Über dieses Buch Nach ›Zauberlied‹ (Bd. 2721) und ›Einhorncodex‹ (Bd. 2725) wird in ›Bronwyns Fluch‹, dem dritten Band ...
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Über dieses Buch Nach ›Zauberlied‹ (Bd. 2721) und ›Einhorncodex‹ (Bd. 2725) wird in ›Bronwyns Fluch‹, dem dritten Band der Geschichten aus Argonia von Bronwyn, Brüllo Ebereschs und Bernsteinweins Tochter, berichtet. Sie ist das Ebenbild ihres Vaters: groß, stür misch, tolpatschig, gutmütig, laut und von unstillbarem Tatendrang und Kampfesmut erfüllt. Ihre Altersgenossin nen überragt das halbwüchsige Mädchen um Haupteslän ge. Nur die Wahrheit sprechen kann Bronwyn nicht, weil ein Fluch auf ihr lastet, den bisher keiner lösen konnte. König Brüllo, ihr Vater, liegt im Krieg mit dem Nachbar reich Ablemarle. Da Kronprinz H. Würdigmann der Wür dige die Gesellschaft der Zigeunerkönigin Xenobia dem Thron vorgezogen hat, regiert in Ablemarle jetzt sein Bruder, Würdigmann der Unwürdige, der Absichten auf Argonia hat. Da Königin Bernsteinwein nach über zehn Jahren überraschend wieder schwanger ist, erledigt ihre Schwester, Gretchen, Prinzessin von Argonia und Gräfin von Wurmhorst, die Regierungsgeschäfte. Um Bronwyn in Sicherheit zu bringen, wird sie nach Schloss Wurm horst zu ihrer jüngeren Cousine Karola, Gretchens und Colins Tochter, geschickt. Nach einigen Anfangsproble men freunden die beiden Mädchen sich an und ziehen mit der verzauberten Schwänin Anastasia (die einst mit ihren Schwestern, sämtliche Prinzessinnen, Furchtbarts Flug wagen zog und die er zu entzaubern vergaß) auf Aben teuer aus… Mehr noch als in den beiden anderen Büchern kommt es hier zu ebenso aufregenden wie erheiternden Fehl zündungen der Magie, und die völlig geschäftsmäßige Abwicklung der Zauberei durch das Unternehmen Muk bar, Maschkent & Mirza – Magische Artikel GmbH ist selbst für echte Fantasy-Freaks ein Novum.
Über die Autorin Elizabeth Scarborough schreibt eine ganz spezielle Sorte heiter-ironischer Phantasien. Wie keine andere versteht sie es, mit altbekannten Versatz stücken des phantastischen Genres zu jonglieren und daraus höchst originelle, neuartige Geschichten zusam menzusetzen. Sie wurde in Kansas City/USA geboren. Nach der Schule arbeitete sie fünf Jahre als Militärkran kenschwester, darunter auch ein Jahr als Sanitäterin in Vietnam. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit pflegt sie häusliche und musische Hobbies – weben, spinnen, Gitarre und Hackbrett spielen. Mit ›Aman Akbars Harem‹ schrieb Elizabeth Scarborough einen rasanten Roman aus dem Orient der Legenden, der als Band 2706 in der Bi bliothek der phantastischen Abenteuer erschien. Elizabeth Scarborough lebt heute in Fairbanks/Alaska.
Elizabeth Scarborough
Bronwyns Fluch
Roman Aus dem Amerikanischen von Rose Aichele
Fischer Taschenbuch Verlag
Deutsche Erstausgabe
Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH,
Frankfurt am Main, September 1987
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1983
unter dem Titel ›Bronwyn’s Bane‹ bei Bantam Books, Inc. New York
Copyright © Elizabeth Ann Scarborough
Für die deutsche Ausgabe:
© 1987 Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Umschlaggestaltung: Die Titelillustration von Claus-Dietrich Hentschel,
Konstanz, zeigt einen Ausschnitt seines Acrylbildes
»Abendlied« (1972; 45 X 35 cm);
die Typographie besorgte Manfred Walch, Frankfurt am Main
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany 1680-ISBN-3-596-22.726-7
Scan by Brrazo / k-lesen by zxmaus 10/2004
Zur Erinnerung an Leslie Taylor, die ich immer in liebevollem Andenken behalten werde, und an meinen geliebten Kater, »Sadd leshoes«, der Chings geistiger Vater war. Dieses Buch ist auch meinem Bruder, Monte und Robert Ara now gewidmet. Das Große Band ist vor allem Karen H. gewidmet. Ich danke auch Linda Aranow-Brown, Robert Brown und Chris Opland für ihre treue Zuhörerschaft, ebenso Prof. Dean Gottehrer fürs Fah nenlesen, Nora Young und dem verstorbenen Teeny Fittroon für die Anregungen bezüglich der Charaktere und schließlich Zelma Trafton für ihren Einfall, ein versunkenes Schloss in die Geschich te mit einzubeziehen.
