihrer reizenden, reinen Gestalt aufblitzten, während ein zum Fenster hereinwehendes Lüftchen ihr weißes Kleid ganz leicht bauschte und ein geheimnisvoller Duft ihn fast betäubte, kam sie ihm plötzlich wie eine Himmelsfee vor, die über den Wolken schwebt. Er zitterte am ganzen Leib. Die gelösten langen Haare fielen ihr zur Hälfte über die rechte Schulter; die andere Hälfte, in drei Stränge geteilt, bewegte sich unmerklich in ihren flechtenden Händen. Die im Abendrot rosa schimmernden Wölkchen am Himmel vor dem Fenster, davor ihr schlanker Nacken, weiß wie Alabaster, sich seinen Blicken bald darbietend, bald wieder entziehend - Song Gang konnte in diesem Augenblick nur stumm starren, genauso gebannt wie jener liebeskranke Behinderte aus Glatzkopf-Lis Mannschaft gestarrt hatte. Lin Hong, die sehr wohl hörte, wie schnell sein Atem ging, fuhr ohne Hast fort, ihre Zöpfe zu flechten. Als sie mit dem linken fertig war, schwenkte sie den Kopf leicht, sodass das über die rechte Schulter fallende Haar nach vorn schwang und sich ordentlich über ihre Brüste breitete, und begann, den zweiten Zopf zu flechten. Jetzt, da nichts mehr Song Gang daran hinderte, ihren alabasterweißen schlanken Nacken in voller Schönheit zu bewundern, schien sein Atem vollends zu stocken. Lin Hong lächelte in sich hinein. »Hast du die Sprache verloren?«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. Song Gang schreckte zusammen. Jetzt fiel ihm seine Mission wieder ein, und er begann stotternd: »Ich - ich komme -
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im Auftrag von Glatzkopf-Li ... « Vor lauter Nervosität wusste er nicht mehr, was er eigentlich sagen wollte. Lin Hongs Gesicht hatte sich bei der Erwähnung des verhassten Namens verfinstert. Sie biss sich unschlüssig auf die Lippen, doch gleich darauf hatte sie sich wieder gefangen. »Wenn du wegen Glatzkopf-Li gekommen bist«, sagte sie, »dann geh bitte wieder. Wenn du wegen dir selbst gekommen bist, nimm Platz!« Bei diesen Worten war sie unwillkürlich rot geworden. Als sie hörte, wie Song Gang hinter ihrem Rücken gegen einen Stuhl stieß, dachte sie erst, er setze sich wirklich hin, doch dann hörte sie ihn hinaus stolpern. Song Gang hatte nur die erste Hälfte ihrer Worte verstanden, nicht aber den Rest, und war schon verschwunden, als Lin Hong sich umdrehte. An diesem Abend weinte Lin Hong vor Wut und schwor sich, dem Dummkopf nie, nie wieder eine Chance zu geben, doch nachts in ihrem Bett war sie schon milder gestimmt. Im Geist verglich sie jene unverschämten Freier, die sich um ihre Gunst bemüht hatten, mit Song Gang und kam zu dem Schluss, dies sei ein Mann, auf den Verlass war, und außerdem sah er allemal besser aus als all die anderen! So hoffte sie weiter, dass er die Initiative ergreifen und sich um sie bemühen werde, aber es vergingen mehrere Monate ohne ein Lebenszeichen von ihm. Während dieser Zeit gewann sie ihn immer lieber und dachte fast jeden Abend an ihn, an seinen gesenkten Kopf, seine traurigen Augen, sein gelegentlich aufblitzendes Lächeln. Je mehr Zeit verging, desto mehr schwand ihre Hoffnung, er würde von selbst wiederkommen. Sie sagte sich, sie müsse wohl ein wenig auf ihn zugehen, aber immer wenn sie ihn 449
sah, war er in Gesellschaft dieses Banditen, dieses vermaledeiten Glatzkopf-Li! Schließlich ergab sich doch eine Gelegenheit - sogar zweimal -, doch beide Male wandte er sich verwirrt ab und lief hastig wie ein ausgebrochener Sträfling vor ihren liebevollen Blicken davon. Lin Hong grämte sich: Dieser Song Gang, wie sie ihn hasste! Und wie sie ihn liebte! Als sie ihn ein drittes Mal allein antraf - es war auf der Brücke über den Fluss -, wusste sie: Jetzt oder nie! Er war schon wieder im Begriff davonzuhasten, als sie, über und über rot im Gesicht, stehen blieb und seinen Namen rief. Ein Schauder überlief ihn, dann schaute er sich nach allen Seiten um, als gäbe es auf der Brücke noch einen weiteren Menschen dieses Namens. Tatsächlich befanden sich noch zahlreiche andere Leute auf der Brücke, die alle gehört hatten, wie das Mädchen Song Gangs Namen gerufen hatte, und deren Augen nun sämtlich auf sie gerichtet waren. Schamrot, wie sie war, sprach Lin Hong dennoch tapfer weiter: »Komm einmal her!« Wie ein schuldbewusstes Kind folgte Song Gang ihrer Aufforderung. Lin Hong sagte, absichtlich besonders laut: »Richte diesem Li aus, er soll mich gefälligst in Ruhe lassen.« Song Gang nickte und wollte schon gehen, da flüsterte Lin Hong: »Bleib!« Hatte er sich verhört? Unschlüssig sah er sie an. Inzwischen waren die Leute weitergegangen, sodass niemand mehr Zeuge wurde, wie Lin Hong, aus deren Blick jetzt eine ungekannte Zärtlichkeit sprach, Song Gang mit leiser Stimme fragte: »Magst du mich?«
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Vor Schreck wurde er blass. Sie sagte verschämt: »Ich mag dich.« Song Gang war wie vom Donner gerührt. Da wieder Passanten nahten, flüsterte Lin Hong hastig: »Warte morgen Abend um acht Uhr auf mich. In dem Wäldchen hinter dem Kino.« Diesmal hatte Song Gang alles verstanden. Den Rest des Tages war er wie geistesabwesend und brütete in einer Ecke der Werkhalle über die ewig gleiche Frage: Die Begegnung auf der Brücke, war sie wirklich so abgelaufen? Wieder und wieder ließ er, abwechselnd errötend oder erbleichend, bedrückt oder beschwingt, alle Umstände in Gedanken noch einmal an sich vorbeiziehen. Seine Arbeitskollegen amüsierten sich über ihn, ohne dass er es mitbekam. Als sie ihn laut beim Namen riefen, fuhr er hoch wie aus einem Traum und sah sie erschrocken an. Lachend fragten sie ihn, ob er denn etwas Schönes geträumt habe. Er blickte auf, machte abwesend »Hm!«, und gab sich mit gesenktem Kopf erneut seinen Wachträumen hin. Einer von den Arbeitern neckte ihn: »Song Gang, musst du nicht vielleicht mal pinkeln?« Song Gang machte wieder »Hm!«, stand tatsächlich auf und schickte sich an, nach draußen auf die Toilette zu gehen. Begleitet vom schallenden Gelächter der Arbeitskollegen ging er bis zum Tor der Werkhalle, blieb dort jedoch stehen, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen, und kehrte wieder in seine Ecke zurück, wo er sich erneut hinhockte. Die anderen Arbeiter bekamen vor Lachen fast einen Hustenanfall. »Warum kommst du denn zurück?«, fragten sie ihn, worauf Song Gang gedankenverloren antwortete: »Ich musste nicht pinkeln.« 451
Je näher der Abend rückte, desto realer erschien ihm im Rückblick die Begegnung auf der Brücke. Besonders Lin Hongs rot überhauchtes Gesicht und ihre zitternde Stimme, überhaupt ihre Nervosität gingen ihm nicht aus dem Sinn. Und jedes Mal, wenn er an ihre geflüsterten Worte »Ich mag dich« dachte, machte sein Herz vor Freude einen Sprung, seine Augen strahlten auf, und sein Gesicht wurde abwechselnd rot und blass. Mittlerweile war Song Gang wieder zu Hause und hatte bereits zu Abend gegessen. Glatzkopf-Li, der ihm am Tisch gegenübersaß, beobachtete ihn argwöhnisch, denn der Bruder wirkte, als hätte er das falsche Medikament eingenommen: Er lachte ständig vor sich hin. Als Glatzkopf-Li ihn leise beim Namen rief, reagierte er überhaupt nicht, sodass er heftig auf den Tisch schlug und schrie: »Song Gang, was ist mit dir los?« Da endlich riss sich Song Gang aus seinen Träumen und fragte in ganz normalem Ton: »Was hattest du eben gesagt?« Glatzkopf-Li sah ihn prüfend an und sagte: »Dein Lachen, das erinnert mich an den ausgeflippten Schwachsinnigen aus meinem Betrieb ...« Unter den argwöhnischen Blicken des Bruders wurde Song Gang plötzlich befangen und sah verlegen weg. Nach kurzem Zögern blickte er wieder auf und fragte Glatzkopf-Li mit unsicherer Stimme: »Und wenn nun Lin Hong jemand anders gern hat?« Wie aus der Pistole geschossen kam die Antwort: »Dann gibt's einen Toten!«
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Song Gang erschrak. »Meinst du den Mann oder Lin Hang?« »Den Mann natürlich!«, erwiderte Glatzkopf-Li mit einer abfälligen Geste. Dann wischte er sich über den Mund und fuhr fort: »Lin Hang zu töten, brächte ich nicht fertig. Außerdem soll sie ja meine Frau werden!« Song Gang war erschüttert. »Was wäre denn, wenn sie mich mag?«, fühlte er vor. Glatzkopf-Li prustete los, patschte mit beiden Händen auf den Tisch und sagte schließlich entschieden: »Das kann gar nicht sein!« Angesichts dieser Selbstsicherheit wurde es Song Gang schwer ums Herz. Glatzkopf-Li war schließlich sein Bruder, sie waren auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen, ihm durfte man nichts verhehlen! Er seufzte tief, als wäre er in seinen Erinnerungen versunken, und beichtete dann, zwischendurch immer wieder seinen Bericht abbrechend, die Begegnung mit Lin Hang auf der Brücke. Glatzkopf-Li sah ihn mit großen Augen an. Je mehr er hörte, desto runder wurden seine Augen. Sogar die Hände, mit denen er die ganze Zeit auf den Tisch patschte, kamen allmählich zur Ruhe. Als Song Gang mit seiner Beichte endlich fertig war, atmete er tief durch und sah den Bruder ängstlich an. Er war auf ein fürchterliches Donnerwetter gefasst; zumindest würde Glatzkopf-Li die Beherrschung verlieren, das war klar. Wider Erwarten sah dieser ihn aber ganz ruhig und gelassen an. Er zwinkerte ein paarmal mit seinen weit aufgerissenen runden Augen, dann waren sie wieder schmal wie eh und je. Voller Zweifel fragte er Song Gang: »Was hat Lin Hang zu dir gesagt?« 453
Song Gang stotterte: »D-dass sie - mich mag.« »Unmöglich!«, entgegnete Glatzkopf-Li, indem er aufstand. »Lin Hang kann dich unmöglich lieben.« Song Gang wurde rot. »Und warum nicht?« Glatzkopf-Li setzte sich auf den Tisch und begann, auf den Älteren herabblickend, diesen aufzuklären: »Überleg doch mal selbst, wie viele Männer hier in Liuzhen hinter Lin Hang her sind, jeder einzelne von ihnen aussichtsreicher als du! Wie könnte sie sich also in dich verlieben? Du hast keinen Papa, keine Mama, bist eine Waise-« »Das bist du auch!«, unterbrach ihn Song Gang. »Wohl wahr!«, räumte Glatzkopf-Li nickend ein. Dann schlug er sich an die Brust und fuhr fort: »Aber ich bin Werkleiter!« Song Gang gab sich noch nicht geschlagen: »Vielleicht ist das alles für Lin Hang gar nicht so wichtig.« »Wie könnte ihr das nicht wichtig sein?«, rief Glatzkopf-Li kopfschüttelnd. »Sie ist sozusagen eine Himmelsfee, und du bist ein armer Teufel, ihr beide? .. - unmöglich!« Song Gang entsann sich an eine bekannte Sage: »Aber die siebte Tochter des Himmelskaisers hat doch Dang Yong auch geliebt, und der war ein Bauer! ... « »Das ist ein Märchen! Alles nur ausgedacht.« Plötzlich kam Glatzkopf-Li ein Gedanke. »Sag mal, liebst du sie etwa?«, fragte er und sah den Bruder dabei durchdringend an. Song Gang errötete abermals. Glatzkopf-Li sprang vom Tisch auf und baute sich vor ihm auf. »Ich sage dir, du darfst sie nicht lieben!«, rief er. Jetzt war Song Gang doch ein wenig verstimmt. »Und warum darf ich sie nicht lieben?«, fragte er. 454
»Verdammte Scheiße!«, schrie Glatzkopf-Li, der seinen Ohren nicht zu trauen glaubte. Seine Augen waren wieder rund, weil er sie so weit aufriss. »Lin Hang gehört mir! Wie kannst du sie da lieben? Du bist mein Bruder! Andere können sie mir streitig machen, aber doch nicht du!« Song Gang, der nicht wusste, was er dazu sagen sollte, sah den Bruder verstört an. Glatzkopf-Li drückte auf die Gefühlstube: »Song Gang, wir sind doch Brüder und müssen auf Gedeih und Verderb zusammenhalten. Du weißt genau, dass ich Lin Hang liebe. Warum musst du sie da auch lieben? Das ist ja - Inzest ist das!« Als Song Gang jetzt den Kopf hängen ließ und nichts mehr sagte, glaubte Glatzkopf-Li, er schäme sich für sein Verhalten. Deshalb klatschte er ihm auf die Schulter und redete ihm tröstend zu: »Song Gang, ich glaube dir ja, dass du nichts tun wirst, was mir schaden könnte.« Gleich danach kehrte er jedoch schon wieder zu der Frage zurück, die ihn eigentlich beschäftigte: »Warum sagt sie so etwas nicht zu anderen?«, murmelte er vor sich hin, ohne Song Gang aus dem Auge zu lassen. »Warum sagt sie das ausgerechnet zu dir? Oder denkt sie vielleicht um die Ecke und meint in Wirklichkeit doch mich ... ?« An diesem Abend fand Song Gang keinen Schlaf. Er hörte Glatzkopf-Li schnarchen und ab und zu im Traum auflachen, während er selbst sich ruhelos hin und her wälzte. In der Dunkelheit tauchten Lin Hongs reizende Gestalt und Miene vor ihm auf, mal verschwommen, mal deutlich, sodass sein Herz in Sehnsucht entbrannte und er für einen Moment Glatzkopf-Li vergaß und nichts als reines, tiefes Glück emp455
fand. In seiner Vorstellung sah er sich und das Mädchen wie ein Liebespaar innig vereint durch die Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen spazieren. Das nächste Bild war ein Zimmer, in dem sie einander wie Mann und Frau liebten. Aber dieses vorgestellte Glück sollte nicht von Dauer sein; es wurde von einer Fülle von Ereignissen aus der Vergangenheit überlagert. Er sah seinen Vater vor sich, wie er auf dem Vorplatz des Busbahnhofs elendiglich zugrunde ging; sah sich selbst und Glatzkopf-Li jammern und weinen; sah den Großvater, wie er den toten Song Fanping auf dem Pritschenkarren über schlammige Wege ins Heimatdorf transportierte, gefolgt von der Mutter und ihren bei den Söhnen, die so laut wehklagten, dass selbst die Spatzen auf den Straßenbäumen in Panik auseinanderstoben; und er sah sich und den Bruder, wie sie einträchtig die tote Mutter ins Dorf brachten, um sie neben ihrem erschlagenen Mann zu begraben. Schließlich sah er Li Lan selbst vor sich, wie sie kurz vor ihrem Ende seine Hand ergriff und ihn bat, gut für Glatzkopf-Li zu sorgen. Song Gang weinte darüber so bitterlich, dass sein Kissen völlig durchnässt wurde. Am Ende rang er sich zu dem Entschluss durch, sein Lebtag nichts zu tun, was Glatzkopf-Li schaden könnte. Dann - der Morgen dämmerte bereits schlief er endlich ein. Mittags schlich er sich noch vor Ende der Vormittagsschicht in der Metallfabrik heimlich fort und eilte zur Wirkerei, wo er Lin Hong am Tor abpassen wollte, um ihr zu sagen, dass er um acht Uhr abends nicht in das Wäldchen hinter dem Kino kommen würde - nur diesen Satz wollte er sagen, der würde seinen Entschluss ausreichend verdeutlichen.
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Während er unter einem Baum wartete - demselben übrigens, von dem aus Glatzkopf-Lis fünf kleine Liebeswerber Lin Hong zugerufen hatten, Glatzkopf-Li wolle mit ihr schlafen -, hörte er die Klingel, die das Schichtende ankündigte. Plötzlich überfiel ihn ein so großer Kummer, wie er ihn nie zuvor empfunden hatte. Ihm war, als stünde er an der Schwelle des Todes. Er würde die Worte aussprechen, die auszusprechen ihm am allermeisten widerstrebte, und wenn er das getan hätte, wäre er erlöst, durch sich selbst erlöst. Als Lin Hong aus dem Tor trat, war sie wie immer in Begleitung zahlreicher Arbeitskolleginnen. Schon von weitem sah sie Song Gang gut getarnt unter dem Baum stehen. Insgeheim dachte sie »So ein Dummkopf!«, denn wieso wartete er schon mittags hier, wo sie doch für den Abend verabredet waren! Die anderen Arbeiterinnen schnatterten aufgeregt durcheinander, als sie ihn erblickten. Alle wussten ja, dass dies der Bruder von Lin Hongs Verehrer war. Kichernd debattierten sie leise untereinander, was für einen ausgefallenen neuen Trick sich Glatzkopf-Li wohl diesmal ausgedacht habe. Lin Hong selbst sah nicht zur Seite, als sie an Song Gang vorbeiging - schließlich war sie nicht allein! -, sondern streifte seine Gestalt lediglich aus den Augenwinkeln. Wie er dort stand, kam er ihr vor wie ein kleinerer Baum neben dem großen, unter dem er sich verbarg. Und wieder schalt sie ihn im Stillen zärtlich aus: »So ein Dummkopf!« Song Gang stand tatsächlich wie ein Dummkopf dort. Als Lin Hong an ihm vorbeikam, bewegte er zwar den Mund, brachte aber keinen Laut hervor, und erst, als sie und auch all ihre Freundinnen schon weitergegangen waren, wurde ihm bewusst, dass Lin Hong geflissentlich an ihm vorbeigeschaut 457
hatte. Plötzlich kam es ihm vor, als hätte Glatzkopf-Li doch recht, wenn er sagte, sie könne ihn unmöglich gern haben. Warum hätte sie sonst eine so abweisende Miene zur Schau getragen, als sie an ihm vorbeiging? Bei diesem Gedanken atmete er irgendwie erleichtert auf. Er kam unter dem großen Baum hervor und ging zurück in seine Fabrik, so beschwingt, als wäre ihm ein schwerer Stein vom Herzen gefallen. Es kam ihm vor, als wäre er soeben aus einem schönen Traum erwacht. Er verzog den Mund zu einem verstohlenen Lächeln und dachte noch einmal über alle Einzelheiten dieses wunderbaren Traums nach. Dabei erschien ihm die Vorstellung schöner als die Realität, schenkte ihm das vorgestellte Glück doch ein wohltuendes Gefühl von Leichtigkeit und Unbeschwertheit. Dieses Gefühl hielt bis zum Abend an. Ein Liedchen vor sich hin summend, bereitete er am Petroleumherd das Abendessen und nahm es dann mit Glatzkopf-Li ein. Dieser beäugte ihn die ganze Zeit argwöhnisch, zumal als es fast schon acht Uhr und vor dem Fenster bereits der Mond aufgegangen war, ohne dass der Bruder Miene machte auszugehen, wohingegen er - Glatzkopf-Li - unausgesetzt an das Wäldchen hinter dem Kino dachte. Mit den Fingern auf den Tisch trommelnd, fragte er Song Gang hinterhältig: »Wieso gehst du denn nicht aus?« Song Gang wusste natürlich, worauf er hinauswollte. Er schüttelte den Kopf und erwiderte, ziemlich verlegen: »Du hast schon recht, Lin Hong kann mich unmöglich gern haben.« Diesen Sinneswandel wiederum verstand Glatzkopf-Li nicht. Nachdem ihm Song Gang jedoch haarklein berichtet 458
hatte, was er am Tor der Wirkerei erlebt und wie Lin Hong so getan habe, als kenne sie ihn überhaupt nicht, nickte er gedankenverloren. Plötzlich schlug er heftig auf den Tisch und rief: »Dann stimmt es also!« Song Gang erschrak. Glatzkopf-Li sprang auf und sagte: »Was sie zu dir gesagt hat, war eindeutig an mich gerichtet!« Sprach's und rannte, so schnell ihn seine Füße trugen, voller Siegesgewissheit los zu dem Wäldchen hinter dem Kino. In Höhe des Kinos besann er sich jedoch auf seine Würde als Werkleiter, der nicht wie irgendein hergelaufener Lümmel atemlos die Straße entlanghetzen könne, und verfiel in eine gemächlichere Gangart. Erst kurz vor dem Wäldchen wurde er wieder zu dem feurigen Liebhaber, der sich auf leisen Sohlen zum Stelldichein mit der Liebsten in einen mondhellen Hain schleicht. Lin Hong war bereits zur Stelle. Sie hatte sich absichtlich um eine Viertelstunde verspätet und daher angenommen, Song Gang warte schon längst auf sie. Gerade fing sie an sich zu ärgern, dass er sie versetzt hatte, da hörte sie hinter sich leise Schritte, als ob sich ein Hühner- oder Hundedieb vorsichtig anschleiche. Unwillkürlich musste sie lächeln, erstaunt, dass ein so zartbesaiteter Mann wie Song Gang zu so einer Art von derben Scherzen überhaupt in der Lage war. In diesem Moment hörte sie dröhnendes Gelächter, drehte sich erschrocken um und erblickte im Mondlicht nicht Song Gang, sondern Glatzkopf-Li, der über beide Backen strahlte und sofort begann, große Reden zu schwingen: »Ich wusste, du würdest hier auf mich warten! War ja klar, dass das, was
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du zu Song Gang gesagt hast, eigentlich an mich gerichtet war!« Lin Hong starrte ihn sprachlos an, für einen Moment zu verblüfft, um zu reagieren, sodass Glatzkopf-Li ungehindert fortfahren konnte, ihr mit honigsüßer Stimme sanfte Vorwürfe zu machen: »Lin Hong, ich weiß ja, du magst mich. Das hättest du mir doch aber auch direkt sagen können!« Als er nun überdies Anstalten machte, ihre Hand zu ergreifen, gewann sie ihre Fassung wieder. »Verschwinde! Mach bloß, dass du wegkommst!«, schrie sie und rannte los, weg aus dem Wäldchen. Immer wieder ihren Namen rufend, lief Glatzkopf-Li hinter ihr her. Doch sie blieb erst stehen, als sie wieder auf der Straße war. Dort drehte sie sich um und schrie, die Faust gegen ihn reckend: »Bleib ja, wo du bist!« Glatzkopf-Li gehorchte. »Lin Hong«, sagte er vorwurfsvoll, »was ist denn los mit dir? Macht man so was, wenn man verliebt ist?!« »Wer ist hier verliebt?«, schrie Lin Hong, außer sich vor Wut. »Dudu alte Warzenkröte!« Mit diesen Worten eilte sie davon, während der Gescholtene, gekränkt über diese Beleidigung, ihr sprachlos hinterherschaute, bis sie in der Ferne verschwunden war. Dann erst ging auch er los. Er musste daran denken, dass schon Lin Hongs Eltern ihn mit »Warzenkröte« und »Misthaufen« beschimpft hatten. Das machte ihn so wütend, dass er vor sich hin brabbelte: »Die Warzenkröte ist dein Vater, der Misthaufen ist deine Mutter, verdammt noch mal! ... « Wieder zu Hause angekommen, setzte er sich, ein zerzauster Hahn nach einem verlorenen Kampf, mit finsterer Miene an 460
den Tisch und trommelte zornig mit den Fingern auf der Platte vor sich hin, um sich im nächsten Moment entmutigt den Schweiß von der Stirn zu wischen. Song Gang, der mit einem Buch in der Hand auf dem Bett saß, schaute ihn nichts Gutes ahnend an, denn so, wie der Bruder sich verhielt, musste etwas vorgefallen sein. Schließlich fragte er vorsichtig: »War sie denn im Wäldchen? ... « »Ja!«, erwiderte Glatzkopf-Li zornig. »Sie hat mich als Warzenkröte beschimpft! Alles Scheiße!« Song Gang starrte ihn wie gebannt an. Glatzkopf-Lis Worte hatten in seiner Erinnerung alles wieder wachgerufen: Was Lin Hang auf der Brücke zu ihm gesagt hatte, was sie in ihrem Zimmer, die Haare flechtend, zu ihm gesagt hatte - alles, alles stand ihm so deutlich vor Augen, als wäre es gerade eben gesagt worden. Wie Schuppen fiel es ihm jetzt von den Augen: Ja, sie liebte ihn, sie liebte ihn wirklich! Glatzkopf-Li sah seinen geistesabwesenden Bruder durchdringend an und sprach dann, als habe er soeben einen neuen Kontinent entdeckt: »Scheiße auch! Vielleicht liebt sie wirklich dich ... « Song Gang schüttelte traurig den Kopf, doch der Jüngere fuhr fort, ihn argwöhnisch zu beäugen. »Und du? Liebst du Lin Hang?«, fragte er den Bruder. Als Song Gang nickte, haute er auf den Tisch und rief mit gebieterischer Stimme: »Song Gang, sie gehört mir, hörst du? Verdammt noch mal, du darfst sie nicht lieben! ... Sonst sind wir geschiedene Leute! Dann sind wir keine Brüder mehr! Klassenfeinde sind wir dann füreinander! ... « Song Gang hörte sich Glatzkopf-Lis Gebrüll mit gesenktem Kopf an. Erst nachdem der Bruder seiner Wut Luft gemacht 461
hatte und ihm keine neuen finsteren Drohungen mehr einfielen, blickte er wieder auf und sagte mit schwermütigem Lächeln: »Du kannst ganz ruhig sein, ich werde nicht mit Lin Hang anbandeln. Will doch meinen Bruder nicht verlieren ...« »Echt?«, fragte Glatzkopf-Li und gewann sofort seine gute Laune wieder. Song Gang nickte ernst, dann wurden ihm die Augen feucht. Nachdem er sich die Tränen abgewischt hatte, deutete er auf das Bett unter sich und sagte: »Weißt du noch? Wie ich kurz vor ihrem Tod Mama heimgetragen habe? Und wie sie dann auf diesem Bett hier lag? ... « »Klar weiß ich das noch«, antwortete Glatzkopf-Li kopfnickend. »Und wie du dann weggegangen bist, um Baozi zu kaufen?« Glatzkopf-Li nickte abermals. »Nachdem du fort warst«, fuhr Song Gang fort, »ergriff Mama meine Hand und sagte zu mir, ich solle immer gut für dich sorgen. Das habe ich ihr versprochen. Ich habe zu ihr gesagt, wenn ich nur noch ein letztes Hemd anzuziehen, nur noch eine letzte Schüssel Reis zu essen habe - du sollest sie bekommen!« Bei diesen Worten lächelte er unter Tränen. Glatzkopf-Li war so gerührt, dass nun auch in seinen Augen Tränen standen. »Das hast du wirklich gesagt?«, fragte er. Song Gang nickte. Glatzkopf-Li wischte sich ebenfalls die Tränen ab und sagte: »Song Gang, du bist echt ein guter Bruder!«
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VII Glatzkopf-Li setzte seine Liebeswerbung a la »steter Tropfen höhlt den Stein« fort, allerdings nicht mehr in Begleitung des Bruders. Er erklärte, es mache ihn nervös, Song Gang mit Lin Hong zusammen zu sehen, und bestand deshalb darauf, dass dieser ihr aus dem Weg ginge und sich von ihr fernhielte wie von einer Aussätzigen, sollte er ihr auf der Straße begegnen. Was ihn selbst betraf, so nahm GlatzkopfLi sich jetzt Song Gang zum Vorbild, denn er hatte das Gefühl, Lin Hong habe den Bruder deshalb so gern, weil er anständig und kultiviert war, niemals schmutzige Reden im Munde führte und sich durch sein unvermeidliches Buch in der Hand als lernbegierig und strebsam auswies. Von da an präsentierte er sich als ein neuer Mensch. Wenn er als Liebhaber/ Leibwächter neben Lin Hong herging, hatte auch er jetzt ein Buch in der Hand, in dem er unterwegs sogar las. Die männlichen Bewohner unserer kleinen Stadt Liuzhen potenzielle Nebenbuhler allesamt! pöbelte er nicht mehr an, sondern lächelte ihnen überaus liebenswürdig zu, als wäre er ein Politiker auf der Jagd nach Wählerstimmen, oder er begrüßte sie sogar mit Handschlag, sofern es sich um Bekannte handelte. Die Bürger unserer kleinen Stadt Liuzhen nahmen sein neues Image staunend zur Kenntnis: Die Sonne geht plötzlich im Westen auf!, war ihr einhelliges Urteil. Es war schon komisch, wie Glatzkopf-Li, neben dem Mädchen herlaufend, die Buchseiten umblätterte und halblaut vor sich hin murmelte, als ob er ein buddhistisches Sutra rezitiere. Statt eines richtigen Banditen habe Lin Hong nun einen falschen Mönch an ihrer Seite, tuschelten sie untereinander. Glatzkopf-Li, 463
dem das Interesse der Leute an seiner neuerwachten Lesewut nicht entging, tönte laut und vernehmlich: »Lesen ist etwas so Schönes! Ein Tag ohne Lesen ist schwerer zu ertragen als ein Monat ohne Scheißen!« In Wahrheit waren diese Worte natürlich an Lin Hong gerichtet. Daher bereute er sie, sobald sie heraus waren, war er doch wieder in seine alte, zotige, Ausdrucksweise zurückgefallen. Nachdem er sich zu Hause bei Song Gang Rat geholt hatte, änderte er folglich seine Formulierung: »Lesen ist etwas so Schönes! Ein Monat ohne Essen, das geht, aber ein Tag ohne Lesen nicht.« Damit waren die Leute in Liuzhen jedoch nicht einverstanden: An einem Tag ohne Lesen stürbe man nicht, an einem Monat ohne Essen dagegen mit Sicherheit. Glatzkopf-Li wies diesen Einwand mit einer unwirschen Handbewegung zurück. Was für kleinkarierte Spießer!, dachte er bei sich. Laut sagte er (und seine Miene war die eines Menschen, der dem Tod gefasst ins Auge sieht): »Ein Monat ohne Essengut, dann verhungerst du. Aber ein Tag ohne Lesen, da wärst du besser gleich tot!« Lin Hong hörte das Wortgeplänkel zwischen Glatzkopf-Li und den Einwohnern von Liuzhen mit an, ohne die Miene zu verziehen oder gar den Schritt zu verlangsamen. Sosehr die Leute sich amüsierten, so hochtrabend Glatzkopf-Li herumschwadronierte - ihr Verhalten blieb völlig indifferent. Obwohl Glatzkopf-Li über Nacht zum konfuzianischen Schriftgelehrten mutiert war und seine Rede mit allerlei mehr oder minder geistreichen Bemerkungen würzte, blieb es doch nicht aus, dass er gelegentlich wieder in seine ge464
wohnte Gossensprache verfiel. Dann dachte Lin Hang jedes Mal bei sich: »Ein Hund wird immer Kot fressen, der ändert sich nicht!« Sie wusste, wes Geistes Kind Glatzkopf-Li war, für sie ging die Sonne nicht plötzlich im Westen auf. Mochte er auch so wandlungsfähig sein wie der Affenkönig Sun Wukong aus der Sage, der in Sekundenschnelle in die Rolle und Gestalt eines anderen schlüpfen konnte - für sie blieb er Glatzkopf-Li, die Warzenkröte (plus Misthaufen). Und im Übrigen war auch Sun Wukong trotz seiner zweiundsiebzig Verwandlungen letztendlich nur - ein Affe! Dass an jenem Abend nicht Song Gang zum Stelldichein im Wäldchen erschienen war, sondern sein quietschvergnügter Bruder, hatte sie zutiefst verletzt, sodass sie Song Gang von da an aus ihrem Herzen verbannte. Als sie ihn ein paar Tage später auf der Straße von weitem sah, lächelte sie nur höhnisch und dachte bei sich, er sei wirklich ein waschechter Dummkopf - ein Dummkopf, der nie im Leben eine zweite Chance kriegen würde! Und das würde sie ihm jetzt zeigen! Mit Nichtachtung würde sie ihn strafen! Song Gang jedoch, der sie von ferne nahen sah, hatte sofort kehrtgemacht, sodass ihr Vorsatz ins Leere lief. Dasselbe wiederholte sich an den darauffolgenden Tagen; Song Gang hielt sich strikt an das Verbot seines Bruders und nahm Reißaus vor ihr wie vor einer Leprakranken, sobald er sie erblickte. Beim Anblick des flüchtenden Song Gang wurde ihr verletzter Stolz von Mal zu Mal schwächer, bis sie am Ende nur noch niedergeschlagen war und der davoneilende Mann in ihr nicht weniger als ein Gefühl des Verlustes zurückließ.
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So kehrte Song Gang in ihr Herz zurück und verwurzelte sich dort tief und fest. Sie entdeckte eine seltsame Veränderung an sich: Je mehr er ihr auswich, desto mehr liebte sie ihn. Wenn sie sich in mondhellen oder - wahlweise - regenschwarzen Nächten zur Ruhe legte, dachte sie unwillkürlich stets an seine stattliche Gestalt, an sein Lächeln, an seinen gesenkten Kopf, an seine Nachdenklichkeit, an seinen traurigen Gesichtsausdruck, wenn er sie sah - an alles, einfach alles, was sie an Song Gang entzückte. Mit der Zeit wurde aus diesen Erinnerungen eine unstillbare Sehnsucht, so, als wäre er tatsächlich schon ihr Liebster, ihr ferner Geliebter an fremdem Ort, nach dem sie sich in heißem Verlangen verzehrte. Sie war überzeugt, dass auch Song Gang sie insgeheim liebte und sie nur wegen seines Bruders mied. Beim bloßen Gedanken an Glatzkopf-Li wurde sie schon bleich vor Wut. Mit seiner brutalen Art hatte er nicht nur alle an ihr interessierten jungen Männer von Liuzhen vergrault - wobei diese in ihren Augen sowieso nichts taugten -, sondern eben auch Song Gang, der für sie alles andere als ein Taugenichts war. Unzählige Male stellte sie sich vor, wie er sie umwarb, wie er schüchtern bei ihr zu Hause erschien und dann ebenso schüchtern wie umständlich herumstotterte. Das ist Song Gang, wie er leibt und lebt!, dachte sie. Er weiß einfach nicht, was er will! Am Ende solcher Fantasievorstellungen schüttelte Lin Hong stets den Kopf und seufzte, wusste sie doch, Song Gang würde niemals von sich aus vor ihrer Tür stehen. Die Initiative würde wohl ein weiteres Mal von ihr ausgehen müssen ...
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Sie schrieb ihm einen Zettel- sieben Zeilen mit insgesamt dreiundachtzig Schriftzeichen plus dreizehn Satzzeichen. Einundfünfzig Schriftzeichen brauchte sie, um Glatzkopf-Li herunterzumachen, die restlichen zweiunddreißig, um Song Gang zu einem Stelldichein zu zitieren, um acht Uhr abends, diesmal unter einer Brücke (derselben übrigens, auf der Song Fanping während der Kulturrevolution das rote Banner geschwenkt hatte). Im letzten Satz ihres Briefes stand, er solle ihr das Taschentuch beim Rendezvous zurückgeben; auf diese Weise, davon war sie überzeugt, würde er auf jeden Fall kommen. Den Zettel faltete sie zu einem Schmetterling, den sie in ein nagelneues Taschentuch wickelte. Damit lauerte sie Song Gang kurz vor Schichtende am Straßenrand auf. Es war inzwischen Spätherbst, und wegen des leichten Regens hatte sie ihren Schirm aufgespannt, auf dem die Tropfen beim Auftreffen ein leises Geräusch machten, obwohl sie unter einer Platane wartete. Lin Hong beobachtete unverwandt die Passanten auf der finsteren Straße. Einige gingen unter Regenschirmen, andere - junge, nicht beschirmte Leute rannten in wilder Hast vorbei, unter ihnen schließlich auch Song Gang, auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er hatte seine Jacke ausgezogen und hielt sie mit beiden Händen über sich, um sich vor dem Regen zu schützen. Beim Laufen flatterte sie wie eine Fahne hinter ihm her. Lin Hong lief rasch zu ihm hinüber und stoppte ihn mit ihrem Schirm, sodass er scharf bremsen musste, um nicht gegen sie zu prallen. Dabei geriet er ins Rutschen, wie Lin Hong sah, als sie jetzt den Schirm zur Seite hielt. Sie drückte dem Erschrockenen das Taschentuch in die Hand, dann ließ sie ihn stehen. Als sie sich nach ein paar Schritten noch einmal umdrehte, sah sie 467
einen entgeisterten Song Gang, immer noch an derselben Stelle, einen Song Gang, der ihr Taschentuch auf beiden Händen vor sich hielt und offensichtlich gar nicht wusste, wie ihm geschah. Seine Jacke war auf die Erde gefallen, mehrere Vorübergehende traten darauf. Mit einem Lächeln wandte sich Lin Hong von ihm ab und setzte unter dem Schirm ihren Weg fort. Was später geschah, entzog sich ihrer Kenntnis. An diesem Regentag war Song Gang völlig kopflos. Er hätte nicht sagen können, wie er nach Hause gekommen war, als er mit wild klopfendem Herzen das Taschentuch aufband und den Schmetterlingsbrief erblickte. Mit zitternden Händen glättete er ihn - keine leichte Sache, denn Lin Hong hatte den Zettel überaus kompliziert gefaltet, sodass er Angst hatte, ihn zu zerreißen - und las schwer atmend wieder und wieder die dreiundachtzig Zeichen, die darauf standen. Zwischendurch stopfte er das Blatt mehrmals schnell in die Tasche, weil er die Schritte eines von der Arbeit kommenden Nachbarn irrtümlich für die seines Bruders hielt. Erst als im Nebenhaus die Tür aufgeschlossen wurde, holte er mit einem Seufzer der Erleichterung den Brief wieder hervor und las ihn ein weiteres Mal. Völlig aufgewühlt hob er den Blick und starrte in den herab rieselnden Regen, der ein unregelmäßiges Muster auf die Fensterscheibe malte. Schweren Herzens hatte er das Feuer seiner Liebe erstickt - jetzt brannte es wieder lichterloh. Und das hatte allein dieses Blatt Papier bewirkt. Wie gern wäre er zu dem Stelldichein gegangen! Mehrmals war er drauf und dran, sich auf den Weg zu machen, aber dann musste er wieder an den Bruder denken und verharrte 468
an der offenen Tür, sah verstört in den Regen hinaus und schloss sie wieder. Am Ende war es der abschließende Satz in Lin Hongs Brief - die Aufforderung, ihr das Taschentuch zurückzugeben -, der ihm die Begründung dafür lieferte, sich selbst zu überreden und doch loszugehen. Um diese Zeit hätte Glatzkopf-Li eigentlich längst von der Arbeit heimkommen müssen, aber er wurde in der Geschützten Werkstatt aufgehalten. Dadurch hatte Song Gang Gelegenheit, unbemerkt zu jener Brücke aufzubrechen, denn seit er Lin Hongs Botschaft zum ersten Mal gelesen hatte, war er stets darauf gefasst gewesen, dass der Bruder nach Hause käme. Er legte den ganzen Weg rennend zurück, wusste er doch genau, falls er Glatzkopf-Li begegnete, würde ihn sein Mut sogleich verlassen. An der Brücke ging er die Stufen zum Fluss hinunter, um dort auf Lin Hong zu warten. Es war gerade sechs Uhr, also würde es noch zwei Stunden dauern, bis sie käme. Song Gang zitterte am ganzen Leibe. Die Schritte auf der Brücke über ihm erweckten in ihm die Vorstellung, er sei zu Hause und viele, viele Menschen liefen über das Dach. Er blickte auf das allmählich immer dunkler werdende Wasser, auf das die Regentropfen plätscherten, sodass auch der Fluss zu zittern schien. Widerstreitende Empfindungen stiegen in ihm auf. Bald war er hochgestimmt, bald wieder verzagt, bald voller Sehnsucht, bald von Verzweiflung erfüllt. Seine Unruhe und Besorgnis hielt länger als eine Stunde an. Dann - es war inzwischen ganz dunkel geworden - beruhigte er sich allmählich. Er dachte wieder an Li Lans traurige Augen kurz vor ihrem Tod und rang sich ein weiteres Mal dazu durch, auf sein Glück zu verzichten. Im Stillen erneuerte er seinen 469
Schwur, nichts zu tun, womit er Glatzkopf-Li schaden würde. Hierher war er nicht zu einem Stelldichein mit Lin Hong gekommen, sagte er sich jetzt, sondern einzig und allein, um ihr das Taschentuch zurückzugeben. Er führte es vor seine dunklen Augen und sah es abschiednehmend an, ehe er es in die Tasche steckte. Dann atmete er tief aus. Ihm war jetzt viel leichter ums Herz. Lin Hong erschien um halb neun. Unter ihrem Regenschirm schritt sie ein paar Stufen die Treppe hinunter und spähte in das Dunkel unter der Brücke, wo sie eine große, schattenhafte, lautlose Gestalt ausmachte. Das konnte nur Song Gang sein, nicht sein untersetzter Bruder! Sie lächelte erleichtert und ging die restlichen Stufen hinunter. Unter der Brücke klappte sie ihren Schirm zu und schwenkte ihn ein paarmal, dann blickte sie Song Gang an. In der Dunkelheit konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, hörte aber sein schweres Atmen und bemerkte, dass er ihr seine Rechte entgegenstreckte. Als sie genauer hinschaute, sah sie, er hielt ihr das Taschentuch hin. Bei diesem Anblick krampfte sich ihr Herz zusammen. Sie nahm das Tuch nicht entgegen, denn ihr war klar, dies wäre das Ende der Begegnung. Sie blickte zur Seite, auf die funkelnden Lichtpunkte, die die Laternen oben auf der Straße über das Wasser streuten, und hörte, wie Song Gangs Atem immer schwerer ging. Unwillkürlich musste sie lachen. »Warum sagst du nichts? Ich bin nicht hierher gekommen, um dich atmen zu hören!«, sagte sie. Song Gangs rechte Hand bewegte sich. Mit zitternder Stimme antwortete er: »Hier ist dein Taschentuch.«
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Lin Hong fuhr ihn an: »Bist du nur gekommen, um mir das Tuch zurückzugeben?!« Er nickte. »Ja«, erwiderte er mit zitternder Stimme. Sie schüttelte den Kopf und lächelte einen Moment bitter vor sich hin. Dann schaute sie ihn an und fragte traurig: »Song Gang, magst du mich nicht?« Trotz der Dunkelheit wagte er immer noch nicht, sie anzusehen. Mit abgewandtem Gesicht sagte er trübselig: »Glatzkopf-Li ist mein Bruder-« »Hör auf mit diesem Glatzkopf-Li!«, unterbrach sie ihn und fügte in nicht misszuverstehender Deutlichkeit hinzu: »Selbst wenn es zwischen uns beiden nichts wird - mit dem Kerl würde ich mich nie einlassen!« Song Gang ließ den Kopf hängen; er wusste nicht, was er hierauf antworten sollte. Lin Hong, der es naheging, ihn so kleinlaut und verlegen vor sich stehen zu sehen, biss sich auf die Lippen. Dann sprach sie in versöhnlicherem Ton: »Song Gang, dies ist das letzte Mal. Überleg dir gut, was du tust! So eine Gelegenheit wird es nie wieder geben ... « Als sie fortfuhr, klang Traurigkeit aus ihren Worten: »Denn dann werde ich die Freundin von jemand anders sein.« Sie sah ihn erwartungsvoll an, doch was sie hörte, war abermals jener Satz: »Glatzkopf-Li ist mein Bruder ... «, wiederholte er mit leiser Stimme. Aufs äußerste verletzt, wandte sich Lin Hong ab. Wieder sah sie die Lichtreflexe auf dem Wasser. Ihr Gefühl sagte ihr, dass Song Gang ihr immer noch das Tuch hinhielt. Beide schwiegen. Nach einem Moment fragte sie betrübt: »Song Gang, kannst du schwimmen?« 471
Er nickte verwundert: »Ja.« »lch nicht«, erwiderte sie, und es klang, als rede sie zu sich selbst. Dann drehte sie sich zu ihm um und fragte: »Was meinst du, werde ich ertrinken, wenn ich hineinspringe?« Song Gang, der nicht wusste, worauf sie hinauswollte, sah sie nur stumm an. Sie streckte in der Dunkelheit die Hand aus und berührte sein Gesicht. Durch seinen Körper ging ein Zucken, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. Lin Hong zeigte auf den Fluss und sagte beschwörend: »Ich frage dich jetzt zum letzten Mal: Magst du mich?« Song Gangs Mund öffnete sich, doch es kam kein Ton heraus. Immer noch auf den Fluss zeigend, fuhr sie fort: »Wenn du nein sagst, springe ich hinein.« Als er stumm blieb, drängte sie ihn: »Rede!« »Glatzkopf-Li ist mein Bruder!«, sagte er mit flehender Stimme. Sie verzweifelte, denn sie hatte nicht damit gerechnet, dass er diese Worte noch einmal wiederholen würde. »Ich hasse dich!«, knirschte sie durch die Zähne, und im nächsten Moment war sie mit einem großen Satz in den Fluss gestürzt, sodass die Lichtreflexe zersprangen und die Wassertrapfen Song Gang wie Hagelkörner ins Gesicht peitschten. Sie ging unter, strampelte aber gleich darauf wieder nach oben. Song Gang war ebenfalls in das eiskalte Wasser gesprungen. Als er merkte, dass er das verzweifelt nach oben strebende Mädchen, das sich mit beiden Händen an ihm festgekrallt hatte, mit seinem eigenen Körper wieder unter die Wasseroberfläche drückte, hielt er sie mit übermenschlicher Kraft hoch, während er sich zugleich mit heftigen Beinbewegungen 472
selbst über Wasser zu halten suchte. Die Wasser in sein Gesicht spuckende und seinen Nacken mit bei den Händen umfassende Lin Hang fest an sich gepresst, nur mit den Beinen schwimmend, strebte er dem Ufer zu. Er bettete das Mädchen auf die unterste Treppenstufe und rief, neben ihr kniend, leise ihren Namen. Da öffnete sie die Augen. Erst in diesem Moment merkte er, dass er sie immer noch mit seinen Armen umschloss. Erschrocken ließ er sie los und stand auf. Die schräg auf der Treppe liegende Lin Hang hustete keuchend und spuckte weiter Wasser. Schließlich setzte sie sich auf, zusammen gekrümmt, mit beiden Händen ihre Knie umfassend, den Kopf gesenkt, im kühlen Nachtwind vor Kälte zitternd. Sie wartete darauf, dass Song Gang sie in die Arme nähme, so fest, wie er sie eben im Wasser umarmt hatte. Der jedoch, genauso nass wie sie und ebenfalls zitternd, hatte nichts Besseres zu tun als tatenlos dazustehen. Da stand Lin Hang traurig auf und stieg auf schwankenden Beinen, die Hände um die Arme geschlungen, immer noch am ganzen Leibe zitternd, langsam die Treppe hinauf, ohne dass es Song Gang eingefallen wäre, zu ihr zu eilen und sie zu stützen. Sie spürte jedoch, dass er ihr folgte, drehte sich aber nicht um, bis sie auf der Straße stand. Da war das Geräusch seiner Schritte verstummt, doch immer noch wandte sie sich nicht um. Ihre Tränen vermischten sich mit den Regentropfen auf ihrem Gesicht, als sie langsam davonging. Song Gang sah ihr nach, bis sie fast außer Sichtweite war. Es gab ihm einen Stich zu sehen, wie sie sich mit gesenktem Kopf, mit den Händen ihre Schultern umkrampfend, die menschenleere, gleichsam schlafende, nasse Straße entlang473
schleppte, während die Regentropfen im Schein der Straßenlaternen wie Schneeflocken durcheinanderwirbelten. Er wischte sich mit der linken Hand Tränen und Regen aus den Augen und ging in die entgegengesetzte Richtung. Glatzkopf-Li war schon im Bett. Als er Song Gang härte, kam er mit dem Kopf unter der Bettdecke hervor und machte das Licht an. »Wo warst du denn bloß?«, rief er. »Ich warte und warte, und du kommst einfach nicht!« In die Decke gewickelt, setzte er sich im Bett auf; sein pitschnasser Bruder sank auf einen Hocker. Ohne dessen kummervolle Miene zu bemerken, fuhr er mit seinen Vorwürfen fort: »Das Abendessen hast du auch nicht vorbereitet! Da kommt man nach einem anstrengenden Arbeitstag heim, und dann gibt's nichts zu beißen, nicht mal Reste, sodass man extra wegen ein paar Baozi noch mal rausmuss.« Nachdem er seinem Herzen Luft gemacht hatte, fragte er: »Hast du überhaupt etwas gegessen?« Song Gang sah ihn so abwesend an, als ob er ihn nicht kenne. Da brüllte Glatzkopf-Li: »Verdammt noch mal, ich habe dich was gefragt!« Ein Beben ging durch Song Gang; jetzt hatte er GlatzkopfLis Worte endlich gehärt. »Nein, ich habe nichts gegessen«, sagte er leise. »Ich wusste es!« Mit diesen Worten zog Glatzkopf-Li eine Schüssel mit zwei Baozi unter der Bettdecke hervor und hielt sie Song Gang hin. »Da! Iss, solange sie noch warm sind«, sagte er. Song Gang seufzte, nahm die Schüssel entgegen, stellte sie auf den Tisch und fuhr fort, Glatzkopf-Li geistesabwesend
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anzustarren. Der zeigte auf die Baozi und rief: »Iss endlich!« Song Gang seufzte abermals. Dann murmelte er kopfschüttelnd: »Hab keinen Hunger.« »Aber das sind Baozi!«, rief Glatzkopf-Li. Erst jetzt bemerkte er, dass sich unter dem Hocker, auf dem der Bruder saß, eine Pfütze gebildet hatte. Das Wasser breitete sich nach allen Seiten aus, ein paar Rinnsale flossen bis unter das Bett, und immer noch tropfte aus Song Gangs Kleidern das Wasser auf den Estrich. Das konnte nicht von dem Regen sein - Song Gang sah aus, als habe man ihn gerade aus dem Fluss gefischt, dachte Glatzkopf-Li erstaunt. »Du bist ja patschnass wie ein Hund, der ins Wasser gefallen ist! Was ist denn los?«, fragte er. Ihm fiel nun auch auf, dass der Bruder ein zusammengeknautschtes Tuch in der Rechten hielt, aus dem ebenfalls das Wasser tropfte. Darauf zeigend, rief er: »Was ist das?« Song Gang blickte auf das Taschentuch und erschrak selbst. Er entsann sich, dass er mit dem Tuch in der Hand in den Fluss gesprungen war, um Lin Hang ans Ufer zu ziehen. Und jetzt hielt er es immer noch in seiner Hand! Glatzkopf-Li schälte sich aus der Bettdecke. Als ob er etwas ahne, fragte er misstrauisch: »Wem gehört das?« Song Gang legte das Taschentuch auf den Tisch, wischte sich das Wasser aus dem Gesicht und antwortete bedrückt: »Ich habe mich mit Lin Hang getroffen.« »Verdammt!«, rief Glatzkopf-Li, aber weil sein Bruder in diesem Augenblick dreimal kräftig nieste, schimpfte er ihn nicht weiter aus, sondern forderte ihn auf, sich schnell auszuziehen und ins Bett zu gehen. Noch während er das sagte, 475
musste er selber ebenfalls niesen und kroch rasch wieder unter seine warme Decke. Song Gang nickte und zog folgsam seine tropfnassen Sachen aus. Als er schon zugedeckt im Bett lag, schien ihm etwas einzufallen. Er stand noch einmal auf, um aus seiner Jackentasche Lin Hangs Zettel hervorzuholen, der natürlich inzwischen weniger ein Brief als vielmehr eine aufgeweichte Papierkugel war. Er reichte ihn Glatzkopf-Li, der misstrauisch fragte: »Was ist das?« Hustend antwortete Song Gang: »Ein Brief von Lin Hang.« Bei diesen Worten kam Glatzkopf-Li schnell unter der Bettdecke hervor und entfaltete vorsichtig das durchweichte Papier, das mit der völlig verlaufenen Tintenschrift an ein impressionistisches Landschaftsaquarell erinnerte. Er sprang aus dem Bett, stellte sich auf den Tisch und hielt das Blatt dicht unter die heiße Glühbirne, um es zu trocknen. Trotzdem konnte er die Schrift nicht lesen. Es blieb ihm nichts anderes übrig als den Bruder zu fragen: »Was hat sie denn geschrieben? « Song Gang hatte sich fest in seine Decke eingemummelt und die Augen geschlossen. »Mach das Licht aus«, murmelte er. Glatzkopf-Li gehorchte und kroch ebenfalls unter die Decke. Als beide Brüder in ihren Betten lagen, berichtete Song Gang, immer wieder von Husten und Niesen unterbrochen, was an diesem Abend geschehen war. Glatzkopf-Li lauschte mit angehaltenem Atem. Als der Bruder fertig war, sagte er mit leiser Stimme: »Song Gang?!« Der machte nur »Hm!«. Glatzkopf-Li fragte vorsichtig: »Und du hast sie nicht nach Hause gebracht?«
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Offenbar wirklich erkältet, krächzte Song Gang: »Nein.« Glatzkopf-Li lachte in der Dunkelheit lautlos in sich hinein. Nach einem Moment rief er abermals leise »Song Gang!«, und dann, als der wieder »Hm!« machte, sagte er nicht ohne Rührung: »Du bist echt ein guter Bruder!« Von Song Gang kam keine Reaktion, bis auf ein Knurren, nachdem er ihn noch mehrmals beim Namen gerufen hatte. Dennoch gab Glatzkopf-Li den Versuch, sich mit ihm zu unterhalten, erst auf, als Song Gang mit matter Stimme sagte: »Ich möchte jetzt schlafen.« Die ganze dunkle Regennacht verbrachte Song Gang in einem Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen, immer wieder unterbrochen von Hustenanfällen. Manchmal glaubte er, eingeschlafen zu sein; dann war er wie benommen, und es kam ihm vor, als treibe er im Wasser. Wenn er wachte, glaubte er, keine Luft zu bekommen; ihm war, als laste auf seiner Brust ein großer Stein. Erst als die Strahlen der Morgensonne durch das Fenster auf ihn fielen und er die Augen öffnete, hatte er das Gefühl, am Ende doch ein bisschen eingeschlafen zu sein. Er hörte das Wasser noch von der Traufe tropfen und sah die Tröpfchen auf den Fensterscheiben glitzern, aber der Regen hatte aufgehört, der Himmel war klar und das Zimmer von Sonnenlicht durchflutet. Die Spatzen auf den Bäumen vor dem Haus tschilpten, und die Nachbarn unterhielten sich laut miteinander. Song Gang atmete auf; endlich war die schwere, bedrückende Nacht vorbei! An diesem herrlichen Morgen war auch ihm wieder leichter ums Herz. Er setzte sich im Bett auf, und als er sah, dass Glatzkopf-Li noch fest schlief, weckte er ihn wie an jedem Morgen: »GlatzkopfLi! Aufstehen! Es ist Zeit!« 477
Glatzkopf-Lis Kopf schoss blitzschnell unter der Bettdecke hervor. Darüber musste Song Gang lachen. Der Bruder rieb sich die Augen und wollte wissen, warum er lache, worauf der andere antwortete, es habe ausgesehen wie bei einer Schildkröte, als eben sein Kopf unter der Decke hervorkam. Während er das sagte, machte er es ihm vor, krümmte sich zusammen und verkroch sich unter seine Decke. »Und? Sieht es aus wie eine Schildkröte?«, kam es undeutlich unter der Decke hervor, ehe plötzlich sein Kopf und sein lang gereckter Hals zum Vorschein kamen und wie für ein Standfoto einen Moment so verharrten. »Doch, sieht echt so aus«, bestätigte Glatzkopf-Li kichernd, wobei er sich die Augen rieb. Dann aber fiel ihm ein, was am Abend passiert war, und er blickte Song Gang erstaunt an. Der aber sprang aus dem Bett, als wäre überhaupt nichts Besonderes geschehen, holte sich saubere Anziehsachen aus dem Schrank, zog sich an, drückte Zahnpasta auf die Bürste, warf sich das Handtuch über die Schulter, griff sich Waschschüssel und Zahnbecher, öffnete die Haustür und ging zum Brunnen, um sich zu waschen. Als GlatzkopfLi hörte, wie er mit den Nachbarn schwatzte und immer mal leise lachte, kratzte er sich argwöhnisch am Kopf und fluchte vor sich hin: "Oh, Scheiße!« Für Song Gang war dies ein ruhiger Tag. Gelegentlich dachte er daran, was am Abend zuvor unter der Brücke und im Fluss geschehen war und wie die tropfnasse Lin Hong die regenfeuchte Straße entlanggewankt war. Dann war er für einen Moment wie geistesabwesend, gleich darauf aber hatte er sich wieder in der Gewalt und dachte nicht mehr daran. Nach 478
dem dramatisch bewegten Abend hatte er jetzt zur Ruhe gefunden. Der gewissermaßen endgültige Abschied von Lin Hong erschien ihm wie der Schluss einer Geschichte, einer Geschichte, die ihm den Atem genommen hatte, die nun aber zu Ende war und Platz für den Beginn einer neuen Geschichte gemacht hatte. Wie auf Regen ein klarer Himmel folgt, so war auch Song Gangs Gemüt endlich klar und heiter. Als Glatzkopf-Li an diesem Abend von der Arbeit kam, brachte er ein paar große rotbackige Äpfel mit, die er auf einem Stuhl ablegte. Song Gang hatte bereits das Abendessen fertig, sodass Glatzkopf-Li sich sogleich an den Tisch setzte und zu essen begann. Dabei sah er Song Gang die ganze Zeit mit einem unverschämten Grinsen an, was diesen sehr verunsicherte. Was mochte der Bruder jetzt wieder ausgeheckt haben? ... Erst nach dem Essen rückte Glatzkopf-Li mit der Sprache heraus und erzählte, er sei in der Wirkwarenfabrik gewesen. Seine Ermittlungen hätten ergeben, dass Lin Hong nicht zur Arbeit erschienen sei, weil sie wegen einer fiebrigen Erkrankung das Bett hüten müsse. Mit den Fingern auf den Tisch klopfend, schloss er: »Song Gang, du musst sie besuchen jetzt gleich!« Song Gang erschrak. Er sah den selbstzufrieden grinsenden Bruder zweifelnd an, dann wanderte sein Blick zu den Äpfeln - denn er nahm an, Glatzkopf-Li wolle ihn mit den Früchten zu Lin Hong schicken -, und schließlich sagte er kopfschüttelnd: »Nein, ich kann das nicht. Und schon gar nicht mit den Äpfeln!« »Wer hat denn was von Äpfeln gesagt? Die Äpfel bringe ich ihr!«, rief Glatzkopf-Li, schlug auf den Tisch, sprang auf und 479
schob dem Bruder das inzwischen getrocknete und sorgfältig zusammengefaltete Taschentuch hin. »Das nimmst du mit und gibst es ihr zurück.« Song Gang blickte ihn immer noch voller Zweifel an. Worauf wollte der Bruder hinaus? Da setzte ihm Glatzkopf-Li triumphierend seinen Plan auseinander: Song Gang solle zuerst mit dem Taschentuch zu Lin Hong hineingehen, während er selbst vor der Tür warten würde. Song Gang müsse stumm vor ihrem Bett stehen bleiben und, sobald sie aus ihrem Halbschlaf aufwache, die Augen öffne und ihn erkenne, vollkommen gefühllos zu ihr sagen »Jetzt wirst du ja wohl endlich die Hoffnung aufgeben!«. Dann müsse er das Taschentuch auf das Bett werfen, sich umdrehen und hinausgehen, ohne sich auch nur eine weitere Sekunde aufzuhalten. Danach wäre er - Glatzkopf-Li - an der Reihe. Er würde mit den Äpfeln zu ihr hineingehen und die Verzweifelte einfühlsam trösten. Nachdem Glatzkopf-Li seinen Plan dargelegt hatte, wischte er sich die Spucke aus den Mundwinkeln und sagte stolz: »Auf diese Weise wird Lin Hong jede Hoffnung aufgeben, was dich betrifft. Und sie wird endlich ernsthaft anfangen, sich für mich zu interessieren.« Song Gang senkte den Kopf und schwieg. Glatzkopf-Li, selber absolut hingerissen von seinem famosen Plan, fragte erwartungsvoll: »Damit kriegen wir sie doch, oder?« Als von seinem Bruder immer noch keine Reaktion kam, sagte er mit einer geringschätzigen Handbewegung: »Na, macht auch nichts. Aber wir müssen jetzt los!«
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Song Gang schüttelte traurig den Kopf; er wollte nicht mit. »Diesen Satz«, sagte er, »den bringe ich nicht über die Lippen.« Glatzkopf-Li wurde ärgerlich. Er streckte die linke Hand aus und bog mit der Rechten nacheinander alle fünf Finger um. »Überlege doch mal!«, sagte er. »Du hast mir fünf Strategien vorgeschlagen, >etwas durch die Blume sagen<, >mit der Tür ins Haus fallen<, >der Feind steht vor den Toren<, >tief ins feindliche Hinterland eindringen<, >steter Tropfen höhlt den Stein< - keine davon hat funktioniert, keine hat mich ans Ziel gebracht. Als Einflüsterer hast du glatt versagt! Da musste erst ich kommen, um einen todsicheren Plan auszuhecken.« An dieser Stelle reckte er, sehr von sich selbst überzeugt, den Daumen hoch, mit dem er gleich danach auf die Tür deutete: »Los! Gehen wir!« Aber Song Gang blieb standhaft: »Diesen Satz bringe ich nicht heraus«, wiederholte er, indem er sich auf die Lippen biss. »Verdammt noch mal!«, brauste Glatzkopf-Li auf, wechselte aber sogleich in eine geradezu liebevolle Tonlage: »Song Gang, wir sind doch Brüder, hilf mir nur dieses eine Mal! Ich schwöre beim Himmel, es ist das letzte Mal. Von jetzt an werde ich dich ganz bestimmt nicht mehr um Hilfe bitten.« Währenddessen hatte er den Bruder vom Stuhl hochgezogen und zur Tür hinausexpediert. Er drückte ihm das Taschentuch in die Hand, ergriff selbst die Tüte mit den Äpfeln, und dann machten sich beide auf zu Lin Hong. Es war schon dämmrig, und in der Luft war immer noch ein feuchter Hauch zu spüren. Glatzkopf-Li mit den Äpfeln in 481
der Rechten schritt munter los, während Song Gang mit dem Taschentuch in der Linken niedergeschlagen neben ihm hertrottete. Den ganzen Weg über redete Glatzkopf-Li auf ihn ein, um ihn aufzuheitern. Er versprach ihm das Blaue vom Himmel: Sobald Lin Hong und er sich einig geworden seien, würde er als Erstes für Song Gang eine Freundin suchen, die noch viel hübscher sein würde als Lin Hong. Fände er sie nicht in Liuzhen, würde er in anderen Marktflecken suchen. Oder in der ganzen Provinz. Oder im ganzen Land. Zur Not in der ganzen Welt! Kichernd sagte er: »Wer weiß - vielleicht finde ich für dich eine blonde, blauäugige Ausländerin, mit der du dann in einem schönen Haus im europäischen Stil wohnst, europäisches Essen isst, in einem europäischen Bett schläfst! Dann wirst du am Ende ein europäisches Mädchen umarmen, ein europäisches Mädchen küssen, einheimische Methoden mit westlichem Know-how kombinieren, wie es in der Zeitung immer gefordert wird, und mit ihr ein Zwillingspärchen zeugen!« Während Glatzkopf-Li die verwestlichte Zukunft seines Bruders in den rosigsten Farben ausmalte, schleppte sich dieser mit hängendem Kopf über die nur allzu einheimischen Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen, ohne dass auch nur ein Wort von Glatzkopf-Lis Geschwätz zu ihm durchgedrungen wäre. Er passte sich lediglich mechanisch dessen Gangart an, machte halt und schaute mit leerem Blick in den Sonnenuntergang, wenn der Bruder stehen blieb, um mit irgendjemandem zu plaudern, und setzte sich mit gesenktem Kopf wieder in Gang, wenn Glatzkopf-Li weiterging.
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Die Leute in unserer kleinen Stadt Liuzhen interessierten sich sehr für Glatzkopf-Lis Äpfel. »Ihr macht bestimmt einen Verwandtenbesuch oder? «, erkundigten sie sich. »Das könnte man so sagen!«, erwiderte Glatzkopf-Li mit stolzgeschwellter Brust. Als die beiden am Tor von Lin Hongs Wohnhof ankamen, blieb er stehen, tätschelte Song Gangs Schulter und sagte: »Jetzt kommt's auf dich an! Ich warte hier auf deine Siegesnachricht.« Dann, betont liebevoll, spielte er ein weiteres Mal sein Trumpfass aus: »Vergiss nicht, wir sind Brüder!« Song Gang blickte Glatzkopf-Li an, dessen lächelndes Gesicht von den Strahlen der untergehenden Sonne gerötet war. Er schüttelte den Kopf und lachte bitter auf, dann wandte er sich um und ging durch das Tor. Als er an Lin Hongs Wohnungstür auftauchte, waren deren Eltern gerade beim Abendessen. Sie sahen den ungebetenen Gast ziemlich erstaunt an - offensichtlich wussten sie Bescheid, was am Abend zuvor geschehen war. Song Gang war sich bewusst, dass er jetzt eigentlich ein paar Worte mit ihnen wechseln sollte, doch sein Kopf war plötzlich ganz leer; ihm fiel nichts ein. Was nun? Er konnte doch nicht wortlos einfach so hineingehen! Aus diesem Dilemma rettete ihn Lin Hangs Mutter. Sie stand auf und begrüßte ihn: »Kommen Sie doch näher!« Song Gang trat folgsam ein, doch dann wusste er wieder nicht weiter und verharrte wie betäubt mitten im Zimmer. Lin Hangs Mutter öffnete lächelnd die Tür zum Schlafzimmer der Tochter und flüsterte ihm zu: »Vielleicht schläft sie.«
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Er nickte mechanisch und ging in das vom Abendrot erleuchtete Zimmer, wo Lin Hang friedlich wie ein Kätzchen in ihrem Bett lag und schlief. Unsicher näherte er sich dem Bett. Ihr weicher Körper zeichnete sich unter der Decke ab, und ihr Haar verhüllte das liebliche Antlitz. Song Gang merkte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Sein Herz klopfte bis zum Hals. Jetzt öffnete Lin Hang die Augen einen Spaltbreit; vielleicht hatte sie bemerkt, dass sich im Zimmer etwas bewegte. Zuerst erschrak sie, aber als sie sah, wer da an ihrem Bett stand, zeigte sich freudige Überraschung auf ihrem Gesicht. Sie schloss die Augen und verzog den Mund zu einem Lächeln, dann machte sie die Augen wieder auf und streckte Song Gang die rechte Hand entgegen. Da fiel diesem wieder ein, was er jetzt zu tun hatte. Er holte tief Luft und stammelte: »Jetzt wirst du ja wohl endlich die Hoffnung aufgeben.« Lin Hang zuckte zusammen, als wäre sie von einer Kugel getroffen. Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte sie Song Gang an, der erschüttert das ganze Entsetzen erkannte, das in diesem Blick lag. Dann schloss sie die Augen, und Tränen quollen unter den geschlossenen Lidern hervor. Am ganzen Leibe zitternd legte Song Gang das Taschentuch sachte auf Lin Hongs Decke und ergriff die Flucht. Fast schon am Hoftor, kam es ihm vor, als riefen Lin Hangs Eltern etwas hinter ihm her. Er zögerte einen Moment, aber dann stürzte er doch hinaus. Als Glatzkopf-Li sein Gesicht sah, so bleich, als wäre er mit knapper Not dem Tod entgangen, lief er freudestrahlend auf ihn zu und fragte: »Und? Gesiegt?« 484
Song Gang nickte traurig; Tränen standen ihm in den Augen. Dann eilte er fort, ohne sich noch einmal umzudrehen. Glatzkopf-Li schaute ihm hinterher und murmelte vor sich hin: »Warum weint er denn?« Er fuhr mehrmals mit der Hand über seinen glänzenden Kahlkopf, als ob er sich das - nicht vorhandene - Haar glätten müsse, wog abschätzend die Äpfel in der Hand und schritt siegesgewiss durch das Tor in den Hof. Dort stieß er auf Lin Hangs Eltern, die noch immer rätselten, was eigentlich passiert war. Er begrüßte sie munter: »Hallo, Onkel!«, »Hallo, Tante!«, ging munter an ihnen vorbei in Lin Hangs Zimmer und machte munter hinter sich die Tür zu, nicht ohne ihnen dabei bedeutungsvoll zuzuzwinkern. Die Eltern waren jetzt erst recht perplex; sprachlos sahen sie einander an. Munter trat Glatzkopf-Li an Lin Hangs Bett, und ebenso munter begann er: »Lin Hang, ich habe gehört, du bist krank. Da habe ich dir ein paar Äpfel gebracht.« Lin Hang, die den eben erlittenen Schlag noch nicht verwunden hatte, wusste überhaupt nicht, wie ihr geschah, und starrte den Besucher nur stumm an. Glatzkopf-Li, insgeheim erleichtert, dass sie ihn nicht gleich hinauswies, setzte sich neben das Bett, holte die Äpfel aus der Tüte und legte sie sorgsam neben Lin Hangs Kopfkissen. »Das sind die rötesten und größten Äpfel«, prahlte er, »die es in Liuzhen jemals gegeben hat. Ich habe sie erst im dritten Geschäft gefunden!« Als das Mädchen ihn immer noch stumm ansah, fasste Glatzkopf-Li - im Stillen frohlockend über seinen unerwartet raschen Sieg - sanft nach ihrer Hand, streichelte sie und versuchte zugleich, sie an seine Wange zu führen. In diesem 485
Moment erwachte Lin Hang plötzlich aus ihrer Starre. Mit einem heftigen Ruck entzog sie ihm die Hand und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Als ihre Eltern ins Zimmer gestürzt kamen, hatte sie sich in die äußerste Ecke des Bettes geflüchtet, als trachte ihr jemand nach dem Leben. Auf Glatzkopf-Li zeigend, schrie sie: »Raus! Raus mit dir!« Glatzkopf-Li kam gar nicht dazu, irgendetwas zu erklären, da musste er schon - ebenso wie beim letzten Mal - Hals über Kopf den Ort des Geschehens verlassen. Diesmal griffen Lin Hangs Eltern nicht zu Besen und Handfeger, sondern gingen mit bloßen Händen auf ihn los, bis er sich endlich auf die Straße gerettet hatte. Dort überhäuften sie ihn zur Gaudi zahlreicher Zuschauer abermals mit Schmähungen. Es war wieder von »Warzenkröte« und »Misthaufen« die Rede, wobei sie sich diesmal zusätzlich in circa einem Dutzend weiterer Schimpfwörter »Unhold «, »Herumtreiber«, »Halunke« und dergleichen - ergingen. Mitten in ihrer Schimpfkanonade fiel ihnen ihre Tochter ein, und sie eilten zurück ins Haus, einen zutiefst gekränkten Glatzkopf-Li zurücklassend. Er wusste definitiv, dass er über mehr als genug Schimpfwörter verfügte, um es ihnen in gleicher Münze heimzahlen zu können, doch konnte er sich momentan an kein einziges erinnern. Die umstehenden Gaffer amüsierten sich über ihn und wollten wissen, was für welterschütternde Ereignisse zu diesem Eklat geführt hätten. »Ach, nichts von Belang«, antwortete Glatzkopf-Li mit einer geringschätzigen Handbewegung. »Nur ein paar kleine Meinungsverschiedenheiten unter Liebesleuten.«
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Diese letzten Worte hatte er schon im Weggehen gesagt, aber da erschienen Lin Hongs Eltern erneut auf der Bildfläche und schrien, er solle stehen bleiben. Dann schleuderten sie die Äpfel auf ihn wie Handgranaten, sodass er sich kaum retten konnte. Nachdem sie ihre Munition verschossen hatten, blickte er achselzuckend die Umstehenden an, hockte sich hin und sammelte die zermatschten Früchte ein. »Die gehören nämlich mir«, informierte er die Gaffer noch, ehe er mit unschuldsvoller Miene, die Äpfel auf den Händen balancierend, den Ort des Geschehens verließ. Die Bürger unserer kleinen Stadt Liuzhen beobachteten, wie er geräuschvoll in einen Apfel biss, den er an seiner Jacke sauber gerieben hatte, und mit vollem Mund »Schmeckt gut!« vor sich hin nuschelte. Manche hörten ihn außerdem, an seinem Apfel nagend, ein Gedicht des Vorsitzenden Mao rezitieren: »Auf, auf zu neuen Taten ... « VIII Nachdem Song Gang traurig und verzweifelt Lin Hongs Wohnhofverlassen hatte, lief er, ein tragischer Held, weinend im letzten Licht dieses Tages die Hauptstraße von Liuzhen entlang. Die Erinnerung an Lin Hongs erschreckten Blick und an die Tränen, die gleich darauf unter ihren Lidern hervorgequollen waren, verfolgte ihn und schmerzte, als würde sein Herz von einem Messer durchbohrt. Vor lauter Selbsthass knirschte er mit den Zähnen. Als er über die Brücke ging, wäre er um ein Haar hinabgesprungen; jeder Strommast, an dem er vorbeikam, war eine neue Versuchung, mit dem Kopf dagegen anzurennen.
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Ein Mann mit einem quietschenden Pritschenkarren kam ihm entgegen. Auf dem Karren lagen zwei große ineinandergeschichtete Bambuskörbe, aus denen das Ende eines aufgerollten Strohseils baumelte. Song Gang griff sich im Vorbeigehen das Seil und lief mit schnellen Schritten weiter. Der Mann stellte den Karren ab, rannte hinter ihm her und packte ihn an der Jacke. »He, Freundchen!«, stellte er ihn zur Rede. »Was machst du denn da?« Song Gang funkelte den Mann wild an und rief: »Selbstmord! Verstehst du?« Der Mann erschrak. Song Gang legte sich den Strick um den Hals, reckte den Arm nach oben und ließ die Zunge aus dem Mund hängen, dazu schlug er eine wilde Lache an. »Aufhängen will ich mich! Verstehst du?«, schrie er, schon im Gehen. Der Mann erschrak abermals und starrte mit offenem Mund den Lebensmüden an. Sprachlos blickte er Song Gang hinterher und setzte sich erst in Bewegung, als der nicht mehr zu sehen war. Er fluchte und haderte mit dem Schicksal: Warum, zum Teufel, musste ihm noch kurz vor Feierabend so ein Verrückter über den Weg laufen, der ihn erschreckte - sogar gleich zweimal - und obendrein ein Seil mitgehen ließ? So schimpfte er vor sich hin, während er die längste Straße unserer kleinen Stadt Liuzhen entlanglief und schließlich vor Lin Hongs Wohnhof auf Glatzkopf-Li traf, der gerade seine Äpfel zusammengeklaubt hatte und ihm jetzt kauend entgegenkam. Der Mann mit dem Karren musste sich Luft machen, deshalb sprach er ihn an, obwohl er ihn nicht kannte: »Stellen Sie sich vor, was mir passiert ist! Treffe ich doch so einen verdammten Verrückten-« 488
»Verrückt sind wohl eher Sie!«, fertigte Glatzkopf-Li ihn rüde ab und ließ ihn stehen. Wie gehetzt lief Song Gang mit dem zusammengerollten Seil, das immer noch wie ein aus Stroh gestrickter Schal um seinen Hals drapiert war, die Straße entlang, als spurte er dem Tode entgegen. Er hörte, wie seine Kleidung im Wind flatterte, und hatte bald das Gefühl abzuheben, bald die Empfindung, wie ein Schiff auf den Wogen des Meeres zu schwanken. Wie von bösen Geistern gehetzt, ließ er jene lange Straße hinter sich, und immer noch wie gehetzt, bog er in die Gasse ein, die ihn schließlich bis vor seine Haustür führte. Er holte den Schlüssel hervor, schloss auf und betrat das dunkle Haus. Ach ja!, - das Licht musste er anschalten. Da, der Deckenbalken, der wäre geeignet! ... Er stellte einen Hocker darunter, stieg hinauf und hielt sich mit einer Hand an dem Balken fest. Aber wo war das Seil? Die andere Hand war leer! Suchend blickte er sich um. Wo mochte er es verloren haben? ... Vielleicht unterwegs! Er sprang herunter und ging zur offenen Tür, durch die ein Windstoß hereinfuhr. Da raschelte etwas an seinem Hals. Er lachte auf: Da war ja das Seil! Wieder stellte er sich auf den Hocker und knotete es um den Balken. Dann knüpfte er eine Schlinge, zog sie fest und steckte den Kopf hinein. Er holte tief Luft und schloss die Augen. Ein erneuter Windstoß erinnerte ihn daran, dass er die Tür nicht geschlossen hatte. Da machte er die Augen wieder auf, zog den Kopf aus der Schlinge, stieg vom Hocker und schloss die im Wind hin und her schlagende Tür. Dann kletterte er ein drittes Mal hinauf, steckte den Kopf wieder in die Schlinge, schloss die Augen, atmete ein letztes Mal ein 489
und ein letztes Mal aus und stieß mit den Füßen den Schemel unter sich weg. Er spürte, wie sein Körper mit einem Ruck lang gezogen wurde und der Atem aussetzte. Im selben Moment hatte er das unbestimmte Gefühl, dass jemand hereingekommen war. Als Glatzkopf-Li die Tür aufmachte und seinen Bruder unter der Decke hängen und mit den Beinen strampeln sah, schrie er entsetzt auf, stürzte zu ihm hin und stemmte ihn unter Aufbietung aller Kräfte hoch. Er merkte jedoch sogleich, dass das nichts nützte. Wie ein wildes Tier im Käfig rannte er brüllend im Zimmer umher, ratlos - bis sein Blick auf das große Küchenmesser fiel. In fliegender Hast stellte er den Hocker wieder hin, kletterte hinauf, sprang, das Messer schwingend, in die Höhe und zerschnitt das Seil mit einem Hieb. Song Gangs Körper sackte auf den Estrich. Er selbst landete ebenfalls auf dem Fußboden, rappelte sich aber schnell auf und rüttelte, neben dem Bruder kniend, dessen Schultern. Dabei rief er schluchzend immer wieder seinen Namen. Endlich bewegte sich Song Gang und begann zu husten. Als Glatzkopf-Li sah, dass sein Bruder lebte, wischte er sich Rotz und Tränen aus dem Gesicht und begann vor Erleichterung zu lachen, doch gleich darauf musste er wieder weinen. »Song Gang, was machst du bloß für Sachen!«, rief er unter Tränen. Song Gang setzte sich auf und lehnte sich an die Wand. Immer noch hustend starrte er seinen weinenden Bruder empfindungslos an. Als der fortfuhr, immer wieder seinen Namen zu rufen, setzte er zum Sprechen an, brachte aber keinen Ton hervor. Erst beim zweiten Versuch gelang es ihm: »Ich will nicht mehr leben«, sprach er mit Grabesstimme. 490
Glatzkopf-Li streichelte die rote Schwellung an Song Gangs Hals und schalt ihn weinend aus: »Verdammt noch mal, was wird aus mir, wenn du tot bist? Verfluchte Scheiße - ich hab doch niemand anders als dich! Eine verdammte Waise bin ich, wenn du tot bist!« Song Gang schüttelte den Kopf. Er stieß Glatzkopf-Lis Hand weg und erwiderte kummervoll: »Ich liebe Lin Hong. Liebe sie mehr als du. Aber du ..du bist dagegen. Verlangst sogar immer wieder, dass ich sie kränke « Glatzkopf-Li trocknete sich die Tränen und antwortete wütend: »Selbstmord wegen einer Frau - ist es das wert?« Jetzt wurde auch Song Gang zornig: »Und was hättest du an meiner Stelle getan? «, schrie er. »Ich? Ich hätte dich totgeschlagen!«, schrie Glatzkopf-Li zurück. Song Gang blickte ihn erschrocken an. »Aber ich bin doch dein Bruder ... «, wandte er ein. »Das wäre mir dann auch egal«, konterte Glatzkopf-Li. Song Gang stutzte. Gleich darauf lachte er auf. Forschend blickte er Glatzkopf-Li an. Dieser Bruder, der angeblich auf ihn angewiesen war, dieser selbe Bruder hatte ihn soeben mit seinen Worten befreit! Ja, er fühlte sich plötzlich frei, frei, sich mit Leib und Seele seinen Gefühlen für Lin Hong hinzugeben. Nichts und niemand würde ihn mehr daran hindern! Seine Worte kamen von Herzen, als er jetzt erwiderte: »Das hast du gut gesagt.« Glatzkopf-Li war es auf einmal unheimlich zumute. Eben noch hatte Song Gang gerufen »Ichh will nicht mehr leben!«, plötzlich lachte er heiter vor sich hin ... Als er sah, wie der Bruder aufsprang, als nähme er an einem HochsprungWettkampf teil, und voller Energie zur Tür lief, erhob auch 491
er sich aus seiner sitzenden Stellung. »Moment mal!«, rief er. »Was hast du vor?« Song Gang drehte sich um und antwortete gelassen: »Ich werde jetzt zu Lin Hong gehen und ihr sagen, dass ich sie liebe.« »Das darfst du nicht!«, schrie Glatzkopf-Li. »Verdammt noch mal, das kannst du nicht machen! Lin Hong gehört mir!« »Nein«, entgegnete Song Gang, entschieden den Kopf schüttelnd. »Lin Hong liebt nicht dich, sondern mich!« Ein weiteres Mal spielte Glatzkopf-Li seine Trumpfkarte aus. »Song Gang, wir sind doch Brüder! ... «, sagte er erschüttert. Aber Song Gang antwortete ihm frohgemut mit seinen eigenen Worten: »Das ist mir dann auch egal!« Sprach's und verließ mit energischen Schritten den Ort des Geschehens, einen Glatzkopf-Li zurücklassend, der in hilfloser Wut mit geballten Fäusten gegen die Wand hämmerte, um sich alsbald mit schmerzverzerrtem Gesicht die wunden Knöchel zu massieren und aus Leibeskräften daraufzupusten, sodass sein Wehgeschrei sehr schnell in ein pfeifendes Blasen überging. Nachdem der Schmerz nachgelassen hatte, rief er dem längst von der Dunkelheit verschluckten Bruder durch die offene Tür nach: »Dann hau doch ab, verdammt noch mal! Wenn dir ein Weib wichtiger ist als der eigene Bruder! Du verfluchter - Lüstling!« Unterdessen ging der so Geschmähte froh und erleichtert die mondbeschienene Straße entlang, auf der das welke Laub unter seinen Tritten raschelte. Allzu lange war er niedergeschlagen und bedrückt gewesen, jetzt endlich konnte er sei492
nem Glücksgefühl freien Lauf lassen. Während er sich mit großen Schritten Lin Hongs Behausung näherte, zog er in vollen Zügen die kühle Luft dieses Herbstabends ein. Wie schön war die Nacht hier in Liuzhen! Wie hell die Sterne funkelten und wie sanft der Herbstwind säuselte! Dazu die schwankenden Schatten der vom Mond und den Straßenlaternen beleuchteten Bäume, deren Lichtstrahlen gleichsam miteinander verflochten waren wie die schimmernden Haare in Lin Hongs Zöpfen! Staunend sah er, dass die wenigen Passanten, die ab und zu auf der stillen Straße auftauchten, wie in einen Mantel aus Licht gehüllt waren, wenn sie unter einer Laterne vorbeigingen. Noch größer war sein Erstaunen, als er über die Brücke kam und den Mond und die Sterne auf der gekräuselten Oberfläche des Flusses erblickte. IX Lin Hangs Eltern hatten an diesem Abend mehr Abwechslung gehabt, als ihnen lieb sein konnte: Erst hatte der schweigsame Song Gang die Tochter mit seinem Besuch in Trauer und Verzweiflung gestürzt, und anschließend hatte sich Lin Hang über die erneute Belästigung durch den unverschämten Glatzkopf-Li so aufgeregt, dass sie wie am Spieß geschrien hatte. All das hatte auch den Eltern emotional zugesetzt, sodass sie frühzeitig zu Bett gingen. Kaum hatten sie sich jedoch ausgezogen und hingelegt, da klopfte es abermals an der Tür. Die beiden sahen einander an - wer mochte das jetzt sein? Ehe sie wieder angezogen waren, um nachzuschauen, war das Pochen wieder verstummt. Vielleicht hatten sie sich verhört? Da klopfte es erneut. Lin Hangs Mutter fragte durch die Tür, wer da sei. 493
»Ich bin's«, antwortete Song Gang. »Und wer sind Sie?«, rief Lin Hangs Vater. »Ich bin Song Gang.« Als die Eltern des Mädchens das hörten, tauschten sie stumme Blicke: Na warte, Freundchen, dir werden wir Bescheid stoßen! Sie kamen aber gar nicht zum Zuge, denn als sie aufmachten, strahlte Song Gang sie an und sagte fröhlich: »Da bin ich wieder!« »Ja - und?«, entgegnete Lin Hangs Mutter ungnädig. »Sie sind hier nicht zu Hause!« »Sehr seltsam, das muss ich schon sagen!«, ergänzte der Vater. Song Gangs gute Laune war mit einem Schlag wie weggeblasen. Schuldbewusst sah er die beiden an - sie hatten ja völlig recht! Lin Hangs Mutter wollte schon loslegen mit ihrer Schelte, überlegte es sich dann jedoch anders und sagte nur, sehr kühl: »Wir hatten schon geschlafen!« Mit diesen Worten schlug sie Song Gang die Tür vor der Nase zu. Dann gingen beide Eltern wieder zu Bett. Der Vater, dem Lin Hongs Kummer wegen dieses jungen Mannes vor seiner Haustür nicht aus dem Kopf ging, machte seiner Frau gegenüber seiner Wut Luft: »Der Kerl scheint mir ein kompletter Idiot zu sein.« »Er ist ein kompletter Idiot!«, pflichtete seine Frau ihm hasserfüllt bei. Sie hatte an Song Gangs Hals eine Art blutiges Mal bemerkt und fragte ihren Mann, ob er es auch gesehen habe. Der 494
überlegte kurz, dann nickte er. Einen Moment später machten sie das Licht aus und schliefen ein. Song Gang blieb lange vor der geschlossenen Tür stehen. Er wusste nicht ein noch aus. Um ihn herum war alles so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Als später zwei Katzen auf dem Dach eine wilde Verfolgungsjagd veranstalteten und dabei wütend fauchten, schrak er zusammen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass es schon mitten in der Nacht war und er vielleicht doch nicht zu dieser späten Stunde bei Lin Hong hätte vorsprechen sollen. Da verließ er den Wohnhof. Sobald er wieder auf der Straße war, erwachten seine Lebensgeister aufs Neue. Indem er das nach vorn schwingende Bein mit der Ferse zuerst aufsetzte, als trainiere er für einen Geherwettkampf, durchmaß er insgesamt fünfmal die Hauptstraße unserer kleinen Stadt Liuzhen in ihrer vollen Länge und hatte dennoch das Gefühl, sich immer noch nicht völlig verausgabt zu haben. Als er zum siebten Mal vor Lin Hongs Hoftor stand - inzwischen dämmerte schon der Morgen -, beschloss er, dieses Herumgerenne gegen sich selbst abzubrechen und seine Zelte vor ihrer Haustür aufzuschlagen, um bis zum Tagesanbruch dort zu wachen. Er hockte sich hin und lehnte sich gegen einen summenden Strommast. Immer mal wieder lachte er vor sich hin, ohne zu bemerken, wie laut sein Gelächter durch die stille Nacht hallte. Ein Nachbar von Lin Hong, der von der Nachtschicht kam, kriegte einen Schreck: Wenn jetzt schon Strommasten lachen, kommt vielleicht bald ein Erdbeben, dachte er. Bei näherem Hinschauen merkte er jedoch, dass das Lachen nicht von dem Mast herrührte, sondern von einem seltsamen 495
Wesen, das dort kauerte. Was mochte das für ein Tier sein? Voller Angst stieß er das Hoftor auf und flüchtete sich hinein. Selbst nachdem er die rettende Wohnung erreicht, hinter sich abgeschlossen und sich in sein Bett verkrochen hatte, war er immer noch nicht beruhigt und musste sich die Decke über den Kopf ziehen, ehe er endlich einschlief. Als er gegen Mittag aufwachte, erzählte er jedem, den er traf, von seiner unheimlichen Begegnung. Wie ein Mensch habe das Wesen ausgesehen, ganz rund sei es gewesen, ein bisschen wie ein Schwein, aber nicht so fett. Oder wie ein Rind, jedoch kleiner. Am Ende erklärte er im Brustton der Überzeugung: »Ich habe ein Tier aus der Urgesellschaft gesehen!« Lin Hongs Mutter war sehr früh aufgestanden. Als sie kurz nach Sonnenaufgang den Nachttopf hinausschaffen wollte, stieß sie vor ihrer Haustür auf Song Gang, der am ganzen Körper tropfnass war. Erschrocken schaute sie nach oben nein, es regnete nicht, also war er wohl vom Tau so durchnässt. Es kam ihr etwas eigenartig vor, dass Song Gang sie anstrahlte, obwohl er so pitschnass war. Sie stellte den Nachttopf ab und ging ins Haus zurück. »Dieser Song Gang«, sagte sie zu ihrem Mann, »der hat anscheinend die ganze Nacht vor der Tür gewartet. Ist der vielleicht wirklich geistesgestört?« Lin Hongs Vater kriegte vor Staunen den Mund nicht wieder zu. Neugierig trat er vor die Tür, als wäre dort ein Panda zu besichtigen, traf aber nur auf Song Gang, der auch ihn fröhlich anlächelte. Er fragte ungläubig: »Sie haben die ganze Nacht hier gestanden?«
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Song Gang nickte vergnügt. Lin Hongs Vater wunderte sich: So vergnügt, und das nach einer schlaflosen Nacht? ... Er ging wieder hinein und sagte zu seiner Frau: »Ein bisschen anormal ist er tatsächlich.« Als Lin Hong erwachte, war ihr Fieber zurückgegangen, und es ging ihr etwas besser. Sie setzte sich auf, fühlte sich aber doch noch so schwach, dass sie sich lieber wieder hinlegte. Ihre Eltern erzählten ihr, dass Song Gang die ganze Nacht draußen vor der Tür gestanden habe. Zuerst war sie nur erstaunt, dann aber fiel ihr wieder ein, was am Abend vorher geschehen war, und sie biss sich auf die Lippen, weil die schwere Kränkung, die er ihr zugefügt hatte, ihr erneut die Tränen in die Augen trieb. Sie zog sich die Decke über den Kopf und schluchzte kummervoll los. Nach einer Weile trocknete sie sich die Augen - mit demselben Taschentuch, das Song Gang ihr am Abend vorher zurückgebracht hatte - und sprach zu ihrem Vater: »Schick ihn fort! Ich will ihn nicht sehen.« Der Vater ging hinaus zu Song Gang, der immer noch in bester Laune war. »Gehen Sie! Meine Tochter kann Sie nicht empfangen«, sagte er. Das Lächeln erstarb auf Song Gangs Lippen; ratlos starrte er Lin Hongs Vater an, ohne sich zu rühren. Da scheuchte der ihn mit energischen Bewegungen bei der Hände fort, so wie man Enten ins Wasser scheucht. Erst als Song Gang sich mehr als zehn Schritte weit entfernt hatte, hörte er damit auf. »Verschwinden Sie! Ich möchte Sie hier nicht mehr sehen«, rief er ihm hinterher. Dann ging er ins Haus zurück und berichtete, wie er diesen Idioten verjagt und wie ihn das mehr Mühe gekostet habe, als eine Schar Enten ins Wasser zu scheuchen, weil der Idiot sich 497
nach jedem Schritt umgedreht habe und stehen geblieben sei. Wie Staub, so sei dieser Idiot - habe nicht der Vorsitzende Mao sehr richtig gesagt, »wo der Besen nicht hinkommt, wird der Staub nicht von alleine verschwinden«? Lin Hong ging es zu weit, dass ihr Vater Song Gang dreimal hintereinander als Idioten bezeichnete. Mit abgewandtem Gesicht murmelte sie: »Ein Idiot ist er nicht. Er meint es eben ernst.« Lin Hongs Vater zwinkerte seiner Frau zu und verließ mit einem verstohlenen Lächeln das Zimmer. Im Hof stieß er auf einen Nachbarn, der im Imbissladen Ölstriezel zum Frühstück eingekauft hatte und ihn jetzt ansprach: »Der Mann, den du gerade verjagt hast, ist schon wieder da!« »Wirklich?«, wunderte sich Lin Hongs Vater und ging leise ins Haus zurück. Als er sich ans Fenster stellte und die Gardine ein wenig hochhob, sah er tatsächlich Song Gang durch das Hoftor kommen. Schmunzelnd rief er seine Frau herbei. Auch die konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, als sie Song Gang mit hängendem Kopf dort stehen sah, ein Bild des Jammers. Zu ihrer Tochter sagte sie: »Dieser Song Gang ist schon wieder da.« Lin Hong, die an den lächelnden Gesichtern ihrer Eltern merkte, was die im Stillen dachten, drehte sich zur Wand, damit sie ihr Gesicht nicht sehen konnten. Wieder musste sie an den gestrigen Abend denken, und wieder überkam sie der Zorn. »Beachtet ihn gar nicht!«, rief sie. Ihre Mutter entgegnete: »Aber dann bleibt er ewig hier stehen ... « »Jagt ihn fort!«, schrie Lin Hong. Diesmal war es an der Mutter, vor das Haus zu treten. Sie näherte sich dem verlegenen Song Gang und sagte leise zu 498
ihm: »Gehen Sie nach Hause, und kommen Sie in ein paar Tagen wieder!« Song Gang sah sie zweifelnd an. Er verstand nicht, worauf sie hinauswollte. Lin Hongs Mutter, die jetzt das blutige Mal am Hals des jungen Mannes deutlicher als am Abend zuvor sehen konnte, fragte ihn besorgt: »Was haben Sie denn da am Hals?« »Ich wollte Selbstmord begehen«, gestand Song Gang, peinlich berührt. »Selbstmord?!«, vergewisserte sich Lin Hongs Mutter schockiert. »Ja. Aufgehängt hatte ich mich. Mit einem Seil«, bestätigte Song Gang kopfnickend. Dann fügte er verlegen hinzu: »Aber ich bin nicht gestorben.« Aufgeregt lief die Frau zurück ins Haus und ans Bett ihrer Tochter. Song Gang habe sich erhängt, berichtete sie, sei aber nicht gestorben. Schon am Abend habe sie den blutigen Striemen an seinem Hals bemerkt, und eben habe sie gesehen, dass er noch viel tiefer und breiter sei, als sie vermutet habe, schloss sie bekümmert. Sie stieß Lin Hong, die immer noch mit dem Gesicht zur Wand dalag, sanft an und redete ihr zu: »Geh doch mal raus zu ihm!« »Nein!«, rief Lin Hong und schüttelte die Hand der Mutter ab. »Soll er doch verrecken!« Kaum waren diese Worte heraus, ging ihr ein Stich durchs Herz. Während sie in ihrem Bett lag, musste sie ständig an Song Gang und an den blutigen Striemen um seinen Hals denken. Darüber wurde sie immer unruhiger und trauriger, und immer stärker wurde zugleich ihr Wunsch, ihn zu sehen. Sie setzte sich auf und schaute ihre Eltern an, die sofort taktvoll 499
das Zimmer verließen. Dann stand sie auf und ging mit ausdruckslosem Gesicht in das vordere Zimmer, wo sie sich wie an jedem Morgen in aller Ruhe die Zähne putzte, das Gesicht wusch und vor dem Spiegel ihr langes Haar kämmte und zu zwei Zöpfen flocht. Als sie damit fertig war, verkündete sie: »Ich geh mal schnell Ölstriezel kaufen.« Song Gang wäre vor Aufregung beinahe in Tränen ausgebrochen, als er sie kommen sah. Er umklammerte mit den Händen seine Schultern, als wäre ihm kalt, und setzte mehrmals erfolglos zum Sprechen an. Lin Hong warf ihm einen gleichgültigen Blick zu und setzte ihren Weg zum Imbissladen fort, dicht gefolgt von dem immer noch tropfnassen Song Gang, der am Ende dann doch noch die Sprache wiederfand. »Abends um acht warte ich unter der Brücke auf dich«, krächzte er heiser. »Da kannst du lange warten!«, zischte Lin Hong. Während sie im Laden ihre Ölstriezel kaufte, wartete Song Gang niedergeschlagen vor der Tür. Beim Herauskommen bemerkte das Mädchen den blutigen Striemen an seinem Hals und erzitterte innerlich. Song Gang fragte tastend: »Soll ich dann vielleicht lieber in dem Wäldchen auf dich warten?« Lin Hong zögerte einen Moment, dann nickte sie. Song Gang war überglücklich. Da er nicht wusste, was er als Nächstes machen sollte, lief er einfach wieder hinter ihr her. Am Hoftor angelangt, gab ihm das Mädchen mit den Augen einen heimlichen Wink, er möge jetzt gehen. Er nickte heftig mit dem Kopf, wusste er doch nun, was er zu tun hatte, und wandte sich zum Gehen, nachdem er ihr noch einen Moment nachgeschaut hatte. 500
Dieser Tag wollte überhaupt nicht enden! Er war wie benommen und schlief auf der Arbeit insgesamt dreizehnmal ein: fünfmal in einer Ecke der Werkhalle, zweimal beim Mittagessen, dreimal beim Kartenspielen mit den Arbeitskollegen, zweimal an seine Maschine gelehnt und einmal beim Pinkeln auf dem Klo, mit dem Kopf an die Wand gestützt. Schon am frühen Abend, die Sonne ging gerade erst unter, fand er sich in froher Erwartung bei dem Wäldchen hinter dem Kino ein und drehte verstohlen unzählige Runden auf dem kleinen Weg, der um den Park lief, als wäre er ein entflohener Sträfling. Als er auf ein paar Bekannte traf, die ihn ansprachen und fragten, was er dort mache, murmelte er etwas Unverständliches. Er nickte, als die Freunde sich lachend erkundigten, ob er vielleicht sein Portemonnaie suche. Dann fragten sie ihn, ob es nicht doch eher seine Seele sei, die er verloren habe. Da nickte er wieder, was sie erst recht erheiterte. Schließlich zogen sie lachend ab. An diesem Abend kam Lin Hang eine ganze Stunde später als verabredet. Als Song Gang das anmutige Mädchen auf dem mondbeschienenen Pfad langsam näher kommen sah, lief er ihr aufgeregt winkend entgegen. Da aber noch Leute unterwegs waren, zischte sie ihm zu: »Hör auf zu winken! Komm mir hinterher!« Dann ging sie auf das Wäldchen zu, Song Gang ihr immer dicht auf den Fersen. »Bleib ein bisschen weiter zurück!«, ermahnte sie ihn, immer noch flüsternd. Song Gang blieb folgsam stehen, wusste er doch nicht, was genau sie mit »ein bisschen weiter« meinte. Erst als Lin
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Hang das nach ein paar Schritten bemerkte und leise rief: »Komm doch!«, schloss er wieder zu ihr auf. Nun waren sie beide in dem Wäldchen. Nachdem Lin Hang sich vergewissert hatte, dass niemand anders in der Nähe war, blieb sie stehen. Hinter sich hörte sie Song Gang, doch plötzlich verstummte das Geräusch seiner Schritte, nur noch sein keuchender Atem war zu vernehmen. Er musste direkt hinter ihr sein - warum ging der Dummkopf denn nicht weiter, damit sie ihn sehen konnte? Sie wartete einen Moment, und als immer noch nichts geschah, drehte sie sich schließlich zu ihm um. Im Licht des Mondes sah sie, dass er zitterte. Sie konnte undeutlich das blutige Mal an seinem Hals erkennen. »Was hast du da am Hals?«, brach sie das Schweigen. Da erzählte ihr Song Gang in aller Ausführlichkeit, wie Glatzkopf-Li ihn zu jenen kränkenden Worten gezwungen habe, wie er dann nach Hause gekommen sei und sich erhängen wollte, und wie sein Bruder im entscheidenden Moment dazugekommen sei und ihn gerettet habe. Während seines langen, wirren Berichts hörte Lin Hang überhaupt nicht mehr auf zu weinen. Als Song Gang fertig war und sich anschickte, die ganze Geschichte noch einmal von vorne zu erzählen, hinderte sie ihn daran, indem sie ihm mit ihrer Hand den Mund zuhielt. Bei der Berührung ihrer Finger begann er wieder, am ganzen Leibe zu zittern. Lin Hang zog ihre Hand zurück. Sie hielt den Kopf gesenkt und wischte sich die Tränen ab. Dann blickte sie auf und ordnete an: »Nimm die Brille ab!« Song Gang gehorchte sofort. Die Brille in der Hand, wartete er, was als Nächstes kommen würde. »Steck sie in die Tasche!«, befahl sie. 502
Er tat wie ihn geheißen. Danach wusste er wieder nicht, wie es weitergehen sollte. Mit einem liebevollen Lächeln legte Lin Hang die Arme um seinen Hals und presste ihre Lippen auf den blutigen Striemen. »Ich liebe dich, Song Gang«, flüsterte sie zärtlich. »Ich liebe dich ... « Zitternd umarmte Song Gang das Mädchen, so bewegt, dass er zu weinen begann und schluchzte, bis ihm die Luft wegblieb. X Song Gang trennte sich von Glatzkopf-Li. Aus Angst vor einer Begegnung mit dem Bruder holte er seine Habseligkeiten während der Arbeitszeit aus der gemeinsamen Wohnung ab. In der bewussten alten Reisetasche verstaute er seine Kleidung, legte die Hälfte des von ihm verwalteten gemeinsamen Geldes sowie alle Münzen auf den Tisch und beschwerte die Scheine mit dem Schlüssel, den Glatzkopf-Li ihm seinerzeit hatte anfertigen lassen. Dann machte er die Tür hinter sich zu. Seither wohnte er im Wohnheim der Metallfabrik. Nachdem Song Gang und Lin Hang ihre Liebe mehr als einen Monat lang vor anderen verborgen gehalten hatten, beschlossen sie (besser gesagt: Lin Hang beschloss), sie publik zu machen, und zwar anlässlich eines Kinobesuchs (auch dies auf Vorschlag von ihr). So kam es, dass eines Abends die erstaunten Bürger unserer kleinen Stadt Liuzhen die beiden, angeregt plaudernd, Seite an Seite in das Filmtheater gehen sahen. Lin Hang, die die ganze Zeit Melonenkerne knackte, setzte sich auf den Platz neben Song Gang, als wäre das die natürlichste Sache der Welt, und fuhr fort, sich mit ihm zu unterhalten, ebenfalls mit der größten Selbstverständlich503
keit. Während sie niemanden um sich herum zu bemerken schien, nickte Song Gang, höflich und bescheiden, wie er war, allen Bekannten freundlich zu. Die männlichen Bewohner unserer kleinen Stadt Liuzhen, die sich an jenem Abend eigentlich ja nur einen Film ansehen wollten, waren unversehens dem Ansturm der verschiedensten Gefühle ausgesetzt, egal ob sie noch ledig oder schon verheiratet waren. Nachdem der Film begonnen hatte, schauten sie höchstens die Hälfte der Zeit auf die Leinwand, die übrige Zeit waren ihre neugierigen Blicke von allen Seiten her heimlich auf das junge Glück gerichtet. Niemand vermag zu sagen, wie viele von den liebeskranken Männern, die nach der Vorstellung aus dem Kino strömten, sich zu Hause schlaflos in ihren Betten wälzten, halb tot vor Neid auf den Glückspilz Song Gang. Von da an ließen sich Lin Hong und Song Gang öfter gemeinsam in der Öffentlichkeit sehen, Lin Hong stets mit einem Lächeln, das sie hübscher denn je erscheinen ließ, sodass die älteren Einwohner der Stadt mit Fingern auf sie zeigten und mutmaßten, dieses Mädchen, so süß, wie es sei, müsse gerade dem Honigtopf entsprungen sein. Von dem neben ihr hergehenden Song Gang, dem auch nach mehreren Monaten noch anzusehen war, dass er von seinem unverhofften Glück schlichtweg überwältigt war, sagten die Alten dagegen, er wirke irgendwie gar nicht wie ein Liebender - so ganz anders sei er als sein aufgeblasener Bruder, dieser Glatzkopf-Li, der immerhin wie ein Leibwächter ausgesehen hätte, während Song Gang bestenfalls an einen Lakaien ennnere. Immer noch trunken vor Glück, erstand Song Gang ein funkelnagelneues Fahrrad Marke »Ewig«, für das nahezu seine gesamten Ersparnisse draufgingen. Was daran so Besonderes 504
war? Nun, ein solches Fahrrad war zu jener Zeit ein knappes Gut, etwas so Wertvolles wie heute eine Mercedes- oder BMW-Limousine. Unserem Kreis wurden jedes Jahr nicht mehr als drei Stück zugeteilt, weshalb man an so ein kostbares Fahrrad damals kaum herankam, selbst wenn man über das nötige Kleingeld verfügte. Nun hatte Lin Hong jedoch einen Onkel, der als Direktor des örtlichen Metallwarengeschäfts darüber entschied, an wen die besagten drei Fahrräder der Marke »Ewig« verkauft wurden, eine einflussreiche Persönlichkeit, die von sehr vielen Leuten besonders zuvorkommend gegrüßt wurde. Diesem Onkel lag Lin Hong unablässig in den Ohren, er möge doch ihrem geliebten Song Gang eins von den kostbaren Rädern zuschanzen, damit er auf diese Weise alle anderen Einwohner unserer kleinen Stadt Liuzhen in den Schatten stellen könne. Auch ihre Eltern spannte sie ein: Der Vater musste seinen kleinen Bruder gehörig unter Druck setzen, und die Mutter war sogar nahe daran, ihrem Schwager wegen des Rades eine Szene zu machen. Am Ende blieb Lin Hongs Onkel nichts anderes übrig, als zähneknirschend das eigentlich dem Chef der Abteilung für Volksbewaffnung in der Kreisregierung zugedachte Fahrrad dem Liebsten seiner Nichte zu verkaufen. Von da an flitzte der stolze Song Gang auf seinem blitzenden Fahrrad Marke »Ewig« so pfeilschnell durch unsere kleine Stadt Liuzhen, dass die Leute wie geblendet waren und sich ihnen alles drehte. Er kam und ging wie ein Spuk und vergaß auch nicht, ausgiebig die Klingel zu betätigen, deren helles Gebimmel alle vor Neid erblassen ließ. Nach jeder Benutzung holte er Putzwolle unter dem Sattel hervor und säuberte das Fahrrad Marke »Ewig« sorgfältig, damit es 505
auch wirklich ewig seinen Glanz behielte. üb es stürmte oder regnete oder schneite - sein Rad war stets blitzblank, sauberer sogar als er selbst, denn er badete nur viermal im Monat, während sein »Ewig« jeden Tag poliert wurde. Lin Hong kam sich vor wie eine Prinzessin. Sie wusste, dass, wenn es morgens draußen glockenhell klingelte, ihr personengebundenes Fahrzeug - das blitzende Fahrrad Marke »Ewig« - vor der Haustür wartete. Dann ging sie lächelnd hinaus und setzte sich seitlich auf den Rücksitz. Unterwegs zur Wirkwarenfabrik genoss sie die neidischen Blicke der Passanten. Am Feierabend stand ihr stattlicher Song Gang mit seinem blank polierten »Ewig« wieder am Werktor bereit, sodass sie nur noch auf das Rad ihres Glücks zu steigen brauchte. Sobald sie saß und den breiten Rücken des Mannes, dem sie dieses Glück verdankte, vor sich hatte, ermahnte sie ihn: »Klingle! Schnell, klingle!« Wenn er dann gehorsam die Fahrradglocke betätigte und sie die anderen Arbeiterinnen hinter sich zurückfallen sah, genoss sie jedes Mal aufs Neue ihre Überlegenheit: Die Ärmsten mussten am Ende eines langen, beschwerlichen Arbeitstages zu Fuß nach Hause gehen, während sie mit ihrem personengebundenen Fahrzeug gebracht wurde. Sie sorgte dafür, dass Song Gangs Fahrradklingel überhaupt nicht zum Stillstand kam, denn sobald sie jemanden sah, den sie kannte und dem sie mit stolzem Lächeln zunickte, musste er die Klingel ausdauernd betätigen. Inzwischen fanden die älteren Bewohner unserer kleinen Stadt Liuzhen, dass Song Gang doch wie ein Liebender wirke. Auf seinem Fahrrad erinnere er an einen General hoch zu Ross, sein ständiges Klingeln an das Knallen der Peitsche. 506
In der Tat betätigte Song Gang, wenn er mit der schönen Lin Hong auf seinem blitzenden »Ewig« unterwegs war, die Fahrradklingel bei jedem, den er traf - nur nicht bei Glatzkopf-Li. Wenn dieser, arrogant wie eh und je, hocherhobenen Hauptes und mit geschwellter Brust, weder nach rechts noch nach links blickte und geradewegs auf ihn zukam, geriet Song Gang sofort in Verwirrung, so schuldig fühlte er sich. Er drehte dann jedes Mal schnell den Kopf zur Seite wie ein Kind, das Unfug angestellt hat, und radelte mit abgewandtem Gesicht an dem Bruder vorbei, als hätte er die Augen da, wo andere ihre Ohren haben. Ganz anders Lin Hong. Kaum hatte sie Glatzkopf-Li erblickt, drängte sie Song Gang sogleich zu klingeln, aber der brachte sein übliches fröhliches Gebimmel in diesem Fall nicht zustande; es hörte sich vielmehr geradezu mickrig an. Lin Hong, die wusste, wie ihm zumute war, umfasste dann mit ihren Händen seine Taille noch fester, schmiegte ihre Wange an seinen Rücken und schaute Glatzkopf-Li stolz und glücklich ins Gesicht. Wenn der sich bei solchen Gelegenheiten betont unbeteiligt gab, pflegte sie hell aufzulachen und ihn mit anspielungsreichen Äußerungen zusätzlich zu reizen: »Song Gang, guck mal den Hund da! Wie der seinen Schwanz einkneift! Zu wem mag der wohl gehören?« Glatzkopf-Li reagierte darauf mit gemurmelten Flüchen und Verwünschungen, die sogar länger dauerten als das ausgiebige Gebimmel von Song Gangs Fahrradklingel. Gleich darauf aber war da nur noch das Gefühl des Verlustes: Die Frau, die ihm gehörte, war mit dem eigenen Bruder durchgebrannt oder der eigene Bruder mit der Frau, die ihm gehörte -, und er selbst, er stand mit leeren Händen da, Scheiße auch! Ganz 507
umsonst hatte er mit seinem verdammten Bambuskorb Wasser geschöpft, am Ende war doch alles bloß verlorene Liebesmüh gewesen. Weder Frau noch Bruder hatte er jetzt! Alles war futsch, das verdammte Huhn entwischt und die Scheiß-Eier zerbrochen. Erst wenn die beiden auf ihrem »Ewig« längst vorbei waren, fand Glatzkopf-Li seine Selbstsicherheit wieder. Es ist noch nicht aller Tage Abend!, sprach er sich selber Mut zu. Wir werden ja sehen, welcher Hund am Ende seinen Schwanz einkneift ... Ich werde mir ein SuperMega-»Ewig« zulegen und die allerschönsten Weiber mit aufs Rad nehmen, reizend wie die vier berühmten Schönheiten aus alter Zeit, vorn eine Xishi, hinten eine Diaochan, auf dem Schoß eine Wang Zhaojun, und auf dem Rücken eine Yang Guifei! Mit denen fahre ich dann nach Herzenslust durch die Gegend, von der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder zurück in die Gegenwart - oder, wenn ich Bock habe, vielleicht auch in die Zukunft. Seitdem Lin Hong und Song Gang ihre Liebe publik gemacht und damit die Spannung aus der meistdiskutierten Romanze in unserer kleinen Stadt Liuzhen genommen hatten, ließen die unverheirateten jungen Männer einer nach dem anderen alle Hoffnungen fahren - ein Dominoeffekt und orientierten sich anderweitig. Infolgedessen gab es in unserer kleinen Stadt Liuzhen auf einmal zahlreiche neue junge Liebespaare, die wie Bambussprossen nach einem Frühlingsregen aus dem Boden schossen und das Straßenbild entschieden belebten, sodass den älteren Bewohnern unserer kleinen Stadt die Augen übergingen und sie, mit den Fingern
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zeigend, zueinander sagten: »Alle haben, scheint's, eine Frau gefunden ... Nur dieser Glatzkopf-Li noch nicht.« Im übrigen bekamen die Leute in Liuzhen Letzteren nur ziemlich selten zu Gesicht, und wenn doch, stellten sie fest, dass er abgemagert war und krank aussah. Nachdem er an jenem Abend Song Gangs Selbstmordversuch vereitelt hatte und dieser zur Tür hinausgestürzt war, hatte Glatzkopf-Li eine Stunde wie ein Wilder vor Wut getobt und anschließend acht Stunden lang wie eine Kreissäge geschnarcht. Am nächsten Morgen sah er mit einem Blick, dass das Bett des Bruders unberührt war. Als auch seine intensive Suche im Haus und davor nicht das kleinste Zeichen zutage förderte, dass Song Gang zwischenzeitlich nach Hause zurückgekehrt war, wunderte er sich zwar sehr, nahm aber an, dass der Bruder ihm ausweichen wolle - dass er die Nacht vor Lin Hongs Tür gewacht haben könnte, kam ihm nicht in den Sinn -, und er sagte sich, eine Weile könne er sich vielleicht vor der Konfrontation mit ihm drücken, aber nicht für immer. Am nächsten Tag kam Song Gang jedoch wieder nicht nach Hause. Glatzkopf-Li saß abends allein am Tisch und brütete Rache, doch keiner von den Plänen, die er schmiedete, schien ihm wirklich tauglich, sodass er sie alle wieder verwarf. Am Ende beschloss er, auf die Tränendrüsen zu drücken, Song Gang am Arm zu packen und ihn weinend und schluchzend an die gemeinsamen Kinderjahre zu erinnern, an all das Blut und all die Tränen, die damals geflossen waren, und wie sie als hilflose Waisen aufeinander angewiesen waren, weil sich sonst niemand um sie kümmerte. Danach würde Song Gang zwei509
fellos beschämt zu Boden blicken und ihm, wenn auch schweren Herzens, Lin Hong überlassen. Hochzufrieden mit sich selbst, war Glatzkopf-Li überzeugt, mit diesem Plan, einem wahren Wundermittel, unfehlbar sein Ziel zu erreichen. Er wartete bis spät nachts, doch von Song Gang gab es immer noch keine Spur. Als er vor Müdigkeit kaum noch aus den Augen sehen konnte und aus dem Gähnen überhaupt nicht mehr herauskam, ging er schimpfend und fluchend zu Bett, nicht ohne sich vorher noch einmal gründlich im Hause umgesehen zu haben. Irgendwann würde sogar sein cleverer Bruder nach Hause zurückkommen müssen (man weiß ja, »der entlaufene Mönch entkommt dem Kloster nicht!«), und dann würde er - Glatzkopf-Li - seinen schönen Plan doch noch verwirklichen! Als er jedoch tags darauf nach der Arbeit heimkam und das Geld und den Schlüssel auf dem Tisch erblickte, wusste er, jetzt war es ernst - der entlaufene Mönch hatte sich endgültig von seinem Kloster losgesagt! Wutschnaubend fegte er durch das Haus und stieß dabei sämtliche Verwünschungen aus, die unsere chinesische Sprache zu bieten hat, dazu noch ein, zwei japanische Flüche, die er aus Filmen über den Widerstandskrieg gegen die japanischen Aggressoren gelernt hatte. Gern hätte er auch ein paar amerikanische Schimpfwörter dazugegeben, doch sprach er ja leider kein Wort Englisch. Mit seiner Weisheit am Ende, verstummte er schließlich und sank wie benommen auf sein Bett. Ich habe Song Gang unterschätzt, dachte er. Der hat immerhin mal jenes zerfledderte Exemplar der »Kriegskunst des Sunzi« gelesen, wenn auch nur zur Hälfte, und kennt die sechsunddreißig - wie heißen die Dinger noch mal? ... ach ja, Strategeme. »Sein 510
Heil in der Flucht zu suchen ist mitunter das Beste«, das war ja auch eins davon; damit ist er mir jetzt zuvorgekommen, noch ehe ich auf die Tränendrüsen drücken konnte ... An diesem Abend konnte Glatzkopf-Li zum ersten Mal, seit er denken konnte, nicht einschlafen. Auch während des ganzen folgenden Monats bekam er nicht genug Schlaf. Sogar das Essen schmeckte ihm nicht mehr. Er magerte ab und redete weniger als früher. In der Öffentlichkeit allerdings ließ er sich nichts anmerken und trat arrogant auf wie eh und je. Mehrmals sah er von weitem Song Gang, der ihm aber stets auswich, und auch Lin Hong begegnete er einige Male, immer mit Song Gang zusammen, meist Hand in Hand, was ihm insgeheim sehr naheging. Seitdem der Bruder jedoch sein »Ewig« besaß und mit seiner schönen Freundin hinten auf dem blitzenden Rad stolz an ihm vorüberradelte, empfand Glatzkopf-Li nicht mehr Kummer, sondern nur noch Scham über seinen Gesichtsverlust. Die Leute in unserer kleinen Stadt Liuzhen hatten ein gutes Gedächtnis. Alle erinnerten sich an Glatzkopf-Lis Gelöbnis, jeden, der es wagte, sich als Lin Hongs Freund zu bezeichnen, so zu verprügeln, dass er sich nie wieder davon erholen würde. Und natürlich gab es unter ihnen ein paar fiese Kerle, die ihn scheinheilig fragten: »War nicht Lin Hong deine Freundin? Wie kommt es denn, dass sie plötzlich mit Song Gang zusammen ist?« Glatzkopf-Li pflegte dann ebenso hasserfüllt wie bedauernd zu antworten: »Jeden anderen hätte ich längst totgeschlagen und seinen Kopf zum allgemeinen Gespött hochgehalten! Aber Song Gang? Wir sind Brüder und können ohne einan-
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der nicht leben, also muss ich es schlucken und mich in mein Schicksal ergeben.« Der rote Striemen an Song Gangs Hals, den er von seinem Selbstmordversuch wegen Lin Hong hatte, war erst nach einem Monat verschwunden. Jedes Mal, wenn das Mädchen daran dachte, kamen ihr erneut die Tränen. Sie hatte ihren Eltern den Hergang in allen Einzelheiten geschildert und sich auch nicht enthalten können, denjenigen Arbeitskolleginnen, die ihr am nächsten standen, davon zu erzählen. Sowohl ihre Eltern als auch die Freundinnen hatten es ihrerseits anderen weitererzählt, sodass sich die Geschichte von Song Gangs Selbstmord mit Zellteilungsgeschwindigkeit in unserer kleinen Stadt Liuzhen herumsprach und innerhalb weniger Tage allgemeines Gesprächsthema war. Die weiblichen Einwohner unserer kleinen Stadt Liuzhen waren nicht nur neidisch auf Lin Hong, sondern stellten darüber hinaus ihre aktuellen beziehungsweise zukünftigen Gatten zur Rede: »Würdest du für mich auch Selbstmord begehen?« Selbstverständlich konnten die männlichen Einwohner unserer kleinen Stadt Liuzhen auf diese Frage nur mit »Natürlich!« antworten, obwohl dies genau das Gegenteil von dem war, was sie wirklich dachten. Die Frauen gaben sich jedoch mit solch dürren Bekundungen heldenhafter Todesbereitschaft nicht zufrieden und setzten ihren Männern immer wieder mit der immer gleichen Frage zu. Ein Mann musste sie über hundertmal beantworten - das war der Rekord -, aber fünf- oder sechsmal war das absolute Minimum. Einige Männer fühlten sich so in die Enge getrieben, dass sie sich einen Strick um den Hals legten oder das Gemüsemesser auf die Brust setzten und Stein und Bein schworen: »Ein Wort 512
von dir« (das war an die jeweilige Frau oder Freundin gerichtet), »und ich bringe mich um!« Dichter Zhao, zu jener Zeit frei und ungebunden - seine frühere Freundin hatte ihn schon fallen gelassen, die darauffolgende Freundin ihren derzeitigen Liebhaber aber noch nicht, sodass er sich gewissermaßen in einem amourösen Vakuum bewegte -, empfand nichts als Schadenfreude über die Not seiner dermaßen bedrängten Geschlechtsgenossen. Geschieht den Blödmännern ganz recht!, dachte er im Stillen. Er würde sich nie eine Freundin suchen, die Selbstmord von ihm verlange, verkündete er. Für ihn käme nur eine infrage, die bereit wäre, sich für ihn zu opfern. Ganz Fachmann, dozierte er: »Schaut euch Frauen wie Meng Jiangnü an. Die ging bekanntlich ins Wasser, als sie erfuhr, dass ihr Gatte beim Bau unserer Großen Mauer umgekommen war. Oder nehmt Zhu Yingtai, die sich auf dem Weg zur Hochzeit mit einem ungeliebten Mann in das sich plötzlich öffnende Grab ihres eigentlichen Geliebten gestürzt hat, weil sie ihm treu bleiben wollte. Das nenne ich wahre Liebe! Und immer waren es die Frauen, die wegen der Männer Selbstmord machten - nicht umgekehrt!« In Glatzkopf-Li sah Dichter Zhao einen Leidensgenossen, waren sie doch beide bei Lin Hong abgeblitzt. Seit Schriftsteller Liu verprügelt worden war, hatte der Dichter allerdings stets einen Bogen um Glatzkopf-Li gemacht; in letzter Zeit hatte der ihm aber bei zufälligen Begegnungen auf der Straße zugenickt, sodass er sich mittlerweile sicher fühlte und beschloss, sich wieder an ihn heranzumachen. Als er Glatzkopf- Li von weitem kommen sah, ging er deshalb
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freundlich grüßend auf ihn zu und rief: »Direktor Li, wie geht's denn so?« »Beschissen!«, knurrte Glatzkopf-Li. Grinsend klopfte ihm Dichter Zhao auf die Schulter und begann, vor den Augen und Ohren der Straßenpassanten auf ihn einzureden. Er hätte Song Gang niemals vom Strick schneiden sollen, sagte er, denn das habe nur dazu geführt, dass er ihm Lin Hong ausgespannt habe. Wenn Song Gang nicht überlebt hätte ... »Hätte das nicht in eurer Liebe das Pendeln der Waagschale zu deinen Gunsten verschoben?«, fragte er. Glatzkopf-Li ärgerte sich sehr über diese Sprüche, mit denen Dichter Zhao, dieser verdammte Bastard!, seinem Bruder einfach so den Tod an den Hals wünschte. Der Dichter jedoch, der gar nicht bemerkte, wie sich Glatzkopf-Lis Gesicht immer mehr verfinsterte, fuhr ahnungslos mit seinem neunmalklugen Geschwätz fort: »Ich muss dabei an die Geschichte vom Bauern und der Schlange denken, in der der Bauer eine steif gefrorene Viper auf der Straße liegen sieht, sie an seiner Brust wärmt und, als sie aufgetaut ist, prompt von ihr totgebissen wird ... « Von seinen eigenen Worten fortgetragen, zeigte Dichter Zhao auf Glatzkopf-Li: »Der Bauer, das bist du! Und Song Gang ist die Schlange.« Da explodierte Glatzkopf-Li, packte den Dichter und brüllte: »Du bist der verdammte Bauer! Und die ScheißSchlange, das bist du auch!« Dichter Zhao wurde vor Angst totenbleich, als er sah, wie Glatzkopf-Li seine stadtbekannte Faust ballte. Eilig umklammerte er besagte Faust mit seinen beiden Händen und 514
redete auf den Wütenden ein: »Beruhige dich doch, Direktor Li! Bitte beruhige dich, um alles in der Welt! Ich habe es doch nur gut gemeint. Habe versucht, mich in deine Lage zu versetzen.« Glatzkopf-Li zögerte: Der Kerl meinte es anscheinend wirklich gut... Er ließ die Faust sinken und lockerte den Griff, mit dem er Dichter Zhao gepackt hatte. »Hör mir gut zu, du Scheißer! Song Gang ist mein Bruder, und er bleibt mein Bruder, auch wenn Himmel und Erde einstürzen und eine ganz neue Welt entsteht«, warnte er ihn, ein Mao-Gedicht zitierend. »Wenn du noch ein einziges Mal etwas gegen ihn sagst, dann werde ich dich verdammten Mistkerl -« Glatzkopf-Li hielt inne, denn er schwankte zwischen »vertrimmen« und »totschlagen«, entschied sich dann aber für letzteres Wort: »Totschlagen werde ich dich dann!« Dichter Zhao nickte zum Zeichen, dass er verstanden habe, und machte, dass er fort kam. Nur schnell weg von diesem ungebildeten Grobian! Nach ein paar Metern im Laufschritt bemerkte er, dass er von den Straßenpassanten ausgelacht wurde. Sogleich verlangsamte er das Tempo und gab sich ruhig und gelassen. »Ach ja, man hat's nicht leicht, wenn man es gut meint mit den Leuten!«, sagte er seufzend zu den Gaffern. Glatzkopf-Li, der ihm hinterhergeschaut hatte, fiel plötzlich ein, was er seinerzeit versprochen hatte, als er Schriftsteller Liu verprügelt hatte. Er winkte dem Dichter und rief: »Komm her! Verdammt noch mal, komm her!« Dichter Zhao brach der Angstschweiß aus. Angesichts der vielen Zuschauer konnte er jedoch nicht gut davonlaufen, also blieb er stehen und drehte sich betont langsam um, damit 515
jeder sehen konnte, wie gelassen er war. Glatzkopf-Li, immer noch heftig winkend, blickte ihm jetzt regelrecht freundlich entgegen. »Komm her!«, wiederholte er. »Ich habe doch noch gar nicht den Werktätigen aus dir herausgeprügelt!« Dichter Zhao überlegte fieberhaft, wie er sich aus der Affäre ziehen könne, zumal angesichts der vielen Zuschauer, die nur darauf lauerten, dass es ihm an den Kragen ginge. Jetzt hatte er's! »Ein andermal!«, rief er und hob bedauernd die Hand. »Ich muss ganz schnell nach Hause, denn mir ist gerade ein Einfall gekommen« (hier deutete er auf seinen Kopf), »den muss ich schnell zu Papier bringen, sonst vergesse ich ihn.« Da ließ Glatzkopf-Li ihn tatsächlich laufen, sehr zur Enttäuschung der Zuschauer, die wissen wollten, warum er das tue. Voller Verständnis für den davoneilenden Dichter entgegnete er: »Dichter Zhao hat's eh schon schwer. Der kriegt doch leichter ein Kind als einen Einfall!« Sprach's, und stolzierte davon, die Großmut in Person. In dem Stoffladen, an dem er vorbeikam, hätte er eine glückstrahlende Lin Hong sehen können, die mit der Verkäuferin beriet, welches Tuch sie für die neue Kleidung für Song Gang und sich selbst kaufen sollte. Doch Glatzkopf-Li bemerkte sie nicht. Ebenso wenig ahnte er, dass die beiden ihre Hochzeit vorbereiteten. XI Für den Tag ihrer Hochzeit plante Lin Hong ein Festmahl im »Volksgasthof«, zu dem die Verwandten und Freunde von Braut und Bräutigam eingeladen werden sollten. Um die Zahl der benötigten Plätze zu ermitteln, machte sie eine Liste 516
mit den Namen der Gäste von ihrer Seite. Song Gang sollte seine Angehörigen und Freunde auf einem zweiten Blatt auflisten, doch er saß lange Zeit da, ohne einen einzigen Namen zu Papier zu bringen. Der Stift in seiner Hand wog so schwer, als hätte er eine Hantel zu stemmen. Schließlich gestand er, es gebe nur einen Menschen, der ihm nahestehe, und das sei Glatzkopf-Li. Damit war Lin Hong jedoch überhaupt nicht einverstanden. »Stehe ich dir vielleicht nicht nahe?«, neckte sie ihn. Song Gang nickte emphatisch und versicherte, so habe er das nicht gemeint. »Du stehst mir doch am nächsten von allen!«, fügte er zärtlich hinzu. Lin Hong lächelte glücklich. »Du mir aber auch«, sagte sie. Song Gangs Problem war jedoch damit nicht gelöst, das Blatt immer noch leer. Vorsichtig fragte er, ob er denn Glatzkopf-Li auch zum Hochzeitsbankett einladen solle. Er habe zwar nichts mehr mit ihm zu tun, aber er sei und bleibe schließlich sein Bruder. Zugleich beteuerte er mehrmals, wenn Lin Hong es nicht für richtig halte, würde er ihn keinesfalls einladen. Sie jedoch stimmte ohne Weiteres zu: »Lad ihn ein!«, sagte sie, und als er weiter zögerte, redete sie ihm lächelnd zu: »Na los, schreib ihn auf!« Nachdem Glatzkopf-Lis Name auf dem Papier stand, setzte Song Gang zügig die Namen aller Kollegen aus seiner Werkhalle und, nach einigem Zögern, ganz zum Schluss auch noch Schriftsteller Liu auf die Liste. Dann machte er sich daran, die roten Einladungskarten auszufüllen. Den Kopf an seine Schulter geschmiegt, sah Lin Hong ihm dabei zu und konnte
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gar nicht genug seine eleganten Schriftzeichen loben: »Wunderbar! Deine Schrift ist wirklich einmalig!« Am Nachmittag radelte Song Gang mit der Einladungskarte für seinen Bruder auf dem blitzenden »Ewig« zu der Straßenecke, an der Glatzkopf-Li auf dem Heimweg vorüberkommen musste. Während er wartete, blieb er auf dem Rad sitzen und stützte sich mit dem Fuß an einer Platane ab. Als er Glatzkopf-Li kommen sah, winkte er ihm schon von weitem zu, sehr zu dessen Überraschung, war Song Gang ihm doch sonst stets ausgewichen. Er drehte sich sogar um, ob da jemand anders hinter ihm wäre, dem der Bruder zuwinke. Aber er hörte ihn schon seinen Namen rufen und zeigte auf sich und fragte: »Meinst du mich?« Als Song Gang eifrig nickte, schaute Glatzkopf-Li zum Himmel auf und bemerkte trocken: »Aber die Sonne ist doch gar nicht im Westen aufgegangen!« Verlegen lächelnd ließ Song Gang Glatzkopf-Lis eingehende Musterung über sich ergehen. Der wurde richtig neidisch auf den Älteren, der so lässig auf seinem schicken Fahrrad am Baum lehnte. »Mensch, Song Gang, du siehst ja aus wie ein verdammter Unsterblicher, der frisch vom Himmel gefallen ist!«, sagte er. Song Gang sprang sofort herunter, hielt das Rad am Lenker fest und lud Glatzkopf-Li ein, auch einmal die Pose eines Unsterblichen ein-, zunehmen. Obwohl der noch nie auf einem Fahrrad gesessen hatte, nicht einmal auf dem Gepäckträger, schwang er sein Bein so schneidig über die Stange, als wäre er mit dem Rad groß geworden. Dass er ein blutiger Anfänger war, wurde jedoch offenkundig, als er saß. Die Hände um die Lenkstange als Rettungsanker gekrampft, drohte er mitsamt 518
dem Rad bald nach rechts, bald nach links umzukippen. Da klemmte Song Gang das Hinterrad zwischen die Beine, ermahnte Glatzkopf-Li, sich nicht zu verkrampfen und den Lenker gerade zu halten, und fing dann an, das Rad zu schieben. Anfangs schwankte Glatzkopf-Li noch bedenklich hin und her, sodass Song Gang ihn mit einer Hand stützen musste. Allmählich aber entwickelte er ein gewisses Gefühl für das Radfahren, saß allerdings die ganze Zeit stocksteif auf dem Rad und kam gar nicht auf den Gedanken, in die Pedale zu treten, weshalb sein Bruder nicht aufhören konnte zu schieben. Je schneller er lief, desto mehr genoss Glatzkopf-Li das berauschende Gefühl, die Straßen von Liuzhen entlangzusausen. »Dieser Wind!«, freute er sich. »Wie der Wind pfeift!« Der brausende Fahrtwind, das Flattern seiner Kleidung und der angenehm kühle Luftzug an seinem Kahlkopf erfüllten ihn mit solcher Begeisterung, dass er Song Gang, der vom schnellen Laufen und vom Schieben schon völlig verschwitzt und außer Atem war, zu immer größerer Eile antrieb: »Schneller! Schneller! Noch ein bisschen schneller!« Am Ende der Straße angekommen, konnte Song Gang nicht mehr. Er wurde langsamer, kam schließlich ganz zum Stehen und klemmte das Hinterrad wieder zwischen die Beine. Nachdem er Glatzkopf-Li heruntergeholfen hatte, hockte er sich zu Tode erschöpft hin und rang fast eine halbe Stunde lang nach Atem. Währenddessen streichelte sein unersättlicher Bruder verzückt das blitzende »Ewig« und erlebte die atemberaubende Rasanz seiner ersten Fahrt auf einem Rad im Geiste noch einmal. Als sein Blick schließlich auf den am Boden kauernden und keuchenden Song Gang fiel, wurde ihm erst 519
bewusst, dass der die ganze lange Straße rennend zurückgelegt hatte, und das mit ihm auf dem Rad! Er hockte sich neben ihn, als wolle er ihm beim Luftholen helfen, und klopfte ihm auf den Rücken. »Song Gang«, sagte er, »du bist wirklich spitze! So was von schnell - da braucht man gar keinen Motor!« Bedauernd fügte er hinzu: »Eigentlich schade, dass du kein richtiger Motor bist, sonst wäre ich geradewegs bis Schanghai gebraust.« Song Gang, immer noch schwer atmend, musste lachen. Er hielt sich den schmerzenden Leib, stand auf und sagte: »Du wirst irgendwann auch einmal ein Fahrrad haben, und dann radeln wir beide zusammen nach Schanghai!« Glatzkopf-Lis Augen blitzten wie das »Ewig« des Bruders. Er patschte sich mit der flachen Hand auf die Glatze und sagte: »Genau! Ich werde auch ein Rad haben, und wir fahren zusammen nach Schanghai!« Song Gangs Gesicht war wieder ernst geworden. Nach einem Moment des Zögerns sagte er befangen zu Glatzkopf-Li: »Lin Hang und ich werden heiraten.« Bei diesen Worten hielt er ihm die Einladung zur Hochzeitsfeier hin und bat ihn zu kommen, um mit dem »Freudenschnaps« auf das Wohl des Brautpaares anzustoßen. Glatzkopf-Li, dessen eben noch glückstrahlendes Gesicht sich schlagartig verfinstert hatte, nahm die Karte nicht entgegen, sondern drehte sich um und ging weg. Im Gehen sagte er traurig: »Der Reis ist doch eh gar gekocht. Wozu noch anstoßen, wenn ihr sowieso schon vollendete Tatsachen geschaffen habt?« Song Gang sah ihm zerknirscht hinterher; die gerade wiedergefundene Brüderlichkeit hatte sich verflüchtigt. Kum520
mervoll schob er sein »Ewig« die Straße entlang; er kam gar nicht auf den Gedanken aufzusteigen. Als er zu Hause die Einladungskarte für Glatzkopf-Li wieder auf den Tisch legte, fragte Lin Hong: »Glatzkopf-Li kommt also nicht?« Song Gang nickte. »Er hat sich anscheinend immer noch nicht abgefunden«, sagte er unglücklich. »Der Reis ist doch gar gekocht, was gibt's denn da noch, mit dem er sich nicht abfinden kann?«, schnaufte Lin Hong. Song Gang erschrak. Seltsam! Sie hatte dieselbe Redensart verwendet wie Glatzkopf-Li ... Lin Hong und Song Gang bestellten im »Volksgasthof« sieben Tische zu je acht Personen, sechs für die Verwandten und Freunde der Braut und einen für die von Song Gang. Außer Glatzkopf-Li hatte auch Schriftsteller Liu die Einladung nicht angenommen. Letzterer hielt es für unter seiner Würde, an Song Gangs Hochzeitsbankett teilzunehmen. Er reckte den kleinen Finger hoch und erklärte, Song Gang sei ein armer Schlucker, und von Habenichtsen habe er sich noch nie bewirten lassen. (In Wahrheit wollte er einfach sparen: Von den Gästen bei einem Hochzeitsmahl wird ja traditionell ein in rotes Papier verpacktes Geldgeschenk erwartet.) Er werde jedoch, fügte er als Trostpflaster hinzu, in der Brautkammer vorbeischauen, wenn dort der übliche Schabernack getrieben werde, und einen selbstverfassten Glückwunsch überreichen. Song Gangs Arbeitskollegen immerhin waren vollzählig erschienen, sodass wenigstens ein Tisch mit Gästen von seiner Seite voll wurde. Das fröhliche Hochzeitsmahl begann um achtzehn Uhr. Es gab zehn Gänge - Geflügel, Fisch, Schweinefleisch, wie es 521
sich gehört - plus eine abschließende Suppe, dazu wurden vierzehn Flaschen Schnaps sowie achtundzwanzig Flaschen Reiswein geleert. Zum Schluss waren elf von den Teilnehmern des Banketts beschwipst, sieben angetrunken und drei sturzbesoffen. Letztere lagen unter ihrem jeweiligen Tisch und übergaben sich derart geräuschvoll und ausgiebig, dass sich auch die sieben Angetrunkenen erbrechen mussten, während die elf lediglich Beschwipsten sich zwar auch anstecken ließen und schon die Münder aufgerissen hatten, es dann aber doch bei heftigem Rülpsen beließen. Der »Volksgasthof«, erstes Haus am Platze in unserer kleinen Stadt Liuzhen, sah jedenfalls am Ende ziemlich mitgenommen aus und erinnerte eher an eine Werkhalle in einer Kunstdüngerfabrik - nicht wegen des Durcheinanders von Geschirr und Speiseresten auf den Tischen, sondern wegen des Gestanks, der einen weniger an Essen als an übel riechende Chemikalien denken ließ. Auch Glatzkopf-Li betrank sich an diesem Abend allein in seiner Wohnung; es war das erste Mal, dass er sich einen Rausch antrank. Nachdem er sukzessive einen halben Liter Klaren in sich hineingekippt hatte, wurde er von Weinkrämpfen geschüttelt, ehe er sich endlich in den Schlaf schluchzte. Als er morgens aufwachte, schluchzte er weiter. Die Nachbarn, denen das Geheul des liebeskranken Glatzkopf-Li natürlich nicht verborgen blieb, befanden, alle menschlichen Triebe und Begierden seien darin enthalten; angehört habe es sich manchmal wie das Maunzen einer rolligen Katze, manchmal eher wie das Gequieke eines Schweins, das abgestochen wird, und manchmal auch wie das Krähen des Hahns, der den Tagesanbruch verkündet. Auf jeden Fall, dar522
in waren sich die erbosten Nachbarn einig, habe ihnen dieser Glatzkopf-Li den Nachtschlaf geraubt beziehungsweise, als sie am Ende doch noch eingenickt seien, schlimme Albträume verursacht. Am Tag nach dieser schlechten Nacht ging Glatzkopf-Li ins Krankenhaus, um eine Samenleiter-Ligatur vornehmen zu lassen. Vorher hatte er sich in der Geschützten Werkstatt die dafür notwendige Bescheinigung der Arbeitsstelle ausgefertigt und vorschriftsmäßig mit dem Dienstsiegel gestempelt. Diese Bescheinigung - Antragsteller: Glatzkopf-Li, Vorgesetzter, der mit seiner Unterschrift den Antrag befürwortet: ebenfalls Glatzkopf-Li - schmetterte er dem verdutzten Chirurgen mit den markigen Worten »Ich möchte dem staatlichen Aufruf zur Geburtenregelung Folge leisten!« auf den Tisch. Dem Arzt war der berühmt-berüchtigte Glatzkopf-Li natürlich ein Begriff, dennoch verschlug es ihm zunächst die Sprache, als da jemand zur Tür hereinkam und, mit der flachen Hand auf seinem Bauch herumsägend wie mit einem Messer, ohne Umschweife eine Ligatur von ihm verlangte. Erstaunlich, dachte er, was es heutzutage für Menschen gibt! Dann schaute er sich die Bescheinigung näher an, stellte fest, dass Antragsteller und Bewilliger des Antrags ein und dieselbe Person waren, und dachte abermals, es sei schon erstaunlich, was für Bescheinigungen einem heutzutage vorgelegt würden. Er konnte seine Heiterkeit nicht verbergen, als er Glatzkopf-Li fragte: »Warum wollen Sie denn diesen Eingriff machen lassen? Sie sind nicht verheiratet, haben noch keine Kinder ... «
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»Wenn ein Unverheirateter sich die Samenleiter unterbinden lässt, ist doch die Familienplanung noch effektiver, oder?«, antwortete Glatzkopf-Li, nicht ohne ein gewisses Pathos. Und wieder wunderte sich der Arzt: Erstaunlich, was für Argumente heute so vorgebracht werden! Als er den Kopf senkte, um seiner Heiterkeit Herr zu werden, riss ihn der ungeduldige Glatzkopf-Li kurzerhand von seinem Stuhl hoch, als wäre er es, der an dem Arzt die Ligatur vornehmen wolle, und manövrierte ihn, halb schiebend, halb ziehend, in den Operationsraum. Dort schnallte er den Gürtel ab, ließ die Hose herunter, zog das Hemd hoch und legte sich auf den Operationstisch. Dann befahl er: »Es kann losgehen!« Eine knappe Stunde später war alles vorbei. Sichtlich zufrieden mit der soeben vollbrachten Heldentat verließ Glatzkopf-Li das Krankenhaus; allerdings musste er alle paar Schritte eine Verschnaufpause einlegen. Die rechte Hand auf die gerade vernähte Wunde an seinem Unterleib gepresst, die Krankenakte mit dem Protokoll der SamenleiterLigatur in der Linken, tauchte er schließlich in der Hochzeitskammer von Lin Hong und Song Gang auf. Dort waren etwa zwei Dutzend Arbeiterinnen aus Lin Hongs Wirkwarenfabrik zugange, außerdem Schriftsteller Liu, der sich wie in einen schönen Traum versetzt fühlte und das lustige Treiben all der fröhlich juchzenden Mädchen um sich herum mit seligem Lächeln verfolgte. Das Brautpaar war gerade dabei, mit vereinten Kräften einen von den Mädchen mitgebrachten Apfel zu verspeisen, der an einem Faden von der Zimmerdecke herunterbaumelte, als Glatzkopf-Li hereinkam. Lin Hongs Kolleginnen schrien erschrocken auf, 524
denn sie schlossen aus seiner finsteren Miene, dass er gewiss einen Streit vom Zaune brechen wolle. Alle wussten ja Bescheid über die Beziehung zwischen Glatzkopf-Li, Song Gang und Lin Hong, wenngleich sie nicht hätten sagen können, ob es sich tatsächlich um ein Dreiecksverhältnis handelte (wie es manchmal den Anschein hatte) oder doch eher nicht. Auch die Braut selbst war nervös geworden, weil sie ahnte, dass Glatzkopf-Li sich mit den Dingen keineswegs abgefunden hatte. Einzig Song Gang sah nichts Bedrohliches in dem überraschenden Auftauchen des Bruders; ihn erfüllte nichts als Freude darüber, dass er doch noch gekommen war. Glückstrahlend ging er mit einer Zigarette in der Hand auf ihn zu und sagte: »Schön, dass du endlich da bist!« Mit den barschen Worten »Ich rauche nicht!«, schob der frisch operierte Glatzkopf-Li seinen frischverheirateten Bruder brüsk aus dem Weg, woraufhin die Mädchen im Zimmer vor Schreck verstummten. Das Erwartete geschah jedoch nicht. Vielmehr hielt er in aller Seelenruhe der Braut seine Krankenakte hin. Lin Hong wusste nicht, was das war, und schaute Hilfe suchend zu ihrem frischgebackenen Ehemann. Als Song Gang seine Hand nach dem Papier ausstreckte, zog Glatzkopf-Li es schnell weg und reichte es einem von den Mädchen neben ihm; die sollte es an Lin Hong weitergeben. Lin Hong nahm es jetzt zögernd entgegen, hatte aber immer noch keine Ahnung, worauf Glatzkopf-Li hinauswollte und was sie mit dieser Krankenakte anfangen sollte. »Mach sie auf und lies! Was steht da drin?«, ermunterte Glatzkopf-Li sie. Lin Hong begann zu lesen und stutzte sogleich bei dem Wort »Ligatur«. Leise fragte sie ihre Freundinnen, was es 525
bedeute. Während die Mädchen noch tuschelnd die Köpfe zusammensteckten, gab Glatzkopf-Li selbst die Antwort auf Lin Hongs Frage: »Was >Ligatur< bedeutet? Kastration bedeutet das! Ich habe mich gerade kastrieren lassen.« Die Mädchen schrien entsetzt auf, und die junge Braut erbleichte. Einem der Mädchen entschlüpfte der Ausruf: »Dann bist du also jetzt ein >Delikatess-Mann« Dazu muss man wissen, dass man in jener Zeit in unserer kleinen Stadt Liuzhen die Hähnchen zu verschneiden pflegte und sie dann erst mästete, damit ihr Fleisch schön zart wurde und besser schmeckte. Die solchermaßen behandelten Tiere wurden als »Delikatess-Hähnchen« bezeichnet. Die Analogie lag folglich nahe. Jetzt war Schriftsteller Lius große Stunde gekommen. Ohne Hast erhob er sich, nahm Lin Hong das Krankenblatt aus der Hand und belehrte, nachdem er es überflogen hatte, das Mädchen: »Aber nein! >Kastration< und >Ligatur< sind zwei ganz verschiedene Dinge. Wenn jemand kastriert wird, ist er ein Eunuch. Nach einer Ligatur aber kann er noch ... « Schriftsteller Liu ließ den Blick über die vielen reizenden Mädchen im Zimmer schweifen und entschied sich, den Satz nicht zu vollenden. Doch jenes vorlaute Mädchen ließ nicht locker: »Was kann er dann noch?« »Schlafen kann er noch mit dir!«, schaltete Glatzkopf-Li sich ungeduldigein. Puterrot vor Zorn fauchte das Mädchen ihn an: »Niemand würde mit dir schlafen!« Schriftsteller Liu hatte bei Glatzkopf-Lis Worten genickt. »Nur Kinder zeugen kann er nicht mehr«, präzisierte er 526
jetzt, was wiederum von Glatzkopf-Li beifällig nickend bestätigt wurde. Er griff nach seiner Krankenakte und sagte, an Lin Hong gewandt: »Da ich mit dir keine Kinder haben kann, will ich auch mit keiner anderen Frau welche haben.« Mit diesem markigen Spruch verließ der getreue GlatzkopfLi Lin Hongs Brautkammer. Schon vor der Tür stehend, rief er ihr noch zu: »Merk dir: Wo immer ich hinfalle, da werde ich auch stets wieder aufstehen!« Dann drehte er sich gravitätisch wie ein spanischer Torero um und ging. Noch als er schon einen, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Schritte entfernt war, blieb es hinter ihm mucksmäuschenstill, beim achten Schritt jedoch brach ein Sturm der Heiterkeit in der Brautkammer los, woraufhin er enttäuscht den Kopf schüttelte. Inzwischen hatte Song Gang, der ihm hinterhergelaufen war, den inzwischen wieder stark hinkenden Bruder eingeholt. Er zog ihn am Arm, rief seinen Namen und wollte weitersprechen, aber Glatzkopf-Li beachtete ihn gar nicht, sondern humpelte weiter, ein tragischer Held, die linke Hand auf den Bauch gepresst, Song Gang im Schlepptau. Nachdem die beiden schon eine ganze Weile die Hauptstraße entlanggegangen waren, drehte er sich plötzlich um und sagte leise: »Kehr um!« Song Gang schüttelte den Kopf und wollte wieder etwas sagen, brachte jedoch abermals nur den Namen des Bruders heraus. Als Glatzkopf-Li merkte, dass der Bruder sich nicht abschütteln ließ, rief er mit leiser Stimme: »Verdammte Scheiße! Du heiratest heute! Kehr um!«
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Da endlich fand Song Gang die Sprache wieder: »Warum willst du keine Nachkommen?«, stieß er heraus. »Warum?, fragst du«, entgegnete Glatzkopf-Li mit unglücklicher Miene. »Weil ich vom Leben enttäuscht bin.« Song Gang schüttelte den Kopf und blickte dem sich langsam entfernenden Bruder traurig hinterher. Nach ein paar Schritten drehte der sich noch einmal zu ihm um und rief voller Herzlichkeit: »Song Gang, pass gut auf dich auf!« Das versetzte Song Gang einen Stich ins Herz; er wusste, von nun an würden sich ihre Wege endgültig trennen. Der Anblick des davonhumpelnden Bruders rief in ihm die Erinnerung an ihre erste Trennung wach, damals, als er mit dem Großvater am Dorfeingang zurückgeblieben war, während Li Lan mit Glatzkopf-Li an der Hand allmählich in der Ferne verschwand. Unterdessen hinkte der Torero unserer kleinen Stadt Liuzhen unbeirrt weiter. Unterwegs begegnete er Scherenschleifer Guan dem Jüngeren, der ihn neugierig fragte, ob er Bauchschmerzen habe, als Glatzkopf-Li mit der linken Hand den Bauch pressend an ihm vorbeihumpelte. Ohne dessen Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Oh, ich weiß schon Spulwürmer! Du hast bestimmt Spulwürmer, die in deinen Därmen rumoren.« Glatzkopf-Lis Blick verfinsterte sich. Diese profane Unterstellung missfiel ihm sehr. Immerhin hatte er soeben eine Heldentat vollbracht, in deren Glanz er sich denn doch ein wenig zu sonnen gedachte. Er hielt Scherenschleifer Guan dem Jüngeren seine Krankenakte hin und entgegnete: »Von wegen Spulwürmer!« Dabei tippte er mit dem Finger auf das Wort »Ligatur«. 528
Scherenschleifer Guan der Jüngere studierte das Krankenblatt eingehend, nicht ohne zu maulen, dass der Arzt eine fürchterliche Klaue habe, wusste aber am Ende immer noch nicht, was das seltsame Wort bedeutete, und bat GlatzkopfLi um Aufklärung. »Du weißt nicht, was >Ligatur< ist?«, fragte der, ziemlich von oben herab. »Es bedeutet dasselbe wie Kastration.« Der andere erschrak. »Du hast dir den Schwanz abschneiden lassen?«, rief er entgeistert. »Wer sagt denn so was?«, wies Glatzkopf-Li den Ignoranten aufgebracht zurecht. »Die haben mir nichts abgeschnitten, sondern nur was unterbunden!« »Mit anderen Worten: Du hast deinen Schwanz noch?« »Natürlich!«, sagte Glatzkopf-Li und strich mit der rechten Hand über seinen Hosenschlitz. »Alles noch da. Und völlig intakt.« Nicht ohne Stolz fügte er hinzu: »Eigentlich wollte ich ihn abschneiden lassen, aber dann hab ich mir gedacht, wie sieht denn das aus, wenn ich mich zum Pinkeln hinhocken muss wie ein Weib! Und da hab ich mich für die Ligatur entschieden.« Er klopfte Scherenschleifer Guan den Jüngeren gönnerhaft auf die Schulter, dann presste er die Hand wieder auf die Operationsnarbe und hinkte, seine Ligatur-Bescheinigung schwenkend, weiter. Scherenschleifer Guan der Jüngere konnte sich überhaupt nicht mehr einkriegen vor Lachen. Auf den sich entfernenden Glatzkopf-Li zeigend informierte er jeden, der es hören wollte, dass der eine »Ligatur« habe machen lassen, mit anderen Worten: Er habe sich kastrieren lassen, aber - ergänzte er, gewissenhaft, wie er war - seinen Schwanz habe er noch. 529
Der Kreis der Zuhörer wurde umso größer und die Diskussion über das Gehörte umso angeregter, je weiter sich der Gegenstand ihres Interesses entfernte. Am Ende stimmten alle darin überein, sie hätten einen erfreulich kurzweiligen Tag verbracht. Keiner von ihnen hätte sich träumen lassen, dass ebendieser Glatzkopf-Li, über den sie sich gerade amüsierten, über zehn Jahre später für das BIP, das Bruttoinlandsprodukt, aller Einwohner unseres gesamten Kreises stehen würde.
XII Glatzkopf-Lis Weg zum Protagonisten des BIP nahm seinen Ausgang von der Geschützten Werkstatt. Wir kennen die Sage vom alten Mann an der Grenze, dem sein bestes Pferd davonlief, was sich jedoch schon sehr bald als Glück im Unglück erwies - zu Recht heißt es >Kein Unglück so groß, es hat sein Glück im Schoß<. Auch im Falle von Glatzkopf-Li bewahrheitete sich diese alte Volksweisheit. Lin Hong hatte ihn abblitzen lassen, aber dafür war er in seinem Betrieb um so erfolgreicher und erwirtschaftete einen Rekordgewinn nach dem anderen. Die Politik der Reformen und der Öffnung Chinas nach außen war zu jener Zeit in eine Phase eingetreten, da plötzlich jedermann glaubte, sich kaufmännisch betätigen zu müssen, so auch Glatzkopf-Li. Nach reiflicher Überlegung war er mehr denn je überzeugt, der geborene Unternehmer zu sein. Wenn er schon als Chef von zwei Hinkebeinen, drei Debilen, vier Blinden und fünf Gehörlosen das große Geld machte, wie viel mehr würde er scheffeln, wenn er Boss von fünfzig Bachelors, vierzig Magistern, drei530
ßig Doktoren und zwanzig Postdoktoranden wäre! Superreich würde er dann sein! In seinem Überschwang verlor er keine Zeit. Nachdem er gerade noch telefonisch einen neuen Auftrag unter Dach und Fach gebracht hatte, beschloss er Knall auf Fall, seinen Posten niederzulegen. Also befahl er seinen vierzehn Paladinen, alles stehen und liegen zu lassen und sich zur dringlichsten aller Dringlichkeitssitzungen in der Geschichte der Geschützten Werkstatt einzufinden. Man hätte meinen können, es hätte ein Erdbeben gegeben oder ein Brand wäre ausgebrochen. Auf der Versammlung hielt Glatzkopf-Li eine leidenschaftliche Rede, die sechzig Minuten dauerte. Neunundfünfzig davon waren der Selbstbeweihräucherung gewidmet; in der verbleibenden Minute ernannte er die beiden Hinkenden zum Leiter beziehungsweise Stellvertretenden Leiter der Werkstatt und verkündete anschließend mit Grabesstimme, die Belegschaft der Geschützten Werkstatt habe den Antrag von Direktor Glatzkopf-Li, von seiner Funktion entbunden zu werden, mit Bedauern zur Kenntnis genommen, ihn aber einstimmig gebilligt. Abschließend sagte er mit umflortem Blick: »Ich danke euch!« Sprach's und verließ im Laufschritt den Ort des Geschehens, während seine vierzehn getreuen Paladine sitzen blieben, ohne sich von der Stelle zu rühren. Die drei Debilen, immer vergnügt und heiter, hatten überhaupt nicht verstanden, was Glatzkopf-Li gesagt hatte, sodass auch sein Abgang ihnen die gute Laune nicht verderben konnte. Die fünf Gehörlosen wiederum hatten nur gesehen, dass sich GlatzkopfLis dicke Lippen erst bewegt hatten und dann plötzlich nicht 531
mehr; dass er so überstürzt hinausgegangen war, führten sie auf starken Harndrang zurück, weswegen sie geduldig darauf warteten, dass er von der Toilette zurückkehren und dann seine dicken Lippen erneut bewegen würde. Die beiden Hinkebeine, die nicht wussten, wie ihnen geschah, sahen einander ratlos an. Vor über fünf Jahren hatte Glatzkopf-Li schon einmal eine Belegschaftsvollversammlung einberufen, auf der er sie im Handstreich ihrer Ämter als Leiter und Stellvertretender Leiter der Geschützten Werkstatt enthoben und sich kurzerhand selbst zum Direktor ernannt hatte, und jetzt - jetzt hatte er sich, wieder im Handstreich, selbst ab- und sie wieder in ihre alten Funktionen eingesetzt ... Die vier Blinden hatten ihre Lider, hinter denen ewiges Dunkel herrschte, weit aufgeschlagen; da sie jedoch im Kopf heller waren als die zehn anderen Behinderten, begriffen sie als Erste, was geschehen war und dass Glatzkopf-Li nicht zurückkommen würde. Als einer von ihnen zu lachen begann, stimmten die anderen sogleich ein, woraufhin die drei ohnehin schon kichernden Debilen nicht zurückstehen wollten und nunmehr vor Lachen geradezu wieherten. Die fünf Gehörlosen konnten das Gelächter zwar nicht hören, wohl aber sehen. In der Annahme, Glatzkopf-Li habe vielleicht seinen überstürzten Klogang mit einem Witz bemäntelt, stimmten auch sie in die allgemeine Heiterkeit ein, zwei von ihnen geräuschvoll, drei nur mit den entsprechenden Mundbewegungen. Die beiden soeben wieder in ihre früheren Positionen eingesetzten Hinkebeine, die nur wussten, dass Glatzkopf-Li abgedankt hatte, nicht aber, warum alle das so lustig fanden, fühlten sich jetzt bemüßigt zu reagieren. Direktor Li habe doch stets alle gut behandelt, tadelte sein hinkender Amts532
nachfolger seine lachenden Arbeitskollegen, daher sei diese Heiterkeit in der Stunde des Abschieds höchst unpassend. Sein Stellvertreter, der andere Hinkende, nickte dazu emphatisch mit dem Kopf und ergänzte, der Werkleiter habe völlig recht und ihm aus dem Herzen gesprochen. Das ließen die vier aufgekratzten Blinden nicht auf sich sitzen: Warum wohl habe Direktor Li seinen Posten niedergelegt, wenn alles doch so gut lief? Zweifellos, weil er befördert und ins Amt für Zivilverwaltung versetzt worden sei. »Direktor Li ist jetzt Amtsleiter!«, erklärten sie. »Das könnte überhaupt stimmen!«, fanden jetzt auch die beiden Hinkebeine, denen es wie Schuppen von den Augen fiel. Amtsleiter Tao vom Amt für Zivilverwaltung erfuhr erst einen Monat später von Glatzkopf-Lis Demission. Die vierzehn Behinderten hatten den von Glatzkopf-Li als letzte Amtshandlung an Land gezogenen Auftrag inzwischen abgearbeitet, ein neuer aber war nicht in Sicht. Daraufhin waren die bei den Hinkebeine wieder ins Büro des Werkleiters umgezogen, hatten ihr Go-Brett ausgegraben und saßen wie einst einander gegenüber, zogen ihre Spielsteine und beschimpften sich dabei gegenseitig wüst. Auch die elf anderen Invaliden, die müßig in der Werkhalle herumhingen, vertrieben sich die Zeit, so gut es ging, die drei Debilen mit Kichern und Lachen, die vier Blinden und die fünf Gehörlosen, indem sie um die Wette gähnten. In allen vierzehn zum Müßiggang verurteilten Paladinen Glatzkopf-Lis erwachte die Sehnsucht nach ihrem ehemaligen Direktor. Auf Initiative der vier Blinden und mit Billigung der bei den Hinkenden zogen sie in ausgesprochen 533
chaotischer Marschordnung in den Hof des Amtes für Zivilverwaltung, wo sie - ebenfalls höchst anarchisch im Sprechchor riefen: »Amtsleiter Li! Amtsleiter Li, wir wollen Sie besuchen!« Tao Qing, der gerade eine Sitzung leitete und eben angefangen hatte, eine wichtige Verlautbarung aus der Zentrale vorzulesen, trat ans Fenster und geriet sogleich in Wut, als er sah, dass die vierzehn Invaliden aus der Geschützten Werkstatt seinen Hofbesetzt hatten und dort herumschrien. Er schmetterte das Schriftstück auf den Tisch und rief wutentbrannt: »Dieser Glatzkopf-Li ist wirklich unmöglich! Wie kann der mit seiner ganzen Belegschaft hier anrücken!« Dann schickte er einen Abteilungsleiter, der neben ihm saß, in den Hof, um die ungebetenen Gäste zu vertreiben. Der Abteilungsleiter, noch mehr in Rage als sein Chef, schnauzte die vierzehn an: »Was soll das? Was habt ihr hier verloren? Wir sind gerade beim Studium wichtiger Dokumente aus der Zentrale, und da schreit ihr hier herum!« Den beiden Hinkebeinen, die aus ihrer Leitungspraxis die Wichtigkeit zentraler Dokumente nur zu gut kannten, verschlug es vor Schreck die Sprache. Anders die vier Blinden. Da sie nichts sehen konnten, fehlte ihnen natürlich auch der Respekt vor solch wichtigen Papieren. Sie schalteten sich jetzt ein: »Wer sind Sie eigentlich? Nicht einmal Direktor Li würde so grob mit uns umspringen.« Der Abteilungsleiter war fuchsteufelswild über die aufmüpfigen Blinden, die da, auf ihre Bambusstöcke gestützt, vor ihm standen und ihm Widerworte gaben. »Hinaus!«, schrie er. »Alle raus hier!« »Hinein!«, schrien die Blinden zurück. »Gehen Sie rein! Richten Sie Amtsleiter Li aus, die Beleg534
schaft der Geschützten Werkstatt ist vollzählig zu Besuch gekommen, weil sie Sehnsucht nach ihm hat.« »Amtsleiter Li?«, entgegnete der Abteilungsleiter entgeistert. »Hier gibt es keinen Amtsleiter Li. Nur Amtsleiter Tao.« »Unsinn!«, riefen die Blinden. Der Abteilungsleiter wusste nicht, ob er weinen oder lachen sollte. Typisch!, dachte er. Diese Blinden sehen nichts und quatschen trotzdem dumm rum! In diesem Moment kam Tao Qing, sichtlich erzürnt, dazu und rief schon von weitem: »Glatzkopf-Li, komm mal her!« Die vier Blinden, die nicht wussten, wer er war, nahmen sich jetzt den Neuankömmling vor: »Und wer sind Sie?«, fragten sie aufgebracht. »Wie können Sie es wagen, von Amtsleiter Li in diesem Ton zu sprechen?« »Amtsleiter Li? «, fragte Tao Qing, ebenso entgeistert wie gerade sein Abteilungsleiter. »Ha! Sie wissen nicht einmal, wer Amtsleiter Li ist!«, schnaubten die Blinden. »Direktor Li aus unserer Geschützten Werkstatt, der ist jetzt Leiter des Amts für Zivilverwaltung!« Tao sah den Abteilungsleiter an: Was meinten die vier denn bloß? Der Abteilungsleiter wies sie sogleich zurecht: »Unsinn! Was wäre denn aus Amtsleiter Tao geworden, wenn Glatzkopf-Li jetzt Amtsleiter wäre?« Nun waren die vier Blinden um eine Antwort verlegen; erst jetzt schien ihnen aufzugehen, dass es im Amt für Zivilverwaltung ja schon einen Leiter gab, nämlich Tao Qing. Endlich fand einer die Sprache wieder und mutmaßte: »Amtsleiter Tao ist jetzt vielleicht Kreisvorsteher ... « 535
»Genau!«, stimmten die drei anderen erleichtert zu. Als Tao Qing hörte, wie die Blinden ihn mir nichts, dir nichts zum Kreisvorsteher beförderten, verflog sein Zorn. Er konnte sich das Lachen kaum verbeißen und grinste in diesem Moment ebenso dumm wie die drei Debilen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Glatzkopf-Li nicht da war. Als er die bei den Hinkenden, die sich hinter den fünf Gehörlosen versteckt hatten, entdeckte, rief er: »Ihr beiden da hinten, kommt mal her!« Die Hinkebeine hatten inzwischen gemerkt, dass die Sache brenzlig wurde und die Blinden sich offensichtlich geirrt hatten mit ihrer Annahme, Direktor Li sei zum Amtsleiter befördert worden. Verunsichert, wie sie waren, kamen sie gehorsam hinter den fünf Gehörlosen hervor und hinkten los, jeder in eine andere Richtung. Als sie ihren Irrtum bemerkten, machten sie kehrt und stellten sich schließlich, ziemlich bedripst, nebeneinander vor Tao Qing auf. Dieser erfuhr nun endlich, dass Glatzkopf-Li seinen Posten niedergelegt habe. Schon vor einem Monat! Und ohne ihm auch nur ein Wort zu sagen!! Verkündet, dass die Belegschaft seinen Rücktrittsantrag einstimmig angenommen hat, ohne vorher mit den Arbeitern darüber beraten zu haben!!! Vor Wut war Tao Qings Gesicht erbleicht. Mit zitternden Lippen sagte er: »Dieser Glatzkopf-Li! Keine Ordnung, keine Disziplin! Missachtet die Leitung, missachtet die Massen! ... « Und dann hatte der Amtsleiter, über dessen Lippen seit vielen Jahren kein Fluch gekommen war, seine Zunge plötzlich nicht mehr in der Gewalt: »Dieser Hundesohn! Dieser verdammte Bastard!«, brach es aus ihm hervor.
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Nachdem er die beiden Hinkenden angewiesen hatte, mit ihren Leuten wieder abzuziehen, kehrte er in den Sitzungssaal zurück. Statt das wichtige Dokument aus der Zentrale weiter zu studieren, wurde nun jedoch über Glatzkopf-Lis ernste Verfehlung diskutiert. Tao Qing brachte den Vorschlag ein, ihn für alle Zeiten aus dem Apparat der Zivilverwaltung auszustoßen, ein Vorschlag, den die Arbeitsberatung des Amtes einstimmig annahm. Anschließend wurde ein Bericht mit höchster Prioritätsstufe an die Kreisregierung als vorgesetzte Behörde erstellt. Während Amtsleiter Tao das fertige Dokument noch ein letztes Mal durchsah, sagte er: »Bei einem Menschen wie Glatzkopf-Li, der allen menschlichen und göttlichen Gesetzen trotzt, kann von >Rücktritt< nicht die Rede sein, da kann es nur um >Ausstoßung< gehen.« XIII Zur gleichen Zeit, da er von Tao Qing ausgestoßen wurde, saß Glatzkopf-Li bei bester Laune in der Imbissstube von Mutter Su am Fernbusbahnhof. In der einen Hand hatte er das Billet für die Fahrt nach Schanghai, in der anderen einen dampfenden Fleisch-Baozi, den er langsam und genüsslich verspeiste. Die Augen genießerisch geschlossen, kaute er jeden Bissen gründlich, ehe er ihn hinunterschluckte. Dabei erzählte er Mutter Su stolz, er würde von nun an auf eigene Rechnung unternehmerisch tätig sein. In ungefähr einer Stunde - dabei schaute er auf die Fahrkarte in seiner Hand würde er in den Bus nach Schanghai steigen. Er blickte zu der Wanduhr, begann, mit feierlicher Miene vor sich hin zu murmeln und wie bei einem Raketenstart von zehn bis eins 537
rückwärts zu zählen. Sodann informierte er Mutter Su mit großspuriger Gebärde: »Noch eine Stunde, und ich werde wie der Vogel Roch die Flügel ausbreiten - dann beginnt nämlich mein Höhenflug!« Nachdem Glatzkopf-Li in der Manier eines Handstreichs seine Arbeit in der Geschützten Werkstatt hingeworfen hatte, dachte er zu Hause hinter verschlossenen Türen einen halben Tag und eine halbe Nacht über die zukünftige Richtung seines geplanten Höhenflugs als »Vogel Roch« nach. Ausgehend von seinen positiven Erfahrungen in der Geschützten Werkstatt beschloss er, seine Karriere zunächst als Subunternehmer im Bereich der verarbeitenden Industrie zu starten und eine eigene Handelsmarke erst zu etablieren, wenn er ein gewisses Kapital akkumuliert habe. Die Frage war nur, was er am besten verarbeiten solle. Vielleicht Kartons, so wie in der Geschützten Werkstatt? Immerhin wäre das ein Wirtschaftszweig, in dem er sich gut auskannte. Nach reiflicher Überlegung ließ er diesen Plan schweren Herzens fallen, schließlich konnte er seinen vierzehn getreuen Paladinen keine Konkurrenz machen. Am Ende entschied er sich für die Konfektionsbranche. Sein beruflicher Aufstieg würde unaufhaltsam sein wie die aufgehende Sonne am Morgen, sofern es ihm gelänge, entsprechende Aufträge von Schanghaier Bekleidungsfirmen zu ergattern. Mit einer Weltkarte bewaffnet suchte der Aufsteiger in spe Schmied Tong, der inzwischen Präsident der »Vereinigung individueller Gewerbetreibender« in unserer kleinen Stadt Liuzhen geworden war, in seiner Werkstatt auf. Glatzkopf-Li war sich bewusst, dass er für die Eröffnung eines eigenen Betriebes Kapital brauchte, vom Staat aber keinen einzigen Fen 538
zu erwarten hatte. Deswegen war er auf Schmied Tong verfallen, denn seit Beginn der Politik der Reformen und der Öffnung nach außen waren es die kleinen Gewerbetreibenden wie eben der Schmied, die zuerst zu Wohlstand gelangten und deren Bankguthaben immer rascher anwuchsen. Als Glatzkopf-Li, über beide Backen strahlend, die Werkstatt betrat und den Schmied als »Präsident Tong« begrüßte, legte der Gebauchpinselte seinen Hammer beiseite, wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagte: »Direktor Li, nenn mich lieber weiter Schmied Tang, das klingt so schön markig.« Glatzkopf-Li erwiderte unter heiterem Gelächter: »Aber Sie dürfen bitte auch nicht Direktor Li zu mir sagen. Glatzkopf-Li reicht - das klingt auch schön markig.« Dann teilte er dem Schmied mit, er habe seinen bisherigen Posten aufgegeben, und setzte ihm, neben der Esse stehend, wortreich und voller Begeisterung seinen großartigen Plan auseinander. Er wies ihn - nicht nur einmal - darauf hin, dass es ihm als Vorgesetztem von vierzehn Behinderten gelungen sei, innerhalb eines Jahres 100000 und mehr Yuan zu verdienen, und knüpfte daran die Frage, wie viel mehr Gewinn er erwirtschaften würde, wenn er hundertvierzig, ja 1400 Gesunde unter sich hätte, darunter vielleicht - als Salz in der Suppe ein paar Bachelors, Magister, Doktoren und Postdoktoranden, so wie man beim Kochen den Geschmack der Speisen ja auch mit einer Prise Glutamat abrunde. Um die selbst gestellte Frage zu beantworten, mühte er sich eine halbe Stunde lang ab, murmelte vor sich hin und nahm die Finger zu Hilfe, doch am Ende hatte er immer noch kein Ergebnis.
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»Sag endlich, wie viel würdest du verdienen?«, drängte Schmied Tong, der die ganze Zeit über gespannt gewartet hatte und darüber erneut ins Schwitzen geriet. »Ich krieg's einfach nicht raus«, erwiderte Glatzkopf-Li kopfschüttelnd. Mit weit aufgerissenen Augen vor sich hin schauend, fuhr er träumerisch fort: »Es sind sowieso nicht einzelne Scheine, die ich vor mir sehe, es ist ein unendliches Meer von lauter Geld ... « Nach dieser romantischen Anwandlung kehrte er jedoch sogleich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück: »Jedenfalls bräuchte ich mir um Nahrung und Kleidung keine Sorgen zu machen und hätte immer einen gut gefüllten Geldbeutel.« Dann streckte er wie ein Wegelagerer seine Hand aus. »Also los, bezahlen Sie! Hundert Yuan pro Aktie. Je mehr Sie kaufen, desto größer Ihr Anteil am Profit.« Mit seinen Worten war es Glatzkopf-Li tatsächlich gelungen, den Schmied, dessen Gesicht vor lauter Aufregung fast so rot leuchtete wie das Feuer in seiner Esse, für seine Idee zu entflammen. Er fuhr mit seiner Pranke mehrmals über den Brustlatz und reckte endlich drei Finger hoch. »Ich nehme dreißig«, sagte er. »Dreißig Aktien?«, rief Glatzkopf-Li verblüfft. »Das sind 3000 Yuan! Sie müssen ja Knete haben!«, sagte er neidisch. Schmied Tong lachte auf und erwiderte abwehrend: »Na ja, so viel Geld habe ich schon noch.« Jetzt faltete Glatzkopf-Li seine Weltkarte auseinander. Er berichtete dem Schmied, dass ihm für den Anfang Auftragsarbeit für Schanghaier Konfektionsbetriebe vorschwebe, er 540
aber die Etablierung einer eigenen Marke »Glatzkopf« plane, sobald die Zeit reif wäre, und dann werde er »Glatzkopf«-Bekleidung zur besten Marke auf dem Weltmarkt machen. Dabei deutete er auf die Karte. »An allen Orten, die hier als Punkte markiert sind, wird es >Glatzkopf
Glatzkopf<-Produkte? Für keine anderen?« »Nein!«, bestätigte Glatzkopf-Li. »Wer braucht denn andere Marken?« Damit war Schmied Tong jedoch nicht einverstanden. »Wenn ich schon dreitausend Yuan ausgebe, sollte ich auch eine eigene Marke bekommen.« Glatzkopf-Li stimmte sofort zu: »Da haben Sie auch wieder recht. Sie kriegen die Marke >SchmiedGlatzkopf<, darüber lasse ich nicht mit mir reden, der Schriftzug soll sogar vorn aufgestickt werden. Aber sonst können Sie sich aussuchen, was Sie wollen - Hosen, Hemden, Unterhemden, Unterhosen.« Schmied Tong fand das nicht mehr als recht und billig. Die Unterwäsche zog er gar nicht erst in Betracht, aber die Wahl zwischen Hosen und Hemden fiel ihm schwer. Hemden waren an sich okay, da könnte man den Markennamen auch auf die Brusttasche sticken, bloß, es kam ja noch eine Jacke darüber, sodass nur der Kragen hervorlugte, und dann wäre der schöne Markenname »Schmied« doch entschieden unterbelichtet. Folglich entschied er sich für Hosen. Auf die Karte
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zeigend, fragte er Glatzkopf-Li: »Wird meine Marke auch überall vertreten sein, wo hier Punkte eingezeichnet sind?« »Natürlich!«, antwortete Glatzkopf-Li und klatschte sich auf die Brust. »Wo meine Marke >Glatzkopf< ist, da wird auch Ihre Marke >Schmied< sein.« Zufrieden reckte Schmied Tong den Zeigefinger. »Unter diesen Umständen«, sagte er, »nehme ich noch zehn Aktien. Ich lege noch 1000 Yuan drauf1« Glatzkopf-Li, der nicht im Traum damit gerechnet hatte, bei dem Schmied auf einen Schlag viertausend Yuan lockerzumachen, strahlte vor Zufriedenheit, als er die Werkstatt verließ. Schmied Tangs Beispiel würde zweifellos Schule machen, da er gewissermaßen der Leithammel unter den individuellen Gewerbetreibenden in unserer kleinen Stadt Liuzhen war. Wenn die anderen hörten, dass Schmied Tong vierzig Aktien erworben hatte, brauchte Glatzkopf-Li nur noch in aller Ruhe seine Weltkarte auszubreiten, und schon würden auch sie ihre Anteile zeichnen, zumal sich ja vorher schon seine glänzenden Erfolge in der Geschützten Werkstatt überall herumgesprochen hatten. Von der Schmiede aus ging Glatzkopf-Li sogleich weiter zur Schneiderei. In nur zehn Minuten hatte er Schneider Zhang herumgekriegt und ihm die Markenrechte für Hemden zugesprochen. Dem Schneider waren beim Anblick all der Punkte auf der Weltkarte förmlich die Augen übergegangen. Er begann, mit einer Nadel nur die in Europa anzutippen, kam aber mit dem Zählen nicht einmal in einem einzigen der vielen kleinen Länder dort zurande. Der Gedanke, dass man überall in der Welt seine Hemden Marke »Schneider« ken542
nen und schätzen würde, erregte ihn so, dass er einen Finger hochreckte: »Ich nehme zehn Stück!« Großzügig schenkte ihm Glatzkopf-Li zehn Aktien dazu, das heißt, Schneider Zhang bezahlte für zehn Stück, bekam aber zwanzig. Damit würdige er den hohen Technikgehalt seiner Arbeit, erläuterte Glatzkopf-Li dem Schneider, denn dieser sei als Technischer Inspektor der in Kürze zu gründenden Konfektionsfirma vorgesehen und als solcher verantwortlich für Mitarbeiterschulung und Qualitätskontrolle. Mit fünftausend Yuan Startkapital in der Tasche verdoppelte Glatzkopf-Li seine Anstrengungen, weitere Geldgeber zu gewinnen. Als Nächste waren Scherenschleifer Guan der Jüngere und Zahnreißer Yu an der Reihe. Guan der Ältere war schon seit Jahren schwer krank und zu schwach, weiter Scheren und Messer zu schleifen, sodass er das Bett hütete und dem Junior als »Kommandeur ohne Truppen«, wie dieser selbst es ausdrückte, den Laden allein überließ. Glatzkopf-Li sprach Scherenschleifer Guan dem Jüngeren die Unterhemden-Marke zu, womit jener auch hochzufrieden war. Unterhemden Marke »Schere«, das sei schließlich ein sehr passender Name für ein Kleidungsstück, dessen zwei Träger doch stark an eine Schere erinnerten, meinte er. Auch Scherenschleifer Guan der Jüngere erwarb zehn Aktien für insgesamt 1000 Yuan. Zuletzt schaute Glatzkopf-Li bei Zahnreißer Yu vorbei. Wie eh und je hatte der seinen großen Schirm aus Öltuch auf der Straße aufgespannt; unter dem Schirm stand nach wie vor der Tisch mit säuberlich aufgereihten Zangen auf der linken und ein paar Dutzend gezogenen Zähnen auf der rechten Seite; und er selbst saß auf seinem Hocker, wenn er Kundschaft 543
hatte, oder lag auf seiner Korbliege, wenn gerade niemand zu verarzten war. Diese Korbliege übrigens war schon viele Male repariert worden und sah mit dem neu eingeflickten Peddigrohr inzwischen so buntscheckig aus wie ein Stadtplan von Liuzhen. Zahnreißer Yu, der miterlebt hatte, wie der reißende Strom der Revolution zu einem Rinnsal geworden war (von dem man inzwischen auch nicht mehr wusste, wo es geblieben war), Zahnreißer Yu also hatte begriffen, dass die Revolution gewissermaßen in Rente gegangen war und zu seinen Lebzeiten kaum wiederkehren würde. Die seinerzeit den Klassenfeinden gezogenen gesunden Zähne waren keine kostbaren Beweisstücke für seinen revolutionären Elan mehr, sondern könnten eines Tages womöglich sogar zu hässlichen Flecken auf seiner weißen Zahnarzt-Weste werden. Daher hatte er sich in einer mondlosen Sturmnacht wie ein Einbrecher heimlich vor das Haus geschlichen und in aller Stille das gute Dutzend gesunder Zähne in der Kanalisation entsorgt. Nachdem Glatzkopf-Li Zahnreißer Yu seine großartigen Zukunftsvisionen ausgemalt hatte, setzte dieser sich aufgeregt in seinem Stadtplan-Liegestuhl auf, nahm Glatzkopf-Li die Weltkarte aus der Hand und betrachtete sie eingehend. Schließlich stöhnte er voll innerer Bewegung auf: »Nun habe ich schon den längsten Teil meines Lebens hinter mir« (er war zu dieser Zeit ein Mann in den Fünfzigern), »Und bin noch nie aus unserem Kreis herausgekommen, habe nichts von der Welt gesehen, nur immer aufgerissene Münder. Glatzkopf-Li, jetzt baue ich auf dich! Wenn ich durch dich reich geworden bin, werde ich keinen einzigen verdammten Zahn mehr ziehen und in keine einzige aufgerisse544
ne Fresse mehr schauen - dann sehe ich mir die Welt an! Ich werde als Tourist überallhin reisen, zu all den kleinen Punkten auf dieser Karte!« Glatzkopf-Li reckte anerkennend den Daumen hoch. »Sie setzen sich hochgesteckte Ziele, das muss man Ihnen lassen!«, sagte er. Aber Zahnreißer Yu war noch nicht fertig. Mit einem verächtlichen Blick auf seine Instrumente fuhr er fort: »Diese Zangen, die schmeiße ich alle weg.« »Tun Sie das nicht!«, riet Glatzkopf-Li. »Sie könnten sie mitnehmen, wenn Sie all die kleinen Punkte besuchen, um etwas von der Welt zu sehen. Denn wer weiß, vielleicht juckt es Sie mal, ein paar Zähne von weißen oder schwarzen Patienten zu ziehen. Wo Sie so vielen Chinesen Zähne gezogen haben, könnten Sie doch dann als reicher Mann zur Abwechslung mal ein paar Ausländer verarzten.« »Gute Idee!«, sagte Zahnreißer Yu, dessen Augen freudig aufleuchteten. »Mehr als dreißig Jahre lang habe ich jetzt Zähne gezogen, und meine Kunden waren immer nur Leute aus unserem Kreis, nicht einmal Schanghaier waren dabei. Aber jetzt, jetzt werde ich an jedem einzelnen Punkt auf dieser Weltkarte einen Zahn ziehen!« »Genau!«, rief Glatzkopf-Li. »Andere legen 10 000 Meilen zurück, um 10 000 Bücher zu verkaufen, wie der Dichter sagt - Sie aber legen 10 000 Meilen zurück, um 10 000 Leuten einen Zahn zu ziehen.« Offen war jetzt nur noch das Problem der Marke. Mit den Unterhosen, die als Einzige übrig geblieben waren, wollte Zahnreißer Yu sich partout nicht anfreunden. Er machte Glatzkopf-Li heftige Vorwürfe: »Verdammte Scheiße! Du 545
hast die Hosen und Hemden und Unterhemden alle verteilt, an mich hast du dabei gar nicht gedacht! Und jetzt willst du mir diese beschissenen Unterhosen aufschwatzen!« »Ich schwöre beim Himmel«, entgegnete Glatzkopf-Li entrüstet, »ich habe sehr wohl an Sie gedacht! Aber ich bin vom anderen Ende der Straße her gekommen. Wären Sie der Erste gewesen, hätten Sie die Wahl zwischen Hosen, Hemden und Unterhemden gehabt!« Zahnreißer Yu war jedoch alles andere als besänftigt: »Ich hocke schon lange an diesem Ende der Straße, länger als du überhaupt auf der Welt bist! Als kleiner Bastard bist du ein paarmal am Tag vorbeigekommen, aber jetzt, wo du flügge bist, lässt du dich überhaupt nicht mehr blicken. Warum, frage ich dich, bist du nicht zuerst zu mir gekommen? Zahn schmerzen hast du wohl auch nie-« »Da haben Sie recht«, fiel Glatzkopf-Li ein. »Wie sagt man? >Gedenke des Brunnenbauers, wenn du trinkst<, denke an Zahnreißer Yu, wenn du Zahnschmerzen hast! Sollte ich jemals Zahnschmerzen haben, werde ich auf jeden Fall zuerst zu Ihnen kommen.« Zahnreißer Yu war nicht nur über die Unterhosen an sich unzufrieden, auch der Markenname »Zahnreißer« sagte ihm nicht zu. »Hört sich überhaupt nicht gut an«, maulte er. »Sollten wir lieber >Unterhosen Marke Zahn< sagen?«, schlug Glatzkopf-Li vor. »Klingt auch nicht gut.« »Dann vielleicht >Unterhosen Marke Beißerchen« »>Beißerchen< geht schon eher. Also gut, ich nehme zehn Aktien zu 1000 Yuan«, sagte Zahnreißer Yu. »Wenn du mir
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nicht die Unterhosen gegeben hättest, wären es zwanzig gewesen.« Glatzkopf-Li hatte nur einen Vormittag lang seine Überredungskunst aufbieten müssen, um sage und schreibe 7000 Yuan zusammenzubringen. Als er sich jetzt anschickte, im Triumph nach Hause zurückzukehren, heftete sich StieleisWang an seine Fersen (man erinnert sich: der Eisverkäufer in unserer kleinen Stadt Liuzhen, der in der Kulturrevolution gelobt hatte, er wolle ein niemals schmelzendes revolutionäres Stieleis sein). Stieleis-Wang, inzwischen auch schon über fünfzig Jahre alt, war gerade an Schmied Tongs Werkstatt vorbeigekommen, als Glatzkopf-Li seine Weltkarte ausgebreitet hatte. Er hatte sowohl Glatzkopf-Lis bombastische Rede mitgekriegt als auch mit angesehen, wie der Schmied ohne zu zögern glatte 4000 Yuan herausrückte, sodass er StieleisWang - vor Schreck zusammengezuckt war. Aus der Ferne hatte er des Weiteren beobachtet, wie Glatzkopf-Li bei Schneider Zhang, Scherenschleifer Guan dem Jüngeren und Zahnreißer Yu noch einmal 3000 Yuan kassierte. Von alldem war er mittlerweile so aufgeregt wie eine Ameise in der heißen Pfanne, glaubte er doch, hier biete sich eine unwiederbringliche Chance, die auch er unter keinen Umständen verpassen dürfe. Also zupfte er den im Hochgefühl seines Erfolges davonstolzierenden Glatzkopf-Li, der gerade um die Straßenecke biegen wollte, von hinten an der Jacke und hielt ihm die fünf Finger einer Hand unter die Nase. »Ich nehme fünf«, sagte er verschwörerisch. Glatzkopf-Li hätte nie gedacht, dass er unterwegs auf jemanden wie Stieleis-Wang stoßen würde, der einfach mal so fünfhundert Yuan auf den Tisch legte, zumal nicht einmal er 547
selbst - der großmächtige Direktor Li - so viel Geld hätte zusammenkratzen können. Er warf einen Blick auf StieleisWangs zerlumpte Kleidung und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Verdammte Scheiße!«, fluchte er los. »Knete habt anscheinend nur ihr Privaten. Wir Staatsfunktionäre dagegen, wir haben unsere reine Weste und sonst gar nichts!« Stieleis-Wang katzbuckelte: »Du bist aber doch jetzt auch ein Privatunternehmer, da wirst du bestimmt sehr bald reich sein.« »Nicht reich«, verbesserte ihn Glatzkopf-Li. »Superreich!« »Selbstverständlich!«, fuhr Stieleis-Wang mit seiner Lobhudelei fort. »Deswegen setze ich ja auch auf dich.« Glatzkopf-Li sah, dass der andere immer noch seine fünf Finger hoch reckte. Kopfschüttelnd sagte er: »Es ist mir ja peinlich, aber es geht nicht. Ich kann Ihnen keine Marke anbieten, die letzte - für die Unterhosen - ist an Zahnreißer Yu gegangen.« »Ich will gar keine Marke«, erwiderte Stieleis-Wang, mit der ausgestreckten Hand wedelnd. »Ich will nur meine Dividende.« Glatzkopf-Li schüttelte abermals energisch den Kopf. »Unmöglich!«, sagte er. »Das wäre nicht seriös, wo doch Schmied Tong, Schneider Zhang, Scherenschleifer Guan und Zahnreißer Yu alle ihre eigene Marke haben. Nein, das wäre überhaupt nicht mein Stil, wenn Sie als Einziger leer ausgehen würden!« Mit diesen Worten ließ er den Eisverkäufer stehen. Da er ein Startkapital von 7000 Yuan bereits in der Tasche hatte, war er an dessen fünfhundert Yuan gar nicht interessiert. Der 548
bedauernswerte StieleisWang gab jedoch nicht auf und folgte ihm weiter, die fünf Finger immer noch steif hochhaltend, als hätte er eine künstliche Hand. Den ganzen Weg über bettelte er, Glatzkopf-Li möge sein Geld annehmen, wollte er sich doch unbedingt wenigstens einen ganz kleinen Anteil an dessen zukünftigem »Superreichtum« sichern. Er klagte ihm wortreich sein Leid, erzählte, dass er mit seinem Eis immer nur im Sommer Geld verdiene und sich in den übrigen drei Jahreszeiten mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten müsse, wobei er selbst an diese als älterer Mensch zunehmend schwerer herankäme. Zum Schluss war er von seiner eigenen Geschichte so gerührt, dass er in Tränen ausbrach. Die fünfhundert Yuan, die gesammelten Ersparnisse seines ganzen Lebens, wolle er in Glatzkopf-Lis großes Projekt stecken, um mit dem erhofften Gewinn einen behaglichen Lebensabend zu finanzieren. Plötzlich hatte Glatzkopf-Li einen Einfall. Er blieb stehen und klatschte sich auf die Glatze. »Da sind ja noch die Strümpfe!«, rief er. Als Stieleis-Wang nicht gleich reagierte, zeigte Glatzkopf-Li auf dessen immer noch hochgereckte fünf Finger und sagte: »Nun halten Sie doch bloß nicht immerzu Ihre Hand hoch! Ich habe mich entschlossen, Ihre fünfhundert Yuan anzunehmen. Sie kriegen die Socken, und der Markenname ist >Stieleis<.« Freudig überrascht ließ Stieleis-Wang gehorsam die Hand sinken. Dann kratzte er sich an der Brust und wiederholte immer wieder »Danke! Danke!«.
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»Mir müssen Sie nicht danken«, erwiderte Glatzkopf-Li, »sondern dem Vorfahren.« »Welchem Vorfahren? «, fragte Stieleis-Wang verständnislos. »Das fragen Sie noch? Sie sind aber wirklich schwer von Begriff«, spottete Glatzkopf-Li und klapste den anderen mit der zusammengerollten Weltkarte auf die Schulter. »Ich meine natürlich den Erfinder der Strümpfe! Ohne den würde es auf dieser Welt keine Socken Marke >Stieleis< geben, ich könnte Ihr Geld nicht annehmen, und Sie würden keinen Anteil an meinem Superreichtum bekommen.« »Da hast du recht!«, stimmte Stieleis-Wang zu. Er legte die Hände zur Dankesgeste vor der Brust übereinander und sagte feierlich: »Danke schön, Vorfahr!« Da Glatzkopf-Li inzwischen 7500 Yuan Startkapital zusammenhatte, machte er sich unverzüglich daran, alle leer stehenden Gebäude in unserer kleinen Stadt Liuzhen anzuschauen, die als Gewerberäume infrage kamen. Seine Wahl fiel auf den früheren Speicher, in dem seinerzeit Song Fanping inhaftiert worden war und wo der Vater jenes langhaarigen Mittelschülers sich den Nagel in den Kopf getrieben hatte. Das Gebäude hatte viele Jahre leer gestanden, als Glatzkopf-Li es jetzt mietete. Als Nächstes kaufte er auf einen Schlag dreißig Nähmaschinen und warb dreißig Mädchen aus umliegenden Dörfern an, die von Schneider Zhang geschult werden sollten. Der fand den Speicher zu groß und meinte, da passten glatt zweihundert Nähmaschinen hinein. Glatzkopf-Li streckte drei Finger aus und entgegnete ihm: »Innerhalb von drei Monaten werde ich in Schanghai so viele Aufträge an Land ziehen, dass 550
hier zweihundert Nähmaschinen Tag und Nacht rattern und wir trotzdem mit der Arbeit kaum nachkommen werden.« Einen Monat dauerte es, bis Glatzkopf-Li mit allen Vorbereitungen fertig war. Nun beschloss er, nach Schanghai zu reisen. Alles sei jetzt geregelt und verlaufe nach Plan, erklärte er. Nun fehle nur noch der sprichwörtliche »Ostwind«, sprich: die Aufträge. Das restliche Geld, das nach dem Kauf der Nähmaschinen noch vorhanden war, übergab er Schneider Zhang mit der Maßgabe, pünktlich die Miete für das Fabrikgebäude und den Lohn der dreißig Bauernmädchen davon zu bezahlen. Am allerwichtigsten aber sei, dass er in den nächsten sieben Tagen die Einweisung der Näherinnen abgeschlossen haben müsse, denn das Tuch für die ersten Konfektionsaufträge aus Schanghai würde noch vor Ablauf einer Woche in Liuzhen eintreffen. Er selbst werde zunächst nicht zurückkommen, sondern wie ein tollwütiger Hund Schanghai durchstreifen und alle einschlägigen Aufträge nach Liuzhen holen. Schneider Zhang solle auf die Telegramme vom Postamt achten, denn er werde eins schicken, sobald er einen Auftrag abgeschlossen habe. Glatzkopf-Li redete sich den Mund so fusslig, dass er sich immer wieder die Spucke von den Lippen wischen musste. Ganz zum Schluss drückte er Schneider Zhang fest die Hand und sagte, nicht ohne Pathos: »Ich lege hier alles vertrauensvoll in Ihre Hände, während ich selbst den >Ostwind< aus Schanghai herholen werde.« Danach saß er dann, wie wir bereits wissen, in Mutter Sus Imbissstube, nicht ahnend, dass er zu ebendieser Stunde von Tao Qing aus dem Apparat der Zivilverwaltung ausgestoßen wurde. In seiner Brusttasche steckte sein Erspartes, etwas mehr als vierhundert Yuan. Davon wollte er Kost und Logis 551
sowie Fahrgelder in Schanghai bezahlen. Er hegte keinen Zweifel am Erfolg seiner Mission: Noch ehe dieses Geld alle wäre, würde ganz Liuzhen vom Rattern seiner Nähmaschinen widerhallen! Auch vor seiner ersten Reise nach Schanghai - damals noch, um Aufträge für die Geschützte Werkstatt zu besorgen - hatte sich Glatzkopf-Li bei Mutter Su die Zeit mit einem Imbiss vertrieben, während er auf den Bus wartete. Hatte er seinerzeit ein Gruppenbild der Belegschaft dabeigehabt, so war es diesmal die Weltkarte, die er Mutter Su zeigte, während er seinen Fleisch-Baozi kaute. Und ebenso, wie sich Schmied Tong und die anderen von den vielen Punkten auf der Karte beeindrucken ließen, wurde nun auch Mutter Su bei diesem Anblick ganz aufgeregt. Sie hatte schon etwas läuten gehört von Glatzkopf-Lis hochgesteckten Zielen und wusste, dass sich Schmied Tong, Schneider Zhang, Scherenschleifer Guan, Zahnreißer Yu und Stieleis-Wang an seinem kühnen Projekt beteiligt hatten. Nun war sie kein Mensch, der auf bloßes Hörensagen vertraute, doch jetzt war sie durch Augenschein überzeugt und wurde bei Glatzkopf-Lis großspurigen Reden noch viel begieriger, auch auf den fahrenden Zug aufzuspringen, als es StieleisWang gewesen war. Glatzkopf-Li jedoch lehnte ab: »Es ist keine Marke mehr übrig«, sagte er. »Jacken sind meine Marke, Hosen Marke >Schmied<, Hemden Marke >Schneider<, Unterhemden Marke >Schere<, Unterhosen Marke >Beißerchen<. Mit Müh und Not bin ich noch auf die Marke >Stieleis< für Socken gekommen ... « Mutter Su erwiderte, sie lege gar keinen Wert auf eine eigene Marke, doch Glatzkopf-Li ließ sich auf nichts ein. Nach 552
einigem Hin und Her fiel sein Blick jedoch plötzlich auf Mutter Sus üppigen Busen. Seine Augen leuchteten auf. »Wieso habe ich nicht gleich daran gedacht!«, rief er. »Sie sind doch eine Frau! Es gibt ja noch die Büstenhalter!« Noch ein Blick auf Mutter Sus Brüste, noch ein großer Bissen von dem Fleisch-Baozi, und er hatte die Lösung: »Ihre Marke nennen wir >Fleischklößchen<. Nehmen Sie fünfzehn Aktien, dann habe ich einschließlich der zehn GratisTechnikaktien von Schneider Zhang genau einhundert Anteile vergeben.« In ihrer freudigen Erregung nahm Mutter Su überhaupt nicht wahr, dass »Büstenhalter Marke Fleischklößchen« nicht gerade vornehm klang. »Vor zwei Tagen erst war ich im Tempel und habe Weihrauch verbrannt«, erzählte sie Glatzkopf-Li. »Ein Glück auch! Sonst wäre ich dir vielleicht heute gar nicht begegnet.« Sie würde jetzt schnell ihr Sparbuch von zu Hause holen und dann auf der Bank das Geld abheben, fuhr sie fort, aber Glatzkopf-Li unterbrach sie: Dazu sei es zu spät, er müsse gleich den Bus nehmen, würde sich aber merken, dass Mutter Su fünfzehn Aktien nehmen wolle. Mutter Su, die befürchtete, Glatzkopf-Li würde nichts mehr von ihr und ihren fünfzehn Aktien wissen wollen, wenn er mit seinem prall gefüllten Auftragsbuch aus Schanghai zurückkehre, widersprach: »Nein, das ist mir nicht sicher genug, zumal es ja nichts Schriftliches darüber gibt.« Sprach's, und war schon zur Tür hinaus; Glatzkopf-Li solle auf sie warten, bis sie mit dem Geld wieder da sei. Der schrie ihr nach, sie solle zurückkommen. »Ich kann vielleicht auf Sie warten, aber der Bus wartet nicht auf mich!«, sagte er
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und faltete nach einem Blick auf die Wanduhr seine Landkarte zusammen. Mutter Su lief bis zum Portal des Wartesaals hinter ihm her. Als er schon in der Warteschlange an der Fahrkartenkontrolle stand, rief sie ihm zu: »Glatzkopf-Li, denk daran, du darfst dein Wort nicht brechen! Ich kenne dich schon seit deiner Kindheit!« Mit einem Mal stand Glatzkopf-Li alles wieder vor Augen: Wie Song Fanping auf dem Bahnhofsvorplatz totgeschlagen wurde; wie bitterlich Song Gang und er geweint und geschluchzt hatten; und wie es Mutter Su gewesen war, die ihren Pritschenkarren hergegeben und Tao Qing dazu bewegt hatte, den Toten nach Hause zu transportieren ... Er drehte sich zu ihr um und rief ihr sichtlich gerührt zu: »Ich habe nicht vergessen, wie ich hier mit Song Gang darauf gewartet habe, dass unsere Mama aus Schanghai zurückkommt. Niemand hat sich damals um uns gekümmert, nur Sie haben uns Baozi geschenkt und gesagt, wir sollten nach Hause gehen.« Glatzkopf-Li musste sich Tränen aus den Augen wischen, als er jetzt durch die Sperre ging. Dann drehte er sich ein letztes Mal um und rief: »Sie können sich darauf verlassen, ich werde mein Wort halten!« XIV Nachdem der Vogel Roch seine Flügel ausgebreitet und ihren Blicken entschwunden, Glatzkopf-Li also nach Schanghai abgereist war, blieb Schmied Tong, Schneider Zhang, Scherenschleifer Guan, Zahnreißer Yu und Stieleis-Wang nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu üben. Wenn sie sich abends schlafen legten und die Augen zumachten, sahen sie 554
immer nur lauter Punkte auf einer Weltkarte vor sich, die funkelten wie die Sterne am Himmelszelt. Auch Mutter Su gehörte zu diesem kleinen Kreis von Menschen, bei denen die Wogen der Erregung hoch schlugen und der Gedanke an die vielen Punkte auf der Weltkarte Pflichtübung vor dem Einschlafen war. An ihr jedoch nagten insgeheim zusätzlich Zweifel, weil sie ihre fünfzehn Aktien noch nicht bezahlt hatte. Aus diesem Grunde suchte sie mit dampfenden frischen Fleisch-Baozi - als »kleine Aufmerksamkeit« - nacheinander alle fünf Mitaktionäre auf und erzählte jedem in allen Einzelheiten, welche Bewandtnis es mit ihren fünfzehn Aktien habe. Nachdem Tong, Zhang, Guan, Yu und Wang insgesamt zwanzig von Mutter Sus köstlichen FleischBaozi vertilgt hatten, waren alle bereit, ihre Geschichte zu stützen - man weiß ja: Wes Brot ich ess', des Lied ich sing -, sodass Mutter Su beruhigt war: Sollte Glatzkopf-Li wider Erwarten doch sein Wort brechen, könnte sie jetzt diese fünf Baozi-Esser als Zeugen aufrufen. Nach Glatzkopf-Lis Abreise war Schmied Tongs Werkstatt zum Treffpunkt der sechs Geschäftspartner geworden. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit fanden sich nacheinander Schneider Zhang, Scherenschleifer Guan der Jüngere, Zahnreißer Yu und Stieleis-Wang dort ein. Mutter Su, die es von ihrem Imbissladen am Busbahnhof bis zur Schmiede ziemlich weit hatte, kam als Letzte, wenn der Mond schon am Himmel stand. Auf den Versammlungen der sechs ging es laut und lustig her. Alle waren des Lobes voll über GlatzkopfLi und ließen sich stundenlang über seine Heldentaten in der Geschützten Werkstatt aus, die immer eindrucksvoller wurden, je länger sie sie erörterten, konnten sie doch durch diese 555
Übertreibung vor sich selbst und anderen ihre Partnerschaft mit ihm umso besser rechtfertigen. Schmied Tong meinte, in der Geschäftswelt dominierten zurzeit die Leute aus der - der britischen Kronkolonie Hongkong benachbartenProvinz Guangdong, daher müsse heutzutage jeder Geschäftsmann wenigstens ein bisschen Kantonesisch, den Dialekt dieser Provinz also, sprechen, egal ob er von dort stamme oder nicht. »Wenn Glatzkopf-Li zurückkommt, redet er unter Garantie Kantonesisch wie ein Hongkonger Kaufmann«, sagte er. Anschließend nahmen die Versammelten den Arbeitsbericht von Schneider Zhang entgegen, der seinen eigenen Laden vorläufig geschlossen hatte, um genügend Zeit für die Einweisung der dreißig Dorfmädchen zu haben. Der Schneider berichtete, die Frauen hätten alle ihr eigenes Bettzeug mitgebracht und ihr Quartier in dem Speicher aufgeschlagen. Wie dreißig Soldatinnen lagerten sie dort in drei Reihen auf dem Fußboden. Zum Glück sei ja genug Platz, und jetzt im Frühling sei es auch nicht mehr so kalt. Unter den Mädchen gebe es gescheite und weniger gescheite. Erstere hätten schon nach drei Tagen den Bogen heraus, während die Dummen bestimmt zehn bis fünfzehn Tage bräuchten, um die Technik des Nähens zu beherrschen. Schmied Tong hielt das für zu langsam. Glatzkopf-Li wolle ja schon vor Ablauf einer Woche einen Großauftrag an Land ziehen, und wie wolle man es rechtfertigen, wenn der dann nicht prompt erfüllt werden könnte, bloß weil die Mädchen noch nicht so weit waren? Während sich Tong, Zhang, Guan, Yu, Wang und Su über solche Fragen die Köpfe heiß redeten, war unversehens eine 556
Woche vergangen. Als dann eine weitere Woche ohne das kleinste Lebenszeichen von dem Schanghai-Fahrer fast um war, verstummten die sechs allmählich und fingen an, auf ihrem inneren Abakus die Kugeln hin und her zu schieben. Der Erste, der die Geduld verlor, war Stieleis-Wang. Er murmelte wie im Selbstgespräch: »Ob dieser Glatzkopf-Li vielleicht mit dem Geld durchgebrannt ist? ... « »Quatsch!«, wies ihn Schneider Zhang sogleich zurecht. »Der ist nicht durchgebrannt. Er hat mir doch das ganze Geld übergeben, ehe er wegfuhr.« Schmied Tong nickte beifällig. »Im Geschäftsleben, da flutscht es mal schneller, mal langsamer, mal mehr, mal weniger«, erklärte er. »Richtig«, stimmte ihm Zahnreißer Yu bei. »Ich ziehe manchmal an einem Tag mehr als zehn Zähne und dann wieder tagelang keinen einzigen.« »Bei mir ist es auch nicht anders«, bestätigte Scherenschleifer Guan der Jüngere. »Oft arbeitest du dich tot, aber manchmal langweilst du dich auch zu Tode.« Es vergingen aber weitere zwei Wochen, und immer noch gab es keinerlei Nachrichten von Glatzkopf-Li. Die sechs Aktionäre trafen sich nach wie vor jeden Abend in der Schmiede, nur dass nicht mehr Mutter Su jeweils als Letzte eintraf, sondern Schneider Zhang. Der erkundigte sich nämlich jeden Nachmittag aufs Neue voller Hoffnung auf dem Postamt, ob ein Telegramm von Glatzkopf-Li aus Schanghai eingetroffen sei. Sobald die Mitarbeiter des Telegrafenamts Schneider Zhang erblickten, der mit einem anbiedernden Lächeln den Kopf zur Tür hereinsteckte - pünktlich eine halbe Stunde vor Dienstschluss -, breiteten sie bedauernd die Hände aus, noch ehe er gefragt hatte. 557
Dann verdüsterte sich sein Gesicht schlagartig, und er wandte sich zum Gehen, während sie noch erklärten, dass kein Telegramm da sei. Danach wartete er niedergeschlagen vor dem Eingang des Postamts, bis die Mitarbeiter Feierabend hatten und einer nach dem anderen das Gebäude verließ. Den Angestellten, der als Letzter die Tür abschloss, bat er, ein eventuell abends doch noch eintreffendes Telegramm für ihn an die Adresse von Schmied Tong zuzustellen. Anschließend ging er traurig nach Hause, schlang abwesend sein Abendessen hinunter und brach betrübt wieder zu der Versammlung in der Schmiede auf. Glatzkopf-Lis sechs Geschäftspartner warteten dort gemeinsam darauf, dass das Dunkel sich lichten und endlich ein Telegramm aus Schanghai eintreffen möge, doch es vergingen ein ganzer Monat und fünf Tage, und immer noch zeigte sich kein Stern und kein Mondstrahl am Firmament, noch immer tappten sie im Dunkeln. Es war, als wäre dieser Glatzkopf-Li verschluckt worden von einer finsteren Nacht, in der man die eigene Hand nicht vor Augen sieht. Die sechs in der Schmiede sahen einander ratlos an. Was sollten sie nur tun? Ihre anfängliche Hochstimmung war längst bedrücktem Schweigen gewichen; jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Scherenschleifer Guan der Jüngere hielt die Stille nicht länger aus und schimpfte los: »Dieser Glatzkopf-Li! Geht der Kerl nach Schanghai und ist wie vom Erdboden verschwunden!« Während Stieleis-Wangs Verdächtigung, Glatzkopf-Li habe sich abgesetzt, seinerzeit einhellig abgeschmettert worden war, fand Scherenschleifer Guans Vorwurf jetzt große Reso558
nanz. Als Erster pflichtete ihm Zahnreißer Yu bei. »Du hast ganz recht«, sagte er, »wenn ich einen Zahn ziehe, egal ob einen gesunden oder einen kranken, blutet es auf jeden Fall. Und wenn dieser Glatzkopf-Li nach Schanghai geht, egal ob er Aufträge kriegt oder nicht, muss er doch zumindest mal etwas von sich hören lassen!« »Ich habe ja längst vermutet, er hat sich abgesetzt«, schaltete StieleisWang sich ein. »Nein, abgesetzt haben wird er sich nicht«, erwiderte Schneider Zhang kopfschüttelnd. Dann seufzte er und fuhr fort: »Aber dass er sich so gar nicht meldet, ist wirklich nicht in Ordnung.« Mutter Sus Gedanken gingen in eine andere Richtung. »Ob ihm vielleicht etwas passiert ist?«, fragte sie, plötzlich ganz aufgeregt. »Was soll ihm schon passiert sein?«, entgegnete Scherenschleifer Guan der Jüngere. Mutter Su sah ihre fünf Partner der Reihe nach an. Dann meinte sie zögernd: »Ich weiß nicht, ob ich es aussprechen soll ... « »Warum denn nicht? Los, sag's schon!«, drängte sie Zahnreißer Yu. Mit stockender Stimme antwortete Mutter Su: »Schanghai ist doch so groß, da gibt's auch so viele Autos. Könnte es sein, dass Glatzkopf-Li überfahren worden ist? Und die ganze Zeit im Krankenhaus liegt?« Die anderen schwiegen, dachten aber im Stillen, Mutter Sus Befürchtung sei gar nicht so abwegig, und schickten jeder für sich ein Stoßgebet zum Himmel, er möge Glatzkopf-Li beschützen und nicht zulassen, dass er überfahren werde, oder falls dies doch geschehe - dass es mit ein paar Kratzern und 559
leichtem Blutverlust sein Bewenden habe und ihm das Los eines Schwerstbehinderten erspart bliebe, der womöglich sowohl hinke als auch blind und taub und dazu noch debil ist. Nach einer Weile ergriff Schneider Zhang wieder das Wort. Er teilte mit, dass die Miete für den laufenden Monat sowie die Löhne für die dreißig Bauernmädchen bezahlt seien, desgleichen die dreißig noch von Glatzkopf-Li selbst beschafften Nähmaschinen. Jetzt seien noch reichlich viertausend Yuan übrig. »Unser sauer verdientes Geld! ... «, fügte er bekümmert hinzu. Bei Schneider Zhangs Worten war allen der Schreck in die Glieder gefahren, auch Mutter Su, die sich jedoch sogleich wieder beruhigte, denn ihr Geld war ja noch nicht dabei. Aller Augen waren auf Schmied Tong gerichtet, den Präsidenten der »Vereinigung individueller Gewerbetreibender«, der zudem am meisten von allen investiert hatte. Der Schmied hatte bisher geschwiegen, war sich aber durchaus bewusst, dass alle auf ein klärendes Wort von ihm warteten. Er seufzte tief auf und sagte: »Warten wir noch ein paar Tage!« Am frühen Abend des nächsten Tages traf endlich das sehnlich erwartete Telegramm in unserer kleinen Stadt Liuzhen ein. Glatzkopf-Li hatte es nicht an Schneider Zhang, sondern an Mutter Su adressiert. Es enthielt lediglich zwei Sätze: Mutter Sus Markenname für Büstenhalter, »Fleischklößchen«, klinge nicht gut. Der Name müsse in »Dimsum« geändert werden. Als Mutter Su, die den ganzen Weg im Laufschritt zurückgelegt hatte, keuchend mit dem Telegramm ankam, brach in der völlig stillen Schmiede ein Sturm der Aufregung los. 560
Tong, Zhang, Guan, Yu und Wang rissen sich gegenseitig das Papier aus der Hand, um es immer wieder anzuschauen. Allen war ein Stein vom Herzen gefallen, und die Freude hatte ihre Gesichter gerötet. Sie schöpften wieder neuen Mut, lachten und schwatzten erleichtert durcheinander und waren sich einig, dass Glatzkopf-Li ganz gewiss einen Riesenhaufen Aufträge zusammengebracht habe. Nachdem sie eine Weile sein Loblied gesungen hatten, begannen sie, über ihn herzuziehen: Ein ausgemachter Bastard sei er ja doch, ihnen einen solchen Schrecken einzujagen! Sie so im Ungewissen zu lassen, dass sie vor lauter Angst nachts überhaupt keinen Schlaf mehr gefunden hätten! Es war Stieleis-Wang, der als Erster zu der Erkenntnis erwachte, dass an dem Telegramm etwas nicht stimmte. Er erbleichte, und das Blatt in seiner Hand zitterte. »Hier steht ja gar nichts von Aufträgen drin«, sagte er. Scherenschleifer Guan der Jüngere, jetzt ebenfalls ganz grün im Gesicht, stimmte ihm bei: »Genau, davon ist nicht die Rede.« Auch die übrigen vier lasen das Telegramm noch einmal genau durch. Dann blickten sie einander stumm an. Schneider Zhang sprang ein weiteres Mal für Glatzkopf-Li in die Bresche: »Wenn er sich Gedanken wegen Mutter Sus Markennamen macht, muss er doch Aufträge gekriegt haben.« »Schneider Zhang hat recht«, pflichtete Schmied Tong ihm bei. Er zeigte auf die Bank, auf der die fünf anderen Geschäftspartner saßen, und sagte: »Ich kenne Glatzkopf-Li gut, denn als kleiner Bastard ist er täglich angeschissen gekommen und hat diese Bank da gevögelt. Der ist nicht wie die anderen, der will schon von einem einzigen Bissen fett 561
werden - bei allem, was er tut, will er an einem ganz großen Rad drehen!« Zahnreißer Yu fiel ein: »Schmied Tong hat recht! Dieser Bastard hat einen Appetit wie kein anderer, der kriegt nicht so leicht den Hals voll. Ich weiß noch, wie er mal meinen Liegestuhl geborgt und mir dann noch meinen Öltuch-Schirm und fast auch noch den Tisch aus dem Kreuz geleiert hat, sodass ich einen Tag lang gar nicht wusste, wie ich meine Kundschaft bedienen sollte...« »Zahnreißer Yu hat recht!«, steuerte nun auch Scherenschleifer Guan der Jüngere einschlägige Erinnerungen an lange zurückliegende Erlebnisse mit Glatzkopf-Li bei. »Schon von klein auf war dieser Bastard so was von geschäftstüchtig! Der hat mir damals für Lin Hongs Arsch eine Portion Nudeln der drei Köstlichkeiten abgeluchst. Wie er die verschlungen hat! Und ich musste hungrig zusehen ... « »Ihr habt recht!« Auch Stieleis-Wang hatte inzwischen seine Meinung wieder geändert. »Dieser Bastard kann den Rachen nicht vollkriegen. Reich werden allein genügt dem nicht, superreich muss es sein!« Mutter Su begann, sich angesichts der geballten Vertrauensbekundungen ihrer fünf Geschäftspartner - denn darum handelte es sich ja im Grunde doch - abermals Sorgen um ihre georderten, aber nicht bezahlten Aktien zu machen. »Was soll ich denn machen, wenn dieser Glatzkopf-Li mit einem Haufen Aufträge in der Tasche wiederkommt«, sagte sie, »und vielleicht nichts mehr wissen will von meinen fünfzehn Aktien? Da müsst ihr für mich ein Wort einlegen!« 562
»Mach dir keine Sorgen«, beruhigte Schmied Tong sie. Er zeigte auf das Telegramm in Schneider Zhangs Hand. »Dieses Telegramm ist doch Beweis genug, da brauchst du uns fünf gar nicht als Zeugen.« Mutter Su entriss dem Schneider das Blatt und drückte es an die Brust, als wäre es eine große Kostbarkeit. »Wie gut, dass ich im Tempel war und Weihrauch verbrannt habe!«, sagte sie voller Genugtuung. »Sonst hätte dieser Glatzkopf-Li sicher kein Telegramm geschickt. Wo ich jetzt das Telegramm habe, kann er die fünfzehn Aktien nicht infrage stellen. Ich sag's ja immer: Räuchern hilft wirklich!« So erlöste Glatzkopf-Li mit seinem seltsamen Telegramm die sechs aus der Dunkelheit, die sie umgeben hatte, ganz ähnlich wie Mao Zedong mit seinen siegreichen Truppen einst unter den Klängen der Hymne »Der Osten ist rot, die Sonne geht auf ... « das Vaterland von der finsteren Guomindang-Herrschaft befreit hatte. Tong, Zhang, Guan, Yu, Wang und Su waren nun wieder einen halben Monat lang guten Mutes. Als sie danach aber immer noch - oder wieder - kein Lebenszeichen von Glatzkopf-Li bekommen hatten, begann das bange Warten aufs Neue. Die sechs Aktionäre warteten und warteten - tagsüber und abends, stündlich und minütlich, am Ende sogar sekündlich, doch alles Warten war umsonst, Glatzkopf-Li blieb spurlos verschwunden wie ein ins Meer gefallener Stein, und kein Telegramm aus Schanghai kam mehr in unserer kleinen Stadt Liuzhen an. Da ließen die sechs abermals die Köpfe hängen und bangten wieder Tag und Nacht um ihr Geld.
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Nachdem der zweite Monat vergangen war und Schneider Zhang zum zweiten Mal die Miete für den Speicher und die Löhne für die dreißig Bauernmädchen bezahlt hatte, verkündete er mit zitternder Stimme: »Von unserem sauer verdienten Geld sind nicht einmal 2000 Yuan übrig.« Abermals fuhr allen der Schreck in die Glieder (zunächst auch wieder Mutter Su, die sich aber sogleich damit beruhigte, dass sie ja ihr Geld immer noch nicht eingezahlt hatte). Diesmal konnte man schon von einer veritablen Vertrauenskrise sprechen. Als Erster machte Zahnreißer Yu seinem Unmut Luft: »Der verdammte Bastard, der macht doch gar keine Geschäfte mit uns. Verstecken spielt der mit uns!« Diesmal pflichtete auch Schneider Zhang ihm bei: »Richtig! Es ist wirklich unerhört! Sogar eine Nähnadel, die herunterfällt, macht noch ein Geräusch. Aber dieser Glatzkopf-Li, der verschwindet spurlos, ohne dass wir das Geringste von ihm hören würden.« Scherenschleifer Guan der Jüngere war so wütend, dass er das viel zu milde ausgedrückt fand: »Ach was, Nähnadel! Jeder Furz macht 'n Knall, bloß von diesem Bastard hört man nichts.« »Eben! Der ist nicht mal so viel wert wie ein Furz!«, fiel StieleisWangein. Schmied Tong, grau im Gesicht, hatte sich noch nicht geäußert. Er spürte sehr wohl die vorwurfsvollen Blicke der anderen und wusste, was sie bedeuteten: Wenn er nicht als Erster vierzig Aktien für 4000 Yuan gekauft hätte, wären alle anderen nicht ohne Weiteres seinem Beispiel gefolgt. Ihm ging der Gedanke durch den Kopf, es sei ja schön und gut, ande564
ren ein Beispiel zu geben, wie immer gefordert werde, aber auch eine verdammt anstrengende und undankbare Sache, wenn man es wirklich tue. Nachdem die sechs Geschäftspartner eine Weile stumm vor sich hin gebrütet hatten, fing mit zitternder Stimme wieder Schneider Zhang an zu reden: »Das restliche Geld reicht nicht mehr für einen weiteren Monat ... « Ebenso düster wie seine Botschaft war der Blick, mit dem er jetzt Schmied Tong ansah. Der merkte, auch die Blicke der anderen, ebenso düster, waren auf ihn gerichtet, wobei Zahnreißer Yu ihm so auffällig auf den Mund starrte, als erwäge er einen Anschlag auf all seine gesunden Zähne. Mit einem tiefen Seufzer brach der Schmied endlich sein Schweigen: »Also gut. Wir schicken erst mal die dreißig Dorfmädchen wieder nach Hause. Wenn wir sie brauchen, können wir sie immer noch zurückholen.« Die anderen schwiegen und fuhren fort, ihn mit düsteren Blicken zu fixieren. Ihm war klar, sie dachten an die Miete, denn keiner war willens, das restliche Geld dafür zu verschwenden. Schmied Tong schüttelte erst den Kopf, aber dann nickte er und sagte: »Also gut. Wir geben den Speicher zunächst wieder zurück. Falls Glatzkopf-Li wirklich Aufträge mitbringt, können wir ihn ja wieder mieten.« Während die anderen kopfnickend zustimmten, beschäftigte Schneider Zhang eine weitere Frage: »Was wird mit den dreißig Nähmaschinen?« Schmied Tong dachte einen Moment nach. »Die teilen wir je nach den gezeichneten Anteilen auf, und jeder nimmt seine mit zu sich nach Hause«, bestimmte er.
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Schneider Zhang übernahm die Aufgabe, die dreißig Mädchen zu entlassen, den Speicher zurückzugeben und die Maschinen aufzuteilen, wobei Mutter Su, die ja nichts eingezahlt hatte, natürlich keine bekam. Auch nachdem das alles geregelt war, kamen die sechs Geschäftspartner nach wie vor jeden Abend in der Schmiede zusammen, doch herrschte eine gespenstische Grabesstille, und die Versammelten, die da schweigend beieinandersaßen, erinnerten eher an Geister als an lebendige Menschen. So verging ein weiterer Monat ohne ein Lebenszeichen von Glatzkopf-Li. Dann blieb als Erste Mutter Su den Zusammenkünften in der Schmiede fern, als Nächste Schneider Zhang, Scherenschleifer Guan der Jüngere und Zahnreißer Yu, bis am Ende nur noch Stieleis-Wang durchhielt, der Mann, der am wenigsten investiert hatte. Er meldete sich nach wie vor jeden Abend in der Schmiede zur Stelle und setzte sich dem finster die Stirn runzelnden Schmied gegenüber, bald seufzend, bald eine verstohlene Träne abwischend, ein erbarmenswerter Anblick. Schließlich fragte er Schmied Tong: »Meinst du, unser sauer verdientes Geld ist jetzt futsch?« Der Schmied sah ihn mit leeren Augen an und entgegnete: »Da ist nichts zu machen. Das Geld müssen wir wohl in den Wind schreiben.« XV Nach genau drei Monaten und elf Tagen - die sechs hatten inzwischen endgültig alle Hoffnungen fahren gelassen - kehrte Glatzkopf-Li staubbedeckt und müde von seiner Reise zurück. Gegen Abend trat er aus dem Portal des Fernbusbahn566
hofs unserer kleinen Stadt Liuzhen, genau so gekleidet wie bei seiner Abreise und immer noch in der einen Hand jene Reisetasche, in der anderen die zusammengerollte Weltkarte. Er ging schnurstracks in die Imbissstube und setzte sich an einen der Tische, doch Mutter Su erkannte ihn nicht, denn als er wegfuhr, hatte er eine spiegelblanke Glatze, jetzt aber eine wilde Mähne und dazu noch einen Vollbart. Er klatschte auf die Tischplatte und rief: »Mutter Su, da bin ich wieder!« Zu Tode erschrocken, zeigte Mutter Su auf seine langen Haare und stotterte: »Wie sch-schaust d-du denn aus?« Glatzkopf-Li wiegte den Kopf und antwortete: »Keine Zeit für den Friseur! Hatte zu viel zu tun in Schanghai.« Mutter Su knetete die Finger vor der Brust und blickte zu ihrer Tochter Su Mei, die ebenso erstaunt war wie sie selber. Dann fragte sie zaghaft: »Und geschäftlich ist alles gut gelaufen?« »Ich sterbe vor Hunger!«, rief Glatzkopf-Li. »Bringen Sie mir fünf Fleisch-Baozi, ja?« Auf den Wink ihrer Mutter hin setzte Su Mei ihm schnell die gewünschten Baozi vor. Glatzkopf-Li, der sich sofort einen gegriffen hatte, nuschelte mit vollem Mund: »Sagen Sie Schmied Tong und den anderen Bescheid, sie sollen in den Speicher kommen. Ich stoße dazu, sobald ich aufgegessen habe.« Mutter Su, die aus seinem forschen Auftreten schloss, er sei mit Körben voller Aufträge zurückgekommen, nickte eifrig und ging sogleich los. Sie war aber kaum zur Tür hinaus, da fiel ihr ein, dass der Speicher ja zurückgegeben worden war. Also lief sie zurück und fragte von der Tür aus mit beklom-
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mener Stimme: »Könnten wir uns nicht lieber in der Schmiede versammeln?« Nachdem Glatzkopf-Li, der den Mund voll hatte und nicht reden konnte, heftig nickend zugestimmt hatte, machte sich Mutter Su voller Hast, als wäre sie die Überbringerin eines kaiserlichen Erlasses, abermals auf den Weg in die WeststadtGasse unserer kleinen Stadt Liuzhen. Dem Schneider Zhang rief sie schon von der Ladentür aus zu: »Glatzkopf-Li ist wieder da!« Auf Mutter Sus aufgeregte Rufe hin eilten auch Scherenschleifer Guan der Jüngere und Zahnreißer Yu herbei. Vor der Schmiede lauschten die vier - Schmied Tong hatte sich inzwischen ebenfalls zu ihnen gesellt - mit angehaltenem Atem, als ihnen die vom schnellen Laufen keuchende Mutter Su berichtete, wie Glatzkopf-Li voller Elan in die Imbissstube gestürmt sei, auf den Tisch gehauen und sich laut und schallend mit ihr unterhalten habe. Als sie fertig war, brummelte Schmied Tong irgendetwas Unverständliches vor sich hin. Nach einem Moment blickte er die anderen jedoch freudestrahlend an und sagte: »Es hat also geklappt. Die Sache hat geklappt! Denn sonst würde er nicht so großspurig auftreten und uns alle hierher bestellen, sondern hätte sich mit eingezogenem Schwanz irgendwo verkrochen.« Schneider Zhang, Scherenschleifer Guan der Jüngere und Zahnreißer Yu nickten energisch zu seinen Worten und polterten froh und erleichtert los: »So ein verdammter Bastard aber auch! So ein verflixter Schlawiner!« Schmunzelnd erkundigte sich Schmied Tong bei Mutter Su, ob der »verflixte Schlawiner« jetzt tatsächlich Kantonesisch spreche wie ein Hongkonger Kaufmann. Nach reiflicher 568
Überlegung schüttelte Mutter Su den Kopf: »Nein, der redet immer noch wie einer aus Liuzhen«, sagte sie. »Aber ein paar Brocken Schanghaier Dialekt wird er doch wohl sprechen?«, beharrte der Schmied. »Auch das nicht«, antwortete Mutter Su. »Also hat der Bastard wenigstens nicht vergessen, wo er herkommt!«, sagte Schmied Tong anerkennend. Mutter Su nickte. »Aber ganz lange Haare hat er, wie ein Rocksänger«, fügte sie hinzu. »Ich verstehe!«, meinte Schmied Tang mit einem wissenden Lächeln. »Der verflixte Bastard will eben immer was Besseres sein! Ein Chinese als Vorbild ist dem viel zu mickrig, selbst wenn er aus Hongkong kommt und Kaufmann ist. Nein, es muss ein Ausländer sein! So was wie Marx und Engels. Die hatten ja beide lange Haare und gewaltige Bärte.« »Stimmt ja überhaupt!«, fiel Mutter Su ein. »Sein Gesicht ist auch ganz zugewachsen.« Mutter Su war in ihrem Eifer kaum zu bremsen. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und erklärte, sie müsse jetzt auch noch StieleisWang Bescheid geben. Scherenschleifer Guan der Jüngere sagte, er habe diesen gerade gesehen, wie er mit einer Flasche in der Hand um die Ecke der WeststadtGasse gebogen sei, woraufhin Mutter Su sich eilig auf den Weg in den Sojawürzeladen unserer kleinen Stadt Liuzhen machte. Schmied Tong, Schneider Zhang, Scherenschleifer Guan der Jüngere und Zahnreißer Yu vertrieben sich unterdessen die Zeit, indem sie blöd grinsend wie vier Schwachsinnige herumbalgten und herumalberten, bis es Schmied Tong am Ende zu bunt wurde und er seine drei Geschäftspartner auf569
forderte, sich auf die Bank zu setzen. Wieder ganz ernst, erinnerte er sie daran, dass Glatzkopf-Li über den neuesten Stand überhaupt nicht informiert sei. Wenn er erführe, dass der Speicher zurückgegeben, die Nähmaschinen verteilt und die Bauernmädchen nach Hause geschickt worden seien, würde er vielleicht explodieren und ein fürchterliches Donnerwetter vom Stapel lassen. »Dieser Glatzkopf-Li, der hat ein Mundwerk wie ein Maschinengewehr«, sagte er. »Wenn der erst mal anfängt zu schimpfen, geht's nur noch tack- tacktack! Ihr dürft ihn dann auf gar keinen Fall reizen, sondern müsst einen kühlen Kopfbehalten, bis er Dampf abgelassen hat. Erst danach sprechen wir über unsere Probleme.« »Er hat recht«, sagte Schneider Zhang, an Scherenschleifer Guan den Jüngeren und Zahnreißer Yu gewandt. »Ihr müsst unbedingt Ruhe bewahren.« Guan erwiderte: »Keine Sorge. Soll er ruhig schimpfen, ich bleibe ganz still. Von mir will ich gar nicht reden, aber selbst wenn er meinen Papa mit Schmähungen überhäuft, werde ich nicht in Wut geraten.« »Genau!«, sagte Zahnreißer Yu. »Ich werde ihm mit einem Lächeln gegenübertreten, sogar wenn er meine Vorfahren achtzehnmal bis ins achtzehnte Glied durch den Dreck ziehen sollte.« Da war der Schmied zufrieden. Er sah sich in seiner Werkstatt um und stellte fest, dass keine einzige anständige Sitzgelegenheit vorhanden war. Wenn dieser Glatzkopf-Li im Triumph zurückkehre, sagte er, müsse man ihm wenigstens einen Stuhl anbieten können. Kaum hatte er das gehört, ging Zahnreißer Yu los und holte seinen Korbliegestuhl, doch Schneider Zhang und Scherenschleifer Guan der Jüngere schüttelten die Köpfe über die mit ihren vielen hellen Flick570
stellen tatsächlich an einen Stadtplan von Liuzhen erinnernde Liege. Die sei nun wirklich allzu schäbig, meinten sie, und auch Schmied Tong schloss sich diesem Urteil an. Zahnreißer Yu jedoch, pikiert über die Missachtung seines Lieblingsmöbels, versicherte: »Das Aussehen täuscht, der Sessel ist sehr bequem.« Just in diesem Moment kam Mutter Su mit Stieleis-Wang angerannt. Glatzkopf-Li sei im Anmarsch, rief sie atemlos. Da erhob sich Schmied Tong rasch aus dem Korbstuhl, in dem er probegelegen hatte, nicht ohne Zahnreißer Yu gegenüber seinen Irrtum zuzugeben: »Er ist wirklich ganz bequem«, bestätigte er. Als Glatzkopf-Li, der langhaarige, vollbärtige »ausländische Kaufmann«, die Schmiedewerkstatt betrat und die strahlenden Gesichter seiner respektvoll wartenden sechs Geschäftspartner sah, begrüßte er sie munter: »Hal-loo! Lange nicht gesehen!« Schmied Tong nötigte den Heimkehrer, in dem Korbsessel Platz zu nehmen. »Schön, dass du endlich wieder da bist! War sicher 'ne ziemliche Strapaze, was?« Auch die anderen fünf äußerten sich in diesem Sinn: »Bestimmt sehr anstrengend!« »Ach was!«, erwiderte Glatzkopf-Li mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Geschäfte machen strengt nicht an.« Die sechs, die das urkomisch fanden, stimmten eifrig nickend zu. Glatzkopf-Li verschmähte den Liegestuhl zugunsten der Bank. Auch seine Reisetasche und die Weltkarte legte er neben sich auf die Sitzfläche. Als Schmied Tong und die anderen ihn drängten, sich doch lieber auf die Liege zu setzen, 571
winkte er ab. Er zwinkerte dem Schmied verschwörerisch zu und scherzte: »Ich sitze lieber hier auf der Bank. Immerhin hatte ich ja mal was mit der!« Schmied Tong prustete los. »Hab ich's euch nicht gesagt?«, wandte er sich an die anderen. »Glatzkopf-Li vergisst nicht, wo er herkommt!« Glatzkopf-Li forderte die vor ihm stehenden sechs mit einer einladenden Handbewegung auf, sich ebenfalls hinzusetzen, aber die schüttelten die Köpfe und meinten, sie würden lieber stehen bleiben, was Glatzkopf-Li kopfnickend akzeptierte. Er selbst lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und schlug die Beine übereinander. Nachdem er es sich bequem gemacht hatte, war er, nach seiner erwartungsvollen Miene zu urteilen, bereit für den Tätigkeitsbericht der sechs. »Wie ist es denn hier so gelaufen in den drei Monaten, die ich weg war?«, fragte er. Tong, Zhang, Guan, Yu, Wang und Su sahen einander stumm an, dann richteten Zhang, Guan, Yu, Wang und Su ihre Blicke auf Schmied Tong. Nach kurzem Zögern trat dieser todesmutig, als gelte es, den Berg der scharfen Messer zu besteigen, einen Schritt vor, räusperte sich mehrmals und begann, langsam und ausführlich zu berichten, was während Glatzkopf-Lis Abwesenheit geschehen war. Zum Schluss sagte er: »Es blieb uns wirklich keine andere Wahl, das musst du verstehen!« Als Schmied Tong geendet hatte, senkte Glatzkopf-Li den Kopf, ängstlich beobachtet von seinen sechs Geschäftspartnern, die im Stillen damit rechneten, dass dieser verflixte Bastard eine wahnsinnige Schimpfkanonade gegen sie loslassen würde, wenn er wieder aufblickte. Zu ihrer Überraschung 572
tat er jedoch nichts dergleichen, sondern gab sich ausgesprochen leutselig: »Wie sagt der Volksmund? >Solange der Wald steht, gibt's Holz zum Heizen<. Hauptsache, wir sind alle gesund!« Sechs große Steine fielen den sechs erleichterten Partnern vom Herzen, und die angstvolle Spannung auf sechs Gesichtern löste sich in eitel Freude auf. Schmied Tong versicherte Glatzkopf-Li, innerhalb eines Tages könnten der Speicher wieder angernietet und die dreißig Nähmaschinen aufgestellt werden, und nach weiteren zwei Tagen wären auch die dreißig Bauernmädchen wieder zur Stelle. Glatzkopf-Li nickte, dann sagte er: »Das eilt nicht.« »Das eilt nicht« - was sollte denn das bedeuten!? Die sechs sperrten Mund und Augen auf und starrten Glatzkopf-Li verständnislos an, aber der saß immer noch höchst gelassen mit übereinandergeschlagenen Beinen da, ohne sie aufzuklären. In diesem kritischen Augenblick wanderten die Blicke von Zhang, Guan, Yu, Wang und Su gewohnheitsmäßig sogleich wieder zu Schmied Tong, in der Hoffnung, er würde für sie alle sprechen. Der Schmied trat abermals einen Schritt vor und fragte vorsichtig: »Du warst ja nun über drei Monate fort. Wie ist es denn so gelaufen in Schanghai? « Bei dem bloßen Namen »Schanghai« erwachten sogleich Glatzkopf-Lis Lebensgeister. »Schanghai, das ist eine so große Stadt, da gibt es unendlich viele Gelegenheiten, Geld zu verdienen, so viele, wie ein Schwein Haare hat, da kann man noch aus Spucke Gold machen! ... « »Du meinst wohl >so viele wie ein Ochse Haare hat«, korrigierte ihn der aufmerksame Schneider Zhang.
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»So viele nun auch wieder nicht«, entgegnete Glatzkopf-Li wahrheitsgemäß. »Ungefähr so viele, wie ein Schwein Haare hat, würde ich sagen.« Als die sechs sahen, wie er plötzlich aufgelebt war, lächelten sie einander erleichtert und erfreut zu. Unterdessen fuhr Glatzkopf-Li fort, wie ein Wasserfall zu plaudern: »Schanghai ist ja so groß! Alle paar Schritte stößt du auf eine Bank, wo die Leute, die Geld einzahlen oder abheben wollen, in langen Schlangen warten, bis sie an der Reihe sind, und wo die Banknotenzähler die ganze Zeit vor sich hin rattern. Und die Kaufhäuser dort, die haben mehrere Stockwerke; wenn du da rauf- und runtergehst, kommst du dir wie ein Bergsteiger vor. Und es wimmelt von Menschen, du denkst, du bist im Kino. Ganz zu schweigen von den Straßen - da herrscht von morgens bis abends ein solches Gewusel, dass du glaubst, das sind gar keine Menschen, sondern lauter Ameisen, die gerade umziehen ... « Während sich Glatzkopf-Li so begeistert über die Großstadt Schanghai ausließ, dass ihm buchstäblich der Schaum vor dem Munde stand und gewissermaßen auf unsere ach so kleine Stadt Liuzhen spritzte, schaute Schmied Tong (der sich tatsächlich das eine oder andere Spucketröpfchen aus dem Gesicht wischen musste) zu seinen fünf Mitaktionären hinüber, die allesamt töricht vor sich hin lächelten und gar nicht bemerkten, dass Glatzkopf-Li weit - sehr weit! - vom Thema abgekommen war. Ihm blieb nichts anderes übrig, als dessen Redefluss zu unterbrechen. Daher fragte er, wiederum sehr vorsichtig: »Und die Aufträge, über die du mit den Konfektionsfirmen-«
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»Ja, mit denen habe ich geredet«, fiel ihm Glatzkopf-Li ins Wort. »Und zwar mit nicht weniger als zwanzig Firmen, darunter sogar drei ausländische.« Scherenschleifer Guan der Jüngere schaltete sich ein: »Ach, deswegen siehst du jetzt aus wie Marx und Engels!« »Wieso? Marx und Engels?«, fragte Glatzkopf-Li, der nicht wusste, worauf der andere anspielte. Schneider Zhang erklärte es ihm: »Weil du so lange Haare und diesen Rauschebart hast. Wir haben uns gedacht, wenn du mit ausländischen Kaufleuten verhandelst, nimmst du vielleicht auch deren Gewohnheiten an.« »Was für Gewohnheiten?« Glatzkopf-Li hatte immer noch nicht begriffen. Schmied Tong unternahm einen weiteren Versuch, zum eigentlichen Thema zurückzukommen: »Wir waren beim Geschäft. Wie liefen denn die Gespräche?« »Gut! Sehr gut!«, sagte Glatzkopf-Li. »Ich habe mit denen nicht nur über das Geschäft selbst gesprochen, sondern mich sogar über solche Sachen wie Markennamen mit ihnen ausgetauscht.« »Ach so!«, rief Mutter Su. »Deshalb hast du mir also das Telegramm geschickt und >Fleischklößchen< durch >Dirnsum< ersetzt.« Glatzkopf-Li überlegte angestrengt. »Ja, richtig! Genau!«, antwortete er schließlich. Triumphierend schaute Mutter Su ihre fünf Mitaktionäre an. Vier von denen nickten beifällig, doch der fünfte Schmied Tong - dachte bei sich: Scheiße, jetzt kommen wir wieder vom Thema ab! Schnell schaltete er sich wieder ein:
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»Mit wie vielen von den zwanzig Firmen bist du denn nun handelseinig geworden?« Glatzkopf-Li stieß einen lang gezogenen Seufzer aus, der wie eine kalte Dusche wirkte. Allen sechs Partnern, eben noch so freudig erregt, rutschte das Herz in die Hosen. Glatzkopf-Li sah sie der Reihe nach an, dann streckte er die fünf Finger einer Hand aus und sprach: »Vor fünf Jahren, da bin ich nach Schanghai gefahren, um Aufträge für die Geschützte Werkstatt zu besorgen. Damals brauchte ich nur ein Gruppenbild meiner Behinderten herauszuholen und den Zuständigen in den einzelnen Firmen ein bisschen zuzureden, und schon hatte ich sie so weit, dass sie mir Aufträge gaben. Als ich jetzt, gerade mal fünf Jahre später, wieder in Schanghai war, um Aufträge an Land zu ziehen diesmal für uns selbst -, habe ich mit Engelszungen auf sie eingeredet, bin noch überzeugender, leidenschaftlicher und, ja, auch reifer als vor fünf Jahren aufgetreten, aber -« hier krümmte er die fünf ausgestreckten Finger zur Geste des Geldzählens »die Zeiten haben sich geändert, die Gesellschaft hat sich gewandelt. Heute musst du den Leuten was zustecken und sie bestechen, um Aufträge zu kriegen. Nie, nie! hätte ich gedacht, dass der Sittenverfall sich so schnell und so rasant ausbreiten würde!« Jetzt wedelte er mit seinen eben noch Geld zählenden Fingern hin und her. »Noch fünf Jahre, dann hat er das ganze Land erfasst«, prophezeite er. Die sechs starrten stumm vor sich hin. Schließlich ergriff Schmied Tong ein weiteres Mal das Wort und fragte beklommen: »Und du? Hast du auch Schmiergeld gezahlt?«
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»Nein«, erwiderte Glatzkopf-Li kopfschüttelnd. »Als ich dieses eherne Gesetz endlich kapiert hatte, reichte mein Geld gerade noch für die Rückfahrt.« »Mit anderen Worten«, sagte der Schmied mit zitternder Stimme, »du hast nicht einen einzigen Auftrag bekommen?« »So ist es«, antwortete Glatzkopf-Li ohne Umschweife. Diese traurige Kunde traf die Versammelten wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ein Schwindel erfasste sie; stumm blickten sie einander an. Von Schneider Zhang kam die erste Reaktion. Am ganzen Körper zitternd, sagte er, zu Schmied Tong gewandt: »Dann ist unser sauer verdientes Geld also futsch?« Schmied Tong, selbst nicht minder fassungslos, wusste nicht, ob er nicken oder den Kopf schütteln sollte. Da heulte Stieleis-Wang auf: »Aber das war doch mein Notgroschen!«, schluchzte er. Mutter Su stimmte zunächst in sein Schluchzen ein, verstummte aber sogleich wieder, da ihr rechtzeitig einfiel, dass ihr Anteil noch nicht bezahlt war. Scherenschleifer Guan dem Jüngeren und Zahnreißer Yu trat vor Schreck der kalte Schweiß auf die Stirn. Völlig verstört starrten sie GlatzkopfLi an und stammelten: »W-wir sind p-pleite?« »So würde ich das nicht nennen«, entgegnete Glatzkopf-Li. Er sah seine sechs schreckensbleichen Aktionäre an, dann redete er ihnen entschlossen zu: »Fehlschläge sind die Mutter des Erfolgs! Sie brauchen bloß noch einmal tausend Aktien zu kaufen, dann fahre ich auf der Stelle wieder nach Schanghai und schiebe den richtigen Leuten das Geld rüber.
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Ich garantiere Ihnen einen Riesenhaufen Aufträge. Große Aufträge!« Der immer noch weinende Stieleis-Wang wischte sich die Augen und sagte zu Schmied Tong: »Ich habe wirklich kein Geld mehr.« Der Schmied blickte in die verstörten Gesichter von Scherenschleifer Guan dem Jüngeren und Zahnreißer Yu, schaute hinüber zu dem wie Espenlaub zitternden Schneider Zhang und seufzte tief. Kopfschüttelnd sagte er: »Wo sollten wir noch mal so viel Geld hernehmen?« »Sie haben kein Geld?«, rief Glatzkopf-Li enttäuscht. Er hob bedauernd die Hände: »Da kann ich Ihnen auch nicht helfen, dann sind wir eben wirklich pleite. Meine vierhundertsoundso Yuan sind dann auch futsch.« Beim Anblick der entsetzten Gesichter seiner sechs Aktionäre überkam ihn ein unbezwinglicher Lachreiz, woraufhin Stieleis-Wang, mit dem Finger auf ihn zeigend, Schmied Tong empört fragte: »Wieso lacht der jetzt auch noch?« »Sieg und Niederlage sind für einen Feldherrn ständige Gäste, wie man so sagt. Ein ganzer Mann hält beides aus, den Sieg und die Niederlage!«, erklärte Glatzkopf-Li. »Sie machen schon bei der ersten kleinen Schwierigkeit schlapp und schauen bedeppert drein wie sechs Kriegsgefangene -« »Ein Kriegsgefangener bist höchstens du verdammter Mistkerl!«, unterbrach ihn Schmied Tong, der seinen Zorn nicht länger zurückhalten konnte. Er holte mit seiner großen Pranke aus und knallte sie Glatzkopf-Li ins Gesicht, sodass dieser sich unversehens auf dem Fußboden wiederfand. »4000 Yuan habe ich gelöhnt!«, schrie der wütende Schmied. 578
Mit den Händen sein Gesicht schützend, rappelte sich Glatzkopf-Li auf und rief ärgerlich: »Was soll denn das!« Dann setzte er sich wieder auf die Bank, schlug lässig die Beine übereinander und schickte sich an, mit Schmied Tong darüber zu diskutieren, wer hier recht und wer unrecht hatte. Aber jetzt schrien Schneider Zhang, Scherenschleifer Guan der Jüngere und Zahnreißer Yu unisono »Wir 3000 Yuan!« und traten wutentbrannt nach ihm. Glatzkopf-Li schrie vor Schmerzen laut auf und rettete sich eilends auf die Bank, von wo aus er - immer wieder »Was soll denn das?« rufend - zuschaute, wie die drei jetzt ebenfalls Schmerzenslaute von sich gaben, weil sie sich aus Versehen gegenseitig getreten hatten. Der tragischste unter den sechs Helden jedoch war StieleisWang. Der stürzte sich jetzt mit dem Ruf »Fünfhundert Yuan!« auf den auf der Bank kauernden Glatzkopf-Li, packte ihn an den Schultern und biss so kräftig zu, als wollte er ihm Fleisch und Haut im Wert von fünfhundert Yuan von den Knochen fetzen. Quiekend wie ein Schwein, das abgestochen wird, sprang Glatzkopf-Li von der Bank herunter und versuchte, sich vor Stieleis-Wangs scharfen Zähnen in Sicherheit zu bringen. Die Situation hatte sich derart zugespitzt, dass er in aller Eile seine Reisetasche und die Weltkarte an sich raffte und Hals über Kopf aus der Schmiedewerkstatt flüchtete. »Dem Rachen des Tigers entronnen«, blieb er vor der Tür stehen und rief den drinnen Versammelten entrüstet zu: »Was soll denn das! Das ist doch absolut unfair! Sie können doch nicht derart ausrasten, bloß weil mal ein Geschäft nicht geklappt hat!