Die Hauptpersonen
Bronwyn die Kühne
erstgeborene Prinzessin von Argonia, ein großes, gutmütiges und tolpatschi ges Mädchen, auf dem ein schrecklicher Fluch lastet: sie kann nicht die Wahrheit sagen
König Brüllo Eberesch
ihr Vater
Königin Bernsteinwein
ihre Mutter
Prinzessin Gretchen Grau
ihre Tante
Graf Colin von Wurmhorst
deren Gatte
Karola Anastasia
deren Tochter, Bronwyns Kusine, eine verzauberte Schwänin, früher Prinzes sin
Jacopo (Jack)
ein Zigeunerjunge, zu gleich Thronfolger von Ablemarle
Lorelei, Cordelia
zwei Sirenen, mit Bronwyn entfernt verwandt
Belburga
eine Menschenfresserin
Lilienperle Rubinrose (Rostie)
ihre Töchter
Tausendschön Leofwin
H errscher von Frosting dung, verheiratet mit Lili enperle
Leofrig
sein erster Drilling, verhei ratet mit Tausendschön
Leofric
sein zweiter Drilling, ein
Einsiedler
Jehan der Flotte
ein Piratengeist
Furchtbart
böser Zauberer, Gretchen Graus Großonkel
Gilles Kilgilles
ein Edler an Leofwins Hof
Mukbar, Maschkent & Mirza
Magische Artikel GmbH, florierendes Wüstenunter nehmen für Zaubereibe darf; Propheten des Profits
Vorwort
Aus den Argonischen Archiven für den Argonischen Herold übersetzt von Cyril Hühnerstange: Kronprinzessin bei Taufe verflucht Königin wird ohnmächtig, als verhextes Spielzeug die Thronerbin Bronwyn als »Lügnerin« brandmarkt Bent Eiswurm im Norden Argonias: Während des ersten Regie rungsjahrs König Brüllos des Roten … Zu Beginn dieses Jahres wurde die Königliche Taufe der Erstgeborenen des Königspaares durch ein verhextes Taufgeschenk verdorben, ein Männchen, das aus einer Schachtel heraussprang und der winzigen Prinzessin Bronwyn ins Gesicht schrie: »Du bist eine Lügnerin!« – und sie auf diese Weise dazu verdammte, eine solche zu werden. Königin Bernsteinwein sank hysterisch kreischend, aber anmutsvoll ihrem Gebieter in die Arme und wurde ohnmächtig, während die Thron erbin, die vor Erregung laut aufschrie, von den Umstehenden besänftigt wurde. Die Sachverständigen befürchten, dass die Prinzessin wegen des Fluchs nicht in der Lage sein wird, ihrem Vater, dem König, auf dem Thron nachzufolgen, und wie aus unterrichteter Quelle ver lautet, soll der König eine Ermittlung in Gang gebracht haben, um dem Fluch auf den Grund zu gehen. Geheimer Erlass Seiner Königlichen Hoheit! König Brüllo I. an den Hauptarchivar, Herrn Cyril Hühnerstange: »Hühnerstange: Während wir Ihre Idee grundsätzlich billigen, die archivierten Dokumente im Hinblick auf den Zeitpunkt, da die Bevölkerung zu lesen lernt, in einem volkstümlicheren Stil abzu 10
fassen, war doch der oben genannte Artikel nicht ganz das, was uns vorgeschwebt hatte. Wie Sie wissen, war unser Versuch, die Prinzessin vom Fluch zu befreien, nicht so ganz erfolgreich. Unse re diesbezüglichen Ermittlungen müssen nun aber zurückgestellt werden, weil andere Staatsangelegenheiten vordringlicher sind. Deswegen haben Wir zusammen mit Unserer Königin beschlos sen, die Sache nicht weiter publik zu machen, bis wir Uns eines anderen besinnen sollten, damit es unsere Untertanen nicht an der nötigen Achtung gegenüber unserer Tochter fehlen lassen und das Leben für das winzige Mädchen noch schwerer machen als es ohnehin schon ist. Diejenigen aber, die von Bronwyns Fluch wissen, sollen in ihrer Gegenwart die Klappe halten, damit die Prinzessin so normal als irgend möglich aufwächst und nicht für etwas bestraft und verfolgt wird, an dem sie keine Schuld trägt. Wir wissen, dass wir in dieser Sache auf Ihre Treue zählen kön nen. Der König: Brüllo.« Aus den argonischen Archiven für den Argonischen Herold über setzt von Cyril Hühnerstange Gute und schlechte Nachrichten: Königin Bernsteinwein