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Man kann sich doch zusammensetzen und in Ruhe über alles reden!« Eigentlich wollte er den sechsen noch weiter gut zureden, doch als er bemerkte, dass Schmied Tong Anstalten machte, sich mit seinem Hammer auf ihn zu stürzen, rief er nur noch hastig: »Na, heute lieber nicht!«, und ergriff gemäß der alten Weisheit, dass der brave Mann sich nicht unnötig in Gefahr begibt, das Hasenpanier. Er rannte so schnell - schneller als jeder Hase -, dass Schmied Tong, der ihn bis zum Ende der Gasse mit seinem Hammer verfolgte, ihm nur in ohnmächtiger Wut hinterher brüllen konnte: »Du verdammter Schweinehund, wenn ich dich erwische, haue ich dich windelweich! Das schwöre ich auf immer und ewig!« Als er nach diesen markigen Worten in seine Werkstatt zurückging und wieder an die 4000 Yuan dachte, die er nun in den Wind schreiben musste, fiel seine Kampfeslust sogleich in sich zusammen wie das Reispflänzchen unter dem Raureif. Mit hängendem Kopf und baumelndem Hammer kehrte er in die Schmiede zurück, zurück zu Zhang, Guan, Yu und Wang, die dort ihrerseits ihrem verlorenen Geld nachtrauerten. Stieleis-Wang fing als Erster an zu weinen, dann schluchzte auch Schneider Zhang los: »Unser sauer verdientes Geld! Ist jetzt alles futsch?« Bei diesen Worten brachen auch Scherenschleifer Guan der Jüngere und Zahnreißer Yu in Tränen aus. Schmied Tong schleuderte den Hammer neben die Esse, ließ sich in Zahnreißer Yus Korbliegestuhl nieder und fing an, mit der Faust auf seinem Schädel herumzuhämmern, als wäre es der Kopf von Glatzkopf-Li, so heftig, dass man ein dumpfes Krachen hörte. »Ich verdammter Bastard! Ich 580
Hundsfott!«, schalt er sich selbst aus. »Wie konnte ich nur diesem verdammten Bastard trauen! Diesem Hundsfott Glatzkopf-Li!« Scherenschleifer Guan der Jüngere und Zahnreißer Yu taten es ihm nach, schlugen sich auch an ihre Köpfe und beschimpften sich als Hundsfotte. Auch bei Mutter Su, die als Einzige ihr Geld nicht eingebüßt hatte, flossen die Tränen, als sie sah, wie verzweifelt ihre Geschäftspartner - ihre ehemaligen Geschäftspartner - waren. »Wie gut, dass ich im Tempel war und Weihrauch geopfert habe ... «, murmelte sie vor sich hin, während sie ihre Augen abtupfte. Nachdem Schmied Tong sich so lange malträtiert hatte, dass er anfing, Sterne zu sehen, stieß er zwischen den Zähnen einen schrecklichen Schwur aus: »Ich will kein Mensch mehr sein, wenn ich diesen Bastard, diesen Glatzkopf-Li, nicht zum Krüppel schlage!« Als der verzweifelt schluchzende Stieleis-Wang das hörte, wischte auch er sich die Tränen ab und gelobte, todesmutig und wild entschlossen wie ein zweiter Jing Ke auf dem Weg zur Ermordung des Königs von Qin: »Ich prügele ihn zum Invaliden!« Da mochten auch Scherenschleifer Guan der Jüngere und Zahnreißer Yu nicht zurückstehen: Guan schwor, er würde Glatzkopf-Li den Schwanz abschneiden, dazu Nase, Ohren, Finger und Zehen, während Yu gelobte, dem Schurken sämtliche Zähne und alle Knochen herauszureißen. Selbst das reichte ihnen noch nicht, um ihren Zorn zu besänftigen, daher schnippelten und rissen sie in ihren blutrünstigen Schwüren weiter an Glatzkopf-Li herum, bis am Ende kaum noch etwas von ihm übrig geblieben war. 581
Kultivierter Mensch, der er war, befleißigte sich Schneider Zhang einer Ausdrucksweise, die an die Entschlossenheit von Kämpfern der Freiwilligenarmee erinnerte. Voller Hass sei er, erklärte er, und er brenne darauf, Glatzkopf-Li den Kopf abzuschlagen. Das sei nicht einfach so dahingeredet oh nein! Unter seinem Bett habe er einen japanischen Säbel versteckt, der sei zwar rostig, aber wenn Scherenschleifer Guan der Jüngere ihn vielleicht zwei Stunden lang bearbeite, würde er wieder blank und scharf sein, und dann könne er Glatzkopf-Li damit köpfen. Als Mutter Su ihre ehemaligen Geschäftspartner so hasserfüllt reden hörte, war sie vor Schreck erbleicht. Da sie Zhangs Drohung für bare Münze nahm, andererseits aber sah, was für schwache Ärmchen der eher an einen zartbesaiteten Buchgelehrten erinnernde Schneider hatte, konnte sie sich nicht enthalten, ihn besorgt zu fragen: »Glatzkopf-Li hat doch einen Nacken, dick wie sein Oberschenkel. Wie willst du den durchtrennen?« Schneider Zhang stutzte, gab ihr im Stillen aber recht und verbesserte sich: »Na, dann werde ich ihn vielleicht nicht köpfen.« »Aber die Eier kriegt er trotzdem abgeschnitten!«, rief Scherenschleifer Guan der Jüngere. Kopfschüttelnd entgegnete Schneider Zhang: »Zu einer solchen Niederträchtigkeit wäre ich nicht imstande.« XVI Die Drohungen von Tong, Zhang, Guan, Yu und Wang waren keine leeren Worte. Wann immer die fünf in der Folgezeit Glatzkopf-Li auf der Straße begegneten, verpassten sie ihm 582
eine Tracht Prügel, und zwar jeder nach seiner Fasson (so wie jeder Schriftsteller ja auch seine Individualität in seinem Werk zum Ausdruck bringt). Schmied Tong zum Beispiel fuhr, sobald er Glatzkopf-Li sah, seine mächtige Pranke aus, mit der er sonst den Hammer schwang, und fegte ihn mit einem einzigen gut platzierten Schwinger aus dem Weg. Ehe Glatzkopf-Li sich wieder aufgerappelt hatte, war der Schmied bereits weitergegangen, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen. Getreu dem Motto »Ein wohlgezielter Hammerschlag bestimmt den Klang des Gongs« schlug er niemals ein zweites Mal zu. Ganz anders Schneider Zhang. Wenn er Glatzkopf-Li traf, stieß er in ohnmächtigem Zorn nur immer wieder »Du! Du!! Du!!!« hervor und hob die Faust gegen ihn. Diese mutierte allerdings sogleich zu einem einzigen ausgestreckten Finger, mit dem er dann kreuz und quer in Glatzkopf-Lis Gesicht herumpikste wie mit einer Nadel. Sein Stil erinnerte eher an die Ein-Finger-Meditation des erfahrenen Kung-Fu-Adepten. Noch stärker von seiner beruflichen Tätigkeit geprägt war Zahnreißer Yus Stil. Seine Rechte, mit der er sonst Zähne zog, landete jedes Mal in Glatzkopf-Lis Mund, sodass das Blut nur so spritzte. Unglücklicherweise zeichneten sich aber auch Lis Zähne auf Yus Faust ab. Das tat dem Zahnreißer so weh, als hätte er sich verbrüht, und nicht Glatzkopf-Li, sondern er selbst war es, der vor Schmerz laut aufschrie und mit der verletzten Hand wedelte, um das Brennen zu lindern. Immerhin, so tröstete er sich, müsse der verdammte Kerl jetzt seine ausgeschlagenen Zähne vom Erdboden aufklauben. Jedoch hatte Glatzkopf-Li bei der nächsten Begegnung immer noch den ganzen Mund voller schöner weißer Zähne. 583
Da ließ er ihn erstaunt sein Gebiss entblößen und zählte nach: Es fehlte tatsächlich kein Einziger! Von nun an seufzte er jedes Mal »Hervorragendes Zahnmaterial!«, wenn er Glatzkopf-Li wieder eins in die Fresse gab. Als genital ließe sich der Stil von Scherenschleifer Guan dem Jüngeren charakterisieren, denn er hatte es auf Glatzkopf-Lis Schritt abgesehen und wandte dabei die Taktik an, »im Osten ein Scheinmanöver zu veranstalten, im Westen aber anzugreifen«, will sagen: Er trat ihn zunächst mehrmals heftig vor die Schienbeine, und wenn sein Opfer sich dann instinktiv bückte und dabei die Beine breitmachte, trat er ihm mit Schmackes in die Eier, woraufhin Glatzkopf-Li sich, vor Schmerz halb ohnmächtig, die Hände auf das Gemächt gepresst, auf der Erde hin und her wälzte. Danach presste er sogleich die Schenkel fest zusammen und schützte seine Geschlechtsteile mit den Händen, sobald er den Scherenschleifer nahen sah. Mochte Guan noch so unbarmherzig nach ihm treten, er würde seine Eier behüten, koste es, was es wolle! Und wirklich: Obwohl Scherenschleifer Guan der Jüngere immer wieder gegen Glatzkopf-Lis Schienbeine und Oberschenkel trat, um ihn dazu zu bewegen, die Beine zu spreizen, richtete er nichts aus, sondern fing lediglich immer mehr zu schwitzen an. »Mach die Beine auseinander!«, schrie er Glatzkopf-Li an, aber der schüttelte nur den Kopf, löste nur die Linke von seinem Schritt und zeigte auf die verborgenen Schätze in seiner Hose: »Die haben's eh schon schwer genug, sind ja unterbunden worden. Verschone sie doch bitte!«, flehte er. »Mit stumpfem Messer Fleisch schneiden«, so lässt sich StieleisWangs Vorgehensweise bei der Bestrafung Glatzkopf584
Lis umschreiben. Er heulte bei jeder Begegnung sofort verzweifelt auf, als hätte er soeben Vater und Mutter verloren, packte Glatzkopf-Li an der Jacke und knallte ihm seine Faust ins Gesicht. Wenn der dann zu Boden ging und versuchte, mit den Händen seinen Kopf zu schützen, stützte StieleisWang sich mit der linken Hand auf Lis Schulter ab und fuhr mit der rechten fort, ihn zu vermöbeln. Das dauerte jedes Mal eine Stunde, abzüglich der zwanzig Minuten, die er zwischendurch brauchte, um wieder zu Atem zu kommen. In diesen Verschnaufpausen wischte sich Stieleis-Wang die Tränen ab und informierte alle Umstehenden, ob sie es hören wollten oder nicht, über seinen herben Verlust: »Fünfhundert Yuan!« In den drei Monaten zwischen lieblichem Lenz und sengendem Sommer richteten Glatzkopf-Lis fünf Gläubiger ihn derart zu, dass er aussah wie ein Kriegsversehrter. Wann immer er sich auf den Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen blicken ließ, hatte er entweder eine blutige Nase und Beulen im Gesicht oder er hinkte und schlenkerte einen ausgerenkten Arm. Überhaupt hatte sich sein Erscheinungsbild gründlich verändert. Von seiner einstigen Grandeur war nichts mehr übrig, seine Kleidung zerlumpt, sein Haar noch länger als das von Marx und der Bart struppiger als der von Engels - wie ein hungriger Bettler, so sah er aus. Als die Haare ihm am Ende bis über die Schultern fielen, verpassten ihm die beiden Geistesfürsten unserer kleinen Stadt Liuzhen neue Spitznamen: Schriftsteller Liu nannte ihn »Beatle-Li«, Dichter Zhao »Michael- Jackson-Li «. Die Leute, die damit nichts anfangen konnten denn internationale Popstars waren ihnen kein Begriff, sie wussten nur von ei585
nem Gesangsstar, und der hieß Deng Lijun -, baten die bei den Namengeber um Auskunft, doch diese ließen sie voller Verachtung stehen: Unmöglich, diese Banausen! Mit diesem Plebs durfte man sich einfach nicht einlassen - nicht einmal die Beatles und Michael Jackson kannten die! Da blieb den wissbegierigen Leuten nichts anderes übrig, als sich an Glatzkopf-Li selbst zu wenden. Der wusste zwar auch nicht Bescheid, ging aber dennoch bereitwillig auf ihre Fragen ein. »Das sind Ausländer«, erklärte er, den Kopf wiegend. So unterschiedlich die Züchtigungen waren, die ihm seine fünf Gläubiger zuteil werden ließen, am meisten Respekt hatte Glatzkopf-Li doch vor Scherenschleifer Guan dem Jüngeren, der es auf sein Gemächt abgesehen hatte. Schmied Tongs wohlgezielte Schwinger taten irrsinnig weh, aber wenigstens war es jedes Mal mit einem einzigen Schlag abgetan. Und Zahnreißer Yu schlug immer weniger hart zu, seit er sich von seinem ausgezeichneten »Zahnmaterial« überzeugt hatte. Am ehesten anfreunden konnte er sich mit Schneider Zhangs kultiviertem Ein- Finger- Kung- Fu, gefolgt von Stie1eis- Wangs Fausthieben, die zwar wie ein Regen auf ihn niedergingen, ihm aber nicht viel ausmachten, weil Wangs Kraft begrenzt und das Fell, das er gerbte, ziemlich dick war. Dennoch sollte es Stieleis-Wang sein, den er am meisten fürchten lernte, als das Frühjahr vorbei war. Sobald nämlich der Sommer begann, schulterte StieleisWang wieder seinen Eiskasten und schlug mit dem Holzklotz dagegen, wenn er seine Ware in den Straßen ausrief. Mit dem nämlichen Holzklotz schlug er nun aber auch auf GlatzkopfLi ein und fügte ihm mit dieser - im doppelten Sinn des Wor586
tes klobigen - Waffe unerträgliche Schmerzen zu, indem er sie mit solcher Wucht auf sein langmähniges Haupt niedersausen ließ, dass ihm Hören und Sehen verging. Hockte er dann, den Kopf mit den Armen schützend, auf der Erde, ließ sich StieleisWang vor ihm auf seinem Eiskasten nieder, beklagte lautstark die verlorenen fünfhundert Yuan und drosch mit dem Holzscheit weiter auf ihn ein, wobei er im Übrigen nicht vergaß, von Zeit zu Zeit seine Ware auszurufen. Glatzkopf-Lis Hände, mit denen er seinen Kopf schützte, sodass sie Stieleis-Wangs wuchtigen Schlägen schutzlos ausgesetzt waren, erinnerten an geschmorte Schweinehaxen, so rot und geschwollen waren sie. Der Kopf war Glatzkopf-Li eben wichtiger als die Hände; schließlich würde er ihn für etwaige zukünftige Geschäfte noch brauchen, so seine Überlegung. Mutter Su, die Augenzeugin wurde, wie Stieleis-Wang mit dem Holzklotz auf Glatzkopf-Li eindrosch, konnte das nicht länger mit ansehen und fiel ihm in den Arm. »Das wird dir bloß irgendwann einmal heimgezahlt«, warnte sie ihn. Stieleis-Wang ließ die Hand sinken und klagte »Fünfhundert Yuan!!!«, worauf Mutter Su entgegnete: »Wie viel auch immer, durch Schläge bekommst du dein Geld nicht zurück!« Als Stieleis-Wang mit geschulterter Eiskiste trübselig abzog, machte Mutter Su dem immer noch auf der Erde hockenden und mit den Armen seinen Kopf schützenden Glatzkopf-Li Vorwürfe: »Du weißt ganz genau, dass die dich verhauen werden! Warum treibst du dich dann trotzdem auf den Straßen herum, statt dich zu Hause zu verstecken?«
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Glatzkopf-Li schaute zu ihr hoch, vergewisserte sich, dass StieleisWang wirklich weg war, und stand dann erst auf. »Zu Hause würde ich mich zu Tode langweilen«, antwortete er, seine Haartolle aus der Stirn schwenkend, und ging davon, als wäre überhaupt nichts passiert. Kopfschüttelnd rief Mutter Su ihm hinterher: »Ein Glück nur, dass ich im Tempel war und geräuchert habe! So habe ich wenigstens kein Geld eingebüßt. Sonst hätte ich dich auch verhauen!« Ohne sich umzudrehen, ging Glatzkopf-Li weiter. Mutter Sus dankbaren Seufzer »Räuchern hilft eben wirklich!« bekam er gar nicht mehr mit. Dichter Zhao hatte immer wieder beobachtet, wie Glatzkopf-Li sich auf den Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen verprügeln ließ, ohne auch nur den Versuch zu machen sich zu wehren. Anfangs rätselte er lediglich, wieso Li es zuließ, dass die fünf Gläubiger ihn monatelang vom Frühling bis in den Sommer - so übel zurichteten und sogar ein Schwächling wie Stieleis-Wang ihn am Schlafittchen kriegen und eine Stunde lang vertrimmen durfte, doch dann gingen seine Gedanken in eine andere Richtung: Hatte der Bastard nicht öffentlich erklärt, er werde den Werktätigen aus ihm - aus einem Dichter! - herausprügeln? Das grenzte an Rufmord und durfte auf gar keinen Fall ungerächt bleiben! Glatzkopf-Lis offensichtliche Schwäche machte ihm Mut, vor den Augen und Ohren der Bewohner unserer kleinen Stadt Liuzhen sein verlorenes Gesicht zurückzuholen. Gesagt, getan. Als eines Tages Stieleis-Wang nach vollzogener Züchtigung von Glatzkopf-Li abließ und mit seinem Eiskasten abzog, nahm Dichter Zhao sogleich seine Stelle ein, 588
trat nach dem immer noch auf der Erde hockenden und mit den Armen seinen Kopf schützenden Glatzkopf-Li und erklärte laut und schallend, damit die Straßenpassanten es auch ja mitkriegten: »Dass ich das noch erlebe! GlatzkopfLi, unser Möchtegern-Michael-Jackson, lässt sich verkloppen und traut sich nicht zurückzuschlagen!« Glatzkopf-Li schaute auf und warf Dichter Zhao einen Blick zu, der mehr als deutlich sagte, dass er keine Lust verspürte, sich mit ihm abzugeben. Doch der Dichter auf seinem hohen Ross nahm an, er habe Angst, und trat erneut zu. »Wolltest du nicht den Werktätigen aus mir herausprügeln?«, rief er. »Wo bleiben denn deine Faustschläge, hm?« Glatzkopf-Li richtete sich langsam auf, woraufhin Dichter Zhao ihn unsanft zur Seite schubste und ihn, halb an die Zuschauer gewandt, sehr von oben herab aufforderte, doch endlich zuzuschlagen. Kaum hatte er sich von den Umstehenden weg- und Glatzkopf-Li wieder ganz zugewandt, prasselten dessen Fausthiebe auf seinen Kopf nieder. Mit seiner dick angeschwollenen linken Hand packte Glatzkopf-Li ihn vorn an der Jacke, während er mit der nicht minder verschwollenen Rechten Zhaos Gesicht bearbeitete. Ehe der Dichter wusste, wie ihm geschah, blutete er über und über. Das Blut rann ihm aus der Nase in den Mund, vermischte sich mit dem aus den aufgeplatzten Lippen und floss weiter übers Kinn den Hals hinunter. Dichter Zhao schrie vor Schmerz. Jetzt wusste er, dass Glatzkopf-Li noch der Alte war. Seine Beine gaben nach, und im nächsten Moment fand er sich auf der Erde kniend wieder. Währenddessen klärte Glatzkopf-Li, ohne in seinem grausamen Strafgericht innezuhalten, den Dichter auf: »Wenn 589
die mich schlagen und ich mich nicht wehre, dann entschädige ich die für ihr verlorenes Geld. Dir aber schulde ich nichts, und deshalb werde ich dich jetzt totschlagen.« So schwindlig dem Dichter von den Fausthieben auch war, diese Worte, klangvoll und emphatisch vorgetragen wie ein Gedicht, verstand er nur allzu gut. Er wusste nun, warum Glatzkopf-Li sich bei den anderen nicht zur Wehr gesetzt hatte, und er wusste, dass es ihm jetzt an den Kragen ging. Blitzschnell schaltete er von seinem bisherigen unkontrollierten Wehgeschrei auf rhythmische Klagelaute um, von denen er annahm, sie ähnelten eher dem Arbeitslied schwer schuftender Kulis. Als Glatzkopf-Li dennoch weiter auf ihn eindrosch, unterbrach er kurz sein »Arbeitslied« und rief: »Er ist doch schon da!« Glatzkopf-Li verstand gar nichts, ließ jedoch immerhin seine Faust ruhen. »Wer soll da sein?«, fragte er. Schnell machte Dichter Zhao noch ein paarmal »Hej-yoh!« und legte seine Hände über Glatzkopf-Lis linke Hand, mit der dieser ihn festhielt. »Hörst du es nicht?«, rief er. »Das ist die Stimme des werktätigen Volkes! Du hast sie aus mir herausgeprügelt.« Jetzt kapierte Glatzkopf-Li. Schmunzelnd sagte er: »Gehört habe ich es, aber das reicht mir noch nicht.« Bei diesen Worten hob er abermals die Faust, woraufhin Dichter Zhao schnell noch ein paarmal »Hejyoh!« von sich gab und dann flehentlich rief: »Ich gratuliere dir!« »Du gratulierst mir?« Glatzkopf-Li verstand abermals gar nichts. »Natürlich!«, bestätigte der Dichter heftig nickend. »Ich gratuliere dir, dass du den Werktätigen aus mir herausgeprügelt hast. Danke!« Da ließ Glatzkopf-Li die Faust sin590
ken und Dichter Zhaos Jacke los. Schmunzelnd klopfte er ihm auf die Schulter und sagte: »Keine Ursache!« Nachdem er drei Monate lang von Tong, Zhang, Guan, Yu und Wang verprügelt worden war, hatte Glatzkopf-Li endlich sein Ansehen wiedergewonnen. Die Bewohner unserer kleinen Stadt Liuzhen sahen schadenfroh zu, wie Dichter Zhao Hals über Kopf das Weite suchte. Als sie dann bemerkten, dass auch Schriftsteller Liu sich unter ihnen befand, wanderten ihre Blicke erwartungsvoll zwischen dem auf der Erde sitzenden und sich verschnaufenden Glatzkopf-Li und dem Schriftsteller hin und her. Man entsann sich, wie Li den Schriftsteller seinerzeit verdroschen hatte, und hoffte, er würde jetzt aufspringen und ein zweites Mal den Werktätigen aus Liu herausprügeln. Ehe es so weit war, diskutierte man äußerst angeregt über den auf der Erde rastenden Glatzkopf-Li. Abgemagert sei er (unregelmäßige Mahlzeiten?), und seine fünf Gläubiger hätten ihn ja wirklich übel zugerichtet (blutige Nase, Beulen im Gesicht, baumelnder Arm, nachgezogenes Bein). Deswegen hätte man auch nie gedacht, dass er sich in diesem Zustand! wie ein Milan, der sich auf ein Küken stürzt, den wohlgenährten, vor Gesundheit strotzenden Dichter Zhao vornehmen und ihn versohlen würde wie ein ungezogenes Kind. Mit einem Seitenblick auf Schriftsteller Liu kamen die Leute zu dem Schluss: »Ein abgezehrtes Kamel ist eben immer noch größer als ein Pferd.« Schriftsteller Liu war sich bewusst, dass diese Worte nicht ohne Hintersinn waren, die Leute auf ein zünftiges Handgemenge spekulierten und hofften, er würde jetzt in Dichter Zhaos Fußstapfen treten und sich mit Glatzkopf-Li anlegen. 591
Vor Aufregung lief er rot an und spielte einen Moment lang mit dem Gedanken wegzulaufen, doch damit hätte er sich in ganz Liuzhen zum Gespött gemacht. Da ihm sein »Gesicht« lieb und teuer war, blieb ihm also nichts anderes übrig als auszuharren. Unterdessen versuchten die Leute zunächst, Glatzkopf-Li anzustacheln. Doch der saß, mit dem Rücken an eine Platane gelehnt, immer noch auf der Erde und war vollauf damit beschäftigt, Spucke zu schlucken, um seinen knurrenden Magen zu besänftigen. Da er überhaupt nicht darauf achtete, was um ihn herum geredet wurde, wandten die Leute sich wieder Schriftsteller Liu zu und bemühten sich, diesen aufzuhetzen. Es sei schon erstaunlich, sagte jemand, wie wenig Rückgrat diese Literaten doch hätten - Dichter Zhaos unterwürfiges Gebaren gerade eben sei ja noch widerlicher gewesen als das von Landesverrätern und ähnlichem Gesocks. Jedenfalls habe er sowohl selbst das Gesicht verloren als auch Schande über seine Eltern gebracht. »Nicht nur über seine Eltern«, warf ein anderer ein, »auch, zum Beispiel, über Schriftsteller Liu ... « »Genau!«, stimmten die Leute einhellig zu. Schriftsteller Liu war hin- und hergerissen. Diese Bastarde, dachte er, die wollen bloß Unfrieden unter den Menschen stiften. Jetzt hieß es auf der Hut sein und nichts tun, womit er Glatzkopf-Li einen Vorwand für neuerliche Faustschläge und Fußtritte liefern würde! Andererseits - die Augen aller Zuschauer waren auf ihn gerichtet, da würde es ohne ein paar passende Worte von ihm wohl nicht abgehen ... Geistesgegenwärtig trat er einen Schritt vor und richtete laut und ver592
nehmlich das Wort an die Umstehenden: »Ihr habt recht, dieser Dichter Zhao hat Schande über alle Literaten unter dem Himmel gebracht!« Wieder einmal hatte Schriftsteller Liu gezeigt, dass er in unserer kleinen Stadt Liuzhen zu Recht als Geistesfürst galt. Denn mit einem einzigen Satz hatte er sämtliche Autoren aller Zeiten - egal ob Chinesen oder Ausländer - gewissermaßen zu Geiseln genommen. An der allgemeinen Verblüffung merkte er, dass die Stimmung umgeschlagen war, und fuhr im Vollgefühl seiner intellektuellen Überlegenheit fort: »Schande gebracht hat er auch über unseren großen Lu Xun, über Li Taibo und Du Fu, nicht zu vergessen Qu Yuan, der sich bekanntlich als glühender Patriot vor Kummer entleibte, als das Vaterland in Gefahr war. Über sie alle hat er Schande gebracht! Und, nicht zu vergessen, auch über die ausländischen Dichter, Tolstoi und Shakespeare zum Beispiel oder, noch weiter zurück, Dante und Homer ... All diese berühmten Persönlichkeiten haben wegen Dichter Zhao das Gesicht verloren!« Allgemeine Heiterkeit. Auch Glatzkopf-Li grinste; ihm gefiel sehr, was Schriftsteller Liu gerade geäußert hatte. Höchst zufrieden sagte er: »So viele berühmte Leute haben das Gesicht verloren! Und das alles wegen mir! Hätte ich nie gedacht!« In diesem Moment kam Song Gang auf seinem blitzenden »Ewig« angeradelt. Er betätigte unaufhörlich seine Klingel, um sich einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen, die die Straße verstopfte, denn er hatte es eilig, weil er Lin Hong in der Wirkwarenfabrik abholen wollte. Durch das Klingeln wusste Glatzkopf-Li sofort, dass sein Bruder in der 593
Nähe war. Er zog sich an der Platane, unter der er gehockt hatte, hoch und rief ihm zu: »Song Gang! Song Gang, ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen ... « XVII Seit der Eheschließung von Song Gang und Lin Hong war über ein Jahr ins Land gegangen, und ihr blitzendes Fahrrad Marke »Ewig« erregte schon seit zwei Jahren auf den Straßen von Liuzhen Aufsehen, zum al es von Song Gang täglich poliert wurde, sodass es immer noch aussah wie neu. Und jeden Tag setzte sich Lin Hong auf den Rücksitz, schlang die Arme um die Hüften ihres Mannes und schmiegte ihr Gesicht so vertrauensvoll an seinen Rücken, wie sie sich nachts in ihr Kissen kuschelte. Die alten Leute in unserer kleinen Stadt Liuzhen, die sahen, wie das junge Paar bei Wind und Wetter auf seinem »Ewig« unterwegs war, und hörten, wie das melodische Bimmeln der Fahrradglocke zuerst immer lauter, dann wieder leiser wurde, waren sich einig, diese bei den seien vom Himmel selbst füreinander bestimmt. Für Lin Hong war es eine Genugtuung, dass Glatzkopf-Li in Schwierigkeiten geraten war. Früher hatte sich ihr Gesicht verfinstert, sobald dieser Name nur fiel, jetzt aber konnte sie über ihn sogar lachen. Dazu erklärte sie: »Ich wusste, es würde so kommen! Solche Leute ... « Den Rest ließ sie ungesagt, ihr verächtliches Schnaufen war deutlich genug. Je weniger Worte du über ein derart mieses Subjekt verlierst, dachte sie, desto besser! Sonst fällt es womöglich noch auf dich selbst zurück. Fragte sie jedoch ihren Mann »Hab ich nicht recht?«, blieb der freilich stumm, denn ihm bereiteten die augenblicklichen 594
Lebensumstände seines Bruders schlaflose Nächte. Song Gangs Schweigen wiederum erboste Lin Hong. Sie puffte ihn in die Seite und rief: »Nun sag doch auch mal was!« Er nickte gehorsam, doch dann murmelte er: »Als Direktor hat er sich immerhin sehr bewährt ... « »Direktor?«, entgegnete Lin Hongverächtlich. »Den Leiter einer Geschützten Werkstatt nennst du Direktor?« Song Gang blickte sie an und empfand sofort wieder tiefe Dankbarkeit für das Glück, der Ehemann einer so schönen Frau zu sein. Lin Hong, die sich sein Lächeln nicht erklären konnte, fragte: »Worüber lachst du?« »Ich bin eben ein Glückspilz!«, antwortete er. Sosehr er sein Glück genoss, so schwer lastete auf ihm die Sorge um Glatzkopf-Li. Sie verfolgte ihn wie ein Schatten, der sich nicht abschütteln ließ. Im Stillen machte er dem Bruder Vorwürfe, dass er seinen schönen Posten als Werkleiter um irgendwekher Geschäftemacherei willen aufgegeben hatte, die ihm letztlich nichts als Verluste und einen Haufen Schulden eingetragen hatte, ganz abgesehen von den erbarmungslosen Schlägen seiner erbosten Gläubiger. Eines Nachts erschien ihm Li Lan im Traum. Zuerst lief sie mit ihm und Glatzkopf-Li an der Hand die Hauptstraße von Liuzhen entlang, später lag sie auf dem Totenbett und beschwor ihn, auf den Bruder aufzupassen. Darüber brach er in Tränen aus, sodass Lin Hong wach wurde, ihn rüttelte und aufgeregt fragte, was mit ihm los sei. Song Gang schüttelte den Kopf, dachte über seinen Traum nach und sagte, ihm sei seine Mutter erschienen. Nach kurzem Zögern erzählte er ihr auch den Rest seines Traums und erklärte, warum er so erschüttert sei: 595
Er habe Li Lan versprochen, sich um Glatzkopf-Li zu kümmern und im Notfall für ihn seine letzte Schüssel Reis und sein letztes Hemd zu opfern ... Lin Hong gähnte und unterbrach ihn: »Dabei war sie ja gar nicht mal deine richtige Mutter!« Song Gang stutzte und setzte schon zur Gegenrede an, doch dann merkte er an ihren regelmäßigen Atemzügen, dass sie bereits wieder eingeschlafen war. Da verschluckte er, was ihm auf der Zunge brannte. Lin Hong hatte nur ein sehr ungefähres Bild dessen, was die Brüder als Kinder durchgemacht hatten, und ahnte nicht, dass sich diese Erlebnisse Song Gangs Gedächtnis unauslöschlich eingebrannt hatten. Sie wusste nur, er war ihr Mann, der Mann, der sie jeden Abend zärtlich umarmte, sodass sie sanft in das Reich der Träume hinüberglitt. Seit der Hochzeit war Lin Hong für die Verwaltung des gemeinsamen Geldes zuständig. Da sie der Ansicht war, dass Song Gang bei seiner Größe gewiss schneller hungrig als andere werden würde, steckte sie ihm zwanzig Fen und für hundert Gramm Lebensmittelmarken in die Tasche. Das sei für eine kleine Stärkung zwischendurch, erklärte sie. Penibel, wie sie war, kontrollierte sie jeden Tag seine Taschen, um Geld und Marken zu ersetzen, falls sie verbraucht sein sollten. Doch fand sie über lange Zeit stets dasselbe Geld und dieselben Marken unberührt wieder vor. Eines Tages fragte sie Song Gang ärgerlich, warum er denn so stur sei. »Ich war eben nicht hungrig«, antwortete er lächelnd. »Seit ich verheiratet bin, habe ich noch nie Hunger gehabt!« Da musste auch Lin Hong lachen. Abends im Bett jedoch streichelte sie ihm zärtlich über den Bauch und wollte den 596
wahren Grund wissen. Er umarmte sie und fing bewegt an zu reden: Dass sie selbst stets so sparsam und genügsam sei und jeden Fen zweimal umdrehe, ehe sie ihn ausgebe; dass sie die besten Brocken immer ihm zuschiebe; dass sie beim Einkaufen nie an sich selbst denke, sondern immer nur daran, was ihm vielleicht noch fehlen könnte. Zum Schluss bekannte er wahrheitsgemäß, er habe sehr wohl öfter einmal Hunger gehabt, es aber nicht über sich gebracht, das Geld und die Lebensmittelmarken in seiner Tasche anzurühren. Lin Hong erwiderte, sein Körper gehöre jetzt ihr, ihr zuliebe müsse er gut für ihn sorgen. Er müsse ihr versprechen, sich in Zukunft etwas zu essen zu kaufen, wenn er hungrig sei. Song Gang hing wie in Trance an ihren Lippen, nickte gehorsam und machte an den passenden Stellen »Hm!«. Als seine Frau, friedlich an ihn gekuschelt wie ein Baby, eingeschlafen war und ihr ruhiger Atem leicht über seinen Hals strich, fand er lange Zeit keinen Schlaf und streichelte ihren brennend heißen, glatten Körper, der ihn an ein wärmendes Feuer erinnerte. Wenn Lin Hong in der Folgezeit bei der Taschenkontrolle feststellte, dass Song Gang nach wie vor Geld und Lebensmittelmarken nicht verbraucht hatte, und ihn kopfschüttelnd zur Rede stellte, behauptete er nicht mehr wie früher, er habe keinen Hunger gehabt, sondern antwortete wahrheitsgemäß: »Ich bringe es einfach nicht fertig.« Mehrmals erinnerte sie ihn daran, was er ihr versprochen habe, doch es half alles nichts, er rührte das Geld nicht an. Einmal waren sie wieder mit dem Fahrrad unterwegs zur Wirkerei und Lin Hang hatte wie üblich die Arme um ihn gelegt und das Gesicht an seinen Rücken geschmiegt, da redete 597
sie ihm wieder einmal zu: »Tu's mir zuliebe, ja?« Song Gang aber entgegnete wie jedes Mal »Ich bringe es nicht fertig!« und betätigte heftig seine Fahrradklingel. Diesmal jedoch war seine Tasche abends leer. Nachdem er Lin Hong zur Arbeit gebracht hatte und selbst auf dem Weg zur Metallfabrik war, war er nämlich seinem halb verhungerten Bruder begegnet. Glatzkopf-Li hatte gerade ein holziges Stück Zuckerrohr, das jemand weggeworfen hatte, aufgeklaubt und knabberte im Gehen daran herum. So heruntergekommen er inzwischen war - er litt ständig Hunger, ließ einen verletzten Arm baumeln und zog ein Bein nach -, nach außen hin ließ er sich nichts anmerken. Auch jetzt kaute er demonstrativ genießerisch an seiner Zuckerrohrwurzel, als handelte es sich um die größte Delikatesse. Song Gang auf seinem Rad hatte er sehr wohl kommen sehen, doch tat er so, als hätte er ihn nicht erkannt, und drehte schnell den Kopf zur Seite. Song Gang ging es durch und durch, seinen Bruder in dieser traurigen Verfassung zu sehen. Er hielt vor ihm an und sprang vom Rad. »Glatzkopf-Li!«, rief er. Ohne von seinem Zuckerrohr abzulassen, blickte der sich suchend nach allen Seiten um und fragte: »Hat mich jemand gerufen?« »Ich habe dich gerufen!«, sagte Song Gang und reichte ihm das Geld und die Lebensmittelmarken, die er inzwischen aus seiner Tasche gekramt hatte. »Hier! Kauf dir ein paar Baozi.« Glatzkopf-Li, der eigentlich vorgehabt hatte, seine Komödie weiterzuspielen, strahlte beim Anblick von Geld und Marken auf und riss sie dem Bruder förmlich aus der Hand. »Song 598
Gang«, sagte er liebevoll, »ich wusste, du lässt mich nicht im Stich. Und warum? Weil wir Brüder sind und es immer bleiben werden, mögen auch Himmel und Erde einstürzen!« Von da an winkte er Song Gang stets mit heftigen Armbewegungen zu sich, wenn er ihn auf seinem Rad nahen sah. Dann nahm er das Geld und die Lebensmittelmarken, die der Bruder aus der Tasche zog, so selbstverständlich entgegen, als wäre es sein Eigentum, das er Song Gang nur mal kurz zum Halten gegeben hatte. XVIII Nachdem Glatzkopf-Li an jenem Tag Dichter Zhao so eindrucksvoll verdroschen und Schriftsteller Liu öffentlich blamiert hatte, hockte er unter seiner Platane am Straßenrand, schluckte Spucke gegen den Hunger und hörte zu, was die Leute untereinander so redeten. Als er dann am Klingeln des »Ewig« merkte, dass sein Bruder in der Nähe war, sprang er auf und rief ihm - fast vorwurfsvoll - zu, dass er den ganzen Tag noch nichts gegessen habe. Daraufhin verstummte die Klingel sofort, denn Song Gang war abgesprungen und manövrierte sein Rad, die Querstange zwischen den Beinen, durch die Menschenmenge in Richtung Glatzkopf-Li. Als er den Bruder wie einen Bettler dort hocken sah, wollte er das »Ewig« abstellen, um mit ihm zu reden, aber Glatzkopf-Li machte eine abwehrende Geste und sagte: »Fahr ruhig weiter, gib mir bloß schnell das Geld!« Song Gang kramte zwei Zehn-Fen-Scheine aus der Hosentasche und reichte sie Glatzkopf-Li, der sie mit einer so hochnäsigen Miene entgegennahm, als wäre sein Bruder ein säumiger Schuldner. Als dieser dann noch in seinen Taschen 599
nach den Lebensmittelmarken suchte, wedelte Glatzkopf-Li mit den Händen wie jemand, der lästige Mücken verscheucht, denn er wusste ja, dass Song Gang es eilig hatte, weil er Lin Hong von der Arbeit abholen wollte. »Schon gut! Fahr nur!«, sagte er. Inzwischen hatte Song Gang die Marken gefunden und hielt sie Glatzkopf-Li hin, aber der schüttelte seine lange Mähne und sagte: »Brauche ich nicht.« »Hast du denn Marken?«, fragte Song Gang erstaunt. »Fahr schon, Lin Hong wartet!«, antwortete Glatzkopf-Li mürrisch. Song Gang nickte und steckte die Lebensmittelmarken wieder ein, fand eine Lücke in der Menschenmenge und schwang sich aufs Rad. Zuletzt drehte er sich noch einmal zu seinem Bruder um und rief: »Also, ich fahre dann mal!« Glatzkopf-Li blickte dem pfeilschnell davonradelnden und seine Klingel betätigenden Song Gang nach und sagte zu den Umstehenden: »Mein Bruder ist einfach zu gefühlsdusslig.« Dann beobachteten die Einwohner unserer kleinen Stadt, wie er die zwei Zehn-Fen-Scheine in der Hand, die lange Mähne hin und her schwingend - Kurs auf den» Volksgasthof« nahm. Hungrig, wie er war, würde er dort bestimmt zwei Portionen Brühnudeln hintereinander verputzen, nahmen sie an. Doch sie hatten sich geirrt, denn er ging an dem Gasthaus vorbei, ohne es auch nur eines Blickes zu würdigen, und betrat zur allgemeinen Überraschung den Friseurladen daneben. Ob er vor lauter Hunger nicht mehr ganz richtig im Oberstübchen ist und Nudeln mit Haaren verwechselt?, mutmaßte jemand. Von der Form her wäre das ja denkbar: beide lang und dünn ... Jemand anders wandte ein, dann 600
müssten es aber Frauenhaare sein, Männerhaare wären zu kurz. Die Vorstellung, dass Glatzkopf-Li Frauenhaare statt Nudeln verspeiste, erregte allgemeine Heiterkeit. Schriftsteller Liu jedoch, der sich im Stillen über seine kleinkarierten Mitbürger aufregte, fühlte sich bemüßigt, diese absurde Vermutung richtigzustellen: Selbst wenn Glatzkopf-Li am Verhungern sei, würde er keine Haare fressen. Nein, eine Glatze ließe er sich jetzt scheren, so wie dieser ... dieser Wie-hießerdoch-gleich bei Lu Xun. Glatzkopf-Li würde sich, sobald er ein bisschen Geld in den Fingern hätte, niemals mit Baozi vollschlagen, sondern erst einmal für seinen Kopf sorgen. »Dieser verdammte Kerl ist und bleibt eben ein unverbesserlicher Glatzkopfl«, schloss er. Und tatsächlich: Als Glatzkopf-Li aus dem Friseurladen kam, hatte er wieder seine gewohnte Frisur. Am nächsten Tag sahen ihn die Bewohner unserer kleinen Stadt Liuzhen mit spiegelnder Glatze die Straße entlanggehen. Wundersamerweise sah auch sein Gesicht nicht mehr so grün und blau und verschwollen aus, sondern geradezu rosig, als hätte er soeben einen Teller Fleisch und einen ganzen Fisch verdrückt, und wenn er unterwegs Bekannte begrüßte, klang seine Stimme hell und klar, mochte der hungrige Mann ansonsten auch eher wie ein Kriegsinvalide aussehen. Leute, die ihn rülpsend und sich den Bauch streichelnd trafen, fragten ihn, mit was für seltenen Köstlichkeiten er sich wohl vollgestopft habe, dass er jetzt unentwegt aufstoßen müsse. »Nichts habe ich gegessen!«, erwiderte Glatzkopf-Li und strich sich über den leeren Bauch. »Da drin ist nur Luft.«
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Er war auf dem Weg zur Geschützten Werkstatt, wo er mehr als sieben Monate nicht mehr gewesen war. Schon als er den Hof betrat, hörte er, wie die bei den hinkenden Leiter im Büro sich wüste Beschimpfungen an den Kopf warfen: Sie waren also wieder beim GoSpiel und stritten sich über zurückgenommene Züge. An der offenen Tür des Büros entfuhr ihm ein besonders lauter Luft-Rülpser, woraufhin die beiden Streithähne sich umdrehten, ihre Spielsteine fallen ließen und eilends auf ihn zuhinkten. »Direktor Li! Direktor Li!«, begrüßten sie ihn freudig. Dann nahmen sie ihn in die Mitte und gingen mit ihm in die Werkhalle nebenan, wo die drei geistig Behinderten, vier Blinden und fünf Gehörlosen vor sich hin dösten. Die beiden Hinkebeine riefen: »Direktor Li ist da!« Nachdem er über ein Vierteljahr lang von Tong, Zhang, Guan, Yu und Wang auf je unterschiedliche Weise verprügelt worden war, gewann Glatzkopf-Li mit der Rückkehr in die Geschützte Werkstatt seinen einstigen Glanz zurück. Seine vierzehn getreuen Paladine umringten ihn neugierig, wunderten sich über sein verbeultes Gesicht und die rot geschwollenen Hände und fragten aufgeregt, wie es dazu gekommen sei, wobei die drei geistig Behinderten, die direkt neben ihm standen, in ihrer Erregung seine Glatze mit Spucketröpfchen benetzten. Dem freudestrahlenden GlatzkopfLi machte das jedoch nichts aus, er wischte lachend die Spucke fort und genoss in vollen Zügen die Liebesbeweise seiner ehemaligen Schutzbefohlenen. Ihre Fragen beantwortete er jedoch wohlweislich nicht, schließlich wollte er sein Gesicht nicht gleich wieder verlieren. Als sich nach zehn Minuten die allgemeine Begeisterung ein wenig gelegt hatte, sodass sein 602
heftiges Rülpsen wieder zu hören war, fragten die beiden hinkenden Leiter ihn neidisch, was für gute Sachen es mittags bei ihm gegeben habe. »Gute Sachen?«, fragte er zurück. Dann brachte er mit beschwichtigenden Gesten seine vierzehn Paladine zum Schweigen und fragte die beiden Hinkebeine: »Wer hat hier die beste Nase?« Der hinkende Leiter sah seinen hinkenden Stellvertreter an, dessen Blick wiederum zu den vier Blinden wanderte. »Die Blinden haben die besten Nasen«, sagte er. Aber Glatzkopf-Li schüttelte den Kopf. »Sie haben die besten Ohren, und die da«, dabei zeigte er auf die fünf Gehörlosen, »die haben die besten Augen. Ihr habt dafür die stärksten Arme«, tröstete er die beiden Hinkebeine. Dann bedeutete er dem neben ihm stehenden Debilen - es war der seinerzeit aus Liebe zu Lin Hong ausgeflippte Mann -, er solle die Nase vor seinen Mund halten und seine Rülpser schnuppern. »Na? Riechst du Fleisch? Oder Fisch?«, fragte er. Weil der Mann aber nur weiter blöd grinste, gab er kopfschüttelnd selbst die Antwort: »Nein! Es riecht weder nach Fleisch noch nach Fisch.« Sofort folgte der Schwachsinnige seinem Beispiel und schüttelte ebenfalls den Kopf. Zufrieden forderte GlatzkopfLi ihn auf, es noch einmal zu probieren, rülpste und fragte, ob er vielleicht Reis rieche. Als der Mann, dem Gesetz der Trägheit folgend, weiter den Kopf schüttelte, lachte Glatzkopf-Li befriedigt auf und ließ ihn dann die Luft im Raum schnuppern. Anschließend fragte er: »Na, riecht die Luft so wie mein Rülpser?«
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Immer noch dem Trägheitsgesetz unterliegend, schüttelte der geistig Behinderte weiter den Kopf, sodass Glatzkopf-Li abermals genötigt war, selbst die Antwort zu geben. Er nickte also und sagte: »Meine Rülpser riechen ganz genau wie die Raumluft.« Als der Mann Glatzkopf-Lis Nicken sah, machte er es ihm sofort nach. Zufrieden lachend sagte Glatzkopf-Li zu seinen Paladinen: »Ihr seht, ich stoße nur Luft auf. Und warum? Weil ich den ganzen Tag noch nichts gegessen habe - ach, was sage ich! Die letzten drei Monate habe ich mich nicht ein einziges Mal satt gegessen, drei Monate lang habe ich immer nur Luft aufgestoßen!« Die hinkenden Leiter waren die Ersten, die über seine Worte erschraken, gefolgt von den vier Blinden. Die fünf Gehörlosen, die ja nichts mitgekriegt hatten, setzten ebenfalls erschrockene Mienen auf, als sie die entsetzten Gesichter der Hinkebeine und der Blinden sahen. Nur die drei geistig Behinderten zeigten keinerlei Reaktion und lachten weiter blöd vor sich hin. Glatzkopf-Li beschloss, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war, streckte die geöffneten Hände aus und sagte: »Und jetzt fasst ihr schön in eure Taschen und holt euer Geld und eure Lebensmittelmarken raus, damit euer armer Direktor Li sich mal wieder satt essen kann!« Die Hinkebeine begriffen das sofort und steckten folgsam die Hände in die Taschen, und auch die vier Blinden begannen, in ihren Hosentaschen zu wühlen. Die fünf Gehörlosen hatten zwar nichts gehärt, die anderen aber genau beobachtet und daher verstanden, dass sie ihr Geld und ihre Marken spenden sollten. Sie kehrten ihre Taschen nach außen, zum Zeichen, dass sie leer waren. Nur die drei kichernden 604
Schwachsinnigen taten nichts dergleichen. Deshalb durchsuchten die beiden Hinkebeine, nachdem sie mit ihren eigenen Taschen fertig waren, die der drei Schwachsinnigen, doch auch da war nichts zu holen: »Scheiße! Kein Geld, keine Marken!«, schimpften sie. Glatzkopf-Li zählte gewissenhaft die paar Münzen und die wenigen zerknitterten Lebensmittelmarken, die am Ende zusammenkamen. Es waren insgesamt achtundvierzig Fen und Marken für gerade mal ein Pfund Getreideprodukte. Bedauernd blickte er auf und sagte: »Wenn ich sechsundzwanzig Fen mehr hätte, würde es für zwei Portionen Nudeln der drei Köstlichkeiten reichen.« Daraufhin kehrten die bei den Hinkebeine ebenfalls ihre Taschen um, damit er sah, dass sie nichts zurückbehalten hatten, und forderten auch die vier Blinden auf, es ihnen gleichzutun. Nach einem Blick auf die bereits umgekrempelten Taschen der drei geistig Behinderten und fünf Gehärlosen sagten sie betrübt zu Glatzkopf-Li: »Da ist nichts mehr.« Mit großmütiger Gebärde erwiderte Glatzkopf-Li: »Auch gut - für fünf Portionen Brühnudeln reicht es immerhin.« Sodann verließ er die Geschützte Werkstatt und begab sich in den »Volksgasthof« unserer kleinen Stadt Liuzhen, geleitet von seinen vierzehn getreuen Paladinen, deren achtundzwanzig Jacken- und achtundzwanzig Hosentaschen wie nach einem gerade überstandenen Raubüberfall nach außen gekrempelt, deren Mienen aber stolz und glücklich waren, als hätten sie soeben ihren Monatslohn in Empfang genommen. Wieder gingen die bei den Hinkebeine voran, dahinter Arm in Arm die drei geistig Behinderten und am Schluss die vier 605
Blinden mit ihren Bambusstäcken. Glatzkopf-Li und die fünf Gehärlosen liefen in zwei Dreiergruppen rechts und links daneben, um die Truppe zusammenzuhalten. Die Erfahrungen, die sie bei dem chaotischen Liebeswerber-Marsch auf Lin Hongs Wirkwarenfabrik gesammelt hatten, halfen allen Beteiligten, diesmal in vorbildlicher Ordnung wie eine gut gedrillte Ehrengarde die Straße entlangzumarschieren. Nach dem eindrucksvollen Einzug in den »Volksgasthof« knallte Glatzkopf-Li die Handvoll Münzen, die er eingesammelt hatte, auf den Tisch der Kassiererin und wollte gerade dasselbe mit den verkrumpelten Marken machen und bestellen, da kam ihm sein hinkender Vorgänger/Nachfolger als Leiter zuvor: »Fünf Portionen Brühnudeln!« »Unsinn!«, korrigierte ihn Glatzkopf-Li. »Einmal Nudeln der drei Köstlichkeiten und einmal Brühnudeln.« Der Hinkende fragte skeptisch: »Aber du hast doch drei Monate gehungert! Deine Luft-Rülpser? ... « Glatzkopf-Li schüttelte den Kopf. »Selbst wenn ich drei beschissene Jahre lang gehungert hätte - fünf Schüsseln Brühnudeln auf einmal wären zu viel. Mehr als zwei Portionen schaffe ich nicht, da nehme ich natürlich wenigstens einmal die drei Köstlichkeiten.« Das leuchtete dem Hinkebein ein. »Einmal Köstlich, einmal Brühe!«, instruierte er die Kassiererin mit lauter Stimme. Die Abkürzung, die ihm so flott von der Zunge ging, gefiel Glatzkopf-Li sehr. »Das hast du gut gesagt!«, lobte er ihn. Dann nahm er an einem runden Tisch Platz, immer noch inmitten seiner vierzehn Paladine: die bei den Hinkebeine links und rechts von ihm, wie es ihnen als Leiter beziehung606
sweise stellvertretendem Leiter gebührte; neben ihnen die drei geistig Behinderten und fünf Gehörlosen, die sich erst interessiert in der Gaststätte umsahen und dann ihre Aufmerksamkeit auf die Passanten auf der Straße richteten; und schließlich, Glatzkopf-Li gegenüber, die vier freundlich lächelnden Blinden mit ihren Bambusstäcken. Der Kellner, der mit den zwei Portionen Nudeln kam und sah, dass fünfzehn Personen am Tisch saßen, wusste nicht, für wen das Essen bestimmt war. Glatzkopf-Li winkte erregt: »Hierher! Beides für mich!« Als dann die dampfenden Schüsseln vor ihm standen, zeigte er mit den Essstäbchen erst auf die eine, dann auf die andere und hob in seiner Vorfreude auf den kommenden Genuss zu einer kleinen Rede an: »Welche soll ich zuerst essen? Die drei Köstlichkeiten? Das hätte den Vorteil, dass ich gleich mit dem Besten anfange. Der Nachteil wäre jedoch, ich könnte hinterher den Geschmack der Brühnudeln nicht mehr würdigen. Mit anderen Worten: Ich würde nur dem schnellen Erfolg nachjagen. Fange ich dagegen mit den Brühnudeln an, kriege ich den Geschmack sowohl der Brühnudeln als auch der drei Köstlichkeiten mit, obendrein wäre es sogar noch eine Steigerung. So handelt der Weitsichtige, der seine hohen Ideale nicht aus den Augen verliert.« Noch ehe Glatzkopf-Li mit seiner Rede fertig war, härte er das Geräusch der heruntergeschluckten Spucke in vierzehn Kehlen und sah die Speichelfäden an den sechs Mundwinkeln der drei geistig Behinderten. Da wusste er, wenn er jetzt nicht selbst reinhaute, würden es andere für ihn tun. »Scheiße! Ich esse erst die Köstlichkeiten!«, rief er. Mit der linken Hand schirmte er die Brühnudeln ab und begann, die Ess607
stäbchen in der rechten, das Gesicht fast in der Schüssel mit den Nudeln der drei Köstlichkeiten vergraben, zu schnuppern, zu kauen und zu schlürfen und sah erst wieder auf, als der Napf leer war. Dann wischte er sich das Fett von den Lippen und den Schweiß von der Glatze. Als er dabei das Wiederkäuen der tapfer ihre Spucke schluckenden vierzehn Paladine härte, versprach er ihnen: »Wenn ich später mal Geld habe, kriegt ihr jeden Tag eine Schüssel Nudeln der drei Köstlichkeiten!« Da schwoll das Gebrodel in ihren Mündern so bedrohlich an, dass Glatzkopf-Li sich schleunigst über die Brühnudeln hermachte. In Windeseile hatte er auch diese Schüssel bis auf den letzten Tropfen Brühe geleert. Prompt härte auch das geräuschvolle Schlucken der vierzehn Paladine auf, die mit sehnsuchtsvollen Blicken auf die leeren Schüsseln starrten. Als er sich erleichtert über den Mund wischte, taten es ihm die bei den Hinkebeine, die vier Blinden und die fünf Gehärlosen nach, nur die drei geistig Behinderten sabberten weiter vor sich hin. Glatzkopf-Li wischte sich noch einmal den Schweiß von der Stirn, stand auf und sprach voll innerer Bewegung zu seinen Mannen: »Über euch der blaue Himmel, unter euch die weite Erde, dazwischen ihr selbst - beim Himmel und bei der Erde schwäre ich euch: Ich bin entschlossen, als euer Direktor zu euch zurückzukommen!« Die vierzehn Paladine waren starr vor Staunen. Als Erste reagierten die vier Blinden; sie fingen an zu klatschen. Die beiden Hinkenden schlossen sich dem Applaus sofort an, was für die fünf Gehörlosen, die zwar nicht wussten, worum es ging, aber ihre bei den Leiter klatschen sahen, das Signal war, ebenfalls zu applaudieren. Als Letzte folgten die drei immer 608
noch sabbernden geistig Behinderten dem Beispiel der anderen. Geschlagene fünf Minuten dauerte die Huldigung seiner Gefolgsleute, die Glatzkopf-Li mit stolz erhobenem Haupt und hervorgestreckter Brust lächelnd entgegennahm. Danach verließ er mit ihnen das gastliche Etablissement und schlug die Richtung des Amtes für Zivilverwaltung ein. Wie schon auf dem Weg in den »Volksgasthof« zog seine Kohorte in musterhafter Ordnung durch die Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen. Glücklich und zufrieden vor sich hin rülpsend, lief Glatzkopf-Li neben den bei den hinkenden Leitern her und streichelte ab und zu seinen endlich wieder gut gefüllten Bauch. Die beiden fragten ihn kichernd: »Jetzt sind es aber keine Luft-Rülpser mehr, wie?« »Natürlich nicht!«, bestätigte Glatzkopf-Li mit Entschiedenheit und leckte sich die Mundwinkel, genießerisch den eben getanen Rülpsern nachschmeckend. »Köstliche Rülpser! Rülpser der drei Köstlichkeiten sind das«, fügte er glücklich hinzu. Als sie fast schon am Ziel waren, kam es Glatzkopf-Li so vor, als schmeckten die Rülpser irgendwie anders. So eifrig er die Zunge spielen ließ, der wunderbare Geschmack von eben wollte sich nicht wieder einstellen. »Scheiße!«, sagte er zu dem hinkenden Werkleiter. »Ich hätte doch nicht die drei Köstlichkeiten zuerst essen sollen. Der Geschmack ist total weg!« »So schnell?«, staunte der Hinkende. »Du stößt aber doch noch auf?« »Brühnudeln!«, erwiderte Glatzkopf-Li, wobei er sich die Lippen abwischte. »Die fange ich jetzt an zu verdauen.«
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Tao Qing leitete im Amt für Zivilverwaltung gerade eine Sitzung und verlas ein wichtiges Dokument von ganz oben mit so feierlicher Stimme, als rezitiere er ein Sutra im Tempel, da wurde er durch ohrenbetäubenden Krach gestört. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm den Ursprung des Lärms: Die komplette Belegschaft der Geschützten Werkstatt drängte sich im Hof. Er legte das wichtige Dokument aus der Hand und verließ mit gerunzelter Stirn den Versammlungsraum. Vor der Tür stieß er auf den über das ganze Gesicht strahlenden und Brühnudeln aufstoßenden Glatzkopf-Li, der ihm voller Freude die Hand hinstreckte und rief: »Amtsleiter Tao, da bin ich wieder!« Tao warf einen Blick auf sein zerbeultes Gesicht, drückte vorsichtig seine an ein rot geschmortes Spitzbein erinnernde Hand und fragte mit ernster Miene: »Was soll das heißen?« »Ich«, Glatzkopf-Li zeigte auf seine Nasenspitze, »bin zurückgekommen, um wieder die Leitung der Geschützten Werkstatt zu übernehmen.« Kaum hatten sie diese Worte vernommen, brachen die vier Blinden als Erste in begeisterten Applaus aus, gefolgt von den drei geistig Behinderten und den sich mit Blicken nach rechts und links orientierenden fünf Gehörlosen. Nur die beiden Hinkebeine, der Leiter und der stellvertretende Leiter, klatschten nicht. Obwohl sie schon die Hände zum Applaus erhoben hatten, ließen sie sie wieder sinken, als sie die schlagartig verdüsterte Miene des Amtsleiters sahen. Tao war vor Zorn bläulich angelaufen. »Hört auf zu klatschen!«, rief er. Die vier Blinden hörten zögernd auf zu applaudieren. Die drei geistig Behinderten, die gerade erst richtig in Fahrt ge610
kommen waren, kümmerten sich nicht um Taos Verbot. Die fünf Gehörlosen wiederum, die natürlich nichts gehört hatten, bemerkten das Zögern der Blinden und sahen andererseits, dass die drei geistig Behinderten immer noch stürmisch klatschten. Die Folge war, dass zwei von ihnen aufhörten zu applaudieren, während drei weitermachten. Glatzkopf-Li erfasste die kritische Situation sofort, drehte sich schnell zu seinen Mannen um, hob wie ein Dirigent die Arme und riss sie energisch nach unten. Schlagartig verstummte der Applaus. Er wandte sich zufrieden wieder zu Tao Qing um und sagte: »Sie haben aufgehört.« Der Amtsleiter nickte ernst und kam sogleich zur Sache: Dass Glatzkopf-Li sich seinerzeit einfach so davongemacht habe, sei ein schwerwiegender Fehler gewesen, deswegen habe ihn das Amt für Zivilverwaltung aus seinen Reihen ausgestoßen; sodass er jetzt nicht wieder in der Geschützten Werkstatt arbeiten könne. Nach einem Blick auf die ordentlich aufgereihten vierzehn hinkenden, geistig behinderten, blinden und gehörlosen Männer fuhr er fort: »In der Geschützten Werkstatt arbeiten zwar lauter -« Hier verschluckte er, was ihm auf der Zunge lag, nämlich »missgestaltete Menschen«, und setzte neu an: »Die Geschützte Werkstatt ist eine staatliche Einrichtung, da kannst du nicht kommen und gehen, wie es dir beliebt, als ob es dein Zuhause wäre.« »Das haben Sie jetzt sehr schön gesagt«, fiel Glatzkopf-Li kopfnickend ein. »Die Geschützte Werkstatt ist eine staatliche Einrichtung. Für mich ist sie aber doch auch mein Zuhause, und deshalb bin ich zurückgekommen.«
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»Unmöglich!«, erklärte Tao Qing in nicht misszuverstehender Deutlichkeit. »Du kennst keine Ordnung, missachtest die Leitung-« An dieser Stelle wurde er von einem der Blinden unterbrochen, der lächelnd einwarf: »Dass Direktor Li sich einfach so davongemacht hat, ja, das war eine Missachtung der Leitung. Wenn Sie, Herr Amtsleiter , jetzt aber unsere Forderung nicht berücksichtigen, dann missachten Sie die Volksmassen.« Glatzkopf-Li kicherte unverhohlen, hörte aber sogleich wieder auf, als er sah, dass Tao Qing nahe daran war, die Beherrschung zu verlieren und loszufluchen, und sich nur im Zaume hielt, weil er es mit Behinderten zu tun hatte. Am liebsten hätte der Amtsleiter die Hinkebeine angewiesen, ihre Untergebenen fortzuschaffen, merkte aber selbst, dass sie kaum für diese Aufgabe infrage kamen, denn sie waren gerade dabei, sich ganz hinten zu verstecken. Notgedrungen wandte er sich an Glatzkopf-Li: »Bring sie weg!« Glatzkopf-Li wedelte mit der Hand und rief den vierzehn zu: »Auf geht's!« Als er mit seinen Paladinen den Hof des Amtes für Zivilverwaltung verließ, sagte er zu ihnen, es sei noch nicht Schichtende, und sie sollten wieder in die Werkstatt zurückkehren und weiterarbeiten. Beim Anblick der traurig und verloren davontrottenden Männer wurde ihm plötzlich schwer ums Herz. Um sie zu trösten, rief er ihnen nach: »Ich mache keine leeren Versprechungen - ihr könnt euch darauf verlassen, ich komme wieder und werde wieder euer Direktor Li!« Als die vier Blinden das hörten, klemmten sie ihre Bambusstöcke zwischen die Oberschenkel und fingen an zu klat612
schen. Auch die beiden Hinkebeine, die drei geistig Behinderten und die fünf Gehörlosen blieben stehen und applaudierten. Alle hatten sich zu Glatzkopf-Li umgewandt und waren drauf und dran, zu ihm zurückzugehen. Er dachte, diese Männer sind ja sogar noch gefühlsdussliger als mein eigener Bruder! Schnell winkte er ihnen noch einmal zu und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, eiligen Schrittes in die entgegengesetzte Richtung. An den folgenden Tagen suchte Glatzkopf-Li insgesamt fünfzehn große und kleine Amtsträger des Kreises auf, vom Kreisparteisekretär, Kreisvorsteher und Leiter der Organisationsabteilung an abwärts, und brachte in leidenschaftlichen Worten seine Entschlossenheit zum Ausdruck, wieder in die Geschützte Werkstatt zurückzukehren. Die drei wichtigsten Funktionäre ließen ihn nicht einmal ausreden, sondern warfen ihn gleich raus, sodass er seine Taktik änderte und bei den restlichen zwölf mit seinen Reden lieber auf die Tränendrüsen drückte. Diese Funktionäre ließen ihn zwar ausreden, doch die Antwort war dennoch jedes Mal ein kompromissloses »Unmöglich!«. Es gebe eine ganz bestimmte Ordnung im Staatsapparat, Regeln, die man nicht einfach missachten könne, und wer einmal raus sei, der käme nicht wieder hinein. Glatzkopf-Li dachte im Stillen: Ordnung, Regeln - was für eine Scheißordnung soll das sein? Diese Bastarde von der Kreisregierung, denen werde ich es zeigen! Ich habe es im Guten versucht, jetzt werde ich zu anderen Mitteln greifen! In seiner Empörung begann er ein Sit-in vor dem Sitz der Kreisregierung. Wenn die Mitarbeiter morgens zur Arbeit erschienen, versperrte er bereits den Eingang und blieb dort
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sitzen, bis nachmittags alle Dienstschluss hatten. Dann machte er sich mit ihnen zusammen auf den Heimweg. Anfangs wussten die Leute in unserer kleinen Stadt Liuzhen nicht, was er vorhatte und warum er im Schneidersitz im Eingangsbereich des Gebäudes der Kreisregierung saß und so ein grimmiges Gesicht machte, doch Glatzkopf-Li erklärte es ihnen bereitwillig. »Dies ist ein Sitzstreik!«, informierte er jeden Vorübergehenden. Die Leute fanden das komisch, er sitze ja so selbstbewusst dort, dass man nie auf den Gedanken käme, dies sei ein Sitin. Eher würde man an einen auf Rache sinnenden Kung-FuHelden aus dem Kino denken. Jemand meinte, er solle sich doch lieber ein möglichst bedauernswertes Aussehen zulegen, am besten mit einem gebrochenen Arm oder Bein, denn so würde er gewiss das Mitleid von Partei und Volk erregen und in die Geschützte Werkstatt zurückkehren dürfen. Glatzkopf-Li hörte sich das an, dann schüttelte er den Kopf: »Das würde nichts nützen.« Er habe bereits auf Unglückswurm gemacht, als er insgesamt fünfzehn von den Bastarden da drin - hierbei deutete er auf das Gebäude der Kreisregierung hinter sich - aufsuchte, ihnen Honig ums Maul schmierte und sie unterwürfig über seinen Entschluss zurückzukehren in Kenntnis setzte. Genützt habe es überhaupt nichts. Deswegen bleibe ihm jetzt gar nichts anderes übrig, als einen Sitzstreik zu machen. Wenn nötig, würde er hier ausharren, bis die Meere ausgetrocknet, die Felsen verwittert und der Erdball zerstört wären. Diesen markigen Worten zollten die Leute einmütig Beifall. Dann fragte jemand, unter welchen Bedingungen er denn seinen Sitzstreik abbrechen würde. Da reckte Glatzkopf-Li 614
zwei Finger hoch und sagte: »Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich darf wieder Leiter der Geschützten Werkstatt sein, oder ich bleibe hier sitzen, bis ich tot umfalle.« Wenn sich Glatzkopf-Li hungrig und durstig auf den Weg zur Kreisregierung machte, sammelte er unterwegs leere Blechdosen und Mineralwasserflaschen, alte Zeitungen und Pappkartons auf, die er vor dem Portal der Kreisregierung neben sich lagerte, um sie später zu verkaufen. Auch die dort Arbeitenden, die ja mitbekamen, dass er Altwaren sammelte, warfen ihm ausgelesene Zeitungen, alte Kartons und so weiter hin, sodass sich die Freifläche vor dem Portal des Gebäudes mit der Zeit in eine Altwaren-Sammelstelle verwandelte. Sobald er während seines Sit-ins beobachtete, dass jemand mit einer Zeitung in der Hand vorbeiging, fragte er ihn sogleich, ob er sie fertig gelesen habe, und wenn ja, erbat er sie von dem Betreffenden. Auf die gleiche Weise kam er zu den geleerten Flaschen und Büchsen der Passanten. Wenn er jemanden in abgetragener Kleidung sah, sprach er ihn an: »So eine angesehene Persönlichkeit wie Sie - und dann diese schäbigen Klamotten? Ziehen Sie sie doch aus und geben Sie sie mir.« Glatzkopf-Lis Plan, als Leiter in die Geschützte Werkstatt zurückzukehren, war zwar fehlgeschlagen, dafür war er jetzt zum Trödler avanciert. Wenn er zunächst nur weggeworfenen Kram aufgesammelt hatte, um irgendwie sein Leben zu fristen, so wurde er mit der Zeit zum »Altwarenkönig« von Liuzhen, ein ebenso unerwarteter, aber nicht minder respektvoller Beiname wie der Spitzname »König der Ärsche«, den man ihm als Halbwüchsigem verliehen hatte. Alles, was die Leute von Liuzhen nicht mehr brauchten und loswerden 615
wollten, brachten sie nun zu Glatzkopf-Li am Portal der Kreisregierung. Da er sich zu jener Zeit aber noch im Sitzstreik befand und es damit auch sehr genau nahm, wollte er ihnen die Sachen nicht gleich abnehmen, sondern notierte sich nur gewissenhaft die Adresse und erklärte: »Wenn ich hier Feierabend habe, komme ich und hole sie ab.« XIX Lin Hong war glücklich. Jeden Morgen brachte ihr stattlicher Ehemann sie auf seinem blitzblanken, modernen »Ewig« in die Wirkerei. Wenn sie dann durchs Tor ging und sich nach ihm umdrehte, einmal und noch einmal, stand er stets noch da, auf das Fahrrad gestützt, und winkte ihr zu, als könne er sich überhaupt nicht von ihr trennen. Gegen Abend sah sie ihn schon mit seinem strahlenden Lächeln vor dem Werktor warten. Dass er hinter ihrem Rücken Glatzkopf-Li heimlich unterstützte, entdeckte sie erst nach einem Monat. Als sie das erste Mal bei der Taschenkontrolle feststellte, dass Geld und Lebensmittelmarken weg waren, lächelte sie verständnisvoll vor sich hin und tat wortlos zwanzig Fen und Marken für hundert Gramm Getreideprodukte in Song Gangs Tasche, während er daneben stand und ebenfalls nichts sagte, obwohl er bei ihrem liebevollen Lächeln Gewissensbisse empfand. Da Lin Hong keine Ahnung hatte, dass Glatzkopf-Li wie ein Wegelagerer seinem Bruder jeden Tag Geld und Marken abnahm, ersetzte sie sie Tag für Tag stillschweigend. Anfangs freute sie sich, dass Song Gang endlich an sein Wohlbefinden dachte und einsah, dass er sich etwas zu essen kaufen musste, wenn er Hunger hatte, aber mit der Zeit fing sie doch an, sich 616
über ihren Mann zu wundern. Schließlich hatte er früher keinen Fen für sich ausgeben wollen und tat es auf einmal jeden Tag, ohne von den zwanzig Fen auch nur einen als Wechselgeld zurückzubehalten. Was auch immer er kaufen mochte, es mussten doch in jedem Fall ein paar Münzen übrig bleiben ... Als sie ihn misstrauisch ansah, wich er ihrem Blick aus. Schließlich fragte sie ihn direkt: »Was kaufst du dir eigentlich immer so, wenn du Hunger hast?« Song Gang öffnete den Mund, aber es kam kein Ton heraus. Als Lin Hong ihre Frage wiederholte, schüttelte er den Kopf und sagte, er habe sich gar nichts gekauft. Sie stutzte und schaute ihn fragend an. Ohne ihren Blick zu erwidern, gestand er ihr, wo Geld und Marken geblieben waren: »Ich habe alles Glatzkopf-Li gegeben.« Lin Hong blieb wie angewurzelt mitten im Zimmer stehen. Jetzt erst wurde ihr bewusst, dass Glatzkopf-Li inzwischen ein Bettler war. Bisher hatte sie seine Existenz völlig verdrängt. In ihrer Welt hatte es nur Song Gang gegeben, niemanden sonst. Und jetzt drängte sich dieser Schweinehund, dieser Glatzkopf-Li, wieder in ihr Leben! Sie überschlug, wie viel Geld er in diesem einen Monat schon ergaunert hatte: fast sechs Yuan! Vor Kummer darüber kamen ihr unwillkürlich die Tränen. »Sechs Yuan!«, wiederholte sie wieder und wieder. »Davon hätten wir zu zweit einen Monat leben können.« Song Gang saß mit hängendem Kopf auf der Bettkante und scheute sich, seine Frau anzusehen. Erst als sie weinend in ihn drang, ihr zu sagen, warum er das getan habe, blickte er auf und warf ihr einen Blick zu. »Er ist mein Bruder«, sagte er leise. 617
»Nicht mal dein richtiger Bruder ist er!«, rief sie. »Aber selbst wenn er es wäre, er muss alleine für sich sorgen!« Song Gang ließ das nicht gelten. »Er ist mein Bruder«, beharrte er. »Später einmal wird er sich schon allein ernähren können. Mama hat mich auf dem Totenbett gebeten, für ihn« »Hör auf mit deiner Stiefmutter!«, unterbrach ihn Lin Hong mit schriller Stimme. Das verletzte ihn so, dass er nun ebenfalls laut wurde: »Meine Mutter war sie!«, schrie er. Lin Hong sah ihn sprachlos an. Zum ersten Mal, seit sie verheiratet waren, hatte ihr Mann sie angeschrien. Zwar schüttelte sie stumm den Kopf, zugleich aber beschlich sie doch das Gefühl, mit ihrem verächtlichen Ausdruck »Stiefmutter« zu weit gegangen zu sein. Es herrschte Schweigen im Zimmer. Während Song Gang mit gesenktem Kopf dasaß, wirbelten in seinem Kopf die Erinnerungen durcheinander wie Schneegestöber. Die gemeinsame Zeit mit Glatzkopf-Li erschien ihm wie eine verschneite Straße, die sich von der Vergangenheit bis ins Heute erstreckte und plötzlich authörte. Alle möglichen Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf, doch keiner führte zu einem Ergebnis; es war, als habe die dicke Schneedecke nicht nur alle Wege, sondern auch sein ganzes Orientierungsvermögen ausgelöscht. Erst als sein gesenkter Blick auf Lin Hangs Füße fiel, konnte er plötzlich wieder denken. Ihre Füße steckten in abgetretenen Schuhen, die Hose darüber war ebenfalls abgetragen, und er wusste, ihre Jacke war genauso verschlissen. Der Gedanke daran, wie sie sparte und knapste, machte ihn so traurig, dass er sich jetzt tatsächlich schuldig fühlte. Er 618
hätte Glatzkopf-Li doch nicht hinter ihrem Rücken Geld zustecken dürfen! Nach geraumer Zeit - Song Gang saß immer noch mit gesenktem Kopf da und sagte keinen Ton - überkam Lin Hang erneut der Zorn. »Sag endlich was!«, rief sie. Song Gang blickte auf und sah sie offen und ehrlich an. »Es tut mir leid«, sagte er traurig. Bei diesem Blick schmolz ihr Groll sofort dahin. Sie seufzte unwillkürlich und begann, ihn wortreich zu trösten. Sechs Yuan, das sei schließlich gar nicht so viel Geld; am besten würden sie den Verlust einfach wegstecken - das Geld hätte ja genauso gut gestohlen worden sein können; das Sprichwort habe schon recht: »Verliert man die Schuhe, so behält man doch die Füße«; und wenn Song Gang in Zukunft keinen Umgang mit Glatzkopf-Li mehr pflege, sei alles wieder gut. Währenddessen hatte sie aus ihrem Geldbeutel zwanzig Fen und Lebensmittelmarken für hundert Gramm hervorgeholt und sie ihm in die Tasche gesteckt. Gerührt sagte Song Gang: »Ich brauche das Geld nicht.« »Doch, das brauchst du!«, erwiderte sie. »Aber du musst es wirklich für dich selber ausgeben.« Als sie an diesem Abend im Bett lagen, waren sie so liebevoll zueinander wie eh und je. Song Gang umarmte Lin Hang zärtlich, und sie genoss seine Liebe - »ein dünner Wasserstrahl, der lange fließen kann« mit einem glücklichen Lächeln, das sie mit in den Schlaf nahm. Am nächsten Tag, als Song Gang nach Schichtschluss auf dem Weg zur Wirkwarenfabrik am Gebäude der Kreisregierung vorbeifuhr, sprang Glatzkopf-Li, der dort am Tor im619
mer noch seinen Sitzstreik veranstaltete, wie üblich sofort auf und rief ihn an. Song Gang rutschte das Herz in die Hosen, er bremste und hielt an. Als Glatzkopf-Li heranschlurfte, hatte er plötzlich Angst davor, dass der Bruder ihn abermals um Geld bitten würde. Und tatsächlich, Glatzkopf-Li streckte die Hand fordernd aus und sagte unverfroren: »Song Gang, ich habe den ganzen Tag nichts gegessen und getrunken ... « Wie in Trance fasste Song Gang gewohnheitsmäßig in die Tasche und fühlte nach Geld und Lebensmittelmarken, aber dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Heute habe ich nichts dabei.« Bei diesen Worten errötete er. Tief enttäuscht zog Glatzkopf-Li die ausgestreckte Hand zurück, schluckte ein paarmal und sagte niedergeschlagen: »Den ganzen Tag lang habe ich Spucke geschluckt, jetzt geht das also auch noch die ganze Scheiß-Nacht lang so weiter ...« Wie von Geisterhand gelenkt, zog Song Gang die Hand mit Geld und Marken aus der Tasche. Glatzkopf-Lis Augen strahlten auf. »Scheiße! Jetzt fängst du auch schon an, die Leute zum Narren zu halten!«, rief er schmunzelnd, während er das Geld entgegennahm. Song Gang radelte mit einem resignierten Lächeln weiter. Das, wovor er sich an diesem Abend am meisten fürchtete, trat vor dem Abendessen ein: Lin Hang kontrollierte seine Jackentasche und stellte fest, dass Geld und Marken fehlten. Das kam für sie so unerwartet, dass sie erschrak. Sie sah ihren Mann, der schmerzvoll die Augen geschlossen hatte, als sie in seine Jackentasche fasste, ängstlich an und hoffte, er würde sagen, das Geld habe er für sich selbst ausgegeben. Doch er 620
öffnete die Augen, sah die Angst in ihrem Blick und murmelte mit zitternder Stimme: »Es tut mir leid.« In ihrer Enttäuschung über den Wortbruch des Mannes schrie Lin Hang ihn an: »Warum tust du das bloß?« Zutiefst beschämt, wollte Song Gang ihr eigentlich den ganzen Hergang erzählen, doch brachte er abermals nur heraus »Es tut mir leid«. Lin Hang kamen vor Zorn die Tränen. »Das Geld habe ich dir erst gestern gegeben«, begann sie und biss sich in ihrer Wut auf die Lippen. »Und du, du konntest es gar nicht erwarten, es umgehend an ihn weiterzureichen! Konntest du nicht mir zuliebe wenigstens ein paar Tage warten?« Song Gang hasste sich für seine Weichherzigkeit und wollte ihr das auch sagen, aber was über seine Lippen kam, war wieder nur »Es tut mir leid«. »Hör auf!«, schrie Lin Hong. »Ich kann das nicht mehr hören! Immer nur >Es tut mir leid, es tut mir leid
auf dem gedeckten Tisch bereit. Eigentlich müsste er jetzt zu mir herüberkommen und mich rufen, dachte sie, aber Song Gang tat nicht dergleichen. Er hatte sich an den Tisch gesetzt, und es herrschte wieder Totenstille. Vor Wut biss Lin Hang sich die Lippen wund. Es verging eine lange Zeit; im Zimmer war es inzwischen stockdunkel. Song Gang saß immer noch bewegungslos am Tisch, als warte er darauf, dass Lin Hong aufwache und sie dann zusammen essen könnten. Sie wusste, wenn sie nicht vorher aufstand, würde er so sitzen bleiben, bis es draußen wieder hell wurde. Sogar sein Atem war kaum zu hören, als fürchte er, sie durch zu lautes Schnaufen zu stören. Zärtlichkeit für den Mann, der sie so liebte, wallte in ihr auf. Sie musste an seine vielen Vorzüge denken, an seine Gutmütigkeit und Aufrichtigkeit, an seine stattliche Gestalt ... Bei diesem letzten Gedanken spielte plötzlich ein Lächeln um ihre Lippen. Mit leiser Stimme rief sie: »Song Gang.« Er sprang wie elektrisiert auf, sank jedoch zögernd wieder auf seinen Hocker hinunter, als sie nicht weitersprach. Lin Hang hatte das trotz der Dunkelheit genau beobachtet und musste nun abermals lächeln. »Song Gang, komm einmal her«, rief sie leise. Gehorsam kam er zum Bett und beugte sich über sie. »Setz dich«, flüsterte sie. Als er sich vorsichtig auf der Bettkante niederließ, ergriff sie seine Hand und sagte: »Komm ein bisschen näher!« Dann legte sie seine Hand auf ihre Brust und fuhr fort: »Song Gang, du bist einfach zu gutmütig, ich kann dir in Zukunft kein Geld mehr anvertrauen.«
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Song Gang nickte in der Dunkelheit. Lin Hang führte seine Hand an ihre Wange und fragte: »Du bist doch nicht böse?« Er schüttelte den Kopf und sagte: »Nein.« Lin Hang setzte sich auf und ergriff auch seine andere Hand, dann sprach sie mit sanfter Stimme weiter: »Ich will jetzt gar nicht davon reden, was für ein Mistkerl Glatzkopf-Li ist, aber selbst wenn er ein guter Mensch wäre, könnten wir ihn nicht mit durchfüttern. Überleg doch bloß mal, wie wenig Geld wir im Monat zur Verfügung haben! Und später, wenn ein Kind da ist, müssen wir es großziehen. Da dürfen wir uns nicht mit Glatzkopf-Li belasten, mit jemandem, der ohne Arbeit zugrunde gehen wird und dich womöglich mit in den Tod reißt ... Song Gang, mir ist nicht bange wegen jetzt, sondern wegen der Zukunft. Denk doch an unser späteres Kind! Du musst unbedingt den Kontakt zu ihm abbrechen!« Song Gang nickte, aber in der Dunkelheit war Lin Hang sich nicht sicher, sodass sie nachhakte: »Song Gang, hast du genickt?« Er sagte kopfnickend: »Ja, ich habe genickt.« Sie wartete einen Moment, dann fragte sie: »Hab ich nicht recht?« Song Gang nickte und sagte: »Doch.« Nach dem abendlichen Gewittersturm herrschten nun wieder Windstille und ruhige See. In der Folgezeit begann Song Gang, seinem Bruder auszuweichen. Wenn er nach Schichtende zur Wirkerei radelte, um Lin Hang abzuholen, hätte er eigentlich am Gebäude der Kreisregierung vorbeifahren müssen. Weil Glatzkopf-Li aber dort seinen Sitzstreik veranstaltete, machte er einen weiten Umweg, sodass Lin Hang öfter lange am Tor der Fabrik auf ihn warten musste. Früher hatte er jedes Mal schon dort gestan623
den, wenn sie Schichtschluss hatte, jetzt waren alle ihre Kolleginnen längst fort und sie hielt immer noch Ausschau nach ihrem personengebundenen »Ewig«. Als Song Gang wieder einmal völlig abgehetzt ankam, war sie mit ihrer Geduld am Ende. Stumm und mit steinerner Miene stieg sie auf den Rücksitz und wechselte während der ganzen Fahrt kein Wort mit ihm. Zu Hause begann sie dann, ihm Vorwürfe zu machen. Sie habe am Werkstor Todesängste ausgestanden, weil sie befürchtet habe, ihm sei unterwegs etwas zugestoßen. Im Geist habe sie sich sogar schon ausgemalt, wie er gegen einen Strommast gedonnert sei und sich einen Schädelbruch zugezogen habe! Da musste Song Gang ihr gestehen, warum er so oft zu spät kam. Als Lin Hong hörte, dass er wegen seines Bruders einen Umweg mache, fragte sie mit schneidender Stimme: »Wovor fürchtest du dich eigentlich?« Je mehr Angst man vor Typen wie Glatzkopf-Li habe, belehrte sie ihren Mann, desto mehr würden die einen schikanieren. Kurz, er solle in Zukunft wieder wie früher an der Kreisregierung vorbeifahren. »Schau gar nicht hin«, sagte sie. »Tu so, als wäre er gar nicht da!« »Aber wenn er mich anspricht? ... «, wandte er ein. »Dann überhörst du das!«, erwiderte Lin Hong. »Tu einfach, als wäre er gar nicht da!« XX Glatzkopf-Li, dessen gesammelte Altstoffe inzwischen einen kleinen Berg vor dem Portal des Sitzes der Kreisregierung bildeten, hatte den Stil seines Sitzstreiks insofern verändert, als er nur noch zu Dienstbeginn und Dienstschluss im 624
Schneidersitz vor dem Eingang hockte und während der übrigen Zeit, wo der Besucherverkehr ohnehin eher spärlich war, nach Herzenslust seine Schätze durchstöberte und dabei den Altwarenhaufen immer wieder umrundete, den Hintern hochgereckt, mit dem Kopf fast auf der Erde. Man hätte denken können, er sei unter die Goldwäscher gegangen. Sobald bei der Kreisregierung die Klingel zum Dienstschluss läutete, spurtete er jedoch wieder auf seinen Posten zurück und ließ sich zwischen den Flügeln des Portals nieder wie gewohnt, wobei seine entschlossene Miene keinen Zweifel daran ließ, dass auch in seinem Fall »ein Soldat, der den Pass verteidigt, ausreicht, um zehntausend abzuwehren«, wie es so schön heißt. Die Angestellten mussten fast über ihn hinwegsteigen, wenn sie das Gebäude verließen, und einer meinte schmunzelnd, dieser sitzstreikende Glatzkopf-Li wirke sogar noch aufgeblasener als der Kreisvorsteher, wenn er auf einer Versammlung ein Referat halte. Glatzkopf-Li gefiel diese Einschätzung so sehr, dass er dem Betreffenden »Das haben Sie gut gesagt!« hinterherrief. Nachdem er seinen Bruder einen Monat lang nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte, sah er ihn schließlich doch wieder einmal auf seinem »Ewig« am Gebäude der Kreisregierung vorbeifahren. Ohne Rücksicht darauf, dass er sich gerade in der »aktiven Phase« seines Sitzstreiks befand, sprang er blitzschnell auf, winkte mit beiden Händen und rief: »Song Gang! Song Gang!« Song Gang fuhr weiter, als ob er nichts gehört hätte, doch die Rufe des Bruders waren wie eine starke Hand, die von hinten an ihm zog, und seine Füße auf den Pedalen verweigerten schlicht den Dienst. Nach kurzem Zögern machte er 625
kehrt und fuhr langsam zurück, gequält von der bangen Sorge, ob er wohl dem Bruder gegenüber gleich behaupten müsse, keinen Fen in der Tasche zu haben. Glatzkopf-Li lief ihm entgegen, zog ihn freudig vom Rad herunter und sagte geheimnisvoll: »Song Gang, ich bin reich!« Mit der rechten Hand holte er aus der Hosentasche eine kaputte Armbanduhr, mit der linken drückte er den Kopf des Bruders herunter, damit er sich das gute Stück genau ansähe. Dann fuhr er erregt fort: »Du siehst doch die fremde Schrift hier, nicht? Das ist nämlich eine ausländische Uhr! Die zeigt nicht Pekinger Zeit an, sondern Greenwich-Zeit! Ich habe sie zwischen den Altstoffen gefunden.« Song Gang konnte keine Uhrzeiger entdecken. »Wieso hat sie keine Zeiger?«, fragte er. »Lass sie durch drei Drähtchen ersetzen«, antwortete Glatzkopf-Li. »Das kostet nicht viel, und schon zeigt sie wieder ihre Greenwich-Zeit an.« Dann stopfte er dem Bruder die ausländische Uhr in die Tasche. »Schenke ich dir!«, sagte er großzügig. Song Gang erschrak, hatte er doch nicht damit gerechnet, dass Glatzkopf-Li ihm etwas überlassen würde, das ihm selbst so lieb und teuer war. Verlegen holte er die Uhr wieder heraus und gab sie ihm zurück. »Behalt sie lieber selber«, sagte er. »Nimm sie nur!«, beharrte Glatzkopf-Li. »Ich habe sie vor zehn Tagen gefunden und immer auf dich gewartet, damit ich sie dir schenken kann. Wo hast du eigentlich die ganze Zeit gesteckt?« Song Gang wurde über und über rot und wusste nicht, was er sagen sollte. Glatzkopf-Li, der annahm, er geniere sich 626
noch immer, die Uhr anzunehmen, steckte sie ihm mit sanfter Gewalt in die Tasche. »Wenn du Lin Hong zur Arbeit bringst und sie abends wieder abholst, brauchst du eine Armbanduhr. Im Gegensatz zu mir - ich breche bei Sonnenaufgang auf zu meinem Sitzstreik und gehe bei Sonnenuntergang wieder nach Hause, um zu schlafen ... « Während dieser Worte schaute er zum Himmel auf. Als er die Abendsonne zwischen den Blättern der Straßen bäume entdeckte, zeigte er darauf und sagte pathetisch: »Das da, das ist meine Uhr!« Dann bemerkte er Song Gangs fragenden Blick und fügte hinzu: »Nicht der Baum - die Sonne!« Song Gang kicherte. Glatzkopf-Li ermahnte ihn: »Beeil dich, Lin Hong wartet!« Song Gang schwang sich aufs Fahrrad, fuhr aber noch nicht los, sondern fragte den Bruder über die Schulter: »Wie ist es dir denn diesen Monat ergangen?« »Gut!«, rief Glatzkopf-Li und wedelte mit den Händen, um Song Gang zur Eile zu treiben. »Fahr schon!« Immer noch mit den Füßen auf der Erde, fragte Song Gang weiter: »Und wovon hast du dich ernährt?« »Wovon ich mich ernährt habe?« Glatzkopf-Li verengte die Augen zu einem Spalt und dachte nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Hab's vergessen«, sagte er. »Jedenfalls bin ich nicht verhungert.« Song Gang wollte noch etwas sagen, da rief Glatzkopf-Li gereizt: »Song Gang, du bist wirklich zu gefühlsdusslig!« Damit schob er den Bruder kurzerhand an, sodass diesem nach fünf, sechs Metern nichts anderes übrig blieb, als doch in die Pedale zu treten. Glatzkopf-Li sah ihm noch einen Moment nach und kehrte dann auf seinen Posten zurück. Kaum saß er 627
wieder, bemerkte er, dass die Bediensteten der Kreisregierung bereits alle das Haus verlassen hatten. Ein wenig enttäuscht stand er wieder auf und schimpfte vor sich hin: »So eine Scheiße!« Nachdem er Lin Hong abgeholt hatte und sie zusammen nach Hause gefahren waren, zögerte Song Gang, ihr Glatzkopf-Lis Geschenk zu zeigen. Ich erzähle es ihr später, sagte er sich. In seiner Tasche hatte er inzwischen kein Geld und keine Lebensmittelmarken mehr, dafür aber eine Büchse mit seinem Mittagessen. Zu jener Zeit pflegten er und seine Frau nämlich abends immer ein bisschen mehr zu kochen, damit sie Reste übrig hatten, die sie dann als Mittagsmahlzeit am nächsten Tag in die Fabrik mitnahmen. Solange Song Gang seinem Bruder ausgewichen war, hatte er nur gelegentlich einmal kurz daran gedacht, wie es diesem wohl gehen möge. Nachdem er ihn jetzt aber wiedergesehen hatte, war seine brüderliche Zuneigung zu Glatzkopf-Li wieder so stark wie eh und je. Dass er eine ausländische Armbanduhr ohne Zeiger zehn Tage lang wie eine große Kostbarkeit aufbewahrt hatte, um sie ihm zu schenken, rührte ihn sehr. Als er am nächsten Tag in der Mittagspause wieder an Glatzkopf-Li dachte, griff er sich kurzentschlossen seine Essensbüchse und radelte zur Kreisregierung. Wie am Vortag, sah er den Bruder - Kopf nach unten, Hintern in der Höhe - im Müll wühlen. Glatzkopf-Li bemerkte ihn nicht einmal, als er schon mit dem Rad direkt hinter ihm stand. Erst als Song Gang die Klingel betätigte, fuhr er erschrocken herum. Seine Augen strahlten auf, denn er hatte mit einem Blick die Essensbüchse in Song Gangs Hand gese628
hen. »Song Gang, du hast gewusst, dass ich Hunger habe!«, rief er und riss ihm die Büchse aus der Hand, öffnete sie hastig und sah, dass der Inhalt noch unberührt war. Da hielt er inne und fragte: »Warum hast du denn nichts gegessen?« Song Gang antwortete lächelnd: »Iss nur! Ich bin nicht hungrig.« »Unmöglich!«, rief Glatzkopf-Li und gab dem Bruder die Büchse zurück. »Lass uns wenigstens teilen.« Er griff sich eine alte Zeitung und breitete sie auf der Erde aus. Darauf musste Song Gang Platz nehmen, während er selbst sich auf die Erde setzte. Als die Brüder nebeneinander vor dem Altwarenhaufen saßen, griff Glatzkopf-Li wieder nach der Essensbüchse und zog mit seinen Essstäbchen in der Mitte einen Graben durch Reis und Gemüse. »Das ist der achtunddreißigste Breitengrad«, erklärte er. »Hier ist Nordkorea und da Südkorea.« Mit diesen Worten schob er Song Gang die Büchse hin. »Iss du zuerst.« Song Gang schob sie zurück und erwiderte: »Nein, du!« »Wenn ich sage, du sollst zuerst essen, dann musst du das auch tun«, rief Glatzkopf-Li ärgerlich. Da gab Song Gang seinen Widerstand auf, ergriff mit der Linken die Büchse, mit der Rechten die Stäbchen und begann zu essen. Glatzkopf-Li machte einen langen Hals und spähte von der Seite her in die Büchse. »Du isst Südkorea«, stellte er fest. Song Gang schmunzelte und aß gemächlich weiter, während Glatzkopf-Li geräuschvoll das Wasser im Munde zusammenlief. Song Gang, der das hörte, schob ihm sofort die Büchse hin und sagte: »Iss!« »Erst wenn du aufgegessen hast«, entgegnete Glatzkopf-Li und schob die Büchse zurück. »Aber vielleicht könntest du 629
dich ein bisschen beeilen? Song Gang, sogar beim Essen bist du zu gefühlsdusslig!« Da stopfte sich der Ältere den verbliebenen Rest seiner Hälfte auf einmal in den Mund, sodass sich seine Wangen blähten wie ein Fußball. Dann gab er die Büchse dem Bruder zurück, der seine Portion so rasch und geräuschvoll hinunterschlang, wie ein Staubsauger den Schmutz aufsaugt. Daher war er schon fertig, als Song Gang noch mit dem Inhalt seiner Backentaschen kämpfte. Glatzkopf-Li klopfte ihm fürsorglich auf den Rücken, um ihm das Schlucken zu erleichtern. Danach wischte Song Gang sich erst die Lippen ab, dann die Tränen aus den Augen: Ihm war plötzlich wieder eingefallen, was ihm Li Lan auf dem Totenbett eingeschärft hatte. Glatzkopf-Li erschrak und wollte wissen, warum er weine. Song Gang antwortete: »Ich muss an Mama denken ... « Glatzkopf-Li stutzte - was meinte er? Song Gang sah ihn an und fuhr fort: »Sie machte sich Sorgen um dich und wollte, dass ich mich um dich kümmere. Ich habe ihr versprochen, wenn ich nur noch eine letzte Schüssel Reis zu essen habe, sollst du sie bekommen. Sie hat den Kopf geschüttelt und gesagt, dass wir bei den Brüder uns die letzte Schüssel Reis teilen sollen ... « Er zeigte auf die Büchse vor ihnen auf der Erde und fuhr fort: »Und jetzt haben wir genau das gemacht.« Unversehens fühlten sich die Brüder in die traurige alte Zeit zurückversetzt. Vor dem Portal der Kreisregierung, am Fuß des Altstoffberges sitzend, erinnerten sie sich weinend daran, wie sie Hand in Hand die Brücke vor dem Fembusbahnhofherabliefen und den toten Song Fanping in der brütenden 630
Hitze dort liegen sahen; wie sie bis nach Sonnenuntergang Hand in Hand am Ausgang des Bahnhofs gewartet hatten, dass Li Lan endlich aus Schanghai zurückkehre; und wie sie zu zweit den Pritschenwagen, auf dem die tote Mutter lag, ins Dorf zogen, um sie dort dem Vater zurückzugeben. Glatzkopf-Li rieb sich die Tränen aus den Augen und sagte: »Wir haben es wirklich nicht leicht gehabt als Kinder.« Song Gang rieb sich ebenfalls die Tränen aus den Augen und nickte: »Alle haben auf uns beiden herumgetrampelt und uns schikaniert«, sagte er. »Aber jetzt wagt niemand mehr, uns zu schikanieren!«, rief Glatzkopf-Li. »Jetzt geht es uns gut!« »Nein«, erwiderte Song Gang, »es geht uns immer noch nicht gut.« »Wieso denn nicht?«, fragte Glatzkopf-Li und blickte ihn forschend an. »Du bist mit Lin Hong verheiratet und sagst, es geht dir nicht gut? Also wirklich - >die ihr Glück nicht kennen, kann man nicht glücklich nennen
»Warum?« Glatzkopf-Li blieb unbeeindruckt. »Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung - solange ich nicht pinkeln muss, brauchst du mir nicht mit dem Nachttopf hinterherzurennen.« Song Gang seufzte und sagte nichts mehr. Nun erkundigte sich Glatzkopf-Li äußerst interessiert nach jener ausländischen Armbanduhr und fragte, ob der Bruder sie schon habe reparieren lassen. Song Gang nahm die Essensbüchse und stand auf. Er müsse wieder zurück in die Fabrik, sagte er, schwang sich aufs Rad und fuhr davon, in einer Hand die Büchse, die andere am Lenker. Glatzkopf-Li rief ihm hinterher: »Song Gang, du kannst ja einhändig fahren!« Song Gang lachte. Er drehte sich um und rief ihm zu: »Das ist noch gar nichts. Ich kann auch freihändig.« Sprach's, riss beide Arme hoch und brauste davon wie ein Vogel im Flug. Der verblüffte Glatzkopf-Li rannte ein Stück hinterher und rief: »Song Gang, du bist echt der Größte!« In dem darauffolgenden Monat erschien Song Gang an jedem Werktag mittags mit der Essensbüchse bei Glatzkopf-Li. Lachend und schwatzend saßen die Brüder vor dem Altstoffhügel und teilten sich das Essen aus der Büchse. Song Gang traute sich jedoch nicht, Lin Hang davon zu erzählen. Obwohl ihm abends der Magen gewaltig knurrte, aß er dennoch sogar weniger als gewöhnlich, weil er befürchtete, sie könnte sonst Verdacht schöpfen. Als Lin Hang bemerkte, dass sein Appetit nachgelassen hatte, sah sie ihn besorgt an und fragte, ob er sich in letzter Zeit vielleicht nicht wohlfühle. Song Gang antwortete ausweichend: Ja, es stimme, sein Appetit sei nicht mehr so groß, aber geschwächt sei er deswegen überhaupt nicht - er sei wirklich kerngesund. 632
Es ist nichts so verborgen, als dass die Zeit es nicht ans Licht brächte: Einen Monat später erfuhr Lin Hong die Wahrheit. Eine Arbeiterin aus der Wirkerei war es, die ihr erzählte, sie habe am Tag zuvor Urlaub genommen, um irgendwelche Privatangelegenheiten zu erledigen, und sei mittags am Gebäude der Kreisregierung vorbeigekommen, wo sie Song Gang und Glatzkopf-Li Schulter an Schulter auf der Erde sitzen und abwechselnd aus einer Essensbüchse essen gesehen habe. Kichernd meinte die Frau, so vertraut wie die Brüder da miteinander ihr Essen teilten, gingen wohl selbst manche Eheleute nicht miteinander um. Lin Hong, die mit ihrer eigenen Essensbüchse vor dem Tor der Werkhalle saß und ihr Mittagessen zu sich nahm, wechselte bei diesen Worten die Farbe. Sie stellte die Büchse hin und verließ eilends die Fabrik. Als sie am Sitz der Kreisregierung eintraf, hatten die Brüder ihre Mahlzeit bereits beendet und saßen in bester Stimmung nebeneinander auf der Erde. Glatzkopf-Li war gerade dabei, mit lauter Stimme irgendetwas zu erzählen, als die totenbleiche Lin Hong auftauchte. Glatzkopf-Li sah sie als Erster. Er sprang sofort auf und begrüßte sie herzlich: »Lin Hong! Wie schön, dich zu sehen!« Song Gang war schlagartig kreideweiß geworden. Lin Hong warf ihm einen mehr als kühlen Blick zu und wandte sich gleich wieder zum Gehen. Glatzkopf-Li hatte aus dem Haufen eine alte Zeitung gegriffen, die er ihr als Sitzgelegenheit anbieten wollte. Als er sah, dass sie davonrauschte, rief er ihr enttäuscht hinterher: »Willst du dich nicht ein bisschen setzen? Wo du einmal hier bist?«
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Song Gang stand wie benommen und schaute der sich Entfernenden nach. Plötzlich durchzuckte ihn der Gedanke: Du musst ihr folgen! Er sprang aufs Fahrrad und fuhr ihr hinterher, so schnell er konnte. Lin Hong, die mit hoch erhobenem Haupt und hoheitsvoller Miene in Richtung ihrer Fabrik ging, ohne nach rechts und links zu schauen, hörte sehr wohl, dass er erst hinter und gleich darauf neben ihr war, hörte auch, wie er sie leise bat, sich hinter ihn aufs Rad zu setzen, doch gab sie vor, überhaupt nichts zu bemerken - dieser Mann dort neben ihr, Luft war er für sie! Da traute er sich nicht mehr, noch etwas zu sagen, sprang ab und lief, das Rad schiebend, hinter ihr her. So gingen sie ohne ein Wort wie zwei einander wildfremde Menschen die Hauptstraße unserer kleinen Stadt Liuzhen entlang. Viele Passanten, die das beobachteten, blieben neugierig stehen und schauten den beiden höchst interessiert nach, denn dass zwischen ihnen etwas nicht stimmte, war offensichtlich, und so etwas war ein gefundenes Fressen für die Leute in Liuzhen mit ihrer angeborenen Vorliebe, ihre Nasen in fremde Angelegenheiten zu stecken. Als jemand Lin Hong ansprach, reagierte sie jedoch überhaupt nicht - kein Kopfnicken, kein Lächeln, nichts! Jemand anders grüßte Song Gang, und auch der sprang nicht darauf an; immerhin nickte und lächelte er aber. Unter den Gaffern auf der Straße befand sich auch Dichter Zhao, der, oberlehrerhaft, wie er nun einmal war, die anderen auf Songs überaus merkwürdiges Lächeln aufmerksam machte: »Habt ihr das gesehen? So was nennt man ein >gequältes Lächeln<.« Song Gang schob sein Rad hinter Lin Hong her, bis sie zu der Wirkwarenfabrik kamen. Lin Hong, die ihn die ganze 634
Zeit keines Blickes gewürdigt hatte, ging durch das Tor hinein, immer noch ohne sich nach ihm umzudrehen. Sie hatte das Gefühl, er sei stehen geblieben. Unwillkürlich verlangsamte sie den Schritt, denn plötzlich war sie weich geworden und wollte sich schon umdrehen, doch gleich darauf hatte sie sich wieder in der Gewalt und ging weiter geradeaus in Richtung ihrer Werkhalle. Wie benommen stand Song Gang vor dem Werktor und blickte ihr hinterher. Auch als sie nicht mehr zu sehen war und die Klingel, die den Beginn der Nachmittagsschicht verkündete, längst geläutet hatte, rührte er sich nicht vom Fleck. Der Platz am Tor war jetzt öde und verlassen; auch in seinem Herzen herrschte eine ungeheure Leere. Nachdem er lange Zeit dort gestanden hatte, setzte er sich schließlich doch in Bewegung, kam aber gar nicht auf den Gedanken, sich auf sein blitzendes »Ewig« zu schwingen, sondern schob das Rad den ganzen Weg bis zur Metallfabrik, wo er arbeitete. Der Nachmittag war für ihn eine einzige Qual. Die meiste Zeit starrte er abwesend in eine Ecke seiner Werkhalle, teils ratlos, teils in tiefes Nachdenken versunken. Allerdings war sein Kopf völlig leer, wenn er nachdachte, sodass auch das Nachdenken wieder nur in Ratlosigkeit mündete. Erst die Klingel bei Schichtende riss ihn aus seiner Apathie. Er rannte ins Freie, bestieg sein Fahrrad, radelte zum Tor hinaus wie von der Tarantel gestochen und sauste pfeilschnell durch unserer kleine Stadt Liuzhen, bis er am Tor der Wirkerei ankam, durch das gerade die Arbeiterinnen herausströmten. Während Song Gang, auf das Rad gestützt, dort wartete, sah er Lin Hong, die mit ein paar Arbeitskolleginnen schwatzte. 635
Ihm hüpfte das Herz vor Freude, aber gleich darauf war er wieder so bedrückt wie vorher, war er sich doch keineswegs sicher, dass sie zu ihm aufs Rad steigen würde. Anders als er befürchtet hatte, kam sie jedoch wie immer direkt auf ihn zu, verabschiedete sich von den anderen Arbeiterinnen und setzte sich seitlich auf den Rücksitz, als ob überhaupt nichts vorgefallen sei. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Über und über rot im Gesicht, stieg er aufs Rad, betätigte die Klingel und fuhr in Windeseile los. Die Erleichterung, die er empfand, schien seine Kräfte zu verdoppeln, denn er trat so energisch in die Pedale, dass Lin Hong, die sich anfänglich mit bei den Händen am Rad festgehalten hatte, nicht umhinkonnte, sich an ihn anzuklammern, um nicht herunterzufallen. Song Gangs Erleichterung war nur von kurzer Dauer, denn nachdem die Haustür hinter ihnen geschlossen war, benahm sich Lin Hong sofort wieder genauso kalt und abweisend wie mittags auf der Straße. Sie ging zum Fenster, zog den Vorhang zu und blieb dort stehen, stumm und bewegungslos, als genieße sie die Aussicht, dabei war es nur der Vorhang, den sie anstarrte. Nach einer Weile stammelte Song Gang: »Lin Hong, es tut mir leid.« Sie schnaufte nur verächtlich. Nach einem Moment drehte sie sich jedoch zu ihm um und fragte: »Was tut dir leid?« Da gestand ihr Song Gang mit gesenktem Kopf, dass er seit über einem Monat sein Mittagessen mit Glatzkopf-Li geteilt habe. Lin Hong hörte kopfschüttelnd zu. Dann fing sie an zu weinen, traurig, dass ihr Mann lieber selbst hungerte, bloß damit dieser Mistkerl sein Essen hatte. Als Song Gang sie weinen sah, verstummte er sofort. Lange musste er wie ein 636
begossener Pudel vor ihr stehen, ehe sie begann, ihre Tränen abzuwischen. Da wandte er sich um, holte jene ausländische Armbanduhr und beichtete mit stockender Stimme, wie er eigentlich schon den Kontakt mit Glatzkopf-Li abgebrochen hatte, dieser ihn aber eines Tages, als er am Sitz der Kreisregierung vorbeigefahren sei, zu sich gerufen und ihm die Uhr geschenkt habe, sodass er aufs Neue an ihre ehemalige brüderliche Verbundenheit erinnert wurde. Während seines Gestammels hatte sich Lin Hong die Uhr genauer angesehen. »Die hat ja gar keine Zeiger! Das soll eine Uhr sein?!«, rief sie plötzlich. Ihre lang aufgestaute Wut auf Glatzkopf-Li machte sich jetzt in einem wilden Ausbruch Luft, einer regelrechten Hasstirade. Keine von seinen Missetaten ließ sie aus, weder die Ausspähung ihres Hinterns auf der öffentlichen Toilette noch die unverschämte Belästigung vor den Augen der Öffentlichkeit oder den Gesichtsverlust durch jenen unsäglichen Auftritt vor dem Tor der Wirkerei, wo er mit all den Lahmen, Schwachsinnigen, Blinden und Tauben aus seiner Geschützten Werkstatt aufgekreuzt war und dafür gesorgt hatte, dass sie den Leuten kaum mehr in die Augen schauen konnte. Ihre hasserfüllte Aufzählung gipfelte in der Schilderung der Verzweiflung, in die er sie getrieben habe, sodass sie in den Fluss sprang, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Und selbst dann noch habe er nicht von ihr abgelassen, der Mistkerl!, sondern seinen eigenen Bruder gezwungen, jene herzlosen Worte zu ihr zu sagen, worüber dieser um ein Haar ebenfalls durch Selbstmord zu Tode gekommen wäre! Nachdem sie mit Glatzkopf-Lis Sündenregister fertig war und ihre Stimme in Tränen erstickte, begann sie, über Song 637
Gang herzuziehen. Nach der Hochzeit habe sie gespart und geknapst, um ein bisschen Geld für eine »Diamant«Armbanduhr beiseite legen zu können, die sie ihm schenken wollte. Nun aber habe er sich von diesem Glatzkopf-Li mit einer kaputten Uhr, die andere weggeworfen hatten, kaufen lassen! Plötzlich hörte sie auf zu schluchzen. Sie trocknete ihre Tränen und sagte mit einem bitteren Lächeln, als führe sie ein Selbstgespräch: »Nein, >gekauft< ist nicht das richtige Wort. Ihr wart ja eine Familie, bis ich als Störenfried dazukam und euch auseinandergebracht habe.« Danach schwieg sie lange Zeit. Dann tat sie einen tiefen Seufzer, sah Song Gang traurig an und sagte ganz ruhig: »Song Gang, ich habe es mir überlegt. Du solltest wieder zu Glatzkopf-Li ziehen. Lassen wir uns scheiden!« Song Gang geriet in Panik. Er schüttelte heftig den Kopf und öffnete den Mund zu einer Entgegnung, brachte aber keinen Ton heraus. Als Lin Hong sein verstörtes Gesicht sah, tat er ihr doch leid, und ihr kamen wieder die Tränen. Kopfschüttelnd sagte sie: »Du weißt, ich liebe dich, aber so kann ich mit dir wirklich nicht weiterleben.« Sie trat vor den Schrank, nahm ein paar Kleidungsstücke heraus und steckte sie in einen Beutel. An der Haustür drehte sie sich noch einmal nach dem vor lauter Schreck am ganzen Leibe zitternden Song Gang um, zögerte aber nur kurz und öffnete die Tür. Plötzlich fiel er auf die Knie und flehte mit tränenerstickter Stimme: »Lin Hong, geh nicht fort!« Am liebsten wäre sie zu ihm gestürzt und hätte ihn in die Arme genommen, aber sie widerstand diesem Impuls und sagte nur mit sanfter Stimme: »Ich gehe für ein paar Tage zu 638
meinen Eltern. Du kannst dir ja inzwischen überlegen, ob du lieber mit mir oder mit Glatzkopf-Li zusammen sein willst.« »Das brauche ich mir nicht zu überlegen!«, rief er unter Tränen. »Mit dir!« Lin Hong schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte: »Aber Glatzkopf-Li?« Song Gang stand auf und versicherte ihr mit aller Entschiedenheit: »Ich werde ihm sagen, dass ich nichts mehr mit ihm zu tun haben will. Ich gehe jetzt gleich los.« Da konnte sich Lin Hong nicht länger beherrschen. Sie lief zu ihm und drückte ihn voller Zärtlichkeit an sich. Während sie noch in inniger Umarmung an der Tür standen, flüsterte sie ihm ins Ohr: »Möchtest du, dass ich mitkomme?« Er nickte und sagte mit fester Stimme: »Ja, komm mit!« In beiden brannte aufs Neue das Feuer der Liebe. Sie wischten sich gegenseitig die Tränen ab, dann verließen sie zusammen das Haus. Lin Hong steuerte wie gewohnt auf das Fahrrad zu, aber Song Gang schüttelte den Kopf. Er wolle sich unterwegs in aller Ruhe überlegen, was er zu GlatzkopfLi sagen würde, deshalb würde er nicht mit dem Rad fahren. Sie sah ihn etwas erstaunt an, aber als er nur abwinkte und losging, folgte sie ihm gehorsam. Nachdem die bei den aus ihrer Gasse auf die Hauptstraße gekommen waren, hakte sich Lin Hong bei ihm ein. Sie musste ihm immer wieder ins Gesicht schauen, denn seine Miene drückte eine Entschiedenheit aus, die sie bisher nicht an ihm gekannt hatte. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie stark ihr Mann war. Es war das erste Mal seit ihrer Hochzeit, dass sich diese Empfindung bei ihr einstellte. Bisher war Song Gang ihr in allem zu Willen gewe639
sen und hatte stets auf sie gehört, von jetzt an würde sie auf ihn hören müssen, dachte sie. Als die beiden im letzten Licht des Tages vor dem Gebäude der Kreisregierung ankamen, erblickten sie Glatzkopf-Li, der sich auch zu dieser späten Stunde noch an seinen Altstoffen zu schaffen machte. Lin Hong zupfte ihren Mann am Ärmel und fragte: »Du weißt, was du ihm sagen wirst?« »Ja«, sagte er kopfnickend. »Ich werde ihm seine eigenen Worte zurückgeben.« Sie verstand nicht, was er meinte: »Was für eigene Worte?« Ohne zu antworten, löste er ihren Arm, mit dem sie sich bei ihm eingehakt hatte, von seinem Arm und ging geradewegs auf seinen Bruder zu, während Lin Hong stehen blieb. Sie beobachtete, wie ihr hochgewachsener Mann sich in seiner vollen Größe vor seinem kurz geratenen, untersetzten Bruder aufbaute und mit ruhiger Stimme zu sprechen begann: »Glatzkopf-Li, ich muss mit dir reden.« An seinem Ton merkte Glatzkopf-Li sofort, dass etwas nicht stimmte; außerdem war Lin Hong mitgekommen. Argwöhnisch sah er erst den Bruder, dann die in einiger Entfernung hinter diesem stehende Lin Hong an. Song Gang holte die zeigerlose ausländische Armbanduhr aus der Tasche und reichte sie ihm. Da wusste er, es würde Ärger geben. Er nahm die Uhr entgegen, wischte sie sorgfältig ab und band sie sich ums Handgelenk. Dann fragte er den Bruder: »Worüber willst du reden?« Song Gang, der jetzt einen freundlicheren Ton anschlug, begann mit eindringlicher Stimme auf ihn einzureden: »Glatzkopf-Li, seit dem Tod meines Vaters und deiner Mutter sind wir keine Brüder-« Kopfnickend fiel ihm Glatzkopf-Li ins 640
Wort: »Richtig! Dein Papa war nicht mein richtiger Vater, und meine Mama war nicht deine richtige Mutter, also sind wir keine richtigen Brüder-« »Und deswegen«, unterbrach ihn nun seinerseits Song Gang, »werde ich mich mit keinem Anliegen mehr an dich wenden, und auch du wirst dich nicht mehr an mich wenden. Von jetzt an werden wir einander nicht mehr ins Gehege kommen -« »Mit anderen Worten«, unterbrach ihn Glatzkopf-Li abermals, »du willst nichts mehr mit mir zu tun haben?« »So ist es«, antwortete Song Gang mit fester Stimme. Und dann schickte er die bewussten Worte hinterher: »Jetzt wirst du ja wohl endlich die Hoffnung aufgeben?« Sprach's, und wandte sich triumphierend zu Lin Hong um. »Ich hab's getan, hab ihm seine eigenen Worte zurückgegeben!« Sie breitete die Arme aus und zog ihn ganz fest an sich, und auch er legte seine Arme um sie. Eng umschlungen und einander zärtlich anblickend gingen sie davon. Glatzkopf-Li kratzte sich am Kopf und schaute dem sich seltsam seitlich vorwärts bewegenden Paar erstaunt hinterher. Warum hatte der Bruder »Jetzt wirst du ja wohl endlich die Hoffnung aufgeben?«, gesagt? »Welche Scheiß-Hoffnung soll ich denn aufgeben?«, murmelte er vor sich hin. Immer noch einander umarmend liefen Song Gang und Lin Hong die Hauptstraße unserer kleinen Stadt Liuzhen entlang und bogen in die Gasse ein, in der sie wohnten. Zu Hause angekommen, verfiel Song Gang plötzlich in Schweigen. Stumm ließ er sich auf einen Stuhl fallen. An seiner ernsten Miene merkte Lin Hong, wie schwer es ihm ums Herz war. 641
»Die beiden Hälften einer gespaltenen Lotoswurzel hängen stets noch mit zarten Fasern zusammen«, das weiß man ja, und das ist ja auch ganz natürlich, wenn man bedenkt, was sie als Brüder alles zusammen durchgemacht haben, dachte sie und verzichtete darauf, Song Gang Vorhaltungen zu machen. In ein paar Tagen wäre gewiss alles wieder gut. Sie war überzeugt, je länger er mit ihr zusammen wäre, desto mehr würde die Erinnerung an die gemeinsame Vergangenheit mit seinem Bruder verblassen. Abends, im Bett, war Song Gang noch genauso melancholisch und seufzte in der Dunkelheit immer wieder abgrundtief. Da tätschelte Lin Hong ihn ganz sanft und hob den Kopf ein wenig, damit er den Arm darunterstecken und sie an sich ziehen konnte, was er auch reflexhaft tat. Sie schmiegte sich ganz eng an ihn und redete ihm zu, an gar nichts mehr zu denken und schön zu schlafen. Diesem Rat folgte sie alsbald selber: Kaum dass sie fertig gesprochen hatte, schlief sie schon, während Song Gang noch lange wach lag. In dieser Nacht hatte er wieder einen Traum, in dem er unablässig weinen musste, so sehr, dass seine Tränen Lin Hongs Gesicht benetzten. Erschrocken fuhr sie hoch und schaltete die Lampe an. Da schreckte auch er aus dem Schlaf auf. Als Lin Hong seine Tränen sah, dachte sie im Stillen, ihm sei im Traum vielleicht wieder seine Stiefmutter erschienen. Sie machte das Licht wieder aus und streichelte ihn tröstend. »Du hast wohl wieder von deiner Mutter geträumt?«, fragte sie (und sagte diesmal nicht »Stiefmutter«). Song Gang schüttelte den Kopf. Er versuchte, sich an seinen Traum zu erinnern. Dann wischte er sich in der Dunkelheit 642
die Tränen aus dem Gesicht und antwortete: »Ich habe geträumt, dass wir geschieden sind.« XXI Während Glatzkopf-Li sein Sit-in vor dem Portal des Gebäudes der Kreisregierung fortsetzte, kam täglich ein neuer Haufen Altstoffe zu den bereits vorhandenen hinzu. Am Ende fehlte ihm deshalb die Zeit für den Sitzstreik, denn er hatte vollauf damit zu tun, den Trödel nach Sorten zu ordnen und ihn dann auf den verschiedensten Wegen an Abnehmer im ganzen Land zu verkaufen. Dennoch erübrigte er geschlagene zwei Stunden, um drei unterschiedlich lange Stückchen Draht als Zeiger an jene ausländische Armbanduhr zu montieren. Anschließend band er sich das gute Stück triumphierend ums Handgelenk. Früher hatte er meistens eher mit der rechten Hand gestikuliert, aber seit jene Uhr mit den bis in alle Ewigkeit unverrückbaren Zeigern sein Handgelenk zierte, bekam die linke Hand mehr zu tun, weil er jedem Bekannten, der vorbeikam, mit der linken - nicht mehr mit der rechten - Hand zuwinkte. Schon nach kurzer Zeit hatten zahlreiche Einwohner unserer kleinen Stadt Liuzhen die ausländische Uhr an Glatzkopf-Lis Handgelenk zu sehen bekommen. Manche hockten sich sogar zu ihm, um sie genauer zu betrachten. »Die Zeiger sehen ja aus wie drei Stückchen Draht!«, rief jemand erstaunt. »Zeiger sind immer aus Draht«, entgegnete Glatzkopf-Li mürrisch. Der Nörgler ließ jedoch nicht locker: »Und die richtige Zeit zeigt die Uhr auch nicht an.«
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»Natürlich nicht!«, sagte Glatzkopf-Li sehr von oben herab. »Sie zeigt nämlich Greenwich-Zeit an, deine Uhr aber Pekinger Zeit. Das ist ein großer Unterschied.« Nachdem Glatzkopf-Li ein halbes Jahr lang mit seiner ausländischen Uhr, die Greenwich-Zeit anzeigte, angegeben hatte, war sie plötzlich verschwunden. An seinem Handgelenk prangte stattdessen eine brandneue Armbanduhr Marke »Diamant« aus einheimischer Produktion. Die Leute wunderten sich: »Du hast ja eine neue Uhr?« »Ja, ich bin zu Pekinger Zeit übergegangen«, erwiderte Glatzkopf-Li und schüttelte das Handgelenk mit der funkelnagelneuen Armbanduhr. »Die Greenwich-Zeit ist an sich völlig okay, aber sie passt einfach nicht nach China. Deshalb habe ich mich doch für die Pekinger Zeit entschieden.« Die Leute erkundigten sich voller Neid, wie er denn überhaupt zu der schönen neuen »Diamant«-Uhr gekommen sei. Aufgebracht holte Glatzkopf-Li einen Kassenzettel aus der Hosentasche und hielt ihn dem Frager unter die Nase. »Gekauft habe ich sie mir!«, rief er. Nun waren die Leute erst recht verwundert: Ein Trödler und eine teure »Diamant«-Uhr, wie passte das zusammen? Da knöpfte Glatzkopf-Li seine zerlumpte Jacke auf, damit man den Geldbeutel an seinem Gürtel sehen konnte. Er öffnete sogar den Reißverschluss, um den dicken Packen Geldscheine darin vorzuführen. »Na, habt ihr's gesehen? Lauter Volksgeld, schön ordentlich sortiert!«, sagte er. Fassungslos sperrten die Leute Mund und Augen auf. Nach einem Moment fragte jemand, der sich offenbar bei Glatzkopf-Li einschmeicheln wollte: »Was ist eigentlich aus deiner ausländischen Uhr mit der Greenwich-Zeit geworden?« 644
»Hab ich verschenkt«, antwortete Glatzkopf-Li. »An einen ausgeflippten Schwachsinnigen auf meiner ehemaligen Arbeitsstelle.« Seit er an seinem Handgelenk zu Pekinger Zeit übergegangen war, schien Glatzkopf-Li mit doppelter Energie zu arbeiten. Er beschloss, einen Verschlag für seine Altstoffe zu bauen, beschaffte Bambusstangen und Stroh und entfaltete vor dem Sitz der Kreisregierung eine rege Bautätigkeit. Dabei griff er auf die Hilfe seiner getreuen Paladine aus der Geschützten Werkstatt zurück. Jeder von ihnen tat, was er am besten konnte: Zwei geistig Behinderte hielten die Bambusstangen hoch, die von den Hinkebeinen mit ihren kräftigen Händen in den Boden gerammt wurden; von den Gehörlosen - eine Art Allzwecktruppe - waren drei für die Herstellung der Wände und zwei für das Decken des Dachs zuständig, während die Blinden eine Kette gebildet hatten und ihnen die Strohbündel anreichten. Glatzkopf-Li selbst stand daneben und gab als Bauleiter die Kommandos. Nachdem seine Hilfstruppen mit viel Geschrei und Getöse drei Tage lang im Schweiße ihres Angesichts geschuftet hatten und der Verschlag fertig war, fiel Glatzkopf-Li plötzlich auf, dass einer von den geistig Behinderten fehlte, und zwar der, der seinerzeit aus Liebe zu Lin Hong ausgeflippt war. Als er sich bei dem hinkenden Leiter nach ihm erkundigte, berichtete dieser, der Mann sei früher die Pünktlichkeit in Person gewesen und weder zu spät gekommen noch vorzeitig gegangen, doch seit er Glatzkopf-Lis ausländische Uhr trüge, sei er überhaupt nicht mehr zur Arbeit erschienen. Ob das
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wohl an der Greenwich-Zeit liege, wollte der Hinkende von Glatzkopf-Li wissen. »Bestimmt!«, meinte dieser schmunzelnd. »Zeitverschiebung nennt man das wohl.« Seine dreizehn Getreuen schleppten Bett und Tisch, Bettzeug und Kleidung, Waschschüssel und Petroleumherd, Geschirr und Essstäbchen, kurz: den gesamten Hausrat aus seiner Wohnung herbei, und Glatzkopf-Li zog vergnügt und munter in seine neue Behausung ein. Bald nachdem er seine Zelte vor dem Sitz der Kreisregierung aufgeschlagen hatte, sahen die Bewohner von Liuzhen, wie ein Trupp Postarbeiter anrückte und in Glatzkopf-Lis Strohhütte eine Telefonleitung verlegte. Da dies der erste Privatanschluss in der ganzen Stadt war, zerrissen sich die Leute natürlich darüber das Maul, zumal das Telefon von morgens bis abends und sogar noch mitten in der Nacht klingelte. Die Bediensteten der Kreisregierung behaupteten, nicht einmal beim Kreisvorsteher läute das Telefon so häufig wie bei Glatzkopf-Li. Er war inzwischen ganz offiziell in den Altstofthandel eingestiegen, ließ sich die Altwaren auch nicht mehr schenken, sondern bezahlte die Leute dafür. Der Berg vor dem Sitz der Kreisregierung wuchs zusehends, und selbst in seinem Verschlag türmte sich der Trödel beziehungsweise - wie er selbst sich ausdrückte - »das hochwertige Altgut«. Passanten sahen häufig, wie er mit seligem Lächeln inmitten dieses »hochwertigen Altguts« saß und sich an seinen Schätzen ergötzte. Die Leute beobachteten aber auch, dass jede Woche Lastkraftwagen von außerhalb kamen und die von GlatzkopfLi vorher sortierten Altstoffe abholten. Wenn sie wieder weg646
fuhren, stand er vor der Tür des Verschlages, schaute erst noch den davonfahrenden Autos nach und leckte dann die Finger an, um die Scheine in seiner Hand zu zählen. Seine Kleidung war abgetragen wie eh und je, aber einen neuen Geldbeutel hatte er sich doch geleistet. Es war jetzt ein richtig großes Portmonee, das mit den vielen Scheinen so prall gefüllt war, dass es wie aufgeblasen aussah. In seiner Brusttasche steckte ein Büchlein, in dem er auf der Aktivseite die Altstoffgeschäfte verbuchte und auf der Passivseite die Schulden aus dem fehlgeschlagenen Versuch, eine Konfektionsfirma zu gründen. Die fünf Gläubiger - Tong, Zhang, Guan, Yu und Wang hatten mittlerweile alle Hoffnung aufgegeben und ihr Geld endgültig abgeschrieben. Nicht im Traum hätten sie damit gerechnet, dass Glatzkopf-Li seine Schulden eines Tages zurückzahlen würde. Aber ebendies tat er, nachdem er mit seinem Altwarenhandel zu Geld gekommen war. Eines Tages, als Stieleis-Wang mit dem Eiskasten auf dem Buckel an dem Stroh-Verschlag vorbeiging, kam GlatzkopfLi - nur mit einer kurzen Hose bekleidet - eilig hinter seinem Trödel hervor und rief mit lauter Stimme, Wang solle mal kurz stehen bleiben. Als er sich umdrehte (wegen des schweren Kastens sehr langsam), sah er, dass Glatzkopf-Li ihm Zeichen machte näher zu kommen. Stieleis-Wang rührte sich jedoch nicht von der Stelle - wer weiß, was der Kerl jetzt wieder im Schilde führt!, dachte er. Als Glatzkopf-Li rief, er wolle ihm sein Geld zurückgeben, glaubte er seinen Ohren nicht zu trauen und drehte sich sogar um, ob hinter ihm vielleicht jemand anders stehe, an den diese Worte gerichtet waren.
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Aber Glatzkopf-Li zeigte auf ihn und sagte ungeduldig: »Ja, Sie sind gemeint! Ich will meine Schulden zurückzahlen.« Immer noch argwöhnisch setzte Stieleis-Wang sich zu ihm in den Verschlag zwischen den gestapelten Trödel. Während Glatzkopf-Li sein Büchlein aufschlug und sich in die Berechnung der Stieleis-Wang zustehenden Zinsen vertiefte, schaute dieser sich neugierig in der Hütte um. Alles Lebensnotwendige war vorhanden, außerdem ein Ventilator, von dem sich Glatzkopf-Li anpusten ließ. Stieleis-Wang sagte neidisch: »Du hast ja sogar einen Ventilator!« Glatzkopf-Li machte nur »Hm!« und drückte abwesend auf einen Knopf, woraufhin der Ventilatorkopf hin- und herzuschwenken begann, sodass auch Stieleis-Wang in den Genuss des erfrischend kühlen Luftstroms kam. Als Glatzkopf-Li die Stieleis-Wang zustehende Summe Kapital und Zinsen - ausgerechnet hatte, blickte er auf und sagte entschuldigend: »Im Moment bin ich ein bisschen knapp bei Kasse und kann meine Schulden nur in monatlichen Raten abstottern, aber ich werde mich bemühen, innerhalb eines Jahres alles zurückzuzahlen.« Dann holte er sein Portmonee hervor, nahm das Geld heraus, zählte und tat das meiste wieder zurück, drückte aber Stieleis-Wang die erste Rate in die Hand. Dem zitterten vor Aufregung nicht nur die Hände, sondern sogar die Lippen. Pausenlos wiederholte er, er hätte nie gedacht, dass sich Glatzkopf-Li das alles in sein Büchlein schreiben würde, wo er doch selbst die Sache längst vergessen habe. Den Tränen nahe, sagte er, nicht einmal geträumt habe er von der Rückzahlung seiner fünfhundert Yuan, noch dazu mit Zinsen. Er verstaute die Scheine sorgfältig in seiner Tasche, dann holte 648
er ein Stieleis aus dem Kasten und hielt es Glatzkopf-Li hin er habe nichts anderes, das er ihm schenken könne. Glatzkopf-Li schüttelte den Kopf und erklärte, das Motto der Volksbefreiungsarmee zitierend: »Ich nehme von den Volksmassen nicht einmal Nadel und Faden an!« Stieleis-Wang entgegnete, das Eis habe mit Nadel und Faden der Volksmassen überhaupt nichts zu tun, sondern sei lediglich ein kleines Geschenk als Ausdruck seiner freundschaftlichen Gefühle - nicht mehr als eine kleine Aufmerksamkeit. Daraufhin erwiderte Glatzkopf-Li, dann könne er es erst recht nicht annehmen. Stieleis-Wang solle die »kleine Aufmerksamkeit« in den Eiskasten zurücklegen. Wenn er aber unbedingt etwas für ihn tun wolle, möge er Schmied Tang, Schneider Zhang, Scherenschleifer Guan den Jüngeren und Zahnreißer Yu verständigen, dass er - Glatzkopf-Li - mit der Abzahlung seiner Schulden begonnen habe. Prompt erschienen gegen Abend die Genannten und dazu noch einmal Stieleis-Wang. Vor der Strohhütte begrüßten sie »Direktor Li« mit großem Hallo, aber Glatzkopf-Li, der mit nacktem Oberkörper zu ihnen hinausgekommen war, sagte mit abwehrender Geste: »Nix Direktor! Ich bin jetzt der Trödler Li!« Die fünf nahmen das kichernd zur Kenntnis, und dann richteten sich vier Augenpaare auf Schmied Tang. Der begriff sofort, er sollte wieder einmal für alle sprechen. Er setzte also ein Lächeln auf und begann: »Man hört, du willst Geld zurückzahlen?« »Nicht Geld! Schulden!«, verbesserte ihn Glatzkopf-Li.
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»Geld oder Schulden, das läuft ja aufs Gleiche hinaus«, sagte Schmied Tong kopfnickend. »Und Zinsen soll es auch geben?« »Selbstverständlich!«, antwortete Glatzkopf-Li. »Ich bin sozusagen die Volksbank, und Sie haben bei mir ein Sparkonto.« Diesen Vergleich fanden die fünf sehr treffend, wie man an ihrem eifrigen Kopfnicken sah. Nun sagte Glatzkopf-Li mit einem Blick auf den Strohverschlag, drinnen sei es zu eng für sechs Leute, daher könne er sie nicht hineinbitten und müsse im Freien mit ihnen abrechnen. Bei diesen Worten hatte er sich bereits auf die Erde gesetzt, sein Büchlein hervorgeholt und begonnen, halblaut vor sich hin murmelnd zu rechnen. Die fünf Gläubiger bemerkten, dass seine kurze Hose, die er als einziges Kleidungsstück trug, schmutziger war als ein Putzlappen. Deshalb zögerten sie, seinem Beispiel zu folgen und sich ebenfalls auf die Erde zu setzen, denn sie für ihren Teil hatten eigens für den Besuch bei Glatzkopf-Li gebadet und sich umgezogen. Als Zhang, Guan, Yu und Wang ein weiteres Mal Schmied Tong fragend anblickten, überlegte der nicht lange und ließ sich neben Glatzkopf-Li auf der Erde nieder. Für Geld würde ich mich sogar in die Scheiße setzen, sagte er sich im Stillen. Die anderen vier folgten umgehend seinem Beispiel. Glatzkopf-Li rechnete mit jedem einzelnen seiner Gläubiger ab, die im Kreis vor und neben ihm saßen, und zahlte ihnen ihren Abschlag aus. Dann ergriff Schmied Tong stellvertretend für alle das Wort und entschuldigte sich in aller Form bei Glatzkopf-Li dafür, dass sie ihm seinerzeit in ihrer Wut über das verlorene Geld zu nahe getreten seien. 650
Glatzkopf-Li hörte aufmerksam zu, konnte sich aber ein wenig Wortklauberei dann doch nicht verkneifen: »Ihr seid mir nicht >zu nahe getreten< - mit Fausthieben und Fußtritten seid ihr über mich hergefallen, sodass ich ganz grün und blau und geschwollen war.« Tong, Zhang, Guan, Yu und Wang waren peinlich berührt und lächelten verlegen. Schließlich machte sich Schmied Tong noch einmal zum Sprecher aller fünf Gläubiger und sagte: »Von heute an kannst du uns verdreschen, wie es dir beliebt. Wir werden uns nicht wehren. Das gilt für ein Jahr.« Die anderen vier bekräftigten das kopfnickend: »Jawohl, für ein Jahr!« Glatzkopf-Li ärgerte sich. »Wie kleinlich ihr seid! Wollt einen Edlen mit der Elle eines Gemeinen messen. Der Edle aber kennt die Rache nicht!«, sagte er würdevoll. Die Nachricht, dass Glatzkopf-Li begonnen habe, seine Schulden zurückzuzahlen, verbreitete sich wie ein Lauffeuer in unserer kleinen Stadt Liuzhen und sorgte für großes Aufsehen. Man war sich einig, Glatzkopf-Li sei ein außergewöhnlicher Mensch. War er mit dem Aufkauf von Altstoffen schon zum wohlhabenden Mann geworden, wie reich wäre er dann erst geworden, wenn er Gold statt Trödel aufgekauft hätte! Wahrscheinlich wäre er dann der reichste Mann in ganz China, meinten die Leute. Diese anerkennenden Worte kamen auch Glatzkopf-Li zu Ohren. Bescheiden, wie er nun einmal war, kommentierte er sie folgendermaßen: »Das ist nun wirklich zu viel des Lobes! Ich mache nur ein paar kleine Geschäfte, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das hält sich alles sehr im Rahmen.« 651
Eine kleine Reminiszenz wollte er sich jedoch nicht versagen: Als er seinerzeit von seinem Posten zurücktrat, um als Vogel Roch eine Konfektionsfirma aufzumachen, habe er dafür teuer - sehr teuer! bezahlen müssen; und als er es sich anders überlegt habe und wieder in die Geschützte Werkstatt zurückwollte, habe man ihm das nicht gestattet, sodass ihm gar nichts anderes übrig geblieben sei, als einen Sitzstreik zu machen und nebenbei ein paar Altstoffe für den Verkauf zu sammeln, um sich über Wasser zu halten. Dass daraus dann ein regulärer Altwarenhandel wurde, hätte er selbst am wenigsten erwartet. Abschließend zog er das Resümee aus seinen Erfahrungen und verklickerte den Leuten von Liuzhen in ziemlich hochtrabenden Worten die Lehre, die er für sich gezogen hatte: »In der Geschäftswelt, da ist es so: Blumen, die man mit viel Mühe pflanzt, erblühen nicht, eine Weidenrute dagegen, die man gedankenlos in die Erde steckt, wächst zu einem Schatten spendenden Baum heran.«
XXII Das unauthaltsame Wachstum von Glatzkopf-Lis Altwarenhandel führte am Ende dazu, dass den verantwortlichen Funktionären des Kreises der Geduldsfaden riss. Angesichts des ständig höher werdenden Altstoffgebirges vor ihrer Haustür rechneten sie nach: Fast vier Jahre dauerte der Sitzstreik dieses Glatzkopf-Li nun schon, und seit über drei Jahren sammelte er Altstoffe. Hatte er zunächst nur an einer Seite des Portals einen kleinen Haufen gelagert, so türmte sich der Trödel inzwischen auf jeder Seite zu je zwei Bergen. 652
Auch hatte er zehn Hilfskräfte angeheuert, deren Arbeitszeit sich praktischerweise nach dem Läuten richtete, das den Angestellten der Kreisregierung Dienstbeginn und Dienstschluss verkündete. Anfangs hatten die Einwohner von Liuzhen nur beobachtet, dass Lastkraftwagen von außerhalb Altstoffe abtransportierten, doch inzwischen schafften sie sogar frische Ware aus anderen Orten herbei, die dann von Glatzkopf-Li sortiert und partieweise in alle Teile des Landes verkauft wurde. Diese rasante Entwicklung verschlug den Leuten förmlich die Sprache. Ob dieser Glatzkopf-Li am Ende den Ehrgeiz hatte, zum Bettlerkönig von ganz China zu werden? ... Er selbst schüttelte nur den Kopf und erklärte den Leuten großspurig, an Macht und Einfluss sei er überhaupt nicht interessiert; er sei Geschäftsmann. Durch ihn sei Liuzhen bereits zu einem der wichtigsten Umschlagplätze für Altstoffe in Ostchina geworden. Das sei aber nur der erste Schritt auf diesem »langen Marsch«, die erste Etappe. »Die zweite Etappe wird ganz China sein, und die dritte die Welt«, sagte er. »Dieser Tag ist gar nicht mehr so fern! Stellt euch das bloß einmal vor - Liuzhen als Zentrum des internationalen Altstofthandels! Dann werden wir hier wirklich eine >unvergleichlich liebliche Landschaft< haben, wie es der Vorsitzende Mao so schön gesagt hat.« Die führenden Persönlichkeiten unseres Kreises kamen alle aus ärmlichen Familien. Der Schmutz oder Gestank, den der Wind in ihre Büros trieb, machte ihnen nichts aus. Was sie befürchteten, war etwas ganz anderes: Wenn Vertreter ihrer vorgesetzten Behörde eine Inspektion ansetzten und zu ihnen nach Liuzhen kämen, würde ihnen beim Anblick der vier 653
riesigen Altstoffberge vor dem Eingang womöglich schlecht werden, und in ihrer Wut würden sie dann anfangen zu toben und herumzuschreien, das Gebäude sehe nicht aus wie der Sitz einer Behörde, sondern wie eine Mülldeponie. Nun fürchteten die Führungskader unseres Kreises zwar weder Himmel noch Hölle, dennoch gab es etwas, wovor sie Angst hatten: nicht befördert zu werden. Schlecht gelaunte Vorgesetzte könnten unter Umständen für einen Karriereknick sorgen ... Folglich kamen einige wichtige Leute zu einer Krisensitzung zusammen, auf der beschlossen wurde, das Problem schnellstens aus der Welt zu schaffen, und zwar ehe Glatzkopf-Li Liuzhen zum Zentrum des Welt-Altstoffhandels gemacht habe; denn danach würde es zweifellos noch schwieriger werden. Alle stimmten darin überein, dass die Beseitigung der Altstoffberge vor ihrem Dienstsitz als Schwerpunktprojekt zu behandeln sei. Zwei Möglichkeiten wurden in Erwägung gezogen. Der eine Vorschlag sah vor, Bewaffnete Polizei und Volkspolizei einzusetzen, um die Altstoffberge zu beseitigen. Dieser Vorschlag wurde jedoch rasch verworfen, da Glatzkopf-Li bei der Bevölkerung in hohem Ansehen stand - in höherem sogar als der Kreisvorsteher selbst (!) -, weil er als Erstes seine Schulden zurückgezahlt hatte, nachdem er mit seinen Altwaren zu Geld gekommen war. Die Führungskader des Kreises wussten, dass mit dem Volkszorn nicht zu spaßen ist. Mit einem wie Glatzkopf-Li wäre man zwar schnell fertig; man befürchtete jedoch, bestimmte Leute könnten die Gelegenheit nutzen, um zu provozieren, Unruhe zu stiften und ihren eigenen Frust abzureagieren. 654
Deshalb wurde der zweite Vorschlag angenommen, demzufolge Glatzkopf-Lis Forderung erfüllt und es ihm gestattet werden sollte, als Leiter in die Geschützte Werkstatt zurückzukehren. Auf diese Weise würden zum einen ein Genosse wieder auf den rechten Weg gebracht und zum anderen die Altstoffberge vor dem Sitz der Kreisregierung aus dem Weg geräumt. Nachdem eine entsprechende Anweisung von Kreisvorsteher und Kreisparteisekretär an das Amt für Zivilverwaltung ergangen war, suchte dessen Leiter Glatzkopf-Li zu einem Gespräch auf. Tao Qing, der vier Jahre zuvor Glatzkopf-Li »aus dem System der Zivilverwaltung ausgestoßen« hatte und ihn nun wiederum höchstpersönlich zurückholen sollte, hatte ein durchaus mulmiges Gefühl, als er sich auf den Weg machte. Zu gut kannte er seinen Glatzkopf-Li: Hatte er keine Leiter, würde er auf Händen und Füßen nach oben krabbeln, gab man ihm aber eine Leiter, würde er womöglich von einem verlangen, ihn auf dem eigenen Rücken nach oben zu schleppen. Deswegen hatte er sich vorgenommen, dem Kerl zunächst einmal einen Schuss vor den Bug zu geben und ihn erst dann wieder zum »Direktor Li« zu machen. Bei seiner Ankunft am Fuß des Altstoffgebirges war Glatzkopf-Li gerade dabei, seinen zehn Hilfsarbeitern Anweisungen zu geben. Nachdem er eine Weile gewartet, Glatzkopf-Li ihn aber immer noch nicht bemerkt hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als mit einem vernehmlichen Hüsteln auf seine Anwesenheit aufmerksam zu machen. Als Glatzkopf-Li sich umwandte und seinen ehemaligen Vorgesetzten erblickte, begrüßte er ihn sogleich äußerst herzlich: »Schön, dass Sie mich besuchen, Herr Tao!« 655
Ganz Amtsleiter, winkte Tao Qing mit ernster Miene ab: »Ich war gerade in der Nähe und dachte, ich schaue bei der Gelegenheit einmal vorbei.« »Besuch ist Besuch!«, entgegnete Glatzkopf-Li unbeeindruckt. Dann rief er seinen zehn Arbeitern zu: »Mein ehemaliger Vorgesetzter, Amtsleiter Tao, ist auf Besuch zu uns gekommen. Wir wollen ihn mit einem kräftigen Applaus begrüßen!« Die zehn ließen gehorsam fallen, womit sie gerade beschäftigt waren, und klatschten müde in die Hände. Als Tao Qing die Stirn runzelte und ihnen nur kurz zunickte, sagte Glatzkopf-Li, der das offensichtlich für nicht ausreichend hielt, leise zu ihm: »Wollen Sie nicht vielleicht noch ein paar Worte zu ihnen sagen? >Genossen, ihr seid ja wirklich fleißig!< oder so?« Amtsleiter Tao schüttelte den Kopf und sagte: »Nein.« »Also gut!« Glatzkopf-Li nickte und rief den Arbeitern zu: »Ihr könnt jetzt weitermachen. Ich gehe mal kurz mit Amtsleiter Tao ins Büro.« Dann nötigte er seinen Besucher einzutreten und bot ihm den einzigen Stuhl an, den es in der Strohhütte gab. Er selbst setzte sich aufs Bett. Tao Qing, auf allen Seiten von Altwaren umgeben, sah sich um. Ihm kam sofort die Redensart vom Spatz in den Sinn, der zwar klein ist, aber doch alle lebenswichtigen Organe hat. Dann fiel sein Blick auf den Ventilator, und er sagte: »Sogar einen Ventilator hast du! ... « »Ja, schon seit zwei Jahren«, erwiderte Glatzkopf-Li stolz. »Nächstes Jahr wird er aber ausrangiert, da lasse ich mir eine Klimaanlage einbauen.«
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Im Stillen dachte Tao Qing, dieser Bastard sagt das absichtlich, um mich unter Druck zu setzen! Er ließ sich jedoch nichts anmerken und meinte nur: »Eine Klimaanlage hier in dieser Strohhütte? Das wäre wohl doch nicht das Richtige.« »Wieso denn nicht?«, fragte Glatzkopf-Li. »Weil die Wände nicht dicht sind«, antwortete Tao. »Denk an deine Stromrechnung! « »Ach, da bezahle ich eben ein bisschen mehr, darauf kommt es nun wirklich nicht an«, erwiderte Glatzkopf-Li großspurig. »Hauptsache, ich habe die Klimaanlage, dann ist es in dieser Hütte im Sommer wie im schicksten Hotel!« Tao Qing ertappte sich abermals beim Gebrauch des bewussten Kraftausdrucks, allerdings auch wieder nur im Stillen. Er stand auf und ging hinaus. Glatzkopf-Li folgte ihm eilends und fragte höflich, ob er nicht noch ein wenig bleiben wolle. »Keine Zeit!«, sagte Tao kopfschüttelnd. »Da wartet noch eine Sitzung auf mich.« Glatzkopf-Li wandte sich zu seinen Arbeitern um und sagte: »Amtsleiter Tao möchte jetzt gehen. Wollen wir ihn mit einem kräftigen Applaus verabschieden!« Die zehn klatschten abermals müde in die Hände und Tao Qing nickte ihnen wieder kurz zu. Glatzkopf-Li, ganz der vollendete Gastgeber, sagte: »Sie finden den Weg allein?« Mit einer entsprechenden Handbewegung machte Tao deutlich, dass er ihn nicht zu begleiten brauche, und ging los. Nach ein paar Schritten blieb er jedoch stehen und winkte Glatzkopf-Li zu sich, als wäre ihm gerade noch etwas eingefallen. Er klopfte ihm auf die Schulter und sagte leise: »Schreib eine Selbstkritik!« 657
»Eine Selbstkritik?«, fragte Glatzkopf-Li verblüfft. »Warum denn das?« »Die Sache vor vier Jahren - du weißt schon!«, antwortete Tao Qing. »Schreib eine Selbstkritik, und gib zu, dass es ein Fehler war. Dann kannst du als Leiter in die Geschützte Werkstatt zurück.« Jetzt begriff Glatzkopf-Li. Geringschätzig lächelnd sagte er: »Daran habe ich schon lange kein Interesse mehr.« Zum dritten Mal beschimpfte ihn Tao im Stillen als Bastard, wahrte aber nach außen hin Haltung: »Überleg es dir! Das ist eine Chance.« »Eine Chance?«, rief Glatzkopf-Li und deutete auf seine vier Altstoftberge. »Das da ist meine Chance!«, sagte er, nicht ohne Pathos. Mit finsterer Miene fuhr Tao Qing fort: »Ich rate dir, denk trotzdem darüber nach.« »Da brauche ich nicht nachzudenken«, entgegnete Glatzkopf-Li. »Ein so großes Unternehmen aufgeben, um in einer Bude wie der Geschützten Werkstatt den Leiter zu machen, nein danke! Das wäre ein schlechter Tausch. Ich würde die Wassermelone verlieren, bloß weil ich ein Sesamkörnchen aufheben will!« Der Kreisvorsteher war wütend, dass es Tao Qing nicht gelungen war, Glatzkopf-Li in die Geschützte Werkstatt zurückzuholen. Er warf ihm jetzt vor, ihn seinerzeit »ausgestoßen« zu haben: »Du hast den Tiger damals wieder in die freie Wildbahn entlassen, und was haben wir davon? Jetzt bedroht er die Menschen in unserem ganzen Kreis!« Tao Qing zog den Kopf ein und ließ die Strafpredigt widerspruchslos über sich ergehen. Zurück im Amt für Zivilverwaltung, rief er seine zwei Abteilungsleiter zu sich und ließ 658
seinerseits ein Donnerwetter los, ohne dass die Ärmsten auch nur die geringste Ahnung hatten, was er ihnen zur Last legte. Nachdem er seinem Ärger Luft gemacht hatte, war für ihn das Kapitel Glatzkopf-Li mitsamt seinem Altwarenhandel erledigt. Es verging ein weiterer Monat. Glatzkopf-Li hatte seinen Standort immer noch nicht geräumt; im Gegenteil, er begann sogar, einen fünften Berg aufzuhäufen. Der Kreisvorsteher, der eingesehen hatte, dass er in dieser Angelegenheit nicht mehr auf Tao Qing rechnen konnte, entsandte nunmehr seinen Vertrauten, den Leiter des Büros der Kreisregierung, zu Glatzkopf-Li. Dieser hatte Tao Qing als seinen einstigen Wohltäter voller Respekt behandelt, den neuen Abgesandten des Kreisvorstehers jedoch ließ er ziemlich derb abfahren. Als der verbindlich lächelnde Büroleiter vor dem Portal auftauchte und mit honigsüßen Worten auf ihn einzureden begann, war Glatzkopf-Li gerade damit beschäftigt, neu angelieferte Ware zu sortieren. Dabei ließ er sich auch durch den Besuch des Büroleiters nicht stören, sodass der ihm zwischen den Altstoffhaufen ständig hinterhergehen musste. Als er merkte, dass ihm die Zeit davonlief und Glatzkopf-Li seine unfreundliche und abweisende Haltung offensichtlich nicht ändern würde, deckte er kurz entschlossen die Karten auf und sagte: »Der Kreisvorsteher bittet Sie in sein Büro.« Glatzkopf-Li schüttelte den Kopf und entgegnete: »Ich habe jetzt keine Zeit.« Der Büroleiter klopfte ihm vertraulich auf die Schulter und flüsterte ihm zu, Kreisvorsteher und Kreisparteisekretär sowie ihre jeweiligen Stellvertreter hätten nach eingehender Prüfung bereits zugestimmt, dass er wieder den Posten des 659
Leiters der Geschützten Werkstatt übernehme. Dies sei der Grund, warum der Kreisvorsteher ihn sehen wolle. »Beeilen Sie sich!«, schloss er. »So eine Gelegenheit kommt nicht zweimal.« Ohne von seiner Arbeit aufzublicken und ohne das kleinste Anzeichen von Dankbarkeit für den Tipp erkennen zu lassen, erwiderte Glatzkopf-Li: »Sehen Sie nicht, dass ich beschäftigt bin?« Da verzog sich der Büroleiter beleidigt und berichtete dem Kreisvorsteher, was Glatzkopf-Li zu ihm gesagt hatte. Der Kreisvorsteher schleuderte vor Wut die Akten, die er gerade in der Hand hatte, auf den Fußboden und rief: »So eine bodenlose Frechheit! Wenn hier jemand beschäftigt ist, dann höchstens ich!« Dieser Wutausbruch änderte jedoch nichts daran, dass er sich nun selbst zu Glatzkopf-Li bemühen musste. Es stand nämlich ein Inspektionsbesuch des Stellvertretenden Provinzgouverneurs an, und bis dahin musste der Kreisvorsteher die fünf Altstoffberge vor dem Portal seines Amtssitzes unter allen Umständen beseitigt haben. Innerlich voller Grimm, setzte er also eine überaus freundliche Miene auf und sagte: »Na, Glatzkopf-Li, sind Sie immer noch beschäftigt?« Als er den Kreisvorsteher kommen sah, hatte Glatzkopf-Li sein Tun unterbrochen, um sich ihm zu widmen. Er befleißigte sich jetzt auch eines bescheideneren Tones: »Beschäftigt? So würde ich das nicht nennen. Wenn das hier jemand von sich sagen kann, dann höchstens Sie!« Da der Kreisvorsteher sich nicht zu lange inmitten von Glatzkopf-Lis Altstoffbergen aufhalten wollte, um den Vorübergehenden kein Schauspiel zu bieten, fiel er sogleich mit 660
der Tür ins Haus: Die Leitung habe Glatzkopf-Lis Antrag, in die Geschützte Werkstatt zurückzukehren, unter der Voraussetzung zugestimmt, dass er innerhalb von zwei Tagen die fünf Altstoffberge beseitige. Glatzkopf-Li hörte sich das wortlos an und sortierte weiter seinen Trödel. Während der Kreisvorsteher auf die Antwort wartete, kochte er innerlich: Statt sich für mein Entgegenkommen zu bedanken, lässt dieser Kerl mich hier stehen wie einen dummen Jungen! Glatzkopf-Li hatte gerade eine Mineralwasserflasche entdeckt, die noch nicht ganz leer war. Nachdem er sie in aller Ruhe aufgeschraubt und den Rest getrunken hatte, wischte er sich über die Lippen und fragte den Kreisvorsteher, wie viel er im Monat verdienen würde, falls er als Leiter in die Geschützte Werkstatt zurückkehre. Der Kreisvorsteher konnte ihm diese Auskunft nicht geben, meinte aber, für die Gehälter von Funktionären gebe es staatliche Regelungen. Da erkundigte sich Glatzkopf-Li, wie viel er selber denn bekomme, woraufhin er ausweichend antwortete, es seien nur ein paar hundert Yuan. Glatzkopf-Li zeigte grinsend auf seine zehn schwitzenden Arbeiter und sagte: »Jeder von denen verdient mehr als Sie!« Dann bot er ihm großzügig an, ebenfalls für ihn zu arbeiten. »Ich biete Ihnen 1000 Yuan im Monat«, sagte er. »Und bei entsprechender Leistung gibt's zusätzlich Prämien.« Vor Wut lief der Kreisvorsteher bläulich an. Nachdem er sich wieder in sein Büro verzogen hatte, bekam er einen regelrechten Tobsuchtsanfall. Dann ließ er seinen Büroleiter kommen und übertrug ihm die Lösung des Falles. GlatzkopfLi müsse vor Ankunft des Stellvertretenden Provinzgouver-
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neurs die Trödelberge vor dem Portal beseitigen, koste es, was es wolle. Mit sorgenvoller Miene ging der Büroleiter abermals zu Glatzkopf-Li und fragte ihn geradeheraus: »Also los, sagen Sie mir, unter welchen Bedingungen Sie abziehen.« Jetzt wusste Glatzkopf-Li, dass sein Plan funktionierte. Er schickte zunächst noch einmal voraus, dass er nicht in die Geschützte Werkstatt zurückzukehren gedenke, und setzte dann dem Büroleiter wortreich auseinander, dass er von dem bisschen Gehalt, das er dort beziehen würde, nicht leben könnte. »Außerdem«, erklärte der in Lumpen gewandete Jung-Unternehmer stolz, »ein gutes Pferd frisst keine Futterreste!« Der Büroleiter wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Doch just in diesem Augenblick wechselte Glatzkopf-Li die Tonart. Plötzlich ganz bescheiden, wies er darauf hin, dass das Sammeln von Altstoffen eine durchaus ehrbare Beschäftigung sei, die als Beitrag zum Aufbau des Sozialismus und als eine Art des Dienstes am Volke von der Regierung unterstützt zu werden verdiene. Im Übrigen denke er schon lange darüber nach, wie er das Altstoff-Gebirge vor dem Sitz der Kreisregierung beseitigen könne, denn er wolle auf keinen Fall, dass die Leitung und mit ihr alle Menschen im Kreis das Gesicht verlören. Es bereite ihm Kummer, dass er bisher keinen anderen Platz gefunden habe und er deshalb schweren Herzens weiter hier bleiben müsse. Das klang alles so vernünftig und einleuchtend, dass der Büroleiter nur immerfort nicken konnte. Nunmehr ging Glatzkopf-Li dazu über, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war. Er sagte, ihm sei bekannt, dass das Liegenschaftsamt des 662
Kreises über mehrere Gebäude mit leer stehenden Läden zur Straße verfüge, außerdem über den ebenfalls immer noch ungenutzten Speicher, den er schon einmal für seine Konfektionsfirma angemietet hatte. Der Speicher liege ja ziemlich weit außerhalb, und die große Freifläche davor sei wie geschaffen für die Lagerung von Altmaterialien. Die erwähnten Gebäude in der Stadt wiederum könnte man ihm überlassen, um darin Filialen seiner Altstoffsammelfirma einzurichten. Damit wären auf einen Schlag die bisher leer stehenden Immobilien einer sinnvollen Nutzung zugeführt und zugleich das Problem der Altstoffberge vor dem Sitz der Kreisregierung gelöst. »Das wäre doch eine für beide Seiten zufriedenstellende Lösung«, schloss er. Der Bürovorsteher nickte und versprach, man werde diesen Vorschlag prüfen. Nach einer knappen Stunde erschien er zusammen mit dem Leiter des Kreis-Liegenschaftsamtes wieder bei Glatzkopf-Li und teilte diesem mit, seitens des Kreises habe man zugestimmt, ihm drei leer stehende Objekte günstig zu vermieten. Darüber hinaus könne man ihm den bewussten Speicher für drei Jahre kostenlos überlassen. Bedingung sei allerdings, dass innerhalb von zwei Tagen die fünf Altstoffberge verschwunden wären. »Zwei Tage?«, rief Glatzkopf-Li kopfschüttelnd. »Das ist viel zu lang! Hat der Vorsitzende Mao nicht gesagt, wir müssten jeden Tag und jede Stunde nutzen? Ich brauche nicht länger als einen Tag.« Gesagt, getan. Glatzkopf-Li heuerte einhundertvierzig Bauern an, die zusammen mit seinen schon vorhandenen zehn Hilfskräften und mit seiner eigenen tätigen Mithilfe innerhalb von vierundzwanzig Stunden wie durch Zauberkraft 663
die fünf hohen Altstoffberge vor dem Sitz der Kreisregierung verschwinden ließen, hinterher alles sauber machten und darüber hinaus rechts und links vom Portal je zehn Töpfe mit Immergrün aufstellten. Als Kreisvorsteher, Kreisparteisekretär und die anderen Leitungskader am nächsten Morgen zum Dienst kamen, staunten sie nicht schlecht - hatten sie sich etwa in der Adresse geirrt?! In seiner Begeisterung ließ sich der Kreisvorsteher sogar zu der anerkennenden Bemerkung hinreißen, dieser Glatzkopf-Li habe wohl doch auch seine Stärken. Unter den Einwohnern unserer kleinen Stadt Liuzhen, die sich längst an Glatzkopf-Lis Altstoffberge gewöhnt hatten und über deren plötzliches Verschwinden staunten wie über einen neu entdeckten Kontinent, sprach sich die Nachricht in Windeseile herum. Alle strömten zum Gebäude der Kreisregierung, um das Wunder zu bestaunen, und alle fanden, das Eingangsportal habe sehr gewonnen. Richtig malerisch sehe es aus - das sei ihnen früher überhaupt nicht aufgefallen. Eine Woche später nahm Glatzkopf-Lis »Recycling-Firma Li« den Geschäftsbetrieb auf. Zwei Tage vorher hatte Schmied Tong eine Versammlung einberufen, an der außer ihm selbst Schneider Zhang, Scherenschleifer Guan der Jüngere, Zahnreißer Yu und Stieleis-Wang teilnahmen. Zwei Beschlüsse wurden gefasst: Erstens, alle beteiligen sich an einer Geldsammlung für ein zünftiges Feuerwerk, und zweitens, alle bringen ihre Freunde und Bekannten mit zur feierlichen Eröffnung von Glatzkopf-Lis Firma. Am Ende wohnten fast einhundert Gratulanten und darüber hinaus mehr als zweihundert gut gelaunte Zaungäste der Eröffnung bei. Über eine Stunde lang dauerte das Feuerwerk; man fühlte sich gerade664
zu auf ein fröhliches Tempelfest an Neujahr versetzt, so laut und bunt ging es zu. Mit geröteten Wangen und einer großen roten Blüte am Revers, ansonsten aber immer noch angezogen wie der letzte Bettler, kletterte Glatzkopf-Li auf einen Tisch und rief voller Rührung: »Danke! ... Danke! ... Danke! ... Danke! ... Danke! ... « Nach diesem hilflosen Gestammel kam dann aber doch noch eine leidlich zusammenhängende Ansprache. »Nicht einmal wenn jemand Hochzeit macht, kommen so viele Gäste wie heute, auch nicht, wenn jemand stirbt«, begann er. Donnernder Beifall. Glatzkopf-Li, der gerade richtig in Fahrt geraten war, konnte abermals nicht weitersprechen und wischte sich vor Rührung schniefend die Augen. Er öffnete den Mund, um weiterzureden, musste jedoch noch mehrmals heftig schlucken, ehe er endlich schluchzend hervorbrachte: »Früher gab es ein Lied, das kennt ihr alle: >Der Himmel ist weit, die Erde groß, am größten die Fürsorge der Partei! Vater und Mutter, sie stehen uns nah, am nächsten der Vorsitzende Mao! Nichts ist so gut wie der Sozialismus, nichts ist so tief wie die Klassenliebe!< ... « Wieder musste er sich die Augen trocknen, wieder schniefte er, und wieder begann er: »Ich möchte euch dieses Lied in etwas abgewandelter Form vorsingen ... « Schluchzend hub er an: »Der Himmel ist weit, die Erde groß, am größten die Fürsorge der Partei und von euch! Vater und Mutter, sie stehen uns nah, am nächsten der Vorsitzende Mao und ihr alle! Nichts ist so gut wie der Sozialismus und ihr, nichts ist so tief wie eure Klassenliebe!«
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XXIII Glatzkopf-Lis Unternehmen entwickelte sich rasant. Nach einem Jahr besorgte er sich einen Reisepass, in dem ein Visum für Japan klebte, denn dieses Land wollte er besuchen, damit sein Altwarenhandel eine internationale Dimension gewann. Vor seiner Abreise suchte er eigens Tong, Zhang, Guan, Yu und Wang auf und fragte, ob sie diesmal auch wieder Aktien kaufen wollten. Nicht, dass es ihm an dem nötigen Kapital mangelte! Es war einfach so, dass Glatzkopf-Li sich an seine fünf einstigen Geschäftspartner erinnerte, als er sich jetzt anschickte, wirklich superreich zu werden, so wie er es angekündigt hatte, und ihnen noch einmal die Chance geben wollte, in seine Fußstapfen zu treten und ebenfalls reich zu werden. Als er in seinen zerlumpten Sachen in die Schmiede trat, diesmal nicht mit einer Weltkarte, sondern mit seinem Reisepass in der Hand, hielt er Schmied Tong sogleich das kostbare Stück unter die Nase und rief: »Sie haben bestimmt noch keinen Reisepass gesehen, stimmt's?« Der Schmied hatte zwar gehört, dass es so etwas wie Pässe gebe, tatsächlich gesehen hatte er jedoch noch keinen. Er putzte sich die Hände an seiner Schürze ab, drehte und wendete Glatzkopf-Lis Reisedokument neiderfüllt hin und her und schlug es schließlich auf. »Da klebt ja ein Stück ausländisches Papier drin!«, rief er überrascht. »Das ist ein japanisches Visum.« Mit diesen Worten nahm der stolze Besitzer dem Schmied den Pass wieder ab und verstaute ihn sorgfältig in der Tasche seiner schäbigen Jacke. Dann setzte er sich auf die Bank, die er als kleiner Junge gevögelt hatte, schlug die Beine lässig übereinander und be666
gann, von den glänzenden Perspektiven des Altstoffhandels zu schwadronieren. China sei mittlerweile schon zu klein geworden, um seinen - Glatzkopf-Lis - Bedarf noch decken zu können; es sei sogar fraglich, ob eine einzige Welt dafür ausreiche. Für den Anfang würde er jedenfalls znnächst nach Japan fahren und dort in großem Maßstab Sachen aufkaufen. Schmied Tong unterbrach ihn: »Was denn für Sachen?« »Altwaren natürlich!«, antwortete Glatzkopf-Li. »Ich fange jetzt mit dem grenzüberschreitenden Altstofthandel an.« Dann fragte er den Schmied, ob er wieder an Aktien interessiert sei. Allerdings müsse er jetzt nicht mehr nur einhundert Yuan für eine Aktie aufwenden wie vier Jahre zuvor, sondern 1000 Yuan, denn inzwischen gehe es um ganz andere Dimensionen. Im Übrigen seien 1000 Yuan pro Aktie ein ausgesprochenes Schnäppchen. Zum Schluss blickte er Schmied Tong abwartend an, wobei seine Miene keinen Zweifel ließ, dass er nun wirklich nicht auf kleine Fische wie ihn angewiesen sei. Der Schmied war hin- und hergerissen. Einerseits stand ihm die bittere Lektion von seiner ersten - missglückten - Geschäftsbeziehung mit dem zerlumpten Mann, der da vor ihm saß, noch sehr deutlich vor Augen, andererseits hatte der Bastard ja tatsächlich eine ganze Menge auf die Beine gestellt. Damals war er allerdings schön in Liuzhen geblieben. Wenn er jetzt die heimatlichen Gefilde verließe, könnte es unter Umständen doch brenzlig werden ... Kopfschüttelnd erklärte der Schmied, er sei am Kauf von Anteilen nicht interessiert. »Mir reicht es, wenn ich mein gesichertes Auskommen habe. Reich werden muss ich nicht«, sagte er.
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Glatzkopf-Li nahm ihm das überhaupt nicht übel, sondern ließ in seiner Miene volles Verständnis für die ablehnende Haltung des Schmiedes erkennen. Schon an der Tür, holte er noch einmal seinen Pass aus der Tasche und wedelte ihn vor Tongs Augen hin und her. »Ich bin jetzt ein internationalistischer Kämpfer!«, sagte er (eine ziemlich originelle Umdeutung des Slogans vom »proletarischen Internationalismus«). Danach suchte er Schneider Zhang und Scherenschleifer Guan den Jüngeren in ihren jeweiligen Werkstätten auf. Beide wussten ebenfalls nicht recht, wie sie sich entscheiden sollten, als Glatzkopf-Li ihnen von seinen grenzüberschreitenden Plänen erzählte. Sie erkundigten sich, ob der Schmied Anteile erworben habe. Als Glatzkopf-Li verneinte und erläuterte, Schmied Tong sei zufrieden, wenn er sein Auskommen habe, und verfolge darüber hinaus keine hochgesteckten Ziele, erklärten beide übereinstimmend, dasselbe treffe auch auf sie zu. Glatzkopf-Li musterte seine ehemaligen Geschäftspartner mit einem mitleidigen Lächeln und sagte wie im Selbstgespräch: »Ja ja, es bedarf schon einigen Mutes, um ein internationalistischer Kämpfer zu sein ... « Kaum war er fort, eilten Schneider Zhang und Scherenschleifer Guan der Jüngere in die Schmiede, um sich nach Tongs wahrer Meinung zu erkundigen. Der Schmied sagte stirnrunzelnd: »Sobald dieser Glatzkopf-Li nicht mehr hier in Liuzhen ist, würde ich keine ruhige Minute mehr haben. Außerdem ist mir der Altstoffhandel selbst nicht so recht geheuer.« »Eben!«, stimmten Zhang und Guan beifällig nickend zu.
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Schmied Tong spuckte kräftig aus und fuhr fort: »Vor über vier Jahren, da waren's einhundert Yuan pro Aktie, jetzt will er plötzlich 1000 und behauptet sogar noch, das wäre ein Schnäppchen. Also, ich finde die Verteuerung geht bei diesem Bastard ein bisschen gar zu schnell!« »Eben!«, sagten Zhang und Guan. »Nicht mal während des Widerstandskrieges gegen die japanischen Aggressoren hatten wir eine derartige Teuerung.« Schmied Tong war offenbar ziemlich verstimmt. »Und wir leben jetzt in Friedenszeiten! Es gibt doch gar keine nationale Katastrophe, aus der der Bastard Kapital schlagen könnte.« »Eben!«, sagten Schneider Zhang und Scherenschleifer Guan der Jüngere. »Dieser Bastard!« Auf der Straße traf Glatzkopf-Li Stieleis-Wang, den er nach seinen negativen Erfahrungen mit Schmied Tong, Schneider Zhang und Scherenschleifer Guan dem Jüngeren nur routinemäßig fragte, ob er Interesse an einer Beteiligung habe. Stieleis-Wang verfiel in ein langes Schweigen. Auch er dachte sofort an die bittere Erfahrung mit Glatzkopf-Lis erstem Versuch als Unternehmensgründer, aber anders als Schmied Tong blieb er dabei nicht stehen. Immerhin hatte GlatzkopfLi seine Schulden zurückgezahlt, sobald es ihm möglich war. Überhaupt hatte er sich mit eigener Kraft aus seiner ausweglosen Lage befreit, das musste man ihm lassen. Von da aus kam er auf seine eigene, mehr als prekäre Situation: Zwar hatte er inzwischen 1000 Yuan auf seinem Sparkonto, aber das war eindeutig viel zu wenig, um davon einen einigermaßen sorgenfreien Lebensabend zu finanzieren. Selbst wenn er dieses Geld jetzt tatsächlich einbüßen sollte, würde sich dar669
an nicht viel ändern. Und die größere Hälfte seines Lebens war ja ohnehin vorbei ... Glatzkopf-Li, der neben ihm stand und zusah, wie StieleisWang stumm überlegte, verlor am Ende die Geduld: »Was denn nun - ja oder nein?« Stieleis-Wang blickte auf und fragte: »Für fünfhundert gibt's also nur eine halbe Aktie?« »Ja, und das ist schon ein Vorzugspreis!«, erwiderte Glatzkopf-Li. »Also gut, ich bin dabei«, rang sich Stieleis-Wang durch. »Ich setze 1000.« Glatzkopf-Li blickte ihn staunend an und sagte: »Hätte ich nicht gedacht, dass ausgerechnet Sie so viel Weitblick haben und so vorausschauend handeln würden! Man soll eben einen Menschen nicht nach seinem Äußeren beurteilen - das Meer lässt sich wirklich nicht mit einem Scheffel messen!« Anschließend suchte er Zahnreißer Yu auf, der zu jenem Zeitpunkt gerade in einer existenziellen Krise steckte. Das Kreis-Gesundheitsamt hatte nämlich verfügt, dass alle Quacksalber wie Zahnreißer Yu sich einer Prüfung zu unterziehen hätten. Wer die bestünde, würde eine Lizenz zur Ausübung medizinischer Tätigkeiten erhalten, allen anderen würde die Zulassung entzogen. Als Glatzkopf-Li erschien, war Zahnreißer Yu gerade dabei, mit geschlossenen Augen halblaut etwas vor sich hin zu murmeln. Er hatte eine dicke »Anatomie des menschlichen Körpers« auf dem Schoß, in die er wieder und wieder hineinschauen musste, da er spätestens nach einem halben Satz, den er sich mühsam eingeprägt hatte, nicht mehr wusste, wie es weiterging. Wenn er dann, abermals mit geschlossenen Augen, das Ganze noch einmal zu wiederholen versuchte, war der Anfang schon wieder ver670
gessen, sodass er die Augen gleich noch einmal aufriss, um ein weiteres Mal nachzulesen. Wer diesen ständigen Wechsel Augen zu - Augen auf mit ansah, hätte meinen können, er mache gerade Augengymnastik. Als Glatzkopf-Li sich in dem Liegestuhl niederließ, hatte Zahnreißer Yu gerade wieder die Augen geschlossen. Er nahm an, ein Kunde sei gekommen. Dann öffnete er die Augen und sah, es war nur Glatzkopf-Li. Dennoch war er froh über die Unterbrechung und klappte sofort erleichtert sein Buch zu. »Weißt du, was das Allerbeschissenste auf der Welt ist? «, fragte er seinen Besucher voller Grimm. »Nein. Was denn?« »Unser Körper!«, rief Zahnreißer Yu und klatschte mit der flachen Hand auf die »Anatomie des menschlichen Körpers«. »Dass ein normaler Mensch so viele Organe hat - geschenkt! Aber diese Unmengen von Muskeln, Blutgefäßen, Nerven! Wie soll man sich all diese Namen bloß merken? Ich bin schließlich auch nicht mehr der Jüngste. Sag selbst, ist das nicht beschissen?« Glatzkopf-Li stimmte kopfnickend zu. »Doch, das ist verdammt beschissen.« Einmal in Fahrt, fuhr Zahnreißer Yu fort, seinem Ärger Luft zu machen. Mehr als dreißig Jahre lang sei er nun schon im Beruf und habe unzählige Zähne gezogen, stets zur vollsten Zufriedenheit - der beste Zahnreißer im Umkreis von fünfzig Kilometern sei er, meinten ja die Leute nicht ohne Grund. Und jetzt käme plötzlich dieses beschissene KreisGesundheitsamt daher und verlange, dass er sich prüfen lasse. Damit aber tue einer wie er, der »beschissene Zahnreißer Yu« (so seine eigenen Worte), sich nun einmal verdammt 671
schwer. Vor Erregung traten ihm Tränen in die Augen. Sein Lebtag habe er stets einen tadellosen Leumund besessen, nur um zu guter Letzt »in der Kloake zu kentern« (wieder OTon) - alles wegen dieser verdammten »Anatomie des menschlichen Körpers«! Er ließ seinen Blick über die vorübergehenden Passanten schweifen und beschloss sein Klagelied voller Erbitterung mit den Worten: »Und was tun die Leute? Sie schauen untätig zu, wie der beste Zahnreißer im Umkreis von fünfzig Kilometern einfach so von der Bildfläche verschwindet!« Glatzkopf-Li, den der Ausbruch des Zahnreißers sehr erheitert hatte, tätschelte ihm beruhigend den Handrücken und fragte, ob er denn Interesse habe, noch einmal Aktien zu kaufen. Yu kniff die Augen zusammen und überschlug wie Glatzkopf-Lis andere ehemalige Geschäftspartner im Stillen das Für und Wider. Die Erinnerung an das Fiasko beim letzten Mal verunsicherte ihn doch sehr, mehr noch allerdings die »Anatomie des menschlichen Körpers«. Er erkundigte sich, ob Tong, Zhang, Guan und Wang auch wieder mit von der Partie seien, woraufhin Glatzkopf-Li ihm berichtete, nur Stieleis-Wang habe eine Aktie gekauft. Nach allem, was vorgefallen war, konnte Zahnreißer Yu über Wangs Wagemut nur staunen. »Wieso traut der sich das? ... «, sagte er mehr zu sich selbst als zu Glatzkopf-Li. »Er handelt eben vorausschauend und hat Weitblick«, lobte Glatzkopf-Li den Eisverkäufer. »Überleg doch mal: Auf wen oder was sollte er denn seine Hoffnungen setzen, wenn nicht auf mich?!« Zahnreißer Yu, der auf die »Anatomie des menschlichen Körpers« blickte und bei sich dachte, um ihn stünde es nicht 672
viel anders als um Stieleis-Wang, rang sich zu einem heroischen Entschluss durch: »Auch ich handele vorausschauend und habe Weitblick! Ich gebe 2000 Yuan. Zwei Anteile für mich!« Mit diesen Worten schmiss er die »Anatomie des menschlichen Körpers« auf die Erde und trampelte sogar noch darauf herum. Dann ergriff er Glatzkopf-Lis Hand und setzte zu einer sehr emotionalen Loyalitätserklärung an: »Ich habe volles Vertrauen zu dir, Glatzkopf-Li! Wenn du es schon mit Altwaren so weit gebracht hast, wirst du es mit anderen Unternehmungen gewiss noch weiter bringen. Wer weiß, vielleicht wirst du irgendwann sogar ein ganzes Land unter dir haben.« »An politischer Macht bin ich aber gar nicht interessiert«, warf Glatzkopf-Li mit einer abwehrenden Handbewegung ein. Unbeirrt fuhr der Zahnreißer fort: »Hast du deine Weltkarte noch? Die mit den vielen kleinen Punkten? Sobald ich mit dir zusammen richtig reich geworden bin, werde ich all diese Orte abklappern, so wahr ich Zahnreißer Yu bin!« Ehe Glatzkopf-Li als Vogel Roch zum zweiten Mal abhob, stärkte er sich wieder in Mutter Sus Imbissladen mit FleischBaozi. Während er aß, holte er den Reisepass aus der Tasche seiner zerlumpten Jacke, damit auch Mutter Su ihren Horizont ein wenig erweitern konnte. Erstaunt nahm sie den Pass in die Hand und musterte ihn eingehend. Als sie das Foto darin entdeckte, verglich sie es mit dem vor ihr sitzenden Glatzkopf-Li und erklärte schließlich: »Die Person auf dem Foto hier, die sieht dir richtig ähnlich!« 673
»Ähnlich?«, rief Glatzkopf-Li. »Das bin doch ich!« Mutter Su konnte sich von dem Pass gar nicht wieder losreißen. Staunend fragte sie: »Und damit lassen sie dich aus China heraus? Und nach Japan rein?« »Selbstverständlich!«, erwiderte Glatzkopf-Li und nahm ihr den Pass aus der Hand. »Ihre Hände sind ganz fettig«, sagte er mit einem strafenden Blick. Während er mit seinem Jackenärmel den Pass von dem Fett befreite, wischte sich Mutter Su verlegen die Hände an ihrer Schürze ab. Nach einem prüfenden Blick auf seine abgetragene Kleidung fragte sie: »Willst du in diesem Aufzug nach Japan reisen?« »Keine Sorge, ich werde meinen Landsleuten keine Schande machen«, antwortete Glatzkopf-Li und klopfte sich den Staub von der Jacke. »Sobald ich in Schanghai bin, werde ich mich richtig schick verkleiden!« Als er satt war und sich anschickte, die Imbissstube zu verlassen, fiel ihm ein, dass Mutter Su ja vor vier Jahren ebenfalls beinahe seine Aktionärin geworden wäre und er auch ihr eine neue Chance geben sollte. Er erzählte ihr also in kurzen Worten, was er vorhatte, und bot ihr an, sich zu beteiligen. Mutter Su dachte sogleich an den missglückten Versuch mit der Konfektionsfirma. Damals sei sie mit einem blauen Auge davongekommen, überlegte sie, weil sie im Tempel Weihrauch geopfert hatte, sonst hätte sie ihr Geld gewiss auch eingebüßt. Da die Imbissstube in letzter Zeit so gut lief, dass sie keine freie Minute hatte, war sie schon drei Wochen lang nicht mehr dazu gekommen, im Tempel zu räuchern. Unter diesen Umständen hielt sie es jetzt für viel zu riskant, Aktien 674
zu erwerben, und lehnte daher kopfschüttelnd ab, was Glatzkopf-Li mit einem bedauernden Nicken quittierte. Dann wandte er sich um und marschierte, jeder Zoll ein unerschrockener Held, zum Fernbusbahnhof unserer kleinen Stadt Liuzhen. Der Vogel Roch breitete zum zweiten Mal seine Schwingen aus. XXIV Der Vogel Roch flog nach Japan, besuchte Tokio, Osaka, Kobe und andere Städte und ließ auch Hokkaido und Okinawa nicht aus. Während der zwei Monate seines JapanAufenthalts kaufte Glatzkopf-Li insgesamt 3567 Tonnen getragene Kleidung auf. Es handelte sich durchweg um sehr hochwertige Anzüge, die wie neu aussahen und nicht minder schick waren als die Armani-Anzüge, die Glatzkopf-Li später tragen sollte. Die Japaner hatten sie jedoch in die Kleidersammlung gegeben und dann an ihn verkauft. Um die japanischen Altkleider nach Schanghai zu transportieren, charterte er einen chinesischen Frachter, denn ein japanisches Schiff, sagte er, würde viel zu teuer allein die Lohnkosten für die japanischen Arbeiter, die die Sachen aufs Schiff verladen würden, wären höher gewesen als der Wert der gesamten Ladung. In Schanghai angekommen, schlug Glatzkopf-Li seine Ware sofort los, denn die »Altstoff-Könige« aus dem ganzen Land waren in jenen Tagen in der Stadt zusammengeströmt und hatten, wie berichtet wird, ein Vier-Sterne-Hotel an der Nanjing-Straße im Zentrum der Stadt vollständig mit Beschlag belegt. Mit Jutesäcken voller Bargeld hatten sie an der Rezeption eingecheckt, sich dann mit ihren Geldsäcken in den 675
Fahrstuhl gezwängt und schließlich mit Sack und Pack ihr jeweiliges Zimmer bezogen. All das Geld aus den Säcken landete letztlich bei Glatzkopf-Li, während die Altkleider anschließend per Bahn, Lastwagen und Frachtkahn in alle Ecken des Vaterlandes verteilt wurden. Überall rissen sich die Leute ihre schäbigen Mao-Uniformen vom Leib und zogen die abgelegten Anzüge an, die Glatzkopf-Li aus Japan herangeschafft hatte. Natürlich hatte er auch seine engeren Landsleute nicht vergessen: 5000 Anzüge waren eigens für unsere kleine Stadt Liuzhen reserviert. Sogenannte »westliche« Anzüge, wie sie zum Beispiel in Europa und Amerika getragen werden, waren zu jener Zeit sehr in Mode, und alle jungen Männer in Liuzhen ließen sich vor der Hochzeit von Schneider Zhang einen solchen Anzug schneidern. Nachdem dieser mehr als zwanzig Jahre lang nur Mao-Uniformen gefertigt hatte, war er, der Mode folgend, nunmehr dazu übergegangen, westliche Anzüge zu fertigen, was die leichteste Sache von der Welt sei, wie er erklärte, da ja die Schulterpolster die gleichen blieben und nur der Kragen ein anderer sei. Die jungen Männer von Liuzhen mussten jedoch feststellen, dass ihre westlichen Anzüge einheimischer Machart nach spätestens zwei Monaten die Fasson verloren und überhaupt nicht mehr saßen. Mit seinen Secondhand-Anzügen sorgte Glatzkopf-Li daher für eine mittlere Sensation in unserer kleinen Stadt Liuzhen. Die Leute strömten wie die Lemminge zu jenem Speicher und ruhten nicht eher, bis sie einen passenden Anzug gefunden hatten. Diese »Altkleider« sähen aus wie ungetragen, meinten sie erstaunt, dabei seien sie billiger als ihre alten Anzüge es neu gewesen waren. Noch nicht einmal einen Monat spä676
ter war kein einziger von Glatzkopf-Lis 5000 japanischen Anzügen mehr übrig. In dieser Zeit herrschte in der »Recycling-Firma Li« ein Kommen und Gehen wie in einem Teehaus. Glatzkopf-Li, der sofort nach der Rückkehr wieder seine schäbigen alten Klamotten angezogen hatte, hielt dort Hof und wurde nicht müde, vor den staunenden Bewohnern unserer kleinen Stadt Liuzhen mit seinen Erlebnissen in Japan zu prahlen. Jedes Mal, wenn die Leute hörten, wie teuer dort alles sei, verzogen sie befremdet das Gesicht zu einer Grimasse, zumal wenn sie von Glatzkopf-Li erfuhren, dass man für das gleiche Geld, das ein Frühstück aus Sojamilch und Ölstriezeln in Japan koste, in unserer kleinen Stadt Liuzhen fast ein ganzes Schwein bekäme. Noch dazu seien die Portionen dort so winzig - kein Vergleich zu den randvollen Schüsseln Sojamilch in Liuzhen. »Die Japaner«, erzählte Glatzkopf-Li, »die trinken ihre Sojamilch aus Becherchen, die sind kleiner als unsere Teeschalen! Und erst die Ölstriezel! Dünner als Essstäbchen sind die.« Die Zuhörer waren beeindruckt. In dieses Japan, meinten sie einhellig, könne man nicht reisen. Selbst ein Fettwanst wie der eberköpfige Zhu Bajie aus der Sage würde sich dort zweifellos zu einem »Weißknochengeist« herunterhungern müssen. »Genau! Da kann man nicht hin«, sagte Glatzkopf-Li. »In Japan haben sie Geld, aber keine Bildung.« »Keine Bildung? In Japan?«, wunderten sich die Leute. Glatzkopf-Li sprang auf und lief durch die Gasse, die die Umstehenden für ihn bildeten, zu der Wandtafel, auf der sonst die Beträge für die Altwaren verzeichnet wurden. Er 677
schrieb mit Kreide die Ziffer 9 an die Tafel, dann wandte er sich um und fragte: »Wie liest man diese Zahl?« »]iu«, kam die vielstimmige Antwort. »Richtig.« Glatzkopf-Li schrieb hinter die 9 eine 8. »Und wie liest die sich?« »Ba.« »Richtig.« Glatzkopf-Li nickte zufrieden mit dem Kopf, warf die Kreide hin und setzte sich wieder an seinen ursprünglichen Platz. »Das sind bekanntlich arabische Zahlen, die kennt man überall in der Welt. Und auch wir benutzen sie ja ganz selbstverständlich neben unseren eigenen chinesischen Zahlen. Die Japaner aber, die kennen die arabischen Zahlen nicht einmal!« »Tatsächlich?« Die Leute sperrten vor Erstaunen Mund und Augen auf. Glatzkopf-Li schlug die Beine lässig übereinander. »Ich habe ja in Japan Geld verdient«, begann er wichtigtuerisch, »Und da wollte ich mir auch mal was gönnen, mich ein bisschen amüsieren. Die Frage war bloß, wo? Natürlich da, wo man am tiefsten in die fremde Kultur eindringen kann. Und wo kann man am tiefsten in die fremde Kultur eindringen? Natürlich in einer Bar! Nur wusste ich ja nicht, wo ich eine Bar finde, Japanisch konnte ich auch nicht, mein Chinesisch würden wieder die Japaner nicht verstehen - also, was sollte ich tun?« Er machte eine Kunstpause, strich sich übers Kinn und ließ seine Blicke über die Zuhörer schweifen. Nachdem er die atemlose Stille ein Weilchen genossen hatte, fuhr er ganz gemächlich fort: »Plötzlich hatte ich eine Idee: die arabischen Zahlen! Wenn die Japaner schon keine chinesischen 678
Schriftzeichen verstehen - die arabischen Zahlen würden sie ja wohl kennen.« Allgemeines Kopfnicken. Glatzkopf-Li fuhr fort: »Ich schrieb also eine 9 und eine 8 auf meine Handfläche, denn wie spricht sich das aus? Jiu bat Und das hört sich genauso an wie jiuba, und jiuba bedeutet bekanntlich Bar!« »Stimmt!«, riefen die Leute. »9 und 8 hintereinander gelesen, das klingt tatsächlich wie jiuba, das weiß jedes Kind.« »Nicht im Traum hätte ich gedacht«, sagte Glatzkopf-Li, »dass keiner von den siebzehn Japanern, denen ich meine Hand mit 98 gezeigt habe, mich verstehen würde. Die kapierten einfach nicht, was ich wollte! Haben eben keine Bildung, diese Japaner!« »Genau!«, riefen seine Zuhörer im Chor. »Aber Geld haben sie!«, schloss Glatzkopf-Li seinen Erfahrungsbericht. XXV In unserer kleinen Stadt Liuzhen trug inzwischen alles, was Rang und Namen hatte, die von Glatzkopf-Li herangeschafften Secondhand-Anzüge, und alles, was nicht Rang und Namen hatte, ebenfalls. Vor lauter Stolz auf ihre schicken Anzüge kamen sich die Männer von Liuzhen mindestens so großartig wie ausländische Staatschefs vor und sprachen das auch aus, sehr zu Glatzkopf-Lis Erheiterung. Schmunzelnd wies er darauf hin, wie verdient er sich um seine Vaterstadt gemacht habe, als er ihr auf einen Schlag zu Tausenden ausländischen Staatsoberhäuptern verhalf. Für die Frauen unserer kleinen Stadt Liuzhen dagegen gab es nach wie vor nichts anderes als die gewohnte biedere Kleidung aus einheimi679
scher Produktion, sodass sie von den Männern als Landpomeranzen verspottet wurden. Die Kerle selbst wurden nicht müde, sich an ihrem von den Schaufensterscheiben der Geschäfte undeutlich gespiegelten schmucken Outfit zu ergötzen. Wenn sie nur früher gewusst hätten, dass sie einmal so elegant aussehen würden wie ausländische Staatsoberhäupter, stöhnten sie, dann hätten sie doch nie im Leben solche Landeier geheiratet! Als einziger von den Männern in Liuzhen trug Glatzkopf-Li keinen westlichen Anzug. Er fand, dass es sich dabei letztlich doch nur um von fremden Leuten abgelegte Sachen handele, mochten die Anzüge auch noch so schick sein. Seine eigenen schäbigen Klamotten dagegen waren immerhin von ihm selbst abgenutzt worden. Das sprach er aber wohlweislich nicht aus. Wenn er gefragt wurde, warum er sich immer noch so nachlässig kleide, antwortete er vielmehr bescheiden: »Ich bin schließlich Altwarenhändler, da muss ich natürlich auch solche abgewetzten Sachen tragen.« Die japanischen Secondhand-Anzüge trugen auf der inneren Brusttasche jeweils ein Etikett mit einem Namen, eine Art Monogramm. Das sorgte für viel Gesprächsstoff unter den neuen Besitzern. Anfangs sah man immerzu Männer auf der Straße stehen, die ihre Jacken zurückschlugen, damit die anderen sehen konnten, was für ein Name bei ihnen eingenäht war. Das war dann immer eine große Gaudi. Dichter Zhao und Schriftsteller Liu, die zu jener Zeit noch immer ihren literarischen Tagträumen nachhhingen, waren wie alle anderen zu Glatzkopf-Lis Speicher geeilt, sobald sie hörten, dass es dort japanische Anzüge gab, und hatten die dort aufgetürmten Kleiderberge nach etwas Passendem 680
durchwühlt. Schriftsteller Liu brauchte drei Stunden, ehe er einen »Mishima«-Anzug gefunden hatte. Dichter Zhao, der ihm nicht nachstehen mochte, verbrachte sogar vier Stunden damit, einen »Kawabata«-Anzug zu suchen. Von da an führten die beiden Geistesfürsten unserer kleinen Stadt Liuzhen, die vor Stolz fast platzten, bei jeder Begegnung mit Bekannten die Namensschilder in ihren Jacken vor. Zwei ganz besondere Namen seien dies, erläuterten sie ihren unwissenden Mitbürgern, denn die beiden größten japanischen Schriftsteller trügen ihn: Mishima Yukio und Kawabata Yasunari. Nach ihren leuchtenden Augen bei diesen Worten zu urteilen, hätte man meinen können, sie wären durch die Wunderkraft ihrer Anzüge nun selber zum Mishima beziehungsweise Kawabata unserer kleinen Stadt Liuzhen mutiert. Wenn sie sich jetzt auf der Straße trafen, zogen sie ein regelrechtes Ritual ab. Zunächst verbeugten sie sich ganz tief voreinander, dann begannen sie, erlesene Höflichkeiten auszutauschen. Schriftsteller Liu sagte kopfnickend und lächelnd zu Dichter Zhao: »Wie ist es dir denn in letzter Zeit ergangen?« Ebenfalls kopfnickend und lächelnd antwortete Dichter Zhao: »Danke der gütigen Nachfrage. Eigentlich ganz gut.« »Und hast du in letzter Zeit ein paar neue Gedichte geschrieben?« »Nein, keine Gedichte, ich habe in letzter Zeit einen Essay >Ich lebe im schönen Liuzhen< konzipiert.« »Guter Titel!«, lobte Schriftsteller Liu mit lauter Stimme. »Erinnert mich an Kawabatas berühmten Essay >Ich lebe im schönen Japan<.« Dichter Zhao nickte, etwas befangen, dann fragte er den anderen: »Und du? Was für Erzählungen hast du in letzter Zeit geschrieben?« »Keine Erzählungen. 681
Ich habe einen Roman >Der Tempel der Himmlischen Ruhe< konzipiert.« »Guter Titel!«, lobte Dichter Zhao, ebenfalls mit lauter Stimme. »Erinnert an Mishimas Meisterwerk >Der Tempel des Goldenen Pavillons<.« Abschließend verbeugten sich die beiden Geistesfürsten von Liuzhen abermals voreinander und gingen dann gemessenen Schrittes in entgegengesetzter Richtung weiter. Die Leute blickten ihnen höchst amüsiert nach und machten sich über die beiden lustig. Eine Stunde sei es erst her gewesen, sagte jemand, da hätte er die Bastarde beieinander stehen gesehen. Wieso dann jetzt dieses affige »in letzter Zeit«? Und die tiefen Verbeugungen? Letztere Frage konnten die alten Leute beantworten, die als Kinder noch die japanischen Okkupanten erlebt hatten. Die hätten sich immer so voreinander verneigt, sagten sie. Daraufhin warf einer von den Passanten ziemlich respektlos ein: »Die beiden sind aber eindeutig keine japanischen Bastarde, sondern Bastarde aus Liuzhen!« Zahnreißer Yu und Stieleis-Wang spazierten in Hochstimmung durch die Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen, denn nachdem Glatzkopf-Li mit den japanischen SecondhandAnzügen zu Geld gekommen war, hatten auch seine beiden Aktionäre die Taschen voller Yuan - man weiß ja: Steigt der Wasserspiegel, wird auch das Schiff gehoben! Zahnreißer Yu hatte die dickleibige »Anatomie des menschlichen Körpers« fortgeworfen und seine Zahnreißer-Utensilien ausrangiert. Er habe sein Geschäft aufgegeben, erklärte er. Von nun an gebe es im Umkreis von fünfzig Kilometern keinen »besten Zahnreißer« mehr, und es sei ihm ganz egal, wenn jetzt die 682
werten Landsleute in Liuzhen an ihren schmerzenden Zähnen eingingen. Stieleis-Wang folgte sofort dem Beispiel des Zahnreißers und warf seinen Eiskasten in die Ecke. Im nächsten Sommer würde man ihn nicht mehr Stieleis verkaufen sehen, verkündete er, und wenn die Herrschaften in Liuzhen mangels Erfrischung krepierten, würde ihn das überhaupt nicht kratzen. Als Zahnreißer Yu in seinem neuen alten Anzug beim Flanieren auf Stieleis-Wang stieß, der natürlich ebenfalls in einem japanischen Anzug steckte, brachen die bei den in fröhliches Gelächter aus, fröhlicher sogar als die sprichwörtliche Warzenkröte, die sich nach Schwanenfleisch sehnt und es unerwarteterweise tatsächlich zu fressen kriegt. Zahnreißer Yu klatschte sich auf die pralle Hosentasche und fragte: »Und? Hast du dein Geld bekommen?« Stieleis-Wang tat es ihm nach und antwortete: »Klar!« »Kometenhafter Aufstieg, so nennt man das«, resümierte Zahnreißer Yu, ganz der geborene Emporkömmling. Dann fragte er den anderen neugierig nach dem Namen in seinem Anzug. Statt einer Antwort schlug Stieleis-Wang großspurig seine Jacke auf und ließ Yu den eingestickten Namen »Sanyo« bewundern. Der Zahnreißer rief erstaunt: »Sanyo! Der Elektronikriese!« Da er dem stolzgeschwellten Wang nicht nachstehen wollte, zeigte er ihm jetzt auch den Namen auf seiner eigenen Brusttasche. »Toshiba!«, rief Stieleis-Wang. »Auch ein Elektronikriese!« »Da sind wir also Kollegen«, stellte Zahnreißer Yu fest. Dann fügte er aber schnell hinzu: »Kollegen, aber auch Konkurrenten!« 683
»So ist es!«, bestätigte Stieleis-Wang nickend. Da kam Song Gang des Weges, ebenfalls in einem westlichen Anzug. Weil praktisch alle männlichen Einwohner unserer kleinen Stadt Liuzhen solche Anzüge trugen, hatte sich auch Lin Hong aufgemacht und zwei Stunden lang die Haufen in dem Speicher durchgewühlt, bis sie endlich einen schicken schwarzen Anzug fand, in dem ihr stattlicher Mann in Liuzhen für beträchtliches Aufsehen sorgte. Alle waren des Lobes voll. Er sei der geborene Anzug-Typ, sehe noch besser aus als Song Yu und sei noch eleganter als Pan An. Das wollte etwas heißen, waren dies doch die sprichwörtlichen Beaus im alten China. Zahnreißer Yu und Stieleis-Wang, die das hörten, nickten dazu zwar mit den Köpfen, in Wirklichkeit aber waren sie ganz anderer Meinung. Yu winkte Song Gang zu sich und fragte: »Wie heißt denn dein Anzug?« Song Gang schaute nach und antwortete: »>Foton<.« Zahnreißer Yu und Stieleis-Wang sahen sich an, dann meinte Wang: »Nie gehört!« »Ich auch nicht«, sekundierte Yu. »Oder doch: Machen die nicht Autos? Aber wer kennt schon >Foton<-Autos? Du könntest statt dessen wenigstens >Toyota< reinsticken, das würde mehr hermachen«, schlug er vor. Song Gang erwiderte schmunzelnd: »Mir passt aber der >Foton
ihm in ihren prominenten Anzügen unendlich überlegen und setzten unvermindert gut gelaunt ihren Spaziergang fort. Nachdem sie von der Hauptstraße in die Gasse eingebogen waren, in der sie wohnten, blieben sie vor Schneider Zhangs Werkstatt stehen. Auch der trug mittlerweile einen der SecondhandAnzüge. Im Moment döste er auf der Bank, wo sonst die Kunden warteten, müßig vor sich hin und starrte seine beiden gut gelaunten Besucher so abwesend an, als nähme er sie gar nicht wahr. Zahnreißer Yu fragte ihn grinsend: »Was steht denn bei dir drin?« Diese Worte rissen Schneider Zhang aus seiner Lethargie. Als er seine Besucher erkannte, sagte er mit einem bitteren Lächeln: »Dieser Glatzkopf-Li, der ist ja so was von fies! Wie kann der so einen Haufen Importanzüge an schleppen? Klar, dass da keiner mehr meine will.« Zahnreißer Yu ging jedoch über den Kummer des Schneiders völlig ungerührt hinweg. Ihn interessierte nur der Name in dessen Anzug, deshalb fragte er ihn noch einmal danach. Zhang winkte nur ab. »In den nächsten Jahren wird sich niemand mehr einen Anzug machen lassen«, seufzte er. Zahnreißer Yu wurde ärgerlich. »Ich habe dich gefragt, was bei dir drinsteht!«, rief er. Da endlich fiel bei Zhang der Groschen. Er schlug die Jacke zurück und schaute nach. »>Hatoyama< steht hier.« Yu und Wang tauschten einen Blick, dann fragte Letzterer: »Ist das nicht der Chef der japanischen Gendarmen aus >Die rote Laterne Der Wüterich, den die Widerstandskämpfer ausgetrickst haben?« Schneider Zhang nickte: »Ja, genau der.«
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Dass der Schneider keinen Anzug mit einem unbedeutenden Namen trug, war in gewisser Weise eine Enttäuschung für Yu und Wang. Stieleis-Wang fragte den Zahnreißer: »Kann man diesen Hatoyama auch als Promi bezeichnen?« »Bekannt ist der Name schon, und >Die rote Laterne< war ja auch eine von den Revolutionären Modellopern, aber es handelt sich um eine negative Gestalt ... « Stieleis-Wang nickte eifrig. »Genau, eine bekannte negative Gestalt.« Nachdem die beiden bei Schneider Zhang ihr Selbstwertgefühl gehörig gestärkt hatten - so sahen sie es jedenfalls -, setzten sie ihren Weg fort und gelangten zur Werkstatt von Scherenschleifer Guan dem Jüngeren. Dieser hatte gleich zwei Anzüge aus Glatzkopf-Lis Beständen erworben, einen schwarzen und einen grauen. Seither war er nicht mehr bereit, Scheren zu schleifen, sondern stand den lieben langen Tag in seiner ganzen neuen Pracht und Herrlichkeit an seiner Ladentür vormittags in dem schwarzen, nachmittags in dem grauen Anzug und überschüttete alle Vorübergehenden mit einem wahren Wortschwall, nicht ohne sich währenddessen die Schuppen abzuklopfen, mit der rechten Hand die von der linken Schulter, mit der linken die von der rechten. Erst nachdem es unter den männlichen Einwohnern von Liuzhen Mode geworden war, die Jacke ihres SecondhandAnzugs aufzuschlagen und den Namen auf der Brusttasche des jeweils anderen zu begutachten, war es Guan aufgefallen, dass auf den Etiketten in seinen beiden Anzügen keine prominenten Namen standen. Darüber grämte er sich tagelang, doch ehe sich sein Groll entladen konnte, entfernte er einfach die bei den No-name-Etiketten und stickte stattdessen eigenhändig »Sony« beziehungsweise »Hitachi« ein. Dass 686
das keine Personennamen waren, wusste er nicht. Er wusste nur, dass die elektrischen Haushaltsgeräte von Sony und Hitachi sehr bekannt und beliebt waren. Als Zahnreißer Yu und Stieleis-Wang im Hochgefühl ihres Erfolges daherkamen, ging er ihnen voller Stolz in seinem schwarzen »Sony«Anzug entgegen und begrüßte sie sogleich mit der Frage: »Welcher Name?« »>Toshiba<«, antwortete Zahnreißer Yu und riss bereitwillig seine Jacke auf, damit Guan das Namensschild selbst in Augenschein nehmen konnte. Dann zeigte er auf StieleisWangs Anzug und sagte: »Er hat >Sanyo<.« »Nicht schlecht!« Scherenschleifer Guan der Jüngere nickte anerkennend. »Machen beide was her.« Schmunzelnd fragte Zahnreißer Yu: »Und du?« »Auch nicht schlecht«, erwiderte Guan und zeigte seine Brusttasche mit dem eigenhändig eingestickten Namen. »>Sony<.« »Da bist du ja auch ein Elektronikriese!«, rief Yu. Guan deutete mit dem Daumen hinter sich. »In meinem Schrank hängt außerdem noch ein >Hitachi<-Anzug<«, sagte er stolz. Überrascht rief Stieleis-Wang: »Aber auf die Art bist du ja dein eigener Kollege!« » Und dein eigener Konkurrent! «, ergänzte Zahnreißer Yu. »Da habt ihr recht«, entgegnete Scherenschleifer Guan der Jüngere, der sich durch diese Bemerkungen sehr gebauchpinselt fühlte. Er klopfte Zahnreißer Yu auf die Schulter und sagte: »Sich selbst herausfordern, so nennt man das, oder?« In bester Laune verließen Yu und Wang den Laden des Scherenschleifers und gingen weiter zur Schmiedewerkstatt. 687
Schmied Tong trug einen dunkelblauen Anzug, hatte sich aber sozusagen symbolisch eine Schürze vorgebunden, in die der Funkenflug lauter kleine Löcher gebrannt hatte. Zahnreißer Yu und Stieleis-Wang machten große Augen, als sie sahen, dass er in einem westlichen Anzug am Amboss stand. Wang fragte Yu leise: »So ein Anzug als Arbeitskleidung geht das denn?« »Westliche Anzüge sind Arbeitskleidung«, rief Schmied Tang, der die geflüsterten Worte gehört hatte. Er legte den Hammer aus der Hand und sagte: »Wie wir aus dem Fernsehen wissen, gehen die Ausländer alle in solchen Anzügen zur Arbeit.« »Genau!« Zahnreißer Yu nahm das Stichwort sofort auf, um StieleisWang zu belehren. »Solche Anzüge sind die Arbeitskleidung der Ausländer.« Stieleis-Wang sah an seinem eigenen Anzug herunter und sagte ein wenig bedripst: »Da laufen wir also alle in Arbeitskleidung herum ... « Zahnreißer Yu dagegen war alles andere als bedröppelt. »Welcher Name steht denn in deinem?«, fragte er eifrig den Schmied. Schmied Tang band sich gemächlich die Schürze ab, öffnete sein Jackett und sagte: »Da drin steht >Tang<.« Zahnreißer Yu staunte: »Gibt es diesen Namen in Japan auch?« »Was soll das heißen? Wieso in Japan? Das ist mein eigener Name!« Zahnreißer Yu verstand überhaupt nichts mehr. »Aber habe ich nicht eben den Namen >Tang< gelesen?«, fragte er. »Doch, den habe ich ja selbst einsticken lassen«, erwiderte der Schmied stolz. »Meine Frau hat den japanischen Namen, 688
der da stand, herausgetrennt und meinen chinesischen Namen eingestickt.« Jetzt hatten Yu und Wang endlich begriffen. Der Zahnreißer sagte nickend: »Der eigene Name ist natürlich okay. Bloß, berühmt ist er nicht gerade ... « Schmied Tang schnaufte verächtlich und band sich seine Schürze wieder um. »Ach, ihr! Tragt ausländische Anzüge und vergesst darüber die eigenen Vorfahren. Kein Rückgrat! Warum hat es damals während des Widerstandskrieges gegen die japanischen Aggressoren wohl so viele Vaterlandsverräter hier in China gegeben? Man braucht bloß eure Fressen zu sehen, dann weiß man es.« Bei diesen Worten fing er an, das Eisen mit seinem Hammer so energisch zu bearbeiten, dass Zahnreißer Yu und StieleisWang Angst bekamen und fluchtartig die Schmiede verließen. Ärgerlich sagte Yu zu Wang: »Von wegen Rückgrat! Scheiße auch! Wenn er selbst welches hätte, würde er ja keinen japanischen Anzug anziehen!« »Genau!«, sagte Stieleis-Wang. »'ne Nutte darf keine Ehrenpforte für Tugendheldinnen verlangen, und wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen!« Auch unser Kreisvorsteher trug jetzt einen SecondhandAnzug. Als er von Glatzkopf-Lis importierten japanischen Altkleidern hörte und sah, dass alle Mitarbeiter der Kreisregierung bereits in dieser Verkleidung herumliefen, beschloss er, sich auch einen zu holen. Also begab er sich in Begleitung von Tao Qing in Glatzkopf-Lis Speicher und erwarb einen Anzug, der ihm wie angegossen saß und auf dessen Brusttasche der Name »Nakasone« prangte. Damals amtierte in Japan Yasu689
hiro Nakasone als Ministerpräsident, was dem Kreisvorsteher natürlich bekannt war. Während er sich vor dem Spiegel drehte und wendete, kam es ihm immer mehr vor, als bestehe tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihm und Nakasone. Ein Kreisvorsteher konnte natürlich nicht wie Zahnreißer Yu und Stieleis-Wang mit dem illustren Namen auf seiner Brusttasche angeben. Als er jedoch einmal die Jacke auszog und über die Stuhllehne hängte, sah jemand zufällig den Schriftzug »Nakasone« und rief unwillkürlich: »Sie tragen ja einen Anzug des japanischen Ministerpräsidenten! « Der Kreisvorsteher freute sich im Stillen, ließ sich aber nach außen nichts anmerken. »Ach, das ist Zufall«, winkte er ab. »Reiner Zufall.« Tao Qing, der Ohrenzeuge dieses Gesprächs war, fuchste das insgeheim sehr, denn den »Nakasone«-Anzug hatte eigentlich er entdeckt. Als er ihn anprobieren wollte, bemerkte er jedoch die saure Miene seines Chefs und legte den Anzug schnell wieder auf den Haufen zurück. Daraufhin hatte der Kreisvorsteher sich ihn sofort geschnappt. Tao, der voller Erbitterung mit ansehen musste, wie er ihn überzog, zwang sich sogar noch zu einem Lächeln, während er beteuerte, wie hervorragend der »Nakasone«-Anzug dem anderen passe. Anschließend hatte er selbst einen unverfänglichen »Takeshita«-Anzug gewählt, damit er nicht womöglich unziemlicher politischer Ambitionen bezichtigt werden könnte. Es blieb aber nicht aus, dass er von da an jeden Morgen, wenn er sein» Takeshita«- Modell anzog, wieder an den Anzug dachte, den ihm sein Chef weggeschnappt hatte. Er ahnte ja nicht, dass Nakasone nach einem halben Jahr nicht mehr Minister690
präsident, sein Nachfolger aber ein gewisser - Noboru Takeshita sein würde! Zufällig wurde zur selben Zeit auch der Kreisvorsteher versetzt und Tao Qing zu seinem Nachfolger ernannt. Während der frischgebackene Kreisvorsteher sein Spiegelbild in dem »Takeshita«-Anzug betrachtete, schossen ihm mancherlei Gedanken durch den Kopf. »Des Himmels unerforschlicher Ratschluss, was sonst!«, murmelte er vor sich hin. XXVI Als Glatzkopf-Li anfing, mit dem Altkleiderhandel richtig Geld zu verdienen, dachte er sofort an Song Gang. Er fand, er müsse den Bruder an seinem Erfolg teilhaben lassen und ihn an seinem Unternehmen beteiligen, damit sie in Zukunft Seite an Seite ihren Weg machen würden. Nach langem Suchen in Truhe und Schrank fand er den Pullover, den Song Gang für ihn gestrickt hatte, als er zum Leiter der Geschützten Werkstatt ernannt worden war. Den zog er am nächsten Morgen an, wobei er darauf achtete, dass im Ausschnitt seiner zerlumpten Jacke jenes eingestrickte »Schiff auf großer Fahrt« gut zu sehen war. Dann machte er sich - es war noch ganz früh - auf den Weg zur Wohnung des Bruders, wo er zum ersten und einzigen Mal viele Jahre zuvor mit der Krankenakte über seine Samenleiter-Ligatur aufgekreuzt war. Während er vor der Tür stand, sah er durchs Fenster, wie sich Song Gangs und Lin Hongs Schatten drinnen bewegten. Sobald die bei den aufmachten und herauskamen, riss er sich aufgeregt die Jacke auf und rief: »Song Gang, erinnerst du dich an diesen Pullover? Und an dieses >Schiff auf großer Fahrt Du hattest damals recht, Song Gang - ich habe es ge691
schafft, jetzt bin ich endlich Kapitän dieses Schiffes! Und du, Song Gang, du wirst jetzt Erster Offizier!« Song Gang war erschrocken, als er die Tür öffnete und Glatzkopf-Li erblickte. Dass der Bruder in aller Frühe vor dem Haus stand, kam für ihn gänzlich unerwartet, denn er hatte jahrelang kein einziges Wort mit ihm gewechselt. Lediglich auf der Straße war er ihm gelegentlich begegnet - vielleicht zehn mal höchstens - und war mit seinem Fahrrad jedes Mal schnell weitergefahren. Bei Glatzkopf-Lis Geschrei vom »Schiff auf großer Fahrt« hatte er beunruhigt zu seiner Frau hinübergeschaut, doch die sah ganz gelassen aus. Mit gesenktem Kopf schob er jetzt sein Fahrrad aus der Tür, stieg auf und wartete, dass Lin Hang sich seitlich auf den Rücksitz setzte. Währenddessen redete Glatzkopf-Li weiter eifrig auf ihn ein: »Song Gang, ich konnte gestern gar nicht einschlafen, weil ich hin und her überlegt habe, was für dich infrage kommt. Du bist ja viel zu gutmütig, sodass die Leute dich leicht reinlegen würden, da bleibt eigentlich nur die Buchführung für dich übrig. Song Gang, wenn du die Finanzen übernimmst, wäre ich so was von beruhigt! Kann gar nicht sagen, wie beruhigt!« Song Gang ging darauf nicht ein. »Habe ich dir nicht schon einmal gesagt, du sollst die Hoffnung aufgeben?«, sagte er kühl und trat in die Pedale. So viel Sturheit hatte Glatzkopf-Li nicht erwartet. Erst stand er stumm da, mit offenem Mund wie ein Idiot, doch gleich darauf begann er, hinter dem sich rasch entfernenden Bruder herzuschimpfen: »Song Gang, du beschissener Bastard, hör mir zu! Voriges Mal hast du mit mir gebrochen, diesmal bre692
che ich mit dir, ein für alle Mal! Von jetzt an sind wir keine Brüder mehr!« Dann überkam ihn Trauer, und er schrie: »Song Gang, du Bastard, du hast wohl alles vergessen, was wir als Kinder durchgemacht haben!« Song Gang hörte sehr wohl, was der Jüngere ihm hinterherrief. Bei dessen letzten Worten kamen ihm unwillkürlich die Tränen. Stumm trat er in die Pedale, und auch Lin Hang, hinter ihm, sagte nichts. Nur ihr zuliebe hatte er sich Glatzkopf-Li gegenüber so unnachgiebig gezeigt. Dass von ihr jetzt keinerlei Reaktion kam, beunruhigte ihn. Nachdem er aus der Gasse abgebogen war, sagte er leise: »Lin Hang? ... « »Hm!« Dann, ebenfalls leise: »Dieser Glatzkopf-Li ... , der hat es ja eigentlich gut gemeint ... « Nun war Song Gang erst recht beunruhigt. »Hätte ich das eben nicht sagen sollen?«, fragte er mit heiserer Stimme. »Doch. Schon«, erwiderte sie, umfasste mit ihren Händen seine Hüften und schmiegte das Gesicht an seinen Rücken. Da stieß Song Gang einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Dann fügte Lin Hong hinzu: »Und wenn er noch so viel Geld hat er ist und bleibt ein Lumpensammler. Überhaupt nichts Großartiges! Wir dagegen haben immerhin unsere Arbeit beim Staat. Wer weiß, was später mit ihm wird, so ohne staatliches Einkommen.« Nachdem Glatzkopf-Li bei Song Gang abgeblitzt war, besann er sich auf seine vierzehn getreuen Paladine in der Geschützten Werkstatt. Er suchte Amtsleiter Tao im Amt für Zivilverwaltung auf. Tao Qing, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnte, dass er in Kürze Kreisvorsteher sein würde, zer693
marterte sich den Kopf nach einer Lösung für die Geschützte Werkstatt, die Jahr für Jahr rote Zahlen schrieb. Er glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, als Glatzkopf-Li ohne lange Vorrede erklärte, er wolle sie kaufen, stimmte sofort zu und besiegelte das Geschäft durch Handschlag - nicht wegen Glatzkopf-Lis rührender Begründung, die vierzehn Lahmen, geistig Behinderten, Blinden und Gehörlosen stünden ihm näher als jeder Verwandte, sondern weil sich die Geschützte Werkstatt mittlerweile zur größten Belastung des Amtes für Zivilverwaltung entwickelt hatte. Verständlich also, dass Tao sich jetzt ins Fäustchen lachte, war er doch so mit einem Schlag diese Last los und hatte obendrein noch einen Dummen gefunden, der bereit war, Geld dafür auszugeben. Glatzkopf-Li ließ die neu erworbene Werkstatt renovieren und machte sie zum »Institut für Ökonomische Forschung Liuzhen«. So stand es auf dem neuen Schild am Eingang. Schon nach ein paar Tagen gefiel ihm jedoch dieser Name nicht mehr. Das allzu bieder klingende »Institut« ersetzte er durch »Gesellschaft« - und zwar wählte er die in Japan gebräuchlichen Schriftzeichen für »Gesellschaft«, schließlich war er ja mal in Japan gewesen - und änderte den Namen entsprechend: »Gesellschaft für Ökonomische Forschung Liuzhen« prangte nun auf dem Schild. Jeder von den vierzehn getreuen Paladinen bekam seine Ernennungsurkunde: Der hinkende ehemalige Leiter wurde zum Direktor der Gesellschaft berufen, sein bisheriger Stellvertreter zum stellvertretenden Direktor, und die übrigen zwölf waren jetzt »Wissenschaftsräte« im Rang und mit der Besoldung von Universitätsprofessoren.
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Die bei den Hinkebeine waren zu Tränen gerührt, als sie ihre Urkunden entgegennahmen, weil von jetzt an GlatzkopfLi für ihren Unterhalt sorgen würde. Weinend fragten sie ihn: »Direktor Li, was sollen wir denn eigentlich erforschen?« »Das Go-Spiel«, erwiderte Glatzkopf-Li. »Was sonst?« »Aha!«, die beiden nickten. Dann erkundigten sie sich nach dem Forschungsgegenstand der zwölf Wissenschaftsräte. »Die Wissenschaftsräte? ... « Nach kurzer Überlegung antwortete Glatzkopf-Li: »Die vier Blinden erforschen das Licht, die fünf Gehörlosen den Ton. Tja, und die drei geistig Behinderten ... ? Scheiße, dann nehmen sie eben die Evolutionstheorie!« Nachdem die vierzehn versorgt waren, ließ Glatzkopf-Li auf seine Kosten zwei Gartengestalter kommen und heuerte Arbeiter an, die vor dem Gebäude der Kreisregierung eine Rasenfläche und Blumenrabatten um einen Springbrunnen herum anlegen mussten. Auf diese Weise entstand ein neues Ausflugsziel für die Bewohner unserer kleinen Stadt Liuzhen: Sie zogen jetzt abends und an Wochenenden mit Kind und Kegel dorthin und waren des Lobes voll über die schöne neue Grünanlage. Auch die Inspekteure der übergeordneten Organe, die anlässlich ihres nächsten Besuches mitbekamen, dass sich anstelle der einstigen unansehnlichen Altstoffberge vor dem Portal der Kreisregierung nunmehr ein schöner Park befand, kamen nicht umhin, die Pracht gebührend zu würdigen, worüber wiederum die Verantwortlichen des Kreises hocherfreut waren. Der Kreisvorsteher - jener stolze Besitzer eines »Nakasone«-Anzuges - suchte Glatzkopf-Li 695
höchstpersönlich auf, um ihm den Dank der Regierung und der gesamten Bevölkerung des Kreises auszusprechen. Der solcherart Geehrte legte nicht nur kein billiges Triumphgehabe an den Tag, sondern brachte dem Kreisvorsteher und in dessen Person der Kreisregierung sowie der gesamten Bevölkerung des Kreises gegenüber zerknirscht sein Bedauern darüber zum Ausdruck, dass er seinerzeit jene Abfallberge vor dem Portal des Gebäudes der Kreisregierung aufgehäuft hätte. Dass er jetzt auf eigene Kosten diesen Park habe anlegen lassen, sei lediglich eine kleine Wiedergutmachung für sein damaliges Fehlverhalten. Von da an war Glatzkopf-Li sehr gut angeschrieben bei der Leitung des Kreises. Er wurde sogar Abgeordneter des KreisVolkskongresses, das heißt des Kreistages, und als ein halbes Jahr später Tao Qing, Träger des bewussten »Takeshita«Anzuges, Kreisvorsteher wurde, stieg er sogar zum Mitglied des Ständigen Komitees dieses Kreis-Volkskongresses auf. Glatzkopf-Li, der auch als reicher Mann nach wie vor in Lumpen herumlief, erschien selbst zu den Sitzungen des Volkskongresses in diesem Aufzug und stand wie ein Bettler hinter dem Rednerpult auf dem Podium, als er in der Versammlung das Wort ergriff. Tao Qing mochte das nicht länger mit ansehen und forderte ihn in aller Öffentlichkeit auf, seiner äußeren Erscheinung etwas mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Glatzkopf-Li, der nach seiner Rede gerade wieder auf seinen Platz zurückgekehrt war, machte sofort kehrt und trat abermals ans Rednerpult. Die Abgeordneten nahmen an, er wolle nun seinerseits öffentlich verkünden, dass er in Zukunft sein Erscheinungsbild ändern werde, aber weit gefehlt! Zu aller Überraschung erklärte Glatzkopf-Li zunächst, war696
um er in diesen Lumpen herumlaufe. Als er mittellos war, sagte er, habe er »hart kämpfen« müssen, und das müsse er jetzt, wo er zu Geld gekommen sei, erst recht. Er zeigte auf seine zerrissene Kleidung und sagte: »Ich habe hierfür zwei Vorbilder. Einmal ist es jener König des Reiches Yue vor fast 2500 Jahren, der schlief bekanntlich auf Reisig und kostete immerfort bittere Galle, damit er sich nicht verwöhnte und so womöglich seine Wut auf den Feind nachließe. Zum anderen sind es die armen Bauern und unteren Mittelbauern in der Zeit der Kulturrevolution, die sich durch die Erinnerung an das schwere Gestern bewusst machen, wie gut es ihnen im schönen Heute geht.« Gegen Ende jenes Jahres bestellte Glatzkopf-Li Zahnreißer Yu und Stieleis-Wang zu sich in sein Büro. Die vergangenen zwölf Monate seien recht erfolgreich gewesen, und dementsprechend hoch seien auch die Dividenden, sagte er. 20000 Yuan entfielen auf Yu, der ja zwei Anteile besäße, und 10000 auf Wang für seine eine Aktie. Damit schob er dem Zahnreißer zwanzig und Stieleis-Wang zehn dicke Bündel Banknoten hin (damals gab es noch keine Hundert- YuanScheine; der höchste Nennwert auf chinesischen Geldscheinen war zehn Yuan). Während die beiden einander ungläubig ansahen - war dies ein Traum, oder war es Wirklichkeit? - , lehnte sich Glatzkopf-Li wie im Kino in seinem Sessel zurück und schaute grinsend zu, wie die beiden anfingen, halblaut vor sich hin murmelnd nachzuzählen. Mit einem ziemlich dümmlichen Lächeln im Gesicht stellten sie fest, dass sich das investierte Geld innerhalb eines knappen Jahres verzehnfacht hatte. Zahnreißer Yu murmelte: »Dass ich mit 2000
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Yuan 20 000 verdienen würde, das hätte ich nicht im Traum gedacht.« »Das haben Sie auch gar nicht verdient! Die Dividende ist das!«, verbesserte ihn Glatzkopf-Li. »Sie sind beide meine Aktionäre und bekommen zukünftig jedes Jahr Ihre Dividende.« Stieleis-Wang, der ein bisschen an einen Schlafwandler erinnerte, fragte: »Und ich bekomme jedes Jahr 10 000 Yuan?« »Nicht unbedingt!«, antwortete Glatzkopf-Li. »Nächstes Jahr werden es sehr wahrscheinlich 50 000 sein.« Stieleis-Wang wäre um ein Haar vom Stuhl gekippt, als hätte ihn eine Kugel getroffen. Er zitterte am ganzen Leibe. Auch Zahnreißer Yu war wie vom Donner gerührt. »Das wären also - 100000 für mich?«, fragte er. »Natürlich!«, erwiderte Glatzkopf-Li kopfnickend. »Wenn Wang 50000 kriegt, kriegen Sie 100 000.« Noch einmal regte sich bei beiden der Zweifel. Sie sahen einander an und dachten beide das Gleiche: Solche Wohltaten, die gab es doch gar nicht! Oder doch? ... Stieleis-Wang fragte Zahnreißer Yu vorsichtig: »Ob das wahr ist?« Yu nickte erst, dann schüttelte er den Kopf: »Weiß auch nicht.« Glatzkopf-Li prustete los. »Kneifen Sie sich doch in die Hand«, schlug er vor. »Wenn es wehtut, ist es wahr, wenn nicht, ist es nicht wahr!« Die beiden folgten sogleich seinem Rat. Yu fragte Wang: »Tut es weh?« Wang schüttelte aufgeregt den Kopf: »Noch nicht.«
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Da wurde auch der Zahnreißer ganz aufgeregt. »Bei mir tut's auch nicht weh«, rief er. Glatzkopf-Li hielt sich den Bauch vor Lachen. »Aber mir tut schon alles weh«, gluckste er. »Vielleicht sollte ich mal kneifen.« Das ließen sich die bei den nicht zweimal sagen. Sie streckten ihm die Hände entgegen, und er kniff sie so kräftig, dass beide gleichzeitig aufschrien: »Autsch!« Zahnreißer Yu rief freudig überrascht: »Also ist es wahr!« Stieleis-Wang war erst recht überglücklich. Er zeigte dem Zahnreißer seine Hand: »Schau mal, sie blutet sogar!« Zahnreißer Yu und Stieleis-Wang waren so etwas wie der VolksRundfunk in unserer kleinen Stadt Liuzhen. In ihrer überschäumenden Freude sorgten sie dafür, dass sich die Kunde von ihrem unerwarteten Reichtum wie ein Lauffeuer verbreitete. Das erweckte natürlich auch Neid bei den Leuten und darüber hinaus Stirnrunzeln bei Schmied Tong, Schneider Zhang und Scherenschleifer Guan dem Jüngeren. Damals hockten Zhang und Guan Abend für Abend beieinander und zogen über Tong her. Warum nur hatten sie selbst keine Aktien erworben!? Am Ende liefen ihre ebenso reue- wie vorwurfsvollen Überlegungen stets darauf hinaus, dass der Schmied sie davon abgehalten habe. Ohne ihn würde es ihnen jetzt ebenso gut - oder sogar noch besser - gehen wie Zahnreißer Yu und Stieleis-Wang. Hinterher ist man ja immer klüger, und so versicherten sich die beiden gegenseitig, sie hätten damals auf jeden Fall all ihren Besitz zu Geld gemacht, um Anteile an Glatzkopf-Lis Altwarenhandel zu erwerben, wenn nicht Schmied Tong ...
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Dem Schmied war nicht verborgen geblieben, dass die beiden diese Bastarde! - tagtäglich die Köpfe zusammensteckten und über ihn lästerten, doch er tat so, als hätte er es nicht bemerkt. Im Übrigen saß auch er selber in seinem Laden und empfand nichts als bittere Reue. Beim ersten Mal, wo er es besser nicht getan hätte, hatte er Anteile erworben, und beim zweiten Mal, wo er nun wirklich hätte investieren sollen, hatte er das Risiko gescheut. Blind war er für diese Chance gewesen, richtig blind! Er ballte die Fäuste und knetete die Finger, als wolle er seine ganze Wut an seinen unschuldigen Händen auslassen. Reue empfand auch Mutter Su. Glatzkopf-Li - wir erinnern uns hatte sie ja gefragt, ob sie Anteile erwerben wolle, als er zum zweiten Mal als Vogel Roch die Flügel ausbreitete, um Liuzhen zu verlassen. Ohne zu ahnen, dass der Reichtum zum Greifen nahe war, hatte sie das Angebot abgelehnt, bloß weil sie schon längere Zeit nicht mehr Weihrauch gespendet hatte. Sooft sie später daran dachte, seufzte sie und sagte sich, sie hätte auf jeden Fall mitgemacht, wenn sie nur vorher den Tempel besucht hätte. Jeder, den sie traf, bekam es von ihr zu hören: »Es geht einfach nicht ohne Räuchern im Tempel!« Seit seiner Rückkehr aus Japan war es Glatzkopf-Li klar, dass der Zenit seines Altwarenhandels erreicht sei und es von nun an damit nur noch bergab gehen könne. Daher orientierte er sich neu und gründete zunächst eine Kleiderfabrik. Aus alter Verbundenheit stellte er Schneider Zhang als stellvertretenden Werkleiter in der Funktion des technischen Direktors ein. Vor lauter Dankbarkeit zu Tränen gerührt, sorgte dieser gewissenhaft dafür, dass in der neuen Fabrik wirklich 700
Qualitätsarbeit geleistet wurde. Morgens erschien er mit seinem Bandmaß um den Hals als Erster zum Dienst und abends machte er als Letzter Schluss. Nachdem er mit der Kleiderfabrik aus dem Gröbsten heraus war, verdoppelte Glatzkopf-Li seine Anstrengungen. Er eröffnete zusätzlich zwei Hotels und eine Badeanstalt und stieg außerdem in den Immobilienhandel ein. Als dann ein Jahr später wieder Dividenden ausgeschüttet wurden, bekamen Zahnreißer Yu und Stieleis-Wang tatsächlich 100000 beziehungsweise 50000 Yuan. Diesmal waren sie jedoch nicht mehr so überwältigt wie beim ersten Mal, sondern wirkten, als hätten sie nichts anderes erwartet. Jedenfalls erschienen sie beide mit einer Reisetasche bei Glatzkopf-Li und sackten das Geld so ungerührt ein, als schütteten sie Reis aus dem Beutel in die Vorratskruke. Glatzkopf-Li, der beobachtete, wie sie in aller Seelenruhe die Banknotenbündel in ihren Taschen verstauten, war sehr zufrieden. »Sie sind reifer geworden«, lobte er die beiden. Zahnreißer Yu und Stieleis-Wang lächelten etwas verlegen, ohne etwas zu entgegnen, während Glatzkopf-Li in tiefes Nachdenken versank. Nach einer Weile schaute er auf und sagte: »Die Alten haben zwischen >fahrenden Händlern< und >sesshaften Kaufleuten< unterschieden. Sie haben gesagt, nur sesshafte sind richtige Kaufleute, nur sie machen die wirklich großen Geschäfte. Wer immerzu durch die Gegend rennt, macht nur kleine Geschäfte und bleibt stets ein Händler.« Dann erzählte er den beiden, dass er jetzt ein Großunternehmer sei:
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Den Altwarenhandel führe er ja nach wie vor weiter; für seine Kleiderfabrik müsse er ständig neue Arbeiter einstellen; die bei den Hotels und die Badeanstalt liefen auch hervorragend; und hinzu käme noch eine ganze Reihe Immobilienprojekte. All diese Unternehmungen machten es jedoch erforderlich, sagte er, dass er täglich überall nach dem Rechten schauen müsse, sodass er ständig auf Achse sei, eben wie ein fahrender Händler. Im Moment könne er das ja noch alles ganz gut bewältigen, aber später, wenn er vielleicht vierzig oder gar vierhundert verschiedene Unternehmen zu beaufsichtigen hätte, würde er es mit Sicherheit nicht mehr schaffen, selbst nicht mit einem F-16- Jagdflugzeug als Transportmittel. Ursprünglich sei er der Meinung gewesen, er mache bereits wirklich große Geschäfte, aber bei genauerem Nachdenken habe er festgestellt, dass er nach wie vor nur ein »fahrender Händler« sei. Mit den Händen herumfuchtelnd verkündete Glatzkopf-Li, der inzwischen aufgesprungen war, seinen beiden Zuhörern, er sei nunmehr fest entschlossen, ein »sesshafter Kaufmann« zu werden. Dazu werde er, dem Vorbild des Reichseinigers, des ersten Kaisers Qin Shi Huangdi, folgend, eine einheitliche Dachgesellschaft gründen, in der dann alle seine Unternehmen zusammengefasst würden, sodass er in Zukunft als echter »sesshafter Kaufmann« vom Sitz der Holding aus seine Geschäfte auf zentralistische Art und Weise erledigen könne und nur noch ab und zu vor Ort nach dem Rechten sehen müsse. Zahnreißer Yu und Stieleis-Wang nickten eifrig, als ob sie das alles verstünden, aber Glatzkopf-Li traute dem Frieden nicht recht. »Wissen Sie überhaupt, warum Qin Shi Huangdi 702
vor über 2000 Jahren die einzelnen Teilreiche hier in China vereinigt hat?«, fragte er. Die beiden sahen einander an, dann schüttelte sie den Kopf: »Nein.« »Weil der Bastard wirklich große Geschäfte machen wollte!«, sagte Glatzkopf-Li im Vollgefühl seiner Überlegenheit. »Weil der Bastard kein >fliegender Händler< sein wollte, sondern ein >sesshafter Kaufmann<.« Jetzt hatten Zahnreißer Yu und Stieleis-Wang Feuer gefangen. »Wenn du dann ein echter >Kaufmann< bist, was werden wir denn da sein?«, fragten sie begierig. »Aktionäre und Vorstandsmitglieder der Holding«, antwortete Glatzkopf-Li. »Und ich Vorstandsvorsitzender und Generaldirektor.« Yu und Wang sahen einander an und brachen in freudiges Gelächter aus. »Werden wir auch eigene Visitenkarten als Vorstandsmitglieder haben?«, fragte Wang. »Selbstverständlich!«, erwiderte Glatzkopf-Li, ebenso fröhlich. »Und wenn Sie Wert auf einen weiteren Titel legen, könnte man überlegen, ob man Sie zu stellvertretenden Generaldirektoren macht. Wollen Sie das?« »Klar!«, rief Zahnreißer Yu. Zu Stieleis-Wang sagte er: »Ein Titel mehr ist immer besser als ein Titel weniger.« »Richtig! «, pflichtete Stieleis-Wang ihm kopfnickend bei. Dann fragte er Glatzkopf-Li: »Gibt es noch andere Funktionen, die für uns infrage kommen?« »Nein!«, entgegnete Glatzkopf-Li, etwas ungehalten. »Wo soll ich denn die ganzen Titel hernehmen!« Zahnreißer Yu, der Glatzkopf-Lis Verstimmung bemerkt hatte, stieß Stieleis-Wang in die Rippen und wies ihn vorwurfsvoll zurecht: »Wer wird denn so unersättlich sein!« 703
Nach der Ernennung von Yu und Wang zu Vorständen und stellvertretenden Generaldirektoren bekamen die bei den wie versprochen ihre Visitenkarten, sogar noch eher als Glatzkopf-Li die seine. Von da an standen sie auf den Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen und verteilten ihre Visitenkarten an jeden Vorüberkommenden, als wären es Reklamezettel. Auch Schmied Tong und Scherenschleifer Guan dem Jüngeren drückten sie ihre Visitenkarten in die Hand. Seitdem Schneider Zhang mit Glatzkopf-Li gemeinsame Sache machte, hatte Guan seinen Kumpel verloren und sich deshalb notgedrungen wieder mit dem Schmied angefreundet. Mit den Visitenkarten von Zahnreißer Yu und StieleisWang in der Hand machte er sich im Gespräch mit Tong darüber lustig, dass diese beiden Bastarde großkotzig überall ihre Karten verteilten, nächstens vielleicht sogar an die Hühner, Enten, Katzen und Hunde von Liuzhen! Intelligent und tüchtig, wie er war, brachte es Schmied Tong als Erster nach Glatzkopf-Li zu Wohlstand. Er hatte nämlich beobachtet, wie das Leben der Leute in unserer kleinen Stadt Liuzhen immer besser und auch die Bauern der Umgebung immer wohlhabender wurden. Da war ihm klar, dass er mit seiner Schmiede auf keinen grünen Zweig mehr kommen würde. Also hörte er auf, Hackmesser für die Städter und Spaten und Hacken für die Landbevölkerung herzustellen, und eines Tages gab es plötzlich seine Werkstatt nicht mehr. An ihre Stelle war ein Spezialgeschäft für Schneidwaren aller Art getreten. Dort stand nun der Schmied, der weder rauchte noch trank, als alerter Geschäftsmann hinter der Ladentheke. Wer seine 704
Pranken sah, hätte ihm nicht zugetraut, dass er damit die Banknoten behender zählte als mancher Bankangestellte. Er leckte die Finger kurz an, und dann blätterte er die Scheine so rasch durch, dass er es gut mit dem Banknotenzähler in der Sparkasse hätte aufnehmen können. Auch Scherenschleifer Guan der Jüngere hatte immer weniger Kunden, zumal seit Schmied Tong sein SchneidwarenGeschäft eröffnet hatte. Darüber ärgerte er sich sehr, denn er war der Meinung, Tong habe ihm absichtlich »die Reisschüssel zerschlagen«. Von da an brach er den Kontakt zu dem Schmied ab, und mit der Freundschaft zwischen beiden war es abermals vorbei. Je mehr Tongs Schneidwarenladen florierte, desto weniger Umsatz machte Scherenschleifer Guan der Jüngere. Am Ende blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Laden zu schließen und den ganzen Tag spazieren zu gehen, um die Zeit totzuschlagen. Dabei begegnete er öfter seinen ehemaligen Geschäftspartnern Zahnreißer Yu und StieleisWang, die ebenfalls mit Spaziergängen durch die Stadt die Zeit totschlugen, und bald hockten die drei wieder wie einst zusammen. Guan zog in übler Weise über Schmied Tong her, beklagte sich zuerst, dass er ihn daran gehindert habe, Anteile von Glatzkopf-Lis Unternehmen zu kaufen, und schrieb ihm dann die Schuld daran zu, dass er keinen Umsatz mehr machte und gezwungen war, die Scherenschleiferei, die immerhin drei Generationen lang bestanden hatte, zuzumachen, sodass er jetzt mittellos auf der Straße stünde. Yu und Wang waren voller Anteilnahme. Stieleis-Wang schlug dem Zahnreißer vor, einmal mit Glatzkopf-Li zu re-
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den, ob der nicht eine Arbeit für Scherenschleifer Guan den Jüngeren habe. »Warum den Generaldirektor fragen?«, entgegnete Zahnreißer Yu. »Wir beide sind seine Stellvertreter! Guan den Einlassdienst am Tor übertragen, das könnten wir beiden ohne Weiteres auf unsere Kappe nehmen. Bei anderen Arbeiten wäre ich mir nicht so sicher.« Scherenschleifer Guan der Jüngere ging sogleich in die Luft. »Was? Den Pförtner soll ich machen? Einen Furz werde ich tun! Ohne meine Fehlentscheidung damals wäre ich jetzt auch Vorstandsmitglied und stellvertretender Generaldirektor wie ihr. Würde sogar noch vor euch bei den rangieren!« Sprach's, und verließ vor Zorn bebend den Ort des Geschehens. Stieleis-Wang blickte Zahnreißer Yu verblüfft an. Der aber machte nur eine abschätzige Geste und zitierte das einschlägige Sprichwort von dem Unsterblichen Lü Dongbin, der von dem Hund, den er füttern will, in Verkennung seiner guten Absicht angebellt wird. In Scherenschleifer Guan dem Jüngeren aber, der sich weiter in Selbstvorwürfen zerfleischte, nahm allmählich ein ganz neuer Gedanke Gestalt an: Warum sollte er nicht anderswo sein Glück versuchen, da doch daheim in Liuzhen kein Platz für ihn zu sein schien? So wie Glatzkopf-Li! Der war doch als reicher Mann aus Japan zurückgekehrt, nachdem er noch bei seinem ersten Ausflug nach Schanghai sein ganzes Kapital eingebüßt hatte. Merke: Je weiter die Reise, desto größer die Aussicht auf Erfolg! So die Überlegung des Scherenschleifers. 706
Kurz entschlossen packte er seine Siebensachen und machte sich an einem schönen Frühlingstag auf den Weg zum Fernbusbahnhof unserer kleinen Stadt Liuzhen. Während er mit seinem Rucksack und seinem Koffer rüstig ausschritt, humpelte sein alter Vater - Scherenschleifer Guan der Ältere -, auf seinen Stock gestützt, mühsam hinter ihm her. Der Jüngere schwadronierte den ganzen Weg über großspurig von seinen Plänen: Dass er jetzt in die Welt hinausziehen und noch viel weiter herumkommen würde als Glatzkopf-Li, und dass er viel mehr erleben und noch viel reicher sein werde als Glatzkopf-Li, wenn er irgendwann einmal zurückkehre. Krank und gebrechlich, wie er war, konnte der Alte mit dem Tempo des Sohnes nicht mithalten und blieb immer weiter zurück. Immer wieder flehte er ihn an, doch nicht wegzugehen. »Du bist nicht zum Geldsack geboren«, rief er dem Sohn mit heiserer Stimme nach. »Wenn andere da draußen vielleicht reich werden - du wirst es noch lange nicht!« Scherenschleifer Guan der Jüngere stellte sich jedoch taub und lief in bester Stimmung weiter. Unterwegs winkte er Bekannten, denen er begegnete, ein fröhliches Lebewohl zu. Die Leute in unserer kleinen Stadt Liuzhen nahmen an, er ginge nach Europa oder Amerika, und wünschten ihm viel Glück für die Reise. Wohin er denn zuerst fahre, nach Europa oder nach Amerika?, fragten sie ihn. Seine Antwort war nichts weniger als eine herbe Enttäuschung: »Zuerst reise ich auf die Insel Hainan«, verkündete er. »Nach Hainan? Aber das ist doch nicht mal so weit wie Japan!« »Wohl wahr«, erwiderte Scherenschleifer Guan der Jüngere, »aber immer noch viel weiter als Glatzkopf-Lis erstes Reiseziel Schanghai.« 707
Als Scherenschleifer Guan der Ältere in den Bahnhof hinkte, fuhr der Bus, in dem sein Sohn saß, gerade los. Mit bei den Händen auf seinen Krückstock gestützt, sah er nur noch die Staubwolke, die der Bus aufwirbelte. Weinend murmelte er vor sich hin: »Ach, mein Sohn! Das Schicksal hat dir nur achtzig Pfund Reis bestimmt. Du wirst nie einen ganzen Zentner kriegen, und wenn du bis ans Ende der Welt reist…« Zur selben Zeit verließ auch Glatzkopf-Li Liuzhen. Sein Ziel war Schanghai. Er trug seine übliche zerlumpte Kleidung, als er zum Fernbusbahnhof ging, aber hinter ihm lief ein junger Mann, der ihm die Reisetasche trug. Als er gefragt wurde, wer der Mann sei, erwiderte Glatzkopf-Li, das sei sein Chauffeur. Der Frager fand das urkomisch und erzählte jedem, den er traf, Glatzkopf-Li, der einen Chauffeur habe, aber kein Auto, sei mit dem Überlandbus nach Schanghai gereist. Nach einigen Tagen kam Glatzkopf-Li wieder zurück, diesmal aber nicht mit dem Bus, sondern in einer roten VWSantana-Limousine, die er in Schanghai gekauft hatte. Der Chauffeur, der den Wagen lenkte, hielt vor dem Warenhaus unserer kleinen Stadt Liuzhen, und Glatzkopf-Li entstieg seinem »personengebundenen Sonderwagen« in einem schwarzen »Armani«-Anzug. (Die abgerissene Kleidung, in der er losgefahren war, hatte er in einer Schanghaier Mülltonne entsorgt.) Die Leute, die Glatzkopf-Li nur in Lumpen kannten, rätselten, welche wichtige Persönlichkeit wohl in diesem schicken Anzug stecke, denn sie erkannten ihn in dieser ungewohnten Verkleidung nicht gleich, zumal damals nur führende Genossen in solchen Limousinen unterwegs waren. Allerdings kam 708
ihnen die spiegelnde Glatze des Mannes irgendwie bekannt vor. Aus dem Fernsehen vielleicht? ... Oder handelte es sich um einen Großkopfeten aus Schanghai? Oder von der Provinzregierung? ... Als die Leute gerade beschlossen hatten, es müsse wohl jemand von ganz oben - aus Peking - sein, kam jener geistig Behinderte des Weges, der seinerzeit aus Liebe zu Lin Hong ausgeflippt war und an dessen Handgelenk immer noch jene kaputte Uhr Greenwich-Zeit anzeigte. »Direktor Li!«, rief er mit lauter Stimme. Die Umstehenden waren bass erstaunt. Glatzkopf-Li war das also! Jemand meinte: »Das Gesicht sieht tatsächlich aus wie Glatzkopf-Lis Gesicht. So was von Ähnlichkeit! ... « XXVII In unserer kleinen Stadt Liuzhen vollzogen sich tiefgreifende Umwälzungen, und zwar dank Glatzkopf-Li und Tao Qing. Die beiden - der eine reicher Magnat, der andere Kreisvorsteher - lagen auf derselben Wellenlänge und erklärten übereinstimmend, das alte Liuzhen müsse abgerissen und durch ein neues Liuzhen ersetzt werden. Die Leute sahen hierin ein Zweckbündnis von privatem Sponsor und öffentlicher Hand, bei dem Tao Qing dafür zuständig sei, dass die benötigten amtlichen Dokumente vorlägen, während Glatzkopf-Li Geld und Arbeitskräfte bereitstelle. Eine Straße nach der anderen wurde abgerissen und auf diese Weise das uralte Liuzhen völlig umgekrempelt. Fünf Jahre lang wölkte von frühmorgens bis spätabends der Staub über unserer kleinen Stadt, sodass die Leute sich beschwerten, sie atmeten mehr Schmutz ein als Sauerstoff, und die Dreck709
schicht auf ihren Hälsen sei dicker als ein Schal. Ein regelrechter B-52-Bomber sei dieser Glatzkopf-Li, der unser schönes Liuzhen wie mit einem Bombenteppich zerstöre. Einige besonders Gebildete wiesen zudem daraufhin, dass bestimmte Episoden aus den wichtigsten klassischen Romanen in Liuzhen spielten - eine aus »Die drei Reiche«, eineinhalb aus »Die Reise nach dem Westen« und zwei aus »Die Räuber vom Liang Schan Moor« - und dass die Schauplätze dieser Geschichten jetzt leider alle Glatzkopf-Lis Abrissbirnen zum Opfer gefallen seien. Anstelle des alten Liuzhen hatte Glatzkopf-Li innerhalb von nur fünf Jahren eine völlig neue Stadt gebaut, deren Straßen und auch Gassen - jetzt breiter als früher und von zahlreichen neuen mehrstöckigen Gebäuden gesäumt waren. Der Schmutz auf den Hälsen der Leute war mittlerweile verschwunden, und sie hatten auch wieder mehr Sauerstoff zum Atmen. Dennoch beklagten sie sich nach wie vor. Früher seien die Häuser zwar alt und klein, aber billig gewesen, weil sie ihnen vom Staat zugeteilt worden waren. Ihre jetzigen Wohnungen dagegen, groß und neu, müssten sie für teures Geld von Glatzkopf-Li kaufen. Es heiße ja immer, kein Hase frisst das Gras in der Nähe seines Lagers, doch dies treffe auf Glatzkopf-Li überhaupt nicht zu. Der niederträchtige Kerl habe alles Gras ratzekahl abgefressen, sprich: seine eigenen Mitbürger so richtig ausgenommen. Hinzu komme, so eine weitere Beschwerde der Leute, dass das heutige Geld ja gar kein richtiges Geld mehr sei, da 1000 Yuan nun nicht einmal mehr so viel wert seien wie einst hundert. Die alten Leute von Liuzhen wiederum beanstandeten, dass die neuen Straßen zu breit und von Autos und Fahrrädern 710
verstopft seien, sodass sie von morgens bis abends das Hupen und den Lärm ertragen müssten. Früher habe man sich über die schmalen Straßen hinweg bequem unterhalten können, während man heute selbst dann kaum sein eigenes Wort verstehe und schreien müsse, wenn man dicht beieinanderstehe. Und dann die Geschäfte! Es gebe ja jetzt sieben oder acht Kaufhäuser statt - wie ehedem - nur eins, ganz zu schweigen von den vielen Bekleidungsläden, die wie Pilze aus dem Boden geschossen seien und dafür sorgten, dass heutzutage die Straßenfronten der Häuser nahezu völlig mit allerlei bunten Klamotten zugehängt seien. Die Einwohner unserer kleinen Stadt Liuzhen konnten zusehen, wie Glatzkopf-Li reich und immer reicher wurde »superreich«, wie er einst gelobt hatte. Wer im renommiertesten Restaurant von Liuzhen speiste, tat dies in einem Etablissement, das ihm gehörte; wer in der angesagt esten Badeanstalt badete, badete bei Glatzkopf-Li; und wer das größte Einkaufszentrum frequentierte, kaufte auch wieder bei ihm ein. Die Schlipse an den Hälsen der Männer, die Strümpfe und Schuhe, die Unterwäsche und die Lederjacken, die Pullover und die Mäntel, die Hosen und die Anzüge - alles, was die Leute auf dem Leibe hatten, waren Erzeugnisse aus seinen Fabriken, denn er war Lizenznehmer von zwei Dutzend berühmten internationalen Markenartikeln. Die Häuser, in denen die Leute wohnten, hatte er gebaut, ebenso wie er auch das von ihnen verzehrte Gemüse und Obst lieferte. Glatzkopf-Li hatte sogar das Krematorium und den Friedhof gekauft, sodass auch die toten Einwohner unserer kleinen Stadt Liuzhen in seine Zuständigkeit fielen. Kurz, der Glatzkopf-Li -Trust war für alles und jedes verantwort711
lich, und zwar lückenlos! Niemand hätte zu sagen vermocht, wie viele Unternehmen ihm eigentlich gehörten oder wie hoch sein Jahreseinkommen war. Jedoch waren viele selbst Zeuge gewesen, wie er sich an die Brust schlug und damit prahlte, »die ganze beschissene Kreisregierung lebt komplett von meinen beschissenen Steuern«. Einer, der ihm Honig ums Maul schmieren wollte, scherzte, Glatzkopf-Li stehe ja praktisch für das BIP der gesamten Bevölkerung unseres Kreises. Das gefiel ihm sehr. Er nickte und sagte: »Genau! Ich bin das beschissene BIP!« Auch Zahnreißer Yu und Stieleis-Wang profitierten von Glatzkopf-Lis Aufstieg. Wang, der ohnehin lieber mit den Zähnen als mit den Händen arbeitete, trieb sich jetzt den ganzen Tag lang in der Stadt herum. Allerdings nagte ein geheimer Kummer an ihm: Er tauge einfach nicht zum Geldausgeben! Es sei ihm wohl vom Schicksal bestimmt, arm zu sein, denn jetzt habe er zwar so viel Geld in der Tasche, dass er es gar nicht zählen könne, aber wie er es ausgeben solle, das wisse er nicht! Von Zahnreißer Yu fehlte jede Spur, seit er zu Geld gekommen war. Er war nämlich das ganze Jahr über auf Reisen, hatte innerhalb von fünf Jahren jeden Winkel Chinas besucht und in jüngster Zeit begonnen, als Pauschalreisender den Rest der Welt zu erkunden. Die vierzehn Lahmen, geistig Behinderten, Blinden und Gehörlosen aus der einstigen Geschützten Werkstatt führten ein behagliches Leben, seit sie über Nacht zu Wissenschaftsräten mutiert waren, und taten nichts außer essen, trinken und schlafen, sodass der Volksmund sie »die vierzehn Playboys von Liuzhen« nannte.
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Zu jener Zeit machte die volkseigene Metallfabrik unserer kleinen Stadt Liuzhen pleite. Als sie geschlossen wurde, waren sowohl SchriftsteIler Liu als auch Song Gang mit einem Mal arbeitslos. Schriftsteller Liu verstand die Welt nicht mehr: Ein Lumpensammler wie Glatzkopf-Li wird zum Krösus von Liuzhen, während jemand mit der »eisernen Reisschüssel« wie er, Angestellter eines Staatsbetriebes also, auf der Straße steht und sich auf einmal in einer absoluten Sackgasse befindet. Als er seinem Schicksalsgefährten Song Gang auf der Straße begegnete, klopfte er ihm auf die Schulter und fühlte ganz nebenbei schon einmal vor: »Ach, sag mal, du bist doch Glatzkopf-Lis Bruder ... «, begann er, als wäre ihm gerade etwas eingefallen. Dann nutzte er die Gelegenheit, erst einmal kräftig über Glatzkopf-Li herzuziehen. »So reich und so herzlos! Steckt seine Nase in alle möglichen Angelegenheiten, nur um den eigenen Bruder, um den kümmert er sich überhaupt nicht!«, rief er entrüstet. Zahnreißer Yu und Stieleis-Wang, von denen wolle er ja gar nicht reden, auch nicht davon, dass die vierzehn Behinderten aus der Geschützten Werkstatt jetzt gewissermaßen zur Aristokratie von Liuzhen gehörten. Aber dass er untätig zusehe, wie sein eigener Bruder verarme und bald verhungern müsse, das sei schon ein starkes Stück! Das schere diesen Glatzkopf-Li anscheinend gar nicht, da stelle er sich einfach ahnungslos. Einmal in Fahrt, zog Schriftsteller Liu jetzt richtig vom Leder: »Glatzkopf-Li und du, auf euch trifft wirklich der alte Spruch zu: >Im Palast säuert Wein und verrottet die Speise, vor dem Tor liegen Knochen verhungerter Greise.<«
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»Ich bin aber kein verhungerter Greis«, entgegnete Song Gang sehr kühl. »Und bei Glatzkopf-Li säuert auch kein Wein.« An dem Tag, an dem er entlassen wurde, fuhr Song Gang gegen Abend wie immer mit seinem getreuen »Ewig« zur Wirkwarenfabrik, um Lin Hong abzuholen, so wie er es seit mehr als zehn Jahren jeden Tag und bei jedem Wetter getan hatte. Inzwischen besaßen die anderen Arbeiterinnen längst eigene Fahrräder - alles Räder mit ausländischen Namen, weil es in den Geschäften unserer kleinen Stadt Liuzhen schon lange keine Fahrräder Marke »Ewig« mehr zu kaufen gab - oder kamen sogar mit dem Elektrorad zur Arbeit. Lin Hong dagegen hatte sich kein eigenes Fahrrad zugelegt, obwohl sie es sich ohne Weiteres hätte leisten können, denn Song Gang und sie hatten zwar keine Reichtümer angehäuft, waren aber doch längst mit den notwendigen Haushaltsgeräten, wie Farbfernseher, Kühlschrank und Waschmaschine, ausgestattet. Nein, der Grund, warum sie auf ein eigenes Rad verzichtete, war einfach, dass Song Gang und sein »Ewig« seit über zehn Jahren Tag für Tag pünktlich zu Feierabend am Tor auf sie warteten. Lin Hong war sich durchaus bewusst, dass das »Ewig« inzwischen alt und unmodern war und die anderen Arbeiterinnen dank ihrer schicken neuen Fahrräder oder Elektroräder nach Arbeitsschluss viel schneller wieder zu Hause waren als sie. Dennoch schwang sie sich nach wie vor auf den Rücksitz von Song Gangs altem »Ewig« und schlang nach wie vor mit einem glücklichen Lächeln die Arme um die Taille ihres Mannes. Quelle ihres Glücks war nicht mehr, wie zehn Jahre zuvor, der Stolz auf ein »personengebundenes Fahrzeug«, sondern die Genug714
tuung über die hingebungsvolle Treue dieses Mannes (und dieses Fahrrads Marke »Ewig«) während all dieser Jahre. Gestützt auf sein Rad, von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne beschienen, stand Song Gang am Tor der Wirkwarenfabrik und schaute trübsinnig auf die unübersehbare Menge der Arbeiterinnen, die hinter dem Gittertor auf das Signal zum Feierabend warteten. Als das Tor sich endlich öffnete, mischte sich augenblicklich in das Geläute der Feierabendklingel das Gebimmel und Gehupe Hunderter Fahrräder, Elektroräder und Mopeds, die sich wie beim Start eines Radrennens auf die Straße ergossen. Dann war diese gewaltige Woge ausgerollt, und Song Gang sah Lin Hong, eine von den Wellen auf den Strand gespülte Koralle, ganz allein auf der menschenleeren Straße, die durchs Werkgelände führte, auf sich zukommen. Die Nachricht von der Schließung der Metallfabrik hatte sich wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet und nachmittags auch Lin Hong erreicht. Der Schreck lag ihr auch jetzt noch in den Gliedern. Sorgen bereitete ihr nicht so sehr der Arbeitsplatzverlust selbst, sondern die Frage, wie ihr Mann damit umgehen würde. Sie ging durch das Tor auf Song Gang zu und blickte ihn an, sah, wie er traurig lächelte und ansetzte, etwas zu sagen, da kam sie ihm zuvor: »Ich weiß es schon«, sagte sie. Sie bemerkte ein kleines Blatt auf seinem Haar - sicher hatte er es beim Radfahren von einem tief hängenden Ast abgestreift - und entfernte es sachte. Dann sagte sie lächelnd: »Lass uns nach Hause fahren.« Song Gang nickte und schwang sich aufs Rad, und Lin Hang setzte sich seitwärts auf den Rücksitz. Während das altmodi715
sche »Ewig« die Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen entlangfuhr, umfasste sie die Hüften ihres Mannes und schmiegte das Gesicht an seinen Rücken. Er lächelte, als er bemerkte, dass sie ihn fester umfasste und sich enger an ihn schmiegte als sonst. Zu Hause angelangt, ging Lin Hang sogleich in die Küche und machte sich an die Zubereitung des Abendessens. Währenddessen stellte Song Gang das Fahrrad umgekehrt auf den Sattel vor die Tür, holte sein Werkzeug und montierte erst Vorder- und Hinterrad, dann die Pedale und schließlich den Rahmen und alle anderen Teile ab. Als das Rad völlig zerlegt war und alle Einzelteile wohlgeordnet vor ihm auf der Erde lagen, setzte er sich auf ein Bänkchen davor und begann, sie mit einem Lappen sorgfältig zu reinigen. Es war inzwischen dunkel geworden, und die Straßenlaternen waren angegangen. Als Lin Hang das Essen fertig hatte, rief sie Song Gang ins Haus, aber er schüttelte den Kopf und sagte, er sei nicht hungrig, sie solle schon anfangen. Da holte sie sich einen Stuhl und setzte sich mit ihrer Essschüssel zu ihm vor die Tür. Während sie aß, beobachtete sie ihren Mann, wie er im Schein der Straßenlaterne mit geübten Handgriffen die Fahrradteile polierte. Dieser Anblick war ihr nur allzu vertraut, und sie hatte ihn öfter geneckt, er behandele sein Fahrrad so fürsorglich, als wäre es sein eigenes Kind. Obwohl sie das schon wer weiß wie oft gesagt hatte, tat sie es jetzt wieder, und Song Gang grinste dankbar. Während er die gesäuberten Teile wieder zusammenbaute, eröffnete er ihr, er würde sich am nächsten Tag eine neue Arbeitsstelle suchen. Was das für eine sei, wann dann die Schicht beginnen und wann er Feie-
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rabend haben würde, könne er natürlich nicht sagen, aber bringen und abholen würde er sie wohl nicht mehr können. Er stand auf und streckte sich, weil er vom langen Hocken etwas steif geworden war, dann sagte er zu Lin Hang: »Du wirst in Zukunft selbst mit dem Rad zur Arbeit fahren müssen.« Sie nickte: »Hm!« Als das Fahrrad wieder zusammengebaut war und Song Gang abschließend die Naben geölt hatte, säuberte er sich die Hände mit dem Lappen und drehte vor der Haustür zwei Runden: kein Quietschen, kein Klappern! Befriedigt sprang er ab, stellte den Sattel tiefer und schob das Rad vor seine Frau. Sie solle einmal Probe fahren. Lin Hong, die schon fertig gegessen und gerade für ihren Mann aufgefüllt hatte, drückte ihm seine Essschüssel in die Hand und übernahm das Fahrrad. Er setzte sich auf den Stuhl, begann zu essen und schaute dabei zu, wie sie sich aufs Rad schwang und losfuhr. Sie drehte drei Runden, dann sagte sie, das »Ewig« habe zwar schon mehr als zehn Jahre auf dem Buckel, fahre sich aber hervorragend - man könnte meinen, es sei ein neues Rad! Aber Song Gang war noch nicht ganz zufrieden. Er stand auf, legte Schüssel und Essstäbchen auf dem Stuhl ab und ließ Lin Hong absteigen. Nachdem er den Sattel noch ein wenig tiefer gestellt hatte, musste sie noch einmal aufsteigen. Als er sah, dass sie mit beiden Füßen den Boden berührte, nickte er befriedigt. »Wenn du eine Vollbremsung machst«, schärfte er ihr ein, »musst du unbedingt Bodenkontakt haben, sonst fällst du um!«
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XXVIII Das Haus von Song Gang und Lin Hong war abgerissen worden. Die bei den wohnten jetzt im Erdgeschoss eines neuerrichteten Etagenhauses in einer Wohnung gegenüber der Imbissstube von Mutter Su, denn auch sie hatte vom Busbahnhof hierher umziehen müssen. Ihre Eingangstür ging wie bei einer Ladenwohnung direkt auf die Straße. In die Wohnung über den beiden war Dichter Zhao gezogen, der sein Bett absichtlich so gestellt hatte, dass es sich genau über Song Gangs und Lin Hongs Bett befand. Nachts, wenn alles still war, lauschte er mit angehaltenem Atem auf die Geräusche, die das Mandarinenentenpärchen unter ihm beim Spiel der Wolken und des Regens eventuell machen würde. Da nichts zu hören war, streckte er sich auf dem Estrich aus und presste das Ohr auf den Beton - vergeblich! Das gibt es doch gar nicht!, dachte Dichter Zhao. Ein Ehepaar im Bett, das überhaupt keine Geräusche macht? Nun ja, die bei den waren ja schon lange verheiratet, Kinder waren aber immer noch keine da ... Dichter Zhao schloss messerscharf, das müsse an Song Gang liegen. Impotent, kein Zweifel! Seinen Verdacht äußerte er im vertraulichen Gespräch auch Schriftsteller Liu gegenüber. »Diese bei den Eheleute in ihrem Bett«, sagte er abschließend, »die erinnern mich an zwei Pistolen mit Schalldämpfern.« Nachdem Song Gang arbeitslos geworden war, hatte er sich einen Job als Transportarbeiter am Flusshafen unserer kleinen Stadt Liuzhen gesucht und trug nun gewaltige Lasten auf seinem Rücken vom Boot in den Speicher beziehungsweise vom Speicher auf das Boot. Er arbeitete im Akkord, das heißt, je mehr Ballen er schleppte, desto mehr verdiente er. 718
Deswegen legte er die über hundert Meter zwischen Anlegestelle und Speicher im Laufschritt zurück, sodass er häufig in der gleichen Zeit, in der andere einen Ballen transportierten, zwei schaffte. Die alten Leute, die müßig am Straßenrand saßen und miteinander plauderten, hörten Tag für Tag sein heiseres Keuchen, wenn er an ihnen vorüberlief; wie ein Blasebalg hörte sich das an. Seine Kleidung war so durchgeschwitzt, dass man hätte meinen können, er wäre ins Wasser gefallen und hätte sich gerade wieder ans Ufer gerettet. Sogar seine Segeltuchschuhe waren durchnässt und machten schmatzende Geräusche, wenn er mit seiner Last hin- und hereilte. Kopfschüttelnd meinten die Alten: »Ach, dieser Song Gang! Dem ist das Geld wohl lieber als sein Leben.« Seine Kollegen, die gleich ihm die schweren Ballen schleppten, ruhten sich nach jeweils drei oder vier Touren ein wenig aus. Sie setzten sich schwer atmend auf die Steinstufen, die zum Fluss hinunterführten, tranken ein bisschen Wasser, rauchten und schwatzten miteinander, um nach einer halben Stunde mit neuer Kraft wieder an die Arbeit zu gehen. Song Gang jedoch setzte sich niemals zu ihnen auf die Treppe. Er machte erst Pause, wenn er sieben- oder achtmal den Weg zwischen Boot und Speicher zurückgelegt hatte, sein Gesicht vor Anstrengung ganz bleich aussah, seine Lippen zitterten, er mit seiner Last ins Torkeln kam und merkte, dass seine Kräfte versagten. Dann ließ er den Ballen von der Schulter aufs Boot rutschen und ging über die Laufplanke zum Ufer. Die Kollegen forderten ihn durch Gesten auf, sich zu ihnen auf die Steinstufen zu setzen, aber er schaffte die zehn Meter nicht mehr und ließ sich gleich am Ende des Steges der Länge nach ins feuchte Gras fallen, direkt neben dem gurgelnden 719
Wasser, die Augen fest geschlossen, stoßweise atmend, mit jagendem Puls. Das war seine Rast. Song Gang fand nämlich, dass er auf diese Weise - lang ausgestreckt auf der Erde - schneller wieder zu Kräften kam als sitzend wie seine Arbeitskollegen, die unweit von ihm auf den Stufen saßen und ihm grinsend zuriefen, er müsse wohl lebensmüde sein. Song Gang nahm ihren Spott jedoch gar nicht wahr, er war viel zu erschöpft. Ihm wurde es schwarz vor Augen, und er hatte das Gefühl, alles um ihn herum drehe sich. Erst wenn die Sonne ihn lange genug beschienen hatte - da mochte eine Viertelstunde vergangen sein -, wurde es hinter seinen fest geschlossenen Lidern heller, und sein Atem ging wieder gleichmäßig. Er hörte jemanden seinen Namen rufen und richtete sich langsam auf. Da sah er, dass ein paar Arbeitskollegen, die noch Pause machten, ihm zuwinkten und einen Becher hochhielten. Einer machte sogar Anstalten, ihm eine Zigarette zuzuwerfen. Er winkte lächelnd ab, ging zu dem Wasserhahn an der Anlegestelle und stillte gierig seinen Durst. Dann packte er sich erneut zwei große Ballen auf den Buckel und trabte damit zum Speicher. Innerhalb von etwas mehr als zwei Monaten verdiente Song Gang dreimal so viel wie die anderen Arbeiter und fünfmal so viel wie zu Zeiten seiner »eisernen Reisschüssel« in der Metallfabrik. Als er das erste Mal seinen Lohn zu Hause ablieferte, staunte Lin Hong nicht schlecht; sie hatte nicht erwartet, dass er als Transportarbeiter so viel verdienen würde. Sie zählte das Geld, dann sagte sie: »Du kriegst ja jetzt in einem Monat mehr als früher in vier Monaten!« Song Gang erwiderte lächelnd: »Du siehst, so schlecht ist es gar nicht, seinen Arbeitsplatz zu verlieren.« 720
Lin Hong war sich durchaus klar darüber, auf welche Weise ihr Mann so viel Geld verdient hatte. Sie redete ihm zu, ein bisschen kürzer zu treten: »Ob du nun ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger nach Hause bringst - wir kommen auf jeden Fall aus!« Wenn Song Gang gegen Abend mit hängendem Kopf nach Hause kam, bleich und so erschöpft, dass ihm sogar das Sprechen schwerfiel, aß er nur schnell etwas und fiel dann in bleiernen Schlaf. Früher hatte er nach dem Einschlafen ruhig dagelegen und gleichmäßig geatmet, jetzt schnarchte er wie eine Kreissäge und stieß im Schlaf immer mal wieder tiefe Seufzer, ja sogar Schreie aus, wovon Lin Hong öfter aufwachte. Dann lauschte sie mit angehaltenem Atem auf die Geräusche des Mannes neben ihr und fand keinen Schlaf mehr vor lauter Sorge um Song Gang, der sich nicht einmal nachts von seiner totalen Erschöpfung erholen konnte. Morgens jedoch, wenn er aufwachte, war er voller Tatkraft, und auch seine Gesichtsfarbe war normal, sodass Lin Hong sich wieder beruhigte. Gut gelaunt verzehrte er sein Frühstück, nahm den Essenbehälter mit dem Mittagessen und machte sich anschließend mit festen Schritten auf den Weg, dem Morgenrot entgegen. Lin Hong ging neben ihm, das alte »Ewig« schiebend. Nach etwa fünfzig Metern, an der Straßenecke, blieben beide stehen, sie schwang sich aufs Rad, er ermahnte sie zur Vorsicht, sie nickte, und dann fuhr sie nach Westen davon, während er sich umdrehte und in östlicher Richtung zur Anlegestelle lief. Song Gang arbeitete nur zwei Monate lang als Transportarbeiter. Im dritten Monat verrenkte er sich nämlich das Kreuz, und das kam so: 721
Auf jeder Schulter einen großen Ballen, war er gerade über die Laufplanke an Land gegangen, als jemand auf dem Boot nach ihm rief, woraufhin er sich etwas zu schnell umdrehte. Im selben Moment hörte er, wie es in der Hüftgegend vernehmlich knackte. Ihm schwante nichts Gutes. Er ließ die Ballen auf die Erde fallen und machte eine vorsichtige Bewegung: Es gab einen stechenden Schmerz. Da presste er die Hände aufs Kreuz und schaute mit einem bitteren Lächeln die beiden Arbeitskollegen an, die gerade mit ihren Lasten die Laufplanke herunterkamen. Die Männer erschraken über seinen seltsamen Gesichtsausdruck und fragten, was mit ihm los sei. »Vielleicht hab ich mir was gebrochen«, antwortete er, immer noch mit jenem bitteren Lächeln. Die Arbeitskollegen legten ihre Lasten ab und halfen ihm bis zu der steinernen Ufertreppe, wo er auf die Stufen sank. Als sie ihn fragten, welcher Knochen gebrochen sei, deutete er auf sein Kreuz und sagte, er habe dort eben ein komisches Geräusch gehört, während er sich umdrehte. Die beiden Männer ließen ihn die Arme heben und den Kopf drehen und stellten zu ihrer Beruhigung fest, dass das funktionierte. Sie meinten, im Kreuz, da gebe es ja eigentlich nur die Wirbelsäule, und wenn er sich die tatsächlich gebrochen hätte, wäre er jetzt von der Hüfte aufwärts gelähmt. Song Gang hob sogleich noch einmal die Arme und drehte noch einmal den Kopf hin und her, dann war auch er beruhigt. Die rechte Hand auf den schmerzenden Rücken pressend sagte er: »Es hat so gekracht da drinnen, da habe ich geglaubt, das Rückgrat ist gebrochen.« »Es ist eine Verrenkung«, meinten die anderen. »Auch bei Verrenkungen gibt es so ein Geräusch.« 722
Song Gang grinste erleichtert. Als die Männer ihn nach Hause schicken wollten, schüttelte er den Kopf und sagte, er würde sich nur noch ein wenig auf den Stufen ausruhen. Am Ende blieb er jedoch länger als eine Stunde lang dort sitzen. In den mehr als zwei Monaten, die er am Flusshafen arbeitete, hatte er noch nie auf dieser Treppe gesessen, wo die anderen regelmäßig ihre Pausen verbrachten. Überall lagen Zigarettenstummel, zehn weiße Teebecher, jeder mit dem Namen seines Besitzers in roter Farbe geschmückt, waren ordentlich am Rande der Stufen aufgereiht. Song Gang musste lachen: Morgen werde ich auch einen Becher mitbringen, dachte er bei sich, so einen weißen. Im Speicher steht ja ein Eimer rote Farbe, da brauche ich nur einen spitzen Zweig hineinzutauchen, und schon kann ich auch meinen Namen auf dem Becher verewigen. Je länger er am Ufer des rauschenden Flusses saß und zuschaute, wie seine Kollegen emsig Lasten hin- und herschleppten und dazu ihre Arbeitslieder sangen, desto stärker wurde sein Wunsch, auch weiterzumachen. Er stand auf und bewegte vorsichtig die Hüften: Der Schmerz war nicht mehr so stechend wie vor einer Stunde, ein Zeichen, dass es mit der Verrenkung wohl doch nicht so schlimm war, wie er gefürchtet hatte. Er ging über die Laufplanke in den Lagerraum des Bootes und packte sich nach kurzem Zögern nicht wie sonst zwei, sondern nur einen Ballen auf die Schultern. Als er sich jedoch wieder aufrichtete, entfuhr ihm ein lauter Schmerzensschrei, und er stürzte der Länge nach hin, wobei der Ballen seinen Kopf und seine Schultern unter sich begrub.
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Die anderen Arbeiter wälzten den Ballen zur Seite. Als sie versuchten, ihm aufzuhelfen, schrie er vor Schmerzen und krümmte sich zusammen wie ein Flusskrebs. Da hoben ihn zwei der Männer vorsichtig auf den Rücken eines dritten, der den immer noch Schreienden vom Schiff ans Ufer trug. Die Arbeitskollegen, denen jetzt klar war, dass er doch schwer verletzt war, betteten ihn auf einen Pritschenkarren, während Song Gang die ganze Zeit schrie wie am Spieß. Auch als sie den gekrümmt auf dem Karren Liegenden den holprigen Weg entlangzogen, stöhnte er bei jeder Fuge zwischen den Steinplatten, über die der Karren rumpelte, aufs Neue vor Schmerzen. Als die Männer mit dem Karren auf die Hauptstraße kamen, ächzte Song Gang, dem klar war, dass sie ihn ins Krankenhaus bringen wollten: »Nicht ins Krankenhaus! ... Nach Hause!« Die Männer sahen einander stumm an, dann machten sie sich tatsächlich auf den Weg zu seiner Wohnung. Auf der Hauptstraße unserer kleinen Stadt Liuzhen fuhren an diesem Nachmittag Song Gang und Glatzkopf-Li direkt aufeinander zu. Trotz seiner unerträglichen Schmerzen erkannte Song Gang auf dem Pritschenkarren seinen einstigen Bruder sofort, dieser ihn jedoch nicht, denn er saß in seiner roten Santana-Limousine, hatte den Arm um ein aufreizend geschmücktes weibliches Wesen von außerhalb gelegt und lachte gerade aus vollem Halse. Als der Wagen an dem Pritschenkarren vorbeibrauste, öffnete Song Gang den Mund, brachte aber keinen Ton hervor. Nur in seinem Herzen rief er nach Glatzkopf-Li.
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XXIX Lin Hong erfuhr kurz vor Schichtschluss von dem Unfall ihres Mannes. Mit aschfahlem Gesicht radelte sie nach Hause, so schnell sie konnte, schloss mit fliegenden Händen die Wohnungstür auf und erblickte im dunklen Zimmer Song Gang, der mit gekrümmtem Rücken seitlich auf dem Bett lag und ihr aus weit aufgerissenen Augen entgegenblickte. Sie schloss die Tür hinter sich, setzte sich zu ihm ans Bett und streichelte zärtlich sein Gesicht. Er sah sie verlegen an und sagte: »Ich habe mir das Hüftgelenk verrenkt.« Lin Hong stürzten sogleich die Tränen aus den Augen. Sie beugte sich vor und nahm ihn in den Arm. »Was hat denn der Arzt gesagt?«, fragte sie leise. Song Gang tat selbst diese leichte Erschütterung so weh, dass er vor Schmerzen die Augen schloss, doch schrie er diesmal nicht. Als der Schmerz langsam nachließ, öffnete er die Augen wieder und antwortete ihr: »Ich war nicht im Krankenhaus.« »Warum denn nicht?«, fragte sie aufgeregt. »Es ist ja nur die Hüfte, ein paar Tage Bettruhe, dann ist es wieder gut.« Lin Hang schüttelte den Kopf: »Das kommt nicht infrage! Du musst zum Arzt!«, sagte sie. Song Gang erwiderte mit einem schiefen Lächeln: »Im Moment kann ich mich sowieso nicht rühren. Warten wir wenigstens ein paar Tage ab.« Erst nach vierzehn Tagen war er imstande, das Bett zu verlassen, aber das Kreuz durchdrücken konnte er immer noch nicht. Lin Hang begleitete den Patienten zum Arzt, der vier 725
Schröpfköpfe ansetzte und fünf Schmerzpflaster verschrieb. Das kostete mehr als zehn Yuan. Song Gang war es um das viele Geld leid; er sagte sich, wenn das so weiterginge, würde der sauer verdiente Lohn für zwei Monate Schuften als Kuli noch nicht einmal ausreichen, um seine Verletzung zu kurieren. Deswegen ging er nicht noch einmal ins Krankenhaus. Eine verrenkte Hüfte, sagte er sich, ist wie eine Erkältung die wird sowieso wieder gut, ob man sie nun behandelt oder nicht. Nach zwei Monaten konnte er immerhin wieder gerade stehen. Da machte er sich abermals auf die Suche nach einem Job. Tagelang hinkte er kreuz und quer durch unsere kleine Stadt Liuzhen, die Hände auf die schmerzende Hüfte gepresst. Aber wer hätte wohl einen Invaliden wie ihn einstellen mögen? Morgens, wenn er in aller Frühe das Haus verließ, war er noch voller Zuversicht, aber wenn er bei Sonnenuntergang zurückkam, sah Lin Hong schon an seinem traurigen Lächeln, dass er abermals nichts erreicht hatte. Mit gekünstelter Munterkeit versuchte sie, ihn zu trösten. Wenn sie sich ein bisschen einschränkten und sparsam wirtschafteten, sagte sie, würde ihr Lohn für sie beide ausreichen. Abends im Bett streichelte sie seinen schmerzenden Rücken und flüsterte ihm ins Ohr, solange sie da sei, brauche er sich um gar nichts Sorgen zu machen, woraufhin er bewegt erwiderte, wie leid ihm das alles tue. Tatsächlich kostete es Lin Hong viel Kraft, die unbekümmerte Fassade zu wahren, denn auch auf ihr lastete die Sorge um den Arbeitsplatz. Das Betriebsergebnis der Wirkwarenfabrik ließ schon seit mehreren Jahren zu wünschen übrig, sodass die ersten Mitarbeiter bereits entlassen worden war726
en. Der Fabrikdirektor, jener Kette rauchende Liu, ein Mann in den Fünfzigern, hatte ein Auge auf Lin Hong geworfen und sie mehrmals zu sich ins Büro kommen lassen. Nachdem er die sonst stets offen stehende Tür zugemacht hatte, flüsterte er ihr zu, ihr Name habe schon zweimal auf der Liste gestanden, sei aber von ihm jedes Mal eigenhändig gestrichen worden. Bei dieser Mitteilung war sein lüsterner Blick unverwandt auf ihren üppigen Busen geheftet, und ein geiles Grinsen stand in seiner Visage, die deutliche Spuren von vier Jahrzehnten Nikotinsucht trug: braune Zähne, schwarze Lippen und riesige Tränensäcke, die an Geschwüre erinnerten. Lin Hong saß wie auf glühenden Kohlen, denn sie wusste natürlich, worauf er mit seinen Worten anspielte. Sein bloßer Anblick und der von ihm ausgehende Gestank, den sie sogar auf ihrem Platz auf der anderen Seite des Schreibtisches deutlich wahrnahm, verursachten ihr Brechreiz. Am liebsten wäre sie aufgestanden und gegangen, da sie jedoch an ihren kranken und arbeitslosen Mann dachte und sich sagte, sie selbst dürfe nicht auch noch ihren Job verlieren, zwang sie sich zu einem Lächeln und blieb sitzen. Wenn doch jetzt bloß jemand zur Tür hereinkäme!, hoffte sie im Stillen. Direktor Liu schwenkte einen Füllfederhalter; mit dem habe er ihren Namen von der Liste gestrichen. Als Lin Hong lediglich weiter lächelte, ohne etwas zu erwidern, beugte er sich vor und senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern: »Wollen Sie sich nicht wenigstens bedanken?« Lin Hong sagte lächelnd: »Ich bedanke mich.« Das reichte ihm nicht. »Wie wollen Sie mir danken?«, bohrte er weiter. 727
Immer noch lächelnd antwortete sie: »Also - ich danke Ihnen!« Liu klopfte mit dem Füller auf die Schreibtischplatte und zählte dabei die Namen mehrerer Arbeiterinnen auf, die ihn aus freien Stücken aufgesucht und mit ihm geschlafen hätten, um nicht entlassen zu werden. Als Lin Hong nach wie vor nur vor sich hin lächelte, wiederholte ihr geiler Chef seine Frage, wie sie ihm denn ihre Dankbarkeit zu zeigen gedenke. »Ich danke Ihnen«, sagte sie abermals. »Nun gut«, sagte Liu, legte den Füller weg und kam um den Schreibtisch herum auf sie zu. »Dann will ich Sie wenigstens umarmen, als ob Sie meine kleine Schwester wären!« Als Lin Hang bemerkte, wie er aufstand und sich näherte, war sie sofort ebenfalls aufgesprungen und zur Tür geeilt. Nachdem sie diese aufgerissen hatte, sagte sie lächelnd: »Ich bin aber nicht Ihre kleine Schwester!« Sprach's und verließ lächelnd das Büro des Kette rauchenden Direktors, der wüst hinter ihr herschimpfte. Das Lächeln verließ sie auch nicht, als sie wieder in ihrer Werkhalle stand, doch nach der Arbeit, während sie auf ihrem altmodischen »Ewig« nach Hause radelte, kam sie sich durch und durch beschmutzt vor, sobald sie wieder an die begehrlichen Blicke und zweideutigen Andeutungen ihres Chefs dachte. Mehrmals war sie drauf und dran, Song Gang davon zu erzählen, aber wenn sie dann seine Erschöpfung und sein bitteres Lächeln vor Augen hatte, schwieg sie doch wieder. Es wäre ja nur »zusätzlich Raureif auf den Schnee gefallen«, wenn sie ihn auch noch mit ihren eigenen Sorgen behelligt hätte.