schwanger nach einer Pause von mehr
als zehn Jahren und: Ablemarle entsendet Invasionsflotte
Königinstadt: Unter der Regierung König Brüllos, des Roten, im Jahr des Großen Krieges … Dieses Jahr hat ein Sprecher des Königshauses verkündet, dass unsere liebe Königin dank der Gnade der Großen Mutter wieder ein Kind unter dem Herzen trägt, das unserem Reich zur größeren Ehre gereichen wird. Seit der Geburt Prinzessin Bronwyns vor mehr als zehn Jahren war die Königin zwar auf eine sehr elegante, aber doch auch sehr un fruchtbare Weise schlank gewesen. Wegen der zarten körperli chen Verfassung Ihrer Majestät haben ihr ihre Heiler empfohlen, während der Schwangerschaft im Bett liegen zu bleiben. Der 11
König soll angeblich gesagt haben, dass es ihm gleich ist, ob das Baby ein Junge oder ein Mädchen wird, solange Mutter und Kind gesund sind. Auf der Schattenseite der Nation wurde von amtlicher Seite bestä tigt, dass der König vor seinem Rat habe verlauten lassen, dass wir uns nun offiziell im Krieg mit Ablemarle befinden. Ein ver lässlicher königlicher Spion hat die ablemarlonische Flotte mit König Würdigmann dem Unwürdigen an Bord des Flaggschiffs entdeckt, die sich auf dem Weg hierher befindet. Einem unoffizi ellen Bericht zufolge sollen die Ablemarlonier vorhaben, eine geheime Waffe einzusetzen, die Tod und Verderben über uns bringen wird, möge uns die Große Mutter davor bewahren! König Brüllo hat sich unterdessen mit den vereinigten Streitkräften, der Armee, der Marine und der aus drei Drachen bestehenden Luft waffe auf den Weg gemacht, um die Pläne der niederträchtigen Aggressoren zu vereiteln. Die Gräfin von Wurmhorst (geborene Greta Grau), die Halb schwester der Königin, wurde von Seiner Majestät dazu ernannt, die Regentschaft während seiner Abwesenheit und der Unpäss lichkeit der Königin zu übernehmen. Die gnädige Frau, ihrer natürlichen Anlage nach eine Herdhexe, ist auch eine National heldin (laut dem Bericht über Gräfin Grau und dem Graf Colin in der uralten Ausgabe des argonischen Herolds aus dem Jahr, in dem König Brüllo gekrönt wurde, in dem erzählt wird, wie die beiden Ihre Majestät, Königin Bernsteinwein aus den Fängen des Bösen erretteten). Gräfin Greta wurde von Seiner Majestät, dem König, vor einigen Jahren zur Ehrenprinzessin erwählt, einen Titel, den sie aber aus Bescheidenheit nicht führt. Ihr Gemahl, Colin Liedschmied, Graf von Wurmhorst und Präsident der Ver einigung der ehemaligen Studenten der Gesangsschule, reist der zeit im Land herum, um die Bevölkerung mit Liedern und Worten zu der Verteidigung des Königs und des Vaterlandes aufzurufen. Möge die Große Mutter seine Schritte beflügeln und ihm Erfolg gewähren! 12
I
Die Wangen Bronwyns der Mutigen glühten immer noch vom Gefecht, als der Haushofmeister sie in dem kleinen Hof unter der östlichen Mauer des königlichen Palastes fand. Bäume, Mauern, Turnierattrappen und das geschätzte Petunienbeet der Königin waren je nachdem zerhackt, zerquetscht oder auf irgendeine ande re Weise verstümmelt. Die Prinzessin kniete neben der Mauer, ihr kurzes Schwert steckte in der Scheide, um abzukühlen und ihr roter, geschnitzter Schild lag in der Nähe. Sie war offensichtlich zufrieden mit der Niederlage, die sie ihren Feinden beigebracht hatte, und beugte sich über die ausgestreckten Leiber der Puppen. Jede einzelne war mit einem Taschentuch bedeckt, in das das Monogramm der Prinzessin eingestickt war. »Gnädiges Fräulein«, begann der Haushofmeister …
»Was gibt’s, Onkel Binky?«, fragte sie, indem sie dabei mit zarter
Stimme das Brüllen ihres Vaters nachzumachen versuchte.