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Die Zeit verging, und immer noch hatte Song Gang keine Arbeit gefunden. In dieser Situation wanderten Lin Hangs Gedanken immer öfter zu Glatzkopf-Li, der reicher und reicher wurde; die Zahl seiner Angestellten hatte mittlerweile schon die 1000 überschritten. Nach langem Zögern forderte sie eines Abends ihren Mann auf, sich an seinen Bruder zu wenden, ob der ihm nicht helfen könne. Song Gang senkte den Kopf, ohne zu antworten. Er war es ja gewesen, der mit Glatzkopf-Li gebrochen - ein für alle Mal gebrochen hatte, und jetzt, wo er Geld und Erfolg hatte, sollte er ihn um Hilfe bitten? Unmöglich! Lin Hong brach das Schweigen. »Er wird es dir nicht abschlagen können«, redete sie ihm zu. Da blickte Song Gang auf und sagte mit aller Entschiedenheit: »Ich habe ein für alle Mal mit ihm gebrochen!« Lin Hang hätte ihm jetzt um ein Haar doch erzählt, wie ihr der widerliche Liu in seinem Büro zu nahe getreten war. Im letzten Moment aber verschluckte sie, was ihr auf der Zunge lag, schüttelte nur resigniert den Kopf und sagte nichts mehr. Song Gang war klar, dass er keine schwere körperliche Arbeit mehr leisten konnte; andere Arbeit aber fand er nicht. Deshalb erwog er, einen kleinen Handel aufzumachen. Er erzählte seiner Frau, bei seiner Suche nach Arbeit habe er auf den Straßen der Stadt häufig Bauernmädchen getroffen, die die duftenden weißen Blüten der YulanMagnolie feilboten. Sie hatten jeweils zwei dieser Yulan-Knospen auf feinen Draht gefädelt und verkauften sie für fünfzig Fen an die Mädchen von Liuzhen, die sie entweder an die Brust oder an ihre Zöpfe hefteten. Das sehe sehr hübsch aus, meinte Song Gang mit verlegenem Lächeln. Er habe sich auch schon er729
kundigt, wie man an solche Blüten herankäme: Man könne sie für durchschnittlich fünf Fen pro Stück in Gärtnereien kaufen. Lin Hong sah ihn erstaunt an. Sie konnte sich ihren stattlichen Mann nur sehr schwer als Straßenhändler mit einem Bambuskorb voll weißer Yulan-Blüten am Arm vorstellen. Song Gang jedoch bat sie inständig, es ihn wenigstens versuchen zu lassen. Da gab sie ihren Widerstand auf. Am nächsten Morgen verließ er in aller Frühe das Haus mit einem Korb, in dem eine Rolle feiner Draht und eine kleine Schere lagen. Sein Ziel war eine Gärtnerei auf dem Land, etwa eine Stunde Fußweg von der Stadt entfernt. Dort kaufte er die Blütenknospen, setzte sich inmitten der Blumen- und Kräuterbeete auf die Erde, entfernte mit der Schere die Blättchen von den Zweigen, fädelte schließlich je zwei Knospen auf einen Draht und schichtete den fertigen Blütenschmuck ordentlich in den Bambuskorb. Dann machte er sich befriedigt wieder auf den Heimweg. Während er der fernen Stadt zustrebte, die Augen wegen des hellen Sonnenlichts zu schmalen Schlitzen verengt, fing er schon nach wenigen Minuten an zu schwitzen. Da er Angst hatte, seine Blumen könnten in der Hitze welken, rupfte er auf einem Acker ein paar Bisamkürbisblätter ab, mit denen er sie abdeckte. Zusätzlich benetzte er sie mit Wasser aus einem nahe gelegenen Teich. Anschließend setzte er beruhigt seinen Weg fort, nicht ohne immer mal wieder einen Blick auf die unter den riesigen Kürbisblättern in seinem Korb liegenden Blüten zu werfen. Wer sein zärtliches Lächeln dabei sah, hätte meinen können, seine Fürsorge gelte nicht den Blumen, sondern einem in weiche Windeln gewickelten Baby. Er 730
hatte das Gefühl, schon lange nicht mehr so froh gewesen zu sein wie jetzt, wo er auf schmalen Pfaden durch die weite Flur wanderte und nur von Zeit zu Zeit an einem Weiher haltmachte, um die kostbaren Blüten in seinem Korb zu benetzen. Als er in Liuzhen ankam, war die Mittagszeit schon vorbei. Ohne einen Gedanken an Essen zu verschwenden, stellte er sich an die Hauptstraße und begann, die Yulan-Knospen zu verkaufen, die wie in einem grünen Bett lagen, da er die Kürbisblätter jetzt rundum an den Seiten des Korbes arrangiert hatte. Unter einer Platane stehend, schaute er allen Vorübergehenden lächelnd entgegen; manche bemerkten die Blüten in seinem Korb, gingen aber gleich weiter. Zwei Mädchen blieben stehen und bewunderten die Knospen, die in ihrem grünen Blätterbett besonders schön zur Geltung kamen. Das wäre für Song Gang eine gute Gelegenheit gewesen, ein paar an den Mann beziehungsweise an die Frau - zu bringen, doch er sah die beiden nur lächelnd an, ohne etwas zu sagen. Als sie schon weitergegangen waren, bereute er sein Schweigen: Vielleicht hätte er ja seine Ware anpreisen sollen? Die Mädchen wussten womöglich gar nicht, dass man sie kaufen konnte... Nach einer Weile kam ein Bauernmädchen des Weges, in der einen Hand einen Korb mit Yulan-Magnolien, in der anderen zwei aufgefädelte Knospen. Sie rief aus vollem Halse ihre Ware aus: »Magnolien! Frische Yulan-Magnolien!« Song Gang folgte ihr mit seinem Korb und hatte jetzt ebenfalls ein aufgefädeltes Blütenpaar in der Rechten. Jedes Mal wenn das Mädchen vor ihm »Hier gibt's Magnolien!« rief, kam von ihm ein schüchtern gemurmeltes »Hier auch«. 731
Sobald das Bauernmädchen eine junge Frau kommen sah, ging sie sofort auf sie zu und rief: »Große Schwester, kaufen Sie mir bitte etwas ab, ja?« Song Gang trat ebenfalls näher und sagte nach kurzem Zögern: »Mir auch.« Als das Bauernmädchen und er eine ganze Strecke auf diese Weise zurückgelegt hatten, wurde das Mädchen ärgerlich. Sie drehte sich zu ihm um und rief wütend: »Laufen Sie doch nicht ständig hinter mir her!« Song Gang blieb sofort stehen und schaute ihr verwirrt nach. In diesem Moment kam Stieleis-Wang auf ihn zu, der wie wir wissen mit ziellosen Spaziergängen durch die Stadt seine Zeit totschlug. Er hielt sich den Bauch vor Lachen, denn er hatte beobachtet, wie Song Gang mit einem Paar Blütenknospen in der Hand hinter einem kleinen Mädchen herlief und immer mal »Hier auch« oder dergleichen murmelte. Mühsam seinen Lachreiz bezwingend, rief er: »Du kannst doch nicht einfach hinter jemandem herrennen!« Dann prustete er wieder los. »Warum denn nicht? «, fragte Song Gang. »Ich bin schließlich von Haus aus Stieleisverkäufer«, belehrte Wang ihn vergnügt, »da kenne ich mich wohl aus. Wenn du jemandem nachläufst, wirst du nie etwas verkaufen! Denn die Leute kaufen bei dem Vorderen! Das ist wie beim Angeln. Zwei Angler zusammen an einer Stelle, das geht einfach nicht.« Das leuchtete Song Gang ein. Er nickte und setzte sich in die entgegengesetzte Richtung in Bewegung. Stieleis-Wang war offenbar noch etwas eingefallen, denn er rief ihn zurück:
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»Und sag nicht >Große Schwester< zu den Leuten, wie die Kleine eben, sondern >Schwesterchen<.« Nach kurzem Zögern entgegnete Song Gang: »Das bringe ich nicht über die Lippen.« »Dann eben nicht!«, sagte Stieleis-Wang und wischte sich die Spucke aus den Mundwinkeln. »Jedenfalls kannst du nicht >Große Schwester< zu den Mädchen sagen - schließlich bist du weit über dreißig.« Song Gang nickte folgsam und wandte sich wieder zum Gehen, aber Stieleis-Wang ließ ihn immer noch nicht laufen. Er hielt ihm einen Yuan hin, den er aus der Tasche gefischt hatte. »Ich kaufe zwei«, sagte er. Song Gang nahm das Geld, bedankte sich überschwänglich und reichte ihm die Yulan-Knospen. Stieleis-Wang roch daran. Dann sagte er: »Vergiss nicht, ich war der Erste, der dir etwas abgekauft hat! Wenn du später einmal einen richtigen Blumenhandel aufmachst, denke an mich - ich kaufe Anteile!« Ganz der gewiefte Investmentbanker, fügte er hinzu: »Ich habe in Altwaren investiert und war damit erfolgreich, da wird das ja wohl auch bei Blumen klappen.« Er führte die Blütenknospen an die Nase und zog im Weitergehen den Duft in tiefen Zügen ein, so gierig, als röche er nicht an einer Yulan-Magnolie, sondern äße ein SahneStieleis. Song Gang hatte seine Lektion gelernt. Er rief jetzt seine Ware aus, allerdings immer noch sehr zurückhaltend. Dann stellte er sich - diesmal ohne dass es ihm jemand erst sagen musste - vor den Eingang eines Bekleidungsgeschäfts, wo besonders viele Mädchen anzutreffen waren. In den Laden hinein ging er nicht, um die Kundinnen nicht beim Einkaufen 733
zu stören. Vielmehr wartete er geduldig, bis sie herauskamen, hielt ihnen seine Magnolienknospen hin und sagte höflich und bescheiden: »Bitte kaufen Sie ein paar Blüten.« Den Mädchen unserer kleinen Stadt Liuzhen gefiel das gewinnende Lächeln in seinem hübschen Gesicht, sodass eine nach der anderen seiner Aufforderung Folge leistete. Einige kannten Song Gang und wussten, dass er sich das Hüftgelenk verrenkt hatte. Sie erkundigten sich, wie es ihm gehe. Er antwortete lächelnd, die Hüfte sei wieder in Ordnung, nur könne er keine schwere Arbeit mehr leisten. »Deswegen verkaufe ich jetzt Blumen«, schloss er verlegen. Mit seinem Korb über dem Arm klapperte er alle Kleiderläden unserer kleinen Stadt Liuzhen ab. Jedes Mal wenn ihm jemand etwas abkaufte, lächelte er dankbar, und machte ein Geschäft zu, ging er weiter zum nächsten. Er hatte jedes Gefühl für die Zeit verloren und merkte gar nicht, dass es schon sehr spät war. Obwohl er den ganzen Tag nichts gegessen hatte, war er nicht hungrig und fuhr fort, im Licht des Mondes und der Straßenlaternen durch die Straßen zu streifen. Schließlich machte auch der letzte Laden dicht, doch da hatte er schon alle Blüten bis auf ein Paar verkauft. Als er gerade nach Hause gehen wollte, holte ihn eine junge Frau ein, die anscheinend einen Großeinkauf gemacht hatte und mit allerlei kleinen und großen Tüten beladen war. Sie sah das Blütenpaar in seinem Korb und fragte, was es koste. Dabei hatte sie schon ihr Portmonee gezückt. Song Gang blickte auf die letzten beiden weißen YulanKnospen und sagte entschuldigend: »Die möchte ich nicht verkaufen.«
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Die Frau sah ihn erstaunt an: »Aber Sie verkaufen doch Blumen, oder?« »Das stimmt schon«, erwiderte Song Gang verlegen, »aber dieses letzte Paar wollte ich für meine Frau behalten.« Die Frau nickte, steckte ihre Börse wieder ein und ging weiter. Song Gang rief ihr hinterher: »Wo wohnen Sie denn? Ich bringe Ihnen morgen ein Paar vorbei. Kostenlos!« »Nicht nötig.« Die Frau hatte sich nicht einmal umgedreht. Es war schon nach zehn Uhr abends, als Song Gang nach Hause kam. Schon von weitem sah er Lin Hong, die unter der Laterne vor der weit geöffneten Haustür stand und nach ihm Ausschau hielt. Beim Anblick ihres freudestrahlenden Mannes seufzte sie vor Erleichterung tief auf, nur um ihn gleich darauf aufgeregt zur Rede zu stellen: »Wo warst du denn bloß? Ich hab mir solche Sorgen gemacht!« Song Gang ergriff lachend ihre Hand, zog sie in die Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Noch ehe er sich hingesetzt hatte, begann er schon, ihr wortreich zu erzählen, was er den Tag über erlebt und wie er seine Yulan-Knospen verkauft habe. Lin Hong hatte ihn schon lange nicht mehr so aufgekratzt erlebt. Den Korb immer noch am linken Arm, holte er mit der Rechten eine Handvoll Münzen aus der Tasche, ohne seinen Bericht zu unterbrechen. Und auch, als sie das Geld zählte, redete er unablässig weiter auf sie ein. Die vierundzwanzig Yuan fünfzig, die er an diesem Tag verdient hatte, schob er ihr glücklich lächelnd hin. »Eigentlich wären es glatt fünfundzwanzig gewesen, aber die letzten fünfzig Fen wollte ich nicht«, sagte er. Bei diesen Worten hatte er das zurückbehaltene Paar Yulan-Knospen aus dem Korb geholt 735
und ihr in die Hand gedrückt. Er erzählte ihr, wie jene Frau sie hatte kaufen wollen, er sie aber nicht hergegeben hatte. »Die hatte ich doch für dich gedacht.« »Du hättest sie ihr ruhig verkaufen können«, entgegnete Lin Hong geradeheraus. »Was soll ich denn mit YulanBlüten?« Als sie jedoch sah, wie das Feuer der Begeisterung in seinen Augen schlagartig erlosch, sprach sie nicht weiter. Sie nahm ihm den Korb ab und sagte, er solle sich hinsetzen und endlich etwas essen. Erst jetzt wurde Song Gang bewusst, wie ausgehungert er war. Er nahm die Schüssel in die Hand und fiel über sein Essen her. Währenddessen trat Lin Hang vor den Spiegel, befestigte die Blüten an ihren Zöpfen und zog diese nach vorn auf die Brust, damit er sie sehen konnte, wenn sie sich zu ihm setzte. Er aber hatte gar keine Augen für ihre Zöpfe, sondern nur für ihr Lächeln, bei dem auch seine Freude sofort wiederkehrte. Die Worte sprudelten nur so über seine Lippen, als er ein weiteres Mal wiederholte, was er eben schon einmal erzählt hatte. Triumphierend schloss er seinen Bericht mit den Worten, er hätte nie gedacht, dass man mit einer so leichten Arbeit fast so viel verdienen könne wie mit der Schufterei als Transportarbeiter. Endlich stieß Lin Hong ihn mit gespielter Verstimmung in die Rippen: »Siehst du denn überhaupt nichts?« Jetzt erst bemerkte er die Blüten an ihren Zöpfen. Seine Augen leuchteten auf. »Gefallen sie dir? «, fragte er. Sie nickte. »Sehr.« An diesem Abend schlief Song Gang sofort ein. Während Lin Hong auf seinen gleichmäßigen Atem lauschte, ging ihr durch den Kopf, dass ihr Mann schon sehr lange nicht mehr 736
so friedlich eingeschlafen war. Sie selbst blieb lange wach, roch den süßen Duft der Yulan-Knospen, die sie neben sich aufs Kopfkissen gelegt hatte, und dachte voll innerer Bewegung an Song Gangs treue Liebe, vor der auf einmal sogar die Erinnerung an die Beleidigung verblasste, die ihr jener geile Werkleiter Liu zugefügt hatte. Gleich darauf kehrte jedoch die bange Sorge um die Zukunft zurück. Vom Blumenverkaufen konnte niemand auf Dauer leben, noch dazu, wenn es sich um ein gestandenes Mannsbild wie Song Gang handelte. Den ganzen Tag lang mit einem Korb am Arm auf den Straßen Yulan-Blüten ausrufen - nein, das war nun wirklich nichts Rechtes! Lin Hongs Befürchtungen sollten sich schon sehr bald bewahrheiten, denn die Arbeiterinnen in der Wirkwarenfabrik zerrissen sich von morgens bis abends das Maul über ihren Mann. So etwas habe man ja noch nie erlebt, tuschelten sie untereinander, ein Mann, der Blumen verkauft! Noch dazu ein so stattlicher Mann wie Song Gang! Besonders lustig sei es auch, dass er seine Yulan-Magnolien mit ganz leiser Stimme ausrufe, als wäre er kein Kerl, sondern ein kleines Mädchen richtig niedlich höre sich das an! Derartige Bemerkungen fielen nicht nur, wenn Lin Hong nicht dabei war, sondern sogar in ihrer Anwesenheit, sodass sie vor Scham am liebsten in den Erdboden versunken wäre. Wieder zu Hause, machte sie Song Gang eine Szene. Sie verbot ihm rundweg, weiter Blumen zu verkaufen und sich lächerlich zu machen. Zwar gab er nicht sofort klein bei, doch schon bald ging sein Gewinn aus dem Blumenverkauf immer mehr zurück, sodass er schwankend wurde. Viele junge Mädchen in unserer kleinen Stadt Liuzhen kannten ihn 737
nämlich und wollten die Blüten nicht bezahlen, sondern geschenkt bekommen. Song Gang aber brachte es nicht fertig, diesen Wunsch auszuschlagen. Da schaffte er nun nach stundenlangem Fußmarsch die Magnolienknospen aus der Gärtnerei heran, fädelte sie anschließend mühsam paarweise auf Draht, nur um am Ende zusehen zu müssen, wie sie ihm von diesen Mädchen abgeluchst wurden! Sogar jene Arbeiterinnen, die sich über ihn lustig machten - noch dazu im Beisein seiner Gattin -, entblödeten sich nicht, Blüten von ihm zu schnorren und hinterher auch noch vor Lin Hang damit zu prahlen: »Schau mal, die hat mir dein Song Gang geschenkt!« Lin Hang ließ die Betreffenden einfach stehen. Abends jedoch, wieder zu Hause, ließ sie ihre ganze Wut an Song Gang aus. Sie schloss die Tür hinter sich und zischte in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete: »Du verkaufst mir keine Blumen mehr!« Es wurde ein langer Abend für Song Gang. Lin Hang war müde und aß nur ganz wenig, dann ging sie zu Bett. Er selbst brachte ebenfalls nur ein paar Bissen hinunter, blieb aber grübelnd am Tisch sitzen. Wenn er es recht bedachte, lag seine Frau mit ihrer Meinung ja gar nicht so falsch: Das Blumenverkaufen war wirklich nicht die Lösung. Dennoch schlug es ihm aufs Gemüt, dass er nun schon wieder ohne Arbeit war. Erst spätnachts, als alles still war, legte er sich leise neben Lin Hang ins Bett. Als er sie so friedlich und gleichmäßig neben sich atmen hörte, kam auch er allmählich zur Ruhe. Von der Zudringlichkeit, deren Opfer sie in der Fabrik geworden war, ahnte er ja nichts, noch wusste er, dass
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sich jener nikotinsüchtige Direktor Liu bereits an seiner Frau vergriffen hatte. Als er am nächsten Morgen erwachte, war Lin Hang schon aufgestanden und im Bad mit ihrer Morgentoilette beschäftigt. Er sprang aus dem Bett, zog sich an und ging an die Badezimmertür. Lin Hang warf ihm einen Blick zu, sagte aber nichts, denn sie hatte den Mund voller Zahnpasta. »Ich verkaufe keine Blumen mehr«, sagte Song Gang und ging, nachdem er einen Moment gewartet hatte, zur Wohnungstür. Inzwischen war Lin Hong aus dem Bad gekommen. Sie rief ihm nach, wo er denn hinwolle. Er wandte sich um und sagte: »Ich suche mir eine Arbeit.« Lin Hong, immer noch mit ihrem Handtuch in der Rechten, entgegnete: »Frühstücke doch erst mal!« »Hab keinen Hunger«, sagte er kopfschüttelnd. Dann öffnete er die Tür. »Wart mal!« Bei diesen Worten holte sie Geld heraus und steckte es ihm in die Jackentasche, damit er sich unterwegs etwas zu essen kaufen könne. Als sie aufschaute und ihn lächeln sah, überkam sie wieder die Verzweiflung, sodass sie schnell den Kopf senkte. Song Gang tätschelte ihr lächelnd den Rücken und trat auf die Straße. Sie schaute ihm nach, als ob er eine weite Reise anträte, und rief ihm leise hinterher: »Gib auf dich acht!« Er drehte sich um und nickte, da rief sie ihn noch einmal zurück: »Bitte wende dich an Glatzkopf-Li!«, bat sie ihn, plötzlich sehr eindringlich. Song Gang stutzte, dann schüttelte er energisch den Kopf. »Das werde ich nicht tun!«, sagte er. 739
Seufzend blickte Lin Hong ihrem unversöhnlichen Mann nach, der im Licht der aufgehenden Sonne die Straße entlangging. Für ihn war es der Beginn einer endlosen Suche nach einer neuen Arbeit. In der Hoffnung, irgendwann doch einmal eine Verdienstmöglichkeit aufzutun, ging er ein ganzes Jahr lang frühmorgens aus dem Haus und kehrte spätabends erst wieder nach Hause, doch zeitigte seine Beharrlichkeit keinen Erfolg. Schon bald sah er blass und angegriffen aus. Wenn er sich gegen Abend todmüde nach Hause schleppte und schweigend auf seinen Stuhl sank, brauchte Lin Hong ihn nicht einmal anzusehen: Sie wusste auch so, dass er wieder nichts gefunden hatte. Er empfand sein Versagen als so beschämend, dass er nur wortlos sein Essen hineinstopfte und dann ebenso schweigend gleich zu Bett ging. Wenn ihn am nächsten Morgen die ersten Strahlen der Sonne weckten, machte er sich jedoch unverdrossen abermals auf den Weg. Während dieses Jahres fand er gelegentlich Arbeit im Tagelohn. Hatte zum Beispiel ein Pförtner oder ein Lagerverwalter etwas zu erledigen, sprang Song Gang ein und verdiente sich etwas. Genauso war er auch zur Stelle, wenn eine Verkäuferin in irgendeinem Geschäft oder jemand, der im Kino, im Busbahnhof oder am Flusshafen Tickets verkaufte, einen Tag frei nehmen wollte. Mit der Zeit wurde er zum »Einspringer vom Dienst« in unserer kleinen Stadt Liuzhen. In Spitzenzeiten warteten mehr als zwanzig verschiedene Vertretungsjobs darauf, von ihm übernommen zu werden. Dennoch summierten sich während dieses ganzen Jahres die Tage, an denen er Arbeit hatte, auf nicht einmal zwei Monate. 740
Lin Hong wurde immer bedrückter. Sie seufzte jetzt öfter und keifte sogar gelegentlich ziemlich ordinär los. Zwar trug nicht ihr Mann die Schuld an ihren Seufzern und ihren vulgären Ausdrücken, sondern jener widerliche Direktor Liu beim bloßen Gedanken an den Kerl wurde ihr schon übel-, aber das wusste Song Gang ja nicht, sodass er ihre schlechte Laune auf sich bezog, zu Hause den Kopf stets schuldbewusst gesenkt hielt und immer mehr verstummte. Das Geld, das er verdiente, lieferte er stets vollständig bei Lin Hong ab, so wenig es auch war; für sich selbst behielt er keinen einzigen Fen. Was ihn am traurigsten machte, war, dass sie stets nur trübsinnig den Kopf schüttelte, wenn er ihr die kümmerliche Frucht seiner Mühen übergeben wollte. »Behalt die paar Pimperlinge für dich«, sagte sie mit leiser Stimme, ohne ihn auch nur anzuschauen. Diese Worte fuhren ihm wie ein Messer ins Herz. Zwei Jahre nach seinem Unfall fand Song Gang im Zementwerk Liuzhen einen unbefristeten Arbeitsplatz. Endlich konnte er wieder zwölf Monate im Jahr zur Arbeit gehen und wenn er wollte, sogar an den Wochenenden Überstunden machen. Das Lächeln kehrte in sein lange von Sorgenfalten gefurchtes Gesicht zurück, ebenso das Selbstvertrauen, das er seinerzeit empfunden hatte, als er sein Fahrrad Marke »Ewig« neu bekam. Mit der Zusage der Zementfabrik in der Tasche ging Song Gang nicht etwa nach Hause, sondern schnurstracks zur Wirkwarenfabrik, wo er sich am Tor postierte, um auf seine Frau zu warten. Endlich drängte sich der Schwarm der Arbeiterinnen auf ihren schicken neuen Fahrrädern, Elektrorädern und Mopeds an ihm vorbei durch das Tor. Dahinter kam als Letzte Lin Hang, die das altmodische 741
»Ewig« schob. Hochrot im Gesicht stürzte Song Gang auf sie zu und rief leise: »Ich habe Arbeit!« Lin Hang gab es einen Stich, als sie die freudige Erregung ihres Mannes bemerkte. Sie ließ ihn auf den Sattel und setzte sich selbst auf den Rücksitz, umfasste seine Hüften und schmiegte das Gesicht an seinen Rücken - alles wie in früheren Zeiten. An diesem Abend stellte sie mit einem Mal fest, dass Song Gang plötzlich ziemlich gealtert war und lauter Falten auf der Stirn und um die Augen hatte; auch sein einst so dichtes Haar hatte sich gelichtet. Das tat ihr in der Seele weh. Abends, im Bett, massierte sie lange seinen Rücken, und beide umarmten sich innig wie einst als Jungverheiratete. Ihr früheres Glück war zurückgekehrt. In jenen Tagen legte sich Song Gang auf der Arbeit besonders ins Zeug, denn er hatte Angst, sonst abermals seine Stelle zu verlieren. Seine Tätigkeit bestand darin, den Zement in Säcke abzufüllen, eine Arbeit, die sonst niemand tun wollte. Obwohl er einen Mundschutz trug, atmete er Tag für Tag größere Mengen Zementstaub ein, sodass seine Lungen schon nach zwei Jahren völlig kaputt waren und er wieder arbeitslos wurde. Lin Hang weinte häufig vor Kummer, aber er ging nicht zum Arzt, um sich Spritzen oder Medikamente verschreiben zu lassen, weil er kein Geld dafür ausgeben wollte. Song Gang war nun wieder der »Einspringer vom Dienst«. Seitdem er lungenkrank war, wollte er nicht mehr im Bett, sondern auf dem Sofa schlafen, um zu vermeiden, dass Lin Hang sich ansteckte. Sie war damit jedoch nicht einverstanden. Wenn er nicht in einem Bett mit ihr liegen wolle, erklär742
te sie, dann würde sie auf das Sofa umziehen. Am Ende blieb ihm nichts anderes übrig als nachzugeben, aber er schlief nun wenigstens mit dem Kopf am Fußende. Bei den seltenen Gelegenheiten, wo er wirklich mal wieder jemanden für einen Tag vertrat und unter Menschen kam, trug er stets eine Atemmaske aus weißer Gaze, selbst im heißesten Sommer, denn er wollte unter keinen Umständen andere anstecken. Kein anderer Einwohner unserer kleinen Stadt Liuzhen trug in der Öffentlichkeit das ganze Jahr über einen Mundschutz. Wenn jemand mit einer solchen Gazemaske langsam die Straße entlangkam, wusste selbst der kleinste Hosenmatz, wer das war: »Da kommt der Einspringer vom Dienst«, hieß es dann. XXX Glatzkopf-Li dachte überhaupt nicht mehr an Song Gang. Am Tage beschäftige er sich mit Geldverdienen und in der Nacht mit Frauen, sagte er und streckte dabei zwei Finger in die Höhe; etwas anderes kenne er überhaupt nicht. Vor lauter Arbeit wisse er gar nicht mehr, wo ihm der Kopf stehe. Heiraten tat er nicht, aber er hatte mit so vielen Frauen geschlafen, dass sogar er selbst mit dem Zählen nicht nachkam. Als ihn einmal jemand fragte, wie viele Frauen er gehabt habe, überlegte er lange und rechnete hin und her, bis er am Ende nicht ohne ein gewisses Bedauern antwortete: »Jedenfalls waren es nicht so viele, wie ich Angestellte habe.« Glatzkopf-Lis Bettgenossinnen kamen nicht nur aus unserer kleinen Stadt Liuzhen, sondern aus dem ganzen Land, auch aus Hongkong, Macao und Taiwan. Hinzu kamen Auslandschinesinnen aus aller Herren Länder und sogar ein rundes 743
Dutzend nichtchinesische Ausländerinnen. In Liuzhen gab es Frauen, die heimlich mit ihm schliefen, und solche, die überhaupt kein Geheimnis daraus machten, Frauen aller Art große und kleine, dicke und dünne, hübsche und hässliche, junge und alte. Die Leute sagten, dieser Glatzkopf-Li, der hat ein Herz für alle, der würde niemanden von der Bettkante stoßen, selbst wenn es eine Sau wäre, die man ihm ins Bett packt. Manche von seinen heimlichen Beischläferinnen steckten den Liebeslohn ein und hielten den Mund, andere dagegen konnten gar nicht aufhören, ein begeistertes Loblied auf ihn zu singen. Sie gaben nicht etwa damit an, mit ihm geschlafen zu haben - oh nein! Es waren vielmehr seine unglaublichen Leistungen im Bett, von denen sie schwärmten. Sie behaupteten, wenn er loslege, würde man eher an einen Deckhengst denken als an einen Mann - wie ein Maschinengewehr gehe das, tack - tack - tack - tack. Einmal in Fahrt, würde er gar nicht wieder aufhören. So manche Frau kriegte dabei Krämpfe in den Beinen und kam sich hinterher vor, als wäre sie mit knapper Not dem Tode entronnen. Nicht allein Glatzkopf-Lis diesbezügliches Renommee war dicker als der Pulverdampf auf dem Schlachtfeld, er war dazu auch noch steinreich. Kein Wunder also, dass einige der von ihm beglückten Damen versuchten, sich diesen Schatz auf Dauer zu sichern. Die Erste war ein Mädchen in den Zwanzigern, die vom Lande kam und in Liuzhen jobbte. Sie kreuzte eines Tages mit ihrem neugeborenen Säugling in GlatzkopfLis Büro auf und fragte ihn glückstrahlend, welchen Namen das Kind tragen solle. Er sah die Frau mit großen Augen an wusste er doch überhaupt nicht, wer das war - und fragte sie misstrauisch: »Geht das mich etwas an?« 744
Da fing sie an zu zetern: »Ein Vater, der den eigenen Sohn nicht anerkennt - hat man so was schon gesehen?« Glatzkopf-Li schaute sie genauer an und versuchte sich zu erinnern, aber er hätte beim besten Willen nicht zu sagen vermocht, ob er etwas mit ihr gehabt hatte oder nicht. »Hast du wirklich mit mir geschlafen?«, fragte er sie. »Das fragst du auch noch?«, rief sie. Sie hielt ihm das Baby unter die Nase, damit er es genauer betrachte. »Hier! Schau ihn dir an! Guck nur richtig hin - deine Brauen, deine Augen, deine Nase, dein Mund, deine Stirn, dein Kinn ... « Glatzkopf-Li warf einen Blick auf den Säugling und konnte nur feststellen, dass es, nun ja, ein Säugling war. Irgendwelche Ähnlichkeiten entdeckte er nicht. Die Frau öffnete die Windelhose des Kindes und rief: »Sogar sein Schniedel sieht aus wie deiner!« Dass dieses Weib es wagte, sein stattliches Gerät in einem Atemzug mit dem an eine Sojabohne erinnernden Schniedelchen dieses Winzlings zu nennen, nein, das war zu viel! Glatzkopf-Li war fuchsteufelswild und ließ die heulende Frau kurzerhand hinauswerfen. Nunmehr begann sie, mit dem Baby auf dem Arm eine Mahnwache vor dem Portal seiner Firma zu halten. Bei allen Passanten und sonstigen Neugierigen beklagte sie sich lautstark über den Übeltäter: Sein Gewissen sei erst von einem Hund geschnappt, dann von einem Wolf verschlungen, anschließend von einem Tiger zerkaut und schließlich von einem Löwen wieder ausgeschissen worden. Nach ein paar Tagen gesellte sich eine weitere Frau mit einem Säugling zu ihr. Das sei Glatzkopf-Lis leibliche Tochter, behauptete sie. Auch diese Frau heulte und schluchzte und 745
erzählte allen, die es hören wollten (oder auch nicht), wie Glatzkopf-Li sie mit List und Tücke in sein Bett gelockt und ihr einen dicken Bauch gemacht, sich aber nach der Geburt der Tochter überhaupt nicht mehr um sie gekümmert habe. Sie weinte sogar noch herzerweichender als die erste Frau. Eine dritte vorgebliche Bettgenossin Glatzkopf-Lis, die als Nächste erschien und einen vier- oder fünfjährigen Jungen an der Hand hatte, weinte zur Abwechslung nicht, sondern blieb ganz ruhig. In wohlgesetzten und -begründeten Worten prangerte sie Glatzkopf-Li an: Er habe ihr hoch und heilig versprochen, er würde sie heiraten und wolle mit ihr alt werden. Nur so sei es ihm gelungen, sie in seine Lasterhöhle zu locken und ihr diesen Bankert (dabei zeigte sie auf den Jungen) anzuhängen. Vom Alter her, schloss sie, müsse er der Kronprinz in Glatzkopf-Lis Familie sein. Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, da betrat eine vierte Frau den Schauplatz. Sie hatte einen sieben oder acht Jahre alten Jungen an der Hand, für den sie ihrerseits schon mit ihren ersten Worten den Anspruch auf die Kronprinzenrolle anmeldete... Die Zahl der Frauen, die behaupteten, mit Glatzkopf-Li geschlafen zu haben, wurde immer größer. Zuletzt war die Straße vor dem Eingang seiner Firma von mehr als dreißig Frauen nebst den zugehörigen mehr als dreißig Sprösslingen verstopft. Die plappernden und schnatternden Klageweiber, die sich dort auf engem Raum drängten und Tag für Tag aufs Neue heiße Tränen vergossen, prangerten Glatzkopf-Lis schändliche Zügellosigkeit an und verwandelten die Straße an dieser Stelle in eine Art kleinen Basar. Immer wieder kam es zu erbitterten Kämpfen unter ihnen, sei es wegen eines 746
günstigen Standplatzes oder wegen irgendetwas, mit dem sich die eine oder andere brüstete. Jedenfalls war der Platz von morgens bis abends erfüllt vom Geschrei der Kinder und dem lauten Gekeife der Frauen, die buchstäblich mit Klauen und Zähnen ihre Ansprüche verteidigten, sich gegenseitig anspuckten und an den Haaren rissen, einander die Gesichter zerkratzten und die Kleidung zerfetzten. Glatzkopf-Lis Angestellte wussten nicht, wie sie an ihre Arbeitsplätze gelangen sollten, und der öffentliche Verkehr vor dem Sitz seiner Firma kam völlig zum Erliegen. Vertreterinnen des Frauenverbandes mit der Vorsitzenden der Kreisleitung an der Spitze marschierten auf, um »mit den Frauen zu arbeiten« und sie dazu zu bewegen, wieder nach Hause zu gehen. Sie redeten ihnen ins Gewissen, sich lieber vertrauensvoll an die zuständigen staatlichen Organe zu wenden; die würden ihren Streit mit Glatzkopf-Li auf jeden Fall beilegen können. Die Frauen jedoch rührten sich nicht vom Fleck, klagten den Funktionärinnen nur tränenreich ihr Leid und forderten sie mit überraschender Einmütigkeit auf, Glatzkopf-Li zur Ehe mit ihnen zu zwingen. Die Kreis- Vorsitzende des Frauenverbandes, die nicht wusste, ob sie lachen oder weinen sollte, erklärte ihnen, dass laut Gesetz ein Mann nur eine Ehefrau haben dürfe, Glatzkopf-Li mithin unmöglich mehr als dreißig Frauen auf einmal heiraten könne. Der Leiter des Kreisamts für Transport und Verkehr rief Glatzkopf-Li an und wies ihn darauf hin, dass die wichtigste Verkehrsader des Kreises seit einem Monat unpassierbar sei und die ursprünglich sehr erfreuliche wirtschaftliche Lage 747
des Kreises dadurch schon merklich beeinträchtigt werde. Auch Kreisvorsteher Tao Qing meldete sich telefonisch bei Glatzkopf-Li und forderte ihn auf, diese Angelegenheit rasch aus der Welt zu schaffen. Ansonsten würde nicht nur er selbst großen Schaden nehmen - immerhin habe er als einflussreichste Persönlichkeit im Kreis einen Ruf zu verteidigen! -, sondern darüber hinaus das Ansehen des ganzen Kreises in Mitleidenschaft gezogen. Glatzkopf-Li antwortete ihm kichernd, von ihm aus könnten die Damen ruhig weitermachen mit ihrer Mahnwache, er habe nichts dagegen. Der Kreisvorsteher wandte ein, es seien ja jetzt schon mehr als dreißig, und wenn man nicht einschreite, würden es sicher noch mehr. »Je mehr, desto besser!«, entgegnete Glatzkopf-Li. »Wer viele Läuse hat, merkt die Stiche nicht mehr.« Einige von den Frauen hatten tatsächlich mit ihm geschlafen; andere waren zwar mit ihm bekannt, aber nie mit ihm ins Bett gegangen; und schließlich gab es sogar welche, die ihn nicht einmal persönlich kannten. Manche von den tatsächlichen Beischläferinnen Glatzkopf-Lis glaubten, ihr Kind sei möglicherweise wirklich von ihm. Deshalb reagierten sie natürlich einsichtiger als die anderen Frauen auf die Vorhaltungen der Frauenverbands-Funktionärinnen. Nach kurzer Beratung kamen sie überein, es sei besser, Glatzkopf-Li vor Gericht zu bringen, als den ganzen Tag hungrig und durstig und müde auf der Straße herumzustehen und womöglich dennoch erfolglos zu bleiben. So wurde gegen Glatzkopf-Li am Ende doch noch Anklage erhoben. Am Tag der Verhandlung wimmelte es innerhalb und außerhalb des Gerichtsgebäudes von Menschen. Geschniegelt und gebügelt, ein rotes Blümchen am Revers wie ein Bräuti748
gam - er kam gerade von der Eröffnung einer Tochterfirma -, so bahnte sich Glatzkopf-Li seinen Weg durch die Menge und ließ sich gut gelaunt auf der Anklagebank nieder, als wäre er der Gastredner auf dieser Veranstaltung. Voller Interesse lauschte er zwei Stunden lang den Darlegungen der Klägerinnen, wie ein Kind, das sich von einer spannend erzählten Geschichte verzaubern lässt. Wenn die Frauen unter Tränen davon schwärmten, wie wundervoll das Zusammensein mit ihm gewesen sei, strahlte sein Gesicht auf, und er fragte immer wieder erstaunt dazwischen: »Ist das wahr? War es wirklich so?« Nach zwei Stunden fand er die Erzählungen der Frauen jedoch nur noch ermüdend, zumal diese sich immer öfter wiederholten. Obwohl noch nicht einmal die Hälfte zu Wort gekommen war, fand er, es sei nun genug, hob die Hand und bat, eine persönliche Erklärung abgeben zu dürfen. Nachdem der Richter ihm das Wort erteilt hatte, holte er vorsichtig aus der Brusttasche sein Trumpfass hervor, jene Krankenakte von seiner Samenleiter-Ligatur vor mehr als einem Jahrzehnt. Die überreichte er dem Richter. Der Richter überflog das Dokument, dann brach er in schallendes Gelächter aus, das geschlagene zwei Minuten andauerte. Anschließend verkündete er, der Beklagte sei unschuldig, denn er sei seit über zehn Jahren zeugungsunfähig. Die Zuhörer waren so verblüfft von dieser unerwarteten Wendung der Dinge, dass für mehrere Minuten absolute Stille herrschte. Danach brachen sie ebenso wie eben der Richter in hemmungsloses Gelächter aus, während die Klägerinnen einander sprachlos anstarrten, alle mit dem gleichen verständnislosen Gesichtsausdruck. 749
Als der Richter erklärte, Glatzkopf-Li stehe es frei, nun seinerseits Klage wegen Verleumdung und Betrugs zu erheben, erbleichten mehr als ein Dutzend der Frauen, während zwei andere sofort in Ohnmacht fielen, vier lauthals losschluchzten und drei versuchten, sich heimlich davonzuschleichen, was von den Zuschauern aber rechtzeitig vereitelt wurde. Ein paar Frauen jedoch, die tatsächlich mit Glatzkopf-Li geschlafen hatten, gaben sich noch nicht geschlagen. Sie erklärten, sie nähmen das Urteil nicht an und würden in Revision gehen. Selbst wenn ihre Kinder nicht von Glatzkopf-Li sein sollten, würden sie dennoch auf ihrer Klage beharren, da er sie beschlafen und ihnen ihr kostbarstes Gut, nämlich ihre Jungfräulichkeit, geraubt habe. Falls sie vor dem Mittleren Volksgericht nicht recht bekämen, würden sie vor das Höhere Gericht der Provinz und, wenn auch das nichts helfe, vor das Oberste Gericht in Peking ziehen. Im Fall der Fälle gebe es schließlich auch noch den Internationalen Gerichtshof in Den Haag... Die Zuhörer machten sich einen Spaß daraus, Öl ins Feuer zu gießen. »Wenn ihr Glatzkopf-Li verklagt, weil er euch entjungfert hat, könnte er euch ja seinerseits verklagen, weil ihr mit ihm geschlafen habt«, gaben sie zu bedenken. »Ihr fordert jetzt eine Entschädigung für euer zerrissenes Jungfernhäutchen, aber was würdet ihr machen, wenn er von euch verlangt, ihm seine verlorene Unschuld zurückzugeben?« Im Saal ging es zu wie in einem Hühnerstall; alle redeten durcheinander, so heftig der Richter auch auf den Tisch klopfte und die Zuhörer zur Ordnung rief. Das Publikum stand auf Glatzkopf-Lis Seite und verlangte, die Lügnerinnen die ganze Härte des Gesetzes spüren zu lassen. Erst als sich 750
am Ende Glatzkopf-Li von der Anklagebank erhob und sich mehrmals mit ehrerbietig vor der Brust zusammengelegten Händen vor den Zuhörern verneigte, kehrte allmählich wieder Ruhe ein. Nun ergriff er das Wort. »Meine lieben Mitbürger, ich danke Ihnen. Vielen Dank!«, begann er. Vor lauter Rührung musste er sich die Tränen wegwischen. Erst dann konnte er weitersprechen. »Dass ich es im Leben so weit gebracht habe, verdanke ich einzig und allein Ihnen und Ihrer Unterstützung. Es ist mir ein Bedürfnis, hier und heute vor Ihnen, meine lieben Mitbürger, meine innersten Gedanken zu offenbaren. Jawohl, ich habe mit vielen Frauen geschlafen, aber dennoch sehen Sie einen traurigen Mann vor sich. Denn so alt ich inzwischen schon bin, ein Jungfernhäutchen habe ich noch nie zu Gesicht bekommen ... « Glatzkopf-Lis »liebe Mitbürger« bogen sich vor Lachen und johlten Beifall. Nachdem er mit einer beschwichtigenden Geste die Ruhe halbwegs wiederhergestellt hatte, redete er weiter: »Was war der Grund, warum ich damals die Ligatur machen ließ? Nun, die Frau, die ich liebte, hat einen anderen geheiratet ... Seitdem habe ich mich gehen lassen und weder Maß noch Ziel gekannt. Doch was hat es mir gebracht, dass ich mit so vielen Frauen geschlafen habe? Männer wie ich, die hemmungslos herumvögeln, geraten doch immer nur an Frauen, die genauso zügellos sind wie sie selbst. Erst jetzt ist mir aufgegangen, dass ich eine Frau nur dann wirklich gefickt habe - entschuldigen Sie bitte meine Ausdrucksweise! -, wenn sie vorher noch Jungfrau war. Oder lassen Sie es mich etwas gewählter ausdrücken: Von wahrem Beischlaf kann 751
nur die Rede sein, wenn dich die Frau, mit der du schläfst, ehrlich liebt. Solch eine Frau habe ich jedoch noch nie getroffen, so viele ich auch beschlafen habe. Genauso gut hätte ich mich selbst befriedigen können.« Die Leute von Liuzhen kriegten sich vor Lachen gar nicht wieder ein, und die Wellen der Ausgelassenheit im Gerichtssaal gingen erneut hoch. Das gefiel jedoch Glatzkopf-Li überhaupt nicht. Er schwenkte die Arme und rief: »Ich erzähle hier keine Witze!« Als langsam wieder Ruhe eintrat, zeigte er auf sein Herz und rief: »Ich meine es ernst!« Seine Augen waren wieder feucht geworden, sodass er sie erneut abwischen musste. Dann fuhr er fort, sein Innerstes vor den Leuten zu entblößen: »Ehrlich gesagt, jemanden lieben, das kann ich überhaupt nicht mehr. Ich habe versucht, mich anständigen Mädchen zu nähern, aber es hat nicht geklappt. Und warum nicht? Weil ich so ein verdammter Aufreißer bin!« Dieses Thema vertiefte er sogleich noch etwas weiter: »Mit der Liebe ist es doch so, dass die Mädchen sich zuerst gern ein bisschen zieren wollen. Ich aber bin dann immer gleich in die Luft gegangen und habe angefangen herumzufluchen. Angebrüllt habe ich sie, was zum Teufel das denn solle. Wenn du das aber bei einem anständigen Mädchen ein paarmal machst, haut sie dir todsicher ab.« Nach kurzer Pause fuhr er mit einem bitteren Lächeln fort: »Ja, und wovon kommt diese Rücksichtslosigkeit bei mir? Ich will es Ihnen sagen: Ich bin es einfach gewohnt, die Frauen dafür zu bezahlen, dass sie mit mir schlafen. Wenn sie mein Geld angenommen haben, sind sie natürlich willig. Ein Geschäft ist das, sonst nichts; Liebe ist dabei gar nicht im Spiel. Und ich - ich kann die Frauen überhaupt nicht mehr 752
achten. Wer aber die Frauen nicht achtet, der kann auch nicht lieben. Deswegen habe ich gesagt, ich bin ein trauriger Mann.« Inmitten allgemeiner Heiterkeit beendete Glatzkopf-Li seine Rede. Er wischte sich ein weiteres Mal die Tränen ab und die Lippen trocken, dann sagte er, die Großmut in Person: »Die da« - dabei zeigte er auf die Klägerinnen - »haben es auch nicht leicht. Einen Monat lang haben sie Mahnwache vor meiner Firma gehalten, man könnte fast sagen, sie haben einen Monat bei mir gearbeitet.« Er drehte sich zu einem seiner Angestellten um, der im Gerichtssaal anwesend war, und sagte: »Richte dem Prokuristen aus, er soll 1000 Yuan als Lohn für einen Monat an jede von diesen Damen auszahlen.« Während der Saal dem großzügigen Glatzkopf-Li zujubelte, fiel den Frauen ein Stein vom Herzen. Erleichtert sagten sie sich, der Hühnerdiebstahl sei zwar fehlgeschlagen, aber wenigstens den Lockreis hätten sie nicht eingebüßt beziehungsweise am Ende sogar noch zusätzlich eine Handvoll Reis geschenkt bekommen. Unter den Hochrufen der Zuschauer verließ Glatzkopf-Li, über das ganze Gesicht strahlend, das Gericht und bestieg seinen Santana, nicht ohne den jubelnden Massen noch einmal huldvoll zuzuwinken. Sogar als er schon davonbrauste, fuhr er fort, durch das heruntergekurbelte Seitenfenster zu winken. Seit diesen Ereignissen wusste Glatzkopf-Li die Akte über seine Samenleiter-Ligatur erst recht zu schätzen. Ein Glück, dass er sich damals in seiner Wut hatte sterilisieren lassen! 753
Das hatte ihm jetzt aus einer äußerst brenzligen Situation herausgeholfen. Wieder einmal hatte sich gezeigt, der Zufall kann große Dinge tun. Er löste die betreffende Seite vorsichtig aus der Krankenakte heraus, ließ sie beim Kunsthändler auf Seide aufziehen und hängte sie zwischen den kostbaren Originalen von Qi Baishi und Zhang Daqian auf, die der ganze Stolz seiner Bildersammlung waren. Auch die Einwohner unserer kleinen Stadt Liuzhen waren der Meinung, es sei eine weise Entscheidung gewesen, dass er damals die Samenleiter-Ligatur hatte vornehmen lassen, sonst würde es jetzt auf den Straßen und Gassen von lauter kleinen Glatzkopf-Lis nur so wimmeln, darunter womöglich sogar einigen blonden, blauäugigen, langnasigen kleinen Glatzkopf-Lis ... Das brachte die Leute auf allerlei Gedanken, und sie fingen an, die Vorgeschichte von Glatzkopf-Lis Operation regelrecht zu mystifizieren. Es hieß jetzt, er habe sich damals vor lauter Liebeskummer einen Strick um den Hals gelegt und sich an einem Ast aufgeknüpft, doch sei der Strick gerissen und der Ast abgebrochen, sodass er kopfüber in den Schmutz gefallen sei. Daraufhin habe er versucht, sich im Fluss zu ertränken, aber nachdem er schon hineingesprungen war, sei ihm plötzlich bewusst geworden, dass er ja schwimmen könne, also gar nicht ertrinken würde. Während er wieder ans Ufer kroch, habe er vor sich hin geflucht: Scheiße, wieder nicht tot! Zu Hause habe er dann die Hosen heruntergelassen, seinen Schwanz auf das Hackbrett gelegt und war schon im Begriff, ihn mit dem Küchenbeil abzuhacken, als er plötzlich ganz dringend pinkeln musste. Danach aber brachte er es nicht mehr fertig, den Schwanz zu kappen. Vielmehr nahm er 754
jetzt ein Bleistift-Spitzmesser zur Hand, um sich wenigstens die Eier abzuschneiden, doch die seien vor Schreck so zusammengeschrumpelt, dass sie ihm leid taten und er sein Vorhaben aufgab. Erst dann habe er sich schließlich im Krankenhaus dem bewussten Eingriff unterzogen. Seitdem diese mehr als zehn Jahre zurückliegende Operation in aller Munde war, begannen die Leute auch wieder, über Lin Hong zu tratschen. Manche bedauerten sie, andere schüttelten über sie den Kopf, und einige Frauen zitierten voller Schadenfreude einschlägige Volksweisheiten, wie zum Beispiel »Schönheit und Verstand gehen selten Hand in Hand« oder »Schönheit macht niemanden satt!«. Das ließen jedoch andere - männliche - Einwohner unserer kleinen Stadt Liuzhen nicht gelten. Sie verteidigten Lin Hongs damalige Entscheidung gegen Glatzkopf-Li, indem sie darauf hinwiesen, niemand verfüge über so viel menschliche Voraussicht, dass er es hätte besser wissen können, nicht einmal ein berufsmäßiger Wahrsager. Denn auch der könne nur anderen die Zukunft weissagen, nicht aber seine eigene voraussehen. Wäre es anders, hätten nicht früher die Kaiser ihre Macht und heute Lin Hong Glatzkopf-Li verloren. XXXI Schriftsteller Liu, einer der beiden Geistesfürsten unserer kleinen Stadt Liuzhen, war bei der Gerichtsverhandlung auch zugegen und wurde so Augenzeuge jener grotesken Farce. Von Glatzkopf-Lis leidenschaftlicher Rede war er so aufgewühlt, dass er abends keinen Schlaf finden konnte. Er spürte, dieser Stoff schrie geradezu nach künstlerischer Verarbeitung. Also stand er wieder auf, setzte sich, die Jacke 755
über die Schultern gelegt, an den Tisch und brachte bis zum Morgen eine umfangreiche Abhandlung Millionär sehnt sich nach Liebe zu Papier. Eingedenk der erzieherischen Funktion aller wahren Literatur - »hehr, überlebensgroß, makellos« hatten sozialistische Helden zu sein wurde Glatzkopf-Li darin idealistisch geschönt, und seine nach Hunderten zählenden sexuellen Abenteuer wurden zu ebenso vielen Liebesbeziehungen verklärt. Immer wieder aufs Neue habe Glatzkopf-Li auf die große, reine Liebe gehofft, hieß es in dem Artikel, doch sei er nicht ein einziges Mal auf eine Jungfrau gestoßen, habe es nur immer wieder mit moralisch äußerst fragwürdigen Liebesdienerinnen zu tun gehabt. Schriftsteller Liu versäumte nicht, den Ursachen dieser bedauerlichen Tatsache nachzugehen, und erwähnte in diesem Zusammenhang jene alte Geschichte, wie Glatzkopf-Li als Heranwachsender auf der öffentlichen Toilette Frauenärsche ausspähte. Der Junge habe sich gerade auf dem Sitzbrett niedergelassen - schrieb Schriftsteller Liu - und angefangen zu drücken, da sei ihm ein Schlüssel aus dem Hosensack gerutscht und durch die Sitzöffnung in die Jauche gefallen. Als er aufsprang und versuchte, den Schlüssel in der Grube zu orten, sei »ein gewisser Zhao« dazugekommen, habe ihn am Schlafittchen gepackt, ohne sich auf irgendwelche Erklärungen einzulassen, und auf gut Glück behauptet, Glatzkopf-Li habe Frauenärsche ausspionieren wollen. Anschließend sei er mit ihm durch ganz Liuzhen paradiert, habe ihn regelrecht Spießruten laufen lassen. (Man beachte, wie raffiniert Schriftsteller Liu hier den zweiten Geistesfürsten unserer kleinen Stadt Liuzhen als ahnungslosen Idioten charakterisierte.) Liu schloss seinen herzbewegenden Bericht mit fol756
genden Worten: So wurde ein unschuldiger junger Mensch Opfer einer Beschuldigung, gegen die er sich nicht zur Wehr setzen konnte. Ein anderer an seiner Stelle wäre durch dieses traumatische Erlebnis womöglich aus der Bahn geworfen worden. Nicht so dieser junge Mann. Schon seit seiner zartesten Jugend fühlte er sich zu Höherem bestimmt und ließ sich deshalb von dieser unverdienten Demütigung nicht beirren. Die nachmalige Entwicklung sollte ihm recht geben: Aus dem aufstrebenden jungen Mann wurde ein wertvoller Mitbürger, der seine ganze Kraft dem Wohl des Vaterlandes widmete und schließlich zum Gründer eines wahrhaft großen Unternehmens wurde. Der Artikel erschien zuerst in der örtlichen Abendzeitung, wurde darüber hinaus aber innerhalb von nicht einmal zwei Monaten von mehreren hundert Lokalblättern im ganzen Land nachgedruckt. Glatzkopf-Li war mit dem Inhalt sehr zufrieden; besonders gefiel ihm der Abschnitt mit dem Schlüssel, der in die Jauche fällt. Mit der linken Hand auf den Tisch schlagend, in der rechten die Zeitung schwenkend, rief er aus: »Also, dieser Schriftsteller Liu kann ja wirklich was! Ein kleiner Schlüssel reicht dem Bastard, um den größten Justizirrtum aufzuklären, den es in Liuzhen je gegeben hat.« Nach einem Moment fügte er grinsend hinzu: »Am Ende setzt sich die geschichtliche Wahrheit eben doch immer durch!« Etwas auszusetzen hatte er nur an der Überschrift. Er streckte die fünf Finger einer Hand aus und grummelte, er besitze schließlich ein Vermögen von fünfzig Millionen, da hätte dieser Liu statt »Millionär« wenigstens »Multimillionär« schreiben können! Aber man dürfe wohl nicht mäkeln, 757
sagte er zu seinen anwesenden Untergebenen. »Für jemanden, der noch kein richtiges Geld gesehen hat, ist es schon schwer genug, sich eine Million vorzustellen.« Ohnehin veränderte sich in dem Maße, wie der Artikel von anderen Zeitungen übernommen wurde, die Aufmachung ständig. Als Glatzkopf-Li wenig später in einer obskuren Lokalzeitung die Überschrift Multimillionär sehnt sich nach Liebe entdeckte, sagte er zufrieden: »Na also! Das entspricht wenigstens mal der Wahrheit!« Nachdem Schriftsteller Lius Artikel die Runde durch ganz China gemacht hatte, kehrte er an seinen Herkunftsort zurück. Am Ende wurde er nämlich auch in der offiziellen Presse unserer Provinz abgedruckt, nunmehr unter der Überschrift Milliardär sehnt sich nach Liebe. Glatzkopf-Li, der das schmunzelnd zur Kenntnis nahm, meinte bescheiden: »Hm, das ist nun doch ein bisschen übertrieben.« Schriftsteller Liu selbst hätte sich nie träumen lassen, dass sein Artikel von so vielen Zeitungen nachgedruckt würde; mehrere hundert waren es am Ende, fast so viel wie Glatzkopf-Lis wechselnde Bettgenossinnen. Endlich berühmt, konnte er jetzt seine Frustrationen über die jahrelange Missachtung seines Talents abreagieren. Freudestrahlend stolzierte er durch die Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen, eine Zahlungsmitteilung in der Hand, die er jedem Bekannten, den er unterwegs traf, unter die Nase hielt. »Ich muss jetzt jeden Tag aufs Postamt rennen, weil immerzu Überweisungen für mich eingehen«, seufzte er. »Man hat's wirklich nicht leicht, wenn man ein bisschen prominent ist.« Als Liu mit seinem Artikel über Nacht berühmt wurde, verging Dichter Zhao fast vor Neid. Wie sehr bereute er jetzt, 758
jene Gerichtsverhandlung versäumt zu haben! Sonst hätte vielleicht er als Erster über Glatzkopf-Li geschrieben. Was ihn besonders erboste, war der Abschnitt über das Plumpsklo-Erlebnis des jungen Glatzkopf-Li. »Das ist mein Stoff!«, erzählte er jedem, den er zu fassen bekam. »Schriftsteller Liu hat ihn mir geklaut!« Für zwei, die sich feind sind, ist die Welt nicht groß genug, geschweige denn unsere kleine Stadt Liuzhen, und so war es nur eine Frage der Zeit, dass die beiden Geistesfürsten aufeinanderstoßen würden. Dies geschah anlässlich der Eröffnung von Schmied Tongs neuem Supermarkt. Tong, der zu diesem Zeitpunkt bereits drei Ladengeschäfte besaß und beobachtet hatte, dass in unserem großen Vaterland diese neumodischen Selbstbedienungsläden überall aus dem Boden schossen wie Bambussprossen nach dem Frühlingsregen, erkannte nämlich sofort die Zeichen der Zeit und machte in unserer kleinen Stadt Liuzhen auch einen solchen Supermarkt - mit einer Verkaufsfläche von nicht weniger als dreitausend Quadratmetern - auf. Die Eröffnung sollte natürlich mit gehörigem Pomp gefeiert werden. Zwar konnten Kreisvorsteher Tao und seine Amtsleiter leider der Einladung nicht Folge leisten, dafür aber waren der Sekretär des Kreisvorstehers und diverse Abteilungsleiter erschienen. Auch Glatzkopf-Li hatte sich wegen dringender Geschäftsverhandlungen und Pressetermine nicht freimachen können, doch brachte einer seiner Mitarbeiter einen Blumenkranz mit seinem auf der Kranzschleife verewigten Glückwunsch vorbei, einen Kranz, wie er von jedem Gratulanten zu solch einer Geschäftseröffnung erwartet wurde. (Aber natürlich war Glatzkopf-Lis der größte von allen!) 759
Von Zahnreißer Yu kam ein Glückwunschtelegramm, das er im Eurostar-Zug auf der Fahrt von Mailand nach Paris beim Passieren der schweizerischen Grenze an Stieleis-Wang aufgegeben hatte. Wang sollte es an seiner Stelle auf der Eröffnungsfeier verlesen, doch war er dazu nicht in der Lage, weil es nur zwei Zeilen in Buchstabenschrift Italienisch? Französisch? -, aber keine chinesischen Schriftzeichen enthielt. Schmied Tong nahm das Telegramm dennoch hocherfreut entgegen. »Sogar ausländische Freunde schicken mir ein Glückwunschtelegramm!«, rief er den Umstehenden zu. Zu den eingeladenen prominenten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zählten natürlich auch die bei den Geistesfürsten. Als Dichter Zhao den Schriftsteller erblickte, lief er vor Wut bläulich an, während Liu den Dichter anstrahlte, als wäre gar nichts gewesen. Beide wahrten die Form, schwiegen aber eisern, obwohl sie direkt nebeneinanderstanden. Zum Krach kam es erst, als Schmied Tong sie bei der Begrüßung der Gäste in einem Atemzug nannte. Zunächst stellte er Schriftsteller Liu als Verfasser des aufsehenerregenden Artikels Millionär sehnt sich nach Liebe vor. Die Anwesenden reagierten mit begeistertem Applaus, und Liu selber strahlte vor Stolz über das ganze Gesicht. Dann zeigte Schmied Tong auf Dichter Zhao. »Und hier«, sagte er, »haben wir Dichter Zhao, der in Millionär sehnt sich nach Liebe eine nicht unwichtige Rolle spielt.« Jetzt gab es keinen Beifall, statt dessen großes Gelächter. Dichter Zhao, der ohnehin fuchsteufelswild war, weil Schriftsteller Liu ihn in seinem Machwerk als »ein gewisser Zhao« apostrophiert hatte, verlor nach den Worten des Schmieds die Beherrschung und stutzte seinen Intimfeind 760
vor aller Augen und Ohren zurecht: »Wenn du Mumm hättest - aber den hast du ja nicht -, dann hättest du mich offen und ehrlich als >Dichter Zhao< bezeichnet statt als >ein gewisser Zhao
nommen. Schmied Tong, der das Scharmützel zwischen den bei den Kampfhähnen aufmerksam verfolgt hatte, war nicht gewillt, sich seine Feier verderben zu lassen. Auf ein Zeichen mit seiner mächtigen Pranke hin wurden deshalb jetzt die Knallfrösche gezündet, woraufhin keiner der Anwesenden mehr Notiz von den beiden Geistesfürsten nahm. Lius Artikel hatte Glatzkopf-Lis Namen weithin bekannt gemacht. Reporter von Zeitungen, Rundfunkstationen und Fernsehanstalten fielen scharenweise in unserer kleinen Stadt Liuzhen ein und führten unzählige Interviews mit Glatzkopf-Li. Wenn er morgens die Augen aufschlug, wartete schon der erste Interviewer auf ihn, und wenn er abends die Augen schloss, weil er meinte, nun endlich schlafen zu können, klingelte todsicher sein Handy, weil irgendein Journalist an einem entlegenen Ort ein Telefoninterview mit ihm führen wollte. Einmal waren vier Kameras gleichzeitig auf ihn gerichtet, betätigten dreiundzwanzig Fotografen gleichzeitig ihre Blitzlichter und bombardierten ihn vierunddreißig Reporter gleichzeitig mit ihren Fragen. Damit hatte das Medieninteresse seinen Gipfelpunkt erreicht. Bei alledem war Glatzkopf-Li munter wie ein junger Hund vor einem Haufen Fleischknochen. Er wusste, dies war eine Chance, wie sie einem nur einmal in hundert Jahren geboten wird. Nachdem er die Fragen der Journalisten zum Thema Liebe beantwortet hatte, lenkte er sehr bald das Gespräch auf ein anderes Thema: seine Geschäfte. Erst ein bisschen schwülstiges Gesäusel über die Liebe, danach ein kurzer, mit tränenerstickter Stimme vorgetragener Rückblick auf seine trostlose Kindheit in bitterer Armut - seine Mutter habe ihn 762
damals schon immer kahl scheren lassen, damit er nicht so oft zum Friseur musste, daher auch sein Spitzname -, und dann war es so weit: Er wechselte die Tonart, dankte Partei und Regierung für ihre Politik der Reformen und der Öffnung, dankte der Bevölkerung des Kreises für ihre Unterstützung und leitete endlich dazu über, wie es zur Gründung seiner Firma und ihrer Entwicklung zu einem »wahrhaft großen« Unternehmen gekommen war. Bescheiden, wie er war, pflegte er an dieser Stelle daraufhinzuweisen, dass er selber diesen Ausdruck - »wahrhaft groß«übertrieben finde und lediglich aus der Presse zitiere. Aufgrund der Berichte in Presse und Rundfunk wandelte sich sein Bild in der Öffentlichkeit. Man begann, in ihm nicht mehr in erster Linie den unglücklich Liebenden, sondern vor allem den erfolgreichen Unternehmer zu sehen. Glatzkopf-Li wäre nicht Glatzkopf-Li gewesen, hätte er nicht innerhalb von zwei Wochen sämtliche Medien des Landes so weit gehabt, dass sie ausschließlich auf diese Weise über ihn berichteten. Die kostenlose Öffentlichkeitsarbeit für sein Unternehmen - denn darauf lief diese Art Berichterstattung hinaus - wirkte sich unmittelbar auf seine Kreditwürdigkeit aus. Die üppig sprudelnden Bankkredite wiederum lockten zahlreiche potenzielle Kooperationspartner an. Geldanleger aus dem ganzen Land, Kapitalisten aus Hongkong und Macao sowie reiche Auslandschinesen gaben sich die Klinke in die Hand und wollten mit Glatzkopf-Li Gemeinschaftsunternehmen gründen. Auch seitens der staatlichen Stellen wurde ihm jede Unterstützung zuteil. Wenn früher die Genehmigung für ein neues Projekt ein, zwei Jahre auf sich warten ließ, wurde sie jetzt schon nach einem Monat erteilt. 763
Nach wie vor kam Glatzkopf-Li kaum zum Schlafen; drei oder vier Stunden mussten genügen. Er gab ständig Interviews, saß ständig in Geschäftsverhandlungen, verteilte jeden Tag dutzendweise Visitenkarten und nahm seinerseits die Karten von Dutzenden Besuchern entgegen. Unter diesen waren nicht wenige Betrüger, doch Glatzkopf-Li sah mit einem Blick, wer wirklich mit ihm kooperieren wollte und wer es nur auf sein Geld abgesehen hatte. In den Verhandlungen hatte er meist die Augen halb geschlossen, was viele für Schläfrigkeit hielten, dabei war keiner von den Anwesenden so wach wie er. Er war bereit, mit jedem potenziellen Partner zusammenzuarbeiten - unter einer Bedingung: Erst musste die Einlage auf das Konto seiner Firma eingezahlt werden. Wer gehofft hatte, Glatzkopf-Li würde Geld vorschießen, hatte sich schwer geirrt. Von ihm bekam so leicht kein Schwindler einen Fen zu sehen - nicht einmal einen Furz zu riechen bekam er! Großzügig war Glatzkopf-Li nur im Umgang mit Journalisten, für deren Bewirtung und Unterhaltung er sorgte und denen er beim Abschied haufenweise Geschenke mitgab. Für potenzielle Geschäftspartner dagegen riss er sich kein Bein aus. Mit ihnen verhandelte er in der firmeneigenen Cafeteria und ließ sie dort sogar ihre eigene Rechnung bezahlen. Dies sei international üblich, erklärte er. Besagte Cafeteria war mit Sicherheit der teuerste Schuppen im ganzen Land. Wenn man in Pekinger oder Schanghaier Fünf-Sterne-Hotels vierzig Yuan für eine Tasse frisch gemahlenen, frisch gebrühten Kaffee ausgeben musste, so kostete bei Glatzkopf-Li die Tasse Nescafe stolze hundert Yuan. Das tat den Schwindlern unter seinen Verhandlungspartnern na764
türlich in der Seele weh, denn - der klassische Fall des betrogenen Betrügers! - sie konnten Glatzkopf-Li kein Geld aus der Tasche ziehen, mussten aber trotzdem für ihren Kaffee tief in die eigene Tasche greifen. Das Beherbergungs- und Gaststättengewerbe sowie der Einzelhandel in unserer kleinen Stadt Liuzhen entwickelten sich in rasantem Tempo, weil die vielen auswärtigen Gäste Unterbringung und Verpflegung brauchten und die Kaufläden förmlich überrannten. Die Besucher, die ja aus allen Teilen des Landes kamen und ursprünglich jeweils ihren eigenen Dialekt sprachen, mussten auf Hochchinesisch umschalten, um sich verständigen zu können. Umgekehrt fingen die Einwohner unserer kleinen Stadt Liuzhen, die bis dato auch nur Dialekt gesprochen hatten, plötzlich ebenfalls an, sich die Zunge zu verrenken. Mit der Zeit benutzten sie die Standardsprache nicht nur im Umgang mit den Fremden, sondern selbst in der Unterhaltung am Familientisch, bei den Mahlzeiten und sogar im Bett. Glatzkopf-Li war in unserer kleinen Stadt Liuzhen allgegenwärtig. Wenn die Leute die Zeitung aufschlugen, grinste er ihnen entgegen, wenn sie das Radio einschalteten, hörten sie ihn über die Ätherwellen lachen, und wenn sie den Fernseher anstellten, starrten sie abermals in sein lächelndes Gesicht. Glatzkopf-Lis Berühmtheit machte wiederum auch unsere kleine Stadt Liuzhen bekannt. Der Name »Liuzhen«, den die Stadt immerhin schon seit über tausend Jahren trug, geriet dabei allerdings in Vergessenheit. Denn weil GlatzkopfLi dort in aller Munde war, rutschte den Leuten gelegentlich schon mal »Glatzkopf-Li-Stadt« heraus, wenn sie von ihrer 765
Stadt sprachen. Und wenn ein Autofahrer von auswärts die Scheibe herunterkurbelte, um sich nach dem Weg zu erkundigen, fragte er erst recht ganz selbstverständlich: »Bin ich hier richtig? Das ist doch Glatzkopf-Li-Stadt, oder?« XXXII Glatzkopf-Li stand im Zenit seines Ruhms. Song Gang mit seinem Mundschutz dagegen trottete immer noch auf der Suche nach Aushilfsjobs durch die von Platanen und Zypressen gesäumten Straßen von Liuzhen, und Lin Hang wurde immer noch, und immer wieder, von ihrem Chef, dem nikotinsüchtigen Fabrikdirektor Liu, in sein Büro zitiert. Er war inzwischen von bloß verbaler Zudringlichkeit zu handfesteren Formen der Anmache übergegangen. Nachdem er die Tür zum Flur geschlossen hatte, schob er seinen Stuhl neben ihren und streichelte mit heuchlerischer Fürsorglichkeit ihre Hände. Sie wäre am liebsten aufgestanden und hätte ihm eine heruntergehauen. Nur der Gedanke an ihren arbeitslosen Mann hielt sie davon zurück, sodass sie lediglich seine Hand wegschob. Dadurch fühlte er sich ermutigt und begann, ihr Gesicht mit Küssen zu bedecken. Sein widerlich stinkender Rauchermund und die schwarzen Zähne ekelten sie so sehr, dass sie sich beinahe übergeben hätte. Sie stieß ihn fort und sprang auf, aber ehe sie die rettende Tür öffnen konnte, holte er sie ein und hielt sie von hinten fest. Die eine Hand auf ihre Brust gepresst, die andere in ihrer Hose, versuchte er, sie auf das Sofa neben dem Schreibtisch zu ziehen. Lin Hong hielt sich mit beiden Händen an dem Türknauf fest - sie wusste, nur wenn es ihr gelänge, die Tür zu öffnen, wäre sie in Sicherheit - und schrie so laut sie konnte. Seine mo766
mentane Verwirrung nutzte sie, um die Tür aufzureißen. Liu ließ sie tatsächlich sofort los, weil auf dem Korridor Leute zugange waren, und im nächsten Augenblick war sie draußen. Sie hörte ihn drinnen toben, während sie schwer atmend Frisur und Kleidung in Ordnung brachte und davoneilte. Obwohl die Schicht noch nicht zu Ende war, verließ sie fluchtartig das Fabrikgebäude und fuhr weinend mit ihrem Fahrrad nach Hause. Song Gang war gerade heimgekommen und hatte sich, noch mit der Gazemaske vor dem Mund, auf dem Sofa niedergelassen, als seine tränenüberströmte Frau die Tür aufschloss. Erschrocken stand er auf was war passiert? Als er sie aufgeregt fragte, schluchzte sie nur noch verzweifelter. Sie war drauf und dran, ihm von den Annäherungsversuchen des widerlichen Liu zu erzählen, aber beim Anblick seines kummervollen Gesichtes mit dem Mundschutz tat er ihr so leid, dass sie ihm nicht auch noch ihre eigenen Sorgen aufbürden wollte. So kam es, dass sie auch weiterhin ihren zudringlichen Chef ertragen musste. Wenn Song Gang doch nur wieder Arbeit fände!, dachte sie. Wenn er endlich zu Glatzkopf-Li ginge! Der würde seinem Bruder gewiss eine gute Stelle geben, und dann bräuchte sie sich die erniedrigende Behandlung durch den widerwärtigen Liu nicht länger gefallen zu lassen. Unter Tränen bat sie Song Gang: »Wende dich an deinen Bruder! Bitte! ... « Er schien unschlüssig zu sein, aber dann schüttelte er doch wie schon beim letzten Mal energisch den Kopf. Da konnte sie sich nicht länger beherrschen. Unter Tränen schrie sie ihn an: »Als er reich geworden war, da kam er ex767
tra vorbei, weil er an dich gedacht hat - an seinen Bruder! Du aber, du hast ihn schnöde abgewiesen.« »Damals warst du auch dabei«, murmelte Song Gang. »Haben wir uns etwa abgesprochen?«, zeterte sie. »Bei einer so wichtigen Sache hättest du mich ja mal nach meiner Meinung fragen können. Aber nein, du zeigst ihm einfach nur die kalte Schulter!« Dass Song Gang stumm blieb und nur schuldbewusst den Kopf senkte, regte Lin Hong erst recht auf. »Den Kopf hängen lassen, das ist das Einzige, was du kannst!«, schrie sie. Verzweifelt schüttelte sie immer wieder den Kopf. Warum war Song Gang nur so stur? Andere gestehen doch auch mal eine Niederlage ein, dachte sie. Wieso kann er es denn nicht? Sie beschloss, Glatzkopf-Li selber aufzusuchen. Als sie Song Gang von ihrer Absicht in Kenntnis setzte, erinnerte sie ihn daran, dass er und sein Bruder immerhin zusammen aufgewachsen seien, ganz abgesehen davon, dass sie einmal buchstäblich auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen waren. Auf jeden Fall würde Glatzkopf-Li gar nicht umhinkönnen, seinem Bruder eine Arbeit zu geben. Sie wischte sich die Tränen ab und sagte: »Aber davon werde ich gar nicht anfangen. Ich werde ihm nur von deiner Krankheit erzählen. Ihn nur fragen, ob er bereit ist, dir eine Arbeit zu geben oder nicht.« Bei diesen Worten hatte sie den Kleiderschrank geöffnet, denn sie wollte sich ein bisschen hübscher anziehen, ehe sie zu Glatzkopf-Li ging. Immer noch weinend, legte sie all ihre Kleider auf das Bett und verbrachte die nächste Stunde damit, etwas Passendes zu suchen. Allerdings stellte sie zu ihrem Kummer fest, dass alle Sachen, die einigermaßen infrage 768
kamen, schon viele Jahre alt und inzwischen längst nicht mehr modern waren; neue Kleidung hatte sie sich schon seit Jahren nicht mehr geleistet. Unter Tränen entschied sie sich schließlich für ein Kostüm, das zwar auch unmodern, aber immerhin doch schick war. Als sie es jedoch anzog, spannte es überall, denn sie hatte mittlerweile ein wenig zugenommen. Song Gang, dem die Verzweiflung seiner Frau durch und durch ging, konnte das nicht länger mit ansehen. Er stand auf und sagte in bestimmtem Ton: »Ich gehe.« Sprach's und ging los zu Glatzkopf-Lis Firma. Der ärmste Einwohner unserer kleinen Stadt Liuzhen machte sich auf den Weg zu ihrem reichsten Einwohner, zu seinem einstigen Bruder, der auch jetzt noch sein Bruder war. Als Song Gang in der Eingangshalle stand und sich umsah, entdeckte er Glatzkopf-Li in der Cafeteria in angeregter Unterhaltung mit mehreren Journalisten. Er ging zu ihm hin und sagte leise: »Glatzkopf-Li ... « Glatzkopf-Li, den schon seit vielen Jahren niemand mehr so anredete - er war jetzt »Generaldirektor Li« -, fuhr herum. Als er Song Gang hinter sich stehen sah, der ihn durch seine dicken Brillengläser über dem weißen Mundschutz anlächelte, stand er eilig auf und sagte zu den Reportern: »Entschuldigen Sie mich bitte, ich habe etwas Dringendes zu erledigen.« Dann ging er mit Song Gang zum Fahrstuhl. In seinem Büro schloss er die Tür hinter sich und befahl: »Nimm den Mundschutz ab!« Das war das Erste, was er zu Song Gang sagte. Song Gang erwiderte: »Aber ich bin lungenkrank.«
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»Ich scheiß auf deine Lungenkrankheit!«, rief Glatzkopf-Li und riss ihm mit einem Ruck die Gazemaske ab. »Bei deinem eigenen Bruder brauchst du das Ding nicht!« »Wenn ich dich nun anstecke ... « »Davor habe ich keine Angst!« Song Gang musste auf dem Sofa Platz nehmen, Glatzkopf-Li setzte sich neben ihn. Er sagte: »Menschenskind, da besuchst du mich also endlich doch!« Song Gang blickte sich in dem imposanten Büro um und sagte wehmütig: »Wie hätte sich unsere Mutter gefreut, wenn sie das hier noch erlebt hätte!« Bewegt tätschelte Glatzkopf-Li seine Schulter. »Song Gang, wie geht es dir denn? Ich war all die Jahre so im Stress, konnte mich überhaupt nicht um dich kümmern. Ich hab gehört, du bist krank, da wollte ich dich besuchen, aber dann kam wieder so viel dazwischen, dass ich es vollkommen vergessen habe.« Song Gang lächelte ein wenig traurig und berichtete, wie er sich erst als Kuli am Hafen das Hüftgelenk verrenkt und dann in der Zementfabrik seine Lungen ruiniert habe. GlatzkopfLi hörte schweigend zu. Als der Bruder mit seinem Bericht fertig war, sprang er auf und schimpfte los: "Du Bastard! Überall hast du nach Arbeit gefragt, nur zu mir bist du nicht gekommen! Hüfte kaputt, Lunge kaputt Mensch, guck dir doch an, was aus dir geworden ist! Wie du Bastard dich selbst zugerichtet hast! Warum, verdammt noch mal, bist du Bastard bloß nicht zu mir gekommen?!« Song Gang, der sich im Stillen über Glatzkopf-Lis Anschiss freute, weil er daran merkte, dass sie nach wie vor Brüder waren, erwiderte lächelnd: »Jetzt bin ich ja gekommen.« 770
"Jetzt ist es zu spät!«, rief Glatzkopf-Li aufgebracht. "Jetzt bist du nur noch ein menschliches Wrack!« Song Gang stimmte ihm kopfnickend zu. Dann sagte er verlegen: "Könntest du mir trotzdem eine Arbeit geben?« Seufzend und kopfschüttelnd setzte sich Glatzkopf-Li wieder neben ihn, tätschelte abermals seine Schulter und sagte: "Werd erst mal gesund! Ich schicke jemanden vorbei, der dich nach Schanghai bringt, ins beste Krankenhaus der Stadt. Die sollen dich schön auskurieren.« Song Gang schüttelte den Kopf. "Nein, deswegen bin ich nicht hier. Ich möchte eine Arbeit.« "Verdammt noch mall«, polterte Glatzkopf-Li los, besann sich dann aber und fuhr in normalem Ton fort: "Na schön, dann nehme ich dich erst mal als stellvertretenden Generaldirektor in meine Firma. Da kannst du kommen und gehen, wie es dir beliebt. Wenn du keine Lust hast, bleibst du einfach zu Hause, Hauptsache, du wirst wieder gesund.« Aber Song Gang schüttelte abermals den Kopf. "So eine Arbeit ist nichts für mich«, sagte er. "Du verdammter Bastard!«, brauste Glatzkopf-Li auf. »Welche Arbeit ist denn dann was für dich?!« "Die Leute nennen mich den >Einspringer vom Dienst<«, sagte Song Gang mit einem selbstironischen Lächeln. »Ich kann nur noch sauber machen oder Briefe und Zeitungen austragen, so etwas. Was anderes packe ich nicht mehr ... « »Mit dir Bastard ist aber auch wirklich nichts los! Wo hatte Lin Hong bloß ihre Augen, als sie dich genommen hat!« Glatzkopf-Li schüttelte ärgerlich den Kopf. »Wie stellst du 771
dir das vor - ich, der große Glatzkopf-Li, lasse meinen eigenen Bruder putzen oder Botengänge machen! ... « In dieser Tonart ging es noch eine Weile weiter, dann sah Glatzkopf-Li ein, dass es keinen Sinn hatte, Song Gang Vorhaltungen zu machen. Er sagte: »Geh jetzt erst mal nach Hause. Da unten wartet ein ganzes Rudel Reporter auf mich. Über deine Angelegenheiten reden wir später weiter!« Song Gang band sich den Mundschutz wieder um und verließ die Firma seines Bruders. Er war glücklich. Dass Glatzkopf-Li ihn so heruntergeputzt hatte, machte ihn richtig froh. Je öfter er ihn »Bastard« genannt hatte, desto froher war er geworden. Denn das hatte ihm das Gefühl vermittelt, Glatzkopf-Li sei noch der Alte, und sie seien immer noch Brüder. In dieser aufgeräumten Stimmung kam er zu Hause an, band den Mundschutz ab und setzte sich aufs Sofa. »Glatzkopf-Li hat sich überhaupt nicht verändert«, erzählte er Lin Hong mit einem Lächeln. »Hat mich immerzu >Bastard< genannt und gesagt, mit mir sei nichts los. Wo du deine Augen hattest, als du mich genommen hast, wollte er Wissen.« Anfangs hatte Lin Hong sich von seiner guten Laune anstecken lassen, aber je länger sie ihm zuhörte, desto mehr geriet sie ins Grübeln. Schließlich fragte sie ihn direkt: »Sag mal, hat er dir denn nun eine Arbeit gegeben oder nicht?« »Ich soll erst gesund werden, hat er gesagt.« Misstrauisch hakte sie nach: »Er hat dir also keine Arbeit gegeben?« »Zum stellvertretenden Generaldirektor wollte er mich machen, aber das habe ich abgelehnt.« »Warum?« »Weil ich das nicht kann.«
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Da flossen Lin Hongs Tränen aufs Neue. Sie konnte es sich nicht versagen, ihn zum wiederholten Male einen absoluten Versager zu nennen, dem einfach nicht zu helfen sei. Song Gang ließ schuldbewusst den Kopf hängen. Er stand auf und sagte mit leiser Stimme: »Er hat doch gesagt, ich soll mich erst mal auskurieren lassen.« »Und woher soll das Geld dafür kommen?«, fragte sie weinend. In diesem Moment klopfte es an der Tür. Lin Hong wischte sich hastig die Tränen ab, dann öffnete sie die Tür einen Spaltbreit. Draußen stand Glatzkopf-Lis Prokurist, der ihr ein Zeichen machte, sie solle einmal kurz vors Haus kommen. Sie stutzte erst, aber dann ging sie doch mit ihm ein Stück die Straße hinunter. Nach etwa dreißig Metern blieb der Mann stehen und übergab Lin Hong ein Sparbuch über 100000 Yuan. Es sei auf ihren Namen ausgestellt, und sie solle es als eine Beihilfe zu ihren und Song Gangs Lebenshaltungskosten und zu den Ausgaben für seine ärztliche Behandlung betrachten. Der Prokurist fügte noch hinzu, Glatzkopf-Li habe das Sparbuch auf ihren Namen ausstellen lassen, weil er befürchte, Song Gang würde es womöglich nicht annehmen. Sie solle das aber für sich behalten und ihrem Mann nichts davon erzählen. Im Weggehen sagte er: »Generaldirektor Li hat mir gegenüber geäußert, Song Gang sei ernsthaft krank, und Sie sollten ihn schleunigst ins Krankenhaus bringen und sich keine Gedanken um die Kosten machen. Er würde von nun an alle sechs Monate 100000 Yuan auf dieses Sparkonto überweisen, und wenn das nicht reiche, sollten Sie es ihn einfach wissen lassen. Sie könnten immer auf ihn zählen.« 773
Das Sparbuch über 100000 Yuan in der Hand, stand Lin Hong wie benommen da und überlegte, was diese Summe bedeutete, eine Summe, deren schiere Größe ihr Vorstellungsvermögen bei Weitem überstieg. Erst als sie bemerkte, dass die Vorübergehenden sie neugierig anstarrten, erwachte sie aus ihren Träumen und ging eilends nach Hause. An der Tür fiel ihr jedoch wieder ein, dass der Prokurist ihr eingeschärft hatte, sie solle Song Gang nichts von dem Sparbuch sagen. Also machte sie kehrt, ging zur Bank und hob 2000 Yuan ab. Das würde zunächst einmal reichen, wenn sie Song Gang am nächsten Tag ins Krankenhaus bringen würde. Erst dann ging sie langsam nach Hause. Im Geiste sah sie wieder den grinsenden Glatzkopf-Li von damals vor sich, aber jetzt kam es ihr plötzlich vor, als sei er eigentlich doch ein ganz passabler Mann. Vielleicht hatte sie ihn seinerzeit zu Unrecht so verabscheut. XXXIII Schriftsteller Lius Prominenz hielt nicht einmal zwei Monate an. Plötzlich stellte er fest, er war »out«; genau wie früher beachtete ihn kein Mensch. Auch mit den Geldüberweisungen war es vorbei. Was ihn besonders erbitterte, war, dass er so rasch wieder in Vergessenheit geriet, obwohl doch er es gewesen war, der Glatzkopf-Li zu seiner heutigen Berühmtheit verholfen hatte. Von all den Journalisten, die sich in Scharen auf Glatzkopf-Li stürzten, interessierte sich keiner für ihn. Nicht einmal richtig angeguckt hatten sie ihn - kein einziger! Er hatte nämlich auf der Straße ein paar Reporter, die zu Glatzkopf-Li unterwegs waren, angesprochen und sich als Verfasser jenes allerersten Artikels über den neuen Lieb774
ling der Medien zu erkennen gegeben. Sie hatten jedoch nur kurz genickt und waren schnell weitergegangen, denn sie wussten, wenn sie zu spät dran wären, würden sie womöglich erst für den nächsten Tag einen Interviewtermin bekommen. Unrasiert und ungekämmt, der Anzug völlig zerknittert und die einst schwarzen Lederschuhe vom Staub grau gefärbt, so lungerte Schriftsteller Liu in der Stadt herum und lauerte auf ein neues Opfer, vor dem er sich wortreich über seine Verdienste um Glatzkopf-Lis Karriere auslassen könnte. Da ihn die Auswärtigen mit Missachtung straften, hielt er sich an die Einheimischen. Seine prahlerischen Ergüsse pflegte er mit den Worten »Ich habe für ihn den Hochzeitsanzug geschneidert!« zu beenden, womit er sagen wollte, er sei Glatzkopf-Lis Steigbügelhalter gewesen. Schriftsteller Lius Geschwätz machte die Runde in der Stadt und kam schließlich auch Glatzkopf-Li zu Ohren. Er ließ zwei seiner Untergebenen kommen und befahl ihnen, Liu zu ihm zu bringen, damit er ihn »abmahnen« könne. Als die beiden den Schriftsteller fanden, stand er wie üblich auf der Straße. Er kaute gerade einen Apfel, als sie ihm mitteilten, Glatzkopf-Li wolle ihn sehen. Das kam so überraschend, dass er sich vor lauter Schreck verschluckte und den ganzen Weg bis zu Glatzkopf-Lis Firma gekrümmt, hochrot und nach Luft schnappend zurücklegen musste, bis er endlich das Stückchen Apfel, das sich in seiner Luftröhre festgesetzt hatte, heraus gehustet hatte. Schwer atmend und die Tränen abwischend, die ihm vor lauter Anstrengung in die Augen getreten waren, sagte er zu Glatzkopf-Lis beiden Abgesandten: »Ich wusste, Generaldirektor Li würde nach mir schicken! Ich habe sogar darauf gewartet. Denn ich kenne ihn und 775
weiß, er ist ein Mensch, der den Brunnenbauer nicht vergisst, wenn er das Wasser trinkt.« Glatzkopf-Li telefonierte gerade mit einem Geschäftspartner, als Schriftsteller Liu sein Hundert-Quadratmeter-Büro betrat. Staunend sah Liu sich um und schnalzte anerkennend mit der Zunge. Endlich legte Glatzkopf-Li den Hörer auf, und Liu konnte anfangen, Süßholz zu raspeln: »Ich habe ja schon viel von Ihrem großartigen Büro gehört, aber jetzt, wo ich es mit eigenen Augen sehe, muss ich sagen, es ist sogar noch viel beeindruckender als die Fama es wissen wollte. Ich kenne das Büro des Kreisvorstehers, das ist auch recht geräumig, doch im Vergleich zu Ihrem ist es nicht größer als ein Badezimmer.« Glatzkopf-Li musterte seinen begeisterten Besucher so finster, dass das Lächeln auf dessen Lippen erstarb. »Ich habe gehört«, begann er mit gerunzelter Stirn, »du verbreitest in der Stadt Gerüchte über mich.« Schriftsteller Liu wurde schreckensbleich. »Aber nein! Nein! Überhaupt nicht!«, stotterte er und schüttelte heftig den Kopf. »Erzähl nicht solchen Scheiß!«, rief Glatzkopf-Li und schlug auf den Tisch. »Verdammt noch mal!« Das ging dem Schriftsteller durch und durch; er zitterte vor Angst. Jetzt ist es aus mit mir!, dachte er. Der ist jetzt so reich, für den ist es ein Klacks, mich fertig zu machen. Verächtlich lächelnd fragte Glatzkopf-Li: »Was war es gleich, was du immer sagst - den Hochzeitsanzug hättest du für mich geschneidert? War es das?«
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Schriftsteller Liu nickte eilfertig und bückte sich unterwürfig. »Verzeihen Sie mir, Herr Generaldirektor! Es tut mir wirklich leid! Ich hätte das nicht sagen dürfen.« Glatzkopf-Li zupfte am Revers seines Anzugs. »Ist das vielleicht der Hochzeitsanzug, den du für mich geschneidert hast?«, fragte er. »Nein! Nein!« »Erkennst du die Marke? Das ist ein Armani-Anzug!«, sagte Glatzkopf-Li stolz. »Weißt du, wer Armani ist? Ein Italiener, der berühmteste Schneider der Welt! Was meinst du, wie viel hat dieser Anzug gekostet?« »Er war bestimmt sehr teuer«, stotterte Schriftsteller Liu. Glatzkopf-Li hielt zwei Finger hoch: »Zwei Millionen Lira.« Schriftsteller Liu hörte nur »zwei Millionen« und fing vor Schreck an zu zittern. Woher sollte ein Provinzler wie er auch wissen, was für eine Währung die Lira ist. Für ihn war alles ausländische Geld automatisch mehr wert als chinesisches. »Himmel! Zwei Millionen! ... «, rief er entgeistert. Glatzkopf-Li weidete sich an seiner panischen Verwirrung. Mit einem spöttischen Lächeln sagte er: »Ich gebe dir jetzt einen guten Rat: Hüte deine Zunge!« Schriftsteller Liu nickte: »Jawohl! Das werde ich ganz gewiss tun! Es heißt ja nicht zu Unrecht >Kluges Schweigen ist besser als dummes Reden<. Das werde ich in Zukunft beherzigen.« Nachdem er Schriftsteller Liu gebührend eingeschüchtert hatte, gab Glatzkopf-Li sich nun leutselig. »Setz dich«, sagte er und wiederholte seine Aufforderung sogar, als Liu nicht 777
gleich reagierte. Als er endlich ganz vorsichtig auf der Stuhlkante Platz genommen hatte, fuhr Glatzkopf-Li fort: »Ich habe deinen Artikel gelesen. Du Bastard bist ja ein richtiger Tausendsassa! Wie bist du eigentlich auf den Schlüssel gekommen?« Schriftsteller Liu atmete erleichtert auf. »Reine Inspiration!«, antwortete er, plötzlich wieder ganz munter. »Inspiration?« Glatzkopf-Li hatte gewisse Schwierigkeiten mit diesem Begriff. »Verdammt, kannst du dich nicht so ausdrücken, dass man dich versteht?« Mit einem komplizenhaften Lächeln beugte sich Schriftsteller Liu vor und flüsterte Glatzkopf-Li zu: »Früher habe auch ich öfter auf dem Klo Ärsche beschaut, ich habe da meine Erfahrungen ... « »Tatsächlich? Du auch?«, rief Glatzkopf-Li aufgeregt. »Was denn für Erfahrungen? « »Ich sage nur: Spiegel!« Schriftsteller Liu stand auf und begann zu demonstrieren, wie er einen Spiegel durch das Sitzloch gesteckt hatte. »So kann man die Frauenärsche sehen, natürlich nur gespiegelt. Aber man fällt nicht hinein, und überrascht wird man auch nicht so leicht, wenn jemand dazukommt.« »Verdammte Scheiße!« Glatzkopf-Li schlug sich an die Stirn. »Wieso bin ich damals nicht auch darauf gekommen?« »Aber dafür haben Sie Lin Hongs Hintern gesehen«, lobhudelte Liu. »Ich nur den von Schmied Tongs Frau.« »Scheiße auch!«, rief Glatzkopf-Li mit funkelnden Augen. »Du Bastard hast wirklich Talent! Für mich zählen im Leben nur drei Sachen: erstens Geld, zweitens Talent und drittens Weiber. Und du Bastard, du hast Talent. Das schätze ich! 778
Meine Firma ist mittlerweile ziemlich groß geworden, und so ein großes Unternehmen braucht einen Firmensprecher. Ich glaube, in dir Bastard habe ich den richtigen Mann gefunden.« So wurde Schriftsteller Liu zu Glatzkopf-Lis Pressereferenten. Als die Leute ihn ein paar Tage später wieder in der Stadt sahen, war er ein vollkommen anderer Mensch. Er trug jetzt einen tadellos gebügelten Anzug, dazu ein weißes Hemd und eine rote Krawatte. Auch seine Schuhe waren blitzblank geputzt und sein Haar sorgfältig gekämmt. Wenn man Glatzkopf-Li aus der Sauna kommen sah, konnte man sicher sein, dass Liu gleich nachkommen würde. Auch ein neuer Spitzname wurde ihm jetzt verpasst. Man nannte ihn nicht mehr Schriftsteller Liu, sondern »PresseLiu«. Eingedenk des guten Rates, den ihm Glatzkopf-Li gegeben hatte, hütete »Presse-Liu« von nun an tatsächlich seine Zunge. Wer sich wie früher mit ihm unterhalten und ihn bei der Gelegenheit ein bisschen aushorchen wollte, musste feststellen, dass man ihm eher die Schneidezähne ziehen als ein Wort zu viel herauslocken konnte. Im vertrauten Gespräch mit einem Freund sagte Liu zur Begründung seiner neuen Schweigsamkeit: »Ich kann jetzt nicht mehr wie früher einfach drauflosreden. Ich bin ja jetzt das Sprachrohr von Generaldirektor Li.« Glatzkopf-Li hatte sich nicht in ihm geirrt: Wenn es angebracht war zu schweigen, hätte man auch mit drei Knüppeln keinen Furz aus ihm herausprügeln können; wenn es dagegen erforderlich war zu reden, war er die Beredsamkeit in Person. Zum Beispiel zerrissen sich die Einwohner unserer kleinen Stadt Liuzhen mit Wonne das Maul über Glatzkopf779
Lis skandalöse Weibergeschichten. Klar, dass da eine Richtigstellung fällig war! »Generaldirektor Li ist Junggeselle«, belehrte Presse-Liu seine Mitbürger. »Wenn ein Junggeselle mit einer Frau schläft, ist das kein Skandal. Denn was ist ein Skandal? Skandalös ist es, wenn ein Ehemann mit der Gattin eines anderen schläft oder eine Ehefrau mit dem Gatten einer anderen.« Prompt kam eine neue Frage: »Und wenn die Ehefrau eines anderen mit Glatzkopf-Li schläft - ist das skandalös?« »Ja, aber da fällt der Skandal auf die Frau zurück. Generaldirektor Li trifft hier kein Verschulden.« Natürlich kam die Liu'sche Skandal-Theorie auch Glatzkopf-Li zu Ohren. Er war des Lobes voll: »Recht hat er, der Bastard! Ein Junggeselle wie ich könnte mit allen Frauen der Welt schlafen, und es wäre immer noch kein Skandal.« Nachdem Schriftsteller Liu zu »Presse-Liu« mutiert war, bestand seine erste Aufgabe darin, die Korrespondenz zu erledigen. Es kamen nämlich haufenweise Zuschriften von Frauen aus allen Ecken des Landes, die sich als Jungfrauen bezeichneten und - elektrisiert von dem Bericht über einen Milliardär, der noch keine wahre Liebe erlebt, noch keine richtige Jungfrau getroffen hatte - ihm brieflich ihre innige Liebe gestanden. Unter den Verfasserinnen dieser Briefe waren sowohl unverheiratete als auch verheiratete junge Frauen, anständige Frauen wie Prostituierte, Landfrauen und Städterinnen, Oberschülerinnen und Studentinnen, Hochschulabsolventinnen und Doktorinnen, sogar eine Professorin - und alle, alle versicherten nicht nur, sie seien Jungfrauen, sondern brachten auch mehr oder minder unverblümt ihre Bereitschaft zum Ausdruck, ihr bisher so sorgsam 780
gehütetes Hymen dem armen reichen Glatzkopf-Li aus unserer kleinen Stadt Liuzhen zum Opfer zu bringen. Das Postauto lieferte täglich einen großen Sack mit derartigen Briefen beim Pförtner ab, und anschließend schafften ihn zwei starke Männer in Schriftsteller Lius, oder vielmehr Presse-Lius, Büro (das übrigens direkt neben dem seines Chefs lag), sodass Liu schon gleich nach Antritt seines neuen Amtes bis über die Ohren in Arbeit steckte und ebenso wie Glatzkopf-Li mit zwei oder drei Stunden Schlaf auskommen musste. Er überflog die vielen Briefe und traf eine Vorauswahl, weil er dem viel beschäftigten Glatzkopf-Li lediglich die einigermaßen seriösen vorzulesen gedachte. Das war jedoch gar nicht so einfach, denn er konnte nur die winzigen Lücken in dessen übervollem Terminkalender nutzen, um ihm den einen oder anderen Abschnitt aus diesen Episteln vorzutragen. Nicht einmal auf der Toilette oder beim Essen oder in der Sauna war Glatzkopf-Li vor ihm sicher, auch nicht spätnachts, wenn er endlich schlafen gegangen war. Denn dann stand Presse-Liu neben dem Bett und las weiter vor. Darüber schlief Glatzkopf-Li regelmäßig ein, woraufhin Liu sich kurzerhand zu ihm legte und sich am Fußende des Betts auch eine Mütze voll Schlaf gönnte. Sobald GlatzkopfLi wieder erwachte, sprang auch er auf und fuhr fort, aus den Briefen vorzulesen, während Glatzkopf-Li seine Morgentoilette machte, frühstückte und ins Büro fuhr. Erst wenn der Chef sich dann wieder seinen wichtigen Geschäften widmete, fand auch Liu Zeit, sich schnell die Zähne zu putzen, sein Gesicht zu waschen und zu frühstücken. Anschließend vergrub er sich sofort wieder in den JungfrauenBriefen, die sich jeden Morgen aufs Neue auf seinem Schreibtisch auftürmten. 781
In diesen Tagen waren Glatzkopf-Li und Presse-Liu unzertrennlich wie der menschliche Körper und sein Schatten. Die Briefe all der Jungfrauen wirkten auf Glatzkopf-Li wie ein Stimulans. Der Gedanke, dass überall im Land derart viele Jungfrauenhäutchen seiner harrten - eine Große Mauer der anderen Art gewissermaßen -, erregte ihn so sehr, dass er sich vor lauter Begierde unwillkürlich an den Oberschenkeln kratzte. Bei den von Presse-Liu ausgewählten Stellen handelte es sich um die schönsten und bewegendsten Passagen aus den Briefen. Wenn er sie vorlas, unterbrach ihn Glatzkopf-Li, der mit leuchtenden Augen lauschte, ein ums andere Mal wie ein naives Kindergartenkind: »Steht das wirklich so da?« Schließlich kam es so weit, dass er ohne diese Briefe gar nicht mehr sein konnte; er war geradezu süchtig nach ihnen. Immer wenn er müde wurde, musste Presse-Liu ihm daraus vorlesen. Danach war er wieder fit und konnte sich mit voller Kraft in die Arbeit stürzen. Häufig kam es vor, dass er sich wie ein Junkie, der sich den nächsten Druck setzen muss, aus einem Pressegespräch oder einer Geschäftsverhandlung fortstahl, um sich schnell eine pikante Stelle vorlesen zu lassen und danach mit frischem Elan wieder vor die Reporter oder Verhandlungspartner zu treten. In jenen Tagen redete er seinen Pressesprecher schon mal als »Jungfrauen-Brief« an. Wenn ihm nach einem Schuss Heroin zumute war und er Liu nicht gleich fand, schrie er voller Ungeduld, sodass es durch den ganzen Korridor schallte: »Jungfrauen-Brief! Wo steckt denn der verdammte Jungfrauen-Briefbloß wieder?« Presse-Liu, der ja gelegentlich auch mal aufs Klo musste, kam dann angerannt, mit einer Hand die Hose hochziehend, 782
in der anderen Hand einen Stapel Briefe, und begann schon im Laufen, daraus vorzulesen. XXXIV So plötzlich das Interesse der Reporter über Glatzkopf-Li hereingebrochen war, so plötzlich verebbte es auch wieder. Nachdem er drei Monate lang wie ein skandalumwittertes Partygirl von ihnen regelrecht belagert worden war, stellte er plötzlich fest, dass kein Hahn mehr nach ihm krähte. Zwar kam dann und wann jemand vorbei, der mit ihm über eine Kooperation verhandeln wollte, doch ohne die Reporter hatte Glatzkopf-Li plötzlich mehr als genug Freizeit. Zunächst empfand er das als befreiend und freute sich, dass er endlich wieder leben konnte wie ein normaler Mensch. Nachdem er achtzehn Stunden hintereinander geschlafen hatte, erklärte er, er sei immer noch müde. Seinem Pressesprecher ging es nach ebenfalls siebzehn Stunden Schlaf genauso. Daher blieben beide in ihren jeweiligen Betten liegen, und Presse-Liu las seinem Chef zwei Stunden lang durchs Telefon Jungfernbriefe vor, bis vom anderen Ende der Leitung donnerähnliche Schnarchtöne zu ihm drangen. Da legte er die Briefe zur Seite, schloss die Augen und schnarchte ebenfalls wieder los. Erst nach weiteren fünf Stunden im Bett sahen sich Glatzkopf-Li und sein Sprecher mit verquollenen Augen in der Firma wieder. Die ganze darauffolgende Woche lümmelte Glatzkopf-Li tagsüber auf dem Sofa in seinem Büro herum und ließ sich von Presse-Liu Jungfern-Bbriefe vorlesen, bis dem die Zunge am Gaumen klebte. Die Briefe putschten ihn zwar nach wie vor auf wie geistiges Heroin, aber das sang- und klanglose 783
Verschwinden der Reporter hatte er noch keineswegs verwunden. Während er den herzergreifenden Ergüssen der Jungfrauen lauschte, begannen seine Gedanken abzuschweifen. Er unterbrach die Lesung und murmelte wie im Selbstgespräch: »Warum sind diese Bastarde ... diese Journalisten ... plötzlich alle auf einmal ... weggeblieben? « Presse-Liu, der vor dem Sofa stand, erwiderte, diese Reporter, egal ob die Bastarde von Presse, Rundfunk oder Fernsehen kämen, seien alle gleich: Sie seien immer da, wo etwas los ist, wie Hunde, die einen Knochen wittern. Glatzkopf-Li setzte sich mit einem Ruck auf: »Soll das heißen, ich bin kein Knochen mehr?!« Presse-Liu stotterte: »Das würde ich so nicht sagen, das ist ja doch ein sehr unpassender Vergleich für einen Generaldirektor ... « Glatzkopf-Li streckte sich wieder auf dem Sofa aus und lauschte trübselig weiter der Lesung seines Pressesprechers, wobei er an alles Mögliche dachte. Auf einmal verklärte sich sein Gesicht, er setzte sich wieder auf und rief: »Nein! Ich muss ein Knochen bleiben!« Der nicht abreißende Strom von Jungfernbriefen hatte ihn auf einen Gedanken gebracht: Er würde eine Nationale Olympiade der Jungfernhäutchen veranstalten! In seinem Büro hin- und hertigernd, entwickelte GlatzkopfLi vor Presse-Liu, der sofort Feuer und Flamme war, seinen großen Plan, nicht ohne seine Rede zwanzigmal mit seinem Lieblingswort - »Bastard«, was sonst - zu würzen. Wie die tollwütigen Hunde, so würden diese Bastarde (gemeint waren die Reporter) angerannt kommen, das Bastard-Fernsehen und auch das Bastard-Internet würden Direktübertragungen 784
bringen, und den Sponsoren, diesen Bastarden!, würde er ihr Bastard-Geld aus dem Kreuz leiern, dass ihnen Hören und Sehen verginge! Die ganze Stadt würde zugepflastert mit Bastard-Werbeplakaten, und hübsche Bastard-Girls in knappsten Bastard-Bikinis müssten durch die Straßen flanieren, um dem geschätzten Bastard-Publikum in unserer kleinen Stadt Liuzhen auch mal einen richtigen BastardAugenschmaus zu bieten. Ein Bastard-Organisationskomitee würde er gründen, sagte Glatzkopf-Li, für das er irgendwelche Bastard-Leitungskader als Bastard-Vorsitzenden und als dessen Bastard-Stellvertreter gewinnen würde. Ferner brauche er zehn Bastarde als Mitglieder der Bastard-Jury, und zwar zehn männliche Bastard-Juroren, keine BastardWeiber! Abschließend sagte er zu Presse-Liu: »Und du bist der Bastard-Pressesprecher!« Presse-Liu hatte die ganze Zeit in fliegender Hast die Bastard-Anweisungen seines Chefs mitgeschrieben. Als dieser jetzt ermattet aufs Sofa sank, um wieder zu Atem zu kommen, ergriff er das Wort. Nachdem er zunächst Glatzkopf-Lis genialen Geistesblitz gebührend gewürdigt hatte, erlaubte er sich, zwei klitzekleine Veränderungen vorzuschlagen. Die erste betraf den Namen der Veranstaltung. »Sollte man nicht vielleicht statt Jungfernhäutchen-Olympiade lieber >Erster Nationaler Schönheitswettbewerb für Jungfrauen< sagen?«, gab er zu bedenken. Glatzkopf-Li nickte: »Guter Vorschlag!« Als weitere Veränderung empfahl Presse-Liu zu überlegen, ob nicht doch ein paar Frauen der Jury angehören sollten. Diesen Rat lehnte Glatzkopf-Li jedoch rundweg ab: »Keine
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Weiber! Wer hübsch ist und wer nicht, entscheiden immer noch wir Männer. Frauen haben damit nichts zu schaffen.« Presse-Liu wandte ein, eine rein männliche Jury könne unter Umständen kontraproduktiv sein, da es möglicherweise Kontroversen und Vorwürfe geben würde, sodass das Thema womöglich Gegenstand endloser Debatten in den Medien wäre. »Das ist doch in Ordnung!«, rief Glatzkopf-Li. »Lass sie doch debattieren! Auf die Art bleibe ich wenigstens ein Knochen.« Presse-Liu fackelte nicht lange. Schon am nächsten Tag gab er eine Mitteilung über den Jungfrauen-Wettbewerb an die Presse. Dann führte er von seinem Büro aus den ganzen Tag Telefonate und klärte die Besetzung der Leitungsposten von Organisationskomitee und Jury. Auch Glatzkopf-Li verbrachte den Tag mit Telefonieren, und zwar warb er Sponsoren und Werbefirmen an, indem er alle Vorstandsvorsitzenden und Generaldirektoren anrief, die in letzter Zeit mit ihm über Geschäfte verhandelt hatten. Zuletzt telefonierte er mit Kreisvorsteher Tao und bat ihn, er möge persönlich auf der Veranstaltung auftreten und ihm darüber hinaus den breitesten Boulevard der Stadt zur Verfügung stellen, um dort den Ersten Nationalen Schönheitswettbewerb für Jungfrauen abzuhalten. Glatzkopf-Li musste immer wieder seinen Speichel hinunterschlucken, während er Tao Qing seinen großartigen Plan auseinandersetzte. »Wir rechnen mit tausend Kandidatinnen aus dem ganzen Land - alles Scheiß-Jungfrauen -, die zu dem Schönheitswettbewerb hierherkommen werden«, sagte er. »Der größte Saal in Liuzhen aber ist das ScheißKino, und das hat nur achthundert Sitze. Da passen nicht mal 786
die Kandidatinnen alle rein, gar nicht zu reden von Ihnen und mir und den übrigen führenden Persönlichkeiten. Nicht mal Platz für die Jury hätten wir da; auf den Schoß der Damen können wir uns ja wohl kaum setzen! Dazu kommen natürlich all die Bastarde, die sich die Jungfrauen-Konkurrenz anschauen wollen. Bleibt also nur die Scheiß-Straße als Veranstaltungsort übrig ... « Dem Kreisvorsteher hüpfte das Herz vor Freude. Er erklärte, dies werde mit Sicherheit ein Ereignis von epochaler Bedeutung in der Geschichte von Liuzhen sein und könne das BIP des Kreises durchaus um drei bis fünf Prozentpunkte erhöhen, wenn alles gut gehe. »Also, du kannst beruhigt sein«, rief er in den Hörer, »die Straße kriegst du, oder auch zwei oder drei Straßen. Wenn's sein muss, kannst du über sämtliche Straßen und Gassen verfügen. Von mir aus lad sämtliche jungfräulichen Schönheiten des Landes ein! Wir wuppen das schon!« Die Nachricht vom Ersten Nationalen Schönheitswettbewerb für Jungfrauen verbreitete sich mit Windeseile im ganzen Land. Und wie auf die Ebbe die Flut folgt, kamen abermals Heerscharen von Reportern nach Liuzhen. Unser Glatzkopf-Li war in China wieder ein Medienstar, ein »Knochen No. I« sozusagen, um bei dem Bild von dem Knochen und den Hunden zu bleiben, und grinste einen tagtäglich aus der Zeitung oder vom Bildschirm an. Mit ihm stand auch sein Pressesprecher im Rampenlicht. Liu war sich sehr wohl bewusst, dass er das niemand anders als Glatzkopf-Li verdankte, denn dieser hatte ihm sein Vertrauen geschenkt und ihn protegiert. Daher flocht er auf der
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Pressekonferenz in jede Antwort auf Journalistenfragen den Namen seines Gönners ein. Ein Reporter fragte: »Warum wird dieser Nationale Schönheitswettbewerb für Jungfrauen überhaupt durchgeführt?« Presse-Liu antwortete mit wohlgesetzten Worten: »Unser Generaldirektor, Herr Li, hat beschlossen, den Ersten Nationalen Schönheitswettbewerb für Jungfrauen durchzuführen, um die traditionelle Kultur unseres Vaterlandes zu popularisieren und zugleich das Selbstwertgefühl unserer modernen chinesischen Frauen zu stärken, denn das ist die Grundlage für wahres Selbstvertrauen. Außerdem soll diese Schönheitskonkurrenz einen Beitrag zur Verbesserung von Gesundheit und Hygiene-« »Was meinen Sie mit Hygiene?«, unterbrach ihn der Fragesteller. »Das Hymen ist von größter Bedeutung für den Schutz der weiblichen Geschlechtsorgane vor dem Eindringen schädlicher Bakterien sowie für die Erhaltung der Gebärfähigkeit unserer Frauen. Das ist es, was Generaldirektor Li mit Hygiene meint.« Ein anderer Reporter wollte wissen: «Welche Bedingungen müssen die Kandidatinnen erfüllen? Wie sieht das Anforderungsprofil aus?« »Schön und graziös, gesund und gesittet, charmant und dezent, aufgeweckt und warmherzig, respektvoll und zärtlich, rein und treu - und unberührt!«, rasselte Presse-Liu herunter. Der Reporter fragte nach: »Wie ist es mit Frauen, deren Hymen infolge sportlicher Betätigung zerrissen ist? Oder die bei einer Vergewaltigung ihre Jungfräulichkeit verloren haben? Sind die auch teilnahmeberechtigt? «
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Presse-Lius Antwort lautete: »Unser Generaldirektor, Herr Li, ist voller Hochachtung für die genannten bei den Gruppen von Frauen, deren schweres Schicksal ihm sehr nahegeht. Er hat das Problem immer wieder in seinem Herzen bewegt, hatte deswegen sogar schlaflose Nächte. Letztlich hat Generaldirektor Li sich jedoch aus prinzipiellen Erwägungen und im Interesse des Renommees dieses Ersten Nationalen Schönheitswettbewerbs für Jungfrauen schweren Herzens gegen die Teilnahme des fraglichen Personenkreises entschieden. Er hat mir aber eigens aufgetragen, auf dieser Pressekonferenz den betroffenen Damen seine tiefe Sympathie zu übermitteln. Damit verbindet er den Appell an die Männer unseres Landes, diesen Frauen verstärkt ihre liebende Fürsorge angedeihen zu lassen.« Als Nächste meldete sich eine Journalistin zu Wort: »Wenn Sie hier einen Wettbewerb für Jungfrauen veranstalten, dann ist das nichts anderes als ein Ausdruck der traditionellen feudalistischen Frauenverachtung. Diskriminierung pur!« Presse-Liu erwiderte kopfschüttelnd: »Jeder von uns wurde von einer Mutter geboren. Wir alle lieben und verehren unsere Mütter. Und unsere Mütter sind schließlich Frauen! Also lieben und verehren wir die Frauen.« Zum Schluss kam noch eine andere Frage: »Könnte es sein, dass die Siegerin dieses Wettbewerbs die Braut Ihres Generaldirektors Li wird?« Presse-Liu antwortete lachend: »Generaldirektor Li hält doch keine Brautschau ab! Dies ist ein Schönheitswettbewerb. Andererseits lässt sich natürlich nicht ausschließen, dass Generaldirektor Li sich in eine von den Schönheitsköniginnen verliebt, aber dann müsste die betreffende Jungfrau 789
ihn auch ihrerseits lieben. Die Wege der Liebe aber sind unergründlich, nicht wahr?« Alle Einwohner unserer kleinen Stadt Liuzhen sahen die Übertragung der Pressekonferenz im Fernsehen und wurden so Zeuge, wie geschickt der geschniegelte und gestriegelte Presse-Liu den Journalistenfragen Paroli bot. Auch Glatzkopf-Li hatte seinen Auftritt am Bildschirm verfolgt und war hochzufrieden. »Der Bastard ist wirklich ein ausgesprochenes Talent!«, äußerte er. Auf das Pressegespräch sollte die Eröffnung des Wettbewerbs folgen, für den drei Etappen - Vorrunde, Zwischenrunde und Finale vorgesehen waren. Die Teilnehmerinnen mussten übrigens für Kost und Logis selber aufkommen, ausgenommen waren lediglich die einhundert Finalistinnen, deren Unkosten vom Organisationskomitee erstattet würden. Es gab drei Preise: eine Million für die Siegerin, 500 000 für die Zweitplatzierte und 200 000 für die Drittplatzierte. Außerdem gab es die Zusage des Organisationskomitees, die erfolgreichen Jungfrauen mit Rat und Tat zu unterstützen, wenn sie Hollywood erobern und internationale Stars werden wollten. Es trafen unerwartet viele Anmeldungen aus allen Teilen des Landes ein, und die Post lieferte abermals jeden Tag einen Sack Briefe in Glatzkopf-Lis Firma an. Angesichts dieses Andrangs auswärtiger Bewerberinnen mochten die Jungfrauen aus Liuzhen und Umgebung sowie aus den Nachbarstädten und -kreisen nicht zurückstehen und meldeten sich ebenfalls scharenweise zur Teilnahme an. Sie würden schon dafür sorgen, verkündeten sie, dass »die Jauche nicht auf fremde
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Felder fließt« und die drei ersten Preise ihnen nicht von irgendwelchen auswärtigen Weibern weggeschnappt würden. Viele von den Frauen, die sich anmeldeten, hatten ihre Jungfräulichkeit längst verloren. Manche waren bereits verheiratet oder sogar wieder geschieden, andere lebten mit einem Mann zusammen beziehungsweise hatten schon mit wer weiß wie vielen Männern zusammengelebt. All diese Frauen hatten sich jedoch vom Frauenarzt ihr Hymen operativ wiederherstellen lassen. Der Horizont der Leute in unserer kleinen Stadt Liuzhen war ein bisschen eng, so wie bei dem sprichwörtlichen Frosch im Brunnen: Sie hatten gar nicht mitbekommen, dass sich diese Art von Operationen innerhalb kürzester Zeit wie eine Seuche im ganzen Land ausgebreitet hatte. Was in der großen Welt alles so passierte, erfuhren die Brunnenfrösche von Liuzhen erst, als ein gewisser Zhou You, der als eine Art Quacksalber durchs Land zog (seine Eltern hatten ihm seinen Vornamen offenbar in weiser Voraussicht gegeben, denn you bedeutet («umherziehen«), in die Stadt kam. Dieser Mann erzählte ihnen, dass nach Aussage eines Pekinger Wirtschaftswissenschaftlers das Zeitalter der »Hymen-Wirtschaft« angebrochen sei. Staunend vernahmen die Liuzhener, dass nicht nur die Teilnehmerinnen an dem großen Wettbewerb beim Gynäkologen gewesen waren, um sich ihr Hymen reparieren zu lassen, sondern dass auch viele andere Frauen, die mit der Schönheitskonkurrenz überhaupt nichts zu tun hatten, sich - von dieser Mode angesteckt - ihr Jungfernhäutchen operativ erneuern ließen, weil sie es plötzlich für etwas ungeheuer Kostbares hielten.
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Eine Zeit lang bot jedes Krankenhaus im ganzen Land, vom größten Klinikum in der Großstadt bis zur kleinsten Poliklinik auf dem Land, den Patientinnen die »Hymenoplastik« durch aggressive Werbebotschaften in Fernsehen, Rundfunk und Presse an. Werbung für Hymenoplastik sprang die Netsurfer an, sobald sie online waren, und auch auf den Flugplätzen und Bahnhöfen sowie in den Häfen konnte man ihr nicht entgehen. Zhou You berichtete, dass Jungfernhäutchen-Operationen mittlerweile zum profitabelsten Gewerbe in ganz China geworden seien. Diese »Hymen-Wirtschaft« aber, von der jener Wissenschaftler spreche, die habe ihren Ausgang in - Liuzhen genommen! Zhou You schloss mit den Worten: »Und deswegen bin ich jetzt hier.« Die Leute in Liuzhen hatten zu diesem Zeitpunkt schon mitbekommen, was es mit der »Hymen-Wirtschaft« auf sich hatte. »Wer am Gartenteich sitzt, sieht den Mond zuerst«, sagt das Sprichwort, und so waren es natürlich das örtliche Kreiskrankenhaus und die Krankenhäuser der Umgebung, die in Liuzhen alles mit ihrer Werbung zupflasterten schließlich waren sie die Platzhirsche! An Brückengeländern, an Strommasten, an Häuserwänden, an öffentlichen Toiletten - wo man hinschaute, klebten Zettel, auf denen für operativen Hymenersatz geworben wurde. Man wachte morgens auf und fand einen Zettel an die Tür gepappt; man saß gemütlich zu Hause beim Mittagessen, und es wurde ein Zettel unter der Tür durchgeschoben; man kaufte ein Paar Schuhe oder eine Kinokarte und bekam obendrein einen Werbezettel; man studierte die Karte im Restaurant, da las man statt »rot geschmortes Spitzbein«, für das man sich schon fast 792
entschieden hatte, plötzlich »Wiederherstellung des Jungfernhäutchens«, weil die Speisekarte mehr Reklame als Gerichte enthielt. Männlein wie Weiblein, Alt und Jung, buchstäblich jeder Einwohner unserer kleinen Stadt Liuzhen wusste, was das ist - eine Hymenrestaurierung. »Das geht noch einfacher als eine Lidfaltenkorrektur, die sich manche machen lassen, weil sie wie die Europäer aussehen wollen«, fachsimpelten die Leute. Sogar die Kinder waren informiert und leierten die allgegenwärtige Werbebotschaft herunter wie einen auswendig gelernten Lehrbuchtext: »Operationsdauer dreißig Minuten; örtliche Betäubung; keine Nachruhe erforderlich; keine Beeinträchtigung des normalen Lebens- und Arbeitsrhythmus; keine Störung des Menstruationszyklus.« Das Kreiskrankenhaus ging sogar so weit, Rikschafahrer als nebenberufliche Sandwichmänner anzuheuern und sie in rote Plastikumhänge, ähnlich Regencapes, zu stecken, auf denen in gelber Schrift die frohe Botschaft prangte: »Wir geben Ihnen einen unversehrten Frauenkörper zurück! Erfolgsquote: 100 %! Zufriedenheitsrate: 99,8 %! Restitution der Deflorationsblutung: 99,8 %!« Durch die unerwartete Entstehung der »HymenWirtschaft« erhielt wiederum auch Glatzkopf-Lis Schönheitswettbewerb für Jungfrauen gewaltigen Auftrieb. Obwohl auf seinem Firmenkonto ohnehin schon ununterbrochen Zahlungen von Sponsoren und Werbefirmen eingingen, fuhr er, übernächtigt und mit rot geränderten Augen, wie er war, dennoch fort zu telefonieren und weitere Geldgeber einzuwerben. Den ganzen Tag schrie er mit heiserer Stimme in
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den Hörer: »Überlegen Sie nicht zu lange! Lassen Sie sich diese Chance nicht entgehen! Beeilen Sie sich!« Noch mehr unter Druck als sein Chef stand allerdings Presse-Liu, der offiziell zwar nur Glatzkopf-Lis Pressesprecher, in Wahrheit aber Mädchen für alles war, denn Glatzkopf-Li tat nichts anderes, als ins Telefon zu brüllen, um den Leuten ihr Geld abzuluchsen. Aus diesem Grunde hatte Liu schon vor geraumer Zeit Hilfskräfte anheuern und, weil sein eigenes Büro längst zu klein war, auch fremde Büros nutzen müssen. Als auch das nicht mehr ausreichte, mietete er kurzerhand ein ganzes Haus, über dessen Eingang nun ein Schild mit der Aufschrift »Organisationskomitee des Ersten Nationalen Schönheitswettbewerbs für Jungfrauen« prangte und vor dem zwei Polizisten mit aufgepflanztem Gewehr Wache hielten. Presse- Liu hatte nämlich Glatzkopf-Li zu einem Anruf bei dem örtlichen Kommandeur der Bewaffneten Polizei veranlasst, er möge doch im Interesse von Diskretion und Fairness für die Bewachung des Gebäudes sorgen. Aus demselben Grund trugen die Mitarbeiter des Organisationskomitees ein Namensschild mit Foto an der Brust. Nur sie wurden hineingelassen. Unsere kleine Stadt Liuzhen, seit Glatzkopf-Lis Aufstieg schon einmal umgetauft, war seit der Ausschreibung des Schönheitswettbewerbs nun nicht mehr Glatzkopf-Li-Stadt, sondern Jungfernstadt. In Jungfernstadt entwickelte sich eine rege Bautätigkeit. Die Kreisregierung sorgte dafür, dass alle Häuser an der Straßenseite einen neuen Fassadenanstrich erhielten, und verbreitete über Rundfunk und Fernsehen sowie über die Arbeitseinheiten aller Ebenen die Anweisung an alle Haushalte, die Fenster zu putzen - so blitzblank, 794
dass man die Verglasung gar nicht bemerke! - und ihren Müll nicht mehr am Straßenrand abzulegen, vor allem nach Beginn des Wettbewerbs; zur Not könne man ihn unter dem Bett aufbewahren. Zuwiderhandlungen würden mit Geldstrafen geahndet, deren Höhe sich nach dem Preis von Schweinefleisch bemesse. Wer beispielsweise zehn Kilo Müll auf die Straße kippe, müsse zur Strafe so viel bezahlen wie für zehn Kilo Fleisch. Die Kreisregierung rief die Bevölkerung auf, unsere kleine Stadt zu Ehren des Ersten Nationalen Schönheitswettbewerbs für Jungfrauen so prächtig herauszuputzen, als wäre sie selbst eine Jungfrau, damit sie auf die Besucher einen möglichst guten Eindruck mache. Ein wenig später schmückte sich Liuzhen dann noch mit Lampions und farbigen Girlanden sowie Spruchbändern, die quer über die Straßen gespannt wurden oder von den größeren Gebäuden herabhingen. In der Straße, die zum Schauplatz des Wettbewerbs auserkoren war, tauchten mehr und mehr riesige Werbetafeln von Sponsoren auf, die Glatzkopf-Li mit seinen Brülltelefonaten eingeworben hatte. Schon eine Woche vor Beginn des Wettbewerbs herrschte in unserer kleinen Jungfernstadt drangvolle Enge. Als Erste kamen die Reporter, Kamerateams und FernsehÜbertragungswagen, danach die Ehrengäste, das heißt Glatzkopf-Lis Sponsoren, führende Genossinnen und Genossen von Partei- und Regierungsstellen sowie die Genossen Juroren. Die Presseleute und Ehrengäste brachte Glatzkopf-Li sämtlich in den - natürlich ihm gehörenden - besten Hotels der Stadt unter, die auf diese Weise im Nu bis unters Dach belegt waren. 795
Nachdem die 20000 schönen Jungfrauen, die sich angemeldet hatten, erfuhren, dass sie selber für Kost und Logis aufzukommen hätten, erschienen letzten Endes nur noch 3000, aber auch diese brauchten ein Dach über dem Kopf. Im Nu waren auch die weniger luxuriösen Hotels und Pensionen voll. Doppelzimmer wurden als Vier-Bett-Zimmer vermietet; trotzdem konnten nicht alle Teilnehmerinnen, die aus allen Ecken und Enden des Landes kamen, untergebracht werden. Um zu verhindern, dass das Stadtbild durch lauter auf den Straßen kampierende Jungfrauen verschandelt und womöglich die eine oder andere von Männern, die ihre sexuellen Gelüste nicht im Zaum halten konnten, im Schutze der Dunkelheit belästigt (schon dies würde ausreichen, um das Image unserer kleinen Stadt Liuzhen zu ruinieren) oder, schlimmer noch, vergewaltigt würde, rief die Kreisregierung die Bevölkerung auf, Betten für die angereisten Damen bereitzustellen. Zum Glück war Sommer, und so war das Echo auf diesen Appell überaus positiv. In vielen Familien rollten die Männer ihre Schlafmatten zusammen und schlugen ihr Lager am Straßenrand auf, damit wenigstens die Jungfrauen ein Dach über dem Kopf hatten. Auch Dichter Zhao schlief im Freien; in seiner ZweiZimmerWohnung beherbergte er zwei Jungfrauen, von denen er je hundert Yuan kassierte. Als das Song Gang, der ja mit seiner Frau in einer identischen Wohnung lebte, zu Ohren kam, wollte auch er mit seiner Matte auf die Straße übersiedeln, damit er wenigstens hundert Yuan pro Tag verdienen könnte. (Zweihundert konnten es nicht sein, denn es kam lediglich ein Gast infrage, da er Lin Hong natürlich nicht ausquartieren wollte.) Lin Hong wollte davon nichts 796
hören; er sei krank und könne unmöglich auf der Straße übernachten. Als er stur blieb, geriet sie in Wut und schrie ihn an, jetzt, wo es ihm nach den täglichen Spritzen gerade wieder ein bisschen besser gehe, riskiere er mit seiner Unvernunft bloß einen Rückfall, und dann wären die Arztkosten auf alle Fälle höher als die Einnahmen aus der Vermietung eines Zimmers. Song Gang, der ja keine Ahnung von Glatzkopf-Lis finanzieller Unterstützung hatte und annahm, das Geld für seine Behandlung käme von Lin Hongs Eltern und Verwandten (wie sie gesagt hatte), rollte angesichts des Zorns seiner Ehefrau, die weinend und zeternd an der Haustür stand, seine Binsenmatte wieder zusammen und ging ins Haus zurück, obwohl er sich eigentlich schon am Straßenrand neben Dichter Zhao seinen Schlafplatz hergerichtet hatte. Wenn er in diesen Tagen morgens vors Haus trat, fiel sein Blick stets zuerst auf Dichter Zhao, der lang ausgestreckt unter einem Strommast lag, sich aber sofort aufsetzte, sobald er Song Gang erblickte, und anfing zu schwärmen, wie angenehm es sei, im Freien zu übernachten viel gemütlicher und noch dazu kühler als im eigenen Bett, ganz zu schweigen davon, dass er dadurch täglich zweihundert Yuan einnehme. Als der neidische Song Gang ihn auf die vielen roten Mückenstiche in seinem Gesicht ansprach, antwortete der Dichter leichthin: »Ach, das sind bloß Pubertätspickel.« XXXV Zhou You, der herumziehende Scharlatan, der just in jenen Tagen unsere kleine Stadt Liuzhen heimsuchte, war ein gut aussehender, stattlicher Mann, wie ja überhaupt heutzutage 797
die Gauner alle wie Kinohelden aussehen. Als er mit zwei riesigen Pappkartons -laut Aufschrift waren 29-Zoll-Fernseher darin (gewesen?) - aus dem Busbahnhof kam, hatte er fünf Yuan in der Tasche, seine ganze Barschaft und mit Sicherheit weniger, als jeder einzelne Mann in Liuzhen besaß, vielleicht mit Ausnahme Song Gangs, des »Einspringers vom Dienst«. Während jene sich aber trotzdem wie arme Schlucker vorkamen, hätte Zhou Yous Miene eher zu jemandem gepasst, der weit oben auf der Forbes- Liste der reichsten Chinesen steht. Es war schon dämmrig, der Mond war noch nicht aufgegangen, die Straßenlaternen und die Leuchtreklame wurden gerade eingeschaltet. Wegen der brütenden Hitze hätten die Leute sich am liebsten nackt ausgezogen, Zhou You dagegen, der einen Anzug und Lederschuhe trug, wirkte so wenig erhitzt, als befände er sich nicht auf der glutheißen Straße, sondern in einem klimatisierten Saal. Er hatte die beiden Kartons neben sich abgestellt und fragte lächelnd, wie nur jemand lächelt, der auf der besagten Forbes-Liste steht, vorübergehende Passanten, ob er hier richtig sei - in Jungfernstadt? Fünf verschiedene Personen fragte der Schwindler, und jedes Mal bekam er höchstens ein Kopfnicken oder ein eiliges »Mmh!« zur Antwort. Niemand blieb stehen und würdigte ihn eines Blickes oder Wortes, sodass er auch keinen Ansatzpunkt für ein Gespräch fand. Normalerweise wäre ein so ungewöhnlicher Fremder von den Leuten in unserer kleinen Stadt Liuzhen wie ein seltener Orang-Utan bestaunt worden, aber jetzt war alles anders. Es waren nämlich bereits mehr als 2800 von den 3000 gemeldeten Jungfrauen eingetroffen, dazu über zweihundert Reporter, Moderatoren, die man sonst 798
nur im Fernsehen zu Gesicht bekam, führende Kader aller möglichen Institutionen und dazu die Mitglieder der Jury. All diese Fremden waren von den Einwohnern unserer kleinen Stadt Liuzhen inzwischen beäugt worden - ja ja, weltläufige Leute waren sie auf einmal! Zhou You, der darauf spekuliert hatte, allein durch die Frage nach »Jungfernstadt« Aufmerksamkeit zu erregen, konnte nicht ahnen, dass schon seit über einer Woche alle Auswärtigen und inzwischen sogar auch die Einheimischen diesen Namen verwendeten. So stand er bis zum Einbruch der Dunkelheit vor dem Busbahnhof, ohne dass er irgendjemanden in ein Gespräch verwickelt und so einen Ansatzpunkt für seine geplanten Gaunerstreiche bekommen hätte. Lediglich von Rikschafahrern auf der Suche nach Kundschaft wurde er von Zeit zu Zeit angesprochen: »Na, Chef, in welches Hotel sol1's denn gehen?« Aus den fünf Yuan in Zhou Yous Tasche wären im Nu null Yuan geworden, wenn er tatsächlich eingestiegen wäre. Mit Rikschafahrern anlegen durfte man sich nicht, das wusste er aus Erfahrung; blieb man denen auch nur einen Yuan schuldig, holte man sich leicht einen blutigen Kopf. Deshalb würdigte er sie nicht einmal eines Blickes, sondern zog sein täuschend echt aussehendes Spielzeug-Handy aus der Tasche, das dank einer kleinen Batterie klingelte, wenn man heimlich auf einen Knopf drückte. Sobald ein Rikschafahrer sich ihm näherte, klingelte also sein Handy und er bellte hinein: »Sie wollten mich doch abholen! Wo bleibt denn bloß der Wagen?« Als es vollends dunkel war, sah er ein, dass es keinen Sinn hatte, noch länger dort herumzustehen. Er nahm seine bei799
den Kartons und ging los, allerdings nicht federnd wie jemand von der Forbes- Liste, sondern schleppenden Schrittes wie ein Kuli. Die Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen waren noch immer voller Menschen, unter ihnen zahlreiche schöne Frauen, die Zhou You mit seinen riesigen Kartons immerfort anrempelte, während er sich unter den Klängen der aus unzähligen voll aufgedrehten Rekordern dröhnenden Musik - ausländische und chinesische Melodien, Jazz, Rock, Klassik, Folklore, eine bunte Mischung - durch das Gewühl drängte und immer mal wieder stehen blieb, um sich im hellen Schein der Straßenlaternen in Neu-Liuzhen von Glatzkopf-Lis Gnaden umzuschauen und die zahlreichen Neubauten im europäischklassischen oder amerikanisch-modernistischen Stil sowie die irgendwie dazwischengequetschte Ladenstraße im Stil der Ming- und Qing-Zeit mit ihren geschwungenen Dächern und schaukelnden roten Lampions zu bewundern. Er sah die großen, runden griechischen Säulen an Glatzkopf-Lis luxuriösestem Luxushotel; sah die roten Mauern von Glatzkopf-Lis romanischem Kaufhaus für Marken-Textilien und die grauen Ziegelmauern im chinesischen Stil, hinter denen sich Glatzkopf-Lis China-Restaurant versteckte; sah den japanischen Garten, der Glatzkopf-Lis japanisches Restaurant beherbergte; sah gotische Fenster und Barockdächer und, und, und ... Dieses Liuzhen, dachte er, das ist ja ein heilloser Mischmasch! Niemand hätte zu sagen vermocht, wo sich dieser streunende Gauner mit seinen schweren Riesenkartons an jenem Abend überall herumtrieb, noch dazu in seiner für den heißen Sommertag viel zu warmen Kleidung! Obwohl er hung800
rig und durstig und müde war, hielt er bis elf Uhr durch, ohne einen Hitzschlag zu erleiden oder ohnmächtig zu werden. Der Kerl musste eine erstaunliche Kondition haben oder hatte seinen Körper irgendwie überlistet, nicht schlappzumachen. Auf seinem Rundgang durch die Stadt bemerkte er zahlreiche Männer, die unter den Bäumen am Straßenrand kampierten. Ihren Unterhaltungen entnahm er, dass alle Hotels und Herbergen in der Stadt ausgebucht waren und sie ihre Betten an auswärtige Jungfrauen vermietet hatten. Wie es der Zufall wollte, machte er neben Dichter Zhaos Binsenmatte eine Verschnaufpause. Der Dichter war noch wach; er war damit beschäftigt, die vielen Mücken auf seinem Gesicht totzuschlagen. Zhou You nickte ihm zu, aber Zhao beachtete ihn gar nicht. Was will der Kerl hier?, dachte er bei sich. Zhou Yous Blick wanderte zu Mutter Sus Imbissstube auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ihm war vor Hunger ganz flau im Magen, und er wusste, wenn er nicht bald etwas zwischen die Zähne kriegte, würde er nie wieder jemanden übers Ohr hauen können, weil er inzwischen längst den Hungertod gestorben wäre. Mit seinen schweren Kartons schlurfte er über die Straße, und trotz Anzug und Lederschuhen hätte man bei diesem Anblick eher einen armen Elendsflüchtling in ihm gesehen als einen smarten Gentleman. In der klimatisierten Imbissstube jedoch, wo er sich an einen Tisch in der Nähe der Tür setzte, erwachten seine Lebensgeister augenblicklich. Zu dieser späten Stunde waren dort außer ihm nur noch zwei andere Gäste. Mutter Su war schon nach Hause gegangen, jetzt saß ihre Tochter Su Mei hinter der Kassentheke und unterhielt sich mit den beiden Kellnerinnen. Obwohl Su Mei in801
zwischen über die dreißig hinaus war, wussten die Leute in Liuzhen noch nicht, wer ihr Freund war, ebenso wenig wie sie je erfahren hatten, wer ihr Vater war. Su Mei hatte beobachtet, wie der stattliche Fremde zur Tür hereinkam und mit Aplomb Platz nahm. Nur die beiden Kartons wollten nicht recht zu seiner eleganten Erscheinung passen. Zhou You seinerseits hatte mit einem Blick erfasst, dass diese unauffällige, um nicht zu sagen: unansehnliche, Frau die Wirtin war, und hatte sein gewinnendstes Lächeln aufgesetzt, als er sie jetzt anstarrte wie ein kostbares Gemälde. Su Mei schlug das Herz bis zum Halse, denn kein Mann hatte sie je so bewundernd angeschaut wie jetzt dieser Schwindler Zhou You. Erst als eine der Kellnerinnen ihm die Speisekarte brachte, löste er seinen Blick widerstrebend von Su Meis Gesicht und warf einen Blick in die Karte. Er stellte fest, dass eine Portion Mini-Baozi genau fünf Yuan kostete, also bestellte er Baozi. Das Mädchen fragte, was er trinken wolle und zählte alle möglichen Getränke auf, die auf der Karte standen, aber Zhou schüttelte den Kopf. »Ich habe zu dickes Blut, der Arzt hat mir all das verboten. Bringen Sie mir einfach ein Glas kaltes Wasser!«, sagte er. Die Kellnerin erwiderte, sie hätten kein kaltes Wasser, nur Mineralwasser. Zhou You schüttelte abermals den Kopf. »Mineralwasser trinke ich aus Prinzip nicht, das ist nämlich Betrug - da sind überhaupt keine Mineralstoffe drin. Am meisten Mineralstoffe sind im Leitungswasser enthalten.« Nach diesen Worten schaute er wieder zu Su Mei hin, ebenso bewundernd wie zuvor, und wieder klopfte ihr das Herz wie wild. Zhou You war sich sicher, dass sie ihm gleich ein 802
Glas Leitungswasser bringen würde. Er steckte die Hand in die Tasche und ließ das SpielzeugHandy klingeln. Dann wandte er sich diskret zur Seite und tat so, als spräche er mit seiner Sekretärin. Er bemängelte, dass sie kein Hotelzimmer für ihn hatte reservieren lassen, sodass er jetzt keine Unterkunft finde, fiel aber dabei, anders als in Gegenwart der Rikschafahrer, nicht aus der Rolle, sondern beruhigte die schuldbewusste Sekretärin am Ende sogar noch. Als er das Handy einsteckte und sich wieder umdrehte, stand Su Mei bereits mit einem Glas Wasser neben ihm. Sicher war es Mineralwasser, aber egal! Er würde es annehmen, denn er war so durstig, als hätte er gerade die Wüste durchquert. Höflich stand er auf, nahm das Glas entgegen, bedankte sich formvollendet, setzte sich wieder hin, begann, in kleinen Schlucken zu trinken und kleine Bissen von einem Baozi abzubeißen, und fing dabei an, sich mit Su Mei zu unterhalten. Zunächst lobte er den Baozi und die Sauberkeit in der Gaststube, sodass Su Mei, die schon im Begriff war zu gehen, wieder stehen blieb. Das nutzte er aus - man muss ja das Eisen schmieden, solange es heiß ist! -, um ihr von einem neuen Baozi-Rezept vorzuschwärmen. Als sie Interesse zeigte und sich zu ihm an den Tisch setzte, erzählte er ihr, dass die exklusivsten Hotels in Peking und Schanghai jetzt »StrohhalmBaozi« anbieten würden, das seien Baozi, in die vor dem Servieren ein Trinkröhrchen gesteckt werde. Bei diesen Baozi sei der Teig ganz dünn und die Fleischfüllung extra üppig. Dadurch trete natürlich während des Dämpfens auch besonders viel Fleischsaft aus. Den könne man dann mithilfe des Trinkröhrchens genüsslich schlürfen, ehe man den Baozi selbst verspeise. Das seien zurzeit die angesagtesten Baozi, 803
sagte er, zugleich auch ein Symbol für das neue, bessere Leben der Menschen, die nun nicht mehr wegen des Teigs und der Fleischfüllung zu Baozi griffen, sondern in erster Linie wegen des Fleischsafts. »Manche trinken sogar ausschließlich den Saft«, schloss er. »Den Rest lassen sie liegen.« Bei Zhous Erzählung waren Su Meis Augen aufgeleuchtet. Schon morgen würde sie die neumodischen Baozi ausprobieren, erklärte sie. Zhou You hakte sofort ein und bot an, am nächsten Tag wieder vorbeizukommen und die Baozi zu testen. Su Mei könne sich darauf verlassen, dass er ihr rückhaltlos all sein wertvolles Detailwissen über die Strohhalm-Baozi zur Verfügung stellen werde, damit diese zu einer wirklichen Erfolgsstory würden und nicht nur Gäste aus Liuzhen und Umgebung anlockten, sondern selbst die verwöhnten Pekinger veranlassen würden, sich ins Flugzeug zu setzen, um hier in Liuzhen Strohhalm-Baozi zu kosten. Su Mei hörte ihm mit verklärtem Lächeln zu, schließlich aber fragte sie schüchtern: »Und Sie wollen mir wirklich dabei helfen?« »Selbstverständlich!«, versicherte Zhou You mit einer schwungvollen Handbewegung. An diesem Abend hatte der Gauner zwar seine letzten fünf Yuan ausgegeben, dafür aber dank dem Versprechen, Su Meis Strohhalm-Baozi zu verkosten, für die nächsten Tage ausgesorgt. Satt und zufrieden verließ er mit seinen Kartons Mutter Sus Imbissstube, überquerte - wesentlich beschwingter als eben noch - die Straße und blieb vor Dichter Zhao stehen, denn er hatte es auf dessen Schlafmatte abgesehen. Ohne die Mücken, die ihn in dichten Wolken umschwirrten, hätte der Dichter längst geschlafen. So aber juckte es ihn am 804
ganzen Körper, und er fand keine Ruhe. Seine Hände waren vom Blut der vielen getöteten Mücken schon ganz rot. Während Zhou You einen seiner Kartons neben Zhaos Matte abstellte und den anderen daraufsetzte, streckte der Dichter ihm anklagend seine ausgebreiteten Hände hin: »Alles mein Blut!« Zhou You konnte nur mitfühlend nicken, denn sein Handy klingelte gerade wieder (wie so oft, wenn er jemanden aufs Kreuz legen wollte). Er meldete sich mit »Hallo!« und begann, in einem oft erprobten Fantasie-Ausländisch auf seinen imaginären Gesprächspartner einzureden. Als er fertig war, fragte Dichter Zhao, der neugierig zugehört hatte: »War das eben Amerikanisch?« »Ja, klar!«, sagte Zhou You kopfnickend. »Ich hatte etwas Geschäftliches mit dem Direktor meiner Filiale in den Staaten zu besprechen.« Voller Stolz, richtig geraten zu haben, erklärte Zhao: »Ein bisschen verstehe ich nämlich Amerikanisch.« Zhou You, dem klar war, dass dieses eine Telefonat nicht ausreichen würde, um den Dichter, so kleinkariert er auch war, hinters Licht zu führen, ließ sein Handy noch einmal klingeln und rief »Pronto!«, gefolgt von einem Schwall »ausländischer« Wörter, die der Dichter nicht verstand. Als er fertig war und das Handy wieder in seiner Tasche verstaute, fing Zhao abermals vorsichtig an: »Das war aber jetzt nicht Amerikanisch, oder?« »Italienisch!«, bestätigte der Schwindler. »Ich hatte was Geschäftliches mit dem Direktor meiner Filiale in Italien zu besprechen.« Dichter Zhao triumphierte: »Ich habe gleich gewusst, das ist nicht Amerikanisch!« 805
Zhou You merkte, dieser Hinterwäldler war so sehr von sich selbst überzeugt, dass er auch nach zwei »Auslandstelefonaten« noch obenauf war und unbeeindruckt blieb. Notgedrungen ließ er ein drittes Mal sein Spielzeug-Handy klingeln: »Anyeong Haseyo! ... « Jetzt hatte er den Dichter so weit, wie er ihn haben wollte. Zhao war mit seiner - eingebildeten - Weisheit am Ende und ließ sich herab, ihn direkt zu fragen: »Was war das jetzt für eine Sprache?« Lächelnd antwortete Zhou You: »Koreanisch. Ich hatte etwas Geschäftliches mit dem Direktor meiner Filiale in Südkorea zu besprechen.« »Wie viele Sprachen sprichst du denn?«, fragte Dichter Zhao, nun- mehr geradezu ehrfürchtig. »Dreißig.« Der Dichter staunte: »So viele?« Zhou lächelte bescheiden. »Da ist aber Chinesisch dabei.« Der Dichter war dennoch voller Hochachtung: »Trotzdem neunundzwanzig Sprachen!« »Rechnen kannst du«, lobte ihn der Schwindler. Dann fuhr er mit einem resignierten Kopfschütteln fort: »Es blieb mir gar nichts anderes übrig, als so viele Sprachen zu lernen. Mache ja Geschäfte mit der ganzen Welt, vom Nordpol bis zum Südpol, von Afrika bis Lateinamerika.« Der Dichter sah ihn fast schon anbetungsvoll an und sagte: »In welcher Branche sind Sie denn tätig?« (Man beachte, dass er zum höflichen »Sie« übergegangen war!) »Hygieneartikel!« antwortete Zhou You und begann sich auszuziehen. Er legte das Jackett ab und breitete es ordentlich über die Kartons, dann schnallte er den Gürtel ab und 806
stopfte ihn in die Jackentasche. Während er sich das Hemd aufknöpfte, horchte der Dichter ihn weiter aus: »Was haben Sie eigentlich in Ihren Kartons?« »Jungfernhäutchen.« Dichter Zhao hatte es offenbar die Sprache verschlagen. Schweigend sah er zu, wie Zhou You sein Hemd auszog und ebenfalls auf die Kartons legte. Jetzt hatten beide einen nackten Oberkörper. Der Schwindler tat so, als habe er Zhaos staunende Miene gerade erst bemerkt. »Sag bloß, du hast davon noch nie etwas gehört!«, sagte er. »Klar habe ich davon gehört«, protestierte Dichter Zhao, schien jedoch immer noch nicht begriffen zu haben, was es mit diesen Jungfernhäutchen in den Kartons auf sich habe. »Frauen haben Jungfernhäutchen, aber wie kommen die in Ihre Kartons?« Zhou You grinste. »Das sind künstliche Jungfernhäutchen!«, belehrte er den Dichter. »Künstliche? So was gibt's?«, fragte Zhao entgeistert. »Aber natürlich! Es gibt doch sogar künstliche Herzen, da wird es ja wohl auch künstliche Jungfernhäutchen geben! Die sind ganz genau wie die richtigen. Es tut weh und es blutet, wenn sie kaputtgemacht werden.« Während dieser Worte hatte sich Zhou You neben dem Dichter auf der Binsenmatte niedergelassen, Schuhe und Strümpfe ausgezogen und als Letztes die Hose, die er zu den anderen Kleidungsstücken auf die Kartons legte. Nur noch mit seinen Shorts bekleidet, streckte er sich jetzt auf Zhaos Matte aus, als wäre es sein eigenes Bett, trat den Dichter sogar ans Schienbein, damit der ein Stückchen beiseite rücke. Der tat jedoch nichts dergleichen, schließlich war dies sein 807
Bett! Wie kam der Kerl dazu, ihn daraus zu vertreiben? Wütend trat er zurück und rief: »He, was soll das! Das ist mein Bett! Wieso machst du dich hier breit?« (Man beachte die Rückkehr zum »Du«!) Zhou You dachte gar nicht daran aufzustehen. Er tippte mit dem Finger auf die Binsenmatte und sagte verächtlich: »Das nennst du Bett?« »Für mich ist diese Matte ein Bett! Und zwar meins!« Zhou You streckte und rekelte sich, machte die Augen zu und sagte gähnend: »Okay, dann ist es eben ein Bett. Trotzdem gehört es sich, ein bisschen Platz für einen Freund zu machen.« Dichter Zhao fuhr hoch. »Was heißt hier >Freund Wir haben uns eben erst kennengelernt, gerade mal ein paar Worte gewechselt!«, rief er und machte Anstalten, seinen ungebetenen Gast zu vertreiben, ehe dieser endgültig einschliefe. Zhou You murmelte mit geschlossenen Augen: »Manche Menschen sind schon deine Freunde, ehe du sie richtig kennengelernt hast. Mit anderen bist du ein Leben lang zusammen, und sie sind immer noch nicht deine Freunde ... « Dichter Zhao sprang auf und schrie: »Hau ab, verdammt noch mal! Wir sind keine Freunde!« Dabei versetzte er dem Schwindler einen kräftigen Tritt in die Leistengegend. Der schrie auf, presste die Hände auf den schmerzenden Unterleib und fluchte los: »Verdammte Scheiße, du hast mich in die Eier getreten!« Dichter Zhao fuhr fort, nach ihm zu treten. »Ich mach deine Eier zu Mus!«, schrie er. »Dann kannst du dir künstliche 808
einsetzen lassen. Wenn's bei Jungfernhäutchen geht, wird's ja bei deinen Eiern auch gehen.« Nun musste Zhou You doch aufstehen. »Ich bin Generaldirektor Zhoul«, rief er. »Ich übernachte sonst immer in FünfSterne-Hotels! In der Präsidentensuite!« Dichter Zhao ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken. »Von mir aus kannst du Zhou heißen wie unser verstorbener Ministerpräsident Zhou Enlai!«, entgegnete er. »Oder Mao wie der Vorsitzende! Dieses Bett ist trotzdem mein Bett! Schlaf doch in deiner Präsidentensuite!« Zhou You räumte Zhaos Matte und versuchte es mit Zureden: »Schau mal, bei euch hier gibt's doch nicht mal gewöhnliche Zimmer in gewöhnlichen Hotels, ganz zu schweigen von Präsidentensuiten. Willst du mich da nicht doch bei dir auf der Matte liegen lassen?« Wo er recht hat, hat er recht, dachte Dichter Zhao. In ganz Liuzhen gab es ja kein einziges freies Hotelzimmer, sonst würden schließlich kaum zwei fremde Jungfrauen bei ihm zu Hause übernachten. Nach kurzem Zögern gestattete er Zhou, sich zu ihm zu legen, verlangte dafür jedoch Geld. »Der Grundpreis für dieses Bett«, sagte er zu ihm, »beträgt zwanzig Yuan pro Nacht. Weil du von auswärts kommst und neunundzwanzig Fremdsprachen sprichst - dazu noch Chinesisch -, will ich von Aufschlägen absehen und es bei zwanzig Yuan belassen. Da ich als Vermieter das Bett schon die halbe Nacht genutzt habe, berechne ich dir als Mieter nur die Hälfte, also zehn Yuan.« »Prima! So machen wir's!«, erwiderte Zhou You ohne zu zögern. »Du kriegst aber trotzdem zwanzig. Betrachte dich als meinen Gast!« Dichter Zhaos Gesicht strahlte bei diesen 809
Worten förmlich auf. Man merkt gleich, der Kerl ist Manager, dachte er bei sich. Diese Wirtschaftsbosse sind einfach großzügiger als unsereins! Er streckte die Hand aus und forderte Zhou You auf: »Dann zahlen Sie jetzt bitte.« (Aus dem vertraulichen »du« war wieder »Sie« geworden.) Damit hatte Zhou You nicht mehr gerechnet. »In Hotels bezahlt man bei der Abreise«, sagte er pikiert. Bei diesen Worten nahm er sein Jackett und steckte die Hand in die Tasche, sodass Dichter Zhao annahm, er hole seine Börse heraus. In Wahrheit drückte er natürlich nur wieder das bewusste Knöpfchen, und was er aus der Tasche holte, war kein Geld, sondern das Handy. Wütend beschimpfte er einen imaginären Gesprächspartner, der kein Hotelzimmer für ihn reserviert hatte, sodass er jetzt gezwungen war, unter freiem Himmel zu nächtigen. Mit Donnerstimme brüllte er: »Was sagst du? Ich soll mich an den Provinzgouverneur wenden? ... Viel zu spät! ... Wie? Der Provinzgouverneur soll den Kreisvorsteher anrufen? Weißt du, wie spät es ist?! Es ist nach eins! Wer wird da noch telefonieren! ... « Er warf einen Seitenblick auf Dichter Zhao, der todmüde vor sich hin stierte, und wechselte plötzlich den Ton: »Na gut, lassen wir das Thema. Was ist mit den Salespromotern? Warum sind die noch nicht hier? ... Was!? Ein Verkehrsunfall? ... Scheiße, dann ist ja auch mein >Mercedes< im Eimer! ... Du wirst ja nicht im Ernst erwarten, dass ich als Generaldirektor selbst im Verkauf tätig werde! ... Okay, okay, so hab ich's nicht gemeint! Fahr du mal ins Krankenhaus und kümmere dich um die Salespromoter. Ich komme hier schon alleine klar.«
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Er klappte das Handy zusammen und tat es wieder in die Jackentasche. Dann wandte er sich Dichter Zhao zu. »Meine Salespromoter hatten einen Unfall, können nicht kommen. Möchtest du vielleicht für mich arbeiten?«, fragte er. Dichter Zhao, der nicht wusste, dass Zhou You keinen Fen mehr hatte, und annahm, er habe wegen des klingelnden Handys nur wieder vergessen, seine Börse zu zücken, vergaß erwartungsgemäß über dieser Frage die fällige Matten-Miete. »Was wäre das denn für eine Arbeit?«, fühlte er vor. Zhou You zeigte auf die Kartons: »Verkaufen.« »Was denn - Jungfernhäutchen?«, fragte der Dichter. Kopfnickend bejahte Zhou: »Du bekommst hundert Yuan pro Tag plus Prämie entsprechend deiner Leistung.« Hundert Yuan pro Tag! Dichter Zhao war überwältigt, erkundigte sich aber vorsichtshalber: »Wann kriege ich denn das Geld?« »Wenn die Ware verkauft ist«, antwortete Zhou You schroff, als wolle er sagen, entweder du machst es, oder du lässt es, mir ist es egal! Da wagte der Dichter nicht mehr, weiter nachzubohren, wollte jedoch Zhou Yous Handy-Nummer haben. Als dessen Angestellter müsse er wissen, wie der Chef zu erreichen sei. Bei der Nummer, die der Schwindler nannte, sperrte er vor Staunen Mund und Nase auf: vorn drei Nullen, in der Mitte zwei Achten, am Schluss eins-zwei-drei. Solche Nummern hatten weder Chinamobile noch China Unicom. »Was ist denn das für eine Nummer?«, fragte er erstaunt. »Eine Nummer von den britischen Virgin Islands.« Dichter Zhao war beeindruckt. Von diesem Land hatte er noch nie etwas gehört. Seine zwanzig Yuan Matten-Miete 811
waren nun vollends vergessen. Er rückte vielmehr eilig noch ein bisschen weiter an den Rand, damit es sein neuer Boss bequemer habe, und sagte: »Also dann - gute Nacht, Herr Generaldirektor.« Hochzufrieden mit Dichter Zhaos Verhalten nickte Zhou You ihm gnädig zu, streckte sich neben ihm aus und begann alsbald zu schnarchen. Plötzlich fielen dem Dichter die zwanzig Yuan wieder ein, doch ein Tritt kam jetzt wohl nicht mehr infrage. Als er am nächsten Morgen die Augen aufschlug, war sein neuer Boss schon im Anzug und damit beschäftigt, die Krawatte zu binden. Als Zhou You sah, dass Zhao wach war, fragte er ihn, als könnte er sich nicht mehr gen au erinnern: »Sag mal, habe ich dich gestern wirklich eingestellt? « »Jawohl!«, antwortete der Dichter mit Nachdruck. »Für hundert Yuan pro Tag.« Zhou You nickte und gab ohne Zeit zu verlieren seinem neuen Angestellten die ersten Anweisungen. Zunächst solle Zhao die bei den Kartons mit künstlichen Jungfernhäutchen ins Lager bringen. Als der sich nicht von der Stelle rührte, fragte er: »Was ist? Warum tust du nicht, was ich dir sage?« »Herr Generaldirektor, wo ist denn Ihr Lager?«, fragte Zhao. »Weißt du, wo deine Wohnung ist?«, fragte der Schwindler zurück. »Deine Wohnung ist mein Lager!« Aha!, dachte Dichter Zhao, der Kerl will also meine Wohnung als Lager nutzen! Gut, das kann er tun, aber dafür soll er gefälligst zahlen! Honigsüß lächelnd fragte er »Generaldirektor Zhou«, wie viel er denn für die Lagermiete auszugeben gedenke. 812
Den Blick auf die Binsenmatte gerichtet, erwiderte Zhou You: »Zwanzig Yuan pro Tag.« Nachdem Dichter Zhao das Angebot freudig akzeptiert hatte und gerade mit den Kartons die Treppen zu seiner Wohnung hinaufgehen wollte, hielt Zhou You ihn noch einmal zurück und entnahm einem der Kartons zwei Bündel Reklamezettel für zwei verschiedene Sorten künstlicher Jungfernhäutchen, zum einen aus einheimischer Produktion das Kunst-Hymen Marke »Mengjiangnü« (benannt nach dem seit Jahrtausenden verehrten Musterbild einer liebenden Frau), zu hundert Yuan das Stück, und zum anderen Importware Marke »Jeanne d'Arc« a dreihundert Yuan. Die dicken Bündel in der Hand, schaute sich Zhou You um, als suche er jemanden. Er sagte zu Dichter Zhao: »Eigentlich hätten jetzt zwanzig Salespromoter hier stehen sollen, aber die liegen ja nach dem Unfall alle im Krankenhaus. Du allein schaffst das nicht ... « In diesem Augenblick kam Song Gang aus dem Haus. Dichter Zhao sprach ihn sofort an: »Song Gang, ich stelle dich als Salespromoter ein, achtzig Yuan pro Tag. Was sagst du dazu?« Noch ehe Song Gang reagiert hatte, schaltete sich Zhou You ein. »Ich beschäftige dich für hundert«, sagte er zu Dichter Zhao, »jetzt bezahlst du ihm achtzig, da verdienst du also bloß noch zwanzig oder wie sehe ich das?« »Falsch!«, widersprach der Dichter. »Du bezahlst! Er bekommt achtzig, und zwanzig gehen als Vermittlungsgebühr an mich.« »Dann stelle ich ihn lieber gleich selber ein«, sagte Zhou You. 813
Als er bemerkte, dass Song Gang mitten im heißesten Sommer einen Mundschutz trug, fragte er ihn neugierig: »Hast du was mit dem Mund?« »Nichts mit dem Mund«, erwiderte Song Gang lächelnd. »Mit der Lunge.« Zhou You nickte. »Ich stelle dich ein; hundert Yuan pro Tag.« Song Gang, der ja nicht wusste, um was für eine Arbeit es sich handelte, entgegnete bedrückt, er sei lungenkrank, doch Zhou You versicherte, für diesen Job brauche er seine Lunge nicht, nur den Mund. Währenddessen sortierte er die Werbezettel in zwei Haufen, je einen für Dichter Zhao und Song Gang, und teilte ihnen die Arbeit für diesen Tag zu: Jeder Frau, die sie sähen, sollten sie die Werbung in die Hand drücken. »Auch den alten Frauen!«, schärfte er ihnen ein. Nachdem die beiden, der Gluthitze trotzend, mit ihren Handzetteln losgezogen waren, verzog er sich selbst in die klimatisierte Imbissstube, aus der er den ganzen Tag nicht wieder zum Vorschein kam. Vom frühen Morgen an beriet er Su Mei in Sachen Strohhalm-Baozi, will sagen, er gab mit der glücklich lächelnden Su Mei zusammen dem Koch Anweisungen, wie er die neuartigen Baozi zuzubereiten habe. Mutter Su, die an der Kasse saß und beobachtete, dass ihre Tochter gut gelaunt wie selten hin- und herlief, machte sich insgeheim Sorgen, denn sie hatte das Gefühl, mit diesem smarten Zhou You stimme irgendetwas nicht. Auch sie selbst war als junge Frau von so einem Herzensbrecher hereingelegt worden - Su Mei war die Frucht dieser Beziehung - und hatte
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trotz seiner feierlichen Treueschwüre nie wieder etwas von ihm gehört. Der Schwindler Zhou verbrachte den ganzen Tag damit, StrohhalmBaozi zu verkosten. Mal trat zu wenig Fleischsaft aus, dann wieder war der Geschmack nicht genehm, kurz, er vertilgte vom Vormittag bis zum Abend insgesamt dreiundsiebzig Stück und war zum Schluss so satt, dass er immerzu aufstieß und Su Mei ihn besorgt fragte, ob er nicht einmal eine Pause machen wolle, er könne doch auch am nächsten Tag weiter testen. Geistesgegenwärtig, wie er war, stimmte er diesem Vorschlag sofort zu. Dann setzte er sich so nahe an die Klimaanlage, wie es ging, trank den grünen Tee, den Su Mei für ihn gebrüht hatte, und fing wieder mit seinen endlosen Aufschneidereien an. Den ganzen Vormittag lang waren Song Gang und Dichter Zhao in der Stadt unterwegs, beide in Schweiß gebadet. Sogar Song Gangs Mundschutz war schweißnass. Die Jungfrauen, die an dem Schönheitswettbewerb teilnehmen wollten, waren mittlerweile fast vollzählig eingetroffen, sodass man überall auf hübsche und weniger hübsche Mädchen von außerhalb traf und die unterschiedlichsten Dialekte zu hören bekam. Erhitzt und müde, wie sie waren, verloren Song und Zhao dennoch nicht ihre gute Laune, Ersterer, weil ihn der Gedanke an die leicht verdienten hundert Yuan beflügelte, Letzterer, weil er nie zuvor so viele Mädchen auf einem Haufen gesehen hatte. Er flüsterte Song Gang zu, er komme sich vor wie im Frauenbad; nur schade, dass sie nicht nackt seien. Die schönen Jungfrauen wollten keine Spielverderberinnen sein und nahmen den beiden Salespromotern Zhou Yous Handzettel ab, wenn sie sie ihnen hinstreckten. Dann warfen 815
sie einen Blick darauf und stopften sie in ihre Handtaschen. So etwas, erklärten sie mit stolz zurückgeworfenem Kopf, brauchten sie nun wirklich nicht. Als die beiden mittags nach Hause gingen und an Mutter Sus Imbissstube vorbeikamen, sah der Dichter Zhou You dort StrohhalmBaozi essen. Da drückte er Song Gang seine restlichen Werbezettel in die Hand und bat ihn, er möge sie am Nachmittag mit verteilen, er habe etwas Dringendes vor. Song Gang aß allein zu Mittag - Lin Hong war noch in der Wirkwarenfabrik -, dann wechselte er den Mundschutz, setzte seinen Strohhut auf, hängte sich ein Handtuch um den Hals, steckte eine Flasche kaltes Wasser ein und ging wieder los. Als er Zhou You in der Imbissstube sah, nickte er ihm lächelnd zu. Der Schwindler hatte bemerkt, dass Song Gang alleine, ohne den Dichter, aus dem Haus kam, und rätselte im Stillen, was für faule Tricks Zhao sich wohl jetzt schon wieder ausgedacht haben mochte. Dichter Zhao nutzte nach dem Mittagessen die Abwesenheit seiner Untermieterinnen, die einen Stadtbummel machten, um auf dem Sofa ein Nickerchen zu halten. Er wachte erst gegen Abend auf, als die beiden Jungfrauen zurückkamen und beim Anblick des nur mit seinen Shorts bekleideten schlafenden Dichters auf dem Sofa vor Schreck aufschrien. Schnell sprang er auf und räumte das Feld. Als er die Treppe hinunterging, sah er Zhou You noch immer in der Imbissstube gegenüber sitzen, umringt von neugierigen Einheimischen - einige stehend, andere sitzend und Baozi essend -, denen er gestenreich irgendwelche Geschichten erzählte.
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Vor der offenen Tür von Song Gangs Wohnung blieb der Dichter einen Moment stehen und schaute hinein: Lin Hong bereitete das Abendessen vor, während Song Gang auf dem Sofa saß und fernsah. Dichter Zhao rief: »Bist du alle Zettel losgeworden?« Als Song Gang nickte, ging er weiter, vergewisserte sich, dass Zhou You ihn nicht sehen konnte, und rannte los. Nach hundertsiebzig Metern war er verschwitzt genug, blieb stehen, wischte sich den Schlaf aus den Augenwinkeln und betrat die Imbissstube, scheinbar müde und erschöpft nach einem langen Arbeitstag als Salespromoter. Zhou You winkte ihm zu und unterbrach seine Lügengeschichten für einen Moment. »Oh, da ist General-Assistent Zhao«, sagte er. Seine Zuhörer kannten dieses Wort nicht, sodass er sie aufklären musste: Der engste Mitarbeiter des Generaldirektors in einer Firma heiße General-Assistent. Dichter Zhao, der sich eben noch als Salespromoter gesehen hatte und nun auf einmal eine so wichtige Position innehatte, strahlte über das ganze Gesicht. Seine vorgebliche Müdigkeit war sofort wie weggeblasen. Er schob ein paar von den Zuhörern, die ihm im Weg standen, beiseite, um zu »Generaldirektor Zhou« vorzudringen, beugte sich hinunter und flüsterte ihm wichtig zu, die Werbezettel seien alle verteilt. Dann stellte er sich hinter Zhous Stuhl wie ein Adjutant hinter seinen General. Der Schwindler schaute zu ihm auf und fragte: »Du hast wohl den ganzen Nachmittag geschlafen, was?« »Überhaupt nicht!«, rief Dichter Zhao, heftig den Kopf schüttelnd. »Ich hab die ganze Stadt abgeklappert und die Zettel verteilt.«
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»Du stinkst aus dem Mund, als wärst du gerade aufgestanden«, sagte Zhou You. Große Heiterkeit unter den Zuhörern. Dichter Zhao war rot geworden, blieb jedoch dabei, dass er den ganzen Nachmittag mit Song Gang zusammen Handzettel verteilt habe. Zhou You lächelte fein. »Song Gang habe ich gesehen. Dich nicht«, sagte er. Als der Dichter erneut anhob, sich zu rechtfertigen, winkte Zhou You ungeduldig ab. Auch Dichter Zhaos schweißnasses Gesicht und sein verschwitzter Hals konnten ihn nicht beeindrucken. Er murmelte lediglich etwas wie »War wohl anstrengend, was?«, dann fuhr er fort, wie ein Wasserfall von seinen Heldentaten zu schwadronieren, sodass die ihm gegenübersitzende Su Mei ganz glänzende Augen kriegte. Im Moment waren gerade seine Erlebnisse in Afrika an der Reihe. »Die Bauern dort, die haben die höchste Arbeitsproduktivität von allen Bauern der Welt«, sagte er. »Und wollt ihr wissen, warum? Weil sie mit nacktem Hintern auf dem Feld arbeiten. Da können sie bei der Feldbestellung ganz bequem scheißen und pissen, sodass der Acker auch gleich gedüngt wird.« Als Nächstes zeigte er auf die vor der Imbissstube hin- und herflanierenden Jungfrauen und neckte seine Zuhörer: »Bei den paar Mädchen gehen euch schon die Augen über? Dabei sind es doch bloß 3000!« Er selbst sei einmal auf einer Insel im Pazifik gewesen, wo mehr als 45800 Frauen lebten, eine schöner als die andere. Und kein einziger Mann! Er gab ein paar gutturale Laute von sich und behauptete, dies sei der Name der Insel; übersetzt bedeute es so viel wie »Fraueninsel«. Erst als er dort an Land gegangen sei, habe er erfahren, 818
dass er sich im Reich der Frauen befinde. Vor ihm sei nur einmal ein Mann auf der Insel gewesen, und das habe damals auch schon elf Jahre zurückgelegen. Zhou You blickte die Umstehenden bedeutungsvoll an. »Stellt euch bloß mal vor«, sagte er, »die hatten elf Jahre keinen Mann zu Gesicht bekommen! Und dann kam ich ... « An dieser Stelle legte er eine Kunstpause ein, trank einen Schluck Tee und ließ sich von der Kellnerin nachschenken. Den anwesenden Männern, die gespannt auf die Fortsetzung seiner Geschichte warteten, dauerte schon das zu lange, aber er spannte sie noch mehr auf die Folter, indem er abermals an dem Tee nippte. Ungeduldig drängten sie ihn: »Und dann?« Ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, fuhr Zhou You schließlich fort: »Sie standen Schlange, um mich der Reihe nach zu ficken. Das Recht der ersten Nacht war natürlich der Königin vorbehalten ... « Diese Königin nun sei nicht etwa eine alte Dame gewesen, sagte Zhou You, denn auf jener Insel konnte nur die von allen als allerschönste anerkannte Frau Königin werden. Nachdem er die Reize der achtzehnjährigen Herrscherin in den schillerndsten Farben ausgemalt hatte, schloss er mit den Worten: »Die Europäer hätten sie wohl Venus genannt, wir vielleicht eine zweite Xishi.« Die Männer im Publikum interessierten sich brennend dafür, ob er denn nun mit ihr geschlafen, sie also vom Recht der ersten Nacht Gebrauch gemacht habe. »Nein«, erwiderte er kopfschüttelnd. Die Männer staunten: »Aber warum nicht?«
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»Hübsch genug war sie, aber ich habe sie nicht geliebt.« »Und danach?« »Danach?«, antwortete Zhou You, »Danach bin ich geflohen.« »Ja, wie denn?« »Ganz einfach: Ich habe mich als Frau verkleidet.« Alle seufzten bedauernd, und jemand meinte vorwurfsvoll: »Warum bist du denn geflohen? Mir hätten sie eine Pistole an die Schläfe halten, mit einer Kanone auf meinen Arsch zielen oder eine Tomahawk-Rakete auf mein Herz richten können, ich hätte mich nicht von der Stelle gerührt!« Einhellige Zustimmung der versammelten Männer. »Genau!«, riefen Sie. »Ich bin nicht eurer Meinung«, entgegnete Zhou You. »Mein erstes Mal wollte ich einer Frau weihen, die ich wirklich liebe.« Bei diesen Worten streifte sein Blick wie zufällig Su Mei, die ihm gegenübersaß und ihn verschämt anstrahlte. Nachdem er mit der Schilderung seines Abenteuers im Reich der Frauen fertig war, fragte eine der Anwesenden: »In wie vielen Ländern waren Sie eigentlich?« Der Schwindler tat so, als ob er überlege. »Ach, es sind so viele! Dazu bräuchte ich mindestens einen Taschenrechner!«, scherzte er. Dichter Zhao witterte eine Chance, ein bisschen zu lobhudeln: »Unser Generaldirektor spricht dreißig Sprachen! Da ist unser Chinesisch natürlich mitgerechnet.« Zhou You brachte das bewundernde Raunen des Publikums mit einer Geste zum Schweigen. »Das ist ein bisschen übertrieben«, sagte er bescheiden. »Geschäftsverhandlungen kann ich nur in zehn von diesen dreißig Sprachen führen. Bei 820
weiteren zehn reicht es für die Verständigung im Alltag, aber in den restlichen zehn Sprachen kann ich gerade mal Guten Tag! und Auf Wiedersehen! sagen.« »Das ist doch aber auch schon bewundernswert!«, meinten die Zuhörer. Dichter Zhao fuhr fort, Zhou You zu schmeicheln: »Unser Generaldirektor übernachtet überall, wo er hinkommt, in Fünf-Sterne-Hotels. In der Präsidentensuite!« Wieder kam staunendes »Ah!« und »Oh!« von den Zuhörern, und wieder wehrte Zhou bescheiden die Bewunderung ab. »Manchmal ist es auch eine einfache Executive-Suite, wenn die Präsidenten-Suite zum Beispiel von einem ausländischen Staatsgast belegt ist.« Zhou You fiel ein, dass er die letzte Nacht auf der Straße verbracht hatte. Mit Sicherheit hatten einige von den Umstehenden gesehen, wie er sich mit Dichter Zhao eine schmale Binsenmatte teilte. Geschickt kam er peinlichen Fragen zuvor, indem er schnell weitersprach und daran erinnerte, dass »ein ganzer Mann sich sowohl zu strecken als auch zu biegen weiß«, wie es im Sprichwort heißt. Ihm jedenfalls mache es überhaupt nichts aus, auch mal unter freiem Himmel zu schlafen, wenn die Präsidentensuite nicht zur Verfügung stehe. Einmal, in Arabien, habe er drei Tage und drei Nächte in der Wüste zugebracht und sei von der sengenden Sonne derart gedörrt worden, dass er hinterher eine bessere Mumie war. Und ein anderes Mal habe er eine Woche im südamerikanischen Urwald kampiert, wo nachts die wilden Tiere um sein Lager geschlichen seien. Er werde nie vergessen, wie er eines Morgens von einem merkwürdigen Kitzeln erwacht sei und, als er die Augen aufschlug, feststellen muss821
te, dass es eine Tigerin war, die ihn mit ihren Schnurrhaaren geweckt hatte. Da erst habe er gemerkt, dass das Raubtier die ganze Nacht neben ihm gelegen und den umgestürzten Baum, auf den er seinen Kopf gebettet hatte, mit ihm geteilt hatte, wie eine Ehefrau das Kopfkissen mit ihrem Mann. Dichter Zhao hatte immer noch nicht genug gelobhudelt: »Das Handy unseres Generaldirektors hat keine chinesische Nummer, sondern eine von ... eine von den ... « »Von den britischen Virgin Islands«, warf Zhou You ein. Jemand fragte überrascht: »Sind Sie etwa Bürger dieser Inseln?« Der Schwindler hob abwehrend die Hände. »Nein, nur meine Firma ist dort im Handelsregister eingetragen. Nur so kommt man in den Nasdaq-Index.« Der Fragesteller staunte: »Ihre Aktien werden in Amerika an der Börse gehandelt?« Zhou You antwortete bescheiden: »Viele chinesische Firmen sind dort an die Börse gegangen.« Jemand, der schon mal Aktien ge- und verkauft hatte, erkundigte sich nach der Kennung der Aktien seiner Firma. Zhou antwortete, sie laute ABCD, und forderte im gleichen Atemzug alle Anwesenden dazu auf, von nun an unbedingt ABCD-Aktien zu kaufen, wenn sie bei Gelegenheit einmal in den USA weilten, denn der Wert seiner Aktien habe sich innerhalb von drei aufeinanderfolgenden Jahren vervielfacht. Auf allgemeinen Wunsch diktierte er den beeindruckten Zuhörern seine Handy-Nummer - jene 00088123 -, nicht ohne ihnen einzuschärfen, sie sollten sie auf keinen Fall nur so zum Spaß wählen: »Sonst ist schon ein Monatslohn futsch, ehe ihr >Hallo!< gesagt habt.« 822
Mit seinen Lügengeschichten schaffte es der Schwindler tatsächlich, dass die Leute in unserer kleinen Stadt Liuzhen ihm auf den Leim gingen. Bis nachts um ein Uhr war er von Bewunderern umdrängt, die förmlich an seinen Lippen hingen. Erst als alle fort waren, tauschten er und auch sein »GeneralAssistent« die angenehme Kühle der klimatisierten Imbissstube wieder mit der sommerlichen Hitze, die auch zu dieser Stunde noch auf der Straße herrschte, und betteten ihr müdes Haupt auf der gemeinsamen Binsenmatte. Su Mei, die Zhou You nur allzu bereitwillig auf den Leim gekrochen war, weil sie vorher noch nie einen Mann geliebt hatte, näherte sich zaghaften Schrittes mit einer Räucherspirale zur Vertreibung von Mücken den beiden Männern auf der anderen Straßenseite, denn sie hatte die vielen »Pubertätspickel« der letzten Nacht in Zhou Yous Gesicht sehr wohl bemerkt. Sie stellte die brennende Räucherspirale neben der Matte auf die Erde und erklärte verlegen: »Die hatten wir noch im Laden. Wir haben jetzt doch die Klimaanlage, da brauchen wir nicht mehr zu räuchern.« Zhou You war aufgesprungen und bedankte sich formvollendet. Su Mei sah ihn liebevoll an, dann sagte sie, an Dichter Zhao gewandt: »Eigentlich könntet ihr doch im Gastraum schlafen, da ist es schön kühl. Und Mücken gibt's da auch nicht.« Dichter Zhao wollte das Anerbieten gerade annehmen, da kam ihm Zhou You zuvor: »Vielen Dank, aber das ist nicht nötig. Wir haben es hier sehr bequem. Bequemer jedenfalls als in der arabischen Wüste oder im südamerikanischen Urwald!«
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XXXVI Nachdem der Hochstapler Zhou You bei Su Mei drei Tage lang kostenlos Strohhalm-Baozi geschlemmt hatte, zog er am Vortag der offiziellen Eröffnung des Schönheitswettbewerbs höchstselbst in die Schlacht. Er nahm sich zwei Stunden Zeit, um in Song Gangs Wohnung - Lin Hong war schon zur Arbeit gegangen - Dichter Zhao und Song Gang beizubringen, wie man künstliche Jungfernhäutchen verkauft. Sehr enttäuscht war er allerdings, als er erfuhr, dass der Dichter nicht verheiratet war. Ob er denn wenigstens eine Freundin habe, fragte er ihn. Zhao schüttelte zunächst den Kopf, dann aber sagte er: »Keine reale Freundin. Aber viele erträumte Freundinnen!« »Erträumte Freundinnen?«, wiederholte Zhou You kopfschüttelnd. »Wir verkaufen keine erträumten Jungfernhäutchen, sondern reale. Für das Verkaufsgespräch braucht man auf jeden Fall eine reale Frau als Aufhänger.« Dann wandte er sich Song Gang zu, mit dem er schon eher zufrieden war. Seine Gattin, begann er, sei ja wohl sehr hübsch. Er habe gehört, sie sei früher eine stadtbekannte Schönheit gewesen, eine richtige Berühmtheit. So einen Promi-Effekt müsse man maximal nutzen, deshalb solle sich Song Gang auf die Straße stellen und, ausgehend von seinen eigenen Erfahrungen, vor den Zuhörern die Vorzüge des künstlichen Jungfernhäutchens und den sinnbetörenden Effekt schildern, den Lin Hong durch seine Verwendung erzielt habe. Song Gang, der zum ersten Mal jemanden auf diese Weise von seiner Lin Hong reden hörte, wurde bis über beide Oh-
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ren rot. »Lin Hong hat kein künstliches Jungfernhäutchen benutzt«, murmelte er. »Wenn du sagst, sie hat es benutzt, dann hat sie es auch benutzt«, schaltete sich Dichter Zhao ein. »Du musst es schließlich wissen.« Zhou You nickte zustimmend und sagte zu Song Gang: »General-Assistent Zhao hat es sehr schön auf den Punkt gebracht.« Aber Song Gang blieb bei seiner Weigerung: »Ich kann so etwas nicht sagen.« Dichter Zhao giftete: »Generaldirektor Zhou zahlt dir hundert Yuan pro Tag, und du willst nicht mal ein bisschen erzählen ... !« »Ich kann über alles reden, aber so etwas werde ich nicht sagen«, beharrte Song Gang. Dichter Zhao wollte etwas entgegnen, wurde aber von Zhou You mit einer Handbewegung daran gehindert. Zhou dachte einen Augenblick nach, dann sagte er zu Song Gang: »Also gut! Du sagst überhaupt nichts, überlässt mir und GeneralAssistent Zhao das Reden und stehst einfach nur daneben. Nicht einmal nicken musst du. Es reicht, wenn du nicht den Kopf schüttelst.« Als Song Gang hörte, dass er nicht selbst zu reden, nicht einmal zu nicken brauchte, war er beruhigt. Dann marschierten die drei los, vorneweg Zhou You, beschwingt und mit leeren Händen, dahinter Dichter Zhao und Song Gang wie zwei Lakaien, jeder mit einem Riesenkarton beladen, Song Gang zusätzlich mit einem Hocker. In der Straße, die Schauplatz des Wettbewerbs sein sollte, machten sie halt. Zhou You stellte sich auf den Hocker, seine Helfer mussten die Kartons öffnen und ein paar Packungen Jung825
fernhäutchen ausbreiten, dann konnte es losgehen. Im Nu waren die drei von unzähligen Jungfrauen und sonstigen Passanten umringt, die mit ihrem erregten Gemurmel an die Mücken denken ließen, die den Schwindler und den Dichter am Abend zuvor umschwirrt hatten. Zhou You pries zunächst das Import-Hymen an. Er hielt ein Exemplar hoch und rief mit lauter Stimme: »Hier haben wir ein künstliches Jungfernhäutchen Marke >Jeanne d'Arc<, beste Importware, für nur dreihundert Yuan das Stück. Beim Arzt bezahlen Sie 3000 für die Reparatur des Jungfernhäutchens, und dann ist sie nach einem einzigen Mal wieder futsch. Bei mir aber kriegen Sie für das gleiche Geld zehn Stück - sind zehn mal wieder Jungfrau!« Anschließend begann er, wie ein gelernter Pantomime den Gebrauch des Kunst-Hymens zu erklären: »1. Hände waschen und abtrocknen (dabei machte er die entsprechenden Handbewegungen); ein Kunst-Hymen aus der Stanniolverpackung drücken; dieses formt sich von selbst zu einem Bällchen. 2. Das Bällchen tief in die Scheide einführen (hier steckte er die Hand in den Schritt); das Einsetzen muss zügig erfolgen, damit das Hymen nicht am Finger kleben bleibt und wieder mit herausgezogen wird (er zog blitzschnell, als hätte er sich verbrannt, die Hand aus dem Schritt). 3. Drei bis fünf Minuten nach dem Einsetzen kann der Beischlaf ausgeübt werden (dies blieb ohne manuelle Demonstration). 4. Nach vollzogenem Beischlaf im Badezimmer die Scheide von anhaftendem Kunstblut säubern (die Hand im Schritt, machte er die entsprechende Bewegung). 5. Zu Beginn des Beischlafs sollte die Frau die Stellung verändern (er drehte sich schräg zur Seite weg), um dem Mann das Eindringen zu er826
schweren; ferner sollte das Zerreißen des Kunst-Hymens deutlich erkennbar begleitet sein von den typischen Schmerzsymptomen (er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse des Schmerzes), wobei der Effekt durch Stöhnen und Bekundungen von Schamhaftigkeit noch gesteigert werden kann (das Stöhnen unterblieb, dafür illustrierte er die Verschämtheit mit seiner Mimik).« Die allgemeine Heiterkeit nach dieser Darbietung nutzte Zhou You aus, um gleich auch noch die Jungfernhäutchen aus einheimischer Produktion anzupreisen: »Hier sehen Sie das künstliche Hymen Marke >Mengjiangnü<, das Stück zu einhundert Yuan. Für den Preis einer Operation im Krankenhaus können Sie also dreißigmal Jungfrau sein.« Jemand rief ihm zu: »Mach's uns doch mal vor!« Grinsend fragte Zhou You: »Ist vielleicht eine von den anwesenden Genossinnen bereit, mein Kunst-Hymen hier auszuprobieren?« Gelächter und Gejohle des Publikums. Der Mann von eben rief: »Du kannst uns doch mit den Fingern zeigen, wie's geht.« Dieser Vorschlag fand allgemeine Zustimmung. Zhou rief lachend: »Das kostet aber hundert Yuan! Ihr seid bestimmt schätzungsweise mehr als hundert - ich zeig es euch, wenn jeder einen Yuan zahlt.« Die Leute holten tatsächlich ihr Geld heraus, und Dichter Zhao und Song Gang zwängten sich schwitzend durch die dicht gedrängte Menge, bis sie am Ende hundert Ein-YuanScheine eingesammelt hatten. Nun begann Zhou You mit der praktischen Demonstration. Er öffnete eine Schachtel, holte ein »Mengjiangnü«-Hymen heraus, riss die Stanniolverpackung auf und hielt das künstliche Jungfernhäutchen zwi827
schen Zeigefinger und Daumen der linken Hand. Dann stach er mit dem rechten Zeigefinger zu, konnte es aber nicht durchbohren, sodass er es ein zweites Mal probieren musste wieder erfolglos. Hohngelächter der Jungfrauen und des übrigen Publikums. Ein Mann rief: »Das war bestimmt 'ne alte Jungfer!« Zhou You wies ihn streng zurecht: »Dieses Jungfernhäutchen trägt den Namen von Mengjiangnü! Ihr wisst ja, die hat mit ihren Tränen die Große Mauer zum Einsturz gebracht, da ist natürlich auch ihr Hymen besonders stabil!« Inmitten des dröhnenden Gelächters stieß Zhou ein drittes Mal zu. Diesmal hatte er Erfolg, das Kunstblut rann ihm über die Finger. Stolz schwenkte er die blutige Hand und rief: »Habt ihr's gesehen? Seht ihr das Blut? Haargenau wie in der Hochzeitsnacht!« Nachdem der Beifall und das Lachen verebbt waren, ging der Schwindler zu dem vorher geprobten Dialog mit seinen Salespromotern über. Da Dichter Zhao nicht verheiratet war, wandte er sich an Song Gang. »Song Gang, erzähl mal, welches Jungfernhäutchen hat deine Frau gestern Abend benutzt?« »Natürlich das Import-Häutchen Marke >Jeanne d'Arc
Wie aus der Pistole geschossen kam die Antwort des Dichters: »Sie hat vor Schmerz geschrien.« Zhou You nickte zufrieden und wandte sich wieder an Song Gang: »Und wie war es für dich?« Dichter Zhao brüllte: »Ihm brach vor Schreck der kalte Schweiß aus.« Mit dieser Antwort war Zhou You ganz und gar nicht zufrieden. Stirnrunzelnd sagte er: »Du meinst sicher, er war vor Lust in Schweiß gebadet?« Der Dichter korrigierte sich sofort: »Erst war es kalter Angstschweiß, ein - zwei - drei Sekunden später kam dann der Lustschweiß.« »Sehr gut!«, lobte ihn Zhou You mit lauter Stimme. »Der totale Genuss innerhalb von drei Sekunden! Erst die Kälte des Nordpols, dann die Hitze von Afrika.« Der Schwindler war sehr angetan von Zhaos Geistesgegenwart und nickte ihm aufmunternd zu. Dann richtete er den Blick wieder auf Song Gang und fragte ihn: »Und jetzt, Song Gang, möchte ich dich zum Schluss noch bitten, uns zu sagen, worin deiner Meinung nach der größte Vorzug von künstlichen Jungfernhäutchen besteht.« Song Gang war längst bis über die Ohren rot geworden, so sehr schämte er sich. Nur der Mundschutz leuchtete weiß in seinem puterroten Gesicht. Er hatte nicht geahnt, dass er in eine derart peinliche Situation geraten würde, ohne selbst ein Wort zu sagen oder auch nur bestätigend mit dem Kopf zu nicken. Am liebsten wäre er vor Scham in den Erdboden versunken. 829
Song Gangs zusammenfassendes Urteil kam wieder - wie konnte es anders sein? - von Dichter Zhao. Der zeigte auf Song Gang und sagte mit lauter Stimme: »Song Gang hat in seinem ganzen Leben nur mit einer Frau geschlafen, seiner Ehefrau. Nachdem seine Frau das künstliche Jungfernhäutchen benutzt hat«, Dichter Zhao reckte zwei Finger hoch, »hat er also zweimal im Leben mit einer Jungfrau geschlafen.« »Wunderbar!«, sagte Zhou You. Mit glitzernden Augen rief er ins Publikum: »Genau das ist der Vorteil eines KunstHymens! Frauen, die ihr Jungfernhäutchen verloren haben, gewinnen neues Selbstvertrauen und neue Selbstachtung. Aber damit nicht genug! Die Treue der Männer zu ihren Ehefrauen wird ebenfalls gestärkt! Also, greifen Sie schnell zu, meine Damen! Und auch Sie, meine Herren - Sie erst recht! Denn mit dem Hymen Marke >Jeanne d'Arc< kann jeder von Ihnen für denselben Preis wie für eine Operation zehnmal das Glück des Knospenplatzens erleben! Mit KunstHäutchen Marke >Mengjiangnü> sogar ganze dreißigmal!« Die Jungfrauen von auswärts und die Einwohner unserer kleinen Stadt Liuzhen hatten sich bei dem Schauspiel, das ihnen hier geboten wurde, prächtig amüsiert. Am Ende sahen sie jedoch nicht mehr ganz durch. Ein Mann zeigte auf Song Gang und fragte Dichter Zhao: »Die Fragen waren doch eindeutig an Song Gang gerichtet. Wieso hast du sie alle beantwortet?« Der Dichter antwortete mit einer Gegenfrage: »Würdest du vielleicht in der Öffentlichkeit darüber reden, was bei dir zu Hause im Bett abgeht? Na also! Song Gang nämlich auch
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nicht. Deswegen hat er mich an seiner statt antworten lassen.« Song Gang stand mit gesenktem Kopf daneben und bereute zutiefst, sich auf diese Sache eingelassen zu haben. Er hatte kein Wort gesagt, nicht einmal genickt oder den Kopf geschüttelt, und dennoch empfand er einen so brennenden Schmerz, als würde ihm mit einem stumpfen Messer ins Fleisch geschnitten. Zhou Yous Werbung erwies sich als überaus erfolgreich. Zwar kaufte ihm niemand sofort etwas ab, aber an den folgenden Tagen wurden er und Dichter Zhao (sie übernachteten nach wie vor im Freien) immer wieder von Leuten wachgerüttelt, die im Schutz der Dunkelheit künstliche Jungfernhäutchen kaufen wollten. Waren es bisher die Mücken gewesen, die die bei den am Schlafen gehindert hatten, so waren es jetzt die Hymen-Käufer, und die waren noch wesentlich penetranter als die Mücken! Es waren in der Mehrzahl Frauen - Teilnehmerinnen des Schönheitswettbewerbs und Mädchen aus Liuzhen -, daneben aber auch eine ganze Anzahl Männer, die sich, durch Dichter Zhaos Worte animiert, bei ihren Ehefrauen noch ein paarmal das Hochgefühl der Defloration gönnen wollten, wenn sie schon nicht mit anderen Frauen schlafen konnten. Zhou You sah den Dichter jetzt mit ganz anderen Augen. »Du bist wirklich ein Talent!«, sagte er zu ihm. »Wir müssen in Zukunft unbedingt weiter zusammenarbeiten. Diesmal wird deine Leistungsprämie auf jeden Fall höher sein als dein Lohn.« Das hörte der Dichter gern. »Wie hoch wird sie denn sein?«, wollte er wissen. 831
Der Schwindler erwiderte: »Das wirst du schon sehen.« Von der Vorstellung, die Zhou You und seine beiden Helfer auf der Straße gegeben hatten, erfuhr Lin Hong noch am selben Tag. Vor Zorn außer sich, nahm sie sich vor, Song Gang eine fürchterliche Szene zu machen, wenn sie nach Hause käme. Als sie ihn dann jedoch wie ein Häufchen Elend auf dem Sofa sitzen sah, schmolz ihr Groll dahin. Sie sagte sich, er habe ja nur die Haushaltskasse ein wenig auffüllen wollen, und ging kopfschüttelnd noch einmal vors Haus, um sich abzureagieren. Dort stieß sie auf Dichter Zhao, der gerade stolz über das Lob seines Chefs nach Hause kam. Ihr ganzer Zorn stieg wieder in ihr hoch. Sie vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war, und zischte dem Dichter wutentbrannt zu: »Du dreckiger Bastard!« XXXVII Endlich kam der Tag der Eröffnung des Ersten Nationalen Schönheitswettbewerbs für Jungfrauen, auf den schon seit geraumer Zeit die Augen der Öffentlichkeit gerichtet waren. Da die Veranstaltung auf der Straße stattfinden, die zarte Haut der Teilnehmerinnen aber nicht dem grellen Sonnenlicht ausgesetzt werden sollte, verlegte das Organisationskomitee die Vorrunde auf den späten Nachmittag. Es sollte der denkwürdigste Nachmittag in der Geschichte unserer kleinen Stadt Liuzhen werden. Denn auf einer Strecke von zwei Kilometern waren 3000 Jungfrauen aufgereiht, große und kleine, dicke und dünne, schöne und hässliche, alle im knappsten Bikini. Da selbst die längste Straße nicht lang genug war, erstreckte sich die lange Schlange der wartenden
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Schönheiten von dort über eine Brücke hinweg und um eine Ecke herum bis in die nächste große Straße. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, da war schon die ganze Stadt auf den Beinen, um dem Wettbewerb beizuwohnen. Alle Geschäfte waren geschlossen, alle Fabriken hatten die Arbeit eingestellt, alle Dienststellen und Ämter waren zu, und alle Einwohner säumten dicht gedrängt die Straßen. Sogar in den Platanen hingen Trauben von Menschen wie die Äffchen. Manche Männer, die die Strommasten erklimmen wollten, als wären sie Stangenkletterer im Zirkus, rutschten immer wieder herunter, nur um es sogleich wieder zu versuchen und erneut abzugleiten. Selbstverständlich waren auch alle Fenster zur Straße und alle Dächer voller Schaulustiger. Ebenso waren die Ärzte und Schwestern aus dem Krankenhaus zur Stelle, denn wenn sie diesen Augenschmaus verpassten - erklärten sie -, müssten sie womöglich 1000 Jahre bis zum nächsten warten. Sogar die Kranken waren erschienen, an Krücken hinkend, den Arm in der Schlinge, die Infusionsflasche in der Hand. Frisch Operierte wurden von Angehörigen oder Freunden gestützt, getragen oder mit Fahrrädern und Pritschenkarren herbeigebracht. Die Bewohner von Nachbarorten und -kreisen nahmen fünfoder sechsstündige Fahrten mit dem Fahrrad auf sich, nur um einen Blick auf die schönen Jungfrauen zu werfen und dann wieder fünf oder sechs Stunden nach Hause zurückzustrampeln. In unserer kleinen Stadt Liuzhen mit ihren lediglich 30 000 Einwohnern hielten sich an diesem Tag mindestens 100 000 Menschen auf. Alle Verkehrs- und sonstigen Volkspolizisten waren im Einsatz und sorgten mit undurchdringlichen Sperrketten dafür, dass die Schönheiten unbe833
helligt in den für den Wettbewerb vorgesehenen Straßen Aufstellung nehmen konnten, wodurch sie sich praktischerweise zugleich selbst freie Sicht auf die Damen sicherten. Noch besser dran waren nur die Reporter, die sich als Einzige in den abgesperrten Straßen frei bewegen durften und jede hübsche Frau, die ihnen auffiel, interviewen und ihr dabei auf Busen und Bauchnabel starren konnten, als wäre dort die Antwort auf alle Fragen zu finden. Hinter den am Rande der Fahrbahn aufgereihten Damen drängten sich auf dem Gehweg die Zuschauer, alles Männer, die heimlich an den Ärschen der Damen herumfummelten, und zwar ausnahmslos an allen 3000 Ärschen. Einige von den Männern, die mit freiem Oberkörper und knappen Shorts an der Straße standen, hatten noch eine andere Masche drauf. Sie fluchten und schrien, die hinter ihnen Stehenden sollten aufhören zu drängeln, dabei waren sie es selbst, die sich in aller Öffentlichkeit von hinten an die Bikiniträgerinnen schmiegten. Diese brachen daraufhin entweder in Tränen aus oder fingen an zu schimpfen und herumzuschreien, während die Übeltäter sich mit unschuldsvoller Miene umdrehten und riefen, man solle sie gefälligst nicht ständig nach vorn schubsen. Glatzkopf-Li war im Vorfeld nicht müde geworden zu wiederholen, der Schönheitswettbewerb würde im Freien durchgeführt, um den Leuten ein kostenloses Schauspiel zu bieten. Später aber hatte er es sich auf einer längeren Klositzung anders überlegt: Warum nicht doch lieber ein bisschen absahnen? Also musste Presse-Liu Leute anheuern, die intensiv Werbung für »Besichtigungstickets« machten und diese auch verkaufen mussten. Innerhalb kürzester Zeit wur834
den mehr als 5000 Tickets abgesetzt, woraufhin Presse-Liu sämtliche Lastkraftwagen anmietete, die in Liuzhen und seiner näheren und weiteren Umgebung aufzutreiben waren. Da sie immer noch nicht genug Platz für alle Besichtigungswilligen boten, musste Liu zum Schluss auch noch sämtliche Traktoren im Umkreis von fünfzig Kilometern dazunehmen. All diese Fahrzeuge mit den darauf stehenden zahlenden Gästen sollten langsam an den aufgereihten Schönheiten vorbeifahren, ganz ähnlich wie bei einer Parade der kommandierende General an seinen Soldaten. Im Unterschied zu der Menschenschlange der Jungfrauen, die lediglich zwei Kilometer lang war, erstreckte sich die Fahrzeugkolonne der Zuschauer über vier Kilometer. An der Spitze fuhren zwanzig Kabrioletts, in denen Glatzkopf-Li, Tao Qing und andere Honoratioren, die führenden Genossen vom Organisationskomitee und die Genossen Juroren saßen, ferner auch die Genossen Sponsoren und Ehrengäste sowie, im letzten der Kabrios, Stieleis-Wang und Zahnreißer Yu. Letzterer hatte eigentlich vorgehabt, nach Abschluss seines Europa- Trips nach Afrika weiterzureisen, doch hatte er seine Pläne sofort geändert, als ihm StieleisWang am Telefon von dem Schönheitswettbewerb erzählte. Bei einem so epochalen Ereignis, sagte er sich, könne er unmöglich fehlen. So kam es, dass er jetzt in einem gut sitzenden Anzug mit farblich perfekt abgestimmtem Hemd und Schlips in dem Kabrio stand. Seit Zahnreißer Yu »westliche« Kleidung trug, war er fast nicht wiederzuerkennen. Man hätte denken können, er sei nie anders angezogen gewesen und habe schon als Kleinkind Anzug und Lederschuhe getragen. 835
Auch Stieleis-Wang, neben ihm, war in Anzug und Krawatte, doch waren die Ärmel seines Jacketts so lang, dass nicht einmal die Fingerspitzen herausschauten, und der Hemdkragen so weit, dass selbst bei zugeknöpftem Kragenknopf seine Schlüsselbeine zu sehen waren. Die Krönung war jedoch die Krawatte, eins jener billigen Modelle, wie sie das Wachpersonal in Firmen gern trägt. Zahnreißer Yu war sehr unzufrieden mit Stieleis-Wangs Outfit und sagte ihm das auch: »Deine Klamotten sind einfach geschmacklos.« Auf die zwanzig Kabrios folgten in ununterbrochener Kette die Lastkraftwagen, zuerst die Wagen für die Inhaber von Ehrenkarten; sie waren mit Sitzen und Tischen ausgestattet, und es gab Getränke und Obst. Als Nächstes kamen die Wagen für die Käufer von Tickets der ersten Kategorie - auch mit Sitzen, aber ohne Tische - und der zweiten Kategorie, mit zwei Reihen Stehplätzen. Die Inhaber von Tickets der dritten Kategorie mussten in vier Reihen stehen, während die der vierten sich völlig ungeordnet auf der Ladefläche drängten. Den Schluss bildete die unübersehbare Menge der Traktoren, auf denen die unglücklichen Käufer von Tickets der letzten Kategorie zusammengepfercht standen wie bei einem Viehtransport. Presse-Liu selbst befand sich nicht unter den Insassen der Kabrioletts, vielmehr stand er wie ein OlympiaSchiedsrichter mit einer Startpistole in der Hand am Eingang des Boulevards. Der Leiter des Organisationskomitees - jener Führungskader, den Presse-Liu auf Anweisung seines Chefs für diese Aufgabe gewonnen hatte - stand in Kabrio Nr. 1 und bellte allerlei Staatstragendes ins Mikrofon. Er be836
tonte, wie hervorragend die Situation überall im Vaterland seit Einführung der Politik der Reformen und der Öffnung sei, und kam vom Wachstum des nationalen BIP auf das BIP der Provinz und schließlich sogar auf das unserer kleinen Stadt Liuzhen zu sprechen, doch kaum war er endlich hier angelangt, wechselte er schon wieder das Thema und ließ sich erneut lang und breit über die großen Fragen von nationaler Bedeutung aus, um ganz zum Schluss gerade noch so die Kurve zu kriegen und wieder in Liuzhen zu landen, wo ja nun der großartige Schönheitswettbewerb für Jungfrauen stattfinde, dessen Durchführung sichtbares Zeichen der ständigen Verbesserung des Lebens der Menschen und ein Ausdruck des immer größer werdenden internationalen Ansehens Chinas sei. Dieser Schönheitswettbewerb diene nicht nur der Popularisierung der traditionellen Kultur des Vaterlandes, sondern stehe auch im Einklang mit den Erfordernissen der Globalisierung. Nachdem der führende Genosse eine halbe Stunde lang in dieser Weise getönt hatte, rief er endlich: »Hiermit erkläre ich den Ersten Nationalen Schönheitswettbewerb für Jungfrauen für eröffnet!« Presse-Liu gab den Startschuss, und dann setzte sich, ähnlich den Läufern beim Marathonlauf, der Pulk der Kabrios, Lastkraftwagen und Traktoren mit den »Besichtigern«, die die Parade der Schönheiten abnahmen, feierlich in Bewegung und fuhr im Kriechtempo die Straße entlang, der untergehenden Sonne entgegen. Die 3000 Jungfrauen, gerade noch fuchsteufelswild wegen der erlittenen Belästigungen, waren augenblicklich wie ausgewechselt, strafften ihren Körper, damit Brüste und Hüftschwung gebührend zur Geltung
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kämen, lächelten schmachtend und legten innige Zärtlichkeit in ihr Mienenspiel. Als die Kabrioletts mit dem Organisationskomitee und der Jury vorbei waren und dahinter nur noch die unübersehbar lange Kolonne der >Besichtiger< auf Lastkraftwagen und Traktoren kam, hätten die Damen liebend gern die Vorstellung beendet, zumal die Männer hinter ihnen ihre Zudringlichkeiten keineswegs eingestellt hatten. Die Frauen hatten nur noch eine Sehnsucht: sich zu waschen, ihren von jenen geilen Männern betatschten Körper gründlich zu reinigen! Glatzkopf-Li jedoch, anderen im Denken immer einen Tick voraus, hatte geahnt, dass es den Schönheiten nur auf die Juroren, nicht auf die Masse der Zuschauer ankommen würde, dass sie sich also davonmachen würden, sobald die Kabrios vorbei wären. Auf diese Weise hätte jedoch das zahlende Publikum auf den Lastkraftwagen - erst recht das auf den Traktoren - das Nachsehen gehabt und außer der untergehenden Sonne überhaupt nichts zu sehen gekriegt. Klar, dass es in diesem Fall zu sozialen Unruhen gekommen wäre. Die Leute, die für teures Geld Tickets gekauft hatten, hätten sofort Krawall geschlagen und in ihrer Wut womöglich die Büros seines Organisationskomitees verwüstet. Um einerseits zu verhindern, dass die Situation außer Kontrolle geriete, und um andererseits den Ticketverkauf anzukurbeln, hatte Glatzkopf-Li verfügt, dass in der Vorrunde die Bewertung nicht durch die zehn Juroren, sondern durch die über 5000 Inhaber von »Besichtigungstickets« vorgenommen würde. Man muss sich einmal vorstellen, wie es an diesem heißen Sommerabend in unserer kleinen Stadt Liuzhen aussah: 100 000 transpirierende Menschen dicht gedrängt auf der Straße, 838
sodass es überall nach saurem Schweiß stinkt; 100 000 Menschen, die ihr Kohlendioxid in die Luft abgeben, unter ihnen 5000 mit schlimmem Mundgeruch; dazu der Gestank der 6000 ungewaschenen unter den 200 000 Achselhöhlen sowie die - teils mehrfachen - Fürze von mindestens 7000 dieser 100000 Menschen ... Apropos Fürze: Auch von den Autos und Traktoren stiegen selbstverständlich dicke Abgaswolken auf, und zwar je langsamer sie fuhren, desto dickere. Die Auspuffgase der Lastkraftwagen waren immerhin nur grau und erinnerten an den Wasserdampf im Badehaus, während man bei dem schwarzen Rauch, der aus dem Auspuff der Traktoren kam, eher an den beißenden Qualm aus einem brennenden Haus dachte. Dieser Umweltverschmutzung schutzlos ausgesetzt, hielten die 3000 schönen Jungfrauen drei Stunden lang ihr schmachtendes Lächeln und die Brust und Hüftschwung optimal zur Geltung bringende straffe Körperhaltung durch, strahlten drei Stunden lang die über 5000 Provinzler auf den Lastkraftwagen und Traktoren verführerisch an, bloß damit diese ihnen ihre Stimme gäben. All diese Hinterwäldler fühlten sich kraft ihres teuer erstandenen Tickets als Schiedsrichter in dieser Vorrunde des Wettbewerbs, hatten wichtig Papier und Stift in der Hand und diskutierten untereinander lautstark über die Kandidatinnen. Gerade die auf den Traktoren zusammengepferchten »Gutachter«, bestimmt die gewissenhaftesten Juroren der Welt, waren mit Feuereifer bei der Sache und bemühten sich, jede einzelne der konkurrierenden Schönheiten ganz genau in Augenschein zu nehmen, was jedoch in dem fürchterlichen Gedränge auf den Traktoren gar nicht so einfach war. Hatten sie eben einen störenden Kopf 839
zur Seite gedrückt, der ihnen die Sicht versperrte, wurde schon wieder ihr eigener Kopf von jemand anderem weggeschoben. Ihre Stifte und die Zettel, auf denen sie die hübschesten Kandidatinnen notierten, hielten sie wegen der Platznot alle mit gestreckten Armen hoch über ihren Köpfen. Wer die Hübschesten waren, darüber gab es im Übrigen einen äußerst lebhaften Meinungsaustausch und sogar wechselseitige Empfehlungen wie beim Kauf von Aktien. Besonders verantwortungsbewusst schienen die weiter hinten Stehenden zu sein, deren Sicht am meisten eingeschränkt war. Hatten sie eine hübsche und gut gewachsene Kandidatin ausgemacht, die Nummer an ihrer Brust aber verpasst, weil der Traktor schon weitergefahren war, erkundigten sie sich so aufgeregt bei den weiter vorn Stehenden nach der Nummer, als ginge es um eine vielversprechende Aktie, die sie sich unter keinen Umständen entgehen lassen dürften. Nachdem sich die Jungfrauen am Nachmittag in die zwei Kilometer lange Schlange der Bewerberinnen eingereiht hatten, waren reichlich zwei Stunden vergangen, ehe der - letztlich drei Stunden dauernde Auto- beziehungsweise Traktorenkorso der Gutachter endlich begann. Sie mussten mithin insgesamt fünf Stunden in der Hitze ausharren. Am Ende war ihr Make-up, egal, ob ursprünglich besonders dick oder eher dezent, hoffnungslos zerlaufen. Ein Übriges taten die Auspuffgase der vier Kilometer langen Autoschlange, die sich an ihnen vorbeischob. Sie schwärzten ihre ohnehin schon in allen Farben des Regenbogens schillernden Gesichter zusätzlich, ein Anblick, der die Zuschauer sehr erheiterte und ihnen Anlass zu allerlei anzüglichen Bemerkungen über die »schönen Jungfrauen aus Afrika« gab. 840
Bei Einbruch der Dunkelheit war die an ein ausgelassenes Tempelfest erinnernde erste Runde des Schönheitswettbewerbs endlich zu Ende. Die 5000 Hinterwäldler mit ihren zerknitterten Zetteln in den schweißigen Händen standen bis tief in die Nacht Schlange vor dem Gebäude des Organisationskomitees, um einer nach dem anderen ihren Stimmzettel abzugeben. Das lange Warten konnte ihnen jedoch die Stimmung nicht verderben, denn sie hatten das Gefühl, ihr Geld sehr gut angelegt zu haben: nicht für ein profanes Besichtigungsticket, sondern für den ehrenvollen Titel eines Jurors bei einem Nationalen Wettbewerb! Von diesem Ruhm würden sie für den Rest ihres Lebens zehren. Voller Verachtung für ihre stupide Begeisterung dachte Presse-Liu im Stillen, diese primitiven Hinterwälder würden immer Hinterwäldler bleiben, ganz gleich, ob man sie nach New York oder Paris oder sonst wohin verpflanzte. Ebendiese durch und durch provinziellen Juroren entschieden jedoch, dass nur 1000 von den ursprünglich 3000 Kandidatinnen in die zweite Runde kamen. Eine von den beiden Jungfrauen, die bei Dichter Zhao wohnten, gehörte zu den ausgeschiedenen Bewerberinnen. Sie packte niedergeschlagen ihre Sachen und reiste ab. Die andere, die eine Runde weitergekommen war, packte ebenfalls ihre Sachen - sie allerdings beschwingt und gut gelaunt und siedelte in ein Hotel über, denn jetzt gab es wieder freie Zimmer. Zhou You hatte inzwischen sieben Nächte im Freien auf Dichter Zhaos Matte kampiert und dreiundvierzig künstliche Jungfernhäutchen verkauft, sodass er ein bisschen Geld in der Tasche hatte und dem Dichter einhundertzwanzig Yuan 841
bezahlte. Dies sei die Miete für die sieben Nächte, sagte er und vergaß auch nicht darauf hinzuweisen, dass Zhao in den besagten sieben Nächten auf der Matte sein Gast gewesen sei. Danach setzte er sich in die Imbissstube gegenüber und delektierte sich unter trauten Gesprächen mit Su Mei ein weiteres Mal an Strohhalm-Baozi. Da die Tests erfolgreich gewesen waren, konnte er nicht gut weiter kostenlos bestellen, sondern ließ seine Zeche jetzt anschreiben. Jeden Tag solche lächerlichen Beträge zu bezahlen, erklärte er, sei einfach zu umständlich. Er würde seine Außenstände bei der Abreise auf einmal bezahlen. Dichter Zhao hatte angenommen, Zhou You würde nun ebenfalls ins Hotel übersiedeln, doch es stellte sich heraus, er wollte bei ihm zu Hause schlafen. Mit verächtlicher Miene schaute der Schwindler sich in Zhaos winziger Wohnung um, dann sagte er: »Dein Sofa ist arg durchgelegen, aber egal- ich nehm's.« Dichter Zhao entgegnete: »Das kann ich Ihnen nicht zumuten! Ziehen Sie doch lieber ins Hotel.« Zhou You schüttelte den Kopf, setzte sich auf das Sofa und schlug die Beine übereinander, als wäre er zu Hause. »In einem von diesen kümmerlichen Einzelzimmern würde ich mich nicht wohlfühlen, es muss schon mindestens ein Appartement sein. Aber die Appartements sind ja alle von den Leitungskadern und Juroren belegt.« »Sie könnten zwei Einzelzimmer mieten, dann hätten Sie auch ein Appartement«, schlug der Dichter vor. »Unsinn!«, erwiderte Zhou You. »Wie soll das gehen? Ich kann wohl kaum in zwei Zimmern gleichzeitig schlafen.«
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»Sie könnten die erste Hälfte der Nacht in dem einen, die zweite in dem anderen verbringen.« Zhou You grinste. »Ach, weißt du, eigentlich übernachte ich auch in Appartements nicht so gern. Wenn schon Hotel, dann PräsidentenSuite!«, sagte er. »Dann mieten Sie doch eine ganze Etage und machen nacheinander in jedem Zimmer ein Nickerchen! Das wäre dann doch wie eine Präsidenten-Suite.« Zhou You sah den Dichter scharf an. »Hör endlich mit deinen guten Ratschlägen auf!«, blaffte er ihn an. »Ich schlafe hier bei dir auf dem Sofa, und damit basta! Abalone und Haifischflossen habe ich mir übergegessen, jetzt hab ich einfach mal Appetit auf Salzgemüse und Reisbrei.« Da der Schwindler gewissermaßen sein Chef war und er dies vor allem - seinen Lohn und seine Leistungsprämie noch nicht erhalten hatte, blieb Dichter Zhao gar nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen, denn hätte er ihn jetzt an die Luft gesetzt, hätte er zugleich seinen Lohn und seine Prämie mit hinausgeworfen. XXXVIII Zwei Tage später fand die Vorrunde des Ersten Nationalen Schönheitswettbewerbs für Jungfrauen statt, wieder in jener Straße und wieder am frühen Abend. Noch einmal war die ganze Stadt auf den Beinen, drängten sich Zehntausende auf den Straßen. Nur die Lastkraftwagen und Traktoren sowie jene hinterwäldlerischen Laien-Gutachter fehlten diesmal. Dafür war mitten auf der Straße eine Tribüne errichtet worden, die ebenso wie die Straße selbst komplett mit Werbung zugepflastert war: Werbung für Handys und für Reisen, für 843
Kosmetik und für Abführmittel, für Unterhosen und für Steppdecken, für Spielzeug und für Fitnessgeräte; Werbung für alles, was man essen oder womit man sich die Zeit vertreiben konnte, Werbung für die Lebenden und für die Toten, Werbung für inländische Produkte und für Importwaren, Werbung für alles, was Menschen benötigen, und Werbung für alles, was Tiere brauchen. Selbst wenn man sich den Kopf zermartert hätte wie die Oberschüler bei der Hochschul-Zulassungsprüfung, man hätte kaum etwas gefunden, wofür nicht geworben wurde. Glatzkopf-Li, die führenden Persönlichkeiten des Organisationskomitees und die Mitglieder der Jury nahmen auf der Tribüne Platz, außerdem Zahnreißer Yu und Stieleis-Wang, Letzterer diesmal dank Yus intensiver erzieherischer Bemühungen wesentlich besser angezogen als bei der Eröffnung des Schönheitswettbewerbs. Dann erklang Musik, das heißt, Popstars plärrten irgendwelche Songs ins Mikrofon. Die Musik wurde durch Hochtonlautsprecher verstärkt, zwischendurch aber immer wieder durch Werbepausen unterbrochen, mindestens viermal während eines Titels. (Es hieß, diese Unterbrechungen, während deren den Popstars der Ton abgedreht wurde und statt dessen aus den Lautsprechern ohrenbetäubende Werbebotschaften dröhnten, seien von Amts wegen vorgeschrieben.) Zu den intermittierenden Klängen der Musik und der gebrüllten Werbesprüche defilierten die 1000 Jungfrauen, die es in die zweite Runde geschafft hatten, in zwei Riegen dreimal an der Tribüne vorbei. Diesmal wurde das Publikum durch ein Absperrseil ferngehalten, sodass die Ärsche der Damen vor den Männern im Publikum sicher waren und de844
ren Zudringlichkeit auf geile Gesten und dreckige Sprüche beschränkt blieb. Als die Parade der 1000 Kandidatinnen vorbei war, war auch die Sonne untergegangen - die Vorrunde war zu Ende. Glatzkopf-Li, die führenden Genossen und die Juroren brachen auf, die 1000 Jungfrauen ebenso, und auch die unübersehbare Menge der Zuschauer zerstreute sich, während aus den Hochtonlautsprechern noch bis tief in die Nacht Werbung gellte. Diesmal waren neunhundert Kandidatinnen ausgeschieden. Das große Finale mit den hundert übrig gebliebenen Jungfrauen sollte im Kino von Liuzhen stattfinden. Auf diese Weise konnten wieder Eintrittskarten verkauft werden, was abermals viel Geld in Glatzkopf-Lis Taschen spülte. Glatzkopf-Li war in diesen Tagen praktisch rund um die Uhr als Begleiter gefordert, und zwar gleich dreifach: Erstens begleitete er die Führungskader, zweitens die Juroren, drittens seine angereisten Kunden, und dies erstens beim Essen, zweitens bei diversen Unterhaltungsaktivitäten und drittens beim Bewundern weiblicher Reize. So achtunggebietend er sonst immer auftrat - jetzt, da er den ganzen Tag als immer nur lächelnder Begleiter unterwegs war, erinnerte seine Mimik eher an die von Presse-Liu. Der Anblick der 3000 Jungfrauen zu Beginn des Schönheitswettbewerbs hatte ihn geblendet und schwindlig gemacht. Bei den 1000, die eine Runde weiterkamen, schwindelte ihn schon nicht mehr, aber geblendet war er doch noch. Als schließlich nur noch hundert Kandidatinnen übrig waren, war er wieder voll da und hatte einen klaren Kopf. Er bestellte Presse-Liu zu sich und sagte zu ihm, wenn er jetzt nicht ein paar Jungfrauen kommen ließe, wäre die Chance 845
unwiederbringlich vertan. Nach Abschluss des Wettbewerbs würden sich die Teilnehmerinnen sofort wieder in alle Winde zerstreuen, und dann könne man höchstens noch im Traum mit ihnen schlafen. Die verbliebenen hundert Jungfrauen, sagte er, seien alle nicht verkehrt, am liebsten würde er mit allen ins Bett gehen, doch dafür reiche die Zeit nicht. Er müsse daher eine Auswahl treffen. Im Ergebnis dieser Selektion sei er auf die Nr. 1358 verfallen, eine fast 1,90 Meter große Schönheit mit Idealmaßen. Da er bisher noch nie mit einer geschlafen habe, die größer als 1,85 Meter war, werde er jetzt auf einen Schlag gleich zwei neue Rekorde in sein privates Guinness-Buch eintragen können: größte Bettgenossin und erste Jungfrau. So viel Presse-Liu auch um die Ohren hatte, nahm er sich doch sofort die Zeit, Nr. 1358 zu sich zu bestellen. Völlig überarbeitet, mit rot geäderten Augen und heiserer Stimme, hatte er überhaupt keine Kraft mehr, die Reize schöner Frauen zu würdigen, doch sobald er die hochgewachsene, liebreizende Nr. 1358 erblickte, begann sein Herz heftig zu klopfen. Wieso war ihm diese Nr. 1358 vorher nie aufgefallen, wo er doch schon so lange mit den schönen Jungfrauen befasst war? Er musste zugeben, dass Glatzkopf-Li mit seinem sicheren Gespür die attraktivste unter all den vielen Schönheiten ausgewählt und damit bewiesen hatte, dass er auch als Frauenheld eine Klasse für sich war. Presse-Lius Treffen mit Nr. 1358 fand nicht in dem angernieteten Bürogebäude des Organisationskomitees statt, sondern in der Cafeteria, jenem teuersten aller überteuerten Restaurants in ganz China. Allerdings war die Dame natürlich in diesem Fall eingeladen. Zunächst gratulierte Liu ihr 846
lächelnd, dass sie in die Endrunde gekommen war. Anschließend begann er, lang und breit über alles Mögliche zu sprechen, nur nicht über sein eigentliches Anliegen. Es war ganz offensichtlich, dass es Presse-Liu, der sich zum ersten Mal als Kuppler betätigte, an Erfahrung mangelte. Er kam einfach nicht auf den Punkt, will sagen: Es gelang ihm nicht, seiner Gesprächspartnerin zu vermitteln, was er von ihr wollte, ohne es deutlich auszusprechen. Was er nicht wusste, war: Nr. 1358 war gar keine Jungfrau mehr, sondern bereits Mutter eines Kindes. Sie hatte 3000 Yuan ausgegeben, um ihr Hymen operativ wiederherstellen zu lassen, ehe sie die weite Reise zu diesem Wettbewerb antrat. Nach der Ankunft in unserer kleinen Stadt Liuzhen bekam sie schon bald mit, was es mit diesem Ersten Nationalen Wettbewerb für Jungfrauen auf sich hatte. Sie hatte sehr wohl bemerkt, dass die Kandidatinnen, die es ins Halbfinale geschafft hatten, der Reihe nach mit den Jurymitgliedern ins Bett gingen. Weil es nur zehn Juroren, aber Hunderte Jungfrauen gab, die mit ihnen schlafen wollten, sah die Jury inzwischen ziemlich mitgenommen aus. Nr. 1358 bereute zutiefst, 3000 Yuan für die Operation verschwendet zu haben eine völlig unnötige Ausgabe! Im Bedarfsfall hätte es auch ein künstliches Jungfernhäutchen Marke »Jeanne d'Arc« oder »Mengjiangnü« getan; die hätte sie bei Zhou You für wesentlich weniger Geld bekommen. Es war äußerst frustrierend mit ansehen zu müssen, wie die anderen Kandidatinnen ihre Virginität immer wieder mit einem KunstHymen - diesem billigen Zeug! - erneuerten und, so gerüstet, zur nächsten Verabredung mit einem der Juroren aufbrachen, während sie selber mit ihrem teuer reparierten 847
Jungfernhäutchen bisher überhaupt nicht zum Zuge gekommen war. In dieser Situation hatte sie sich entschlossen, selbst die Initiative zu ergreifen und nicht darauf zu warten, dass ein Jurymitglied zu ihr käme. Die Juroren waren allerdings von den anderen Mädchen so rangenommen worden, dass sie völlig ausgelaugt und entkräftet waren. Nr. 1358 hätte eine vom Himmel zu ihnen herabgestiegene Fee sein können, sie hätten dennoch in diesem Zustand kaum Interesse für sie aufgebracht. Just in diesem Augenblick erreichte sie der Ruf des Pressesprechers. Sie dachte zunächst, Liu selbst sei auf sie aufmerksam geworden, und frohlockte im Stillen, denn während der vorangegangenen Tage hatte sie den Eindruck gewonnen, dieser Mann sei kein einfacher Pressesprecher, sondern eine Persönlichkeit, die das Ergebnis des Schönheitswettbewerbs entscheidend beeinflussen könne. Daher hörte sie gar nicht wieder auf, ihn verführerisch anzulächeln, nachdem sie in der Cafeteria ihm gegenüber Platz genommen hatte. Im Gespräch hielt sie sich betont zurück und antwortete nur, wenn Presse-Liu sie direkt etwas fragte. In Wahrheit bewegte sie jedoch jedes seiner Worte in ihrem Herzen. Langsam ging ihr auf, was er mit seinen dunklen Andeutungen sagen wollte: Nicht er interessierte sich für sie, sondern sein Chef - der große Glatzkopf-Li! Presse-Liu wiederholte ständig, dass Generaldirektor Li sie sehr schätze und dass sie gute Chancen habe, unter die letzten drei zu kommen. Dazu bedürfe es freilich ihres vollen Einsatzes. Was er damit meine?, fragte sie. Presse- Liu lächelte nur vielsagend, sodass sie innerlich immer ungeduldiger wurde. 848
Es half alles nichts, sie musste das Gespräch selbst auf das bewusste Thema lenken. Als Liu ihr ein weiteres Mal versicherte, dass sie Generaldirektor Li ganz besonders gut gefalle, hakte sie deshalb sofort ein und fragte mit gespielter Schüchternheit: »Kann es denn wirklich sein, dass ich ihm gefalle?« Lächelnd erwiderte Presse- Liu: »Generaldirektor Li mag Sie sehr gern.« Sie tat so, als glaubte sie das nicht. »Aber er hat doch noch nie ein Wort mit mir gewechselt!«, wandte sie ein. Liu beugte sich vor. »Heute Abend wird Generaldirektor Li das nachholen!«, sagte er. »Heute Abend?«, fragte sie hocherfreut. »Wo?« Presse-Liu, der ihre Aufregung bemerkte, antwortete betont langsam: »Bei Generaldirektor Li zu Hause.« Darüber freute sie sich erst recht. Schon immer sei es ihr Wunsch gewesen, rief sie, einmal seine Luxuswohnung zu besichtigen. Dann erkundigte sie sich, ob Generaldirektor Li eine größere Gesellschaft gebe. Presse-Liu schüttelte den Kopf und sagte mit geheimnisvollem Lächeln: »Keine große Gesellschaft! Nur Sie und Generaldirektor Li werden anwesend sein.« Sie wurde sofort ganz ernst und versank in nachdenkliches Schweigen. Mit den Fingern auf die Sessellehne trommelnd, wartete PresseLiu geduldig auf ihre Entscheidung. Sie stand auf, holte ihr Handy heraus und sagte, sie müsse mit ihrer Mama telefonieren. Während sie sich entfernte, wählte sie die Nummer. Liu beobachtete, wie sie hinund herging und mit ihrer Mutter redete. Dann klappte sie das Handy zu und kam freudig lächelnd zu ihm zurück. Was sie dann sagte, be849
friedigte ihn zutiefst: »Meine Mama ist einverstanden, dass ich zu Generaldirektor Li nach Hause gehe.« An diesem Nachmittag vernachlässigte Glatzkopf-Li ausnahmsweise seine Begleiter-Pflichten. Um Kräfte für den abendlichen Nahkampf mit Jungfrau Nr. 1358 zu sammeln, legte er sich ins Bett und schlief den ganzen Nachmittag wie ein Toter. Als er aufwachte, saß Presse- Liu mit einer Tüte im Wohnzimmer. Glatzkopf-Li wollte wissen, was darin sei. Da packte Liu in aller Ruhe ein Vergrößerungsglas, ein Fernrohr und ein Mikroskop aus. Lupe und Fernrohr seien gekauft, das Mikroskop habe er im Krankenhaus ausgeliehen. Als Glatzkopf-Li fragte, wozu das alles dienen solle, antwortete er: »Damit Sie das Jungfernhäutchen betrachten und genau prüfen können.« Glatzkopf-Li brach in Gelächter aus. Er war sehr zufrieden mit seinem Pressesprecher, schlug ihn auf die Schulter und sagte: »Du Bastard! Bist wirklich ein Talent!« Von diesem Lob beflügelt, begann Liu, seinem Chef Honig ums Maul zu schmieren. Mit untrüglichem Kennerblick habe er mit Nr. 1358 eine junge Dame auserwählt, die sich nicht nur durch unvergleichliche Schönheit, sondern auch durch ebenso unvergleichliche Reinheit auszeichne, habe sie doch, ehe sie zusagte, abends hierher zu ihm nach Hause zu kommen, telefonisch die Erlaubnis ihrer Mutter eingeholt. Glatzkopf-Li nahm das kopfnickend zur Kenntnis und sagte anerkennend: »Muss eine sehr verständige Frau sein, die Mutter.« Um Punkt acht Uhr abends geleitete Presse-Liu die Jungfrau Nr. 1358 höchstpersönlich zu Glatzkopf-Lis Luxusap-
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partement und zog sich erst zurück, nachdem er sie in dessen Schlafzimmer abgeliefert hatte. Glatzkopf-Li, der schon gebadet hatte, saß im Nachthemd in einem Sessel und sah fern. Als Nr. 1358 hereinkam, machte er den Fernseher aus - schließlich war die Dame eine Jungfrau, da musste er schon den Kavalier spielen. Er nickte ihr zu, verbeugte sich sogar und wollte ein wenig mit ihr herumturteln, doch fiel ihm partout nichts Passendes ein. Wütend schlug er sich auf seinen Kahlkopf und rief: »Scheiße! Ich kann einfach nicht lieben!« Als er Jungfrau Nr. 1358 völlig verschüchtert dastehen sah, sagte er sich, er täte wohl doch besser daran, gleich zur Sache zu kommen, ohne weitere Zeit zu verlieren, und zeigte auf die Badezimmertür. »Geh dich waschen«, forderte er sie freundlich auf. Nr. 1358 reagierte nicht. Hatte sie seine Worte nicht gehört? Plötzlich fiel ihm ein, er hatte vergessen, »bitte« zu sagen. Das holte er jetzt schnell nach. »Bitte geh dich waschen«, wiederholte er. »Was soll ich denn waschen?«, fragte sie furchtsam. »Nimm ein Bad!« »Warum ein Bad?« »Warum, warum! Ich will dein-« Die Worte »Jungfernhäutchen ansehen« verschluckte er im letzten Moment, indem er so tat, als müsse er sich räuspern. Unvermindert ängstlich fragte Nr. 1358: »Wie bitte? Was wollten Sie?« Glatzkopf-Li knetete unschlüssig seine Ohren. Dann trat er die Flucht nach vorn an: »Dein Jungfernhäutchen will ich sehen!« 851
Nr. 1358 schrie erschrocken auf, dann begann sie zu weinen. »Wie können Sie so reden!«, schluchzte sie. »Verdammte Scheiße!« Glatzkopf-Li ärgerte sich über seine plumpe Ungeschicklichkeit und schlug sich abermals auf die Glatze. »Ich kann nun mal nicht anders reden!« Furchtsam und zugleich schmerzlich berührt sah Nr. 1358 ihn an. »So dürfen Sie aber mit einem Mädchen nicht reden«, sagte sie. Glatzkopf-Li merkte selbst, dass er zu weit gegangen war, und entschuldigte sich mit einer Verneigung: »Verzeihung!« Nr. 1358 rührte sich immer noch nicht von der Stelle und blickte Glatzkopf-Li weiter mit tränenumflorten Augen flehend an. Anscheinend reichte ihr die Entschuldigung nicht. »Entschuldige, ich hatte noch nie etwas mit einer Jungfrau zu tun. Ich weiß gar nicht, wie man mit einer Jungfrau reden muss«, stieß er hervor. Da trocknete Nr. 1358 ihre Tränen, zog ihr Handy aus der Handtasche und erklärte, sie müsse jetzt mit ihrer Mama sprechen. Bei diesen Worten war sie im Bad verschwunden und hatte die Tür hinter sich zugemacht. Glatzkopf-Li hörte sie erst leise reden, einen Moment später rauschte Wasser. Er grinste und dachte bei sich: Na wunderbar, da erlaubt also ihre Mutter, dass sie mir ihr Jungfernhäutchen zeigt. Spart mir 'ne Menge Süßholzgeraspel! Wirklich eine sehr verständige Frau, die Mama! Als Nr. 1358 herauskam, trug sie ein Nachthemd. Sie steuerte geradewegs auf das gewaltige Bett zu, kroch schnell unter die Decke und vergrub ihr Gesicht in den Kissen. Ohne Zeit zu verlieren, zog Glatzkopf-Li sein Nachthemd aus und 852
streckte sich nackt, wie er war, bäuchlings neben ihr aus; Lupe, Fernglas und Mikroskop hatte er dabei. Er schob ihr Nachthemd hoch und betrachtete das wohlgerundete Gesäß der jungfräulichen Schönen. »Prima Arsch!«, rief er, freudig überrascht, und begann, ihn mit Küssen und Bissen zu bearbeiten, bis Nr. 1358 am ganzen Leib zitterte und bebte. Als Nächstes kamen Lupe und Fernrohr zum Einsatz. (Das Mikroskop flog sogleich unters Bett, denn er hatte sofort gemerkt, es würde ihm nichts nützen.) Da der Winkel jedoch zu flach war, konnte er das Hymen nicht erkennen. Er bat sie, sich umzudrehen und auf den Rücken zu legen. Sie wackelte jedoch nur mit den Arschbacken und tat nichts dergleichen. Dann solle sie wenigsten den Arsch anheben, sagte er, doch nicht einmal dazu war sie bereit. Er fluchte los: »Verdammte Scheiße! Nichts als Ärger mit diesen Jungfrauen!« Mit Speck lockt man bekanntlich Mäuse. Also begann er, ihr Versprechungen zu machen: »Wenn du den Arsch anhebst, garantiere ich dir einen Platz unter den ersten drei.« Nr. 1358 wackelte wieder nur mit den Arschbacken, hob dabei aber tatsächlich das Gesäß. Das Gesicht auf das Kissen gepresst, sodass man sie kaum verstehen konnte, murmelte sie: »Meine Mama hat aber gesagt, Sie dürfen nur gucken, sonst nichts!« Gut gelaunt ging Glatzkopf-Li ans Werk, zuerst mit dem Vergrößerungsglas, dann mit dem Fernrohr. Er hatte das Gefühl, mit der Lupe könne er besser sehen, also legte er das Fernrohr beiseite und schaute sich mit dem Vergrößerungsglas alles ganz gen au an. Nachdem er das Jungfernhäutchen so klar und deutlich wie seine eigenen Finger gesehen hatte, probierte er es abermals mit dem Fernrohr, hielt es diesmal 853
aber andersherum. Plötzlich war das Hymen ganz weit weg, »verschwommen wie Blüten im Nebel«, nur dass es in diesem Fall ein Hymen im Nebel war. Misstrauisch murmelte er vor sich hin: »Komisch, dieses Jungfernhäutchen! Nah oder fern, sieht einfach nach nichts aus. Überhaupt nicht naiv und unschuldig, wie es immer heißt.« Jungfrau Nr. 1358, nach wie vor den Kopf in den Kissen vergraben, fragte mit erstickter Stimme: »Fertig?« »Nein!«, rief Glatzkopf-Li. Er legte das Fernrohr beiseite und griff auch nicht wieder zur Lupe, sondern tat das, was die Mama untersagt hatte, drang mit einem beherzten Stoß ein und durchstieß das Hymen. Nr. 1358 stieß einen spitzen Schrei aus und weinte vor Schmerzen. Sie schluchzte: »Meine Mama hat gesagt-« »Ach, fick deine Mama!« Während Glatzkopf-Li sie nach Herzenslust pimperte, keuchte er: »Ruf deine Mama an, sag ihr, du hast gesiegt, hast eine Million als Preisgeld gewonnen.« Allmählich verstummte das Weinen von Jungfrau Nr. 1358, doch stöhnte sie immer noch vor Schmerzen und wimmerte vor sich hin: »Mama, Mama ... « Nachdem Glatzkopf-Li sie von hinten bearbeitet hatte, sollte sie sich auf den Rücken legen, er wolle es mit einer anderen Stellung probieren. Sie weigerte sich jedoch standhaft, und als er versuchte, sie gewaltsam umzudrehen, fing sie wieder an zu weinen und flehte ihn an, er möge sie verschonen. Es sei doch das erste Mal für sie; sie habe Angst und wage gar nicht, ihn anzuschauen. Da hatte er Erbarmen mit dem keuschen Mädchen und fuhr fort, sie von hinten zu stechen,
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nicht ohne abermals zu fluchen: »Nichts als Ärger mit diesen Jungfrauen!« Glatzkopf-Li nahm Jungfrau Nr. 1358 derart ran, dass sie sehr bald mehr tot als lebendig war. Eigentlich hatte sie angenommen, er würde sie laufen lassen, sobald er gekommen wäre, doch darin hatte sie sich gründlich getäuscht, denn er nahm sie insgesamt viermal in dieser Nacht, die beiden ersten Male von hinten, da sie es mit aller Entschiedenheit ablehnte sich umzudrehen. Sie befürchtete nämlich, GlatzkopfLi könnte die Schwangerschaftsstreifen auf ihrem Bauch entdecken. Dann aber schlief sie vor lauter Erschöpfung ein, zumal auch Glatzkopf-Li weggedämmert war. Womit sie nicht gerechnet hatte, war, dass er nach zwei Stunden erwachen, sie im Schlaf auf den Rücken drehen und dann zum dritten Mal vornehmen würde. Dabei fielen ihm die Verfärbungen an ihrem Unterleib auf. Als sie erwachte und voller Schreck merkte, dass er die Schwangerschaftsstreifen doch entdeckt hatte, drehte sie sich rasch wieder auf den Bauch, sodass er sie wieder von hinten nehmen musste. Ohne sein emsiges Tun zu unterbrechen, erkundigte er sich nach den Streifen an ihrem Unterleib, worauf sie, ebenfalls ohne ihr Stöhnen zu unterbrechen, erwiderte, sie habe als Kind an einer Hautkrankheit gelitten. Er gab sich anscheinend damit zufrieden, doch hielt sie sich jetzt eisern wach und blieb die ganze Zeit, das Kissen an sich gepresst, auf dem Bauch liegen, damit nicht am Ende die Wahrheit über die Male doch noch an den Tag käme. Glatzkopf-Li, der nach dem dritten Fick wieder eingeschlafen war, musste sie, als er gegen Morgen zum vierten Sturmangriff ansetzte, abermals von hinten nehmen. Anschließend schlief er fünf Stunden 855
hintereinander tief und fest. Als er erwachte, saß Nr. 1358 schon fertig angekleidet auf dem Sofa. Auch nachdem er sie fortgeschickt hatte, dauerte seine gute Laune an. Presse-Liu, der zwei Stunden später erschien und ihn aufgeräumt und heiter antraf, schloss mit heimlicher Freude, Glatzkopf-Li müsse eine höchst erfolgreiche Nacht hinter sich haben. »Ich habe eben Nr. 1358 getroffen«, sagte er grinsend. »Sie hinkte! Gewiss haben Sie sie in dieser Nacht mit Ihrer Manneskraft ziemlich überrollt.« Glatzkopf-Li reckte vier Finger hoch: »Viermal habe ich sie überrollt.« Liu staunte: »Also, ich wäre schon froh, einmal im Monat eine zu überrollen.« Glatzkopf-Li sagte mit stolzem Grinsen: »Endlich habe ich so'n verdammtes Jungfernhäutchen zu sehen gekriegt.« Dann fügte er, ein wenig enttäuscht, hinzu: »Sah aber nicht so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Kein bisschen unschuldig!« Er zeigte auf Lupe, Fernglas und Mikroskop. »Das Mikroskop konnte ich überhaupt nicht brauchen, und das Fernglas musste ich verkehrt herum halten, damit es was brachte. War ungefähr so, als ob du heimlich auf der anderen Straßenseite im gegenüberliegenden Haus ein Jungfernhäutchen ausspähst. Richtig genützt hat mir nur die Lupe, damit konnte ich am meisten erkennen«, informierte er seinen Pressesprecher. Dann sagte er: »Der einzige Schönheitsfehler war bloß, dass sie mich nicht von vorn rangelassen hat.« Plötzlich verfinsterte sich seine Miene. Ihm waren die Flecken auf dem Bauch von Nr. 1358 wieder eingefallen. Diese Art Flecken, die kannte er doch! Solche Verfärbungen hatten viele von den jungen Müttern gehabt, mit denen er es getrie856
ben hatte. Auf einmal war ihm klar, warum Nr. 1358 die ganze Zeit auf dem Bauch gelegen hatte und sich partout nicht umdrehen wollte. »Sie hat mich reingelegt!«, brüllte er. Presse-Liu erschrak. Er starrte seinen Chef fragend an. Dieser rief: »Ein Kind hat sie! Hat lauter Schwangerschaftsstreifen auf dem Bauch! Bestimmt hat die sich ihr verdammtes Jungfernhäutchen operieren lassen! Verdammte Scheiße dann war das also gar kein Original! Nur eine verdammte Kopie!« Es dauerte eine Weile, ehe Presse-Liu begriffen hatte, was geschehen war. Schuldbewusst murmelte er: »Es war mein Fehler, dass Sie den geplanten Rekord nicht aufstellen -« »Ach was! War doch nicht deine Schuld«, winkte Glatzkopf-Li ab. »Hab sie mir ja selber ausgesucht.« Mit einem breiten Grinsen fuhr er fort: »Sie ist ja auch wirklich ein Klasseweib - schöner praller Arsch, schmale Hüften, breite Schultern, schlanke Beine, hübsches Gesicht. Und auf alle Fälle ist es ein neuer Rekord, was die Größe angeht.« Presse-Liu versprach feierlich, ihm unverzüglich eine neue Jungfrau zuzuführen, diesmal aber eine richtige. Dann könne Glatzkopf-Li noch vor Abschluss des Wettbewerbs auch den noch ausstehenden Rekord in sein privates Guinness-Buch eintragen. Da er inzwischen die Vorlieben seines Chefs kannte, war die nächste Jungfrau, die er unter den Finalistinnen des Schönheitswettbewerbs für ihn auswählte, ebenfalls ein langbeiniger Knackarsch, auch sie über 1,80 Meter groß, allerdings nicht ganz so hübsch wie die vorige. Presse-Liu ahnte nicht, dass die Dame - Nr. 864 - möglicherweise Glatzkopf-Lis Geschmack entsprach, mit Sicher857
heit jedoch längst kein Original mehr war, nicht einmal eine Kopie. Allerhöchstens konnte sie als Imitat durchgehen. Obwohl Nr. 1358 auch kein Original mehr war - denn sie hatte sich ja ihr Hymen restaurieren lassen-, hatte sie sich immerhin für ihre zweite Defloration durch Glatzkopf-Li aufgespart, während Nr. 864 bereits mit sechs Jurymitgliedern geschlafen hatte, um ihre Siegeschancen zu verbessern. Dank des Kunst-Hymens Marke »Jeanne d'Arc«, von dem sie inzwischen schon sechs Exemplare bei Zhou You gekauft hatte, waren alle sechs Juroren überzeugt, dass das Blut echt war und sie tatsächlich eine Jungfrau im Bett hatten. Als PresseLius Abgesandter auftauchte, schäkerte Nr. 864 gerade mit Juror Nr. 7 herum, denn der war der Nächste, mit dem sie ins Bett zu steigen gedachte. Das Treffen mit Liu fand wieder in der Cafeteria statt. Die Unbefangenheit, die Nr. 864 an den Tag legte, fand er sehr wohltuend, vor allem im Vergleich zu der gespielten Schamhaftigkeit von Nr. 1358. Die Dame nahm ohne Weiteres direkt neben ihm Platz und unterhielt sich ganz locker und ungezwungen mit ihm, sodass er sofort das Gefühl hatte, bei ihr brauche er nicht wie die Katze um den heißen Brei herumzuschleichen, sondern könne offen reden. Eingangs bemerkte er, dass es ein paar Probleme mit dem Wettbewerb gebe, weil auch Mädchen sich angemeldet hätten, die keine Jungfrauen mehr seien. Darüber hinaus hätten einige von den Damen sogar versucht, Mitglieder der Jury zu beeinflussen, um ihre Chancen auf einen Preis zu verbessern. Presse-Liu hatte zwar nur von »beeinflussen« gesprochen, nicht davon, dass die Kandidatinnen mit den Juroren schliefen, dennoch war Nr. 864 bei seinen Worten ziemlich nervös 858
geworden, nahm sie doch irrtümlich an, jemand habe sie bei Presse- Liu verpfiffen. Sie entrüstete sich lautstark über »gewisse Teilnehmerinnen«, die mit Jurymitgliedern schliefen und obendrein auch noch andere - unschuldige Mädchen verleumdeten. Unter Tränen versicherte sie mehrmals, sie selbst sei rein und unschuldig und könne das auch jederzeit nachweisen. »Sie können mich vom Frauenarzt untersuchen lassen«, bot sie an. »Oder Sie untersuchen mich selbst.« Presse-Liu, der nicht damit gerechnet hatte, so schnell zur Sache kommen zu können, lächelte Nr. 864 aufmunternd zu und sagte: »Ja, eine Untersuchung muss schon sein. Herr Generaldirektor Li selbst wird sie vornehmen.« Nachdem sie sich von Presse-Liu verabschiedet hatte, suchte Nr. 864 unverzüglich den Schwindler Zhou You in der Imbissstube auf, wo er wieder einmal damit beschäftigt war, Su Mei mit schönen Worten zu umgarnen. Er hatte zu diesem Zeitpunkt nur noch ein einziges Kunst-Hymen Marke »Mengjiangnü« übrig. Als Nr. 864 ihm von der Tür aus mit den Augen ein Zeichen gab, war ihm klar, dass sie ein Jungfernhäutchen brauchte, war sie doch inzwischen so etwas wie eine Stammkundin. Er tat jedoch, als hätte er sie nicht gesehen, und fuhr fort, auf Su Mei einzureden und Süßholz zu raspeln. Nr. 864, so erregt, als stünde ihre Wohnung in Flammen, musste warten, bis Su Mei aufgestanden und in die Küche gegangen war, ehe Zhou You endlich gemächlichen Schrittes zu ihr an die Tür kam. Als sie ihn aufgeregt um eine »Jeanne d'Arc« bat, holte er die letzte »Mengjiangnü« aus der Tasche und reichte sie ihr mit den Worten: >Jeanne d'Arc< ist aus. Es gibt nur noch >Mengjiangnü<, und das ist auch die letzte.« 859
Während Nr. 864 ihm das Geld gab, schnaubte sie: »Dieses Hurenpack!« Wieder um acht Uhr abends lieferte Presse-Liu Jungfrau Nr. 864 im Schlafzimmer seines Chefs ab. Glatzkopf-Li, wieder im Nachthemd, sah wieder fern und war wieder außerstande, mit der verschüchterten Nr. 864 zu turteln. Immerhin hatte er so viel gelernt, dass er jetzt, nachdem der Fernseher ausgeschaltet war, zunächst seine Verbeugung und Entschuldigung hinter sich brachte, um erst dann auf das Bad zu zeigen und sie freundlich aufzufordern, sich bitte zu waschen. Nr. 864 sagte, sie müsse erst noch kurz mit ihm sprechen. Glatzkopf-Li dachte im Stillen: Mit diesen Weibern hat man wirklich nichts als Trouble, in Zukunft werde ich meine Finger von Jungfrauen lassen, hab einfach nicht die Geduld dazu! Nr. 864 erzählte ihm wortreich, wie sehr sie ihn verehre, wie sie schon immer in der Zeitung die Nachrichten über ihn verfolgt und sich dabei gesagt habe, wenn sie sich irgendwann einem Mann hingeben würde, dann müsse es einer wie Glatzkopf-Li sein. Sprach's und verschwand im Bad. Glatzkopf-Li lachte das Herz im Leibe. So ein reizender Käfer, diese Nr. 864! So aufgeschlossen, kein Vergleich zu Nr. 1358! Bei dieser hier hätte ich mir die Verbeugung auch sparen können. Während Nr. 864 im Badezimmer heimlich ihr KunstHymen in die Scheide einführte, dachte sie bei sich, es sei wirklich zu dumm, dass »Jeanne d'Arc« ausverkauft war und sie sich mit »Mengjiangnü« begnügen musste. Das Geld für die gute Importware hätte sie gern ausgegeben!
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Als sie im Nachthemd aus dem Bad kam, war Glatzkopf-Li schon nackt und wartete grinsend auf sie. Sie schrie auf und schlug die Hände vors Gesicht. Glatzkopf-Li zog ihr das Nachthemd aus und bugsierte sie zu seinem großen Bett, während sie sich die ganze Zeit die Augen zuhielt. Zunächst untersuchte er mit dem Vergrößerungsglas ihren Bauch: Zu seiner Freude konnte er keine Schwangerschaftsstreifen entdecken. Dann war das Jungfernhäutchen an der Reihe: Es war deutlich zu sehen, kam ihm nur irgendwie anders vor als das von Nr. 1358, doch maß er dem keine Bedeutung bei. Dass es solche Unterschiede gab, erschien ihm völlig normal, schließlich waren selbst bei ein und derselben Frau die Brüste unterschiedlich groß. Während Glatzkopf-Lis Inspektion mit Lupe und Fernglas hielt Nr. 864 immer noch das Gesicht mit den Händen bedeckt, bewegte dabei aber ihren Körper lasziv hin und her. Diese unwiderstehliche Kombination von Verschämtheit und Verlockung verfehlte ihre Wirkung auf Glatzkopf-Li nicht. Er verlor augenblicklich das Interesse an seiner Forschungstätigkeit, warf Lupe und Fernglas beiseite und stürzte sich auf die Liegende, die sofort ihre Hände um seinen Hals schlang und anfing zu stöhnen, während er sich auf ihr abrackerte. Nachdem Glatzkopf-Li das künstliche Jungfernhäutchen eine Weile bearbeitet hatte, war es nach wie vor unversehrt. Viel schlimmer noch: Im Eifer des Gefechts hatte er es zutage gefördert! Beinahe hätte die minderwertige Fälschung, die Zhou You unters Volk gebracht hatte, die lichte Zukunft von Nr. 864 zunichte gemacht. Sie sah, dass Glatzkopf-Li das Kunst861
Hymen in der Hand hatte und es misstrauisch beäugte. Nun ist alles aus, dachte sie, und ihre Angst, anders als alle bisherigen Gefühlsäußerungen, war diesmal nicht gespielt. Als er merkte, was er in der Hand hielt, begann er zu toben: »Verfluchte Scheiße, schon wieder eine Fälschung!« Wütend schleuderte er das Jungfernhäutchen auf den Fußboden. Die verzweifelte Nr. 864 brach in Tränen aus. Sie könne ihm alles erklären, schluchzte sie, doch während sie noch fieberhaft überlegte, was für Lügen sie ihm aufbinden sollte, winkte Glatzkopf-Li unwirsch ab. Er hatte weder Interesse noch Geduld für ihre Erklärungen. »Hör auf zu flennen, verdammt noch mal!«, herrschte er sie an. »Und verschone mich mit deinen Erklärungen! Gut, du bist keine ScheißJungfrau, aber ein ziemlich steiler Zahn bist du allemal. Hat mir Spaß gemacht mit dir. Da ist noch ein dritter Platz drin für dich.« Nr. 864 stutzte. Gleich darauf wischte sie sich rasch die Tränen ab, dann warf sie Glatzkopf-Li buchstäblich aufs Kreuz, und im nächsten Moment saß sie rittlings auf ihm. Er wunderte sich, woher sie die Kraft nahm. Während sie ihn wollüstig stöhnend zuritt, warf sie ihren Oberkörper hin und her und schwenkte die Brüste wie das allerlaszivste Go-goGirl der Welt. Selbst ein so ausgebuffter Hurenbock wie Glatzkopf-Li konnte nur noch staunen. Er, der sonst im Bett niemanden zu fürchten brauchte, hatte seine Meisterin gefunden. Sie war in den Künsten der Liebe mindestens ebenso bewandert wie er, sodass der Zweikampf im Bett sich über viele Runden erstreckte. Als Presse- Liu seinen Chef am nächsten Morgen in bester Laune vorfand, nahm er an, dieser habe endlich gefunden, 862
was er suchte. Umso größer war sein Erstaunen, als Glatzkopf-Li sagte: »War wieder nur eine Kopie. Noch dazu ist das Scheißding, dieses künstliche Dingsda, rausgeflutscht.« Gleich beim Reinstecken habe er das Gefühl gehabt, dass etwas nicht stimme. »Es drückte irgendwie, als ob du mit dem Fuß in einen Schuh fährst, wo eine verkrumpelte Socke drinsteckt«, erklärte er. Presse-Liu erschrak und begann, sich heftige Selbstvorwürfe wegen seines erneuten Versagens zu machen. Nachdem er sich selbst eine Weile wüst beschimpft hatte, führte er zum Schluss doch noch einen mildernden Umstand ins Feld. »Alles andere kann ich vorher für Sie testen«, sagte er. »Aber wenn ich das bei einer Jungfrau täte, wäre sie ja danach auch wieder nur eine Fälschung. Sogar wenn sie vorher tatsächlich ein Original war.« Glatzkopf-Li winkte nur müde ab. Die Dame sei zwar keine Jungfrau gewesen, aber sie hätte es ihm so gut besorgt, als wäre sie eine Himmelsfee. In all den Jahren, die er jetzt schon mit Frauen herumgemacht habe, sei ihm noch nie eine so wilde Biene, ein so angriffslustiges Weib untergekommen wie diese Nr. 864. Endlich habe er einmal eine Bettgenossin gefunden, die ihn wahrhaft verstehe, einen wirklich ebenbürtigen Gegner. In ihrem Zweikampf sei es hoch hergegangen, mal habe er die Oberhand gehabt, dann wieder sie. Jeder habe sich immer wieder vorausschauend auf den anderen eingestellt, sei seinen Angriffen zuvorgekommen oder habe sie blitzschnell mit einem Gegenangriff beantwortet. Nr. 864 als »steilen Zahn« zu bezeichnen, wäre immer noch viel zu milde ausgedrückt - das versauteste Luder der Welt sei sie! Und der Nahkampf, den sie gestern Nacht ausgefochten hätten, der sei eine denkwürdige Schlacht gewesen, in der es am En863
de weder Sieger noch Besiegte gab, nur zwei kampfesmüde Recken. Anschließend beauftragte Glatzkopf-Li seinen Pressesprecher, die zehn Juroren zu vergattern. Sie sollten die Plätze 1 und 3 nicht vergeben, sondern nur Platz 2; der erste und der dritte Preis würden an Nr. 1358 beziehungsweise Nr. 864 gehen. Beides keine Jungfrauen mehr, seien sie immerhin mit ihm ins Bett gegangen, wo er ihnen im Überschwang der Freude entsprechende Zusagen gemacht habe. »Und ich«, rief er und schlug sich an die Brust, »ich halte immer, was ich verspreche!« Endlich fand der Abschluss des Ersten Nationalen Schönheitswettbewerbs für Jungfrauen im Kino unserer kleinen Stadt Liuzhen statt. Presse-Liu hatte seine Hausaufgaben gemacht und dafür gesorgt, dass die Jury entsprechend Glatzkopf-Lis Wünschen entschied: Nr. 1358 war die Siegerin, Nr. 864 die Drittplatzierte. Der zweite Platz ging an Nr. 79, Zhou Yous beste Kundin. Anders als Nr. 864, die sich ihre künstlichen Jungfernhäutchen von Fall zu Fall besorgte, hatte sie von vornherein einen Vorrat von zehn KunstHymen angelegt und dann nacheinander alle Juroren fein säuberlich abgearbeitet. So großartig der Schönheitswettbewerb begonnen hatte, so sang- und klanglos ging er zu Ende. Die hundert Finalistinnen verschwanden innerhalb eines einzigen Tages wieder aus der Stadt. Glatzkopf-Li stand den ganzen Tag vor dem Eingangsportal seiner Firma, um die Jungfrauen, die leitenden Mitglieder des Organisationskomitees und die Juroren zu verabschieden.
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Als er Nr. 1358 die Hand schüttelte, fragte er flüsternd: »Wie alt ist denn dein Kind?« Sie erstarrte, dann aber flüsterte sie mit einem verständnisvollen Lächeln zurück: »Zwei Jahre.« Auch Nr. 864 flüsterte er beim Abschied etwas ins Ohr: »Ich gebe zu, du hast mich geschlagen!« Die zehn Juroren mussten wie gebrechliche Greise gestützt werden, als sie in ihre Autos stiegen. Alle hatten es mit den Nieren zu tun, zwei litten unter leichtem Fieber, drei brachten keinen Bissen hinunter, und vier klagten über ein alarmierendes Nachlassen der Sehkraft. Nur ein einziger schien leidlich in Form zu sein, konnte aus eigener Kraft ins Auto steigen und war sogar kräftig genug, um beim Abschied ein paar Worte mit Glatzkopf-Li zu wechseln. Als dieser ihn leise fragte, ob er denn in puncto Sex auf seine Kosten gekommen sei, sagte er seufzend, er könne Frauen nicht mehr sehen! Nach Abschluss des Wettbewerbs riss die Kritik in den Medien nicht mehr ab. Es hieß, mit derartigen Schönheitswettbewerben feiere der Feudalismus fröhliche Urständ, würden Selbstvertrauen und Selbstachtung der Frauen mit Füßen getreten, und so weiter und so fort. Die Wurzel allen Übels aber sei Glatzkopf-Li. Gegen ihn war diese Kritik in erster Linie gerichtet, aber auch Presse-Liu bekam sein Fett weg. Nicht lange danach kam es zum Skandal, als einige der Jungfrauen, die es nicht unter die ersten drei geschafft hatten, in ihrer Wut mit dem Vorwurf an die Öffentlichkeit gingen anonym natürlich -, bestimmte Teilnehmerinnen hätten die Gunst der Juroren mit Sex erkauft. Der größte Skandal war, wie man sich denken kann, der erste Platz für Nr. 1358. Die Nachricht, dass eine junge Mutter 865
den ersten Preis in einem Schönheitswettbewerb für Jungfrauen davongetragen habe, verbreitete sich mit Windeseile im ganzen Land. Nr. 1358 erwies sich allerdings im Umgang mit den Presseleuten als eine Art zweiter Glatzkopf-Li. Sie wies keinen Interviewer ab und wurde nicht müde, immer wieder dasselbe zu wiederholen: Jawohl, sie habe eine zwei Jahre alte Tochter, doch betrachte sie sich nichtsdestoweniger als eine Jungfrau. Im Geiste werde sie für alle Zeiten eine Jungfrau bleiben, denn ihre geistige Reinheit habe sie sich bewahrt. Die neuartige Definition von Jungfräulichkeit, die Nr. 1358 damit in die Welt gesetzt hatte, löste sofort eine breite Diskussion in der Öffentlichkeit aus; Gegner und Befürworter lieferten sich ein halbes Jahr lang heftige Wortgefechte. Während dieser ganzen Zeit war Glatzkopf-Li in einem Zustand permanenter Hochstimmung. Solange eine Debatte andauerte, die etwas mit ihm zu tun hatte, meinte er, solange würde auch er ein »Knochen« bleiben. Er war voll des Lobes für die neue Definition von» Jungfrau«, die Nr. 1358 vorgeschlagen hatte. Seinem Pressesprecher gegenüber äußerte er, der Geist sei nun mal das Allerwichtigste. Über dieses Thema konnte er sich sehr erregen. Die Mädchen von heute, sagte er, seien allesamt wenig vertrauenswürdig. Innerhalb von zwanzig Jahren hätten sich die allgemein akzeptierten Moralbegriffe im Lande dramatisch verändert. Wenn früher neun von zehn unverheirateten Mädchen noch Jungfrau gewesen seien, so sei das Verhältnis heute, nur zwei Jahrzehnte später, genau umgekehrt; allerhöchstens eine von zehn sei noch Jungfrau. Gleich darauf korrigierte er sich: Unter zehn Mädchen gebe es heute nicht mal 866
eine halbe Jungfrau - keins von den Mädchen, die heute durch die Straßen flanierten, sei eine Jungfrau! Jungfrauen finde man nur noch im Kindergarten. Ansonsten sei es leichter, eine Nadel im Heuhaufen zu finden als eine Jungfrau. »Aber«, wechselte er das Thema, »geistige Jungfrauen, die gibt es nach wie vor überall.« In der Folge erweiterte Glatzkopf-Li den Geltungsbereich der neuartigen Theorie von Jungfrau Nr. 1358. Er wusste ja inzwischen aus Erfahrung, dass die Journalisten, stets auf der Jagd nach der nächsten Sensation wie die Hunde nach einem Knochen, ihn nach ganz kurzer Zeit nicht mehr beachten würden. Aber das machte ihm jetzt nichts mehr aus. Denn, sagte er, »im Geiste werde ich immer ein Knochen bleiben«. XXXIX Als Zhou You kurz vor Beginn der Endrunde des JungfrauenWettbewerbs sein letztes Kunst-Hymen verkauft hatte, fand er es an der Zeit, Abschied zu nehmen von unserer kleinen Stadt Liuzhen, von den Strohhalm-Baozi in Su Meis Imbissstube, von den Käuferinnen seiner künstlichen Jungfernhäutchen und von Dichter Zhao. Er rechnete mit dem Dichter ab: Lohn für zehn Tage - 1000 Yuan; Miete für den Lagerraum - zweihundert Yuan; Prämie für hervorragende Leistungen - 2000 Yuan. Er leckte seine Finger an, zählte 3200 Yuan ab und übergab sie Zhao. Dann befeuchtete er die Finger abermals und zählte ihm weitere fünfhundert Yuan hin, die solle er Su Mei übergeben für die Baozi, die er bei ihr gegessen habe. Er wisse nicht mehr, wie viel er ihr schuldig sei, aber fünfhundert Yuan seien auf jeden Fall mehr als genug. 867
Von Song Gang verabschiedete Zhou You sich nicht. Auch ihm zahlte er 1000 Yuan Lohn und 2000 Yuan Leistungszulage aus, blieb jedoch anschließend noch auf dem Sofa in Song Gangs Wohnung sitzen und begann, beflügelt von dem Riesenerfolg mit den künstlichen Jungfernhäutchen in Liuzhen, über seine glänzenden Zukunftsaussichten herumzuschwadronieren. Zum Schluss ließ er die Katze aus dem Sack: Er brauche einen Helfer, und dieser Helfer sei Song Gang! Von seiner Eignung her gesehen, sei Dichter Zhao ihm zwar überlegen, aber auf den könne er sich nicht verlassen, er würde ihn - Zhou Youim Zweifelsfall jederzeit verraten. Dagegen habe er in den vergangenen zehn Tagen festgestellt, dass Song Gang ein absolut vertrauenswürdiger Freund sei. Der Schwindler schlug die Beine übereinander, um bequemer zu sitzen. »Du bist ein Mensch, dem könnte ich mein ganzes Geld anvertrauen, und wenn ich nach einem Jahr wieder zurückkomme, hast du keinen Fen davon angerührt«, sagte er, nicht ohne Pathos. »Komm mit mir, Song Gang!« Die völlig neuen Aussichten, die sich vor ihm auftaten, erregten Song Gang. In Liuzhen, das war ihm klar, hatte er keine Zukunft - er würde immer nur der »Einspringer vom Dienst« bleiben. Ginge er dagegen mit Zhou You, bestünde immerhin die Möglichkeit, dass er irgendwann doch noch auf einen grünen Zweig käme. Ihm war nicht bekannt, wie viel Lin Hong für seine ärztliche Behandlung ausgegeben hatte, ebenso wenig wie er wusste, dass das Geld von Glatzkopf-Li stammte. Seine Frau hatte ihm gesagt, es komme von ihren Eltern und Verwandten. Unter denen aber, das wusste er genau, hatte niemand Geld übrig, also musste sie Schulden auf-
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genommen haben, um die Arztkosten zu bezahlen. Das konnte auf die Dauer nicht gut gehen. Mit fester Stimme sagte er zu Zhou You: »Ja, ich komme mit.« Als er abends Lin Hong die 3000 Yuan übergab, die er mit dem Hymen-Handel verdient hatte, war sie wie vom Donner gerührt. Nie hätte sie gedacht, dass ihr Mann in den zehn Tagen, die er mit diesem Zhou You herumgezogen war, so viel Geld verdienen würde. Song Gang nutzte ihre Überraschung aus, um ihr mit stockender Stimme zu eröffnen, was er vorhatte. Er begann damit, dass er sich inzwischen viel besser fühle, klagte über das viele Geld, das die Behandlung gekostet habe, und zitierte dann ziemlich unvermittelt solche Volksweisheiten wie »Ein Baum, verpflanzt du ihn, geht drauf; ein Mensch, der umgetopft, lebt auf!« oder »Nach unten fließt stets das Wasser, nach oben strebt stets der Mensch«. Lin Hang sah ihn verwirrt an; sie hatte keine Ahnung, was er ihr mit seinen konfusen Worten sagen wollte. Erst ganz zum Schluss rückte er damit heraus, dass er vorhabe, sich Zhou You anzuschließen und in der Fremde sein Glück zu versuchen. Er wiederholte getreulich alles, was der Schwindler zu ihm gesagt hatte, und fragte sie schließlich: »Du bist doch einverstanden, dass ich das mache?« »Nein, das bin ich nicht!«, rief sie kopfschüttelnd. »Kuriere dich erst mal richtig aus. Wenn du wieder ganz gesund bist, reden wir weiter.« Song Gang erwiderte traurig: »Aber dann ist es zu spät.« »Wieso zu spät?«
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Er seufzte. »Wir haben doch überhaupt nicht das Geld für die Behandlung«, sagte er. »Und deine Eltern und Verwandten haben auch nicht viel. Also hast du dir das Geld geliehen. Zurückzahlen aber können wir das nie, selbst wenn ich wieder gesund würde.« »Wegen des Geldes brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Hauptsache, du wirst erst mal wieder gesund.« Song Gang schüttelte den Kopf, sagte jedoch nichts mehr. Er wusste, es hätte ohnehin keinen Zweck. In zwanzig Ehejahren hatte er gelernt, dass er nichts gegen den Willen seiner Frau tun konnte. Lin Hang, die sein Schweigen als Zeichen eines Sinneswandels auslegte, ahnte nicht, dass ihr Mann den unerschütterlichen Entschluss gefasst hatte, mit Zhou You fortzugehen. Sie hatte in diesem Augenblick vergessen, wie unbeugsam er sein konnte. Am Abend schlief sie gleich ein, während Song Gang, der wie gewöhnlich mit dem Kopf am Fußende neben ihr lag, keinen Schlaf fand. Während er auf ihren gleichmäßigen Atem lauschte und ihren warmen Unterschenkel streichelte, stiegen zahllose Erinnerungen in ihm hoch. Bei dem Gedanken, dass er ab morgen von ihr getrennt sein würde, zum ersten Mal seit der Hochzeit, tat ihm das Herz weh. Am Morgen, als Lin Hang mit dem Rad zur Arbeit fuhr, folgte er ihr mit den Blicken, bis sie in der Ferne verschwunden war. Dann ging er ins Haus zurück, setzte sich an den Tisch und schrieb einen Brief. In schlichten Worten bat er Lin Hang zunächst um Verzeihung, dass er weggehe. Sie möge bitte Vertrauen zu ihm haben; es würde ihm gewiss gelingen, eine Firma zu gründen, die sich zwar nicht mit Glatz870
kopf-Lis messen könne, mit der er aber doch genug Geld verdienen würde, um ihr ein Leben ohne Sorgen zu ermöglichen. Abschließend teilte er ihr mit, dass er ein Foto von ihnen beiden sowie einen Wohnungsschlüssel mitnehme, das Foto, um es jeden Abend vor dem Einschlafen anzuschauen, und den Schlüssel, um jederzeit heimkommen zu können, denn sobald er genug Geld verdient habe, würde er sofort zurückkehren. Als der Brief fertig geschrieben war, suchte er das Foto heraus. Es war aufgenommen worden, als sie gerade das Fahrrad Marke »Ewig« erworben hatten, und zeigte ihn und Lin Hong freudestrahlend mit ihrem funkelnagelneuen Rad. Song steckte es in die Brusttasche, nachdem er es eingehend betrachtet hatte. Er musste lange in Truhen und Schränken suchen, bis er endlich die alte Reisetasche mit den aufgedruckten Schriftzeichen für »Schanghai« fand, die einzige Hinterlassenschaft seines Vaters Song Fanping. Darin verstaute er ein paar Kleidungsstücke (für alle vier Jahreszeiten) und seine restliche Medizin. Da noch Zeit war, warf er die Waschmaschine an und begann sauber zu machen. Sogar die Fenster putzte er blitzblank. In der Mittagsstunde dieses Tages verließen Song Gang und Zhou You heimlich wie zwei Diebe unsere kleine Stadt Liuzhen. Zhou war höchst unzufrieden, dass Song Gang eine so altmodische Tasche mitschleppte. Die stamme ja noch aus der alten Gesellschaft, höhnte er. Mit so einer Tasche in der Hand würde er niemals irgendwelche Geschäfte machen. Kurzerhand packte er Song Gangs Kleidung in einen Karton und warf die leere Tasche in die nächste Mülltonne, an der 871
sie vorbeikamen. Als er Song Gangs wehmütigen Blick bemerkte, tröstete er ihn: Sobald sie in Schanghai wären, bekäme er einen Koffer mit einer ausländischen Aufschrift. Dann machten sich die beiden, der Mittagshitze trotzend, auf den Weg zum Fernbusbahnhof. Song Gang trug den Karton, Zhou You eine große schwarze Tasche. Diese Tasche war voller Bargeld. Der Schwindler hatte, ehe er in unsere kleine Stadt Liuzhen kam, sein ganzes Geld in die künstlichen Jungfernhäutchen investiert, sodass er bei seiner Ankunft nur noch fünf Yuan besaß. Es war ein Vabanquespiel gewesen, aber er hatte es gewonnen! Denn jetzt verließ er mit mehr als 100000 Yuan in der Tasche die Stätte seines Triumphs. Als der Bus aus dem Bahnhof fuhr, wandte Zhou You sich um und warf einen letzten Blick auf unsere kleine Stadt Liuzhen. »Wir sehen uns wieder!«, murmelte er. Auch Song Gang blickte zurück. Er entdeckte ein paar Bekannte, deren Gesichter immer mehr verschwammen, je weiter der Bus sich von der Stadt entfernte. Bald entschwanden auch die vertrauten Häuser und Straßen seinen Blicken. Er war bedrückt und stellte sich traurig vor, wie Lin Hong in ein paar Stunden diese vertrauten Straßen entlang nach Hause fahren und entdecken würde, dass er fort war. Vielleicht wäre sie wütend, vielleicht würde sie aber auch vor Kummer weinen ... Im Stillen bat er sie »Verzeih mir!«. Inzwischen war der Bus schon so weit gefahren, dass Liuzhen nicht mehr zu sehen war, nur noch Äcker und Felder, so weit das Auge reichte. Da drehte Song Gang sich wieder um. Die Tränen, die ihm über die Wangen liefen, wurden von seinem Mundschutz geschluckt. Zhou You neben ihm, die 872
große schwarze Tasche auf dem Schoß, schlief bereits tief und fest. Als Lin Hong abends nach Hause kam und sah, wie ordentlich es in der Wohnung war, freute sie sich und rief »Oh, so schön sauber alles!«. Dann ging sie in die Küche, denn normalerweise hatte ihr Mann um diese Zeit schon mit der Zubereitung des Abendessens begonnen. Deshalb war sie sehr verwundert, ihn dort nicht anzutreffen. Wo mochte er nur sein? Durch das Wohnzimmer ging sie wieder zurück zur Eingangstür, an dem Tisch vorbei, auf dem Song Gangs Brief lag, bemerkte ihn jedoch nicht. Sie trat vor die Tür und schaute suchend die Straße hinunter, auf der jetzt, kurz vor Einbruch der Dunkelheit - Mutter Sus Imbissstube war schon hell erleuchtet -, zahlreiche Menschen unterwegs waren. Sie ging in die Wohnung zurück und fing an zu kochen. Plötzlich war ihr, als höre sie, wie die Tür aufgeschlossen wurde, und schaute nach, aber draußen war niemand. Da ging sie wieder in die Küche. Als das Essen fertig war, stellte sie es auf den Tisch im Wohnzimmer. Inzwischen war es völlig dunkel geworden, und sie musste Licht machen. Jetzt sah sie, dass auf dem Tisch ein Stück Papier lag, doch sie beachtete es nicht weiter. Sie setzte sich so, dass sie die Wohnungstür im Blick hatte, und wartete auf Song Gang. Plötzlich durchfuhr es siewar das Papier nicht beschrieben? ... In fliegender Hast las sie, was Song Gang geschrieben hatte. Den Brief in der Hand stürzte sie auf die hell erleuchtete Straße und rannte Richtung Busbahnhof, als könnte sie ihn noch einholen. Nach hundert Metern verlangsamte sie ihren 873
Schritt; sie wusste plötzlich, Song Gang hatte Liuzhen - und sie - längst verlassen. Ratlos blieb sie stehen, schaute mit leeren Augen auf das Gewimmel der Straßenpassanten und der Autos, warf noch einmal einen Blick auf den Brief in ihrer Hand und ging langsam nach Hause zurück. An diesem Abend saß sie lange Zeit unter der Lampe am Tisch und las kopfschüttelnd immer wieder Song Gangs kurzen Brief, bis ihre Tränen, die unaufhörlich auf das Papier tropften, die Schrift unleserlich gemacht hatten und sie das Blatt endlich aus der Hand legte. Ihm machte sie keine Vorwürfe - sie wusste ja, er tat es für sie -, wohl aber haderte sie mit sich selbst, dass sie seine Entschlossenheit zu gehen nicht gespürt hatte. Danach erschien ihr jeder Tag so lang wie ein Jahr. In der Fabrik musste sie sich ständig der Belästigungen des widerlichen Direktors Liu erwehren, und wenn sie abends in ihre Wohnung zurückkehrte, wo kein Song Gang auf sie wartete, sah sie stundenlang fern, um über ihre Einsamkeit hinwegzukommen, doch nahm sie gar nicht wahr, was sie sah und hörte, weil sie die ganze Zeit an Song Gang denken musste - sogar seinen Mundschutz vermisste sie jetzt! Vor dem Einschlafen überkam sie die Traurigkeit mit doppelter Wucht, wenn sie daran dachte, dass er ohne einen Fen in der Tasche auf die Reise gegangen war. Lin Hong erzählte niemandem, dass ihr Mann mit Zhou You zusammen weggegangen war. Sie sagte lediglich ganz allgemein, dass er geschäftlich unterwegs sei und sich in der Provinz Guangdong aufhalte. Sie brachte es nicht über sich, ins Detail zu gehen, weil sie annahm, Song Gang und Zhou You
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verkauften auch dort wie in Liuzhen künstliche Jungfernhäutchen. Diesen Handel aber hielt sie für absolut unseriös. Sie hoffte jeden Tag, dass sich ihr Mann melden würde, und lief in der Mittagspause stets zum Pförtnerhaus, um nachzuschauen, ob in dem Bündel Briefe, das der Postbote am Schalterfenster abgelegt hatte, vielleicht einer für sie verborgen wäre. Doch Song Gang schrieb ihr keinen Brief, dafür rief er sie an - das heißt, er rief in der Imbissstube gegenüber an, denn sie hatten zu Hause kein Telefon. Einen Monat nach seiner Abreise stand eines Abends Mutter Su atemlos vor Lin Hongs Tür und rief aufgeregt, Song Gang sei am Apparat. Genauso eilig, wie Mutter Su eben die Straße überquert hatte, stürzte Lin Hong los, rannte zum Telefon in der Gaststube, griff nach dem Hörer und vernahm am anderen Ende der Leitung die Stimme ihres Mannes, der sie besorgt fragte: »Lin Hong, geht es dir gut?« Sie hatte sofort Tränen in den Augen. »Komm zurück! Komm sofort zurück!«, rief sie in den Hörer. »Ja, klar, ich komme zurück ... « »Komm sofort zurück, jetzt gleich!« Auf diese Weise ging es noch ein paarmal hin und her. Lin Hongs Worte hatten anfangs wie ein Befehl geklungen, doch je öfter sie sie wiederholte, desto flehentlicher wurde ihr Ton. Song Gang blieb dabei, natürlich würde er zurückkommen - ganz bestimmt würde er zurückkommen! Schließlich sagte er, er müsse jetzt auflegen, es würde sonst zu teuer, denn es sei ja ein Ferngespräch. Sie aber hörte nicht auf, ihn anzuflehen: »Song Gang, komm bitte bald zurück!« Während sie noch sprach, kam aus dem Hörer schon das Besetztzeichen. Traurig legte sie auf. Plötzlich fiel ihr siedend heiß ein, sie hatte ihn ja gar nicht gefragt, wie es ihm ging! 875
Hatte nur immerzu »Komm zurück!« gerufen! Sie biss sich zerknirscht auf die Lippen und schaute mit einem schmerzlichen Lächeln zu Su Mei hinüber, die mit trübem Blick an der Kassentheke saß. Su Mei lächelte ihr genauso schmerzlich zu. Lin Hong wollte etwas zu ihr sagen, doch ihr fiel nichts ein, sodass sie stumm und mit gesenktem Kopf an ihr vorbeiging und schnell die Imbissstube verließ. In den darauffolgenden Monaten waren beide Frauen gleichermaßen traurig und verloren. Nachdem sich der Schwindler Zhou You verdrückt hatte, wurde Su Meis Bauch immer dicker, was Anlass zu allerlei Klatsch und Tratsch bot. Die Leute rätselten, wer sie wohl dick gemacht habe, und je mehr sie rätselten, desto größer wurde der Kreis der Verdächtigen. Am Ende waren es hundertundeine Person, darunter - als Nr. 101 - auch Dichter Zhao, der Stein und Bein schwor, er sei unschuldig, sich aber gerade dadurch in den Augen der Leute umso verdächtiger machte. Am Ende versuchte er, sie mit Vernunftgründen von ihrem Verdacht abzubringen: Su Mei sei zwar nicht gerade eine Schönheit, aber allemal eine gute Partie. Ob sie denn wirklich glaubten, dass er auch nur einen Tag länger in seiner eigenen, popeligen, Wohnung bleiben würde, wenn er ihr tatsächlich einen dicken Bauch gemacht hätte? »In dem Fall wäre ich doch längst als Chef in der Imbissstube eingezogen«, schloss er. Das leuchtete den Leuten ein, und sie wandten ihre Aufmerksamkeit wieder anderen Verdächtigen zu. Auf den Gedanken, Zhou You könnte es gewesen sein, kam niemand. Dieser Zhou You war wirklich ein mit allen Wassern gewaschener Schuft. Die 3000 schönen Jungfrauen, die zur selben Zeit wie er in unsere kleine Stadt Liuzhen eingefallen waren, 876
hatten sofort angefangen herumzuschlafen, mit den Juroren, mit den Leitungskadern des Organisationskomitees, mit Glatzkopf-Li, mit Presse-Liu und, und, und - es war eine einzige Bumserei gewesen. Und alle, alle fielen auf Jungfrauen herein, die gar keine mehr waren, auf »Kopien«, die sich hatten operieren lassen, oder auf »Imitate«, die mit künstlichen Jungfernhäutchen arbeiteten. Es gab nur einen Einzigen, der mit einem »Original«, mit einer echten Jungfrau der einzigen in unserer kleinen Stadt Liuzhen, Su Mei nämlich - ins Bett ging (und sie auf diese Weise ebenfalls zu einer gewesenen Jungfrau machte). Dieser Mann war Zhou You. Als sich fünf Monate nach seiner Abreise Su Meis Bauch zu wölben begann, saß sie zwar nach wie vor an der Kasse, unterhielt sich aber nicht mehr mit den Kellnerinnen und auch nicht mit den Gästen der Imbissstube. Zhou Yous sang- und klangloses Verschwinden hatte ihr fast das Herz gebrochen. Seither war ihre frühere Heiterkeit dahin, sie war nur noch traurig. Auch ihre Mutter seufzte jetzt viel und starrte häufig abwesend vor sich hin. Manchmal vergoss sie heimlich bittere Tränen. Warum nur musste ihr eigenes Schicksal sich auf so grausame Weise wiederholen? Mit der Zeit verloren die vielen Neugierigen, die sich anfangs so erregt hatten, das Interesse am Aufspüren von Su Meis Verführer. Es hieß jetzt allgemein, Mutter Su sei schließlich auch so eine gewesen, und man habe auch bei ihr nie erfahren, wer sie dick gemacht hatte. Jetzt sei eben Su Mei geschwängert worden, wieder von einem geheimnisvollen Fremden, und habe wie ihre Mutter ebenfalls eine Tochter zur Welt gebracht.