»Siehst du denn nicht, dass ich’s hier mit einigen tödlich Verwun deten zu tun habe? Wir brauchen sofort Sanitäter und Medikamen te!«
»Ja, gnädiges Fräulein«, antwortete der Haushofmeister in ei nem sachlichen Ton, und mit einer Miene, die vom langen und mühevollen Üben völlig unbeweglich geworden war, fügte er hinzu: »Ich werde mich persönlich darum kümmern, gnädiges Fräulein …« »General tut’s auch«, sagte Bronwyn wohlwollend, weil sie sehr froh darüber war, jemanden gefunden zu haben, mit dem sie plau dern konnte. Sie sprang auf und nahm den Haushofmeister bei der Hand, eine ganz normale Geste für ein Kind, nur dass ganz ge wöhnliche kleine Mädchen königliche Gefolgsleute in der Regel nicht überragten. »Was gibt’s Neues hinter unseren Linien?« »Ihre Frau Mutter möchte etwas mit Ihnen besprechen, gnädiges Fräulein«, erwiderte der Haushofmeister. 13
»Sie hat doch nicht etwa …?«, fragte Bronwyn und zog dabei aufgeregt an seiner Hand. »Nein, gnädiges Fräulein, sie hat noch nicht und wird auch nicht vor Ablauf eines Monats entbinden, wie Prinzessin Greta Ihro Königlicher Hoheit bereits gesagt hat«, sagte er und presste dar aufhin seine Lippen so fest zusammen, als ob er befürchtete, dass Bronwyn seine Zähne klauen wolle. Nicht nur vom Haushofmeister, sondern auch von all den ande ren Leuten, die ihr aufwarteten, war es Bronwyn gewohnt, dass sie eine seltsame Haltung annahmen, wenn sie sie nach etwas fragte oder mit ihnen sprechen wollte, wie gewöhnlich schwatzte sie munter drauflos, so als ob er jede ihrer Bemerkungen beantworten und ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit zuwenden würde. Sie vermutete, dass es mit ihrem hohen Rang zusammenhing, dass alle vor ihrer Person soviel Respekt hatten, dass sie in ihrer An wesenheit nicht mehr richtig sprechen konnten. Später kam sie aber dann doch zu dem Schluss, dass sein Schweigen ungewöhn licher gewesen war als sonst und mehr der stoischen Ruhe eines Wachtpostens geglichen hatte, der seinen Gefangenen zum Scha fott führt oder mindestens zum schlimmsten aller möglichen Exile. Gretchen, das heißt die Gräfin von Wurmhorst, ging im königli chen Krankenzimmer mit einer Besorgnis auf und ab, die auch nicht die schweren Schritte ihrer Nichte mildern halfen, die sich nun von der Eingangshalle her näherten. Wenigstens würde dieses Gespräch kurz werden, aber es würde nicht einfach sein. Sie blickte zur Königin hinüber – die natürlich schlief, was sie aber auch tun sollte, um sich wenigstens das bisschen Kraft, das ihr noch geblieben war, zu erhalten. Abgesehen von der Wölbung ihres Bauches, dessen Konturen von einer weißen Satindecke verwischt wurden, machte die Königin auf Gretchen einen sehr viel zerbrechlicheren Eindruck als zuvor; die Knochen standen wie bei einem gerupften Huhn ab, und ihre Haut war so durch sichtig geworden, dass auf eine gespenstische Weise das blaue 14
Geäder durchschien. Gretchen liebte ihre ältere Halbschwester und wünschte, dass sie etwas mehr für sie hätte tun können, als ihr Gesellschaft zu leisten, wenn sie erwachte oder sich darum zu kümmern, dass ihr Nachttopf immer geleert und ihr Bettzeug makellos sauber war. Obwohl Gretchen offiziell Regentin war, wusste sie doch nur soviel vom Regieren, dass man es am besten den paar fähigen Ministern überließ, die der König dazu ausersehen hatte, dass sie sich um die Kriegsvorbereitungen an der Heimatfront kümmerten. O ja, sie hatte natürlich von ihrer Herdhexenzauberkraft Gebrauch gemacht, die ihr erlaubte, alle Arbeiten, die mit dem Haus zu sammenhingen, auf magischem Wege zu erledigen, so