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Selbst als bekannt wurde, wie das Kind heißen sollte - Su Zhou, eine Kombination der Familiennamen seiner Eltern -, vermutete niemand in Zhou You den Vater. Für die Umstände der Geburt interessierten sich die Leute kaum noch, umso lebhafter spekulierten sie jedoch über die Zukunft des Säuglings: Als Erwachsene würde die kleine Su Zhou später einmal bestimmt ebenso wie ihre Großmutter und Mutter auf geheimnisvolle Weise schwanger werden. Weltklug, wie sie nun einmal waren, sagten die Leute: »Das ist eben Schicksal.« XL Den durchschlagenden Erfolg, den der Schwindler Zhou You mit den künstlichen Jungfernhäutchen in unserer kleinen Stadt Liuzhen erzielt hatte, gedachte er mit einem artverwandten Produkt zu wiederholen. Er und Song Gang begannen, von Schanghai aus in Orten an der Bahnstrecke nach Süden Pillen zur Penisvergrößerung zu verhökern, von denen es ebenfalls wieder zwei Sorten gab, Importware Marke »Apollo« und einheimische Pillen Marke »Zhang-Fei-derKühne« (benannt nach dem furchtlosen Recken aus der Zeit der Drei Reiche). Die beiden fuhren mit der Bahn von einer größeren Stadt zur nächsten und boten ihre Pillen jeweils in Bahnhofsnähe, am Hafen oder in den Hauptgeschäftsstraßen feil. Zhou You, wie stets in Anzug und Lederschuhen, stellte sich an diesen belebten Orten auf, »Apollo«-Pillen in der linken, »ZhangFei-der-Kühne«-Pillen in der rechten Hand, und begann, die Werbetrommel zu rühren: »Welcher Mann hätte nicht gern einen großen Penis?«, brüllte er, um den Verkehrslärm zu 878
übertönen. »Welcher Mann möchte nicht gern zeigen, wie viril und potent er ist? Leider, leider haben aber viele Männer einen ganz kleinen Penis. Das gibt es öfter, als man denkt... « Die Packungen hin- und herschwenkend, damit die Umstehenden das Klappern der Pillen in den Pillengläsern hören konnten, erklärte er, die »Zhang-Fei-der-Kühne«-Pillen in seiner rechten Hand seien ein wahres Kleinod der traditionellen chinesischen Medizin. Sie seien nach Rezepten aus den Arzneibüchern der Ming- und Qing-Kaiser, die heute im Palastmuseum in Peking aufbewahrt würden, neu entwickelt worden, wobei man die Originalrezepte selbstverständlich optimiert habe. Die »Apollo«-Pillen in seiner linken Hand dagegen seien beste Importware, der ganze Stolz ihrer ausländischen Hersteller. Es handele sich dabei um ein innovatives Produkt, eine Weiterentwicklung der berühmten »BigBrother«-Pillen, des Verkaufsschlagers aus dem Hause pfizer. Dank Gen- und Nanotechnologie sei die Wirkung jetzt noch zusätzlich verbessert worden. Wie die Straßenhändler in früheren Zeiten ihre Rassel schwenkten, so schwenkte Zhou You jetzt die Pillengläser. Die Pillen, vertraute er seinen Zuhörern an, würden den Penis nicht nur länger und dicker machen, sondern auch ausdauernder! Nach lediglich zwei bis drei Behandlungszyklen, dafür könne er garantieren, sei jeder Mann ein »spitzenmäßiger Hengst«. Was Zhou You für ein Mensch war, hatte Song Gang mittlerweile durchschaut. Als sich der Überlandbus, mit dem sie in unserer kleinen Stadt Liuzhen losgefahren waren, auf der Hochstraße seinem Ziel, dem Busbahnhof von Schanghai, näherte, hatte Zhou You plötzlich mit einem Ruck Song 879
Gangs Mundschutz heruntergerissen und aus dem Fenster geworfen, wo er in den Zweigen eines Baumes hängen blieb. Niemand hier wisse von seiner Krankheit, also sei er gesund!, sagte er. Song Gang atmete die Schanghaier Luft ein und drehte sich nach seiner Gazemaske um, die im Wind schaukelte. Gleich darauf fuhr der Bus um eine Kurve, und der Mundschutz war verschwunden. Ein paar Tage nach ihrer Ankunft in Schanghai war ihm dann vollends klar geworden, was für ein Gauner Zhou You war. In einem Vorort waren sie durch ein Gewirr enger Gassen endlich zu einem mit gefälschten Zigaretten und Spirituosen voll gestopften unterirdischen Lager gelangt, wo Zhou in einer dunklen Ecke zwei große Kartons Pillen zur Penisvergrößerung kaufte. Dann hatten sie, der eine mit »Apollo«, der andere mit »Zhang-Fei-der-Kühne« unter dem Arm, den Zug nach Süden bestiegen. Das war der Beginn von Song Gangs Karriere als Quacksalber, die am Ende länger als ein Jahr dauern sollte. Auf den Bänken in der »harten Sitzklasse« des Zuges saßen dicht gedrängt Wanderarbeiter, die nach Süden unterwegs waren, in die Provinz Guangdong oder von dort aus weiter auf die Insel Hainan. Es waren alles unverheiratete junge Männer vom Dorf, an deren unterschiedlichen Dialekten man merkte, dass sie aus den verschiedensten Regionen des Landes kamen. Alle hatten die Hoffnung, genug Geld zu verdienen, um möglichst bald wieder nach Hause zurückkehren und eine Familie gründen zu können. Zhou You, der mit einem distanzierten Lächeln zwischen diesen Männern saß und ab und zu mit dem einen oder anderen ein paar Worte wechselte, schaute immer mal wieder kurz nach oben, wo im Ge880
päcknetz die beiden Kartons mit den Pillen zur Penisvergrößerung lagen. Song Gang schien der Anblick des geschniegelten Zhou inmitten all dieser Wanderarbeiter regelrecht lächerlich. Als sich zwei von den Männern erkundigten, in welcher Branche Zhou tätig sei, antwortete dieser mit einem Seitenblick auf Song Gang einsilbig »Gesundheitspflegemittel«, war ihm doch klar, dass die Wanderarbeiter nicht genug Geld hatten, um von ihm betrogen zu werden, er sich mithin alle weiteren Worte sparen konnte. Song Gang wusste jetzt, alles, was Zhou You in Liuzhen gesagt hatte, war erstunken und erlogen. Während er niedergeschlagen auf die endlosen Felder starrte, die am Zugfenster vorbeizogen, fragte er sich voller Unruhe, wie es weitergehen sollte. Hatte es überhaupt einen Sinn, noch länger mit diesem Schwindler herumzuziehen? Er vermochte es nicht zu sagen. Wenn er daran dachte, dass Zhou You in Liuzhen ja tatsächlich Unsummen verdient hatte, machte er sich wieder Hoffnungen, schnell viel Geld zusammenzukriegen und dann sofort nach Hause zurückzukehren. Ihm schwebten 100000 Yuan vor, das würde reichen, um Lin Hong in Zukunft ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen. Für Lin Hong, sagte sich Song Gang, würde er alles tun - alles! Nachdem er jahrelang ständig durch den von Spucke feuchten Mundschutz geatmet hatte, kam ihm jetzt, ohne die Gazemaske, die Luft unangenehm trocken vor. Er war nie sehr redselig gewesen, seit er aber Komplize eines Lügners und Betrügers war, verstummte er immer mehr. Oft wachte er mitten in der Nacht auf, dachte daran, unter welchen Umständen er Liuzhen verlassen hatte, und stellte sich vor, wie 881
sich Lin Hong fühlen müsse, wenn sie abends in die leere Wohnung zurückkam. Dann füllten sich seine Augen mit Tränen. Oftmals, wenn er im ersten Licht der aufgehenden Sonne in irgendeiner fremden Stadt aus seinem Gasthof trat und wieder einen ganzen langen Tag auf fremden Straßen vor sich hatte, überkam ihn plötzlich der Impuls, auf der Stelle nach Liuzhen zu fahren, zurück zu Lin Hang. Doch das war unmöglich - »der Baum war schon zum Boot geworden«. Song Gang sagte sich, er könne nicht mit leeren Händen zurückkommen, müsse auf jeden Fall erst einmal genug Geld verdienen. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen und weiter mit dem Schwindler Zhou herumzuziehen. Er betrachtete sehr oft jenes Foto, das ihn mit Lin Hang zusammen zeigte. Wie schön war ihr gemeinsames Leben doch gewesen! Und jenes Fahrrad Marke »Ewig«, das war das Symbol ihres Glücks. In den ersten Monaten war dieses Foto Song Gangs moralischer Halt, doch nach einem halben Jahr wagte er nicht mehr, es hervorzuholen, denn sobald ihn Lin Hang auf dem Foto mit ihrem hinreißenden Lächeln anschaute, erwachte die Sehnsucht aufs Neue in ihm, und er konnte kaum der Versuchung widerstehen, auf der Stelle nach Liuzhen aufzubrechen. Daher versteckte er das Foto nun ganz zuunterst unter seinen Sachen und versuchte, nicht mehr daran zu denken. Innerhalb von zwei Monaten besuchten die bei den fliegenden Händler fünf verschiedene Städte. Wenn Zhou You seine Ware ausrief, erinnerte er eher an einen Wegelagerer als an einen Händler. Obwohl er auf jeden, den er zu fassen kriegte, stundenlang einredete, obwohl er sich die Kehle aus dem 882
Hals schrie - er verkaufte letztlich nicht mehr als elf Packungen, fünf »Apollo« und sechs »Zhang-Fei-der-Kühne«. Song Gang wandte eine andere Taktik an. Eine Packung Pillen zur Penisvergrößerung in der Hand wie einst die YulanKnospen in Liuzhen, fragte er jeden erwachsenen Mann, der des Weges kam, höflich: »Benötigen Sie vielleicht Vergrößerungspillen ?« »Was für Vergrößerungspillen?« Song reichte dem Frager lächelnd die Gebrauchsanleitungen für beide Sorten, wartete, bis er sie zu Ende gelesen hatte, und überließ ihm die Entscheidung, ob er die Pillen vielleicht einmal ausprobieren sollte. Manche Männer lasen die Gebrauchsanleitungen sogar mehrmals durch, kauften dann aber doch nichts. Zhou You fand, Song Gang lasse sich zu viele Verkaufschancen entgehen, aber der widersprach. Er sagte, die Wirkung der Pillen sei ohnehin sehr zweifelhaft, und wenn er die Leute mit zu viel Zureden unter Druck setzte, würden sie erst recht misstrauisch. Es sei daher besser, zuerst die Schlinge etwas locker zu lassen, umso fester könne man sie später zuziehen. Der Erfolg gab ihm recht: In diesen zwei Monaten verkaufte er mit seiner Taktik der lockeren Schlinge dreiundzwanzig Packungen Pillen, doppelt so viele, wie Zhou You mit seiner Wegelagerei abgesetzt hatte. Der Schwindler sah Song Gang auf einmal mit ganz anderen Augen; er betrachtete ihn jetzt nicht mehr als Helfer, sondern nannte ihn großartig »Partner«. In Zukunft würde er ihm die Finanzen rückhaltlos offenlegen und die Einnahmen im Verhältnis zwei zu acht mit ihm teilen, acht Teile für ihn, zwei Teile für Song Gang. 883
Eines Abends, in einem kleinen Gasthof irgendwo in der Provinz Fujian, in einem Kellerzimmer, rechnete Zhou seinem Partner mit sorgenvoll gerunzelter Stirn vor, sie hätten in den letzten zwei Monaten lediglich dreiunddreißig Packungen Pillen verkauft, und der Erlös sei vollständig für Übernachtung und Essen draufgegangen, obwohl sie in den billigsten Absteigen übernachteten und sich äußerst spartanisch ernährten. Song Gang hörte sich alles mit abwesenden Augen an. Er dachte an seine einsame Frau daheim in Liuzhen. Erst nach geraumer Zeit fing er langsam an zu reden. Er erzählte Zhou von seinen Erfahrungen als Blumenverkäufer. Damals habe er festgestellt, dass er mehr verkaufe, wenn er sich nicht auf die Straße, sondern vor die Tür eines Kleiderladens stelle. Warum? Weil alle Mädchen, die sich gern schmückten, dort einkauften und dann beim Hinausgehen schnell noch ein Paar duftende Yulan-Knospen mitnahmen. »Das leuchtet mir ein«, sagte Zhou You kopfnickend. »Aber wo finden wir die Männer? Solche, die gern ein >spitzenmäßiger Hengst< wären?« Song Gang überlegte. »Im Badehaus. Da siehst du mit einem Blick, bei wem er kurz und dünn ist«, sagte er schmunzelnd. »Das ist ja überhaupt wahr!«, freute sich Zhou You. »Da hast du die Zielscheibe sozusagen direkt vor Augen, wenn du den Pfeil abschießt.« »Aber der Eintritt fürs Bad kostet Geld«, wandte Song Gang zögernd ein. »Das ist eine notwendige Ausgabe - ohne Einsatz kein Gewinn!«, erwiderte Zhou You entschieden. »Wir machen das!« 884
Gesagt, getan. Mit je zehn Packungen »Apollo« und »Zhang-Fei-derKühne« bewaffnet, begaben sich die beiden in ein »Badezentrum« in der Nähe ihres Gasthofs. Sie zogen sich aus und verstauten die Pillen zusammen mit ihren Anziehsachen im Umkleidespind. Das Bad war zwar keineswegs luxuriös, dennoch hatte es zu Song Gangs Überraschung drei große Becken, in der Mitte eins mit klarem Wasser, rechts und links daneben ein »Milchbad« und ein »Rosenbad«. Zhou setzte sich zunächst in das Milchbad, und Song tat es ihm nach. Den Blick auf ein paar Männer unter der Dusche gerichtet, flüsterte Zhou seinem Partner zu, da sie einmal das Geld ausgegeben hätten, könnten sie sich jetzt auch etwas dafür gönnen. Song Gang nickte und streckte sich im Wasser aus. »Ist das wirklich Milch?«, fragte er leise. »Aufgelöstes Milchpulver!«, antwortete Zhou You, der sich auszukennen schien. »Minderwertiges Milchpulver.« Nach einer halben Stunde in der minderwertigen Milch erhob er sich und ließ sich genüsslich im Rosenbad nieder. Song Gang, der nicht allein im Milchbad zurückbleiben wollte, ging ihm hinterher und setzte sich ebenfalls in das von lauter Rosenblättern bedeckte Wasser. Er schöpfte eine Handvoll Blätter heraus und bemerkte dabei, dass das Wasser ganz rot war. »Kommt das alles von den Blütenblättern?«, fragte er erstaunt. »Das ist rote Tinte«, entgegnete Zhou Yu gelassen. »Die gießen einige Flaschen rote Tinte rein und streuen ein paar Rosenblätter drauf, fertig ist das Rosenbad!« Als Song Gang das hörte, stand er hastig auf und wollte gehen, aber Zhou You hielt ihn zurück, er solle sich wieder hin885
setzen. Selbst wenn das Rosenbad nur Tinte sei, meinte er, besser als klares Wasser sei es allemal. Dann zog er den Dampf ein, der aus dem Becken aufstieg, und sagte befriedigt: »Ein paar Tropfen Rosenessenz sind auch drin.« Die bei den hatten sich gerade der Länge nach in dem rot gefärbten Wasser ausgestreckt und begonnen, mit halb geschlossenen Augen die wohlige Wärme zu genießen, als ein gut gebauter Mann mit hin- und herschwingendem Riesenpenis vorbeikam. Hinter ihm her lief ein ebenfalls riesiger Wolfshund. Zhou You warf einen Blick auf die Genitalien des Mannes und sagte leise: »Spitzenmäßiger Hengst!« Der Mann hatte bemerkt, es war von ihm die Rede, und blieb neben dem Klarwasserbecken stehen. »Was war das eben?«, rief er mit drohend erhobener Stimme. Dadurch fühlte sich sein Hund ermutigt loszubellen, woraufhin wiederum Song Gang vor Schreck zusammenfuhr, während Zhou You die Hand aus dem Rosenwasser zog und auf das Gemächt des Mannes zeigte: »Ich habe nur gesagt, Sie sind ein spitzenmäßiger Hengst ... « Der Mann sah an sich herunter und grinste geschmeichelt, dann sprang er in das Klarwasserbecken. Als wäre eine Wasserbombe detoniert, spritzte das Wasser nach allen Seiten, sogar Zhou You und Song Gang auf der entgegengesetzten Seite des Rosenbeckens bekamen die Tropfen noch ab. Nachdem sich der Mann in dem Wasser ausgestreckt und sich der Hund auf dem Beckenrand niedergelassen hatte, begann er, mit der Rechten seine Brust zu rubbeln, während er mit der linken Hand das Tier kraulte. Der Wolfshund hatte Augen wie ein Profikiller. Sie waren starr auf Zhou und Song gerichtet, sodass ihnen ganz anders wurde. Song Gang mur886
melte: »Wieso lassen die hier auch Hunde rein?« Allein das reichte schon, um das Biest wieder wütend losbellen zu lassen. Vor lauter Angst sagten die beiden kein Wort mehr und blieben stumm und bewegungslos im Wasser liegen. Mehrere nackte Männer mit weißen Badetüchern in der Hand kamen lachend und schwatzend herein und steuerten auf das Klarwasserbecken zu. Als sie den großen Wolfshund am Beckenrand erblickten, wurden sie vor Schreck kreidebleich und machten, dass sie wieder hinauskamen. Man härte, wie sie im Umkleideraum den Bademeister lautstark zur Rede stellten: Wieso dürfen auch Hunde hier baden?! Noch dazu so ein verdammter Wolfshund! Der Hund hatte lauschend den Kopf Richtung Umkleideraum gedreht und begann nun wütend zu bellen, woraufhin draußen sofort tiefe Stille eintrat. Dann stahl sich der Bademeister vorsichtig herein und näherte sich dem Hundebesitzer bis auf fünf Meter. »Hallo! Sie da! ... «, rief er leise. Eigentlich hatte er vor, den Mann zu bitten, seinen Hund hinauszuschaffen, aber bei dessen bedrohlichem Gebell wich er vor lauter Angst immer weiter zurück und verschwand schließlich unverrichteter Dinge wieder im Umkleideraum. Zhou You nutzte die Gelegenheit, um vorsichtig aus dem Becken zu steigen, aber kaum stand er auf der Treppe, drehte der Hund sich zu ihm um, erhob sich wachsam und bellte ihn an. Unsicher, wie er sich verhalten sollte, schaute Zhou mit Hilfe suchendem Lächeln zu dem Besitzer des Hundes hinüber. Der Mann tätschelte das Tier und brachte es so dazu, dass es sich wieder hinlegte. Unterdessen ging Zhou mit gespielter Lässigkeit, aber angehaltenem Atem die Stufen hinunter auf eine Holztür zu, hinter der er blitzschnell ver887
schwand. Auch Song Gang bewegte sich langsam Richtung Beckenrand und lächelte dabei die ganze Zeit den wachsamen Vierbeiner, dessen Augen unverwandt auf ihm ruhten, freundlich an. Als er sich jedoch aufrichtete, sprang auch der Hund auf und fing an zu kläffen, wurde wieder von seinem Herrchen getätschelt und legte sich wieder hin, sodass Song Gang Gelegenheit hatte, schnell die Stufen herunterzuspringen und sich ebenfalls durch jene Tür zu retten. Hinter besagter Tür befand sich eine Sauna. Die Hitze in dem mit Holz ausgekleideten kleinen Raum, in dem Song Gang sich unversehens befand, nahm ihm den Atem. Er fragte Zhou You, der auf einer Bank hockte: »Wo sind wir hier hingeraten?« Zhou, dem der Schreck von eben immer noch in den Gliedern saß, antwortete mit gespieltem Gleichmut: »Das ist 'ne Sauna.« Schwer atmend ließ Song Gang sich neben ihm nieder. Als Zhou mit einer Holzkelle Wasser auf die heißen Steine im Heizofen schöpfte, stieg eine Wolke heißen Dampfes auf, die Song nach Luft schnappen ließ. Er sagte: »Hier drin ist es mir zu heiß.« Zhou You erwiderte herablassend: »Das muss so sein, dafür ist es eine Sauna.« Da öffnete sich die Holztür, und jener gut gebaute Mann kam herein - ohne seinen Hund, wie die beiden erleichtert feststellten. Als sich der Mann hinlegen wollte, sprangen sie sofort auf, damit er Platz hatte. Zufrieden nickend streckte er sich auf der obersten Bank aus, während sich Zhou und Song auf die unterste setzten. Nach einer Weile wurde Zhou You die Hitze zu viel. Er stand auf und murmelte, er ginge hinaus. 888
Als er die Tür aufmachte, lag draußen der Hund, der ihn drohend anknurrte. Erschrocken schloss er die Tür wieder und redete sich selbst gut zu: »Na ja, ein bisschen kann ich ja doch noch weiterschwitzen.« Eben wollte er wieder neben Song Gang Platz nehmen, da sagte der Mann auf der obersten Bank: »Gieß ein bisschen auf!« »Gut.« Zhou You schöpfte etwas Wasser auf die heißen Steine, und wieder stieg eine Dampfwolke auf, so heiß, dass Song Gang fürchtete, ohnmächtig zu werden. Er sagte zu Zhou: »Ich glaube, ich kann nicht mehr.« Zhou You schob ihn zur Tür: »Dann geh schnell raus.« Song Gang, der ja gesehen hatte, dass draußen der Wolfshund lauerte, öffnete todesmutig die Tür. Der Hund sprang sofort auf und begann zu bellen, als wollte er im nächsten Moment nach seinem Gemächt schnappen. Instinktiv bedeckte er seine Genitalien mit der Hand, drückte schnell die Tür wieder zu und setzte sich mit einem resignierten Lächeln wieder hin. Den bei den war längst ganz schwindlig von der Hitze in der Sauna, doch blieb ihnen nichts anderes übrig, als sitzen zu bleiben und sich weiter dämpfen zu lassen. Alles besser als das Biest draußen vor der Tür! Vor dem fürchteten sie sich mehr als vor einem Erdbeben. Ihre einzige Hoffnung war, dass der Hundebesitzer bald hinausgehen und das Tier mitnehmen würde, doch danach sah es gar nicht aus - der Mann fühlte sich offenbar pudelwohl und fing sogar an, vergnügt vor sich hin zu pfeifen. 889
Zhou You dachte, wenn er jetzt nicht sofort hinausginge, würde er die Sauna nicht mehr lebend verlassen. Er erhob sich und wankte zu dem Hundebesitzer. »Hallo, Sie!«, rief er. Das Pfeifen verstummte. Der Mann riss die Augen auf und sah Zhou You fragend an. Am Ende seiner Kraft, sagte dieser: »Ihr Leibwächter ... « Der Mann verstand nicht: »Was für ein Leibwächter?« »Na, der Hund! Er wacht vor der Tür. Wir können nicht raus.« Der Mann grinste. »Gieß noch mal Wasser auf«, sagte er. Zhou You wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und schöpfte gehorsam eine Kelle Wasser auf die heißen Steine. Abermals wallte Dampf auf. Song Gang war einer Ohnmacht nahe. Zhou You trat wankend einen Schritt vor und meldete: »Ich hab den Aufguss gemacht.« »Gut. Dann könnt ihr ja gehen.« »Aber Ihr Wachhund ... « Da erst bequemte sich der Mann aufzustehen. Grinsend führte er seinen Hund zur Seite, sodass Zhou und Song hinaus konnten. Er selber streckte sich abermals in der Sauna aus, und sein Hund bezog wieder seinen Posten vor der Tür. Zhou und Song hatten das Gefühl, mit knapper Not dem Tode entronnen zu sein, als sie endlich im Umkleideraum waren. Nachdem Zhou You acht und Song Gang sieben Becher kaltes Wasser hinuntergestürzt hatten, blieben sie erschöpft eine Viertelstunde mit hängenden Köpfen auf der Bank sitzen, bis sie sich einigermaßen erholt hatten. Erst dann zogen sie die vom Badehaus gestellten Pyjamas an und rückten mit ihrer schwarzen Tasche voller Pillen in den Ruheraum ein. 890
Dort befanden sich etwa zwei Dutzend Gäste. Manche waren mit Fußpflege, andere mit Fußreflexzonenmassage beschäftigt oder schauten sich im Kassettenfernsehen ein Fußballspiel an. Zhou You gab Song Gang mit den Augen ein Zeichen, dann setzten sich beide in entgegengesetzter Richtung in Bewegung. Song Gang wählte ein Ruhebett neben einem Mann mittleren Alters, der Fußball guckte. Nachdem er geduldig die Halbzeitpause abgewartet hatte, holte er eine PillenGebrauchsanleitung hervor und reichte sie dem Mann. »Vielleicht nehmen Sie sich einen Moment Zeit hierfür?«, sagte er höflich. Der Mann stutzte erst, las dann aber tatsächlich das Blatt aufmerksam durch. Als er mit »Zhang-Fei-der-Kühne« fertig war, gab ihm Song Gang auch noch die »Apollo«Gebrauchsanweisung, die der Mann ebenfalls gewissenhaft studierte. Anschließend blickte er sich um, ob ihn jemand beobachte, und fragte flüsternd: »Was kostet die Packung?« Zhou You bevorzugte wie stets die direkte Methode. Je eine Packung Pillen aus einheimischer und ausländischer Produktion in der Hand, fragte er grinsend den neben ihm liegenden jungen Mann: »Wären Sie gern ein spitzenmäßiger Hengst?« »Ein was?!« Während Zhou auf ihn einzureden begann, drückte er dem jungen Mann die bei den Sorten Pillen in die Hand. Der drehte sie unschlüssig hin und her, dann zog er das Gummibund seiner Pyjamahose nach vorn und schaute prüfend auf sein bestes Stück. Zhou You, der bei dieser Gelegenheit ebenfalls einen Blick riskiert hatte, meinte: »Ein Hengst sind Sie, aber noch kein spitzenmäßiger.« 891
Der junge Mann sah ihn misstrauisch an. »Ist das auch kein gefälschtes Zeug?« »Das müssen Sie schon selbst ausprobieren«, erwiderte Zhou You lächelnd. In diesem Moment kam der Muskelmann mit dem Hund in den Ruheraum, was allgemeine Panik unter den Badegästen und devote Bemühungen der Angestellten auslöste, den Mann davon zu überzeugen, dass er seinen Hund draußen lassen müsse. Am Ende stimmte der zu, und der Hund legte sich brav vor die Eingangstür wie der sprichwörtliche Soldat, der ganz allein den Pass verteidigt, sodass 10000 ihn nicht einnehmen können. Die Badegäste im Ruheraum konnten nur geduldig darauf hoffen, dass sein Herrchen irgendwann einmal das Feld räumen würde. Für Zhou und Song war das ideal, denn so konnten sie sich in Muße einen der Badegäste nach dem anderen vornehmen und Werbung für ihre Pillen machen. Der Hundebesitzer, der beobachtete, wie die beiden mit den anderen Männern tuschelten, ihn selbst aber links liegen ließen, wurde neugierig und rief Zhou You zu sich. Was er eigentlich treibe, wollte er wissen. Zhou You zeigte ihm die beiden Pillenpackungen und sagte schmeichlerisch: »Sie brauchen die nicht!« Der Hundebesitzer las die Gebrauchsanleitungen von »Apollo« und »Zhang-Fei-der-Kühne«, dann fragte er Zhou mit seiner dröhnenden Stimme: »Wer sagt denn, dass ich die nicht brauche? Ein Starker kann ja wohl noch stärker werden!« »Das haben Sie schön gesagt«, erwiderte Zhou You. Auf die anderen Männer im Ruheraum deutend, flüsterte er ab-
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schätzig: »Für die da sind die Pillen sozusagen Hilfe in der Not, Ihnen dagegen verleihen sie zusätzlichen Glanz.« Der Muskelmann lächelte geschmeichelt. »Ich nehme zwei Packungen«, sagte er. »Zwei Packungen reichen nur für einen Behandlungszyklus«, belehrte ihn Zhou. »Wirken tun die Pillen erst nach zwei oder drei Zyklen.« »Dann nehme ich acht«, sagte der Mann ohne zu zögern. »Gut.« Zhou You nickte befriedigt. »Möchten Sie die Importpillen oder die anderen?« »Ich nehme vier Packungen von jeder Sorte.« Zhou You zögerte. Ganz der große Fachmann, riet er ihm davon ab zu mischen: »Die Importpillen wirken durch Genund Nanotechnologie, die einheimischen aber beruhen auf Rezepten der Ming- und Qing- Kaiser.« Der Mann zeigte auf seinen Hund an der Tür und sagte: »Die importierten sind für mich, die chinesischen kriegt er.« XLI Zhou You und Song Gang zogen weiter durch die Provinz Fujian und verkauften in den Badehäusern ihre Penisvergrößerungs-Pillen an Männer, die es offensichtlich nötig hatten und denen sie mittels geduldiger Überzeugung beziehungsweise großmäuliger Versprechungen klarmachten, wie ihr Problem zu lösen sei. Als sie von Fujian aus in die Provinz Guangdong weiterreisten, waren die beiden Kartons leer und alle Pillen verkauft. Zhou You zog Bilanz aus den fast fünf Monaten, die sie schon unterwegs waren, und stellte fest, dass das Ergebnis alles andere als zufrieden stellend sei. 893
Nicht genug damit, dass sie keinen Profit gemacht hätten wenn man die Kosten für Unterbringung und Verpflegung sowie die Fahrtkosten abziehe, hätten sie sogar noch zugezahlt. Er erinnerte sich wehmütig an den glänzenden Erfolg mit den künstlichen Jungfernhäutchen in Liuzhen und folgerte daraus, dass sie es lieber wieder mit Gesundheitspflegemitteln für Frauen versuchen sollten. Frauen seien einfach eher bereit als Männer, Geld für so etwas auszugeben. Folglich begannen die bei den nach ihrer Ankunft in Guangdong, Brustvergrößerungscreme Marke »Busenwunder« zu verkaufen. Song Gang, inzwischen schon ein halbes Jahr von zu Hause fort, hatte während der Zeit in Fujian dreimal mit Lin Hong telefoniert, stets nach Sonnenuntergang und immer von einem Kiosk aus. Bei diesen Gelegenheiten stand er auf der Straße vor dem Laden, eingehüllt vom Staub und den lauten Gesprächen der Passanten in ihrem seltsamen HakkaDialekt, hielt den Hörer mit beiden Händen umkrampft, als fürchte er, er könnte ihm entrissen werden, und stotterte konfuses Zeug in die Sprechmuschel, während am anderen Ende der Leitung Lin Hong ihn mit schriller Stimme immer wieder aufforderte, sofort nach Hause zu kommen. Zwischendurch erkundigte sie sich allerdings auch genauso eindringlich nach seinem Befinden. Song antwortete dann stets, es gehe ihm gut, seine Lunge sei wieder in Ordnung. Mit schwacher Stimme, die eher an das Summen von Mücken denken ließ, sagte er »Ich huste nicht mehr«, musste seine Worte jedoch mehrmals wiederholen, bis Lin Hong ihn endlich verstanden hatte und ins Telefon rief: »Nimmst du auch deine Medizin?« 894
Er antwortete leise »Nein.«, aber da hatte er schon aufgelegt. Danach stand er doppelt verloren auf der hell erleuchteten Straße, sah die vielen fremden Gesichter, hörte ihre unverständliche Sprache und ging schließlich kopfschüttelnd langsam wieder in seinen schäbigen Gasthof zurück. Im Zimmer saß dann Zhou You im Schneidersitz auf dem Bett und sah fern, eine südkoreanische Serie, die ihn stets zu Tränen rührte. Während der Zeit in der Provinz Fujian sah er drei und eine halbe Serie aus Korea. Die fehlende Hälfte der vierten wollte er eigentlich in Guangdong nachholen, doch konnte er sie zu seiner Verwunderung trotz intensiver Suche auf keinem Kanal finden, sodass er erst ein bisschen auf Kantonesisch herumfluchte, um sich dann nolens volens wieder auf den Vertrieb der Brustvergrößerungscreme zu konzentrieren. Nachdem die beiden monatelang nur den Hakka-Dialekt zu hören bekommen hatten, mussten sie sich jetzt an das Kantonesische gewöhnen. Ob es an der Sprache lag, dass sie in allen fünfzehn von ihnen besuchten Orten nicht mehr als ein Dutzend Packungen »Busenwunder« verkauften? Aus lauter Verzweiflung verfiel Zhou You sogar auf die Idee, Kosmetiksalons die Creme verbilligt anzubieten, musste jedoch feststellen, dass die alle selber solche Cremes im Angebot hatten. Er versuchte es schließlich in Apotheken und auf Märkten, aber auch da war es nicht anders; die beiden sahen dort mehr als hundert verschiedene Sorten Brustvergrößerungscreme, alle sogar noch billiger als ihr eigenes »Busenwunder«. Ihre Lage schien tatsächlich ausweglos. Sie irrten hektisch durch die fremden Straßen all der fremden Städte, planlos 895
wie zwei kopflose Fliegen. Vor allem wenn sie an eine Kreuzung kamen, sahen sie mutlos erst hierhin, dann dorthin, um schließlich einander zu fragen, in welche Richtung sie weitergehen sollten. Zhou You hatte inzwischen jegliches Zutrauen zu sich selbst als Verkäufer verloren und schickte Song Gang vor, wenn er eine potenzielle Käuferin erblickte. Während er selbst wie ein Wachtposten stocksteif stehen blieb, näherte sich Song Gang dann der jungen Frau und fragte zuvorkommend: »Benötigen Sie vielleicht Brustvergrößerungscreme? « Die angesprochenen Frauen reagierten alle ähnlich. Als hätten sie einen Straßenräuber vor sich, pressten sie ihre Handtaschen fest an sich und machten, dass sie weiterkamen. Eine hübsche junge Frau hatte Song Gangs Frage nicht verstanden, blieb stehen und fragte zurück: » Was soll ich benötigen?« Song Gang sagte: »Brustvergrößerungscreme. Damit Ihr Busen größer und straffer wird.« Dabei illustrierte er seine Worte mit einer entsprechenden Geste. »Verdammter Sittenstrolch!«, schrie die Frau. Noch im Weggehen schimpfte sie wie ein Rohrspatz, sodass die Passanten stehen blieben und Song Gang neugierig anstarrten. Mit roten Ohren ging er verlegen lächelnd zu Zhou You zurück. Der tat so, als wäre gar nichts passiert. Der Schwindler hatte inzwischen im Provinzfernsehen von Guangdong eine neue koreanische Serie entdeckt. Wenn er nach einem weiteren Tag voller Misserfolge abends in den Gasthof zurückkehrte, kamen seine Lebensgeister sogleich wieder in Schwung. Schon eine Stunde vor Beginn der Sendung setzte er sich auf dem Bett in Positur, die Fernbedie896
nung in der Hand. Song Gang schickte er hinaus, damit er ihn nicht beim Genuss der koreanischen Seifenoper störe. Zur Not könne er auch im Zimmer bleiben, wenn er zum Spazierengehen keine Lust habe, gestand er ihm großmütig zu, schärfte ihm aber ein, sich ja nicht zu mucksen. Song Gang wanderte jedoch lieber ziellos durch die fremde Stadt und schaute in die erleuchteten Fenster all der vielen Wohnhäuser. Schließlich blieb er stehen und beobachtete, an einen Straßenbaum gelehnt, wie in einer Wohnung ein junges Paar hin- und herlief. Mal sah er den Mann, mal die Frau, mal alle beide. Lange Zeit stand er so und starrte auf das hell erleuchtete Fenster, bis beide zusammen den Vorhang zuzogen, sie von der einen, er von der anderen Seite, und sich küssten, als sie in der Mitte zusammenkamen. Diese harmlose kleine Szene rührte ihn zu Tränen. Wie sehr sehnte er sich nach seiner Lin Hong, die so unerreichbar weit weg war! Wie gern hätte er Flügel gehabt, um auf der Stelle nach Liuzhen zu fliegen! Wann würde er endlich genug Geld verdient haben, um in die Heimat zurückkehren zu können? Traurig musste er sich eingestehen, dass dieser Tag wohl immer mehr in weite Ferne rückte. Als Zhou You in Guangdong vier südkoreanische Serien geguckt hatte und keine Weiteren mehr fand, war er stinksauer. Song Gang und er befanden sich inzwischen an einem Ort an der Küste. Ihr Zimmer lag im ersten Stock eines verkommenen kleinen Gasthofs. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite baumelte ein Reklameschild, auch eine Werbung für Brustvergrößerungscreme. Auf der Werbetafel rekelte sich jedoch keine rassige Schönheit, sondern ein muskelbepackter Hüne mit üppigem Busen, der stolz einen roten Büsten897
halter und unten herum einen roten Tangaslip trug. Zhou You in seiner Wut bemerkte dieses Schild gar nicht. Als der Schwindler sich endlich damit abfand, dass es wirklich und wahrhaftig keine koreanische Seifenoper mehr zu sehen gab, setzte er sich missmutig auf das Bett und wandte seine Aufmerksamkeit notgedrungen endlich einmal wieder der Brustvergrößerungscreme Marke »Busenwunder« zu. Er tippte eifrig auf seinem Taschenrechner herum, und als er nach einer halben Stunde mit kummervoller Miene wieder aufschaute, sagte er nur einen Satz: »Es ist aus!« Song Gang hatte das längst geahnt. Während ihrer Irrfahrt, die nun auch schon wieder sechs Monate andauerte, hatten sie lediglich ein gutes Dutzend Packungen von der Creme absetzen können. Zhou You hatte sich die ganze Zeit wie ein liebeskranker Herrscher benommen, der über seiner Geliebten die Staatsgeschäfte vernachlässigt. Jetzt, da keine koreanischen Serien mehr seine Aufmerksamkeit gefangen nahmen, war er gezwungen, sich wieder mit der grauen Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Er sagte zu Song Gang, wenn es ihnen nicht gelänge, innerhalb eines Monats den gesamten Bestand an Brustvergrößerungscreme abzusetzen, stünde ihnen nur noch der Weg zum Gericht offen. »Wieso zum Gericht?«, wollte Song wissen. Zhou You zog mit beiden Händen seine Krawatte fest und sagte, dem Direktor eines von Schließung bedrohten Staatsbetriebs nicht unähnlich: »Um Insolvenzschutz zu beantragen.« Mit einem bitteren Lächeln dachte Song Gang, sogar jetzt, da ihm das Wasser bis zum Halse steht, hört dieser Kerl nicht auf, groß herumzutönen. 898
Genau in diesem Moment größter Ratlosigkeit fiel Zhou Yous Blick auf das Werbeschild auf der anderen Straßenseite. Er kniff die Augen zusammen, um den Muskelmann im Tanga besser zu sehen. »Der hat ja einen Bikini an!«, rief er verblüfft. Auch Song Gang bemerkte jetzt zum ersten Mal das Schild. Er war starr vor Staunen. Eine derart schockierende Werbung hatte er noch nie gesehen. »Ein Mann mit Brüsten ... So was hätte ich ja nie für möglich gehalten«, murmelte Zhou You vor sich hin. Plötzlich kam ihm eine Idee. Von der Werbetafel wanderten seine Augen zu Song Gang, den unter Zhous taxierendem Blick ein geradezu körperliches Unbehagen überkam. Song Gang sagte: »Was schaust du mich so an?« Zhou You seufzte: »Wenn du solche üppigen Brüste hättest, würde unser >Busenwunder< weggehen wie warme Semmeln.« Song Gang errötete und erinnerte dadurch den Schwindler ein wenig an ein schamhaftes Mädchen. Mit funkelnden Augen begann er voller Begeisterung, seinen Plan zu entwickeln: Song Gang solle sich einer Brustoperation unterziehen, und wenn er dann einen Prachtbusen habe, würde er genauso attraktiv wirken wie der Hüne auf der Werbetafel. Er setzte Song Gang geduldig auseinander, dass das eine harmlose Operation sei, die in jedem Krankenhaus ambulant gemacht werden könne. »Sie ist genauso einfach wie die operative Erneuerung des Jungfernhäutchens!« Song Gang starrte trübsinnig aus dem Fenster. Die Werbetafel auf der gegenüberliegenden Straßenseite, das hohe Gebäude darüber, den Himmel über dem Haus, das alles sah er 899
und sah es doch nicht, denn sein Blick war getrübt von Trauer und Verzweiflung. Er drehte sich um und sagte entschlossen: »Ich bin zu allem bereit, wenn es nur Geld bringt.« Zhou You hatte nicht damit gerechnet, dass Song Gang so schnell zustimmen würde. Aufgeregt sprang er auf und begann, im Zimmer hin- und herzulaufen. Dabei lobte er seinen Partner in den höchsten Tönen. In Zukunft, versprach er, würden sie die Einnahmen nicht mehr zwei zu acht teilen, sondern halbe-halbe machen. Zum Schluss sagte er gerührt: »Ich habe schon in Liuzhen gemerkt, dass du ein wahrer Freund bist!« »Ich tue es nicht für dich«, entgegnete Song Gang kopfschüttelnd, »sondern für Lin Hong.« Der Schwindler suchte mit Song eine Klinik für Schönheitschirurgie auf. Ein ganzes Jahr lang - während der gesamten Reise in den Provinzen Fujian und Guangdong - durch die endlosen koreanischen Seifenopern einschlägig vorgebildet, bestand Zhou dem Arzt gegenüber auf einer koreanischen Brustvergrößerungsoperation; etwas anderes käme überhaupt nicht infrage. Der Chirurg stellte drei Operationen, alle koreanisch, zur Auswahl: 1. Brustvergrößerung ohne Narbenbildung; 2. Brustvergrößerung mittels Implantat; und 3. Brustvergrößerung mittels Eigenfett. Bei der ersten Methode käme die innovative »Untouch«- Technik zum Einsatz, bei der nur ein minimaler Eingriff ohne Narbenbildung vorgenommen werde; daher würden selbst die nächsten Angehörigen von der Operation nichts mitkriegen. Die vergrößerte Brust wirke sehr natürlich 900
und lebensecht, fühle sich weich, elastisch und geschmeidig an und würde bei Bewegungen im Rhythmus der Schritte beziehungsweise sonstigen Tätigkeiten leicht und natürlich vibrieren. Das wirke besonders sexy und verführerisch und bringe das Liebesverlangen der Betreffenden zum Ausdruck wie bei Tausenden und Abertausenden anderen Frauen auch. Nach dieser Erläuterung erklärte Zhou You lächelnd: »Gut, wir nehmen diese Methode.« Etwas so Peinliches wie das Gespräch an diesem Nachmittag hatte Song Gang nie zuvor erlebt. Mit gesenktem Kopf saß er stumm da und musste mit anhören, wie Zhou You faselte, er - Song Gang - habe seit seiner Kindheit bis zum heutigen Tag stets davon geträumt, eines Tages im Körper einer Frau aufzuwachen. Der Arzt sah ihn immer wieder prüfend an, während er mit Zhou You das weitere Vorgehen besprach. Song Gang wechselte ständig die Farbe, als die beiden festlegten, dass zunächst seine Brust vergrößert würde und nach erfolgreicher Operation dann sukzessive Penis und Hoden entfernt, der Harnleiter verlegt und eine künstliche Scheide angelegt würden. Der Arzt verbürgte sich dafür, dass die Vulva täuschend echt aussehen, die Scheide tief und breit genug und die Klitoris reizempfänglich und voll funktional sein würden. Während Song die Übelkeit in Wellen überkam, fühlte Zhou sich in seinem Element, nickte eifrig zu den Worten des Arztes und schaute Song Gang immer wieder so liebevoll an, als wäre dieser wirklich schon in eine Frau verwandelt worden. Zum Schluss unterzog der Schönheitschirurg Song Gang noch einmal einer eingehenden Musterung und befand, der Patient benötige zur Feminisierung des Gesichts auch noch 901
eine Reihe von plastischen Operationen an Nase, Kiefer, Backenknochen und so weiter. Zhou You vereinbarte mit dem Arzt, dass drei Tage später die koreanische Brustvergrößerungsoperation ohne Narbenbildung vorgenommen würde. Beim Verlassen der Klinik für plastische Schönheitschirurgie sagte er freudestrahlend zu Song Gang: »Wenn du wirklich eine Frau bist, heirate ich dich! Ich werde dich heiß und innig lieben, genauso leidenschaftlich wie der Held in der koreanischen Serie die schöne Heldin!« Song Gang wurde aschfahl vor Wut. Er, der sonst nie schmutzige Wörter in den Mund nahm, brüllte: »Fick deine Mutter!« An einem trüben Vormittag verließen die beiden den schäbigen Gasthof und trotteten, vorneweg Zhou, Song Gang hinterher, die regennasse Straße entlang. Während Zhou mit Handzeichen versuchte, eins von den vorüberfahrenden Taxis zum Halten zu bewegen, blickte Song Gang auf die neblige See. Er hörte die Seevögel schreien, sah sie aber nicht. Drei Stunden später jedoch, als er unter der schattenfreien Lampe auf dem Operationstisch lag, der Arzt zwei violette Kreise auf seine Brust gemalt und er selbst die Augen geschlossen hatte und in die Narkose hinüberdämmerte, sah er im Geiste auf einmal einen einsamen Seevogel hoch über dem nebelverhangenen Meer durch die Luft gleiten. Seinen Schrei jedoch konnte er nicht hören. Der Arzt hatte Zhou You zwar erklärt, dass aufgrund des unterschiedlichen Körperbaus eine Brustvergrößerung bei Männern komplizierter sei als bei Frauen, doch verlief die Operation reibungslos und war nach nicht einmal zwei Stun902
den beendet. Song Gang blieb an diesem Tag zur Beobachtung in der Klinik, aber am nächsten Tag - das Wetter war immer noch regnerisch - fuhr er trotz der Schmerzen, die ihm die Wunden unter den Achseln bereiteten, mit dem Auto zurück in den kleinen Gasthof am Meer. Als er ausstieg und Zhou You das Taxi bezahlte, blickte er abermals gedankenverloren auf die neblige See, nahm aber überhaupt nichts mehr wahr, weder den Schrei eines Seevogels noch gar den Vogel selbst. Song Gang erholte sich sechs Tage lang in dem kleinen Gasthof. Jedes Mal wenn er durch das Fenster in den Regen schaute und den Hünen im roten Büstenhalter auf der Werbetafel mal mehr, mal weniger deutlich erblickte, verging er aufs Neue vor Scham, als wäre er selber der Mann auf der Tafel. Zhou You kümmerte sich mit großer Umsicht um ihn und erkundigte sich täglich, worauf er Appetit habe. Schließlich schrieb er kurzerhand die Speisekarten einiger kleiner Restaurants in der Nähe ab, damit Song Gang sich selbst etwas aussuche. Sobald er gewählt hatte - es waren stets die billigsten Gerichte -, griff Zhou You zum Telefonhörer und ließ die Speisen kommen. Dabei nahm er den M und sehr voll, sagte etwa blasiert: »Unser Generaldirektor, Herr Song, hat sich Abalone und Haifischflossen ein bisschen übergegessen. Bringen Sie einfach das Tofugericht, das Sie auf der Karte haben.« Aus Song Gang war also Generaldirektor Song geworden, ein Generaldirektor, dem plötzlich ein üppiger Frauenbusen gewachsen war. Nachdem die Fäden gezogen waren, kaufte Zhou You gut gelaunt einen roten Büstenhalter für ihn, 903
Körbchengräße D, die Größe, die auch die wirklichen Busenwunder trügen, wie er Song Gang erklärte. »Aber du bist ja selbst eins!«, sagte er schmeichlerisch. Song Gang, der mit einem Blick erfasst hatte, dass es der gleiche Büstenhalter war, wie ihn der Muskelmann von gegenüber trug, schleuderte ihn wütend auf den Fußboden. Zhou hob ihn jedoch wieder auf. »Rot sieht doch gut aus! Und fällt vor allem auf«, sagte er. Song Gang zischte nur: »Fick deine Mutter!« Da gab der Schwindler sofort nach. »Ich werde ihn umtauschen«, versprach er katzbuckelnd. »Ich weiß es ja eigentlich, du hast es gern ein bisschen dezenter. Keine Sorge, du bekommst einen weißen!« Fünf Tage später war das Regenwetter vorbei. Zhou You und Song Gang, der den weißen Büstenhalter unter dem Hemd trug, setzten mit dem Schiff auf die Insel Hainan über. Da sie in den sieben Monaten, die sie sich in Guangdong herumgetrieben hatten, kaum etwas von ihrer Brustvergrößerungscreme verkauft hatten, hielt Zhou You diese Provinz für einen unheilvollen Ort und hatte beschlossen, seinen großen Plan lieber auf der Insel in die Tat umzusetzen. Mit den Brust-Implantaten kam sich Song Gang ein bisschen vor, als befände er sich im Zustand der Schwerelosigkeit. Er lief unwillkürlich etwas vornübergebeugt (und bekam nach einiger Zeit einen Rundrücken). Als er auf dem Deck der Fähre stand, die Hand um die Reling gekrampft, sah er die Küste von Guangdong in der Ferne verschwimmen. Sosehr er das Gewicht des Kunstbusens spürte, in seinem Inneren herrschte eine große Leere. Was würde die Zukunft bringen? Er vermochte es nicht zu sagen. Inmitten der 904
Wellen und des gleißenden Sonnenlichts sah er zwischen Himmel und Meer Seevögel fliegen, wirkliche Seevögel, und hörte ihre wirklichen Schreie. Er musste an Lin Hong denken, wie sie am Telefon gerufen hatte »Komm zurück! Komm sofort zurück!«. Während das Schiff auf den Wellen hin und her geworfen wurde und der Seewind sein Haar zerzauste, verhallte Lin Hongs Ruf immer mehr, so wie die Schreie der Seevögel in der Ferne verwehten. Schon über ein Jahr war er jetzt von zu Hause fort! Bei diesem Gedanken traten ihm unwillkürlich Tränen in die Augen. Schon bei der Abreise in Liuzhen hatte er von dem Tag geträumt, da er wieder nach Hause könnte, doch nun entfernte er sich immer weiter von seiner Heimat. Zhou You und Song Gang begannen, auf der Insel Hainan die Brustvergrößerungscreme Marke »Busenwunder« feilzubieten. Sie gingen dabei genauso vor wie über ein Jahr vorher in Liuzhen, als sie sich auf die Straße gestellt hatten, um künstliche Jungfernhäutchen zu verkaufen. Song Gang, stumm wie ein Model auf dem Laufsteg, knöpfte sich das Hemd auf, sodass der weiße Büstenhalter und die beiden großen Brüste Körbchengräße D zu sehen waren, während Zhou You, schlagfertig, wie er war, sich lang und breit über die Vorzüge der Brustvergräßerungscreme Marke »Busenwunder« ausließ. Sie enthalte fünfunddreißig Prozent natürliche Vitamine, schwafelte er, und fünfundsechzig Prozent Wuchsstoffe, die ein n-faches Wachstum bewirkten, sodass sich die Brüste innerhalb weniger Tage um das n-fache vergrößerten. Dieses großartige Wachstumstempo sei noch nmal schneller als ein Buschfeuer. Die Vitamine wiederum sorgten für die Elastizität der Brüste und machten die Haut 905
schön glatt und zart. »Und natürlich enthält unsere Creme keinerlei Hormone, ist also in der Anwendung absolut sicher und zuverlässig«, schloss er. Nachdem er mit der Erläuterung der Creme selbst fertig war, kam er auf Song Gang und seine Brüste zu sprechen. Zunächst stellte er ihn den umstehenden Damen und Herren als Generaldirektor seiner Firma vor. Anschließend tischte er ein passendes Lügenmärchen auf: Brustvergrößerungscreme, davon gebe es bekanntlich auf dem Markt so viele Sorten wie Sand am Meer. Eine echte Wirkung aber hätten nur die allerwenigsten. Generaldirektor Song habe nun im Selbstversuch die Wirksamkeit der »Busenwunder«-Creme getestet, und tatsächlich, nach zwei Monaten ... An dieser Stelle hielt der Schwindler inne, um sich die Tränen der Rührung abzuwischen. Dann zeigte er auf Song Gang und fuhr fort: »Nach zwei Monaten war bei unserem Generaldirektor das männlich Kantige von einst dem weiblich Zarten gewichen, das Sie jetzt vor Augen haben... « Die Umstehenden fanden das überaus amüsant. Sie drängelten sich ganz nah an Song Gang heran und betrachteten ihn so neugierig, als wäre er ein Alien. Alle wollten seinen Busen aus der Nähe sehen und sich vergewissern, das er wirklich echt war. Einige von den Zuschauern, die offenbar kurzsichtig waren, kamen ihm mit ihren Mündern und Nasen so nahe, dass man fürchten konnte, sie würden im nächsten Moment zu saugen anfangen. Song Gang, bis über beide Ohren rot, ließ alles mit sich geschehen. Als allerdings eine von den zarten Damen so weit ging, ihn in die Brust zu zwicken, schlug er ihr doch zornig auf die Finger. Ein Mann sprang ihm so906
fort hilfreich bei: »Wie können Sie einem Mann an die Geschlechtsorgane fassen?!«, stellte er die Frau zur Rede. »Das sollen Geschlechtsorgane sein?«, fragte die zarte Dame erstaunt zurück. »Wenn die Brüste so groß sind, dass man davon einen Orgasmus kriegt, dann sind sie ein Geschlechtsorgan«, entgegnete der Mann. Er zeigte auf den zarten Busen der Frau und sagte: »Sind die vielleicht kein Geschlechtsorgan?« Sprach' s und fing ebenfalls an, Song Gangs Brust zu kneten. Der schlug seine Hand zur Seite und schubste ihn weg, sehr zur Genugtuung der umstehenden Frauen. Jemanden mit so großen Brüsten müsse man als Frau betrachten, meinten sie einhellig und fielen alle über den Mann her: »Wie können Sie einer Frau einfach so an den Busen grapschen?!« »Das soll eine Frau sein?«, staunte der Mann. »Sonst wären doch die Brüste nicht so groß!«, kam es von allen Seiten. An dieser Stelle schaltete Zhou You sich ein: »Mann oder Frau, darauf kommt es überhaupt nicht an.« Er hielt die »Busenwunder«Creme hoch. »Worauf es ankommt«, rief er, »ist vielmehr: Wer diese Creme hier benutzt, der bekommt den größten Atombusen der Welt!« Als Erste holte jene zarte Dame, die Song Gangs Busen betastet hatte, etwas verlegen ihre Börse hervor, kaufte zwei Dosen Creme und verließ anschließend fluchtartig den Ort des Geschehens. Einige Frauen mittleren Alters kauften als Nächste ein paar Packungen - »für meine Tochter«, hieß es beim Bezahlen. Danach fassten sich auch ein paar junge Frauen ein Herz und kauften die Creme, angeblich »für eine Freundin«. Schließlich griffen auch die Männer zu; sie be907
haupteten wahlweise, die Creme sei »für eine Freundin meiner Freundin« oder »für die kleine Schwester meiner Frau« bestimmt. Zhou You hatte alle Hände voll zu tun, um zu kassieren und die Ware auszugeben. Freudestrahlend stellte er fest, dass nach nicht einmal einer Stunde siebenunddreißig Packungen »Busenwunder« verkauft waren. Er hielt den Karton mit den restlichen Dosen hoch und rief mit lauter Stimme: »Siebenunddreißig Dosen haben schon ihren Besitzer gefunden. Wer will denn jetzt noch mal zugreifen?« Als er den Karton wieder abgestellt hatte, drängte sich ein Mann nach vorn und fragte ihn flüsternd: »Nützt die Creme auch etwas, wenn ich sie hier auftrage?« Dabei zeigte er auf seinen Schritt. »Sie meinen, auf den Penis?«, rief Zhou You mit lauter Stimme. »Natürlich nützt sie auch für den Penis!« »He, he, hel Vielleicht schreien Sie mal nicht so!«, ermahnte ihn der Mann leise. »Ich verstehe!« Zhou You nickte dem Mann zu, dann hielt er die Creme den umstehenden Männern hin. »Diese >Busenwunder<-Creme«, sagte er mit lauter Stimme, »die hat die gleiche Wirkung wie Pillen zur Penisvergrößerung. Der Penis wird länger und dicker - und ausdauernder. Aber man muss bei der Anwendung unbedingt sehr vorsichtig sein und sich streng an die Dosierungsvorschriften halten. Sonst wird er zu gewaltig, und dann ist er kein Penis mehr.« »Was ist er denn dann?«, fragte ein Mann belustigt. Zhou You überlegte einen Augenblick. »Wenn er zu gewaltig wird, dann ... Dann ist er eine Brust!«
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Er war überglücklich über seinen Absatzerfolg: achtundfünfzig Dosen Brustvergrößerungscreme schon am ersten Tag! Für Song Gang dagegen war dieser Tag ein einziges Martyrium gewesen. Das Hemd aufzumachen, damit fremde Männer und Frauen nach Herzenslust seine operierte Brust bewundern, manche sogar daran herumfingern konnten; sich anzuhören, wie sie sich lauthals darüber unterhielten, ob er ein Mann oder eine Frau sei - all das hatte ihn fast um den Verstand gebracht, und er hatte die Zähne fest zusammenbeißen müssen, um durchzuhalten. Als Zhou You bei Sonnenuntergang seine Sachen zusammenpackte und er sich endlich das Hemd wieder zuknöpfen konnte, kam er sich besudelt vor wie eine vergewaltigte Frau. Mit aschfahlem Gesicht lief er hinter dem Schwindler her ins Hotel zurück. Zhou You, der immerhin merkte, wie es Song Gang zumute war, tröstete ihn: »Hier kennt dich doch keiner!« Am nächsten Vormittag wiederholten die bei den in derselben Straße wie am Vortag ihre Darbietung, und Zhou verkaufte vierundsechzig Dosen Brustvergrößerungscreme. Am dritten Tag wäre eigentlich ein Ortswechsel fällig gewesen, aber das florierende Geschäft verführte den Schwindler dazu, alle Erfahrung in den Wind zu schlagen und noch einen weiteren Tag anzuhängen. Zur Mittagsstunde erschien in Begleitung eines grobschlächtigen Mannes jene zarte Dame, die am ersten Tag Song Gang an die Brust gefasst hatte. Der Mann, der an einen Schlächter erinnerte, baute sich vor Song Gang auf und betrachtete eingehend dessen Brüste. Zhou You pries gerade wieder vollmundig die »Busenwunder«-Creme an und hatte gar nicht bemerkt, dass die Lippen des Mannes rot und un909
förmig angeschwollen waren. Nachdem der Mann Songs Brüste ausgiebig begutachtet hatte, packte er Zhou You plötzlich am Schlafittchen und schrie ihn an, seine Creme sei giftig. Überrascht von dem unvermuteten Angriff des Mannes und den kaum verständlichen Beschimpfungen, die über seine wulstigen Lippen kamen, dauerte es eine Weile, ehe der Schwindler mitbekam, dass der Mann offenbar die Brustvergrößerungscreme auf seine Lippen aufgetragen hatte. Er riss sich los und stellte, ganz beleidigte Unschuld, den Mann zur Rede: »Wie können Sie aber auch Brustvergrößerungscreme als Lippenpomade benutzen! Das ist doch wirklich -« »Scheiße auch!«, schrie der Mann mit den wulstigen Lippen. »Ich werde doch deine Brustvergrößerungscreme nicht auf meinen Mund schmieren!« »Ja, was war es dann?«, fragte Zhou You verdutzt. Als der Mann die Antwort schuldig blieb, schaltete sich seine Frau mit niedergeschlagenen Augen ein: »Ich hatte sie aufgetragen-« Ohne sie ausreden zu lassen, unterbrach Zhou sie: »Aber warum denn auf seinen Mund?« Die Frau war jetzt über und über schamrot. Sie zeigte auf ihre Brust und sagte: »Hier habe ich sie aufgetragen. Ich hatte es ihm aber nicht gesagt, deshalb wusste er es nicht. Und so...« »Raus mit der Sprache!«, brüllte der Mann. »Ist sie giftig oder nicht?« »Sie ist nicht giftig! Die Wuchsstoffe haben gewirkt!« Zhou You zeigte auf den Kirschenmund des Mannes und wandte sich an die Umstehenden: »Sehen Sie selbst! Innerhalb von nur zwei Tagen ist sein Mund so schön prall und 910
voll geworden! Und beachten Sie auch den roten Warzenhof!« »Bloß, bei mir ist nichts prall geworden«, wandte die Gattin mit leiser Stimme ein. »Natürlich nicht! Die ganzen Wuchsstoffe hat er ja weggenuckelt«, sagte Zhou und wies auf den Mann mit den prallen roten Lippen. Dann nutzte er die Gelegenheit, um seine Werbebotschaft noch ein bisschen raffinierter zu gestalten: »Sie sehen, meine Damen und Herren, obwohl er nur indirekter Nutznießer der Creme war, sind seine Lippen jetzt groß wie zwei Ohrmuscheln!« Das Publikum lachte, doch der Mann war nicht amüsiert, vielmehr so zornig über die Blamage, dass er ausholte und Zhou You eine saftige Ohrfeige verpasste. Der wankte bedenklich und hörte noch tagelang ein Summen wie von einem Schwarm Bienen im linken Ohr, ganz ähnlich wie seinerzeit der junge Glatzkopf-Li, als Schmied Tang ihn in Liuzhen auf offener Straße geohrfeigt hatte. Andererseits erwies sich der unverhofft aufgetauchte rote Schmollmund als unschlagbares Verkaufsargument, denn Zhou konnte an diesem Tag noch siebenundneunzig Dosen Brustvergrößerungscreme absetzen. Am frühen Morgen des nächsten, also des vierten, Tages schlich er sich, die linke Hand auf das summende Ohr gepresst, mit Song Gang heimlich, still und leise aus der Stadt. Auch in den darauffolgenden vierzehn Tagen auf der Insel Hainan lief der Verkauf hervorragend. Wie Libellen, die über dem Wasser tanzen, blieben die beiden an keinem Ort länger als zwei oder drei Tage und waren stets längst über alle Berge, ehe die Leute ihnen auf die Schliche kamen. 911
Song Gang hatte sich inzwischen daran gewöhnt, sein Hemd zu öffnen, und auch das Gefühl der Erniedrigung war allmählich schwächer geworden, wozu nicht zuletzt das Bewusstsein beitrug, dass Zhou Yous schwarze Tasche sich immer mehr füllte. Abends saß der Schwindler auf seinem Hotelbett, lauschte dem Summen in seinem linken Ohr nach und zählte dabei die Tageseinnahmen. Wenn er dann Song Gang das Ergebnis mitteilte, malte sich stets ein Lächeln in dessen Gesicht, weil er das Gefühl hatte, dass die Heimkehr wieder einen Tag näher gerückt sei. Zhou You entdeckte im Fernsehen eine koreanische Serie, die er noch nicht kannte. Als es Abend wurde, setzte er sich auf dem Bett in Positur, lud Song Gang ein, mit ihm zusammen zuzuschauen, und erklärte ihm eifrig die Handlung. Song Gang, der schon lange nicht mehr bei Lin Hong angerufen hatte, wollte aber lieber noch einmal ausgehen, um von einem Straßentelefon aus zu telefonieren, doch Zhou rief ihn zurück. Er solle seine Frau vom Zimmer aus anrufen. Als Song entgegnete, das sei viel zu teuer, meinte der Schwindler, sie hätten jetzt Geld, da käme es nicht darauf an. Und auch Songs Einwand, er würde ihn beim Ferngucken stören, tat er ab, sodass dieser am Ende nachgab und sich ebenso wie Zhou auf sein Bett setzte. Während Zhou wie gebannt auf den Bildschirm starrte, wählte Song Gang die Nummer von Mutter Sus Imbissstube, die ähnlich weit entfernt war wie das Geschehen im Fernsehen. Er umfasste den Hörer mit beiden Händen und wartete darauf, dass Mutter Su seine Frau an den Apparat holte. Er hörte das undeutliche Stimmengewirr in der Imbissstube, dazwischen das Weinen eines Babys. Endlich näherten sich schnel912
le Schritte - das musste Lin Hang sein! Seine Hände begannen zu zittern. Dann hörte er ihre aufgeregte Stimme: »Hallo!« Plötzlich traten ihm Tränen in die Augen. Erst als Lin Hong noch mehrmals »Hallo!« gerufen hatte, brachte er endlich schluchzend hervor: »Lin Hong, ich hab solche Sehnsucht nach dir!« Am anderen Ende der Leitung herrschte einen Moment lang Schweigen, dann schluchzte auch sie: »Song Gang, ich habe auch Sehnsucht nach dir.« Es wurde ein langes Gespräch. Song Gang erzählte ihr, er sei jetzt auf der Insel Hainan, sagte aber nicht, dass er Brustvergrößerungscreme verkaufe, sondern nur, dass es im Moment geschäftlich sehr gut laufe. Lin Hong ihrerseits erzählte ein paar Neuigkeiten aus Liuzhen und teilte ihm, als das Babygeschrei im Hintergrund immer lauter wurde, im Flüsterton mit, Su Mei habe eine Tochter zur Welt gebracht, die sie Su Zhou genannt habe. Kein Mensch wisse, wer der Vater sei. So sehr waren die beiden in ihr Gespräch vertieft, dass sie gar nicht merkten, wie die Zeit verging. Erst als Song Gang auffiel, dass Zhou You nicht mehr fernsah, sondern müßig zu ihm herüberschaute, wurde ihm bewusst, dass er jetzt besser Schluss machen sollte. Gerade da fragte ihn Lin Hong, wieder so dringlich wie stets, wann er zurückkäme. Diesmal sagte er voller Sehnsucht: »Bald! Ich komme bald wieder.« Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, blickte er verloren zu Zhou You auf dem anderen Bett hinüber. Auch der hatte einen verlorenen Gesichtsausdruck, aber aus anderen Gründen: Er dachte darüber nach, wie es wohl in der Serie mit den Protagonisten weitergehen würde. Song Gang lachte ohne 913
wirkliche Erheiterung auf, dann dachte er, vielleicht würde es ihn auf andere Gedanken bringen, wenn er sich mit Zhou unterhielte. Niedergeschlagen begann er, vor sich hinzureden, als spräche er mit sich selbst. Länger als ein Jahr sei er nun schon unterwegs, murmelte er, wie es wohl Lin Hang die ganze Zeit ergangen sein mochte? ... Zhou You, in Gedanken immer noch bei seiner koreanischen Seifenoper, war jedoch taub für seine Worte. Nach einer Weile fragte Song Gang ihn daher direkt, ob er sich noch an Su Mei erinnere, die junge Frau aus der Imbissstube in Liuzhen. Zhou You nickte, als erwache er aus einem Traum, und sah seinen Partner gespannt an, plötzlich hellwach. Als der ihm erzählte, Su Mei habe eine Tochter namens Su Zhou geboren, und ganz Liuzhen rätsele, wer wohl der Vater sei, kriegte er vor Staunen den Mund nicht wieder zu. An diesem Abend fanden beide keinen Schlaf und wälzten sich ruhelos in ihren Betten hin und her. Song Gang dachte an Lin Hang, dachte, wie sehr er sie vermisse, sie und ihr Lächeln und auch ihren Zorn. Zhou You sah immer wieder Su Meis lächelndes Gesicht vor sich, dazu das lächelnde Gesicht eines weiblichen Säuglings. Später schlief Song Gang doch noch ein, er aber lag immer noch mit weit geöffneten Augen da und sann über Su Mei und das Baby nach. Als Song Gang bei Tagesanbruch aufwachte, sah er Zhou You bereits fertig angezogen auf dem Bett sitzen, neben sich zwei Haufen Geldscheine. Stolz wie ein Pfau begrüßte er Song Gang mit den Worten: »Der Vater von Su Zhou, das bin ich!«
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Noch ehe der schlaftrunkene Song richtig begriff, was Zhou gesagt hatte, fuhr dieser schon fort zu reden. Auf das Geld zeigend, erklärte er, dies sei ihr gesamter Besitz, 45 000 Yuan. Da sie ja halbe-halbe machten, stünden jedem 22500 Yuan zu. Bei diesen Worten sackte er den einen Stapel Banknoten ein. Dann zeigte er auf den anderen und sagte zu Song Gang: »Das da ist dein Anteil.« Song Gang, geistig immer noch nicht voll aufnahmefähig, sah ihn nur stumm an. Der Schwindler fuhr fort, es seien noch mehr als zweihundert Packungen von der Brustvergrößerungscreme übrig, die würde er alle ihm - Song Gang - überlassen. Anschließend hielt er eine regelrechte Rede, ebenso leidenschaftlich wie erregt: Fünfzehn Jahre lang sei er nun schon auf Wanderschaft, um mal hier, mal dort seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Dieses gefahrvolle Herumvagabundieren habe er jetzt gründlich satt; müde sei er an Körper und an Geist. Grenzenlos ist das Meer des Leides - zitierte er -, doch wer bereut, für den ist das rettende Ufer ganz nah. Er habe sich entschlossen, dem unsteten Wanderleben Adieu zu sagen, in Liuzhen ein zurückgezogenes Eremitendasein als Ehemann von Su Mei und Vater von Su Zhou zu führen und sich als Gatte und Vater mit den bescheidenen Freuden eines trauten Heims zu begnügen. Sprach's, ergriff seine schwarze Tasche und ging aus der Tür. Jetzt endlich hatte Song Gang begriffen. Er begriff, wer Su Mei geschwängert hatte, und er begriff auch, dass Zhou You den Handel mit Brustvergrößerungscreme mit sofortiger Wirkung an den Nagel hängte. Er rief ihn zurück, zeigte auf seine Brüste und fragte: »Und was wird hiermit, wenn du weg bist?« 915
Zhou You betrachtete die Kunstbrüste mitleidig und sagte: »Entscheide du selbst!« XLII Etwa zehn Monate nach Song Gangs Abreise mit Zhou You gab es in unserer kleinen Stadt Liuzhen eine neue Sensation: Glatzkopf-Li ließ einen bekannten Künstler aus Russland kommen, um sich von ihm malen zu lassen. Es hieß, das Bild solle genauso groß werden wie das des Vorsitzenden Mao am Tian'anmen in Peking, und es hieß ferner, der russische Großkünstler habe gerade erst drei Monate in Saus und Braus im Kreml verbracht, wo er ein Bildnis von Putin gemalt habe. In unsere kleine Stadt Liuzhen sei er nur gekommen, weil Glatzkopf-Li bereit war, ihm für seine Dienste mehr zu zahlen als Boris Jelzin, der ihn eigentlich ebenfalls mit der Anfertigung seines Konterfeis beauftragen wollte, obwohl er ja mittlerweile längst abgehalftert war. Die Leute hatten den russischen Maler - weiße Mähne, weißer Bart, lange Nase, blaue Augen - inzwischen alle schon einmal zu Gesicht bekommen, denn er hatte eine ausgesprochene Vorliebe für chinesische Snacks entwickelt. Man konnte ihm jeden Tag auf der Straße begegnen, wenn er in freudiger Erwartung kommender Genüsse der Imbissstube von Mutter Su und ihrer Tochter zustrebte, um dort seine geliebten Baozi zu verspeisen. Der russische Großkünstler schätzte ganz besonders die StrohhalmBaozi, von denen er jedes Mal gleich fünf Portionen zu je drei Stück auf einmal bestellte. Wenn dann die aus Bambus geflochtenen Dämpfaufsätze mit den fünfzehn Baozi, alle mit den darin spießenden Trinkröhrchen, wie eine 916
Geburtstagstorte mit fünfzehn Kerzen vor ihm auf dem Tisch standen, saugte er zunächst sorgfältig den Fleischsaft aus allen Baozi heraus, ehe er sich dann den Rest einverleibte. Diesen Genuss verdankte er Zhou You, denn der hatte ja diese Sorte Baozi in Liuzhen eingeführt und Su Mei höchstpersönlich in ihrer Zubereitung unterwiesen (und ihr nebenbei, ebenfalls höchstpersönlich, einen dicken Bauch gemacht). Der Schwindler selbst hatte sich zwar aus dem Staube gemacht, seine Strohhalm-Baozi jedoch waren in unserer kleinen Stadt Liuzhen inzwischen so beliebt, dass die Leute sogar danach Schlange standen und in der Imbissstube von morgens bis abends ein Genuckel und Gesauge herrschte wie zur Fütterungszeit im Säuglingszimmer auf der Entbindungsstation. Nachdem der berühmte Russe drei Monate lang bei Su Mei Strohhalm-Baozi genossen hatte, war auch das Porträt fertig. Als er eines Tages mit seinem Rollkoffer in der Imbissstube aufkreuzte, um sich noch eine letzte Baozi-Mahlzeit zu gönnen, wussten die Leute, dass die Stunde des Abschieds gekommen war, und dass er jetzt in seine Heimat zurückkehren würde, wahrscheinlich, um nunmehr für Jelzin zu arbeiten. Dann war auch das Henkersmahl vorbei, und Glatzkopf-Lis Santana-Limousine - ohne Glatzkopf-Li - fuhr an der Imbissstube vor. Lin Hong beobachtete von ihrer Eingangstür aus, wie der Chauffeur das Gepäck des Russen verstaute, dieser selbst, sich über die Lippen wischend, herauskam und sich, immer noch mit der Säuberung seines Mundes beschäftigt, ins Auto setzte und endlich abfuhr. Zu dieser Zeit war Song Gang schon über ein Jahr weg. Lin Hong fühlte sich sehr einsam und allein. Tag für Tag radelte 917
sie morgens in die Fabrik und abends wieder nach Hause, und nie war da jemand, mit dem sie reden konnte. Es war absolut still in der Wohnung, es sei denn, sie stellte den Fernseher an. Die eigentlich sehr beengte Wohnung kam ihr jetzt, wo sie allein war, viel geräumiger und leerer vor. Seit Song Gang sie das erste Mal über Mutter Su angerufen hatte, stand Lin Hong abends öfter in ihrer Tür und beobachtete das Kommen und Gehen in der Imbissstube gegenüber. Anfangs hatte sie das getan, weil sie auf einen erneuten Anruf ihres Mannes hoffte, doch nachdem sich Song Gang so selten bei ihr meldete, wusste sie eigentlich selbst nicht mehr recht, warum sie da an der Tür stand. In der Fabrik wurde sie inzwischen mehr denn je drangsaliert. Nachdem der nikotinsüchtige Direktor Liu erfahren hatte, dass Song Gang verreist war, ließ er die letzten Hemmungen fallen. Einmal hatte er Lin Hong wieder in sein Büro kommen lassen, die Tür zugemacht und sie dann aufs Sofa gedrückt. Er war über sie hergefallen, hatte ihre Bluse zerfetzt und ihr den Büstenhalter abgerissen und erst von der sich verzweifelt Wehrenden abgelassen, als sie angefangen hatte zu schreien. Von da an hatte sie sich geweigert, noch einmal in sein Büro zu gehen. Er bestellte sie mehrmals über den Meister ihrer Abteilung zu sich, doch sie lehnte jedes Mal mit aller Entschiedenheit ab: »Ich gehe da nicht hin!« Der Meister, der keinen Ärger mit seinem Direktor haben wollte, redete ihr immer wieder zu, bis sie schließlich deutlicher wurde: »Ich gehe da nicht mehr hin - der benimmt sich daneben!« Wenn der Berg nicht zum Propheten kommen will, muss der Prophet zum Berge gehen: Direktor Liu ging dazu über, 918
Lin Hongs Werkhalle täglich zu inspizieren. Plötzlich tauchte er hinter ihr auf wie ein Gespenst und zwickte sie in den Hintern. Weil die Wirkmaschine den anderen Arbeiterinnen die Sicht versperrte, griff er ihr manchmal sogar an die Brust, ohne sich davon abschrecken zu lassen, dass sie ihm jedes Mal wütend auf die Finger schlug. Einmal presste er sich von hinten ganz eng an sie und bedeckte ihren Nacken mit Küssen, obwohl mehrere andere Arbeiterinnen in der Nähe waren. Da konnte sie sich nicht mehr beherrschen, stieß den widerlichen Kerl mit aller Kraft zurück und rief mit lauter Stimme: »Benehmen Sie sich gefälligst!« Lin Hongs Kolleginnen, die das gehört hatten und erschrocken angelaufen kamen, wurden von dem ertappten Lüstling angeschrien: »Was gibt's hier zu gaffen? Los, an die Arbeit!« Lin Hong hätte nicht zu sagen vermocht, wie oft sie zu Hause Tränen der Verzweiflung vergoss, weil sie niemanden hatte, dem sie ihr Herz ausschütten konnte. Wenn Song Gang anrief, war sie mehrmals drauf und dran gewesen, ihm von den schweren Kränkungen zu erzählen, die ihr der widerliche Liu zufügte, aber wegen der Mithörer in Mutter Sus Gaststube hatte sie es sich dann doch jedes Mal mit Müh und Not verkniffen. Zurück in ihrer einsamen Wohnung, flossen ihre Tränen umso mehr, zum al sie sich sagte, dass Song Gang ja eh nichts für sie tun könnte, selbst wenn sie nicht geschwiegen hätte. Wenn Lin Hong abends vor dem Haus stand, sah sie oftmals Glatzkopf-Li in seiner Limousine vorüberfahren. Zwei Monate nach Song Gangs Abreise hielt der Santana plötzlich eines Tages direkt vor ihrer Tür, Glatzkopf-Li stieg aus und sah sie freundlich lächelnd an. Lin Hong, die vor Überraschung 919
unwillkürlich errötet war, hatte es die Sprache verschlagen. Als jedoch Glatzkopf-Li, der an ihr vorbei in die Wohnung spähte, nach Song Gang fragte, erzählte sie ihm, dass er mit einem anderen Mann zusammen in die Fremde gezogen sei, um Geschäfte zu machen. Er geriet sofort in Wut. Kopfschüttelnd rief er immer wieder: »Dieser Bastard! Nein, so ein Bastard aber auch! ... « Nachdem er Song Gang fünfmal Bastard genannt hatte, sagte er erbittert: »Am meisten fuchst es mich, dass der Bastard mit allen Geschäfte macht, bloß nicht mit mir!« »Nein, so ist es nicht!«, beeilte sich Lin Hong zu erklären. »Für ihn warst du immer der Mensch, der ihm am nächsten steht.« Glatzkopf-Li, der schon die Tür des Autos geöffnet hatte, drehte sich noch einmal zu Lin Hong um. »Wie konntest du nur diesen Bastard heiraten!«, sagte er mitleidig. Dann verschluckte die Dämmerung ihn und seinen Santana. Lin Hong war dem Ansturm der verschiedensten Gefühle ausgesetzt. Ganz deutlich stand ihr wieder vor Augen, wie der junge Glatzkopf-Li und der junge Song Gang, der eine klein, der andere groß, damals als unzertrennliches Paar durch die Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen gezogen waren. Nie, nie!, hätte sie es sich träumen lassen, dass ihre Schicksale zwanzig Jahre später so verschieden sein würden. Mittlerweile war Song Gang schon über ein Jahr in der Fremde. Von den 100 000 Yuan, die Glatzkopf-Li ihr wie versprochen alle sechs Monate aufs Konto überwies, hatte Lin Hong keinen einzigen Fen für sich verwendet. Das ganze Geld - mehr als 270 000 Yuan - war noch vorhanden, nur die mehr als 20000 Yuan für Song Gangs Arztkosten fehlten. Ihr 920
Mann war zwar weit weg und hatte ihr am Telefon auch gesagt, dass die Geschäfte gut liefen, dennoch wagte sie es nicht, das Geld auf ihrem Konto anzurühren, denn dieses Geld war für seine ärztliche Behandlung gedacht. Und er würde davon auch im Alter leben müssen, wusste sie doch nur zu gut, Song Gang war kein Geschäftsmann und würde womöglich eines Tages mit leeren Händen zurückkehren. Hinzu kam, dass sie damit rechnen musste, wegen ihres widerlichen Direktors, der ihr wie ein gieriger Tiger auflauerte, über kurz oder lang die Fabrik verlassen zu müssen und ebenfalls arbeitslos zu werden - ein weiterer Grund, das Geld auf dem Konto unangetastet zu lassen. In den Kleiderläden, die sie gern durchstreifte, entdeckte sie so manches Stück, das ihr gut stand, aber gekauft hatte sie nicht ein einziges. Seit jenem ersten Mal hielt der Santana jedes Mal an, wenn Glatzkopf-Li Lin Hong vor ihrer Tür stehen sah. Er kurbelte das Fenster herunter, fragte, ob Song Gang wieder da sei, und schimpfte über den »Bastard«, nachdem sie verneint hatte. Einmal hatte er sich wieder nach Song Gang erkundigt, da fragte er Lin Hong plötzlich teilnahmsvoll: »Und du? Geht es dir gut?« Dass dieser Mann, der sonst dauernd nur derbe und schmutzige Wörter im Munde führte, sich auf einmal so warmherzig nach ihrem Befinden erkundigte, griff ihr ans Herz und trieb ihr die Tränen in die Augen. Am Nachmittag desselben Tages hatte der widerliche Direktor Liu ihr nämlich mitgeteilt, ihr Name stehe auf der Liste der nächsten Entlassungskandidaten, die eine Woche später offiziell bekannt gegeben würde. Seit Lin Hong ihn lautstark 921
in die Schranken verwiesen hatte, war er ihrer Werkhalle drei Monate lang ferngeblieben. Als er jetzt doch wieder dort erschien, stand er, anders als früher, nicht wie ein Geist plötzlich hinter ihr, sondern baute sich vor ihr auf und eröffnete ihr mit gefährlich leiser Stimme, sie würde eine Woche später entlassen. Diesmal wurde er nicht einmal zudringlich, vielmehr teilte er ihr betont kühl mit, er erwarte sie nach der Schicht in seinem Büro, falls ihr daran liege, ihren Arbeitsplatz zu behalten. Lin Hong hatte nur die Lippen fest zusammengepresst, ohne etwas zu entgegnen. Nach Schichtschluss fuhr sie, immer noch mit fest zusammengepressten Lippen, auf ihrem altmodischen »Ewig« nach Hause. Dort hatte sich dann, als sie wie betäubt vor ihrer Haustür stand, Glatzkopf-Li nach ihrem Befinden erkundigt, und dort war sie in Tränen ausgebrochen, weil in diesem Moment die Verzweiflung über die Erniedrigung, die sie von ihrem zudringlichen Direktor zu ertragen hatte, in ihr übermächtig geworden war. Der Santana war schon angefahren, da bemerkte GlatzkopfLi, dass Lin Hong sich die Augen rieb, und ließ den Fahrer sofort wieder anhalten. Er stieg aus und lief eilig zu ihr zurück. »Ist etwas mit Song Gang passiert?«, fragte er sie. Sie schüttelte stumm den Kopf. Dann aber erzählte sie zum erstem Mal jemandem von den Nachstellungen ihres Chefs. Unter Tränen bat sie Glatzkopf-Li: »Kannst du vielleicht einmal mit Direktor Liu reden? ... « Glatzkopf-Li sah die unglückliche Frau fragend an. »Meinst du diesen Kettenraucher?«, vergewisserte er sich. Sie nickte. Nach kurzem Zögern bat sie ihn: »Könntest du ihm vielleicht sagen, er soll mich in Ruhe lassen -« 922
»Dieser verfluchte Bastard!« Endlich verstand er, was sie nur angedeutet hatte. »Gib mir drei Tage Zeit«, sagte er. »Dann ist alles wieder in Ordnung!« Lin Hongs nikotinsüchtiger Direktor kam nicht mehr dazu, die Liste der Entlassenen bekannt zu geben, denn vorher war er selbst entlassen. Nach drei Tagen erschien ein Abgesandter der Kreisregierung in der Wirkwarenfabrik und verkündete, Liu sei mit sofortiger Wirkung seines Amtes enthoben. Der Grund: Das Betriebsergebnis habe sich in den letzten drei Jahren ständig verschlechtert. Mit finsterer Miene packte Liu seine persönlichen Sachen zusammen und schlich sich wie ein Hund mit eingezogenem Schwanz davon. Er hatte seit zwei Stunden keine einzige Zigarette mehr geraucht, und auch jetzt, als er durch das Werktor ging, klemmte keine zwischen seinen Fingern. Der alte Pförtner sagte, er kenne Liu seit dreißig Jahren, und nie zuvor habe er ihn ohne Zigarette erlebt. Die Arbeiterinnen und Arbeiter der Fabrik lachten schadenfroh und meinten, allein daran, dass er das Rauchen vergessen habe, könne man erkennen, was für eine Panik den alten Kettenraucher erfasst haben musste. Die erste Amtshandlung des neuen Direktors bestand darin, Lin Hong aus der Werkhalle ins Büro zu versetzen. Lächelnd flüsterte er ihr zu, wenn ihr die neue Arbeit nicht gefalle, brauche sie es nur zu sagen - es stünde ihr frei, sich einen beliebigen Arbeitsplatz in der Wirkwarenfabrik auszusuchen. Mit dieser Entwicklung der Dinge hatte Lin Hong nicht im Traum gerechnet. Sie war tief beeindruckt, dass ein Problem, das für sie eine geradezu unüberwindliche Schwierigkeit darstellte, von Glatzkopf-Li so leicht geregelt wurde. Inzwischen hatte sie ihre Meinung über ihn gründlich geändert; sie fand 923
nun ihren einstigen Abscheu ziemlich unbegründet. Wenn sie jetzt abends an ihrer Haustür stand, hätte nicht einmal sie selbst zu sagen vermocht, worauf sie mehr wartete - dass Song Gang anriefe oder dass Glatzkopf-Li vorbeikäme? Da der russische Großkünstler abgereist war, wusste jedermann in unserer kleinen Stadt Liuzhen, dass Glatzkopf-Lis Großporträt fertig war. Man sagte, es hänge in seinem Einhundert-Quadratmeter-Büro und sei von einem roten Samtvorhang bedeckt. Niemand außer Glatzkopf-Li selbst habe das Bild je zu Gesicht bekommen, hieß es. Die Angestellten in Glatzkopf-Lis Firma verbreiteten überall, er würde die für ihn wichtigste Person darum bitten, das Porträt zu enthüllen. Nun ging das Rätselraten los, wer dafür wohl infrage komme. Zuerst dachte man an Kreisvorsteher Tao, doch nachdem der rote Samtvorhang schon länger als einen Monat hing und Tao Qing, der sich in Erwartung von Glatzkopf-Lis Anruf die ganze Zeit nicht aus seinem Büro gerührt hatte, immer noch nicht gebeten worden war, das Bild zu enthüllen, streuten Glatzkopf-Lis Leute eine neue Nachricht aus: Der Grund für die Verzögerung sei ganz einfach, dass Glatzkopf-Lis neu gekauftes Auto noch nicht angeliefert worden sei. Mit dem aber wolle er die besagte Person zur feierlichen Enthüllung seines Porträts abholen. Ein neues Auto zum Abholen? Dann sei die betreffende Persönlichkeit mit Sicherheit noch bedeutender als ein Kreisvorsteher, so die Meinung der Leute. Die Gerüchteküche sprach vom Provinzgouverneur oder sogar von jemandem aus Peking, einer Führungspersönlichkeit von Partei oder Regierung vielleicht. Schließlich behauptete jemand allen Ernstes, Glatzkopf-Li wolle den Generalsekretär der Verein924
ten Nationen bitten, den Vorhang hochzuziehen. Daraufhin fingen manche Leute an, die Nachrichten in Presse, Rundfunk und Fernsehen genau zu verfolgen. Als sie auch nach mehreren Tagen noch nichts über einen bevorstehenden China-Besuch des UNO-Generalsekretärs gehört oder gelesen hatten, hieß es: »Aha, deswegen wartet Glatzkopf-Li also immer.« Einige erkundigten sich bei Presse-Liu, was denn nun eigentlich Sache sei. Presse-Liu, der inzwischen zum Stellvertretenden Generaldirektor befördert worden war, wollte nicht, dass ihn die Leute als »Generaldirektor Liu« titulierten, wie es eigentlich üblich gewesen wäre. Er fand, damit würde er gewissermaßen auf eine Stufe mit Glatzkopf-Li gestellt, und das gehöre sich ja nun wirklich nicht. Daher bestand er auf »Stellvertretender Generaldirektor Liu« als Anrede, was wiederum die Leute als zu umständlich empfanden, sodass er am Ende von allen »Stellvertreter Liu« gerufen wurde. Stellvertreter Liu also schwieg wie ein Grab, oder sagen wir: Ihm war gleichsam ein Jungfernhäutchen im Mund gewachsen. Egal, wer es war, auch Freunde oder Verwandte, alle bekamen auf ihre Fragen stets die gleiche Antwort: »Kein Kommentar!« Nach zwei Monaten trafen die von Glatzkopf-Li bestellten zwei neuen Limousinen ein, ein schwarzer Mercedes und ein weißer BMW. Warum gleich zwei neue Autos? Nun, er wolle im Einklang mit der Natur leben, erklärte Glatzkopf-Li. Am Tag würde er den weißen BMW benutzen, in der Nacht den schwarzen Mercedes. Die bei den neuen Autos vor Glatzkopf-Lis Firma waren die ersten Luxuslimousinen, die unsere kleine Stadt Liuzhen zu 925
Gesicht bekam, und erregten entsprechendes Aufsehen. Es bestand Konsens darüber, dass der Mercedes das reinste Schwarz, der BMW das reinste Weiß aufweise, das man sich überhaupt vorstellen könne. Unterschiede gab es lediglich hinsichtlich der Vergleiche, die die Leute heranzogen. Die einen sagten, das Schwarz des Mercedes sei noch schwärzer als die Haut der Afrikaner, das Weiß des BMW weißer als die der Europäer; andere behaupteten, der Mercedes sei schwärzer als Steinkohle, der BMW weißer als Schneeflocken; wieder andere fanden den Mercedes schwärzer als die Tusche, mit der die Grundschüler Schriftzeichen schrieben, den BMW weißer als das Papier, auf dem sie übten. Zum Schluss einigte man sich darauf, der Mercedes sei dunkler als die Nacht, der BMW heller als der Tag. Der taghelle BMW fuhr tagsüber zwei Runden durch unsere kleine Stadt Liuzhen, der nachtschwarze Mercedes nachts ebenfalls zwei Runden, doch Glatzkopf-Li saß in keinem der beiden Autos, nur jeweils der Chauffeur. Der Fahrer des Santana, der nun zum Chauffeur eines Mercedes und eines BMW aufgestiegen war, spitzte vor lauter Wichtigkeit den Mund, während er seine Kreise durch die Stadt zog, sodass die Leute spotteten, wenn man nicht ganz gen au hinschaue, könnte man denken, er habe Hämorrhoiden an den Lippen. Jetzt, wo der weiße BMW und der schwarze Mercedes endlich da seien, meinten die Leute, werde wohl auch bald das Geheimnis um die wichtige Persönlichkeit gelüftet, die Glatzkopf-Lis Porträt enthüllen würde. Das Rätselraten, wer diese Person sein könnte, ging in die zweite Runde, und wieder wurden alle Möglichkeiten bis hin zum UNO-
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Generalsekretär erwogen. Kreisvorsteher Tao Qing allerdings wurde von niemandem mehr in Betracht gezogen. Eines Tages stand Lin Hong nach ihrer einsamen Abendmahlzeit wieder in ihrer Tür, als plötzlich Stellvertreter Liu auftauchte. Während er eilig auf sie zuging, trabte ein Mann mit einer Rolle auf der Schulter hinter ihm her. Liu bat Lin Hong mit ausgesuchter Höflichkeit, kurz zur Seite zu treten. Sie gehorchte, hatte aber immer noch keine Ahnung, was er vorhatte. Nun wies Stellvertreter Liu den Mann an, den roten Teppich - denn das war es, was er auf der Schulter trug von Lin Hongs Schwelle bis zum Straßenrand auszurollen. Von allen Seiten her strömten im Nu die Gaffer zusammen - was hatte das jetzt wieder zu bedeuten? Verbindlich lächelnd, als hätte er Reporter vor sich wie früher, sagte Stellvertreter Liu zu Lin Hong: »Generaldirektor Li bittet Sie, sein Porträt zu enthüllen.« Während Lin Hong, die ihren Ohren nicht traute, ihn mit offenem Mund anstarrte, war es ringsum einen Moment lang mucksmäuschenstill. Gleich darauf aber brach ein so lautes Gebrüll aus, wie man es sonst höchstens im Zoo hört. Stellvertreter Liu senkte die Stimme und flüsterte Lin Hong zu: »Ziehen Sie sich doch bitte noch um.« Jetzt erst begriff sie, was hier vorging. Sie blickte wie benommen auf die vielen Menschen, die sich von allen Seiten um sie drängten, und hörte undeutlich, wie sie erregt untereinander debattierten - sagte da nicht gerade jemand, so werde im Handumdrehen aus einem hässlichen jungen Entlein ein stolzer Schwan? Mit einem bitteren Lächeln sah sie Stellvertreter Liu unschlüssig an. Der forderte sie nochmals
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im Flüsterton auf, sich umzuziehen, doch sie sah nur, dass sich seine Lippen bewegten; was er sagte, hörte sie nicht. Es war, als hätte sie das Bewusstsein verloren, wie sie da in der Abenddämmerung vor ihrer Tür stand und mit leeren Augen auf die Menschen starrte, die aus allen Ecken und Enden unserer kleinen Stadt Liuzhen zusammenströmten. Einen Moment lang schien es, als hätte sie alles vergessen, was gerade um sie herum geschah. Sie runzelte nachdenklich die Stirn, dann war ihr anscheinend eingefallen, wonach sie suchte. Sie schüttelte zögernd den Kopf und blickte angespannt hinter sich, doch da war kein Song Gang, nur ihre leere Wohnung. Als sie sich wieder umdrehte, brandete der Lärm der Zuschauer aufs Neue auf, denn es näherte sich langsam der weiße BMW, gefolgt von dem schwarzen Mercedes: »Glatzkopf-Li ist da!«, schrien alle. Tatsächlich, Glatzkopf-Li war gekommen, mit allen beiden neuen Autos. (Er hatte inzwischen zwei Chauffeure.) Vor dem roten Teppich kam der weiße BMW zum Stillstand, dahinter der schwarze Mercedes. Stellvertreter Liu riss eilfertig die Wagentür auf, ein lächelnder Glatzkopf-Li, geschniegelt und gebügelt, eine rote Rose am Revers und eine weitere in der Hand, stieg aus und trat vor die immer noch wie benommen dastehende Lin Hong. Dann hielt ihr dieser unbedarfte Emporkömmling formvollendet wie ein blaublütiger Europäer die Rose hin, nicht ohne dieser vorher einen angedeuteten Kuss aufgedrückt zu haben. Als Lin Hong sie ihm nicht abnahm, nur mehrmals den Kopf schüttelte, ergriff Glatzkopf-Li ihre Hand, steckte ihr die Rose zwischen die Finger, führte sie über den roten Teppich zum BMW und bedeutete ihr mit einer zuvorkommenden Geste - wieder wie ein adliger 928
Europäer -, sie möge bitte einsteigen. Lin Hong drehte sich abermals ängstlich um und sah wieder nur ihr leeres Zuhause, dann blickte sie auf die vielen Menschen, die sie neugierig anglotzten und sich über sie die Mäuler zerrissen. Plötzlich hatte sie nur noch einen Gedanken: Schnell weg von hier! Und schon kroch sie in den BMW. Jawohl, Lin Hong, die vorher noch nie in einer Limousine gesessen hatte, kroch tatsächlich hinein wie ein Hund in seine Hundehütte. Die Gaffer sahen zu, wie sie sich mit hochgerecktem Hintern in das Auto schob, während Glatzkopf-Li, der ihnen noch huldvoll zuwinkte, sich erst auf seine vier Buchstaben setzte und dann drehend den übrigen Körper ins Auto hievte. Schnell schloss Stellvertreter Liu hinter ihm die Wagentür, und dann setzte sich der weiße BMW, gefolgt von dem schwarzen Mercedes, langsam in Bewegung. Lius dienstbarer Geist rollte den roten Teppich wieder ein, nahm ihn auf die Schulter und verließ mit Liu zusammen den Ort des Geschehens. Jemand rief Liu hinterher: »Wenn Lin Hong jetzt das Bild enthüllt, wird sie danach die Nacht mit Glatzkopf-Li verbringen?« Ohne sich umzudrehen, antwortete er: »Kein Kommentar!« XLIII Der weiße BMW und der schwarze Mercedes fuhren langsam die Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen entlang. Als die Sonne unterging und das Abendrot verblasste, hielt der BMW hinter einer Kurve an, Glatzkopf-Li rief »Es ist dunkel!«, öffnete den Schlag und half Lin Hong beim Aussteigen. In dem Augenblick, da die Nacht einbrach, stiegen die 929
beiden in den schwarzen Mercedes um, damit sie wieder im Einklang mit der - nunmehr dunklen - Natur lebten. Lin Hong, die nach wie vor die Rose festhielt, fühlte sich immer noch wie betäubt. Sie wusste nicht einmal, dass sie gerade das Auto gewechselt hatte. Glatzkopf-Li dagegen, der sie die ganze Zeit gentlemanlike anlächelte, war hellwach. Der schwarze Mercedes fuhr weiter durch die Nacht von Liuzhen und hielt erst wieder im Hof von Glatzkopf-Lis Firma. Glatzkopf-Li sprang aus dem Auto, lief auf die andere Seite, öffnete die Wagentür und half Lin Hong galant beim Aussteigen. Dann nahm er sie, immer noch very gentlemanlike, an der Hand und führte sie in sein hell erleuchtetes Büro. Dort zog er sie neben sich auf das Sofa, schaute sie liebevoll an und sagte: »Auf diesen Tag habe ich zwanzig Jahre gewartet.« Lin Hong musterte ihn unsicher, dann lächelte sie undurchdringlich. Er nahm ihr die Rose aus der Hand, legte sie auf das Teetischchen und begann, mit beiden Händen ihr Gesicht zu streicheln. Sie zitterte am ganzen Leibe, während seine Hände auf ihre Schultern und von dort aus weiter auf ihre Arme glitten, um endlich auf ihren Händen zur Ruhe zu kommen. Während er wartete, dass ihr Zittern verebbte, brannte es ihm auf der Zunge, ihr seine Gefühle zu gestehen, doch fehlten ihm die Worte, sosehr er sich auch den Schädel zermarterte. Er schüttelte den Kopf und sagte kummervoll: »Lin Hong, versteh bitte ... « Sie sah ihn verwirrt an: Was sollte sie verstehen? »Ich kann nicht von Liebe reden, versteh bitte ... «, sagte er zerknirscht. »Was denn?«, flüsterte sie. 930
»Verdammt noch mal!«, schalt er sich selbst. »Liebe - darüber kann ich nicht reden. Liebe kann ich bloß machen!« Von da an benahm er sich überhaupt nicht mehr gentlemanlike, sondern wie ein absoluter Wüstling. Während Lin Hong ihn noch immer verwirrt ansah und versuchte zu verstehen, was er sagte, hatte er schon einen Arm um sie geschlungen und die andere Hand in ihren Slip gesteckt. So schnell ging alles, so überraschend kam der Überfall, dass Lin Hong unter ihm auf dem Sofa lag und ihr Slip bis zu den Knien heruntergestreift war, ehe sie recht begriffen hatte, was da geschah. Sie umklammerte ihren Hosenbund und schrie angstvoll: »Nein! Nein! Tu das nicht ... « Doch Glatzkopf-Li war nicht zu halten. Wie ein wildes Tier fiel er über sie her und hatte im Nu erst sie, dann sich selbst splitternackt ausgezogen. Mit Händen und Füßen setzte sie sich gegen den nackten Angreifer zur Wehr und rief dabei immer wieder flehentlich den Namen ihres Mannes. Glatzkopf-Li aber warf sie auf das Sofa, hielt ihre Arme mit bei den Händen fest, drückte mit den Beinen ihre Schenkel auseinander und drang mit dem Ruf »Tut mir leid, Song Gang!« in sie ein. Lin Hong, die seit Jahren nicht mehr mit einem Mann zusammen gewesen war, schrie erschrocken auf. Bei der völlig unerwarteten Lust, die sie empfand, fühlte sie sich einer Ohnmacht nahe. Während Glatzkopf-Li sie vögelte, begann sie zu schluchzen. So lange hatte sie gedarbt, dass sie jetzt lichterloh brannte wie ein Reisighaufen, in den der Blitz einschlägt. Nach mehr als zehn Minuten ging ihr Weinen - vor Scham? Vor Lust? - in ein Stöhnen über. Glatzkopf-Li wurde
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immer ungestümer, und auch sie verlor jedes Zeitgefühl und gab sich ganz der rhythmischen Bewegung ihres Körpers hin. Länger als eine Stunde hielten die beiden durch. Während dieser Zeit erlebte Lin Hong nicht nur einen Höhepunkt, sondern hatte nacheinander drei Orgasmen, wie sie sie vorher nie gekannt hatte, jeder neue eine nochmalige Steigerung des vorangegangenen, bis sie schließlich am ganzen Leibe vibrierte wie der Motor eines Mercedes oder BMW und ihre Lustschreie ebenso durchdringend und laut waren wie das Hupen eines Mercedes oder BMW. Hinterher war sie so erschöpft, dass sie zu keiner Bewegung mehr fähig war. Auch Glatzkopf-Li, der keuchend auf ihr lag, rang nach Atem. Lin Hong musste daran denken, dass mit Song Gang der Akt nie länger als zwei Minuten gedauert hatte. Solange er gesund war, hatte er die Sache stets rasch hinter sich gebracht, seit er krank war, nicht einmal dies. Während sie Glatzkopf-Li streichelte, dachte sie: So also sind Männer! Nachdem Glatzkopf-Li sich ein paar Minuten auf ihr ausgeruht hatte, sprang er voller Energie auf, ging in das Badezimmer, das von seinem Büro abging, und duschte sich. Als er angezogen wieder herauskam, bemerkte er, dass Lin Hong sich mit ihrer Kleidung zugedeckt hatte. Er forderte sie auf, ebenfalls zu duschen, doch sie wollte auf dem Sofa liegen bleiben und schüttelte nur träge den Kopf. Da drang er nicht weiter in sie, sondern setzte sich in seinen Schreibtischsessel und führte mehrere Telefongespräche, alle in geschäftlichen Angelegenheiten. Während er telefonierte, ließ Lin Hong, die wie in Trance unter ihren Kleidern auf dem Sofa lag, die Ereignisse der letzten Stunden noch einmal 932
Revue passieren. Ihre Gedanken gingen planlos und ziellos durcheinander, wie ein Schiff, das von den Wogen hin und her geworfen wird. Alles war so plötzlich über sie gekommen, wie ein Blitz, der in einem Augenblick über den Himmel zuckt und im nächsten schon wieder verlischt. Später merkte sie, dass sie das Lampenlicht blendete, und wurde sich schlagartig bewusst, dass sie nackt auf GlatzkopfLis Sofa lag. Sich mit ihrer Kleidung notdürftig bedeckend, erhob sie sich mühsam und wankte ins Bad, um zu duschen. Als sie sich anzog, hatte sie das Gefühl, sich halbwegs wieder erholt zu haben. Dann sah sie in den Spiegel und errötete sofort vor Scham. Unschlüssig verharrte sie in dem Badezimmer, als fürchte sie sich, nach allem, was geschehen war, Glatzkopf-Li wieder gegenüberzutreten. Er hatte inzwischen seine Telefonate erledigt, riss die Badezimmertür auf und rief, er habe Hunger, sie solle endlich herauskommen. Keiner von bei den dachte an die Enthüllung des Porträts. Lin Hong folgte ihm wie in Trance zu seinem Mercedes, der sie in eins von den Restaurants seiner Firma brachte. In einem Separee kostete Lin Hong zum ersten Mal in ihrem Leben Abalone und Haifischflossen, von denen sie bisher nur gewusst hatte, dass der Arbeitslohn eines ganzen Jahres draufgegangen wäre, wenn sie sich diese Delikatessen ein paarmal geleistet hätte. Nun, da sie sie kostete, konnte sie ihnen überhaupt nichts abgewinnen. Sie hatte angenommen, nach dem Abendessen könne sie wieder nach Hause, doch jetzt musste sie feststellen, alles Bisherige war nur der Anfang gewesen. Glatzkopf-Li, nach dem Essen unternehmungslustiger denn je, ging nämlich mit 933
ihr in eine - natürlich ebenfalls firmeneigene - Nachtbar, wo Lin Hong sich, ehe sie sich's versah, in einem KaraokeSeparee wiederfand. Glatzkopf-Li war nicht zu bremsen und sang drei Liebesschnulzen hintereinander. Anschließend sollte Lin Hong es ihm nachtun, doch sie weigerte sich - sie könne nicht singen. Da warf er sie abermals aufs Sofa und machte Anstalten, ihr die Hose herunterzuziehen, die sie wie beim vorigen Mal festzuhalten versuchte. Wieder rief sie: »Nein! Nein! Tu das nicht ... « Glatzkopf-Li nickte und sagte: »Na gut, ein Hosenbein reicht auch.« Sprach's und legte ein Bein frei. Diesmal rief sie nicht Song Gangs Namen. Schräg auf dem Sofa liegend, hielt sie sich an Glatzkopf-Li fest, während er sich so heftig auf ihr bewegte, als wollte er Strom erzeugen. Das dauerte wieder eine reichliche Stunde. Nach jahrelanger Entbehrung genoss Lin Hong auch dieses zweite Mal, hatte aber diesmal nur einen Orgasmus. Hinterher verließ sie, mehr wankend als gehend, mit Glatzkopf-Li die Nachtbar und fuhr wie benommen mit ihm in seine Wohnung zurück. Dort legten sie sich aufs Bett und sahen sich einen Hongkonger Film an, der gegen drei Uhr morgens zu Ende war. Lin Hong, gewohnt, früh zu Bett zu gehen, fielen vor Müdigkeit die Augen zu. Doch Glatzkopf-Li wälzte sich erneut auf sie und bumste sie ein weiteres Mal. Jetzt leistete sie keine Gegenwehr mehr, sondern fügte sich sogleich, hatte jedoch keinen Orgasmus. Dennoch empfand sie auch diesmal Lust, nur ganz zum Schluss schmerzte die Scheide immer mehr. Als nach einer Stunde Glatzkopf-Li endlich von ihr abließ, schloss sie die Augen und schlief sofort ein. Zwei Stunden später weckte er sie jedoch, denn ihm war eingefallen, dass 934
sein Porträt ja noch nicht enthüllt war. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als aufzustehen und schlaftrunken hinter ihm her in sein Büro zu torkeln. Nach einer Weile war sie wieder halbwegs wach und sah sich in dem beeindruckenden Raum zum ersten Mal richtig um. Dann ging sie zu dem riesigen Bild, das fast eine ganze Wand einnahm, und zog an dem roten Samtvorhang, sodass dieser auf den Fußboden fiel. Ein überdimensionaler Glatzkopf-Li, schick in Anzug und Krawatte, lächelte sie an. Sie blickte zwischen dem Bild und dessen Gegenstand hin und her und wollte gerade bemerken, dass es wirklich ähnlich sei, als sich Glatzkopf-Li zum vierten Mal auf sie stürzte und sie das vierte Mal in zehn Stunden flachlegte, diesmal auf dem roten Samtvorhang. Lin Hong empfand dabei nur noch Schmerzen. Es kam ihr vor, als peitsche er beim Vögeln ihre Scham, so brennend war der Schmerz. Sie biss die Zähne zusammen, doch stöhnte sie, wenn es besonders wehtat, immer wieder »Ah! Ab!«, was Glatzkopf-Li als Schreie der Lust missverstand. Mit nicht nachlassendem Eifer bearbeitete er sie länger als eine Stunde. Als er selbst dann noch keine Anstalten unternahm, Feierabend zu machen, konnte sie sich nicht länger beherrschen und fing an zu seufzen. Er fragte sie nach dem Grund, da gestand sie, dass sie es vor Schmerzen nicht mehr aushielte. Sofort hielt er inne, hob ihren Hintern an und untersuchte ihre Scham: Ja, sie war rot und geschwollen. Er machte ihr Vorwürfe, weil sie es ihm nicht eher gesagt hatte, denn wenn er gewusst hätte, dass es ihr wehtat, hätte er sie natürlich nicht noch einmal vorgenommen - selbst dann nicht, wenn man ihm dafür den großen Guinness-Preis versprochen hätte. Danach deckte er Lin Hong und sich selbst 935
mit dem roten Samt zu, sagte noch »Schlaf jetzt, ich lass dich in Ruhe« und war im nächsten Moment entschlummert. Die beiden schliefen auf ihrem harten Lager, bis mittags Stellvertreter Liu an die Tür klopfte. Äußerst ungehalten rief Glatzkopf-Li: »Wer ist da? Was gibt's?« Vor Angst schlotternd antwortete Liu, es läge gar nichts an, nur habe er Generaldirektor Li den ganzen Vormittag nicht gesehen. Deswegen habe er es mit der Angst gekriegt, und da habe er eben mal angeklopft... Glatzkopf-Li knurrte »Aha!«. Dann rief er Stellvertreter Liu, der immer noch vor der Tür stand, mit lauter Stimme zu: »Ich bin okay. Lin Hang und ich schlafen bloß noch.« Als Lin Hang mittags Glatzkopf-Lis Firma verließ, wollte er sie mit dem weißen BMW heimbringen lassen, aber sie lehnte ab, weil sie keinen neuen Spott der Nachbarn riskieren wollte, wenn sie im BMW vorführe. Also ging sie langsam zu Fuß nach Hause. Bei jedem Schritt tat ihr der Unterleib weh. Jetzt endlich glaubte sie, was die Leute sich schon lange erzählten: Glatzkopf-Li sei kein Mann, sondern ein Vieh, und jede Frau habe das Gefühl, mit knapper Not dem Tode entronnen zu sein, wenn sie aus seinem Bett käme. Lin Hongs Ankunft wurde von mehreren Nachbarn beobachtet, die sich vielsagend zublinzelten. Sie tat, als hätte sie es nicht bemerkt, und machte die Tür schnell hinter sich zu. Dann legte sie sich, angezogen, wie sie war, ins Bett und stand bis zum Abend nicht wieder auf. In wirrem Durcheinander summten ihr die Gedanken im Kopf herum. Erst versuchte sie sich zu erinnern, was sich in dieser kurzen Zeit, in einer einzigen Nacht, alles ereignet hatte, und rief sich jede Einzelheit wieder ins Gedächtnis. Dann dachte sie an die 936
lange Zeit - zwanzig Jahre -, die sie mit Song Gang zusammen war. Merkwürdig, seit seinem Fortgang aus Liuzhen vor über einem Jahr war alles, was sie mit ihm erlebt hatte, in immer weitere Ferne gerückt - als hätte er ihre gemeinsame Vergangenheit in die Fremde mitgenommen. Die eine Liebesnacht mit Glatzkopf-Li dagegen stand ihr in aller Deutlichkeit vor Augen. Bei dem Gedanken an Song Gang kamen ihr die Tränen. Dennoch war ihr klar, dass sie in dieser Nacht trotz aller Gewissensbisse und trotz aller Scham ein Verhältnis mit Glatzkopf-Li angefangen hatte. Die Kunde von der skandalösen Beziehung zwischen Lin Hong und Glatzkopf-Li verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Stadt. Überall standen die Leute in Grüppchen zusammen und tratschten. Erst stand dieser Glatzkopf-Li vor Gericht; als Nächstes veranstaltete er den Schönheitswettbewerb der Jungfrauen; kurze Zeit später ließ er sich von einem russischen Großkünstler malen; schließlich enthüllte Lin Hong sein Porträt - das waren vier sensationelle Ereignisse innerhalb ganz kurzer Zeit, mit denen er seine Mitbürger überrascht und erfreut, Abwechslung in ihr Leben gebracht und dafür gesorgt hatte, dass sie jeden neuen Tag als frisch und belebend empfanden wie die aufgehende Sonne. Nur eines hätten sie sich nicht im Traum vorstellen können, sagten die Leute: dass Glatzkopf-Lis Porträt letztlich nicht vom UNO-Generalsekretär enthüllt wurde, sondern von Lin Hong, der einstigen Schönheit aus unserer kleinen Stadt Liuzhen. Zuerst waren alle nur zutiefst enttäuscht, denn das sei ja nun wirklich ein Außenseitersieg, meinten sie. Mit der Zeit änderte sich jedoch ihre Meinung. Hatte sich GlatzkopfLi nicht seinerzeit vor Wut wegen ebendieser Lin Hong steri937
lisieren lassen? Die Enthüllung des Porträts war gewiss nur ein Vorwand gewesen, in Wahrheit wollte er nur mit ihr schlafen, der durchtriebene Kerl! Da denkt man doch gleich an die Geschichte von den Drei Reichen, wo Xiang Zhuang einen Schwerttanz vortäuscht, in Wirklichkeit aber Liu Bang nach dem Leben trachtet. Wenn dieser Glatzkopf-Li jetzt Lin Hong unter Donnergetöse feierlich in sein Bett holt, sagten die Leute, dann macht er nur wahr, was er selbst einst versprach: »Wo immer ich hinfalle, da werde ich auch stets wieder aufstehen!« Sein großes Ziel hat er am Ende also doch erreicht! Die Leute nickten weise mit den Köpfen und zogen das Fazit: »So unerwartet es ist, so sehr entspricht es doch dem gesunden Menschenverstand.« XLIV Glatzkopf-Li gönnte Lin Hong eine Erholungspause von vier Tagen. Tatsächlich war sie jedoch schon am dritten Abend so erregt und unruhig, dass sie sich voller Verlangen in ihrem Bett hin und her wälzte und sich nur eines wünschte - dass Glatzkopf-Li in diesem Moment auf ihr läge! In den zwanzig Ehejahren mit Song Gang hatte ihre Sexualität zwanzig Jahre lang brachgelegen; jetzt, da Glatzkopf-Li sie so plötzlich erweckt hatte, brandete sie umso stürmischer auf. Mit über vierzig entdeckte Lin Hong sich endlich selbst, entdeckte, welch übermächtiges sexuelles Verlangen in ihr schlummerte. Als Glatzkopf-Lis Limousine am Abend des vierten Tages vor ihrer Tür hielt und hupte, zitterte sie vor Erregung am ganzen Leib. Mit schlotternden Knien verließ sie ihre Woh-
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nung und lehnte sich mit klopfendem Herzen in die Polster des schwarzen Mercedes zurück. In der Folgezeit fuhren Glatzkopf-Lis Limousinen jeden Tag bei ihr vor, um sie abzuholen, manchmal am helllichten Tag der weiße BMW, manchmal mitten in der Nacht der schwarze Mercedes, denn Glatzkopf-Li war ein so viel beschäftigter Mann, dass er nur immer die Lücken in seinem Terminkalender nutzen konnte, um mit Lin Hong ins Bett zu gehen. Sie hatte jetzt keine Hemmungen mehr, umschlang ihn so heftig, als wollte sie ihn erwürgen, und begann sogar von sich aus, ihn auszuziehen. Überrascht von dem Ungestüm ihres Verlangens rief er: »Verdammt! Du bist ja noch heißer als ich!« Lin Hong hatte ihre Lehren aus der ersten Nacht mit Glatzkopf-Li gezogen. Sie wusste jetzt, dass sie seinen mehrfachen Sturmangriffen nicht gewachsen war, und hatte sich deshalb mit ihm darauf geeinigt, es bei einem, höchstens aber zwei Beischläfen innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu belassen. Ihre Begründung hatte Glatzkopf-Li sehr erheitert. Sie hatte nämlich zu ihm gesagt: »Lass mich noch ein paar Jährchen länger leben, ja?« In den folgenden drei Monaten machten die bei den fast täglich Liebe - auf Glatzkopf-Lis Bett, auf dem Sofa in seinem Büro, im Separee eines Restaurants oder in Nachtklubs, eines Nachts sogar im Mercedes. Einem plötzlichen Impuls nachgebend, schickte Glatzkopf-Li den Fahrer aufs Klo und schärfte ihm ein, erst anderthalb Stunden später wiederzukommen. Dann machten die beiden es sich im Auto so be-
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quem, wie es eben ging, und trieben es keuchend und schreiend eine Stunde lang miteinander. Nach diesen drei orgiastischen Monaten hatten alle beide plötzlich das Gefühl, der Reiz des Neuen sei irgendwie vorbei. Sie hatten alles schon ausprobiert, hatten es im Bett miteinander getrieben und auf dem Sofa, auf dem Fußboden, in der Badewanne, im Auto, hatten alle Stellungen durchexerziert - stehend, sitzend, kniend, liegend, auf dem Rücken und auf dem Bauch, von vorn und von hinten, von links und von rechts -, und Lin Hong hatte alle Laute, die nur denkbar waren, von sich gegeben: Es fehlte der letzte Kick! Glatzkopf-Li begann, der Vergangenheit nachzutrauern. Er sagte zu Lin Hong, wie schön es gewesen wäre, hätten sie schon zwanzig Jahre früher miteinander gevögelt. Damals, gestand er ihr, habe er sie, beziehungsweise zwei, drei Partien ihres Körpers, abends immer als Wichsvorlage benutzt. »Rate mal, an wie viel Tagen im Jahr ich wegen dir gewichst habe«, sagte er. »Keine Ahnung!«, antwortete Lin Hong kopfschüttelnd. »An dreihundertfünfundsechzig Tagen! Nicht einmal an Feiertagen war Pause.« Dann fügte er mit leuchtenden Augen hinzu: »Und damals warst du noch Jungfrau!« Das brachte ihn auf die Idee, sie in ein großes Schanghaier Krankenhaus zu schicken, damit sie sich ihr Hymen restaurieren lasse. Wenn sie dann wieder Jungfrau sei, beschloss er, würde er wieder mit ihr schlafen, und zwar richtig! So, wie es vor zwanzig Jahren gewesen wäre. Danach aber würden sie nicht mehr miteinander ins Bett gehen. Er wedelte mit der
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Hand und sagte: »Dann gebe ich dich an Song Gang zurück.« Lin Hong wusste, dass die Trennung nahe bevorstand. Plötzlich überkam sie ein Gefühl von Trauer und Verlassenheit. Mit seiner Zügellosigkeit hatte Glatzkopf-Li es ihr ermöglicht, ihre eigene Zügellosigkeit voll auszuleben. Seit jener ersten Nacht mit ihm war die Einheit ihres Körpers und ihrer Seele verloren, Seele und Körper waren gewissermaßen durch tausend Berge und zehntausend Flüsse voneinander getrennt. Diese Kluft wurde immer größer: Ihre Seele dachte täglich an Song Gang, aber ihr Körper verlangte täglich nach Glatzkopf-Li. Unvorstellbar, dass sie in Zukunft die endlosen dunklen Nächte ohne den starken Glatzkopf-Li überstehen müsste! Ihre Sexualität war wie ein Waldbrand, der sich, einmal ausgebrochen, nur schwer wieder löschen lässt. Sie wusste, sie würde nie wieder zu ihrem früheren enthaltsamen Leben zurückfinden. Das machte sie traurig, und sie hasste sich dafür. Doch ändern konnte sie daran nichts. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, Song Gang würde bald zurückkehren. Jener Zhou You, der ihn seinerzeit mitgenommen hatte, war nämlich vor einem Monat plötzlich in Su Meis Imbissstube aufgetaucht. Sie hatte davon gehört, hatte ihn sogar gesehen und sich gerade dazu durchgerungen, sich bei ihm nach Song Gangs Ergehen zu erkundigen, da fuhr Glatzkopf-Lis weißer BMW bei ihr vor, und ihr Mut verließ sie wieder. Später hatte sie über Stellvertreter Liu in Erfahrung gebracht, dass er einstweilen noch nicht zurückkäme, weil er seine Gesundheitspflegemittel-Geschäfte auf der Insel Hainan noch nicht abgeschlossen habe. Zhou You hatte
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zu Liu gesagt, Song Gang verdiene so gut, dass er kein Interesse habe, nach Hause zurückzukehren. Dennoch war Lin Hong unruhig und befürchtete täglich, er könnte plötzlich vor der Tür stehen. Diese Angst hatte zur Folge, dass ihr sexuelles Verlangen allmählich abkühlte. Bei dem Gedanken an Song Gang weinte sie jetzt oft, weil sie immer mehr das Gefühl hatte, etwas Unrechtes zu tun. Daher sehnte sie sich auch nicht mehr so stark nach Glatzkopf-Li. Sie fand sogar, dass diese drei wunderbaren Monate mit ihm genug sein müssten. Wenn Song Gang wieder da wäre, würde sie ihn doppelt liebevoll umsorgen. Sie kannte ihn ja, er war der beste Mann der Welt und würde sie unverändert lieben, egal, was sie ihm angetan hatte. Deshalb stimmte sie sofort zu, als Glatzkopf-Li ihr vorschlug, sich in Schanghai operieren zu lassen. Denn sie hoffte, auf diese Weise das Verhältnis mit ihm rechtzeitig vor der Rückkehr ihres Mannes beenden zu können. Am nächsten Tag fuhren Glatzkopf-Li und Lin Hong im weißen BMW nach Schanghai, denn Glatzkopf-Li musste von dort aus in geschäftlichen Angelegenheiten für zwei Wochen nach Peking und Nordostchina reisen. Er wusste, die Hymen-Restaurierung würde nicht länger als eine Stunde dauern, doch sagte er, Lin Hong solle nicht gleich wieder nach Liuzhen zurückfahren, sondern in Schanghai auf seine Rückkehr warten. Den BMW samt Chauffeur lasse er ihr zur freien Verfügung zurück, damit sie sich in der Großstadt gut amüsieren, schön essen gehen und nach Herzenslust einkaufen könne. Was den Schwindler Zhou You betrifft, so war er im goldenen Oktober wieder in unserer kleinen Stadt Liuzhen aufge942
taucht, wieder mit zwei großen Kartons wie beim ersten Mal. Als er aber diesmal aus dem Busbahnhof kam, enthielten seine Kartons keine künstlichen Jungfernhäutchen, sondern Kinderspielzeug. Er winkte einer Rikscha und nahm Platz, ganz der erfolgreiche Heimkehrer. Während der Fahrt musterte er die Straßenpassanten. »Keine großen Veränderungen!«, sagte er abschätzig zu dem Rikschafahrer. »Immer noch dieselben Gesichter wie früher.« Als die Rikscha vor Su Meis Imbissstube hielt, stieg er aus und zahlte dem Fahrer drei Yuan zusätzlich, damit er ihm die beiden großen Kartons hinterhertrüge und sein Auftritt umso eindrucksvoller wäre. Er sah Su Mei hinter der Kassentheke sitzen und rief ihr munter zu »Da bin ich wieder!«, als wäre er nicht über ein Jahr von der Bildfläche verschwunden, sondern nur mal eben vier oder fünf Tage verreist gewesen. Su Mei war vor Schreck aschfahl geworden, als der Schwindler so unbefangen hereinspaziert kam, und tat, als wäre überhaupt nichts passiert. Am ganzen Leibe zitternd, hatte sie sich blitzschnell in die Küche geflüchtet. Der Schwindler blickte sich lächelnd in der Gaststube um. Er bemerkte, dass die Baozi-Esser ihn neugierig anstarrten, da fragte er leutselig: »Na, schmeckt's denn?«, als wäre er hier der Chef. Dann fiel sein Blick auf die fassungslos staunende Mutter Su, die ein vier oder fünf Monate altes Baby auf dem Schoß hatte. Lächelnd ging er auf sie zu und begrüßte sie honigsüß: »Mama, da bin ich wieder!« Ebenso wie ihre Tochter zitterte auch Mutter Su am ganzen Leib.
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Ehe sie sich' s versah, nahm Zhou das Baby auf den Arm, küsste es ab und schäkerte mit der Kleinen: »Na, meine Süße, hast du deinen Papi vermisst?« Er sagte dem Rikschafahrer, er solle die bei den Kartons aufmachen und alles Spielzeug auf einen Tisch legen. Dann setzte er seine Tochter mitten zwischen die Spielsachen und begann, so selbstvergessen mit ihr zu spielen, als wären sie beide allein auf der Welt. Die gute Mutter Su sah sprachlos zu, wie Zhou You anschließend von Tisch zu Tisch ging und sich mit den Gästen unterhielt, die nun endlich wussten, wer Su Mei dick gemacht hatte, und sich höchst aufgekratzt darüber austauschten. Lachend zeigte jemand auf das Baby auf dem Tisch zwischen den Spielsachen: »Das ist also Ihre Tochter?« »Natürlich«, erwiderte Zhou You, als könnte daran überhaupt kein Zweifel bestehen. Die Leute sahen einander an. Dann fragte jemand: »Sind Sie mit Su Mei verheiratet?« »Natürlich«, antwortete der Schwindler, abermals im Brustton der Überzeugung. Ein anderer wollte es ganz genau wissen: »Seit wann sind Sie denn verheiratet? « »Schon lange«, sagte Zhou leichthin. »Schon lange?«, wunderte sich der Frager. »Davon haben wir aber gar nichts gewusst!« »Ja, wieso haben Sie denn davon gar nichts gewusst?«, spielte Zhou You seinerseits den Überraschten. Während er sich mit den Gästen unterhielt, hatte der Schwindler die ganze Zeit weiter mit seinem Töchterchen herumgeschäkert. Nach all dem Schmus waren die Leute am 944
Ende völlig durcheinander und versicherten sich gegenseitig: »Doch, doch, die beiden sind wohl wirklich verheiratet.« Mutter Su saß kopfschüttelnd daneben und dachte nur, was ist dieser Kerl doch für ein unverschämter Lügner! Ihre Tochter kam überhaupt nicht mehr aus der Küche heraus, in die sie sich geflüchtet hatte. Sie hatte einfach Angst, wieder unter Leute zu gehen. Als es dunkel wurde und sie Zhou immer noch in der Gaststube schwadronieren hörte, verließ sie die Küche heimlich durch den Hintereingang und ging nach Hause. Als um dreiundzwanzig Uhr die Imbissstube zumachte, nahm Zhou You seine schlafende Tochter auf den Arm und folgte Mutter Su ohne Hast und Eile zu ihrer Wohnung. Den ganzen Weg über redete er freundlich auf sie ein, doch sie hatte den Kopf gesenkt und blieb stumm. Mehrmals versuchte sie, ihm das Kind abzunehmen, aber er wehrte jedes Mal höflich ab: »Lass nur, Mama, ich kann sie schon tragen.« Als sie in der Wohnung ankamen, ließ Mutter Su die Tür absichtlich offen stehen, als Zeichen, dass er gefälligst verschwinden solle. Nachdem sie ihn aber mehrmals vielsagend angeschaut hatte und er immer noch nicht gehen wollte, brachte sie es am Ende doch nicht fertig, ihn hinauszuwerfen. Zhou You übernachtete drei Tage lang auf dem Sofa im Wohnzimmer. Während dieser Zeit rührte sich Su Mei nicht ein einziges Mal aus dem Schlafzimmer, solange sie ihn in der Wohnung wusste. Zhou You dagegen tat so, als wäre überhaupt nichts geschehen, und ging morgens gut gelaunt mit Mutter Su in die Imbissstube, um erst spätabends, nach wie vor in bester
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Laune, mit ihr zusammen wieder nach Hause zurückzukehren. Su Mei setzte in diesen Tagen keinen Fuß vor die Tür und blieb mit ihrer kleinen Tochter zu Hause. Zhou You benahm sich äußerst taktvoll. Obwohl er sein Kind, das bei Su Mei in deren Zimmer war, drei Tage lang nicht zu sehen kriegte - er kehrte ja erst spätabends heim -, verlor er kein Wort darüber, sondern legte sich brav auf sein Sofa und schlief den Schlaf des Gerechten. Am Abend des vierten Tages ging Mutter Su in das Zimmer ihrer Tochter hinüber und setzte sich zu ihr auf die Bettkante. Fast eine halbe Stunde lang blieb sie dort sitzen. Während dieser Zeit sagte sie, ganz leise, nur einen einzigen Satz: »Trotz allem, dein Mann ist wenigstens zurückgekommen...« Da begann Su Mei herzzerreißend zu schluchzen. Mutter Su seufzte, dann nahm sie ihre fest schlafende Enkelin auf den Arm und ging mit ihr hinaus. Als sie vor dem Sofa stand, fuhr Zhou You aus dem Schlaf auf und wollte ihr die Kleine abnehmen, doch sie schüttelte den Kopf und zeigte auf Su Meis Zimmer. Zhou sah, die Tür war nur angelehnt. Er drückte seinem Töchterchen schnell noch einen Kuss auf die Wange und marschierte hinüber zu Su Mei. Nachdem er die Tür hinter sich zugemacht hatte, ging er zum Bett, schlüpfte so unbefangen unter die Decke, als hätte er schon immer in diesem Zimmer übernachtet, und knipste das Licht aus. Da Su Mei ihm den Rücken zukehrte, drehte er sich ohne Hast auf die Seite und umarmte sie von hinten, wogegen sie sich nur kurz wehrte. Er beließ es aber bei der Umarmung, sagte nur noch:
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»In Zukunft werde ich keine Geschäftsreisen mehr machen.« XLV Für Song Gang ging das Vagabundenleben auf der herbstlichen Insel Hainan weiter. Mit den verbliebenen Packungen Brustvergrößerungscreme war er von morgens bis abends unterwegs. Ohne Zhou You war er jedoch ziemlich hilflos. Da er nicht den Mut hatte, sein Hemd aufzuknöpfen und seine Brustimplantate vorzuzeigen, stand er nur stumm wie ein Baum mit apathischem Blick an der Straße, die Dosen mit »Busenwunder«-Creme fein säuberlich auf dem Karton vor sich ausgebreitet. Die Vorübergehenden schauten ihn neugierig an und wunderten sich über den Mann mit dem großen Busen, der da Stunde um Stunde nahezu bewegungslos ausharrte. Manche Frauen beugten sich über die Creme-Packungen, nahmen wohl auch einmal eine in die Hand, um sie näher anzusehen, schauten dann auf die üppigen Brüste unter Song Gangs Hemd und kicherten mehr oder minder unverhohlen los. Sie trauten sich nicht, ihn auf seinen Busen anzusprechen, blickten lediglich immer wieder erst auf die »Busenwunder«-Creme in ihrer Hand, dann auf das Busenwunder unter seinem Hemd und versuchten, den Zusammenhang zwischen beiden zu ergründen. Am Ende fragten sie ihn dann, sehr vorsichtig, doch noch: »Haben Sie die Creme selbst benutzt?« Song Gang wurde sofort rot. Gewohnheitsmäßig wandte er den Kopf zur Seite, aber dort war kein Zhou You, der für ihn
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hätte antworten können, nur lauter fremde Gesichter. Da nickte er und murmelte: »Hm!« Die Fragerin zeigte erst auf seine Brust, dann auf die Creme in ihrer Hand und erkundigte sich: »Sind die durch die Creme hier so groß geworden?« Song Gang senkte vor lauter Scham den Kopf und murmelte wieder: »Hm.« Seine Schamhaftigkeit sprach viele Frauen an. Sie fanden, dieser Mann mache einen ehrlichen und zuverlässigen Eindruck. Daher verkaufte sich die »Busenwunder«-Creme auch ohne Zhou Yous großtönenden Redeschwall sehr gut. Die männlichen Straßenpassanten waren nicht so zurückhaltend wie die Frauen. Song Gangs pralle Brüste wirkten anscheinend wie eine Art Stimulans auf sie. Um sie genauer in Augenschein zu nehmen, kamen sie ihm so nahe, als beugten sie sich übers Mikroskop. Anschließend reckten sie zwei Finger hoch und fragten: »Deine beiden Dinger da - ist das 'ne Brust, oder sind das Titten?« Song Gang sah sich abermals suchend nach Zhou You um, doch der lag ja inzwischen schon ganz offiziell als Gatte in Su Meis Bett. Song Gang kam sich sehr verloren und einsam vor, wie er hier am Ende der Welt auf der Straße stand und sich mit roten Ohren anhören musste, wie all diese fremden Männer über ihn und seine Brüste debattierten. Er hatte keine Ahnung, was er auf die Frage des Mannes antworten sollte. Zum Glück sprang einer von den Umstehenden wichtigtuerisch in die Bresche: »Er meint, ob du früher eine richtige Männerbrust hattest und dir die Titten erst gewachsen sind, nachdem du diese« - hier warf er einen Blick auf die Packung
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in seiner Hand -, »diese >Busenwunder<-Creme drauf geschmiert hast.« Allgemeines Gelächter. Song Gang nickte schamhaft und murmelte: »Hm.« Nach Zhou Yous abrupter Abreise zog Song Gang über einen Monat lang weiter von Ort zu Ort. Um die Implantate in seiner Brust hatte sich eine Faserhaut gebildet, die zu verhärten begann. Er wusste nicht, woran es lag, aber er stellte fest, dass die Brüste allmählich hart wie Stein wurden. Zur selben Zeit meldete sich auch seine Lungenkrankheit wieder. Der Husten, der eigentlich aufgehört hatte, kam zurück, weil er keine Medizin mehr einnahm und außerdem ein so anstrengendes Wanderleben führte. Die schmerzende Brust, dazu der quälende Husten, von dem er oftmals mitten in der Nacht aufwachteSong Gang hatte jetzt oft Angstzustände, nicht wegen seiner Gesundheit, sondern weil er sich Sorgen um die Zukunft machte. Was sollte er verkaufen, wenn sein Vorrat an Brustvergrößerungscreme erschöpft war? Ohne Zhou You war er völlig hilflos und fühlte sich verraten und verkauft; wie ein welkes Blatt war er, das vom Wind bald hierhin, bald dorthin geweht wird. Nun wusste er, was es heißt, mutterseelenallein zu sein. Sein einziger Gefährte war jetzt Lin Hong auf dem Foto, das er ständig mit sich führte, aber nie hervorzuholen wagte. Er war krank vor Heimweh, doch hatte er noch nicht genug Geld verdient, um seiner Frau in Zukunft ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen. Also musste er sein unstetes Wanderleben fortführen und sich vom Zufall leiten lassen. Als er eines Tages auf einem Platz irgendwo in einer kleinen Stadt stand und die letzten fünf Dosen Creme feilbot, rief in 949
seiner Nähe ein Mann von vielleicht Mitte fünfzig mit heiserer Stimme Messer und Scheren aus. Er hatte vor sich auf der Erde ein gutes Dutzend Gemüsemesser, Hackbeile, Obstmesser und Anspitzmesser in einer Reihe ausgebreitet, dazu auch Bajonette, Wurf messer und Dolche. Ein Hackmesser in der Hand, rief er mit lauter Stimme: »Das hier ist Wolframstahl, damit kriegen Sie alles klein - Kohlenstoffstahl, Formstahl, rostfreien Stahl, Gussstahl, Titanlegierungen, was immer Sie wollen. Und zwar glatt! Scharten gibt's hier nicht.« Er hockte sich hin und demonstrierte, wie leicht man mit dem Hackmesser einen dicken Draht durchtrennte. Dann zeigte er das Messer herum und ließ seine in dichtem Kreis gedrängten Zuhörer nachschauen, ob die Klinge schartig sei. Als diese es einhellig verneinten, hockte er sich abermals hin, krempelte sich ein Hosenbein hoch und begann, mit dem Hackmesser seinen Unterschenkel abzuschaben. Anschließend machte er mit den abrasierten Haaren in der Hand wieder eine Runde, bis alle Zuschauer sie gesehen hatten. »Haben Sie es sich genau angeschaut?«, rief er mit seiner heiseren Stimme. »Das ist nämlich das Wundermesser aus der Sage! Mit dem durchtrennt man hartes Eisen wie weichen Ton und schneidet sogar eine Feder im Fluge mittendurch!« Danach begann er mit seinen Erklärungen: »Was Wolfram stahl ist, wollen Sie wissen? Nun, es ist das härteste und wertvollste Metall, das es gibt. Man verwendet es nicht nur für Messer, sondern auch für besonders kostbare Uhren. Uhren aus Wolfram stahl sind noch teurer als goldene Uhren. >Longines< aus der Schweiz und unsere eigenen >Ebohr<, die sind alle aus Wolframstahl.« 950
Die Zuschauer konnten mit diesen Namen nichts anfangen, sodass der Mann weiter ausholen musste: »>Longines<, das sind die >GenieRossini<-Armbanduhren, alle weltbekannt.« Er wischte sich die Mundwinkel trocken, dann fuhr er fort: »>Ebohr< ist die berühmte chinesische Uhrenfirma.« An diesem Nachmittag verkaufte Song Gang drei Packungen »Busenwunder«-Creme. Er stand zu weit von dem Messerverkäufer entfernt, um sein Gesicht zu erkennen, hatte aber das Gefühl, der heisere Marktschreier habe in drei Stunden höchstens fünf oder sechs von seinen Messern an den Mann gebracht. Er beobachtete, wie er seine nicht verkaufte Ware in eine Segeltuchtasche packte und aufbrach. Als der Mann mit der Schultertasche, in der es bei jedem Schritt klapperte und klirrte, an Song Gang vorüberkam, fiel sein Blick auf dessen gewaltige Brüste. Er trat näher, um sie genauer zu betrachten, blickte verblüfft auf und sagte: »Du bist aber doch ein Kerl? ... « Song Gang, an derartige Reaktionen gewohnt, lächelte nur und wandte den Blick ab. Plötzlich durchfuhr es ihn: Diesen Mann kannte er doch! Er drehte sich nach ihm um, doch er war schon kichernd weitergegangen. Nach ein paar Metern blieb er jedoch wie angewurzelt stehen und schaute zurück, dann fragte er vorsichtig: »Song Gang?« Inzwischen war Song Gang eingefallen, wer der Mann war. »Scherenschleifer Guan? «, rief er verblüfft. Zwei Landsleute aus unserer kleinen Stadt Liuzhen, die es in diesen Winkel unseres großen Vaterlands verschlagen hatte, waren also ausgerechnet in diesem entlegenen Kaff aufeinandergestoßen. Scherenschleifer Guan der Jüngere baute 951
sich vor Song Gang auf und musterte sein Gesicht und seine Brust mit den Implantaten so eingehend, als prüfe er die Schneide eines Messers. Einen Kommentar zu Song Gangs Brust verkniff er sich, doch als er ihm ins Gesicht sah, sagte er: »Song Gang, du bist gealtert.« »Du aber auch«, erwiderte Song Gang. »Zehn Jahre ist es her«, sagte Guan mit einem Lächeln, an dem man erkennen konnte, dass er so manches durchgemacht hatte, »zehn Jahre lang habe ich niemanden aus Liuzhen zu sehen gekriegt. Und heute treffe ich dich hier! Wie lange bist du denn schon unterwegs?« »Seit über einem Jahr«, antwortete Song trübsinnig. »Und warum bist du aus Liuzhen weggegangen?«, fragte Guan kopfschüttelnd. »Was machst du hier?« »Verkaufe Gesundheitspflegemittel«, stotterte Song Gang. Scherenschleifer Guan der Jüngere nahm eine von den verbliebenen bei den Packungen, die auf dem Karton lagen, in die Hand, las die Aufschrift und blickte unwillkürlich auf Song Gangs Brust. Der errötete und sagte mit leiser Stimme: »Die sind künstlich.« Guan nickte verständnisvoll, fasste Song Gang am Arm und forderte ihn auf, mit ihm in sein zeitweiliges Zuhause zu gehen. Song Gang steckte die beiden Creme-Schachteln in die Hosentasche und brach mit dem Scherenschleifer zu dessen Behausung auf. Sie mussten sehr lange laufen, ehe sie bei Sonnenuntergang endlich in dem Vorort ankamen, wo Guan in einer Wanderarbeiter-Siedlung wohnte. Auf einem holprigen Pfad ging es zwischen Baracken hindurch, vor denen Wäsche zum Trocknen auf der Leine hing. Ein paar Frauen bereiteten auf Kohleöfen vor der Tür das Essen zu, während 952
sich die Männer rauchend miteinander unterhielten. Dazwischen wuselten ihre Kinder umher, eines schmutziger als das andere. Scherenschleifer Guan der Jüngere erzählte Song Gang, er wechsle ungefähr einmal im Monat den Ort, sonst könne er überhaupt keine Messer loswerden. Am nächsten Tag sei es wieder einmal so weit, da würde er woandershin fahren. Schließlich kamen sie zu einer Baracke, vor der gerade eine Frau in den Vierzigern mit wettergegerbter Haut Wäsche auf eine Leine hängte. Guan rief: »Wir reisen morgen ab! Wieso wäschst du denn da noch?« Sie drehte sich um und schrie ihn an: »Gerade weil wir morgen reisen, wasche ich!« Er konterte ärgerlich: »Der Bus geht in aller Frühe. Was ist, wenn die Wäsche dann noch nass ist?« Die Frau antwortete ungerührt: »Dann fährst du eben allein, und ich komme nach, wenn sie trocken ist.« »Verdammt!«, fluchte Scherenschleifer Guan der Jüngere. »Wo hatte ich bloß meine Augen, als ich dich geheiratet habe?« »Und ich erst, als ich dich geheiratet habe!«, gab sie zurück. Der wutschnaubende Guan stellte vor: »Das ist meine Frau.« Song Gang nickte ihr lächelnd zu, während sie neugierig auf seine enormen Brüste blickte. Der Scherenschleifer zeigte auf Song Gang: »Das ist Song Gang, ein Landsmann.« Als er ihren erstaunten Blick bemerkte, rief er erbost: »Was starrst du so? Die sind künstlich, die braucht er fürs Geschäft.«
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Jetzt hatte sie begriffen. Sie nickte und lächelte Song ebenfalls kurz zu. Guan führte Song Gang in einen Raum, der nicht viel größer als zehn Quadratmeter war. Darin befanden sich nur ein Bett, ein Schrank, ein Tisch und vier Stühle. Scherenschleifer Guan der Jüngere stellte die Tasche mit den Messern in einer Ecke ab und forderte Song Gang auf, sich zu setzen. Er selbst nahm ebenfalls Platz, dann rief er der Frau vor der Tür zu: »Was ist mit dem Essen?« Sie rief im gleichen Ton: »Hast du nicht gesehen, dass ich beim Waschen bin?« »Verdammt!«, fluchte Guan. »Wir haben uns zehn Jahre nicht gesehen! Kauf eine Flasche Schnaps und 'n Huhn und einen Fisch, aber dalli!« »Ich? Pah!«, kam es unüberhörbar von der Frau zurück. »Hängst du dann vielleicht die Wäsche auf?« Der Scherenschleifer schlug krachend mit der Faust auf den Tisch. Als er Song Gangs Verstörung bemerkte, sagte er kopfschüttelnd: »Ein elendes Miststück!« Nachdem die Frau mit dem Aufhängen der Wäsche fertig war, band sie ihre Schürze ab und hängte sie übers Fensterbrett. Dabei zischte sie ihrem Mann zu: »Selber Miststück!« »Scheiße auch!«, fluchte Guan. Er schaute seiner Frau hinterher, dann drehte er sich zu Song Gang um und sagte: »Achte einfach nicht auf sie!« Nun begann er, sich nach den Leuten aus Liuzhen zu erkundigen Glatzkopf-Li, Zahnreißer Yu, Stieleis-Wang, Schmied Tong, Schneider Zhang, Mutter Su ... Song Gang erzählte ihm ausführlich, was er von ihnen wusste, und flocht dabei auch seine eigenen Erlebnisse ein. 954
Inzwischen war Guans Ehefrau mit ihren Einkäufen zurückgekommen. Sie knallte eine Flasche Schnaps auf den Tisch, band ihre Schürze wieder um und ging nach draußen, um das Essen zuzubereiten. Scherenschleifer Guan der Jüngere schraubte den Deckel von der Flasche ab, stellte aber fest, dass Gläser fehlten. »Wo sind die Gläser?«, rief er nach draußen. »Verdammt, bring uns Gläser!« »Hast du keine Hände?«, schrie sie zurück. »Hol sie doch selber.« »Verdammte Scheiße!« Guan erhob sich, holte zwei Gläser, goss ein, nahm einen Schluck und wischte sich über die Lippen. Als er bemerkte, dass Song Gang sein Glas nicht berührt hatte, sagte er: »Trink!« Song Gang schüttelte den Kopf. »Ich trinke keinen Schnaps«, sagte er. »Trink!«, befahl Guan. Er hielt Song sein Glas zum Anstoßen hin, sodass dieser nicht umhinkonnte, an seinem Glas zu nippen. Von dem scharfen Gesöff - dem ersten Schnaps seines Lebens - bekam er sofort einen Hustenanfall. An diesem Abend machten sie zu zweit die Flasche nieder, zwei Drittel trank Guan, ein Drittel Song. Dabei unterhielten sie sich die ganze Zeit überaus angeregt. Scherenschleifer Guan der Jüngere hatte so viel Schweres durchgemacht, dass er jetzt ohne Neid und Missgunst war und nur ruhig mit dem Kopf nickte und vor sich hin lächelte, als er hörte, dass Glatzkopf-Li inzwischen steinreich war und auch Zahnreißer Yu und Stieleis-Wang es dank Glatzkopf-Li zu Wohlstand gebracht hatten; dass Schmied Tang aus eigener Kraft reich geworden war; und dass es auch Schneider Zhang und Mutter Su immer besser ging. Schließlich brachte Song Gang 955
vorsichtig die Rede auf Scherenschleifer Guan den Älteren, sagte, er habe ihn schon seit ein paar Jahren nicht mehr gesehen, nur gehört, er sei krank und bettlägerig. Da traten Guan dem Jüngeren Tränen in die Augen. Er entsann sich, wie er seinerzeit voller Tatendrang aus Liuzhen fortgegangen war und was sein alter Vater, auf den Krückstock gestützt, hinter ihm hergerufen hatte. »Sprich nicht weiter«, sagte er und wischte sich die Tränen ab. »Ich kann ihm nie mehr unter die Augen treten, schäme mich viel zu sehr.« Song Gang erzählte ihm auch, wie er selbst seine Stelle in der Metallfabrik verloren und überall nach einer neuen Arbeit gesucht habe; wie er sich die Lunge kaputt gemacht habe und schließlich mit einem Scharlatan namens Zhou You herumgezogen sei; dass dieser Zhou You jetzt nach Liuzhen zurückgefahren sei und ihn hier auf der Insel allein gelassen habe; und dass die einsame Lin Hong sich jeden Tag nach ihm verzehre. Scherenschleifer Guan der Jüngere hörte sich das alles an, seufzte mitfühlend und murmelte vor sich hin: »Ach ja, das kenne ich alles nur zu gut! Ich weiß, wie schwer es ist, so allein in der Fremde. Bei mir sind es ja nun schon mehr als zehn Jahre! Hätte ich damals geahnt, wie es sein würde, ich wäre nicht von zu Hause fortgegangen.« Song Gang ließ traurig den Kopf hängen. »Mir geht es genauso. Hätte ich es gewusst, ich wäre auch dageblieben«, sagte er, mehr zu sich selbst als zu Guan. »Das ist alles Schicksal. Uns beiden ist es einfach nicht bestimmt, reich zu werden«, sagte Scherenschleifer Guan der Jüngere. Er sah Song Gang voller Mitgefühl an und fuhr fort: »Mein Vater hat öfter zu mir gesagt, das Schicksal hat mir 956
nur achtzig Pfund Reis bestimmt; ich würde nie einen ganzen Zentner kriegen, selbst wenn ich bis ans Ende der Welt reise.« Song Gang trank einen großen Schluck Schnaps und fing sofort wieder an, fürchterlich zu husten. Auch Guan nahm einen kräftigen Schluck. Als Song Gangs Hustenanfall halbwegs vorüber war, begann Guan, ihm eindringlich zuzureden: »Fahr zurück nach Liuzhen! Du hast doch deine Lin Hong!« Er selbst, erzählte er Song Gang, sei in den ersten beiden Jahren seines Wanderlebens nahezu jeden Tag drauf und dran gewesen, nach Liuzhen zurückzukehren, habe sich dann aber doch immer zu sehr geschämt. Nach vier, fünf Jahren aber sei es zu spät gewesen. »Du dagegen«, ermunterte er Song Gang, »du bist erst ein gutes Jahr fort, du kannst jetzt noch zurück. In ein paar Jahren kannst du es nicht mehr, wirst es dann auch nicht mehr wollen.« Während sich die bei den Zecher gegenseitig ihren Kummer ausschütteten, hatte Guans Frau ihnen das Essen vorgesetzt. Sie selbst hatte nur schnell ein paar Bissen genommen und dann angefangen zu packen. Ohne sich dafür zu interessieren, was die Männer miteinander redeten, lief sie geschäftig hin und her, stapelte alle Habseligkeiten in einer Ecke und ging dann - es war schon nach elf Uhr - wortlos zu Bett. Kaum dass sie lag, war sie auch schon eingeschlafen. Song Gang stand auf, sagte, es sei schon spät, und er würde jetzt in seinen Gasthof gehen. Scherenschleifer Guan der Jüngere aber wollte ihn nicht fortlassen. »Seit zehn Jahren habe ich niemanden aus Liuzhen getroffen«, sagte er kummervoll. »Vielleicht sehen wir uns nie wieder ... «
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Da setzte sich Song Gang wieder hin, und die beiden tauschten sich weiter über alle möglichen traurigen Erlebnisse aus. Scherenschleifer Guan der Jüngere hatte, als er von Liuzhen aus auf der Insel ankam, ebenso wie Song Gang ein Jahr lang als Transportarbeiter geschuftet und war danach wieder aufs Festland zurückgegangen - nach Guangdang und Fujian -, wo er mehrere Jahre auf dem Bau arbeitete. Alle fünf Subunternehmer, bei denen er anheuerte, hatten sich am Jahresende, als der Lohn fällig gewesen wäre, mit dem Geld aus dem Staube gemacht. Erst danach hatte er begonnen, als Straßenhändler Schneidwaren feilzubieten. Mit bitterem Lächeln sagte er, in Liuzhen habe er Scheren und Messer geschliffen, jetzt, in der Fremde, verkaufe er Scheren und Messer - er komme einfach nicht von dem Zeug los, das sei wohl vom Schicksal so vorherbestimmt ... Noch später, als sie begannen, Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend hervorzukramen, besserte sich ihre Stimmung, und sie lachten immer mal wieder laut auf. Scherenschleifer Guan der Jüngere drehte sich zu seiner schlafenden Frau um und sagte mit einem zufriedenen Lächeln, er habe es in seinen langen Wanderjahren zwar sonst zu nichts gebracht, aber Glück in der Liebe, das habe er immerhin gehabt. »So eine gute Frau hätte ich in Liuzhen nicht gefunden«, sagte er. Dann erzählte er Song Gang, wie er sie vor drei Jahren getroffen habe. Er lernte sie kennen, als er in einem kleinen Nest irgendwo in der Provinz Fujian Messer verkaufte. Sie hockte am Fluss, wusch Wäsche und weinte dabei bitterlich, ein Anblick, der ihn so rührte, dass er, von ihr unbemerkt, lange Zeit unweit von ihr stehen blieb und zusah, wie sie unter Tränen die Wä958
sche bearbeitete. Als er dann widerstrebend weiterging, ließ der Gedanke an die verzweifelte Frau den nach seiner jahrelangen Einsamkeit selbst so trübsinnigen Guan nicht wieder los. Kurz entschlossen machte er kehrt und ging an den Fluss zurück, wo die Frau noch immer mit ihrer Wäsche beschäftigt war. Er ging die Treppe zum Fluss hinunter, setzte sich neben die Weinende auf die Stufen und sprach sie schließlich an. Im Gespräch erfuhr er, dass ihre Eltern verstorben waren und sich ihr Mann mit einer anderen aus dem Staube gemacht hatte. Auch sie lernte ihn näher kennen, erfuhr, wie er voller Zuversicht aus Liuzhen fortgezogen und wie dann alles schief gegangen war. Beide gleichermaßen vom Schicksal benachteiligt, verstanden sie sich sogleich sehr gut. Es war, als wären sie alte Bekannte. Scherenschleifer Guan der Jüngere bat sie inständig: »Komm mit mir! Ich werde für dich sorgen.« Eigentlich war sie mit ihrer Wäsche fertig und wollte gehen, doch als er das zu ihr sagte, hockte sie sich wieder hin und schaute gedankenverloren auf das Wasser. Nach einer Weile ergriff sie die Schüssel mit der Wäsche und ging die Stufen zur Straße hinauf. Guan folgte ihr bis nach Hause und sah zu, wie sie die Sachen auf die Leine hängte. Er sagte noch einmal: »Komm mit mir mit!« Sie sah ihn abwesend an und murmelte zusammenhanglos: »Meine Wäsche ist noch nicht trocken.« Er nickte. »Wenn sie trocken ist, komme ich wieder«, sagte er. Dann ging er davon.
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Er blieb über Nacht in dem kleinen Städtchen. Als er am nächsten Morgen bei ihr auftauchte, wartete sie schon auf ihn. Sie hatte alles fertig gepackt und stand mit einem großen Koffer an der Tür. Da wusste er, wie sie sich entschieden hatte. Er fragte: »Ist die Wäsche trocken?« Sie nickte. »Dann also los«, sagte er. Sie folgte ihm mit ihrem großen Koffer in die Fremde, in ein anderes, aber nicht weniger schweres, unstetes Leben. Als Scherenschleifer Guan der Jüngere mit seiner Erzählung fertig war, dämmerte schon der Morgen. Seine Frau erwachte und stand auf, kein bisschen erstaunt, die Männer noch immer in ihre Unterhaltung vertieft zu sehen. Sie machte das Licht aus und ging hinaus. Nach einer Weile kam sie mit zehn dampfenden großen Baozi zurück. Während ihr Mann und sein Gast aßen, holte sie die trockene Wäsche von der Leine, legte sie aufs Bett, faltete sie flink zusammen und packte sie dann zu den anderen Sachen in den riesigen Koffer. Mit einem Baozi in der Hand, von dem sie immer mal wieder abbiss, kontrollierte sie, ob sie im Zimmer auch nichts vergessen habe. Guan hatte in aller Geschwindigkeit vier Baozi verdrückt, Song Gang nur einen; er habe keinen Hunger mehr, sagte er. Da tat Guans Frau die restlichen vier in die Tüte zurück und verstaute diese sorgfältig in einer großen Reisetasche. Schließlich setzte sie einen gewaltigen Rucksack auf, ergriff mit einer Hand die Tasche, mit der anderen den Rollkoffer und ging hinaus. Vor der Tür wartete sie, bis ihr Mann, seine Tasche mit den Mes-
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sern auf dem Buckel, einen Koffer hinter sich herziehend, ebenfalls zum Aufbruch bereit war. Scherenschleifer Guan der Jüngere schlug Song Gang kräftig auf die Schulter und sagte: »Song Gang, geh zurück! Höre auf mich, geh wieder nach Liuzhen. Geh jetzt! Sonst schaffst du es nie.« Song Gang nickte. »Ich weiß«, sagte er und klopfte Guan ebenfalls auf die Schulter. Guans Frau lächelte ihm kurz zu, er lächelte zurück, dann gingen die bei den Leidensgenossen los, der aufgehenden Sonne entgegen. Guans Frau verschwand völlig unter ihrem riesigen Rucksack. Song Gang sah nur ihre linke Hand, mit der sie den großen Koffer zog, und die rechte, in der sie die mächtige Tasche trug. Während das Paar sich immer weiter entfernte, hörte er sie wieder laut miteinander streiten. Scherenschleifer Guan der Jüngere, der nur die Tasche mit den Messern auf dem Rücken hatte und mit der linken Hand einen bedeutend kleineren Koffer zog als sie, wollte tauschen und ihr die große Reisetasche abnehmen, doch sie gab sie nicht her. Als er ihr dann den Koffer aus der Hand nehmen wollte, wiederholte sich das Spiel. Und die ganze Zeit hörten die bei den nicht auf, sich gegenseitig zu beschimpfen. »Verflucht! Ich habe doch eine Hand frei!«, brüllte Scherenschleifer Guan der Jüngere. »Eine Hand frei?«, höhnte sie. »Dass ich nicht lache! Rheuma hast du da drin und Sehnenscheidenentzündung!« »Verdammt noch mal!«, fluchte Guan. »Wo hatte ich meine Augen, als ich dich geheiratet habe!« »Und ich erst, als ich dich geheiratet habe!«, gab sie zurück.
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XLVI Nachdem Song Gang sich bei Sonnenaufgang von Scherenschleifer Guan dem Jüngeren und seiner Frau verabschiedet hatte, verbrachte er einen weiteren freudlosen Tag auf dem Platz, wo er Guan getroffen hatte, und verkaufte die beiden letzten Packungen Brustvergrößerungscreme. Er hatte beschlossen, tatsächlich nach Hause zurückzukehren, denn die Worte des Scherenschleifers hatten die Sehnsucht nach Liuzhen und nach Lin Hong in ihm übermächtig werden lassen. Er befürchtete, wenn er noch länger in der Fremde bliebe, würde ihm am Ende wie jenem der Wille zurückzugehen abhanden kommen. Er übernachtete ein letztes Mal in dem kleinen Gasthof und sprach am nächsten Morgen in der Klinik für plastische Chirurgie vor, um die Brustimplantate entfernen zu lassen. Diese waren inzwischen sehr hart, sodass der Arzt vermutete, der schweigsame Mann wolle sie sich aus diesem Grunde wieder herausoperieren lassen. Er fragte ihn, ob er die Brust regelmäßig massiert habe, und als Song Gang schweigend den Kopf schüttelte, sagte er, zweifellos sei dies die Ursache seiner Beschwerden. Nach dem Eingriff machte er ihn erst noch darauf aufmerksam, dass er nach sechs Tagen zum Fädenziehen wiederkommen müsse, und begann dann, ihm seine Klinik wärmstens zu empfehlen. Falls Song Gang sich zur Geschlechtsumwandlung entschließe, sei sie erste Wahl. Song Gang nickte nur und verließ mit seinem Antiphlogistikum die Schönheitsklinik. Noch am Nachmittag desselben Tages nahm er den Bus nach Haikou. Auf der Fahrt entlang der Küste sah er am Himmel abermals Seevögel, ganze Schwärme von Seevögeln, 962
die über den Wellen schwebten. Doch konnte er ihre Schreie in dem Lärm der Passagiere und des Motors nicht hören. Erst als er in Haikou an Bord der Fähre war, die ihn übers Meer nach Kanton bringen sollte, hörte er sie endlich, vermischt mit dem Donner der sich überstürzenden Brecher. Er stand am Heck des Schiffes und beobachtete, wie die Vögel der aufspritzenden Gischt nachjagten und dabei selbst zu einem Teil dieser Gischt zu werden schienen. Als die Sonne unterging und das Abendrot heraufzog, flogen auch die Seevögel davon. Die Schwärme sahen aus wie aufsteigender Rauch, der langsam in der Ferne zwischen Himmel und Meer verwehte. Dann saß Song Gang im Zug nach Kanton, wo es keine Seevögel mehr gab. Er hatte seinen Mundschutz wieder umgebunden, denn seine Lungenkrankheit wurde immer schlimmer. Jedes Mal wenn er hustete, schmerzten und spannten die Wunden in seinen Achselhöhlen. Wenigstens konnte er nun jenes Foto aus glücklichen Tagen wieder hervorholen, auf dem Lin Hong und er und sogar das Fahrrad Marke »Ewig« so wunderbar jung waren. Mehr als ein halbes Jahr lang hatte er es nicht betrachtet, aus Angst, die Sehnsucht würde dann so übermächtig, dass er auf halbem Wege aufgeben und sofort nach Liuzhen zurückkehren müsste. Diese Befürchtung brauchte er nicht mehr zu haben, jetzt konnte er seine Frau so oft ansehen, wie er wollte (und gelegentlich auch einmal einen Blick auf sein eigenes lächelndes Antlitz riskieren). Doch durch seine Gedanken rauschte nach wie vor der Flügelschlag der Seevögel. Als der Herbstwind die abgefallenen Blätter hinwegfegte, kehrte Song Gang nach Liuzhen zurück. Den Mundschutz im 963
Gesicht, seinen Koffer hinter sich herziehend, kam er in der Abenddämmerung aus dem Busbahnhof und lief durch das Laub auf der Straße, dessen Rascheln sich ähnlich anhörte wie sein rasselnder Atem unter der Gazemaske, in Richtung seiner Wohnung. In seiner Erregung über das bevorstehende Wiedersehen mit Lin Hong bekam er einen besonders heftigen Hustenanfall, doch diesmal fühlte er den Schmerz unter den Achseln überhaupt nicht. Das zuckende Licht der Leuchtreklame und die kakophonische Musik aus den zahllosen Lautsprechern nahm er kaum wahr, während er in Windeseile unsere kleine Stadt durchquerte. Als er die Tür seiner Behausung von ferne erblickte, schimmerten seine Augen feucht. Er nahm die Brille ab und putzte sie im Laufen mit einer Hand, da er mit der anderen Hand nicht nur den Koffer zog, sondern auch den Wohnungsschlüssel umklammerte, den er schon im Überlandbus hervorgeholt hatte. Er stellte den Koffer ab und steckte den schweißfeuchten Schlüssel ins Schloss. Im selben Moment überlegte er es sich jedoch anders und klopfte dreimal, voller Vorfreude auf Lin Hongs Überraschung. Schwer atmend wartete er einen Augenblick, dann klopfte er wieder dreimal- drinnen rührte sich immer noch nichts. Da blieb ihm nichts anderes übrig, als doch selbst zu öffnen. Er rief mit zitternder Stimme ihren Namen: Nichts! Schlafzimmer, Küche, Bad - alles leer! Völlig verwirrt stand er einen Moment im Wohnzimmer, dann fiel ihm ein, Lin Hong war vielleicht noch nicht von der Arbeit zurück. Da ging er wie-
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der hinaus und stellte sich an die um diese Zeit besonders belebte Straße, um nach ihr Ausschau zu halten. Das letzte Abendrot verglühte, und die Nacht brach langsam herein, doch keine Lin Hong kam angeradelt. Dafür blieb der eine oder andere Passant stehen und fragte überrascht: »Song Gang? Du bist zurück?« Song Gang nickte nur stumm. Die vertrauten Gesichter sah er wohl, nahm sie jedoch gar nicht richtig wahr, geschweige denn, dass er sich an die Namen seiner Bekannten erinnert hätte. Er konnte an nichts anderes denken als an Lin Hong. Nachdem er über eine Stunde vor der Tür gestanden und die Straße hinuntergespäht hatte, wanderte sein Blick zufällig zu der Imbissstube gegenüber. Die Leuchtschrift, sah er erstaunt, zeigte jetzt nicht mehr die »Imbissstube Su« an, sondern eine »Snackbar Zhou Buyou«. Als er dann Zhou You durch die Fenster der Gaststube entdeckte, überquerte er die Straße und ging hinein. Er nickte Su Mei, die hinter der Zahltheke saß, lächelnd zu, doch sie reagierte nicht, so erschrocken war sie über den Anblick des Mannes mit seiner befremdlichen weißen Gazemaske. Da wandte sich Song Gang seinem ehemaligen Wandergefährten zu, der sich gerade mit ein paar Gästen unterhielt. Er sprach ihn an: »Zhou You!« Auch Zhou erschrak zunächst, fasste sich aber sofort, als er Song Gang erkannte, und rief voller Herzlichkeit: »Song Gang, du bist es! Du bist wieder da?« Dann ging er zu ihm hin und korrigierte ihn als Erstes, ehe er es wieder vergaß: »Übrigens habe ich meinen Namen geändert, heiße nicht mehr Zhou You, sondern Zhou Buyou.« Der Schwindler hatte mittels des kleinen Wörtchens bu 965
(»nicht«) vor dem eigentlichen Vornamen yau (»umherziehen«) seinen neuen Status dokumentiert ... Song Gang, der an die veränderte Leuchtschrift über dem Eingang dachte, lächelte unter seinem Mundschutz. Als er ein kleines Mädchen auf einem Kinderstühlchen bemerkte, fragte er Zhou You - respektive Zhou Buyou: »Ist das Su Zhou?« Zhou Buyou verbesserte ihn auch bei diesem Namen. Ziemlich von oben herab sagte er: »Sie heißt Zhou Su.« Die Kleine trug also jetzt den Familiennamen des Vaters als Nachnamen und den der Mutter als Vornamen, wie es Brauch ist. Dass vorher Su Meis Familienname an erster Stelle stand, hatte sich erübrigt, seit Zhou für klare Verhältnisse gesorgt hatte. Nun kam auch Su Mei dazu. Besorgt fragte sie Song Gang, der gerade wieder husten musste: »Song Gang, du bist wohl eben erst angekommen? Hast du überhaupt schon gegessen?« Zhou Buyou, ganz Herr im Hause, winkte sofort eine Kellnerin herbei: »Bring mal die Karte!« Während er der Kellnerin bedeutete, sie seinem Freund zu reichen, sagte er: »Song Gang, iss, was du möchtest! So viel, wie du willst! Du bist mein Gast.« Der hustende Song winkte ab: »Danke, aber ich esse mit Lin Hong, wenn sie zurückkommt.« »Lin Hong?«, sagte Zhou mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. »Auf die musst du nicht warten, die ist mit GlatzkopfLi in Schanghai.« Song Gang erschrak. Su Mei schaltete sich hastig ein und wies ihren Gatten zurecht: »Red nicht solchen Quatsch!« 966
»Wieso Quatsch?«, protestierte Zhou. »Viele haben es mit eigenen Augen gesehen.« Als er jedoch Su Meis erregtes Augenzwinkern bemerkte, sprach er nicht weiter. Dann schaute er Song Gang interessiert auf die Brust und flüsterte mit einem verständnisvollen Lächeln: »Du hast sie also wieder raus nehmen lassen?« Song Gang nickte nur geistesabwesend; Zhous Worte eben hatten ihn völlig verwirrt. Der Schwindler zog ihn auf einen Stuhl und setzte sich selbst mit übereinandergeschlagenen Beinen ihm gegenüber. »Nachdem ich dir den Handel mit den Gesundheitspflegemitteln übergeben hatte, habe ich nämlich angefangen, mich für die Gastronomie zu interessieren«, teilte er Song mit. »In Kürze werde ich hier in Liuzhen mit zwei weiteren Filialen vertreten sein, und in den nächsten drei Jahren wird es landesweit hundert Filialen der Kette >Snackbar Zhou Buyou< geben!« »Bis jetzt gibt's noch nicht mal die beiden in Liuzhen!«, unterbrach ihn Su Mei, die mitgehört hatte. Zhou Buyou warf ihr einen Blick zu, beachtete aber ihren Einwurf gar nicht. »Und weißt du, wer dabei mein Konkurrent ist?«, fuhr er fort. »Nein, nicht Glatzkopf-Li, der ist viel zu klein. McDonald's! Meine Marke >Zhou Buyou< wird sich überall in unserem Vaterland gegen McDonald's durchsetzen, und dann geht die Aktie von denen in den Keller fünfzig Prozent verliert die!« »Wenn man dich so reden hört, kann man sich nur schämen!«, warf Su Mei ungehalten ein. Der Schwindler warf ihr abermals einen Blick zu, dann schaute er auf seine Armbanduhr und sprang aufgeregt auf.