konnte sie zum Beispiel helfen, das Schloss mitsamt der umgebenden Stadt für den Belagerungsfall vorzubereiten. Aber sie hoffte natürlich, dass die Vorbereitungen, die sie gemacht hatte und die hauptsäch lich darin bestanden, die vorhandenen Lebensmittelvorräte zu erweitern und über den Winterbedarf hinaus zu lagern, gar nicht notwendig waren. Mit ein bisschen Glück würde König Brüllos Armee Würdig mann den Unwürdigen und die ablemarlonischen Streitkräfte zurückschlagen und sie von der Verwerflichkeit ihres Vorhabens überzeugen. Natürlich würde das nicht leicht werden. Würdig mann war ein skrupelloser Schurke und Verschwender, der in einem seiner lichten Momente beschlossen hatte, einen großen Teil des Kronschatzes für ein stehendes Heer von Berufssoldaten auszugeben. Ohne auch nur zu versuchen, ein Handelsabkommen zu erwirken, hatte er gleich danach König Brüllo unter dem Vor wand den Krieg erklärt, dass sein Land argonisches Bauholz für den Schiffsbau benötige, was sogar stimmen konnte, da nämlich die restlichen Waldgebiete Ablemarles unter seiner Anweisung abgeholzt und kultiviert worden waren. Der König, Gretchen und ein paar andere hegten jedoch den Verdacht, dass Würdigmann in Wirklichkeit hoffte, bei dem Feldzug seinen älteren Bruder und legitimen Thronfolger zu finden und zu eliminieren. Obwohl es der Bruder vorgezogen hatte, sein weiteres Leben in friedfertiger 15
Weise bei den argonischen Zigeunern zu verbringen, hatte er im Mittelpunkt von diversen ablemarlonischen Rebellionen gestan den. Welche Gründe der Krieg auch haben mochte, Gretchen wünschte, dass er schon vorüber wäre und dass sie mit Colin und ihrer eigenen Tochter Karola wieder heil zurück auf Wurmhorst wäre. Was sie wieder an ihr vordringliches Problem erinnerte – das sowohl Karola als auch Bronwyn betraf. Zu schade, dass ihr der König nicht einen weisen Minister hiergelassen hatte, dem sie die Lösung dieser lästigen häuslichen Krise auftragen könnte, aber unglücklicherweise musste sie mit der Königin allein weiterwur steln. Wenn sie nur diese Bronwyn nicht so furchtbar irritiert hätte! Mit ihren ständigen Tollheiten provozierte sie Gretchen so sehr, dass diese sich offensichtlich nur noch mit ihr unterhalten konnte, indem sie sie anschrie, obwohl sie wusste, dass das, was sie am meisten ärgerte, gar nicht die Schuld des armen Mädchens war. Bronwyn konnte von Glück sagen, dass Gretchen nur eine Herd hexe und keine Verwandlungskünstlerin wie Großmutter Grau oder eine wirklich bösartige Hexe wie Gretchens kinderfressende Ur-Ur-Urgroßmutter Elspat war, dann hätte Ihre Königliche Ho heit, Prinzessin Bronwyn, zuweilen mit sehr viel schwereren Strafen rechnen müssen, als nur angeschnauzt zu werden … »Die Prinzessin Bronwyn«, kündigte der Haushofmeister an der Eingangstür an. »Meinst du eigentlich, dass wir das nicht mit unseren eigenen Augen sehen können?« fuhr ihn Gretchen an – das verflixte Mäd chen hatte sie schon wieder ganz aus dem Konzept gebracht. Der Haushofmeister zog sich schnell wieder zurück, und Bronwyn lächelte ihre Tante schüchtern an, was bei solch einem strammen Mädchen ziemlich lächerlich aussah. Dann rückte sie seitwärts, ohne Gretchen aus den Augen zu lassen, von der sie eine Ohrfeige zu erwarten schien, ans Bett ihrer Mutter. Im letzten Augenblick stolperte sie, so dass sie längelang über die schlafende Königin fiel. Bernsteinwein keuchte und setzte sich auf, wobei sie ihre 16
Tochter am Arm packte. Mit der einen Hand hielt Bronwyn ihre Mutter am Ellbogen fest und mit der anderen bürstete sie sie ab, als ob sie durch die Berührung schmutzig geworden wäre. »Lass sie los, Nichte, du wirst sie noch zerdrücken!«, riet Gret chen so ruhig wie möglich. Bronwyn sprang hastig auf. Die zerbrechliche Königin zwinkerte zweimal mit ihren großen, grünen Augen und streckte ihrer Tochter die Hand hin, die sie zaghaft ergriff. »Schön, dich zu sehen, Liebes«, sagte die Königin, »wie geht’s dir denn so?« »Prima, Mama, um nicht zu sagen, phantastisch!«, erwiderte Bronwyn. »Ich habe gerade die ganze ablemarlonische Armee niedergemetzelt und ihre Anführer in deinem Namen aufknüpfen lassen!« Gretchen stöhnte und Bernsteinwein wurde – soweit möglich – noch blasser. »Äh – wie lieb von dir, mein Täubchen«, sagte sie schließlich, »bist du aber ein aufmerksames Kind, stimmt’s, Gret chen?« Gretchen schüttelte den Kopf und brachte ein klägliches Lächeln zustande. Von ihrer Mutter hatte Bronwyn nur die Augen und das Kinn, ansonsten glich sie ganz und gar ihrem Vater. Sie machte ihren Vorfahren väterlicherseits alle Ehre: Eberesch dem Wilden, dem Wüterich oder Eberesch dem Rücksichtslosen, für König Brüllo hätte sie einen ganz vortrefflichen Sohn abgegeben. Scha de, denn in den weiblichen Disziplinen war sie eine vollkommene Niete. Sie hatte schon so viele Gewänder ramponiert, dass ihre Hofdamen schließlich resignierten und ihr erlaubten, in der Klei dung herumzulaufen, die sie aller anderen vorzog und die nur aus einem einfachen Unterrock und der Rüstung bestand. Irgendwie klirrte sie auch jetzt, als sie am Bettrand saß. Sie hatte sich nicht mit ihrem ganzen Gewicht darauf niedergelassen, befürchtend, ihrer Mutter die Knochen zu brechen, wenn sie es sich bequem machte. Sie war nun mal ein sehr groß geratenes Mädchen – überragte sowohl Gretchen als auch Bernsteinwein um eine halbe 17
Körperlänge, und hatte dabei das ungute Gefühl, erst noch lernen zu müssen, ihren Körper zu beherrschen. Sie hatte begriffen, dass sie allem, was sie umgab, im Handumdrehen einen nicht wieder gutzumachenden Schaden zufügen konnte. Wenn man ihr doch nur erlauben würde, in etwas anderes als die eigenen Finger hin einzustechen, wie dies bei ihrem ernsthaften, aber letztlich schmerzhaften Versuch, Handarbeiten zu machen, der Fall war, dann wäre das Kind trotz seiner Schwierigkeiten vielleicht noch zu etwas gut gewesen. Bernsteinwein bemerkte Gretchen und sagte zu Bronwyn: »Dei ne Tante hat eine wunderschöne Überraschung für dich, Liebes, nicht wahr, Gretchen?« Gretchen bekam wieder Gewissensbisse, als sie einen Hoff nungsschimmer und freudige Erwartung in den Augen des Mäd chens aufblitzen sah, aber bevor Bronwyn übers ganze Gesicht zu lachen anfing, verlor Gretchen den Mut und ließ Bernsteinwein die Unterhaltung weiterführen. Ob die Königin nun krank war oder nicht, schließlich war sie Bronwyns Mutter. Sollte sie ihr also die Neuigkeiten beibringen. »Ich glaube, ihr wär’s lieber, wenn du’s ihr sagen würdest«, sagte Gretchen. »Mir sagen – was denn?«, fragte Bronwyn in einem Tonfall, der wie eine kindliche Parodie auf ihres Vaters dröhnende Stimme klang. Vor lauter Aufregung konnte Bronwyn kaum mehr still sitzen. Bernsteinwein warf Gretchen einen gekränkten Blick zu und sagte zu Bronwyn: »Nun, wir haben für dich eine hübsche Reise aufs Land arrangiert, Liebes. Damit du auch die Teile des König reiches siehst, die du bis jetzt noch nicht kennst und vor allem damit du deine Kusine Karola kennenlernst. Es muss ja furchtbar langweilig für dich sein, die liebe lange Zeit über im Schloss so eingesperrt und …« »Aber das ist es nicht, Mama, ehrlich«, protestierte Bronwyn, obwohl es wirklich der Fall war.