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»Song Gang, wir reden ein andermal weiter«, rief er. »Ich muss jetzt nach Hause. Es läuft eine koreanische Serie!« Als er weg war, verließ auch Song Gang die Imbissstube und ging in seine leere Wohnung zurück. Er knipste alle Lichter an und nahm den Mundschutz ab. Dann sah er sich in der Wohnung um, zuerst im Schlafzimmer, danach in der Küche und im Bad. Schließlich blieb er mitten im Wohnzimmer stehen und fing fürchterlich an zu husten; unter den Achseln tat es dabei so weh, als würden die Wundnähte jeden Moment aufplatzen, und der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen. Er sank auf einen Stuhl, den Kopf gesenkt, und presste beide Hände auf die schmerzende Brust, bis der Husten allmählich aufhörte und auch die Schmerzen unter den Achseln langsam nachließen. Als er aufblickte, stellte er fest, dass er alles um sich herum nur verschwommen wahrnahm. Auch mehrmaliges Blinzeln nützte nichts, er konnte immer noch nicht klar sehen. Es dauerte einen Moment, ehe er begriff, seine Brillengläser waren verschmiert von den Tränen, die er während seines schmerzhaften Hustenanfalls unwillkürlich geweint hatte. Er nahm die Brille ab, putzte sie mit dem Hemdzipfel und setzte sie wieder auf. Jetzt konnte er wieder scharf sehen. Song Gang band seine Gazemaske um und stellte sich erneut vor der Tür an die Straße, die ihm im Licht der Straßenlaternen und der zuckenden Leuchtreklame ganz unwirklich vorkam. Immer noch in der Illusion, Lin Hong würde doch noch kommen, suchte er den nicht abreißenden Strom der Passanten nach ihr ab.
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Dichter Zhao kam nach Hause. Er musterte den Mann vor der Tür, sah seinen Mundschutz, trat einen Schritt zurück und rief: »Song Gang!« Song Gang murmelte einen Gruß, erst dann wendete er den Blick von den Straßenpassanten und sah, wer ihn angesprochen hatte. Dichter Zhao sagte grinsend: »Man braucht dich gar nicht anzuschauen; wenn man einen Mundschutz sieht, weiß man eh, das ist Song Gang!« Song nickte. Er musste wieder husten und presste unwillkürlich die Hände auf die schmerzenden Achselhöhlen. Dichter Zhao sah ihn mitleidig an und fragte: »Wartest du auf Lin Hong?« Song Gang nickte erst, schüttelte dann den Kopf und richtete nichtsahnend seinen Blick wieder auf die Straßenpassanten. Der Dichter klopfte ihm auf die Schulter und sagte mitfühlend: »Du brauchst nicht länger zu warten. Lin Hong ist mit Glatzkopf-Li weggefahren.« Song Gang begann, am ganzen Leibe zu zittern, und sah Zhao verängstigt an. Der klopfte ihm abermals auf die Schulter und fuhr mit einem geheimnisvollen Lächeln fort: »Du wirst es schon noch erfahren.« Damit ließ er ihn stehen und stieg mit seinem geheimnisvollen Lächeln die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. Song Gang war so erschüttert, dass er keinen Gedanken fassen konnte. Ihm wurde schwarz vor Augen, und er hustete keuchend unter seiner Gazemaske, spürte aber keine Schmerzen unter den Achseln. Er war wie betäubt und rührte sich nicht von der Stelle, bis der Strom der Passanten auf den Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen zu versiegen begann, die Leuchtreklame allmählich abgeschaltet wurde und es um 969
ihn herum still wurde. Dann erst wandte er sich um und ging mit gesenktem Kopf und unsicheren Schritten wie ein tatteriger Greis in seine Wohnung - seine Wohnung ohne Lin Hong - zurück. Es wurde keine gute Nacht für Song Gang. Er fror erbärmlich alleine in dem großen Ehebett. Selbst die Decke, ja das ganze Zimmer, alles kam ihm eiskalt vor. Die Gedanken summten in seinem Schädel wirr durcheinander. Nach den Andeutungen von Zhou Buyou und Dichter Zhao ahnte er, dass etwas vorgefallen war. Sein Bruder, mit dem er einst auf Gedeih und Verderb verbunden war, und seine heißgeliebte Ehefrau ... - nein, er hatte nicht den Mut, den Gedanken zu Ende zu denken. Er hatte einfach nur Angst. Zwischen Wachen und Schlafen wartete er auf den Morgen. Am Vormittag des nächsten Tages wanderte er verloren durch die Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen. Er wusste nicht, wohin er ging, aber seine Füße schienen es zu wissen, denn sie trugen ihn zu Glatzkopf-Lis Firma und machten am Eingangsportal halt. Song Gang hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Da kam plötzlich Stieleis-Wang aus der Pförtnerloge herausgeschossen und rief voller Freude: »Song Gang! Song Gang, wie schön, dass du wieder da bist!« Nachdem Stieleis-Wang zu einem der reichsten Männer unserer kleinen Stadt Liuzhen geworden war, lungerte er den ganzen Tag wie ein Faulenzer müßig auf der Straße herum. Das hatte er jedoch nach ein paar Jahren gründlich satt. Nun besann er sich, er war ja stellvertretender Generaldirektor, und bezog sein Büro in der Firma, doch als er feststellte, dass alle um ihn herum geschäftig umherwuselten, nur er allein 970
untätig herumsaß, hatte er schon ein Jahr später auch davon die Nase voll. Kurz entschlossen bot er sich als Pförtner am Eingangsportal der Firma an, da würden wenigstens ein paar Leute mit ihm reden. Stellvertreter Liu, der nicht wagte, ihm diesen Wunsch abzuschlagen - immerhin war Stieleis-Wang Anteilseigner Nr. 3 der Firma-, ließ den alten Dienstraum des Pförtners abreißen und eine neue Pförtnerloge bauen. Die neue Pförtnerloge, oder besser gesagt: Pförtnerwohnung, verfügte über je ein großes Wohn- und Schlafzimmer, eine geräumige Küche und ein großzügiges Bad, alles picobello eingerichtet nach dem Standard eines Fünf-Sterne-Hotels - Polstermöbel aus Italien, Parade bett aus Deutschland, Schrank aus Frankreich, riesiger Schreibtisch mit Chefsessel -, dazu natürlich eine Klimaanlage für den Sommer und Fußbodenheizung für den Winter. Stieleis-Wang zog voller Freude in seine FünfSterne-Pförtnerloge ein und ließ sich von da an nicht ein einziges Mal mehr in seiner alten Wohnung blicken. Er war voll des Lobes über Stellvertreter Liu. Sooft er ihn traf, brach er aufs Neue in Lobeshymnen aus, was Liu natürlich runterging wie Butter. Besonders begeistert war Stieleis-Wang von seinem Hightech-Klosett der japanischen Firma Toto, denn seit er das hatte, brauchte er sich nach erledigtem Geschäft nicht einmal mehr abzuputzen, weil sein Arsch automatisch sauber gespült und hinterher sogar noch trockengepustet wurde. Auf dem Dach der »Pförtnerloge« hatte Stellvertreter Liu außerdem fünf Parabolantennen installieren lassen. Mit diesen Satellitenschüsseln könne man alle Fernsehprogramme von Ländern empfangen, die reicher oder genauso reich wie 971
China seien, sagte er zu Stieleis-Wang, daneben auch einige Programme aus ärmeren Ländern. Von da an wurde in der Pförtnerloge den ganzen Tag in Zungen geredet, als ob die UNO-Vollversammlung gerade dort tage. Auch bei Stieleis-Wangs engstem Kampfgefährten gab es eine Veränderung, besser gesagt: eine Eskalation. Für Zahnreißer Yu hatten nämlich geführte Gruppen- und Individualreisen aus dem Katalog längst den Reiz des Neuen verloren. Wenn er jetzt irgendwohin kam, heuerte er stets vor Ort eine private Dolmetscherin an. Auch der ewigen Sehenswürdigkeiten war er mittlerweile überdrüssig. Sein ganzes Interesse galt jetzt - Demonstrationen! Inzwischen hatte er schon in -zig europäischen Städten an Demonstrationen teilgenommen. Dabei kam es ihm überhaupt nicht darauf an, wofür oder wogegen demonstriert wurde. Sobald er auf einen Umzug oder eine Massenversammlung stieß, stürzte er sich mit Wonne ins Getümmel. Dabei wechselte er auch schon mal die Seiten, wenn zum Beispiel eine Gegendemonstration mehr Zulauf hatte - Zahnreißer Yu achtete stets darauf, auf der Seite des Stärkeren zu stehen. Er konnte schon in zehn verschiedenen Sprachen Parolen rufen und würzte seine häufigen Telefonate mit Stieleis-Wang ganz beiläufig mit den fremdsprachigen Losungen. In Stieleis-Wangs Verständnis waren die Demonstrationen, an denen sein Kumpel sich so eifrig beteiligte, nichts anderes als eine Neuauflage der Kulturrevolution. Immer wenn Zahnreißer Yu ihm telefonisch von irgendwelchen Demonstrationen in irgendeiner Stadt berichtet hatte, rief er Stellvertreter Liu an, um seinen Intimus ins Bild zu setzen, in
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welcher ausländischen Stadt gerade wieder eine Große Kulturrevolution im Gange war. Zahnreißer Yu missfiel diese Interpretation zutiefst. Per Auslandsgespräch putzte er Stieleis-Wang herunter: »Kulturrevolution - das ist voll daneben, du Hinterwäldler! Es handelt sich um Politik!« Dann erklärte er ihm, warum er so versessen sei auf Politik: »Wer bloß satt ist und es warm hat, der denkt an Sex; doch wer reich und berühmt ist, der liebt die Politik ... « Anfangs war Stieleis-Wang nicht recht überzeugt, doch dann sah er Zahnreißer Yu einmal leibhaftig in den Fernsehnachrichten irgendeines ausländischen Senders. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als plötzlich zwischen lauter Teilnehmern eines Demonstrationszuges für einen Augenblick das Profil seines Freundes auftauchte. Das ließ seine Achtung vor dem Zahnreißer bis ins Unendliche steigen. Als Yu das nächste Mal anrief und er ihm, vor Aufregung stotternd, erzählte, er habe ihn im ausländischen Fernsehen entdeckt, war die Aufregung am anderen Ende der Leitung nicht minder groß. Ebenfalls vor Aufregung stotternd, fragte der Zahnreißer, ob Stieleis-Wang denn die Sendung auch aufgenommen habe. Als dieser es verneinte, wurde er richtig wütend und belegte Wang übers Telefon mit den unflätigsten Schmähungen, nannte ihn Dummkopf, Vollidiot und Bastard, um am Ende nochmals darüber zu lamentieren, dass er es nicht einmal für nötig gehalten habe, den Recorderknopf zu drücken, als sein bester Freund seinen großen Auftritt hatte. Stieleis-Wang war zutiefst beschämt und versicherte dem Zahnreißer immer wieder, dass er in Zukunft besser aufpassen würde, wenn wieder so etwas im Fernsehen liefe. 973
Von da an blieb er dem Freund per Fernseher auf den Fersen, zappte sich durch die Programme desjenigen Landes, in dem Yu gerade verweilte und hielt gezielt Ausschau nach Berichten über Demonstrationen und Kundgebungen. Hatte er sie gefunden, saß er wie die Katze vor dem Mauseloch mit dem Finger auf der Aufnahmetaste der Fernbedienung vor dem Fernseher, um ja nicht den Moment zu verpassen, an dem Yu auf dem Bildschirm auftauchen würde. Als Stieleis-Wang Song Gang vor dem Portal stehen sah, befand sich Zahnreißer Yu gerade im Flugzeug von Madrid nach Toronto, sodass Wang seine Fernsehwache ausnahmsweise einmal vernachlässigen konnte. Er führte Song, den er so lange nicht gesehen hatte, in seine Behausung und platzierte ihn in einen von den italienischen Sesseln. Dann begann er, wie ein Wasserfall zu reden, und zwar ausschließlich über die Abenteuer des Zahnreißers. »Ich weiß nicht, woher der den Mut nimmt. Spricht kein Wort irgendeiner Fremdsprache und traut sich doch überallhin!«, schloss er mit einem Seufzer der Bewunderung. Song Gang, seelisch verstört und von dem dumpfen Schmerz in seinen Achselhöhlen wie betäubt, schaute Stieleis-Wang die ganze Zeit über seinen Mundschutz hinweg an, ohne ihn wirklich zu sehen, ebenso wenig nahm er wahr, was Wang zu ihm sagte. Er wusste, dass er weder Glatzkopf-Li noch Lin Hong hier treffen würde - warum war er dann hierhergekommen? Nachdem er eine halbe Stunde ohne ein Wort bei Stieleis-Wang gesessen hatte, stand er wortlos auf und verließ die Luxus- Pförtnerloge. Stieleis-Wang, der ihm unablässig weiterplappernd nach draußen gefolgt war, blieb am Portal stehen, redete aber immer noch weiter auf ihn ein. 974
Song Gang hörte überhaupt nichts, blickte nur mit leeren Augen auf die Straße und ging schließlich mit schleppendem Schritt zu seiner Wohnung zurück. XLVII Nach seiner Rückkehr in unsere kleine Stadt Liuzhen verbrachte Song Gang sechs Tage in völliger Zurückgezogenheit. Er bereitete sich in dieser Zeit nur sechs Mahlzeiten und aß dabei jeweils nicht mehr als eine Schüssel Reis. Die Wohnung verließ er nur kurz, um Gemüse zu kaufen. Dabei traf er immer wieder auf Bekannte, aus deren Andeutungen er sich ungefähr zusammenreimen konnte, was zwischen Glatzkopf-Li und Lin Hong vorgefallen war. Nach außen hin ließ er sich jedoch nichts anmerken. Am Abend des siebenten Tages holte er das Familienalbum hervor und betrachtete alle Aufnahmen, die ihn mit Lin Hong zeigten. Danach klappte er seufzend das Album wieder zu. Als Nächstes suchte er das vergilbte alte Schwarzweißfoto heraus, auf dem sein Vater Song Fanping, seine Mutter Li Lan, sein Bruder Glatzkopf-Li und er selbst verewigt waren. Er seufzte abermals und legte das Bild in das Album zurück. Dann streckte er sich auf dem Bett aus und heulte wie ein Schlosshund. Nach siebentägigem dumpfem Brüten konnte er wieder klar denken. Die Ereignisse vor zwanzig Jahren, jene Verwirrung der Gefühle zwischen Glatzkopf-Li, Lin Hong und ihm selbst, alles stand ihm so deutlich vor Augen, als wäre es erst gestern gewesen. Ihm war endlich klar, Lin Hang hätte niemals ihn heiraten dürfen, sondern Glatzkopf-Li erhören sollen. Dieser Gedanke hatte etwas Befreiendes. Er fühlte sich 975
auf einmal erleichtert, als wäre ihm ein schwerer Stein vom Herzen gefallen. Am frühen Morgen des achten Tages setzte er sich an den Esstisch, um zwei Briefe zu schreiben, einen an seine Frau, den anderen an Glatzkopf-Li. Das kostete ihn große Mühe. Bei vielen Sätzen war er sich nämlich nicht sicher, ob er sich richtig ausgedrückt hatte, und viele Schriftzeichen konnte er nicht mehr schreiben. Traurig musste er daran denken, wie gern er mit zwanzig Bücher gelesen, wie sehr er die Literatur geliebt hatte. Sogar eine Erzählung hatte er ja damals verfasst, die von Glatzkopf-Li über den grünen Klee gelobt worden war. Und jetzt? Seit vielen Jahren hatte die Last des Lebens ihm kaum Luft zum Atmen gelassen, da war keine Gedanke mehr an Lesen gewesen, weder an Bücher noch an Zeitungen. Jetzt musste er feststellen, dass er nicht einmal mehr einen Brief schreiben konnte. Song Gang merkte sich die Zeichen, die ihm entfallen waren, legte den Mundschutz an und ging in die Buchhandlung, um die vergessenen Schriftzeichen im Wörterbuch nachzuschlagen. Anschließend ging er wieder nach Hause und schrieb weiter. Er scheute sogar die kleine Ausgabe für ein Wörterbuch, obwohl er 30 000 Yuan mit nach Hause gebracht hatte. Dieses Geld, sein letztes, sollte auf jeden Fall vollständig für Lin Hang erhalten bleiben, wo er doch sonst sein Leben lang so wenig für sie hatte tun können. Noch mehr als zehnmal musste er an den folgenden Tagen in die Buchhandlung gehen, manchmal sogar mehrmals täglich, sodass die Verkäuferinnen schon anfingen zu kichern, wenn der Mann mit dem Mundschutz wieder auftauchte. Früher sei er der »Einspringer vom Dienst« gewesen, spot976
teten sie hinter seinem Rücken, jetzt sei er der »Gelehrte vom Dienst«. Später tauften sie ihn noch einmal um zu »Wörterbuch vom Dienst«, und das sogar in seiner Hörweite. Ohne das Nachschlagen zu unterbrechen oder sich gar zu ihrem Spott zu äußern, lächelte er nur flüchtig darüber. Nach fünf Tagen Zeichennachschlagen und Feilen am Ausdruck hatte Song Gang seine beiden Briefe endlich fertig. Er schrieb sie ins Reine, dann stand er vom Tisch auf, als wäre eine schwere Last von ihm abgefallen, kaufte auf dem Postamt zwei Umschläge und zwei Briefmarken, klebte die Marken auf die Kuverts, adressierte sie und steckte sie dann in seine Brusttasche. Die Wunden unter seinen Achseln schmerzten unerträglich, es spannte und riss immer mehr. Er öffnete die Jacke und sah nach. Es kam ihm vor, als sei der Stoff des Hemdes mit den Wunden verklebt. Als er das Hemd auszog, war es, als risse er sich die Haut herunter. Nachdem der jähe Schmerz, der ihn konvulsivisch zucken ließ, allmählich nachgelassen hatte, hob er die Arme und sah, dass beide Achselhöhlen vereitert waren. Der schwarze Faden, mit dem die Wunden vernäht waren, war unter dem roten, wulstigen Wundgewebe kaum noch zu erkennen. Ihm fiel ein, der Arzt hatte gesagt, dass die Fäden sechs Tage nach der Operation gezogen werden müssten. Jetzt waren schon dreizehn Tage vergangen - kein Wunder, dass er solche Schmerzen hatte! Er stand auf und holte eine Schere, um die Fäden mit Hilfe eines Spiegels selbst zu ziehen. Aber vorher musste die Schere desinfiziert werden, also machte er Feuer und hielt sie fünf Minuten in die Flamme. Nachdem er, die Schere in der Hand, zehn Minuten geduldig gewartet hatte, bis sie wieder 977
ganz abgekühlt war, begann er, die Fäden in seinen Achselhöhlen Stich für Stich zu durchtrennen. In dem Maße, wie die Anzahl der schwarzen Fadenreste, die an den Scherenblättern kleben blieben, immer größer wurde, ließ auch der Schmerz allmählich nach. Als er fertig war, empfand er eine ungeheure Erleichterung - als wäre sein Körper plötzlich ein Stück gewachsen, so kam es ihm vor. Gegen Abend wickelte Song Gang das Geld, das er von seiner Reise mitgebracht hatte, sorgfältig in eine alte Zeitung und versteckte das Paket unter dem Kopfkissen. Für sich selbst behielt er nur zehn Yuan zurück. Dann legte er den Schlüssel auf den Tisch, nachdem er ihn einen Moment lang versonnen betrachtet hatte, band den Mundschutz um und ging zur Tür. Er drehte sich noch einmal um und schaute in seine Wohnung zurück, warf auch noch einen Blick auf den Schlüssel auf dem Tisch - ja, es war alles so, wie es sich gehörte, einzig der Schlüssel störte die Ordnung. Als er die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatte, blieb er noch einen Moment stehen und dachte, jetzt kann ich nicht mehr zurück, der Schlüssel ist ja drinnen. Er ging über die Straße und betrat die »Snackbar Zhou Buyou«, denn er hatte vor, die Strohhalm-Baozi zu kosten, die er vorher noch nie gegessen hatte. Er traf aber weder Zhou Buyou noch Su Mei an, auch Mutter Su entdeckte er nicht. Er konnte ja nicht wissen, dass Zhou inzwischen auch Su Mei und ihre Mutter mit seiner Vorliebe für koreanische Fernsehserien angesteckt hatte und sie montags bis freitags um diese Zeit alle drei zu Hause vor dem Fernseher hockten und wie gebannt auf den Bildschirm starrten. Song Gang blieb einen Moment unschlüssig an der Tür stehen, dann 978
ging er zur Kassentheke hinüber, hinter der eine ihm unbekannte Kellnerin saß, und fragte nach kurzer Überlegung ziemlich verdruckst: »Wie isst man denn .. ,« Die Frau verstand nicht. »Wie isst man was?«, fragte sie. Song Gang merkte, dass er sich nicht verständlich gemacht hatte, doch ihm fiel nicht gleich der richtige Ausdruck ein. Da zeigte er auf ein paar Gäste, die gerade Strohhalm-Baozi aßen, und sagte: »Diese kleinen Baozi mit den Trinkhalmen... « Die Baozi-Esser kicherten. Einer fragte ihn: »Hast du als Baby Muttermilch getrunken?« Song Gang merkte wohl, dass der Mann ihn auf den Arm nehmen wollte, und antwortete geistesgegenwärtig: »Haben wir doch alle!« »Und als Erwachsener, hast du da mal Baozi gegessen?«, fragte der Mann weiter. Song Gang blieb bei seiner Antwort: »Haben wir doch alle.« »Also gut«, sagte der Mann. »Dann werde ich dir mal sagen, wie man es macht: Zuerst nuckelst du den Fleischsaft aus dem Baozi wie früher die Milch aus der Mutterbrust, und dann isst du den Rest wieso wie man eben Baozi isst.« Allgemeine Heiterkeit, in die auch das Mädchen hinter der Theke einstimmte. Song Gang lachte nicht. Bei seiner Antwort eben war ihm klar geworden, was er eigentlich hatte sagen wollen. »Ich wollte fragen, wie viel sie kosten«, sagte er zu der Kellnerin. Da endlich verstand sie, nahm das Geld entgegen und schob ihm den Bon hin. Als er mit dem Bon in der Hand an der Theke stehen blieb, sagte sie, er solle sich erst einmal einen Platz suchen, die Strohhalm-Baozi würden noch gedämpft, er müsse sich noch zehn Minuten gedulden. Song Gang warf ei979
nen Blick auf die immer noch grinsenden Gäste und setzte sich an einen möglichst weit von ihnen entfernten Tisch. Kerzengerade saß er da, wie ein Grundschüler auf der Schulbank, und wartete ohne eine Miene zu verziehen auf sein Essen. Als die dampfenden Baozi endlich vor ihm standen, band er seinen Mundschutz ab und saugte unverzüglich den Fleischsaft aus dem ersten heraus. Die Leute, die sich eben über ihn lustig gemacht hatten, staunten: Der Fleischsaft war vielleicht nicht mehr kochend, aber achtzig oder neunzig Grad heiß war er bestimmt, und doch schlürfte ihn Song Gang, als wäre es Eiswasser, anscheinend ohne sich den Mund zu verbrennen! Nachdem er den ersten Baozi leer genuckelt hatte, nahm er sich den zweiten und gleich darauf den dritten vor. Danach hob er den Blick und sah die staunenden Gäste lächelnd an. Bei diesem Lächeln überlief es sie eiskalt; sie dachten, er sei gewiss nicht ganz richtig im Kopf. Song Gang aß die drei Baozi zügig auf, band sich die Gazemaske wieder um, stand auf und verließ die Imbissstube. Im letzten Licht des Tages ging er in Richtung der untergehenden Sonne die Straße entlang. Anders als sonst, hatte er den Kopf nicht gesenkt, sondern blickte sich nach rechts und links um, betrachtete die Schaufenster und schaute den Passanten ins Gesicht. Wenn ihn jemand ansprach, schaute er nicht mehr zur Seite und murmelte etwas Unverständliches, vielmehr winkte er der betreffenden Person freundlich zu. Ab und zu blieb er auch einmal vor einem Laden stehen, um sich die Auslage genauer anzusehen. Viele Einwohner unserer kleinen Stadt Liuzhen, die Song Gang an jenem Abend sahen, erinnerten sich später, dass er 980
zum ersten Mal nicht wie gewöhnlich die Straße entlanghetzte, sondern den Eindruck erweckte, einen Einkaufsbummel zu machen. Vor jedem Geschäft sei er stehen geblieben, habe jedem, der ihn im Vorübergehen an der Schulter streifte, nachgeschaut und sich anscheinend selbst für die Platanen zu beiden Seiten der Straße interessiert. An einem Hi-Fi-Laden habe er sogar fünf oder sechs Minuten verweilt, um sich zwei Schlagerlieder anzuhören. Durch seinen Mundschutz hindurch habe er zu den Vorübergehenden gesagt »Klingen echt gut, die Lieder!«. Als Song Gang am Postamt vorüberkam, holte er aus seiner Brusttasche die Briefe an Glatzkopf-Li und Lin Hang hervor, steckte sie in den Briefkasten und spähte sogar noch in den Schlitz, um sich zu vergewissem, dass sie sich nicht etwa verklemmt hatten. Dann erst ging er in Richtung der untergehenden Sonne weiter. Er ließ unsere kleine Stadt Liuzhen hinter sich und kam zu einer Stelle, wo die Eisenbahn vorbeifuhr. Dort setzte er sich neben den Gleisen auf einen Stein, nahm die Gazemaske ab, atmete voll Behagen in tiefen Zügen die frische Abendluft ein und ließ seinen Blick über die erntereifen Reisfelder ringsumher schweifen. Im Wasser des Kanals, der in der Nähe durch die Felder plätscherte, spiegelte sich das letzte Abendrot. Song Gang sah es und blickte nach oben. Der Abendhimmel mit seinen Farben, die ihn wie die Fluten des Meeres vielfach gestaffelt überzogen, die rote Sonne, die schimmernden Wolken - all dies erschien ihm unsagbar schön, schöner noch als die Erde. Er fühlte, er hatte das Licht gesehen, das farbige Licht, das in fortwährendem Wechsel den Himmel überzog. Dann senkte er wieder den Blick und 981
schaute auf die weiten Felder. Auch die Reisähren waren von den Strahlen der Abendsonne gerötet - wie lauter rote Rosen sahen sie aus, sodass er das Gefühl hatte, inmitten eines Blütenmeers zu sitzen. In weiter Ferne ertönte das Pfeifsignal eines Zuges. Song Gang nahm die Brille ab und putzte sie, setzte sie wieder auf und sah, dass die Sonne zur Hälfte hinter dem Horizont verschwunden war und der Zug immer näher kam. Er stand auf und sagte sich, dass die Stunde des Abschieds von dieser Welt gekommen sei. Um seine Brille tat es ihm leid, er befürchtete, der Zug würde sie zermalmen. Deshalb nahm er sie ab und legte sie auf den Stein, auf dem er gesessen hatte. Als ihm das nicht auffällig genug erschien, zog er seine Jacke aus, breitete sie über den Stein und legte die Brille darauf. Dann zog er ein letztes Mal die Luft dieser irdischen Welt tief ein und legte seinen Mundschutz wieder an. (Er wollte nicht, dass die Menschen, die seinen Leichnam finden würden, sich an seiner Krankheit ansteckten; dass Tote nicht atmen können, hatte er in diesem Moment verdrängt.) Noch vier Schritte vorwärts, dann lag er mit ausgebreiteten Armen quer über dem Gleis. Weil die Schiene schmerzhaft auf die Wunden unter seinen Achseln drückte, robbte er noch ein wenig weiter, damit sein Unterleib auf der Schiene zu liegen kam. Das war wesentlich angenehmer. Der herannahende Zug ließ die Schienen und mit ihnen auch ihn selbst vibrieren. Er dachte wieder an die Farbenpracht des Himmels und hob den Kopf, um noch einen Blick darauf zu erhaschen: Wie wunderschön! Dann wandte er den Kopf zur Seite und schaute ein letztes Mal auf die rosenrot überhauchten Reisfelder: Wie wunderschön! Freudig über982
rascht erblickte er in diesem Moment plötzlich einen Seevogel, der mit ausgebreiteten Schwingen auf ihn zuflog, sogar seinen Schrei konnte er hören. Das Letzte, was er sah, ehe er von dem ratternden Zug überrollt wurde, war ein einsamer Seevogel, der über einem Blütenmeer schwebte. XLVIII Noch vor Einbruch der Nacht kamen Glatzkopf-Li und Lin Hong im weißen BMW in Liuzhen an und fuhren sofort weiter zu Glatzkopf-Lis Luxuswohnung. Es war eine triumphale Rückkehr für beide, denn Lin Hong hatte die Hymenrekonstruktion, Glatzkopf-Li die Verhandlungen über diverse Geschäfte in Peking und Nordostchina erfolgreich hinter sich gebracht. Als die beiden das Wohnzimmer betraten, klingelte Glatzkopf-Lis Handy; Stellvertreter Liu war am Apparat. Er teilte seinem Chef mit, dass das Abendessen bereitstehe und jederzeit eingenommen werden könne. Glatzkopf-Li klappte das Handy zu und sagte: »Der Bastard denkt wirklich an alles!« Sie stellten ihr Gepäck im Wohnzimmer ab und tänzelten hinüber ins Speisezimmer. Da es inzwischen dunkel geworden war, machte Glatzkopf-Li Licht. Er schaute sich den gedeckten Tisch an, der mit einem Arrangement aus roten Rosen geschmückt war. Eine geöffnete, aber wieder verkorkte Flasche französischer 1985er Rotwein stand in einem Edelstahlgefäß bereit. Glatzkopf-Li war sehr zufrieden mit Stellvertreter Lius Vorkehrungen. »Sehr romantisch, das muss man dem Bastard lassen«, sagte er zu Lin Hong, als sie einander gegenüber Platz nahmen.
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Lin Hong stimmte ihm lachend zu; sie meinte, es sehe aus, als wäre der Tisch für ausländische Gäste gedeckt. GlatzkopfLi sprang sofort darauf an und begann, den Gentleman zu spielen. Kerzengerade dasitzend entkorkte er die Weinflasche und goss ein wenig in sein Glas, setzte die Flasche ab, schwenkte den Wein im Glas und schnupperte daran, um das Bukett zu prüfen, ehe er einen Schluck trank und dann befriedigt feststellte: »Nicht schlecht!« Dann stand er auf, schenkte - die linke Hand auf dem Rücken formvollendet auch der Dame ein, setzte sich wieder, erhob sein Glas und wartete, sehr aufmerksam, bis sie ihren Pokal ebenfalls erhoben hatte. Lin Hong konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, denn es war das erste Mal, dass sie Glatzkopf-Li so manierlich erlebte; bisher kannte sie ihn nur als Flegel mit ungehobelter Ausdrucksweise. »Wo hast du denn das gelernt?«, fragte sie ihn. »Im Fernsehen«, antwortete er artig und stieß mit ihr an. Lin Hong nahm einen winzigen Schluck, dann stellte sie das Glas ab. Glatzkopf-Li dagegen leerte sein Glas auf einen Zug wie beim Wetttrinken. Danach rief er, ungeschliffen wie eh und je: »So, und jetzt hau rein! Dann duschst du und wartest im Bett auf mich.« Zur selben Stunde aß Song Gang in der »Snackbar Zhou Buyou« die ersten Strohhalm-Baozi seines Lebens und verbrannte sich, ohne es zu merken, an dem Fleischsaft den Mund. Als er die Imbissstube verließ und sich zu den Bahngleisen westlich der Stadt aufmachte, hatte auch GlatzkopfLi sein Abendessen schon hinuntergeschlungen und drängte Lin Hong ungeduldig zur Eile. So ist es nun einmal in der 984
Welt: Der eine geht in den Tod und genießt doch das Leben im Abendrot, während der andere, oder die anderen beiden, ihren Vergnügungen nachgehen und gar nicht wissen, wie schön die letzten Strahlen der untergehenden Sonne sind. Die Abendröte war verglüht, der Sonnenuntergang vorbei, die Nacht hüllte unsere kleine Stadt Liuzhen ein, und der tote Song Gang lag unter dem bleichen Mond auf den Schienen. Zu eben dieser Stunde wartete Lin Hong nackt im Bett auf Glatzkopf-Li, der noch im Bad herumtrödelte. Er hatte nämlich gerade den Wasserhahn aufgedreht, als der stets devote Stellvertreter Liu - der zu Recht annahm, seinen Chef jetzt im Badezimmer zu erreichen -, ihn telefonisch darüber informierte, dass in der Badezimmerkommode ein neuartiges Gerät zur Hymen-Beschau liege. Glatzkopf-Li dankte ihm mit einem liebevollen »Du Bastard!«, trocknete sich in aller Eile ab und sah nach, um was für ein »neuartiges Gerät« es sich wohl handele. Als er die Schublade aufzog, lag da ein - Grubenhelm! Glatzkopf-Li stutzte, dann aber war er voll des Lobes über Stellvertreter Liu, diesen verflixten Bastard! Lin Hang hörte ihn im Bad reden, konnte aber nichts verstehen. Als er herauskam, glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen: Der splitternackte Glatzkopf-Li hatte einen Bergmannshelm mit einer Lampe auf dem Kopf und einen Gürtel um die Hüften, an dem hinten eine Batterie befestigt war. Wie früher der Zopf eines kaiserlichen Mandarins hing aus dem Grubenhelm eine Leitung herunter, die zu der Batterie führte. Glatzkopf-Li freute sich über ihr Erstaunen. Er knipste die Lampe an und richtete den Strahl auf sie. Damit, sagte er voller Genugtuung, würde er ihr Jungfernhäutchen so richtig 985
genießen können. Wie ein Bergmann, der in den Stollen kriecht, schob er sich grinsend auf das Bett. Lin Hang bekam einen Lachanfall- er sah allzu komisch aus! Nie hätte sie sich träumen lassen, dass er sich ihr derart ausgerüstet nähern würde. Als ihr Gelächter in einen regelrechten Hustenkrampf überging, wurde Glatzkopf-Li böse. Er leuchtete auf ihre Brust und sagte: »Und du willst eine Jungfrau sein?« Lin Hang konnte sich einfach nicht wieder einkriegen. Sie wischte sich die Lachtränen ab und keuchte nur immer wieder: »Nein, so was Komisches aber auch!« Glatzkopf-Li saß wütend daneben; der Strahl seiner Lampe war jetzt auf die Decke gerichtet. Nachdem Lin Hang sich einigermaßen beruhigt hatte, knurrte er wütend: »Du benimmst dich ja wie 'ne verdammte Nutte und nicht wie 'ne Jungfrau!« Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht gleich wieder loszuplatzen. Dann fragte sie mit gespielter Ernsthaftigkeit: »Wie benimmt sich denn eine Jungfrau?« »Wenn sie zum ersten Mal einen nackten Mann sieht, muss sie sofort die Hände vors Gesicht schlagen«, belehrte er sie. Lin Hang konnte sich nur mit Mühe das Lachen verkneifen, bedeckte aber folgsam das Gesicht mit den Händen. Glatzkopf-Li war immer noch nicht zufrieden, denn sie lag mit geöffneten Schenkeln da. »Nur Nutten spreizen die Schenkel, wenn ein nackter Kerl dabei ist. Eine Jungfrau tut so etwas nicht!«, sagte er. Lin Hang presste ihre Beine fest zusammen. »So recht?«, fragte sie.
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Glatzkopf-Li war aber mit seinen Belehrungen noch nicht fertig: »Außerdem muss eine Jungfrau ihre Muschi zuhalten, damit der Mann sie nicht sehen kann.« Lin Hong protestierte: »Was denn nun? Eben hast du gesagt, ich soll mir die Augen zuhalten. Habe ich etwa vier Hände?« Das leuchtete ihm ein. Er erkundigte sich: »Wie war es denn, als du das erste Mal mit Song Gang geschlafen hast?« »Unter der Decke. Im Dunkeln.« Sofort sprang er auf und knipste das Licht aus. In der Dunkelheit leuchtete seine Bergmannslampe umso heller, sodass Lin Hong geblendet die Augen schloss. Als sie ihn bat, die Lampe auszumachen, lehnte er ab - dann könne er ihr Jungfernhäutchen ja nicht sehen. Er fragte: »Und Song Gang? Wie hat der dein Jungfernhäutchen angeschaut?« »Gar nicht. Es war ihm peinlich.« »Der Idiot! Ich jedenfalls will es sehen!« Sprach's und saß schon auf ihren Schenkeln. Sie aber presste beide Hände fest auf ihre Scham, und als er die Finger gewaltsam löste, drehte sie den Hintern schnell auf die Seite. Er rückte sie wieder zurecht, sie presste wieder die Hände auf die Scham - so ging es mehrmals hin und her, er kam einfach nicht zum Zuge. »Verdammt noch mal!«, rief er. »Lass mich doch mal gucken!« »Du hast selber gesagt, ich soll sie mir zuhalten!« »Verdammt! Du musst doch bloß so tun!« »Okay, dann tue ich jetzt so.« Nachdem Glatzkopf-Li es noch zwei weitere Male vergeblich versucht hatte, schien sie ihren Widerstand aufzugeben, begann zu stöhnen und zu strampeln und spreizte endlich 987
widerwillig die Beine. Glatzkopf-Li war sehr zufrieden. »Prima! Klasse gespielt!« Als er dann jedoch den Strahl seiner Lampe auf die bewusste Stelle richtete, versuchte sie wieder mit fingierter Schamhaftigkeit, sie mit den Händen zu bedecken. Hochzufrieden rief er: »So ist es recht! Ganz lebensecht.« Nunmehr war es Lin Hong, die etwas auszusetzen hatte. »Wie ein Pfadfinder beim ersten Mal siehst du ja nicht gerade aus«, bemängelte sie. »Mit dem Ding auf dem Kopf kommst du mir eher vor wie ein alter Hurenbock. Dabei sind auch Männer beim ersten Mal ein bisschen verlegen. Jedenfalls war es bei Song Gang so.« Das leuchtete Glatzkopf-Li ein. Er knipste die Grubenlampe aus, schnallte den Gürtel ab und warf Helm und Gürtel auf den Fußboden. »So, jetzt ist es stockfinster«, sagte er. »Genau richtig für uns zwei Jungfrauen!« Dann umarmten sie sich in der Dunkelheit. Nachdem sie sich eine Weile gestreichelt und liebkost hatten, drang er in sie ein. Sie stieß einen spitzen Schrei aus, einen echten Schmerzensschrei. Das erregte ihn so, dass er zu zittern begann. So oft sie schon miteinander gevögelt hatten, einen solchen markerschütternden Schrei hatte er von ihr noch nie zu hören gekriegt! Nun begann Lin Hong zu stöhnen, vor Schmerz und vor Lust. Der Schweiß brach ihr aus, und allmählich gewann die Lust die Oberhand über den Schmerz. Nie zuvor hatte sie etwas Ähnliches empfunden. Sie fühlte, wie der Schmerz ihre Lust vertiefte und beschleunigte, so wie eine Trägerrakete das Raumschiff ins All trägt. Dann brach der Orgasmus über sie herein wie ein Tsunami und schüttelte
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sie in lustvollem Krampf, bis sie nur noch hemmungslos schrie: »Oh, oh, oh, es tut so weh! ... « Glatzkopf-Li fühlte sich um zwanzig Jahre zurückversetzt. Auch er, der erfahrene Beschäler, war niemals so erregt gewesen wie jetzt. Als beide einander gierig umarmten und sich in wilder Leidenschaft gegenseitig immer mehr aufreizten, zitterte am Ende nicht nur Lin Hong vor Lust, sondern auch er. Während ihres kosmischen Orgasmus schien ihm, er halte nicht eine krampfhaft zuckende Frau im Arm, sondern die ganze Erde während eines Erdbebens. Da kam auch er zum Höhepunkt, zur unendlich beseligenden Erfüllung. Hinterher lagen sie mit hämmerndem Puls wie gelähmt auf dem Bett, Lin Hong zu Tode erschöpft und auch GlatzkopfLi mit keuchendem Atem. Beide hatten nach ihrem wilden Orgasmus die Empfindung, als trüge der Wind sie leicht wie ein Blatt Papier ganz langsam von den verschneiten Höhen des Mount Everest wieder auf unsere Erde. XLIX Lin Hong war nach ihrem denkwürdigen Orgasmus wie gerädert. Mehr tot als lebendig lag sie völlig erschöpft auf dem Bett wie ein krankes Lamm, das bereit ist, sich zur Schlachtbank führen zu lassen. Denn Glatzkopf-Li hatte es ihr vergnügt und munter noch ein zweites, drittes und viertes Mal besorgt. Beim dritten Mal hatte sie kraftlos protestiert und ihn daran erinnert, dass sie sich auf höchstens zwei Beischläfe nacheinander geeinigt hätten, aber er hatte ihre Einwände abgeschmettert. Heute habe nicht nur sie ihre Jungfräulichkeit verloren, sondern auch er. Wenn aber ein jungfräulicher Mann zum ersten Mal auf ein unberührtes Mädchen trifft, 989
sagte er, ist er doch wie ein junger Hund in der Abortgrube der hört auch nicht gleich wieder auf zu fressen! Da blieb Lin Hong nichts anderes übrig, als ihn apathisch zum dritten Mal ranzulassen. Als er sie schließlich auch noch ein viertes Mal vornahm, wäre sie beinahe in Tränen ausgebrochen, so müde und kaputt war sie. Glatzkopf-Li sagte, dies sei nun das letzte Mal, dass er sie vögele, danach würde er sie Song Gang zurückgeben. Es war kurz nach zwei Uhr morgens, der vierte Fick war gerade im Gange, und Lin Hong biss die Zähne zusammen, um Glatzkopf-Lis Angriff zu überstehen, der sie brutal wie ein Vieh hernahm, da rief Stellvertreter Liu an. Ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen, schaute Glatzkopf-Li auf das HandyDisplay und drückte fluchend das Gespräch weg, nachdem er gesehen hatte, wer der Anrufer war. Einen Augenblick später wiederholte sich dasselbe Spiel. Als das Telefon nicht aufhörte zu klingeln, nahm Glatzkopf-Li fuchsteufelswild endlich doch ab. Wütend brüllte er: »Ich bin kurz vorm Kommen! Wieso-« Was Stellvertreter Liu ihm mitteilte, traf ihn wie eine Kugel. Er schrie auf: »Was?!« Von panischem Entsetzen befallen, löste er sich von Lin Hong. Dann stand er wie ein Idiot neben dem Bett, nackt, mit halb geöffnetem Mund, das Handy ans Ohr gepresst, angespannt lauschend. Nachdem das Gespräch beendet war, blieb er, am ganzen Leibe zitternd, weiter so stehen, als hätte er das Bewusstsein verloren. Das Handy fiel ihm aus der Hand. Bei dem klappernden Geräusch zuckte er zusammen und kam wieder zu sich. Er brach in Tränen aus und begann sich zu verfluchen: »Den Tod habe ich verdient, verdammt noch mal! Ein Auto soll mich 990
überfahren, und wenn nicht, will ich in einem Feuer umkommen! Wenn ich nicht verbrenne, will ich ersaufen, und wenn ich nicht ersaufe, soll mich ein Auto überfahren! ... Ich Bastard! ... « Sterbensmatt, wie sie war, hatte Lin Hong nur vage mitbekommen, dass der auf ihr liegende Glatzkopf-Li telefonierte und gleich darauf wie von der Feder geschnellt von ihr abgesprungen war. Dann war erst alles ganz still gewesen, bis er schließlich begonnen hatte, wild herumfuchtelnd im Zimmer umherzulaufen, sich selber auf das Unflätigste zu beschimpfen und mit den Fäusten seine Glatze zu malträtieren. Sie öffnete die Augen und setzte sich erschrocken auf. Das Handy auf dem Fußboden, Glatzkopf-Li heulend wie ein kleines Kind, sich mit beiden Händen die Augen reibend - was war nur geschehen? Eine böse Vorahnung beschlich sie. »Was ist denn bloß passiert?«, fragte sie ihn aufgeregt. Unter Tränen stieß er hervor: »Song Gang ist tot. Der Bastard hat Selbstmord gemacht. Auf den Schienen!« Mit halb geöffnetem Mund starrte Lin Hong ihn so entsetzt an, als hätte er sie soeben vergewaltigt. In panischem Schrecken sprang sie aus dem Bett und fuhr in die Kleider. Als sie angezogen war, wusste sie nicht, was sie als Nächstes tun sollte, und stand ratlos und verwirrt da wie jemand, dem der Arzt gerade eröffnet hat, er leide an einer unheilbaren Krankheit. Nach einem Moment begann sie verzweifelt zu weinen. Sie biss sich auf die Lippen, bis sie bluteten, und brachte doch die Tränen nicht zum Versiegen. Als ihr Blick auf Glatzkopf-Li fiel, der immer noch nackt war, packte sie plötzlich ein Ekel. Hasserfüllt schrie sie: »Warum bist du nicht tot?« 991
»Du verdammte Hure!«, brüllte er, froh, jemanden zu haben, an dem er sich abreagieren konnte. »Song Gangs Leiche liegt seit über drei Stunden vor deiner Haustür und wartet, dass du aufmachst! Und du Dreckshure treibst dich mit fremden Männern herum ... « »Aha! Ich bin also eine Dreckshure!«, knirschte Lin Hong durch die Zähne. »Und was bist du dann? Ein total verkommener Bastard, das bist du!« »Wenn ich ein verkommener Bastard bin«, konterte Glatzkopf-Li, ebenfalls zähneknirschend, »dann bist du ein billiges Flittchen, eine verdammte Nutte!« »Eine Nutte bin ich? Dafür bist du schlimmer als ein Stück Vieh!«, kreischte sie hasserfüllt. Glatzkopf-Li hatte blutunterlaufene Augen vor Wut. »Ich soll schlimmer sein als ein Stück Vieh?«, brüllte er. »Wer hat denn den eigenen Mann ums Leben gebracht, hä?« »Wenn ich den eigenen Mann ums Leben gebracht habe«, schrie sie, »dann hast du deinen eigenen Bruder ums Leben gebracht!« Glatzkopf-Li begann wieder zu schluchzen. Plötzlich sah er nur noch erbarmungswürdig aus. Er ging mit ausgebreiteten Armen auf Lin Hong zu und sagte kläglich: »Wir beide haben ihn ums Leben gebracht, wir verdienen beide den Tod...« Sie stieß seine Hände weg und rief voller Abscheu: »Bleib mir ja vom Leib!« Dann stürzte sie aus Glatzkopf-Lis Schlafzimmer und lief die Treppe hinunter. Als sie ins Wohnzimmer kam, merkte sie, dass der splitternackte Glatzkopf-Li ihr gefolgt war. Sie öffnete die Haustür, blieb jedoch stehen, weil er Anstalten 992
machte, ihr weiter hinterherzulaufen. »Hör auf, mich zu verfolgen!«, rief sie. »Wer sagt denn, dass ich dich verfolge, verdammt noch mal?«, schrie Glatzkopf-Li und rannte ein Stück, sodass nun sie es war, die hinter ihm herlief. »Zu Song Gang gehe ich!« »Untersteh dich!«, schrie sie zurück. »Du hast kein Recht, ihn zu sehen!« Da sagte er traurig: »Stimmt, ich habe kein Recht, Song Gang zu sehen. Aber dann hast du Hure auch nicht das Recht, ihn zu sehen.« »Stimmt«, erwiderte sie mit versteinerter Miene. »Aber er war immerhin der Ehemann dieser Hure.« Glatzkopf-Li schluchzte: »Und mein Bruder!« Während er sich noch verzweifelt an die Brust schlug und mit den Füßen aufstampfte, war er unversehens auf der Hauptstraße angelangt. Mit einem Mal wurde er sich seiner Nacktheit bewusst und blieb unschlüssig stehen. Als Lin Hong ihn einholte, hielt er schamhaft die Hände vor sein Geschlecht. Plötzlich tat er ihr leid. »Geh zurück«, sagte sie leise. Er nickte gehorsam wie ein Kind. Im Weitergehen hörte sie ihn murmeln: »Gott wird mich strafen - und dich auch.« Lin Hong nickte. Sie wischte sich die Tränen ab. »Ganz sicher wird er mich strafen«, sagte sie. In dieser windigen Herbstnacht entdeckte ein Mann, der entlang der Bahnstrecke Kohlen aufklaubte, im fahlen Licht des Mondes den toten Song Gang. Er benachrichtigte zwei Familien, deren Häuser unweit der Bahnstrecke standen, von seinem grausigen Fund. An Song Gangs Leichnam waren keinerlei Blutspuren zu erkennen. Die Räder des Zuges war993
en über seine Leibesmitte hinweggerollt, ohne auch nur seine Kleidung zu beschädigen. Eine Stunde vor Mitternacht brachten dann zwei Männer aus den Häusern an der Bahn den Toten auf einem Pritschenkarren zu seiner Wohnung. Die beiden Männer, ehemalige Arbeitskollegen Songs aus seiner Zeit als Transportarbeiter, hatten zu ihrem Schrecken in dem Mann mit dem Mundschutz Song Gang erkannt. Danach hatten sie auch die Jacke auf dem Stein und seine Brille entdeckt. Nach kurzer Beratung hatten sie den Pritschenkarren geholt, Song Gang daraufgehoben und ihn mit der Jacke zugedeckt. Die Brille steckten sie in die Jackentasche. Weil der hochgewachsene Song nicht auf den Karren passte, stand sein Kopf über, und die Füße schleiften auf der Erde. Da hielt der eine Mann seine Füße hoch, während der andere vorne zog. Alle beide liefen gebückt und gelangten so auf die stillen Straßen unserer kleinen Stadt Liuzhen. Das herabgefallene Laub raschelte unter den Rädern des Karrens; gelegentlich blieb ein verspäteter Passant am Straßenrand stehen und beobachtete neugierig die seltsame Fuhre. Auch die beiden ehemaligen Kollegen Song Gangs wechselten kein Wort miteinander, während sie ihn zu seiner Wohnung brachten. Dort angekommen, stellten sie den Karren ab und zogen den Leichnam ein wenig nach unten, damit der Kopf nicht mehr über den Rand baumelte und die Füße den Boden berührten; dafür waren die Beine jetzt eingeknickt. Sie klopften leise an die Tür, doch drinnen rührte sich nichts. Nachdem sie länger als eine halbe Stunde stumm gewartet hatten, war endgültig klar, dass Lin Hong nicht zu Hause war. Einer von den Männern blieb zurück, um den Leichnam 994
zu bewachen, der andere ging auf der menschenleeren Straße in Richtung von Glatzkopf-Lis Firma davon, um Hilfe zu holen. Er wusste, Glatzkopf-Li war Song Gangs Bruder; auch von Lin Hongs skandalösem Verhältnis hatte er gehört. Der tote Song Gang war jetzt zu Hause, fand aber keinen Einlass, sondern musste weiter vor seiner eigenen Tür auf der Straße warten. Sein ehemaliger Kollege saß auf der Zugstange des Karrens und sah unbeteiligt zu, wie Song Gang allmählich unter welken Blättern verschwand, einige vom Wind aufgewirbelt, andere von den Bäumen herabgefallen. Er musste bis zwei Uhr bei der Leiche ausharren, ehe sein Gefährte endlich mit Stellvertreter Liu zurückkam. Liu betrachtete den Toten kopfschüttelnd, dann ging er beiseite und rief Glatzkopf-Li an. Anschließend gesellte er sich wieder zu den beiden anderen Männern und wartete mit ihnen zusammen schweigend, bis sie gegen drei Uhr in der Ferne Lin Hong - bald von einer Laterne hell beleuchtet, bald wieder vom Dunkel verschluckt - auf der menschenleeren Straße kommen sahen, den Kopf gesenkt und die Hände um die Schultern gekrampft, ein jammervoller Anblick. Sie sah aus wie jemand, der aus dem Leben in den Tod und aus dem Tod wieder ins Leben gegangen ist. Sie wich den Blicken der drei Männer aus und ging seitlich an dem Karren vorbei. Nach dem von welken Blättern bedeckten Song Gang drehte sie sich erst um, als sie die Tür zu der dunklen Wohnung geöffnet hatte. Sie konnte sich nicht zurückhalten, die Blätter vom Kopf des Toten zu entfernen, doch was sie dann erblickte, war nicht sein Gesicht, sondern sein Mundschutz. Da brach sie in die Knie und weinte bitterlich. Am ganzen Leibe bebend nahm sie ihm die weiße Ga995
zemaske ab. Nun sah sie sein vom Mond beschienenes friedliches Antlitz. Mit zitternden Fingern streichelte sie sein einst so oft glücklich lächelndes und noch unlängst, im Zug auf dem Weg nach Hause, so hoffnungsfrohes Gesicht, das jetzt leblos war und eisig kalt wie die Nacht. L Niemand sagte etwas an diesem Morgen, weder Lin Hang noch Song Gangs ehemalige Arbeitskollegen, die den Toten in die Wohnung brachten und ihn zum Bett trugen. In diesem Moment wurde Lin Hang bewusst, dass sein Rückgrat gebrochen sein musste, denn während die Männer ihn an Händen und Füßen zum Bett schleppten, als wäre er zusammengefaltet, schleifte sein Hintern über den Betonestrich. Erst auf dem Bett breiteten sie den Leichnam auseinander und legten ihn ordentlich hin; ein paar Blätter, die beim Transport nicht heruntergefallen waren, lagen auf dem Laken neben ihm. Dann ließen die Männer Lin Hang mit ihm allein. Zu dieser frühen Stunde, als in Liuzhen noch alles ruhig war, saß sie weinend neben dem Bett, die Hände um ihre Knie geschlungen, und blickte auf Song Gangs stilles Antlitz und die stillen Blätter neben ihm. Die Erlebnisse der letzten Stunden hatten ihr die Sinne verwirrt, dann aber war sie plötzlich wieder ganz klar im Kopf. In einem Moment war sie in nachtschwarzes Dunkel gehüllt, einsam und allein; im nächsten Moment war alles hell und klar, und sie sah Song Gang vor sich, wie er redete, ging, lächelte, sie liebevoll streichelte. Das war ihr süßes Geheimnis, zu dem niemand anders Zugang hatte. 996
Nach zwanzig Jahren war ihr gemeinsames Leben abrupt zu Ende gegangen. Von jetzt an würde es keine Gemeinsamkeit mehr geben. Lin Hang erschauerte; ihr war, als befände sie sich ganz allein in einer eiskalten Höhle. Immer wieder aufs Neue klagte sie sich an, sie sei es gewesen, die Song Gang getötet hatte. Dafür hasste sie sich. Sie wollte schreien, doch sie schrie nicht. Ohne einen Laut von sich zu geben, riss sie sich eine Haarsträhne aus, wickelte sie um den Finger und zog mit aller Kraft, bis das Blut hervorspritzte. Hilflos jammernd blickte sie in das Gesicht ihres Mannes, der jetzt seine ewige Ruhe gefunden hatte, und fragte wieder und wieder: »Warum musstest du gehen?« Die Erinnerung an die Erniedrigungen und Beleidigungen durch den geilen Direktor Liu, ihre Einsamkeit nach dem Weggang ihres Mannes, alles kam ihr jetzt hoch und ließ sie, ohne es zu wollen, in Klagen ausbrechen: »Ich habe dir all das Schlimme noch gar nicht erzählt! Und nun bist du gegangen ... « Am nächsten Vormittag erhielt Lin Hong den Brief ihres toten Mannes, sechs eng beschriebene Seiten, jede Zeile bewegender als die vorige. Er sagte ihr, wie glücklich er so viele Jahre lang gewesen und wie dankbar er ihr sei, dass sie für ihn da war. Seit Ausbruch seiner Lungenkrankheit, schrieb er, habe er immer wieder mit dem Gedanken an eine Trennung gespielt, doch sie habe zu ihm gesagt, dass sie sich nicht von ihm trennen würde, was auch immer geschehe. Wegen ihrer Worte sterbe er jetzt auch ohne Reue. Er bat sie um Verzeihung für seinen Selbstmord; sie solle nicht um ihn trauern. Seine zwanzig gemeinsamen Jahre mit ihr seien kostbarer als zwanzig Menschenleben mit einer anderen Frau 997
- er sei mit seinem Leben vollauf zufrieden gewesen. Dann entschuldigte er sich bei ihr, dass er vor Jahresfrist ohne Abschied fort gegangen sei. Er habe dies getan, um genug Geld zusammenzubringen, damit sie ein sorgenfreies Leben führen könne. Leider fehle ihm jedoch das Talent zum Geldverdienen, und so könne er ihr nicht mehr als 30 000 Yuan hinterlassen (unter dem Kopfkissen). Er hoffe aber, dass sie gestützt auf ihre eigenen Fähigkeiten und ohne die Last, die er für sie bedeutete - trotzdem ein gutes Leben haben werde. Abschließend schrieb er, er hege keinen Groll gegen Glatzkopf-Li und erst recht nicht gegen sie. Auch sich selbst hasse er nicht. Er gehe ihr einfach voraus und werde vom Jenseits aus verfolgen, wie es ihr ergehe. Er glaube fest daran, dass es ein Wiedersehen geben werde, und dann würden sie beide für alle Zeiten beieinander bleiben. Viele Male las Lin Hong unter Tränen diesen Brief, bis das Papier völlig durchnässt war. Danach stand sie weinend auf, entkleidete Song Gang und wusch seinen Körper. Sie sah die rötliche Schwellung auf seinem Brustkorb und zerknüllte erschrocken das Tuch in ihren Händen, nur um gleich darauf die eiternden Wunden in seinen Achselhöhlen zu entdecken. Obwohl es sie vor Entsetzen schüttelte, wischte sie sich die Tränen aus den Augen und sah sie sich immer wieder gen au an, als könne sie den Blick nicht losreißen. Da kamen ihr sogleich wieder die Tränen. Sie konnte sich diese beiden Wunden nicht erklären. Was war nur passiert während seines Wanderlebens? Das feuchte Handtuch in der Hand, blieb sie lange wie benommen vor dem Leichnam stehen, weinend und kopfschüttelnd, ratlos und verwirrt. Als sie die von Song Gang so sorgfältig in Zei998
tungspapier gewickelten dreißigtausend Yuan unter dem Kopfkissen hervorholte, wäre sie fast ohnmächtig geworden und ließ vor Schreck das Geld fallen. Mit zitternden Händen sammelte sie, vor dem Bett kniend, die Scheine wieder ein. An diesen Banknoten, das ahnte sie, klebte Song Gangs Blut dieses Geld musste etwas zu tun haben mit seinen Wunden. Als fünf Tage später Songs Leichnam eingeäschert wurde, bekamen die Leute in unserer kleinen Stadt Liuzhen Lin Hong zum ersten Mal wieder zu Gesicht. Ihre Augen waren rot geweint und so dick geschwollen wie zwei Glühbirnen. Sie hatte jedoch inzwischen keine Tränen mehr. Mit scheinbar unbeteiligter Miene sah sie apathisch zu, wie die sterblichen Überreste ihres Mannes in den Krematoriumsofen geschoben wurden. Die Leute hatten eigentlich erwartet, dass sie in Tränen aufgelöst sein würde, doch sie hielt die Augen schmerzvoll geschlossen, als Song Gang zu Asche wurde. Im Stillen rief sie ihm nach: Was auch immer ich getan habe, in meinem ganzen Leben habe ich nur dich alleine geliebt! Auch Glatzkopf-Li hatte Song Gangs Brief erhalten, und auch er hatte geweint, als er ihn las. Song Gang erinnerte ihn darin an ihre gemeinsame Kindheit, die Jahre, da sie auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen waren, und erwähnte speziell, wie er damals den langen Weg von seinem Dorf in die Stadt auf sich genommen habe, um den Bruder zu besuchen, und wie sehr Glatzkopf-Li sich gefreut habe, als er mit achtzehn ganz nach Liuzhen zurückgekehrt sei - einen Hausschlüssel habe er damals eigens für ihn anfertigen lassen. Dann sprach er von der Freude, die sie beide an ihrem ersten Zahltag empfunden hatten, und kam schließlich auf Lin Hong zu sprechen. Hier veränderte sich der Ton seines 999
Briefes, er klang jetzt richtig froh. Lin Hong habe sich damals nicht in Glatzkopf-Li verliebt, so schrieb er mit einigem Stolz, sondern in ihn. Er ließ den Bruder wissen, dass er sich insgeheim über jeden neuen Erfolg Glatzkopf-Lis gefreut habe, und dass er jetzt froh sei, beim Wiedersehen im Jenseits der Mutter, die ihm vor ihrem Tod aufgetragen habe, für ihn zu sorgen, mit gutem Gewissen berichten zu können, es gehe ihm glänzend. Anschließend wurde Song Gang wieder sentimental, sagte, wie sehr er seinen Vater vermisse, und dass er ohne das Familienfoto von damals kaum noch gewusst hätte, wie er aussehe. Er hoffe, Song Fanping habe sich nach all den Jahren nicht verändert, sodass er ihn auf den ersten Blick erkenne, wenn er ihm im Jenseits begegne. Auf dem letzten Bogen seines Briefs beschwor er Glatzkopf-Li, um ihrer brüderlichen Verbundenheit willen für Lin Hong zu sorgen. Der letzte Satz lautete: »Glatzkopf-Li, du hast einmal zu mir gesagt, >wir sind Brüder und werden es immer bleiben, auch wenn Himmel und Erde einstürzen<. Jetzt sage ich zu dir: Selbst wenn uns der Tod auf ewig trennt, so bleiben wir doch Brüder.« Auch Glatzkopf-Li las seinen Brief mehrere Male. Jedes Mal, wenn er am Schluss angekommen war, gab er sich selbst eine Ohrfeige und vergoss ein paar Tränen. Nach Song Gangs Tod wurde er zu einem anderen Menschen. Er ging nicht mehr in sein Büro in der Firma, sondern verbrachte den ganzen Tag brütend in seiner Luxuswohnung. Stellvertreter Liu hatte als Einziger Zutritt zu ihm. Wenn er seinem Chef über die Geschäfte der Firma Bericht erstattete, sah dieser ihn an wie ein Kindergartenkind die Erzieherin. 1000
Statt ihm Anweisungen zu geben, wie er es erwartete, sah Glatzkopf-Li vielleicht aus dem Fenster und seufzte: »Es ist gleich dunkel ... « Dann wartete Stellvertreter Liu, ob von seinem Generaldirektor nicht vielleicht doch noch etwas Substantielleres käme, und half ihm schließlich auf die Sprünge: »Sie meinen also ... ?« Doch Glatzkopf-Li sah ihn nur mitleiderregend an und sagte: »Ich bin jetzt eine Waise... « Bei der Durchsicht von Song Gangs Nachlass fand Lin Hong zwei Dinge, die an Glatzkopf-Li gehen mussten: das Familienfoto und die Kopie von Glatzkopf-Lis Ernennungsurkunde zum Direktor der Geschützten Werkstatt. Sie steckte sie in getrennte Umschläge und übergab sie Stellvertreter Liu zur Weiterleitung an seinen Chef. Als Glatzkopf-Li die beiden Kuverts von Liu entgegennahm und das erste öffnete, rutschte das Foto heraus und fiel auf den Fußboden. Er hob es auf, ging damit zu seinem Schreibtisch und kramte lange in den Schubladen herum, bis er sein eigenes Exemplar des Familienfotos gefunden hatte. Er verglich die Bilder immer wieder und legte schließlich beide sorgsam in die Schublade. Dann stand er auf und ging auf Stellvertreter Liu zu. Im Gehen öffnete er das zweite Kuvert, in dem die zwanzig Jahre zuvor von Song Gang eigenhändig abgeschriebene Ernennungsurkunde war. Er blieb stehen und betrachtete das Blatt verwundert. Erst als sein Blick auf das damals von seinem Bruder mit roter Tusche sorgfältig abgemalte Amtssiegel fiel, wusste er wieder, was es war. Er wankte, dann brach er zusammen.
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Erst am Tag von Song Gangs Einäscherung verließ er wieder seine Wohnung. Seinen BMW und seinen Mercedes verschmähte er, ging vielmehr zu Fuß ganz allein zum Krematorium. Als der Leichnam in den Ofen geschoben wurde, weinte zwar nicht Lin Hang, dafür aber Glatzkopf-Li um so untröstlicher. Anschließend trat er, immer noch schluchzend und immer noch ganz allein, aus dem Krematorium und - erblickte den BMW und den Mercedes, die ihm gefolgt waren. Wutentbrannt jagte er sie zum Teufel und machte sich zu Fuß auf den Heimweg. Die Einwohner unserer kleinen Stadt Liuzhen, die sahen, wie er die Straße entlanglief und sich ständig die Augen abwischte, wunderten sich sehr und stellten sofort einen gewagten Vergleich mit der tränenreichen Heldin des beliebten Romans »Der Traum der Roten Kammer« an: »Wer hätte gedacht, dass Glatzkopf-Li einmal eine zweite Lin Daiyu würde!« In seiner Firma ließ Glatzkopf-Li sich nicht blicken, dafür besuchte er jedoch wieder einmal die Geschützte Werkstatt, jenes »Institut für Ökonomische Forschung Liuzhen«, das er zuletzt nochmals in »Gesellschaft für Ökonomische Forschung« umbenannt hatte. Song Gangs kalligrafierte Abschrift der Urkunde über seine Ernennung zum Direktor hatte viele alte Erinnerungen in ihm wachgerufen. Nachdem er seine damaligen Untergebenen viele Jahre nicht mehr gesehen hatte, war jetzt die Sehnsucht nach den vierzehn Behinderten aufs Neue in ihm erwacht. Als die beiden Hinkebeine, die nach wie vor miteinander Go spielten, unentwegt ihre Züge wieder zurücknahmen und sich gegenseitig beschimpften wie eh und je, Glatzkopf-Li 1002
kommen sahen, waren sie vor freudiger Überraschung ganz außer sich. Mit dem Ruf »Direktor Li!« auf den Lippen rannten sie ihm entgegen. Prompt überschlug sich der eine und fiel der Länge nach hin, während der andere stolperte und sich am Türrahmen stieß. Wie ein liebevoller Vater half Glatzkopf-Li erst dem Gestürzten auf und presste anschließend dem anderen die Hand auf die Beule an der Stirn. Dann nahm er sie an die Hand und ging mit ihnen hinüber zu den übrigen zwölf Paladinen. Die bei den Hinkenden riefen schon von Weitem den anderen aufgeregt zu: »Direktor Li ist gekommen! Direktor Li ist da!« Die drei geistig Behinderten und die vier Blinden hörten es, die fünf Gehörlosen natürlich nicht. Die Blinden reagierten schneller als die geistig Behinderten und tappten mit ihren Bambusstöcken zum Eingang des Versammlungsraums, doch nur einer gelangte nach draußen, während die anderen sich in der Tür gegenseitig behinderten, sodass sie am Ende alle drei feststeckten. Alle riefen »Direktor Li!«, wobei sie ihre Augen zusammenkniffen, was die aufgerissenen Münder befremdlich groß erscheinen ließ. Auch die geistig Behinderten reagierten jetzt; sie marschierten gleichzeitig zur Tür und riefen »Direktor Li!«. Als sie feststellten, dass die Tür von den drei Blinden verstopft war, drückten und schoben sie sie ohne lange zu zögern hinaus, sodass die Bedauernswerten kopfüber in den Schlamm stürzten und auch wieder von Glatzkopf-Li auf die Beine gestellt werden mussten. Anschließend zog er, von seinen neun hinkenden, geistig behinderten und blinden Paladinen umringt, mit strahlendem Gesicht in den Versammlungsraum ein, wo die dort sitzenden Gehörlosen erst jetzt mitkriegten, was für eine Freude 1003
ihnen heute widerfuhr. Sie sprangen voller Begeisterung auf und riefen »Direktor Li!« (die beiden, die sprechen konnten) beziehungsweise bewegten die Münder in stummer, aber nichtsdestoweniger perfekter Mimikry (die beiden Taubstummen). Nachdem sich Glatzkopf-Li an den begeisterten »DirektorLi!«-Rufen satt gehört hatte, brachte er die Männer mit einer Handbewegung zur Ruhe, wies auf die Stühle und bedeutete ihnen, sich hinzusetzen. Das aufgeregte Geschnatter ging jedoch weiter, sodass sich einer von den beiden Hinkebeinen bemüßigt fühlte, seine Kollegen zur Ordnung zu rufen, während der andere sich mehrmals die Hände vor den Mund hielt, um auch die Gehörlosen ins Bild zu setzen. Plötzlich trat Stille ein. Der eine Lahme, Glatzkopf-Lis Vorgänger und Nachfolger als Direktor, sagte zu den übrigen dreizehn Paladinen: »Wir freuen uns, dass Direktor Li zu uns sprechen wird!« Alle klatschten, verstummten jedoch sofort wieder, als Glatzkopf-Li abwinkte. Er sah jeden Einzelnen prüfend an, dann sagte er seufzend: »Ihr seid gealtert - und ich auch.« Die drei geistig Behinderten begannen sofort, heftig zu applaudieren, gefolgt von den fünf Gehörlosen, die zwar nicht wussten, was Glatzkopf-Li gesagt hatte, aber vorsichtshalber mitklatschten; und, ein wenig zögernd, von den vier Blinden, die klatschten, weil die anderen auch klatschten. Ähnlich ging es den beiden Hinkebeinen, die das eben Gesagte eigentlich nicht beifallswürdig fanden, sich aber nicht ausschließen mochten. Glatzkopf-Li machte abermals eine abwehrende Handbewegung und rief: »Was ich eben gesagt habe, solltet ihr wirklich nicht beklatschen!« 1004
Die bei den Lahmen ließen sofort die Hände sinken, die vier Blinden ebenso, danach auch die jede Regung der anderen genau verfolgenden fünf Stummen. Nur die drei geistig Behinderten klatschten weiter, doch als sie merkten, dass sie die Einzigen waren, verließ sie der Mut, und sie hörten ebenfalls auf. Glatzkopf-Li blickte auf, sah sich im Versammlungsraum um und schaute durchs Fenster auf die Bäume draußen. Dann seufzte er tief, woraufhin die Miene aller vierzehn getreuen Paladine sofort ebenfalls ernst wurde. Innerlich stark bewegt, erinnerte Glatzkopf-Li sie an seine Ankunft in der Geschützten Werkstatt vor mehr als zwanzig Jahren. Dabei zog er aus seiner Brusttasche die von Song Gang abgeschriebene Ernennungsurkunde hervor. Er faltete sie auseinander, las sie vor und hielt sie dann hoch, damit alle vierzehn sie sehen konnten. Mit einem traurigen Lächeln erläuterte er: »Das ist eine handschriftliche Kopie; das Original befindet sich in den Akten der Organisationsabteilung beim Kreis. Das Dienstsiegel, früher rot, inzwischen gelb, hat ebenfalls Song Gang eigenhändig gemalt. Er hat die Urkunde die ganze Zeit aufbewahrt, weil er sich damals so für mich gefreut hat. Außerdem hat er aus diesem Anlass damals eigens einen Pullover mit einem Segelschiff auf großer Fahrt für mich gestrickt ... « Als Glatzkopf-Li an dieser Stelle die Stimme versagte, waren die beiden Lahmen und die vier Blinden voller Mitgefühl, die drei geistig Behinderten dagegen fingen sofort wieder an zu klatschen, weil ja der Redner eine Pause machte. Die Stummen waren diesmal vorsichtiger, denn Glatzkopf-Lis kummervolles Gesicht und der begeisterte Applaus der geistig
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Behinderten schienen irgend wie nicht ganz zusammenzupassen. Die beiden Hinkebeine zischten den geistig Behinderten zu »Hört auf1«, woraufhin die sich nach allen Seiten umdrehten und, als sie ihren Fauxpas bemerkten, den Applaus einstellten. Glatzkopf-Li begann jetzt mit traurigem Gesicht, von seiner Zeit mit Song Gang zu sprechen, erzählte seinen Zuhörern mit vor Rührung immer wieder versagender Stimme von Song Fanpings brutaler Tötung am Busbahnhof und von seiner und seines Bruders Hilflosigkeit und Verlassenheit. Die bei den Lahmen hatten feuchte Augen und begannen schließlich, laut zu schluchzen. Die vier Blinden, auf ihre Stöcke gestützt, schauten nach oben und ließen die Tränen langsam aus den blicklosen Augenhöhlen rinnen. Die fünf Tauben, die ja nicht hören konnten, was Glatzkopf-Li sagte, aber an seiner Miene ablasen, wie ihm zumute war, wurden allein vom Anblick seines Kummers selbst so traurig, dass sie bald ebenso heftig schluchzten wie die beiden Lahmen. Als die drei geistig Behinderten, immer noch nicht ganz im Bilde, sahen, wie unglücklich ihr großmächtiger Direktor Li war und wie herzzerreißend ihre elf Kameraden weinten, plärrten auch sie mit weit aufgerissenen Mündern los und übertönten mit ihrem markerschütternden Geheul unverzüglich alle anderen (die Letzten sind eben doch manchmal die Ersten ... ). In den folgenden beiden Wochen besuchte Glatzkopf-Li jeden Tag die sogenannte »Gesellschaft für Ökonomische Forschung Liuzhen«, um vor seinen schluchzenden Paladinen immer wieder von der Vergangenheit zu reden. Während all diese tragischen Geschichten die vierzehn zu Tränen 1006
rührten, weinte er selber nicht mehr. Das tief empfundene Mitgefühl seiner Zuhörer war unendlich tröstlich für ihn; es war fast, als hätte er sich seiner eigenen Trauer entledigt, indem er sie auf die Behinderten übertrug. Daher fühlte er sich nunmehr bemüßigt, sie zwischendurch immer wieder zu trösten. Je öfter er ihnen allerdings zuredete, sie sollten nicht traurig sein, desto verzweifelter wurde ihr Weinen. Glatzkopf-Li hatte fast das Gefühl, seine vierzehn getreuen Paladine seien die einzigen Menschen auf der ganzen weiten Welt, die seine Reue und seine Trauer wirklich ermessen und mittragen konnten. Glatzkopf-Li nahm jetzt die Arbeit in der Firma wieder auf; er wollte das Vermächtnis seines verstorbenen Bruders erfüllen. Stellvertreter Liu musste all seine Geschäftspartner anrufen und sie zu einem dreitägigen Tofu-Trauermahl in dem Restaurant seiner Firma einladen; alle Geldleute, die er kannte, sollten nach Liuzhen kommen. Nachdem Liu die Gästeliste fertig hatte, hing er einen Tag lang an der Strippe, informierte seine Gesprächspartner, dass Glatzkopf-Lis Bruder Song Gang gestorben sei, und ersuchte sie um Teilnahme an einem TofuBankett zu seinem Gedächtnis. Am Abend war Stellvertreter Liu stockheiser, aber er hatte alle Geschäftsfreunde Glatzkopf-Lis im ganzen Land eingeladen und dazu alles, was in der Stadt und im Kreis Rang und Namen hatte. Wer arm war und weder Rang noch Namen hatte, wurde nicht hinzugebeten. Das Tofu- Trauermahl begann mit dem Frühstück, wurde mit dem Mittagsmahl fortgesetzt und endete mit einem Abendessen. Für Gäste, die nach stundenlangem Flug und zweistündiger Busfahrt erst spätnachts ankamen, ließ Glatz1007
kopf-Li zusätzlich einen Tofu-Mitternachtsimbiss bereithalten. Glatzkopf-Li und Lin Hong trafen bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal seit Song Gangs Einäscherung wieder zusammen. Beide gaben sich kühl und distanziert, als wären sie einander fremd. Wie es sich für trauernde Hinterbliebene gehört, standen sie drei Tage lang am Eingang des Restaurants und begrüßten die Gäste. Jeder Gast übergab Lin Hong einen großen Umschlag mit Geld - mindestens ein paar tausend, oft aber auch zigtausend Yuan. Sie brachte an allen drei Tagen einen großen Packen Scheine zur Bank. In den mehr als hundert Kuverts, die sie entgegennahm, seien mehrere Millionen Yuan gewesen, glaubten die Leute zu wissen. Ganz geschwollene Finger habe sie vom Geldzählen gekriegt und ein verrenktes Handgelenk und blutunterlaufene Augen dazu. Als alles vorbei war, sagte Glatzkopf-Li zu Lin Hong: »Song Gang hat mir aufgetragen, für dich zu sorgen. Was kann ich sonst noch für dich tun?« Lin Hong entgegnete: »Das reicht.«
Epilog Drei Jahre waren ins Land gegangen, mit Todesfällen und Geburten: Scherenschleifer Guan der Ältere hatte das Zeitliche gesegnet und Schneider Zhang ebenso, dafür waren in diesen drei Jahren drei Säuglinge namens Guan und neun namens Zhang dazugekommen. Wie auf jeden Sonnenuntergang ein neuer 1008
Sonnenaufgang folgt, so ging auch in unserer kleinen Stadt Liuzhen das Leben weiter. Niemand erfuhr, wie tief Song Gangs Tod Lin Hong getroffen hatte. Man wusste nur, dass sie die Arbeit in der Wirkwarenfabrik aufgegeben hatte, aus ihrer Wohnung ausgezogen war und sich von dem beim Tofu- Trauermahl erhaltenen Geld eine neue Wohnung gekauft hatte, die sie ganz allein bewohnte und über deren Schwelle sie ein halbes Jahr lang kaum ihren Fuß gesetzt hatte. Wenn die Leute in Liuzhen sie zu sehen bekamen - und das war selten genug -, blickten sie in ein abweisendes »Witwengesicht«, wie sie es ausdrückten. Nur einige wenige, die genauer hinschauten, bemerkten eine Veränderung an ihr: Sie zog sich immer modischer an und trug immer mehr Markenkleidung. Nach einem halben Jahr gab Lin Hong ihr zurückgezogenes Leben auf und zeigte sich wieder in der Öffentlichkeit. Sie ließ ihre alte Wohnung, die so lange leer gestanden hatte, renovieren und machte daraus einen Friseursalon, was ohne Weiteres möglich war, weil die Wohnung ja direkt auf die Straße ging. Sie selbst war die Chefin des Salons, der mit lauter Musik und bunter Leuchtreklame die Kundschaft anlockte und bald schon hervorragend lief. Wenn die Männer unserer kleinen Stadt Liuzhen zu Lin Hong gingen, ließen sie sich nicht mehr »die Haare schneiden« - das klang viel zu provinziell-, sondern »frisieren«. Selbst der ungehobeltste Lackaffe ließ sich mindestens »die Scheißfrisur in Ordnung bringen« statt einfach einen Haarschnitt zu verlangen. Zhou Buyou vom Imbissladen gegenüber beteuerte nach wie vor vollmundig, er würde innerhalb von drei Jahren in 1009
ganz China hundert Filialen seiner Kette »Snackbar Zhou Buyou« aufmachen. Allerdings waren schon drei Jahre um, ohne dass irgendetwas geschehen wäre; selbst aus den zwei zusätzlichen Filialen in Liuzhen, deren Eröffnung er bereits angekündigt hatte, war bisher nichts geworden. Dennoch hörte der Schwindler nicht auf, herumzuprahlen und heilige Schwüre abzulegen, er würde die Aktie von McDonald's um fünfzig Prozent abstürzen lassen. Su Mei hatte sich inzwischen an seine Aufschneidereien gewöhnt. Dieser Mann brauchte das einfach, tagsüber seine Prahlereien vor den Gästen und abends die koreanischen Fernsehserien. Sie war es leid, sich für ihn zu schämen. Während im Imbissladen alles beim Alten blieb, machte Lin Hongs Frisiersalon eine unmerkliche Veränderung durch. Zu Anfang arbeiteten dort nur drei Friseure und drei Frauen zum Haare waschen. Nach einem Jahr tauchten jedoch in Liuzhen sukzessive dreiundzwanzig junge Damen auf - große und kleine, dicke und dünne, hübsche und weniger hübsche, alle in weit ausgeschnittenen Blusen und sehr knappen Miniröckchen - und zogen nach und nach in das sechsstöckige Wohnhaus ein, in dem sich im Erdgeschoss Lin Hongs Salon befand. Die ursprünglichen Mieter, unter ihnen Dichter Zhao, zogen aus, und Lin Hong übernahm die Wohnungen. Sie ließ sie renovieren und quartierte in jede von den Zweizimmerwohnungen eine von den Damen ein, sodass im ganzen Haus bald die verschiedensten Dialekte gesprochen wurden, da die Bewohnerinnen von überall her kamen. Die dreiundzwanzig Damen verbrachten ihre Tage in süßem Schlummer. Erst abends wurden sie munter und versammelten sich, alle stark geschminkt und leuchtend wie lauter Neu1010
jahrs-Lampions, in dem »Friseursalon«, um Kunden anzulocken und den Männern, die ihre Nasen an den Schaufenstern platt drückten, verführerisch zuzulächeln. In dem Salon ging es zu wie auf dem Schwarzmarkt, es wurde gefeilscht und gehandelt auf Teufel komm raus, seitens der Männer eher zurückhaltend und vorsichtig, als ginge es um den Erwerb von Drogen, seitens der Damen dafür umso selbstsicherer und entschiedener, als ob sie Kosmetika verkauften. War man sich handelseinig, gingen die Männer mit den jungen Damen eng umschlungen unter munterem Geplauder die Treppen hinauf und verschwanden in den Wohnungen. Danach erinnerte das sechsstöckige Wohnhaus eher an einen Zoo mit tausend unterschiedlichen Tierarten, eine wahre Fundgrube für Sammler männlicher und weiblicher Lustschreie. In der »Snackbar Zhou Buyou«, die von dem »Rotlichtbezirk« - so nannten die Einwohner unserer kleinen Stadt Liuzhen das Etablissement - nur durch die Straße getrennt war, blühte das Geschäft. Während früher um dreiundzwanzig Uhr Schluss war, hatte die Snackbar jetzt rund um die Uhr geöffnet, denn zwischen ein und vier oder fünf Uhr früh frequentierten die Damen des »Rotlichtbezirks« und ihre Gäste die Imbissstube und delektierten sich an StrohhalmBaozi. Ob es wohl in unserer kleinen Stadt Liuzhen jemanden gab, der mit eigenen Augen gesehen hatte, welche Stationen Lin Hong auf ihrer Lebensbahn durchlaufen hatte? ... Aus dem schüchternen Teenager war erst ein verliebt es Mädchen geworden, dann eine tugendhafte Ehefrau, in deren Herzen nur Platz für Song Gang war, schließlich Glatzkopf-Lis Geliebte, 1011
die drei Monate lang wie eine Rasende mit ihm vögelte, und am Ende eine einsame Witwe, eine zurückgezogen lebende alleinstehende Frau. Die Eröffnung des Friseursalons, in dem sie den Gästen mit angemessener Freundlichkeit gegenübertreten musste, war die Geburtsstunde der gewandten Geschäftsfrau Lin Hong gewesen, und als dann die stark geschminkten jungen Damen eine nach der anderen eintrafen, wurde sie vollends zur zuvorkommenden Gastgeberin. Die jungen Damen redeten sie wie eine große Schwester als »Schwester Lin« an, und mit der Zeit übernahmen auch die Einwohner von Liuzhen diese Anrede. Die neue Anrede war äußeres Zeichen einer gewissen Persönlichkeitsspaltung: Während Lin Hong die Gäste ihres Etablissements mit ausnehmender Liebenswürdigkeit empfing, trug sie ansonsten Männern gegenüber, die mit ihrem Geschäft nichts zu tun hatten, eine ausgesprochen frostige Miene zur Schau. Schwester Lin, stets in ein eng anliegendes schwarzes Kostüm gekleidet, hatte mittlerweile auch schon lauter kleine Fältchen um die Augen und auf der Stirn, doch war sie mit ihrem wohlgerundeten Hintern und ihren straffen Brüsten nach wie vor eine attraktive Frau. Sie war den ganzen Tag mit ihrem Handy zugange, das sie so gut wie nie aus der Hand legte, als wäre es ein Goldbarren. Wenn es klingelte - und das tat es praktisch Tag und Nacht -, hörte man, wie sie in den süßesten Tönen mit irgendeinem »Amtsleiter« oder »Direktor« beziehungsweise einem schlichten »Bruder« Soundso säuselte und flötete. »Ein paar von den Alten sind weg, dafür sind ein paar Neue hinzugekommen, alle jung und hübsch«, hieß es dann etwa. Wie es danach weiterging, hing davon ab, mit wem sie es zu tun hatte. Sagte sie »ich schicke 1012
sie Ihnen mal vorbei, damit Sie sie sich ansehen können«, so handelte es sich mit Sicherheit um einen VIP-Gast, einen wichtigen Kreis-Funktionär oder auch einen wichtigen Wirtschaftsboss. »Kommen Sie einfach vorbei und schauen Sie selbst!« deutete auf einen normalen Kunden hin, einen kleinen Funktionär oder Firmenchef aus dem Kreis vielleicht. Gewöhnlichen Lohnempfängern gegenüber schlug sie am Telefon einen anderen Ton an, war zwar immer noch freundlich, aber eher kurz angebunden: »Meine Damen sind alle hübsch!« Schmied Tong, einer von Schwester Lins VIP-Gästen, war jetzt über sechzig, seine Frau noch ein Jahr älter als er. Tong besaß inzwischen drei Supermärkte in unserer kleinen Stadt Liuzhen, ließ sich von seinen Angestellten jedoch nicht als Generaldirektor titulieren, sondern bestand nach wie vor auf »Schmied Tong«, weil sich das so schön markig anhörte. Trotz seines Alters strotzte er vor Energie und gierte nach den hübschen Mädchen wie der Dieb nach dem Geld. Seine Frau dagegen hatte zwischen dem fünfzigsten und sechzigsten Lebensjahr zwei große Operationen durchgemacht; beim ersten Mal war ihr der halbe Magen entfernt worden, beim zweiten Mal die ganze Gebärmutter. Dadurch hatte sich ihr Körpergewicht um die Hälfte verringert, sie war jetzt spindeldürr. Das wiederum hatte dazu geführt, dass ihr der Geschlechtstrieb völlig abhanden gekommen war, während ihr vitaler Mann nach wie vor auf wöchentlich mindestens zwei Beischläfen bestand, nach denen sie jedes Mal mehr tot als lebendig war. Sie sagte, jeder Beischlaf sei wie eine erneute Hysterektomie. Eigentlich müsse sie sich danach mindestens
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zwei Monate lang erholen, doch was tue dieser Mann? Er wolle sie schon nach ein paar Tagen wieder vornehmen! Aus Sorge um ihre Gesundheit weigerte sich Tongs Frau strikt, ihn ranzulassen. Infolgedessen wurde der Schmied reizbar und jähzornig wie ein Eber, der keine rauschige Sau findet. Er zerschlug schon mal zu Hause Geschirr und fing im Supermarkt an, die Angestellten zu beschimpfen. Einmal wurde er sogar einem Kunden gegenüber handgreiflich. Seine Gattin befürchtete, ein fortgesetzter Triebstau könnte fatale Folgen haben. Gut möglich, dass ihr Gatte über kurz oder lang von irgendeinem Weibsstück oder gar mehreren Weibsstücken - bis zu acht Nebenfrauen traute sie ihm zu gekapert würde. Um zu verhindern, dass sein sauer verdientes und eisern zusammengehaltenes Geld auf diese Weise verloren ginge, schickte sie ihn nach reiflicher Überlegung zu Schwester Lin, damit deren Damen seinen Jähzorn kurierten. Das war zwar nicht billig (die Damen verlangten ihr »Trinkgeld«, Schwester Lin erhob eine »Verwaltungsgebühr«), jedoch sagte sie sich, wenn sie ihren Mann zum Arzt schickte, würde es schließlich auch Geld kosten - was sein muss, muss sein! Nachdem sie sich zu ihrem Entschluss durchgerungen hatte, war ihr gleich viel wohler. So leid es ihr um das viele Geld tat, sie verhinderte damit Schlimmeres! Schmied Tong hatte folglich überhaupt keine Hemmungen, zu Schwester Lin zu gehen, zumal er jedes Mal von seiner Gattin höchstselbst gebracht wurde. Da sie fürchtete, man würde ihn übers Ohr hauen traf sie selber die Wahl unter den Damen, handelte den Preis aus und bezahlte. Danach ließ sie ihren Mann in dem Etablissement allein zurück und ging
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nach Hause, um dort in Ruhe auf seine Erfolgsmeldung über den Nahkampf mit der jungen Dame vom Dienst zu warten. Als er nach dem ersten Besuch bei Schwester Lin erst nach mehr als einer Stunde heimkam, war sie äußerst ungehalten. Sie verhörte ihn, ob er sich etwa in jene junge Dame verliebt habe. Nein, entgegnete er, er habe sich einfach ein bisschen länger Zeit gelassen, der Preis sei schließlich der gleiche. »Du weißt ja, die Relation von Investition und Rendite muss stimmen!«, schloss er. Das leuchtete Tongs Gattin ein, und von da an interessierte sie sich nach jedem Bordellbesuch ihres Mannes stets zuerst dafür, wie viel Zeit er mit der betreffenden jungen Dame verbracht habe. Trotz seiner mehr als sechzig Jahre stand Schmied Tong nach wie vor seinen Mann und hielt fast jedes Mal länger als eine Stunde durch. Darüber empfand seine Frau große Genugtuung, weil so das Preis-LeistungsVerhältnis stimmte. Wenn er aber, wie es mehrmals vorkam, nicht auf der Höhe und schon nach einer halben Stunde wieder zu Hause war, wurde sie ungehalten und nahm eine Revision der Investitionsplanung vor: nicht mehr zwei Bordellbesuche pro Woche, sondern nur noch einer! Schmied Tong ärgerte sich, dass seine sparsame Ehefrau stets Damen für ihn aussuchte, die nicht so hübsch waren. Anfangs hatte er sich nicht daran gestört - immerhin waren auch die eher unansehnlichen Damen ganz jung -, doch mit der Zeit verlor er das Interesse an den Hässlichen. Infolgedessen verringerte sich allmählich auch die Anzahl der Runden bei seinen Bettschlachten mit ihnen. In Schwester Lins Haus hatte er selbstverständlich auch eine ganze Reihe äußerst attraktiver junger Damen gesehen, nach denen er in1015
sgeheim gierte. Als er aber seine Frau bat, beim nächsten Mal eine davon auszusuchen, lehnte sie rundweg ab: Die Hübschen seien zu teuer; die Investition stünde in keinem Verhältnis zum Ertrag. Schmied Tang schwor ihr, die Relation würde auf jeden Fall stimmen, denn mit einer Hübschen würde er ohne Weiteres zwei Stunden und länger durchhalten. In den langen Jahren seiner Ehe hatte Schmied Tong seine Gattin stets sehr von oben herab behandelt. Je erfolgreicher er mit seinem Schneidwarenladen und später mit der Supermarktkette war, desto arroganter hatte er sich ihr gegenüber benommen, hatte ständig etwas an ihr auszusetzen und stieß irgendwelche Beschimpfungen gegen sie aus. Jetzt aber, als er sie anflehte, ihm eine etwas hübschere junge Dame zu erlauben, scheute er plötzlich weder Kniefälle noch Tränen. Seine Gattin konnte angesichts des kläglichen Zustands ihres einst so überheblichen Mannes nur mit dem Kopf schütteln. »Ach, diese Männer! Wie kann man nur so wenig Rückgrat haben?«, seufzte sie. Immerhin stimmte sie zu, an Feiertagen seinen Wunsch zu erfüllen, ein Gnadenerweis, der Schmied Song dazu veranlasste, sofort alle entsprechenden Tage aus dem Kalender herauszuschreiben und sich zu merken, angefangen vom Neujahrsfest - dem Frühlingsfest - über die traditionellen Feiertage Mittelherbst-, Drachenboot-, Doppel-Neunund Totenfest bis hin zum Tag der Arbeit am 1. Mai, Tag der Jugend am 4. Mai, Tag der Parteigründung am 1. Juli, Tag der Armeegründung am 1. August und Nationalfeiertag am 1. Oktober, dazu natürlich noch die Festtage der Lehrer, der Verliebten, 1016
der Junggesellen und der Alten, ausländische Feiertage wie Allerheiligen, Thanksgiving Day und Weihnachten sowie last, but not least - der Internationale Frauentag am 8. März und der Tag des Kindes am 1. Juni. Als er mit dieser Liste vor seine Gattin trat, erschrak sie. »Du lieber Himmel!«, rief sie verblüfft. Dann begann sie, mit ihrem Mann zu feilschen. Zunächst strich sie die ausländischen Feiertage. »Wir sind Chinesen!«, erklärte sie voller Nationalstolz. »Wir werden doch keine ausländischen Feste feiern!« Schmied Tong, der ja keineswegs auf den Mund gefallen war, widersprach vehement, denn aufgrund seiner nun schon mehr als zehn Jahre währenden Tätigkeit als Geschäftsmann wusste er es natürlich besser. »In was für einer Zeit leben wir denn?«, rief er. »Wir leben im Zeitalter der Globalisierung! Unser Kühlschrank, unser Fernseher, unsere Waschmaschine, alles importiert! Du wirst doch wohl nicht sagen wollen, du verzichtest auf ausländische Marken, bloß weil du Chinesin bist.« Seine Frau war um eine Antwort verlegen. Schließlich gab sie klein bei: »Gegen dich kommt man einfach nicht an.« Nachdem Schmied Tong die ausländischen Feiertage gerettet hatte, versuchte seine Frau, ihm eins der traditionellen chinesischen Feste auszureden, den Totengedenktag oder »Fest des Reinen Lichts«. »Das ist ein Fest für Tote und nicht für Lebendige wie dich«, sagte sie. Auch hier widersprach ihr Mann. »Am Fest des Reinen Lichts gedenken wir Lebenden unserer toten Angehörigen, also ist es ein Feiertag der Lebendigen. Wir besuchen
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schließlich jedes Jahr die Gräber meiner und deiner Eltern. Natürlich gehört das Totenfest auf die Liste!« Nach längerem Nachdenken sagte die Frau abermals: »Gegen dich komme ich nicht an.« Also blieb auch das Totenfest auf der Liste. Nunmehr stellte Tongs Gattin den Tag der Jugend am 4. Mai, den Tag des Lehrers sowie den Kindertag am 1. Juni infrage. Der Schmied stimmte zu, den Lehrertag zu streichen, doch bei den beiden anderen Feiertagen blieb er standhaft. Er habe sein gegenwärtiges Alter schließlich nur deshalb erreicht, weil er vorher Kind und Jugendlicher gewesen sei. 1m Brustton der Überzeugung erklärte er: »Genosse Lenin hat uns gelehrt, wer die Vergangenheit vergisst, begeht Verrat!« Nachdem die bei den eine geschlagene Stunde über diese Frage debattiert hatten, gab Tongs Gattin abermals klein bei: »Gegen dich komme ich nicht an.« Bis zuletzt umstritten war der 8. März. Schmied Tongs Frau fragte: »Was hat der Frauentag mit dir zu tun?« Er antwortete: »Gerade an diesem Tag muss man die Frauen beglücken!« Plötzlich wurde seine Frau traurig. Sie schluchzte: »Ich kann sagen, was ich will, ich komme einfach gegen dich nicht an.« Schmied Tong nutzte seinen Sieg sofort zu einem neuerlichen Vorstoß; ihm waren nämlich noch zwei weitere Feiertage eingefallen. »Da sind außerdem noch unsere Geburtstage ... «, sagte er nachdenklich. Jetzt wurde seine Gattin endlich doch wütend. Sie rief: »Sogar an meinem Geburtstag willst du ins Bordell?!«
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Schmied Tang merkte, er war zu weit gegangen, und beeilte sich, sie zu beruhigen: »Nein, natürlich nicht!«, rief er kopfschüttelnd. »Die Geburtstage kommen nicht auf die Liste. An deinem Geburtstag gehe ich selbstverständlich nirgendwohin, da bleibe ich vierundzwanzig Stunden an deiner Seite! Und an meinem Geburtstag genauso. Das sind bei des Feiertage der Treue und Beständigkeit für mich, da werde ich doch nicht mit anderen Frauen schlafen! Nicht einmal anschauen werde ich sie da!« Dieses Zugeständnis gab seiner etwas einfach gestrickten Frau das Gefühl, am Ende doch noch gesiegt zu haben. Mit einer abwehrenden Handbewegung sagte sie befriedigt: »Jedenfalls komme ich gegen dich nicht an.« Dass Tong in Begleitung der eigenen Frau zu Schwester Lins jungen Damen gehen durfte und es an Feiertagen für ihn noch ein Zuckerl drauf gab, ließ die anderen verheirateten Männer in unserer kleinen Stadt Liuzhen vor Neid erblassen. Dieser Schmied Tong ist wirklich ein Glückspilz, meinten sie. Der würde selbst dann noch Glück haben, wenn er ein Haufen Hundedreck wäre! Wer sonst hat eine Frau, die so verständnisvoll und tolerant ist wie seine? Die ihrem Alten sogar noch dabei hilft, wenn er Nutten flachlegt, und die gar nicht daran denkt, selbst fremdzugehen! Unsere eigenen Frauen dagegen, sagten sie seufzend, die sind so was von tyrannisch und unduldsam, eine wie die andere! Richtige Despoten sind die, halten mit einer Hand ihren Männern den Geldbeutel und mit der anderen den Hosenbund zu! Wenn diese Männer Schmied Tong begegneten, fragten sie ihn vertraulich: »Wie kommt es bloß, dass du so viel Glück hast?« 1019
Strahlend erwiderte er dann, in aller Bescheidenheit: »Ich habe eben eine gute Frau gefunden.« War seine Frau in Hörweite, äußerte er sich etwas ausführlicher: »Alles wegen meiner Frau! So eine findet ihr auf der ganzen Welt nicht wieder! Da könnt ihr mit der Laterne am Himmel suchen oder unter der Erde oder am Meeresgrund ihr findet keine zweite wie sie!« Seit Schmied Tong in Begleitung seiner Frau Schwester Lins Etablissement besuchte, waren seine Anfälle von Jähzorn wie weggeblasen. Seine Gattin behandelte er nicht mehr arrogant, seine Angestellten beschimpfte er nicht mehr, er lächelte öfter einmal und gebrauchte keine Kraftausdrücke man hätte ihn für einen Intellektuellen halten können, so kultiviert benahm er sich. Seine Frau war sehr froh über diese Veränderung, zumal er nicht nur seine Überheblichkeit abgelegt hatte, sondern ein richtiger Jasager geworden war. Früher war er zum Beispiel nie mit ihr einkaufen gegangen, jetzt trug er ihr die Taschen; früher hatte er sich nie mit ihr beraten, jetzt holte er stets ihre Zustimmungem. Er machte sie sogar an seiner Stelle zur Vorstandsvorsitzenden der Firma und begnügte sich selbst mit dem Titel des Generaldirektors. Alle Dokumente ließ er von ihr gegenzeichnen, obwohl sie überhaupt nichts davon verstand. Jedoch machte sie es sich zum Prinzip, nur etwas zu unterschreiben, das ihr Mann schon unterschrieben hatte; wenn andere ihr Papiere vorlegten, die für sie unverständlich waren, verweigerte sie ihre Unterschrift. Sie war jetzt nicht mehr Hausfrau, sondern ging mit ihrem Mann zusammen morgens zum Dienst in die Firma und kam abends wieder mit ihm zusammen heim. Auch auf ihr Äuße1020
res begann sie nun Wert zu legen, trug Markenkleidung und schminkte sich mit Markenlippenstiften. Sie hatte zwar von Tuten und Blasen keine Ahnung, doch die Angestellten der Firma benahmen sich ihr gegenüber so respektvoll, dass sie sich dennoch mit der Zeit wie eine erfolgreiche Geschäftsfrau vorkam und schon mal anderen Frauen, die gleich ihr jahrzehntelang nur Hausfrau gewesen waren, große Vorträge hielt: Frauen dürften nicht völlig von ihren Männern abhängen, dozierte sie, sondern müssten sich etwas Eigenes schaffen. Zum Schluss verwendete sie gern einen gerade in Mode gekommenen Begriff: »Man muss einfach sein Selbstwertgefühl stärken!« Schmied Tang, der alle Feiertage im Kopf hatte, wurde zum wandelnden Kalender unserer kleinen Stadt Liuzhen. Wollte eine Frau ihren Mann dazu bewegen, ihr den Kauf eines Kleidungsstücks zu gestatten' sprach sie den Schmied auf der Straße an: »Was haben wir heute für einen Feiertag?« Kinder, die ihre Eltern quälten, ihnen ein Spielzeug zu kaufen, und zufällig Schmied Tang begegneten, riefen ebenfalls: »Schmied Tang, ist heute ein Feiertag für uns Kinder?« Seit Tang der Feiertagskönig unserer kleinen Stadt Liuzhen war, arbeitete er mit noch größerem Einsatz. Nicht genug damit, dass seine Supermärkte immer besser liefen, er stieg zusätzlich in den Großhandel mit Waren des täglichen Bedarfs ein und belieferte viele kleine Läden in der Stadt. Selbstverständlich nahm damit der Gewinn seiner Firma nochmals zu. All dies - Schmied Tangs neu erwachte Tatkraft und die wachsenden Erfolge seiner Firma - führte seine Gattin auf ihre weise Entscheidung und die rechtzeitige Lösung der se1021
xuellen Krise ihres Mannes zurück. Im Vergleich mit dem immer besseren Profit, den die Firma abwarf, fielen die Ausgaben für Schwester Lins junge Damen nun wirklich überhaupt nicht ins Gewicht. Tangs Frau dachte, dass der Ertrag inzwischen definitiv höher sei als die Investition. Daher suchte sie ihrem Mann jetzt gelegentlich sogar an NichtFeiertagen eine hübsche Edelnutte aus. Wenn die beiden Sechzigjährigen zweimal wöchentlich Schwester Lins sechsstöckigen Rotlichtbezirk aufsuchten Schmied Tong voller Energie, seine Gattin schnaufend und keuchend -, war es ihnen egal, ob jemand mit anhörte, was sie zueinander sagten. Nachdem der Schmied das erste Mal an einem Nicht-Feiertag eine hübsche junge Dame gehabt hatte, wollte er das zur Regel machen. Wie ein Kind, das die Mutter um ein Spielzeug anbettelt, stand er auf der Treppe und flehte seine Gattin an: »Bitte such mir heute eine Hübsche aus, ja?« Ganz Vorstandsvorsitzende, entgegnete sie: »Unmöglich! Heute ist kein Feiertag.« Darauf er wie der Untergebene einer Vorstandsvorsitzenden: »Es ist aber doch gerade wieder eine ausstehende Zahlung eingegangen ... « Seine Ehefrau, die Frau Vorstandsvorsitzende, strahlte auf, als sie das hörte. »Na gut«, sagte sie kopfnickend. »Ich werde eine Edelnutte für dich aussuchen.« Die jungen Damen in Schwester Lins Etablissement mochten Schmied Tong nicht. Unerträglich sei er, sagten sie, denn er finde nie den Absprung. Trotz seiner weißen Haare und seines weißen Bartes benehme er sich im Bett wie ein Zwanzigjähriger, gebe dafür aber weniger Trinkgeld als irgendein 1022
anderer Gast. Außerdem versuche seine krüppelige Alte, die ja stets mitkommen müsse, immer noch einen Rabatt auf den Preis auszuhandeln, den sie ihr zuriefen. Das Feilschen mit der Alten sei richtig kräftezehrend und dauere jedes Mal mindestens eine Stunde. Denn wenn sie etwas gesagt habe, müsse sie immer erst einen Schluck trinken und ein paar Minuten verschnaufen, ehe sie weiterreden und fortfahren könne, sie - die jungen Damen übers Ohr zu hauen. Schmied Tong zu empfangen sei anstrengender als vier andere Männer zu befriedigen, beschwerten sie sich, Geld bekämen sie aber nur für einen, und das auch nur mit einem Abschlag. Deshalb war keine von den jungen Damen willens, Tang zu bedienen. Andererseits war er eine bekannte Persönlichkeit in unserer kleinen Stadt Liuzhen und ein VIP-Gast in Schwester Lins Haus, sodass sie ihn nicht gut abweisen konnten. Hatten er beziehungsweise seine Gattin also ein Auge auf eine von ihnen geworfen, so konnte die Betreffende sich nur noch resigniert lächelnd ein Beispiel an dem selbstlos dem Volke dienenden Mustersoldaten des Vorsitzenden Mao nehmen: »Scheiße! Nun muss ich schon wieder den Lei Feng machen!« * Liu Chenggong - vulgo: Schriftsteller Liu, Presse-Liu, Stellvertreter Liu - war jetzt Chief Executive Officer Liu, und auch er war VIP-Gast bei Lin Hong. Als Glatzkopf-Li ihm nach Song Gangs Tod seinen Posten in der Firma überlassen hatte, wollte Liu nicht wie vorher Glatzkopf-Li Generaldirektor, sondern »CEO Liu« genannt werden. Die vier Silben 1023
waren den Leuten jedoch viel zu umständlich und erinnerten sie außerdem an einen japanischen Namen, der ja ebenfalls mit vier Schriftzeichen geschrieben wird. Daher ignorierten sie die schicke englische Abkürzung und titulierten ihn »Geschäftsführer Liu«. So war Liu Chenggong vom Habenichts zum Millionär »Geschäftsführer Liu« geworden. Er war jetzt in teures Tuch aus Italien gekleidet und ließ sich in dem weißen BMW herumfahren, den er von Glatzkopf-Li geschenkt bekommen hatte. Für eine Million Yuan als »Entschädigung für die verlorene Jugend« kaufte er sich aus seiner Ehe mit der Frau heraus, die er schon zwanzig Jahre vorher hatte loswerden wollen, und legte sich nicht nur eine, sondern gleich fünf hübsche Geliebte zu, seine »kleinen Sonnenstrahlen«, wie er sie nannte. Obwohl zu Hause bestens versorgt, konnte er sich nicht enthalten, zusätzlich öfter einmal bei Schwester Lin vorbeizuschauen. Immer nur die Hausmannskost, die er daheim bekäme, das sei langweilig; man möchte doch auch mal Wildfleisch kosten, sagte er. Für Dichter Zhao hatte Geschäftsführer Liu nur Verachtung übrig. Während der Dichter selbst nach wie vor von sich behauptete, seinen Lebensunterhalt mit der Feder zu verdienen, befand Geschäftsführer Liu, sein fortgesetzter LiteraturFimmel sei ein Selbstmord auf Raten, wie ein Strick, den er sich selber um den Hals gelegt habe. Er reckte vier Finger hoch und höhnte: »Vor dreißig Jahren hat er vier ganze Gedichtzeilen in einer längst eingestellten hektografierten Zeitschrift veröffentlicht! Seither ist in all den Jahren kein einziges Komma, kein einziger Punkt mehr dazugekommen, und
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trotzdem nennt er sich weiter >Dichter< Zhao. Ein hektografierter Dichter vielleicht, aber kein richtiger!« Zhao Shengli, mittlerweile schon etliche Jahre arbeitslos, hatte seinerseits ebenfalls nur Verachtung für Geschäftsführer Liu übrig. Als ihm zu Ohren kam, was jener über ihn geäußert hatte, war er zuerst fuchsteufelswild, dann aber sagte er mit einem höhnischen Lächeln, um einen Kriecher wie Geschäftsführer Liu zu beurteilen, brauche er nicht wie dieser vier, sondern allerhöchstens einen Finger hochzurecken: »Ein Mann, der seine Seele verkauft hat - das ist er!« Nachdem Dichter Zhao aus seiner Wohnung im Rotlichtbezirk unserer kleinen Stadt Liuzhen ausgezogen war, hatte er für billiges Geld in der Weststadt eine Hütte neben den Bahngleisen gemietet, wo täglich an die hundert Züge vorüberfuhren, die seine billige Hütte, den Fußboden, die Decke - alles, hundertmal am Tage erzittern ließen. Dichter Zhao verglich dieses Zittern mit dem Krampf, wie man ihn von einem Stromschlag bekommt, und musste prompt für seinen Vergleich büßen. Im Traum sah er sich nämlich bei den vorüberratternden Zügen wie ein zum Tode Verurteilter auf dem elektrischen Stuhl sitzen und mit Rotz und Tränen Abschied von dieser schönen Welt nehmen. Zum Leben hatte der arme Schlucker nur die Miete, die ihm Schwester Lin monatlich für seine einstige Wohnung zahlte. Er trug zwar einen Anzug, doch der war völlig zerknittert und schmutzig. Während die Leute in unserer kleinen Stadt Liuzhen schon seit zwanzig Jahren Farbfernseher hatten und jetzt begannen, sich Modems, Flüssigkristallund Plasmafernseher zuzulegen, guckte Dichter Zhao immer noch in seine alte 14Zoll-Schwarzweiß-Röhre. Da sie immer mal den Dienst ver1025
sagte, wollte er sie reparieren lassen, nahm das Gerät unter den Arm und zog damit durch die ganze Stadt, ohne jedoch jemanden zu finden, der noch wusste, wie man ein Schwarzweiß-Gerät wieder in Ordnung bringt. Am Ende sagte er sich, selbst ist der Mann: Wenn das Bild plötzlich weg war, schlug er mit der flachen Hand auf das Gerät, als ob er den Fernseher ohrfeige, dann kam das Bild wieder. Manchmal nützten aber auch mehrere Backpfeifen nichts, sodass er sich des »Beinfegers« aus seiner Jugend bediente, um das Bild wieder hervorzulocken. Der vom Leben so schnöde behandelte, einst so vornehm tuende Dichter begann jetzt sogar, Schimpfwörter und Verwünschungen in den Mund zu nehmen. Während sein ehemaliger Kumpel Geschäftsführer Liu über einen ganzen Harem verfügte, hatte er keine einzige Frau, nur einen alten Kalender mit lauter Pin-up-Girls, den er sich an die rissige Wand seiner kümmerlichen Behausung gehängt hatte, um sozusagen »mit gemaltem Kuchen seinen Hunger zu stillen«. Keine lebendige Frau mochte auch nur einen Blick an ihn verschwenden. Er hatte sogar mehrmals versucht, sich Witwen zu nähern, die noch dazu älter als er waren, doch auch sie hatten ihn abblitzen lassen und ihm eindeutig zu verstehen gegeben, er solle lieber erst einmal für seine eigene Ernährung sorgen, ehe er an Sex denke. Wehmütig dachte der Dichter an die schöne Zeit mit dem hübschen Mädchen zurück, das vor vielen Jahren zwölf Monate lang seine Freundin gewesen war, bis er dummerweise versucht hatte, auf zwei Hochzeiten zu tanzen, und Lin Hong nachgelaufen war. Am Ende hatte er mit leeren Händen dagestanden: Lin Hong hatte er nicht be1026
kommen, und seine Freundin hatte ihm den Laufpass gegeben. Geschäftsführer Lius abgelegte Gattin war zwar hochzufrieden, dass sie jetzt eine Million Yuan auf dem Konto hatte, mochte aber dennoch nicht darauf verzichten, die Herzlosigkeit und Ungerechtigkeit dieses Mannes öffentlich anzuprangern. Wie schon einmal vor vielen, vielen Jahren arbeitete sie wieder mit ihren zehn Fingern, die sie jedoch jetzt nicht wie damals einmal, sondern zweimal hochhielt. Das hatte diesmal natürlich nichts mit der Anzahl der gehabten Beischläfe zu tun, sondern stand für die zwanzig Ehejahre mit Liu. Zwanzig Jahre lang habe sie für ihn gekocht und gewaschen, immer sei sie für ihn da gewesen, in guten wie in schlechten Zeiten - ganz besonders in schlechten Zeiten! Denn als er seine Stelle in der Metallfabrik verloren habe, sei sie mitnichten fort gegangen, sondern habe treu zu ihm gestanden und ihn liebevoll umsorgt. Da sie selbst wechselwarm sei - wie sie mit einigem Stolz anmerkte -, habe sie ihn im Winter gewärmt wie ein Ofen, im Sommer gekühlt wie ein Eisblock. Jetzt stinke er nur noch vor Geld, obwohl er doch einst ein so unverdorbener, aufrechter, kultivierter Schriftsteller gewesen sei. Gerade deshalb habe sie sich ja damals in ihn verliebt und ihn geheiratet. Alles vorbei! Kein Schriftsteller mehr, kein Gatte ... Einem von ihren Zuhörern fiel an dieser Stelle Dichter Zhao ein; den könnte man doch mit ihr verkuppeln! »Das stimmt schon, einen Schriftsteller Liu gibt es nicht mehr«, sagte er. »Aber Dichter Zhao ist ja noch da, der ist unverheiratet - als Ehekandidat ein wahrer Diamant!«
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»Dichter Zhao? Ein Diamant?«, entgegnete sie naserümpfend. »Ein Stück Müll ist er, das keiner haben will.« Lius gewesene Gattin, die sich für eine von den reichsten Einwohnerinnen von Liuzhen hielt, war ernsthaft beleidigt, dass jemand es wagte, sie und diesen Dichter Zhao, diesen Habenichts!, in einem Atemzug zu nennen. »Nicht mal eine Henne würde sich nach dem umdrehen!«, schloss sie giftig. Der Dichter, nach dem sich nicht einmal eine Henne umdrehen würde, verkehrte häufig in Stieleis-Wangs LuxusPförtnerloge, genoss die Bequemlichkeit der italienischen Polstermöbel, strich bewundernd über das edle Holz des französischen Schranks, legte sich auch einmal kurz auf das deutsche Paradebett und ließ selbstverständlich auch das Toto-Klosett mit der automatischen Hintern-Spülung und Trocknung nicht aus. Er war voll des Lobes über den großen FlüssigkristallFernseher, der bei Stieleis-Wang an der Wand hing. Der sei ja noch ein paar Millimeter dünner als der Gedichtband, den er herauszubringen gedenke, und biete noch mehr Programme, als er Gedichte in seinen Gesammelten Werken habe. Als Stieleis-Wang den Dichter immer wieder von einer Sammlung seiner Gedichte reden hörte, beglückwünschte er ihn wortreich. Wo denn der Band erscheinen werde, erkundigte er sich. »Doch nicht hier in Liuzhen?« »Natürlich nicht!«, antwortete Dichter Zhao. Dann nannte er einen Ortsnamen, den er vor Jahren während des Großen Jungfrauen-Wettbewerbs von dem Schwindler Zhou You zum ersten Mal gehört hatte. »Auf den britischen Virgin Islands«, fügte er beiläufig hinzu. Stieleis-Wangs Leben im Luxus war im Grunde sterbenslangweilig. 1028
Tagaus, tagein folgte er mit seinem Fernseher Zahnreißer Yus politischen Spuren, tagaus, tagein berichtete er anderen von dessen politischen Abenteuern. Die Leute in unserer kleinen Stadt Liuzhen hatten diese Bulletins gründlich satt; sie nannten Stieleis-Wang »Bruder Xianglin« in Anspielung auf die ebenso unglückliche wie nervige Figur »Gevatterin Xianglin« in Lu Xuns Erzählung »Das Neujahrsopfer«. Einzig und allein Dichter Zhao lauschte geradezu hingerissen, sodass StieleisWang in ihm einen wahren Freund zu sehen begann. In Wirklichkeit war auch der Dichter längst seiner Tiraden überdrüssig, nicht jedoch seines großen Kühlschranks mit all den köstlichen Kaltgetränken. Zu dieser Zeit erfasste plötzlich eine Welle antijapanischer Proteste das ganze Land; über die Kundgebungen in Schanghai und Peking gab es Meldungen im Fernsehen, in der Presse und im Internet. Als die Leute in unserer kleinen Stadt Liuzhen sahen, wie in Schanghai japanische Geschäfte verwüstet und japanische Autos verbrannt wurden, wollten auch sie nicht zurückstehen, zogen mit Spruchbändern durch die Straßen und hätten für ihr Leben gern auch etwas zerschlagen und verbrannt. In Ermangelung geeigneterer Objekte richtete sich der Volkszorn gegen Glatzkopf-Lis japanisches Restaurant, wo die Fensterscheiben zu Bruch gingen und die Stühle nach draußen geschleppt und über zwei Stunden lang verbrannt wurden, während die übrige Einrichtung unversehrt blieb. Schmied Tong erkannte sofort die Zeichen der Zeit, ließ in seinen Supermärkten sämtliche JapanImporte aus den Regalen entfernen und an den Eingängen Spruchbänder aufhängen: Wir führen keine japanischen Waren! 1029
Zahnreißer Yu, der überall in der Welt politische Brandherde gesucht und gefunden hatte, kehrte nach Liuzhen zurück. Sobald sein wahrer Busenfreund wieder da war, verlor Stieleis-Wang augenblicklich das Interesse an Dichter Zhao. Von da an blieb dem Dichter die Tür der Luxus-Pförtnerloge verschlossen, sooft er auch vorbeischaute und durchs Fenster sehnsüchtig nach dem großen Kühlschrank mit den verlockenden Getränken spähte. Es war nämlich so, dass StieleisWang wie ein ergebener Jünger seinem Guru dem Zahnreißer von morgens bis abends bei seinen Rundgängen durch unsere kleine Stadt Liuzhen folgte. Am liebsten hätte er wohl auch noch mit ihm im selben Bett geschlafen. Eigentlich »waren die Fahnen schon wieder eingerollt, und die Trommeln ruhten«, doch Zahnreißer Yus Rückkehr wirkte Wie der Funke, aus dem der Steppenbrand entsteht, kurz: die antijapanischen Demonstrationen flammten erneut auf. Die Slogans in einem Dutzend Sprachen, mit denen Yu seine Rede würzte, waren den Leuten bald so vertraut, dass sie ihnen nach kurzer Zeit ebenfalls ziemlich glatt von den Lippen gingen. Früher der beste Zahnreißer im Umkreis von fünfzig Kilometern, war Yu inzwischen durch die politischen Stürme in zahlreichen Ländern so weit gestählt, dass er jetzt selber fast wie ein politischer Führer auftrat. Ihn könne nichts erschüttern, denn er sei wie er selber es ausdrückte »durch den Kugelhagel der Politik gegangen«. Zahnreißer Yu beschloss, mit Stieleis-Wang im Gefolge nach Tokio zu reisen und gegen den Besuch des YasukuniSchreins durch den japanischen Ministerpräsidenten Junichiro Koizumi zu protestieren. Als Stieleis-Wang von diesem Plan hörte, bekam er das große Zittern. Er war ja noch nie1030
mals im Ausland gewesen; selbst die paar Male, wo er sich aus Liuzhen entfernt hatte, ließen sich an den Fingern einer Hand aufzählen. Und jetzt sollte er gleich beim ersten Besuch in einem fremden Land auch noch gegen den Ministerpräsidenten protestieren! Ihm war überhaupt nicht wohl bei der Sache. Vorsichtig schlug er Zahnreißer Yu vor: »Könnten wir nicht hier in Liuzhen protestieren? ...« »Hier wären wir höchstens normale Bürger«, belehrte ihn Yu, der höhergesteckte politische Ziele im Auge hatte. »Wenn wir aber in Tokio protestieren, sind wir Politiker.« Stieleis-Wang war es im Grunde egal, ob er ein normaler Bürger oder ein Politiker war. Nicht egal war ihm aber Zahnreißer Yu, den er vergötterte. Er wusste, Yu war ein welterfahrener Mann, mit dem zusammen er - Stieleis-Wang - niemals Gefahr laufen würde, einen grundlegenden Fehler zu begehen. Als er in den Spiegel schaute und sein Altmännergesicht sah, sagte er sich, er habe in seinem ganzen langen Leben ja wirklich noch nichts von der Welt gesehen, und rang sich endgültig dazu durch, mit dem Zahnreißer nach Tokio zu fliegen. Sollte der dort ruhig seine Politik machen, für ihn selbst würde es einfach eine Touristenreise sein. Geschäftsführer Liu widmete der Protest-Reise der beiden Anteilseigner größte Aufmerksamkeit und veranlasste, dass sie mit einem gerade eingetroffenen Toyota Crown nach Schanghai zum Flugplatz gebracht würden. Es handelte sich um ein brandneues Modell und ein nagelneues Auto; die Fahrt zum Flugplatz würde die Jungfernfahrt sein. Zahnreißer Yu und Stieleis-Wang saßen auf den italienischen Sesseln in Wangs Luxus-Pförtnerloge und warteten auf das Auto. Als es vorfuhr, erhob sich Yu, ging hinaus und ließ 1031
den Chauffeur aussteigen. Dann bat er ihn freundlich: »Holen Sie bitte einen Vorschlaghammer.« Völlig perplex blickte der Mann ihn an. Wozu ein Vorschlaghammer? Auch Stieleis-Wang sah so aus, als ob er es ihm nicht sagen könnte. Zahnreißer Yu forderte ihn, immer noch ganz ruhig, abermals auf: »Bitte!« Stieleis-Wang wusste zwar ebenso wenig wie der Chauffeur, wozu der Hammer gebraucht wurde, aber Zahnreißer Yu hatte bestimmt seine Gründe. Daher fuhr er den Mann an: »Na los!« Als der verwirrte Chauffeur weg war, fragte Stieleis-Wang seinen Freund, was er mit dem Vorschlaghammer vorhabe. Yu zeigte auf den Toyota Crown und sagte: »Das ist ein japanisches Auto. Damit fahren und dann in Japan protestieren, das wäre politisch äußerst heikel.« Sprach's, lehnte sich bequem in dem italienischen Sessel zurück und schlug die Beine übereinander. Stieleis-Wang ging ein Licht auf; er nickte heftig. Zahnreißer Yu, der ist echt unschlagbar, wirklich ein richtiger Politiker!, dachte er. Und dieser Geschäftsführer Liu ist ja so was von dusselig! Weiß genau, wir wollen nach Japan, um zu protestieren, und will uns ausgerechnet mit einem japanischen Auto zum Flugplatz bringen lassen. Politisch instinktlos, so etwas! Der Fahrer kam mit dem Hammer zurück und wartete an der Tür der Pförtnerloge auf Zahnreißer Yus Anweisungen. Der wedelte mit der Hand und sagte: »Zerschlagen Sie es!« Der Mann verstand nicht: »Was denn?«
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»Das japanische Dingsda«, sagte Zahnreißer Yu, nach wie vor gelassen und freundlich. »Welches japanische Dingsda?« »Na, das Auto!«, mischte sich Stieleis-Wang ein. Der Chauffeur erschrak und wich ein paar Schritte zurück, während er die beiden Chefs verstört ansah. Er legte den Hammer auf die Motorhaube und - eilte davon. Nach einer Weile bemühte sich Geschäftsführer Liu, über beide Backen strahlend, höchstpersönlich zu den beiden Anteilseignern hinunter und informierte sie, es handele sich bei diesem Toyota Crown mitnichten um japanische Ware, sondern um ein Erzeugnis aus einem Jointventure, das Auto sei also mindestens zur Hälfte chinesisch. Stieleis-Wang, der Geschäftsführer Liu seit jeher vertraute, wandte sich an Zahnreißer Yu: »Stimmt, dann ist es keine japanische Ware.« Yu jedoch erwiderte gelassen: »In der Politik zählt alles, da darf es keine Unklarheiten geben. Verschonen wir also den chinesischen Anteil und zerschlagen nur den japanischen Rest!« Stieleis-Wang wechselte sofort wieder die Seiten: »Genau! Zerschlagen wir die Hälfte!« Geschäftsführer Liu war außer sich vor Zorn. Zerschlagen müsste man eure verdammten Schädel, ihr alten Idioten:, dachte er bei sich, ließ sich jedoch vor den beiden Anteilseignern seine Wut nicht anmerken, sondern wies den Fahrer wutentbrannt an: »Schlag zu! Los!« Dann stapfte er davon, seinen Ärger in sich hineinfressend. Der Chauffeur zögerte immer noch, hob dann aber doch den Hammer und zerdepperte die Windschutzscheibe. Zufrieden
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erhob sich Zahnreißer Yu, fasste Stieleis-Wang am Arm und sagte: »Auf geht's!« »Aber wie denn? Ohne Auto?«, fragte Wang. »Wir nehmen ein Taxi«, erwiderte Yu. »Einen deutschen VW Santana.« Dann stellten sich die bei den Herren - beide über siebzig und beide unter den reichsten Bewohnern unserer kleinen Stadt Liuzhen - mit ihren Rolllkoffern an den Straßenrand und winkten nach einem Taxi. Stieleis- Wang war voller Bewunderung für Zahnreißer Yus Gelassenheit. Überhaupt nicht laut sei er geworden, staunte er. Dabei sei es doch um ziemlich handfeste Dinge gegangen. Der Zahnreißer nahm das Lob kopfnickend zur Kenntnis. »Politiker brauchen nicht laut zu werden«, erklärte er Wang. »Laut werden nur Rowdys, wenn sie sich kloppen.« Wang nickte eifrig. Bei dem Gedanken, dass er jetzt mit diesem außerordentlichen Menschen nach Japan reise, wallten Dankbarkeit und Freude in ihm auf. Gleich darauf wurde ihm aber schon wieder bang ums Herz. Leise fragte er Zahnreißer Yu: »Wenn wir protestieren, ich meine in Japan - wird uns da vielleicht die Polizei hochnehmen?« »Nein«, sagte Yu. Dann fügte er hinzu: »Dabei würde ich mir das so sehr wünschen!« »Wieso?«, fragte Stieleis-Wang erstaunt. Der Zahnreißer vergewisserte sich, dass niemand lauschte, dann vertraute er seinem Freund leise an: »Wenn wir beide von der japanischen Polizei verhaftet würden, würde China todsicher protestieren und über unsere Freilassung verhandeln; die UNO würde sich einschalten, und überall in der
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Welt würde die Presse Bilder von uns drucken. Dann würden wir plötzlich zur internationalen Prominenz gehören!« Als er Stieleis-Wangs schafdummes Gesicht sah, seufzte er bedauernd: »Ach, du verstehst eben nichts von Politik!« Glatzkopf-Li gehörte nicht zu Schwester Lins VIP-Gästen. Es waren schon drei Jahre vergangen, ohne dass er Lin Hong begegnet wäre. Auch mit keiner anderen Frau war er zusammen gewesen; jener letzte Beischlaf mit Lin Hong sollte für alle Zeiten das Nonplusultra sein. Seit die Nachricht von Song Gangs Tod ihn panisch von Lin Hong herunterspringen ließ, hatte er sich nie wieder von seinem Schrecken und seiner Reue erholt. Er war seither impotent oder, um es mit seinen eigenen Worten zu sagen, »Mit mir ist nichts mehr los!«. Nachdem mit Glatzkopf-Lis diesbezüglichen Fähigkeiten nichts mehr los war, verlor er auch in anderer Hinsicht seine Ambitionen. In der Firma ließ er sich nur noch selten blicken, »fischte drei Tage und trocknete danach zwei Tage das Netz«, sodass er immer mehr zu einer Art Schattenkönig wurde. Seine Funktion als Generaldirektor hatte er ja ohnehin sofort an Stellvertreter Liu abgegeben, nachdem er mittels des Tofu-Banketts für Lin Hong gesorgt hatte. Der Tag seines Amtsverzichts war der 27. April 200 I. Als er abends auf seinem vergoldeten Klosett saß, lief im Flüssigkristallfernseher an der Wand des Badezimmers gerade ein Bericht über den Start des russischen »Sojus«-Raumschiffs. Der amerikanische Geschäftsmann Dennis Tito hatte zwanzig Millionen Dollar berappt, um - mit einem Raumanzug
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verkleidet - stolzgeschwellt wie ein richtiger Raumfahrer einen Ausflug ins Weltall zu unternehmen. Glatzkopf-Li wandte den Blick vom Bildschirm und drehte sich um: Im Spiegel sah er das Gesicht eines Mannes, der gerade pinkelt und scheißt. Es war ein bisschen, als schaue er auf einen Misthaufen, nachdem er eben erst Blumen bewundert hatte. Er war sehr unzufrieden mit seinem Spiegelbild. Dieser Yankee isst und trinkt, pinkelt und scheißt im Weltraum, dachte er, während ich selber in meinem kleinen Liuzhen auf dem Klo hocke und meine Lebenszeit nutzlos verstreichen lasse. Er murmelte vor sich hin: »Und wenn ich auch ... ?« Ein Jahr später bezahlte der südafrikanische IT-Tycoon Mark Shuttleworth ebenfalls zwanzig Millionen Dollar für einen Weltraumtrip im »Sojus«-Raumschiff, währenddessen er seinen Worten zufolge auf den täglich sechzehn Erdumrundungen sechzehn Mal die Sonne auf- und untergehen sah. Als Nächster erklärte der amerikanische Popsänger Lance Bass, dass er im Oktober 2002 in den Weltraum reisen würde... Glatzkopf-Li saß wie auf Kohlen. »Schon drei Bastarde vor mir!«, murmelte er. Er heuerte jetzt zwei russische Studenten an, die bei ihm wohnen und ihm die russische Sprache beibringen sollten. Um möglichst rasch Fortschritte in der fremden Sprache zu machen, verfügte er, in seiner Luxuswohnung dürfe ab sofort kein Chinesisch, sondern nur noch Russisch gesprochen werden. Das war hart für Geschäftsführer Liu, der einmal im Monat über die Geschäfte der Firma Bericht erstattete. Was eigentlich in zwanzig Minuten erledigt gewesen wäre, dauerte nun länger als drei Stunden, denn Glatzkopf-Li, der natür1036
lich alles verstand, was Geschäftsführer Liu sagte, tat nichtsdestoweniger, als könne er kein Chinesisch, und ließ die bei den Russen dolmetschen. Dann wiegte er gedankenverloren den Kopf und versuchte, mit den wenigen russischen Brocken, deren er mächtig war und die er nun mühsam zusammenstoppelte, eine Antwort zu geben, die dann wiederum von den Studenten ins Chinesische gedolmetscht wurde. Geschäftsführer Liu konnte nur noch die Augen verdrehen er verstand kein Wort! Auch Glatzkopf-Li war sich natürlich im Klaren, dass die Verdolmetschung hinten und vorn nicht stimmte, aber er durfte ja nichts korrigieren, da Chinesisch verboten war, fuhr also fort zu radebrechen. Das Ganze war überaus ermüdend für Geschäftsführer Liu; er hatte das Gefühl, dass da mit Tieren in menschlicher Sprache und mit Menschen in tierischer Sprache geredet würde. Im Stillen verfluchte er - in Anspielung auf eine Gestalt aus Lu Xuns Erzählung »Die wahre Geschichte des A Q« - Glatzkopf-Li als »verdammten Abklatsch eines ausländischen Teufels«. Parallel zu seinen Sprachstudien begann Glatzkopf-Li mit der körperlichen Ertüchtigung. Zuerst übte er im Fitnessraum, dann joggte und schwamm er, spielte Tischtennis, Badminton, Basketball, Tennis, Fußball, Bowling und Golf. So viele Sportarten er auch ausprobierte, es lief immer auf dasselbe hinauf: Nach spätestens zwei Wochen hatte er sie gründlich satt. Glatzkopf-Li führte jetzt ein streng enthaltsames Leben und ernährte sich rein vegetarisch wie ein buddhistischer Mönch. Zwischen Russisch-Studium und körperlicher Ertüchtigung musste er jetzt öfter an den hervorragenden Reis denken, 1037
den Song Gang einmal zubereitet hatte, als sie beide noch Kinder waren. Beim Gedanken an Song Gang vergaß er sein Gelöbnis, nur Russisch zu sprechen. Mit verlorener Miene wie ein Waisenkind verfiel er dann unwillkürlich in den Dialekt unserer kleinen Stadt Liuzhen und murmelte vor sich hin: »Selbst wenn uns der Tod auf ewig trennt, so bleiben wir doch Brüder.« Glatzkopf-Li kostete den Reis in allen elf Restaurants, die er in unserer kleinen Stadt Liuzhen besaß, doch keiner schmeckte so wie der, den sein Bruder damals gekocht hatte. Dann probierte er es in den Restaurants, die ihm nicht gehörten: auch Fehlanzeige. Dabei war er durchaus nicht knickrig und legte in der Hoffnung, »Song Gangs Reis« zu bekommen, schon mal ein paar hundert Yuan auf den Tisch. Jedes Mal wurde er aufs Neue enttäuscht. Die Leute in Liuzhen luden ihn sogar zu sich nach Hause ein und ließen ihn probieren, ob ihr Reis vielleicht so schmecke wie der sagenhafte »Song Gangs Reis«. Nachdem Glatzkopf-Li eine Zeit lang von Haus zu Haus gegangen war und Reis verkostet hatte, genügte ihm am Ende ein Blick, um zu wissen, es war wieder nichts. Dann legte er das Geld auf den Tisch und stand kopfschüttelnd auf: »Das ist nicht Song Gangs Reis.« Glatzkopf-Lis nostalgische Suche nach »Song Gangs Reis« brachte ein paar geschäftstüchtige Leute in unserer kleinen Stadt Liuzhen auf den Gedanken, wie Archäologen nach Gegenständen zu suchen, die Song Gang hinterlassen hatte, um sie dann Glatzkopf-Li zu einem guten Preis zu verkaufen. Einer hatte tatsächlich Glück und fand die Reisetasche mit den beiden aufgedruckten Schriftzeichen für »Schanghai«, jene Tasche, die Song Gang seinerzeit bei der Abreise aus Liuzhen 1038
mitgenommen hatte und die von Zhou You in eine Mülltonne gestopft worden war. Glatzkopf-Li erkannte sie mit einem Blick. Die Erinnerung an die Vergangenheit stieg sofort wieder in ihm auf, und seine Miene verdüsterte sich, als er die Tasche an sich drückte. Anschließend kaufte er sie für den exorbitanten Preis von zwanzigtausend Yuan. Das schlug wie eine Bombe ein. In unserer kleinen Stadt Liuzhen wurden nun alle möglichen echten und falschen Song-Gang-Hinterlassenschaften ausgegraben. Auch Dichter Zhao fand etwas. Mit einem Paar kaputter gelber Segeltuchschuhe legte er sich auf allen möglichen Sportplätzen auf die Lauer, wo Glatzkopf-Li seiner körperlichen Ertüchtigung nachging, bis er ihn auf dem Tennisplatz endlich zu Gesicht bekam. Indem er die Schuhe ehrfürchtig auf den flachen Händen vor sich hertrug, rief er anbiedernd: »Herr Generaldirektor, werfen Sie doch bitte einen Blick hierauf!« Glatzkopf-Li blieb stehen und schaute kurz auf die ausgelatschten Segeltuchschuhe. »Was soll das?«, fragte er. Dichter Zhao sagte schmeichlerisch: »Die hat Song Gang hinterlassen.« Glatzkopf-Li nahm einen Schuh in die Hand und musterte ihn genauer, dann warf er ihn dem Dichter wieder hin. »Diese Schuhe hat mein Bruder nie getragen«, sagte er und wandte sich zum Gehen. Dichter Zhao hielt ihn fest. »Stimmt«, erklärte er, »Song Gang hat sie nicht getragen, aber ich. Entsinnen Sie sich nicht mehr? Als ich Sie und Ihren Bruder - vor allem Ihren Bruder - damals mit meinen Beinfegern gequält habe, da hatte ich diese Schuhe an. Also sind sie quasi auch eine Hinterlassenschaft von Song Gang.« 1039
Glatzkopf-Li brüllte auf und verpasste dem Dichter auf dem Rasen des Tennisplatzes achtzehn Beinfeger hintereinander, sodass der Mittfünfziger sich achtzehnmal überschlug und ihm alles wehtat, Kopf und Füße, Fleisch und Knochen. Schwitzend und keuchend vor Anstrengung rief Glatzkopf-Li immer wieder: »Nimm das! Und das! Und das! ... « Bei dieser Gelegenheit entdeckte er, dass Beinfeger die beste Art von körperlicher Ertüchtigung waren, die er sich vorstellen konnte. Er forderte den ächzend und stöhnend auf dem Rasen liegenden Dichter mit einer Handbewegung auf, er solle aufstehen, aber der war kaum imstande sich aufzusetzen. Glatzkopf-Li fragte ihn: »Möchtest du für mich arbeiten?« Als Dichter Zhao diese Worte hörte, sprang er sofort auf und stellte das Stöhnen ein. Voller Vorfreude fragte er den »Herrn Generaldirektor«, um welche Tätigkeit es sich handele. »Trainingspartner bei der körperlichen Ertüchtigung«, sagte Glatzkopf-Li. »Bezahlung nach dem Firmentarif für mittleres Verwaltungspersonal.« So war der Dichter zwar seine alten Latschen nicht losgeworden, dafür hatte er einen gut bezahlten Posten als Trainingspartner Glatzkopf-Lis bekommen. Von da an erschien er Tag für Tag bei jedem Wetter auf dem Tennisplatz, um ausgerüstet mit Knie- und Handgelenkschonern sowie wattierter Jacke und Hose (selbst an heißen Sommertagen) in treuer Pflichterfüllung auf Glatzkopf-Lis Beinfeger zu warten. Nach drei Jahren hatte Glatzkopf-Li große Fortschritte sowohl beim Erlernen der russischen Sprache als auch bei der 1040
körperlichen Ertüchtigung gemacht. Jetzt würde es nur noch weitere sechs Monate dauern, dann würde er im russischen WeltraumTrainingszentrum die RaumfahrerGrundausbildung aufnehmen. Während er sehnsuchtsvoll auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer saß und dem immer näher rückenden Tag seines Weltraumfluges entgegenfieberte, vergaß er oftmals die von ihm selbst erlassene Regel, nur Russisch zu sprechen, und verfiel in seinen heimatlichen Dialekt. Schwatzhaft wie ein alter Mann erzählte er den beiden russischen Studenten immerzu von Song Gang. Dann sagte er: »Der Yankee Tito hat einen Fotoapparat, eine Kamera, DVD und Fotos von seiner Familie in den Weltraum mitgenommen, der Südafrikaner Shuttleworth Fotos von Familie und Freunden, ein Mikroskop, seinen Laptop und Disketten.« Während dieser Aufzählung hatte er jeweils entsprechend viele Finger hochgereckt. Nun aber reckte er nur noch einen Finger hoch, denn: »Der Chinese Glatzkopf-Li aber, der wird nur einen einzigen Gegenstand in den Weltraum mitnehmen. Und zwar welchen? Die Urne mit Song Gangs Asche.« Durch das bodenlange Fenster blickte er in die Weiten des sternfunkelnden Nachthimmels. Sein Gesicht spiegelte seine romantische Stimmung wider, als er erklärte, er wolle die Asche seines Bruders im Kosmos auf eine Umlaufbahn bringen, auf der man jeden Tag sechzehn Mal die Sonne aufgehen und untergehen sieht. So würde Song Gang für immer und ewig zwischen Mond und Sternen das All durchstreifen. »Und dann«, sagte er, plötzlich wieder auf Russisch, »dann ist mein Bruder ein Alien!«
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