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»Und schließlich ist da ja auch noch deine Pflicht, kleines Fräu lein«, mischte sich Gretchen ein, bevor Bernsteinwein wieder die Kontrolle über das Kind verlor, »deiner Mutter, deinen Untertanen und Argonia gegenüber«, fügte sie hinzu. »Irgendwann einmal musst du von deinem Königreich außer dem Regierungssitz auch noch etwas anderes kennenlernen, und jetzt ist die günstigste Zeit dazu!« Bronwyn wollte gerade schon wieder dagegen protestieren, aber dieses Mal blieb Bernsteinwein hart. »Übrigens will auch ich es so haben«, warf Bernsteinwein ein, »Gretchen und ich waren so gute Freundinnen, als wir klein wa ren, deswegen musst du auch Karola kennenlernen und dich mit ihr anfreunden. Ich möchte ja nur, dass du Freunde gewinnst … und Liebes – schau mich nicht so an – du wirst dabei natürlich auch sehr viel Spaß haben! Gretchen, erzähl ihr doch von dem Schloss im Eis, dem Drachen, den Tieren dort und dem Plapper maulfluss!« Gretchen fing nun an, sehr schnell zu reden und stolperte über ihre eigenen Worte. Sie wollte die optischen Besonderheiten von Schloss Wurmhorst schildern, bevor die Prinzessin zu heulen anfing oder irgendeinen anderen Aufstand inszenieren konnte, über den sich Bernsteinwein vielleicht fürchterlich aufregen wür de. Von Bronwyn abgesehen, beunruhigte es die Königin schließ lich schon genug, dass sie ein Kind bekam und liegen musste, während ihr Mann einen Krieg führte, und dem Land ein feindli cher Überfall bevorstand. Auch war es ja nicht nur so, dass ihr das ungestüme Mädchen in einer so kritischen Zeit zu schaffen mach te, sondern wenn die neuesten Berichte stimmten, und der Feind den Golf der Kobolde erreicht hatte, musste es nur noch dem König durch irgendeinen unglücklichen Zufall misslingen, die feindliche Flotte aufzuhalten, so dass es auch nicht mehr lange dauern würde, bis die feindliche Flotte im Hafen von Königinstadt auftauchen würde. Schließlich war Bronwyn die Kronprinzessin und musste an einen sicheren Ort gebracht werden. Aber Bern steinwein war überzeugt, dass sich ihre Tochter weigern würde 19
wegzugehen, wenn sie wüsste, wie gefährlich die Situation eigent lich war, obwohl es die nationale Sicherheit gerade erforderte, dass Bronwyn Königinstadt verließ. Gretchen war der Ansicht, dass das Mädchen langsam erwachsen werden musste; aber Gret chen war natürlich nicht die Königin und auch sehr froh darum. Das mindeste, was sie tun konnte, war weiterzureden. Ach, sie hätte sich nun so sehr gewünscht, die Redegabe ihres Gatten zu besitzen und seine überzeugende Musikalität, um glaubwürdiger zu klingen. Bronwyn, die sich vom Bett ihrer Mutter erhoben hatte, um Hal tung zu bewahren, unterbrach sie mitten im Satz. Ihr Gesicht war in einem schmerzlichen Lächeln erstarrt, das aber nicht genügte, um das Zittern ihres sommersprossenübersäten Kinns unter Kon trolle zu bringen. »Ich danke dir für deine aufregende Geschichte, hochherrschaftliche Tante, aber wenn es mir meine königliche Mutter befiehlt, so werde ich die Verbannung, die mir auf deinem Schloss bevorsteht, ohne Zweifel auch genießen. Wenn ihr mich nun entschuldigen würdet, damit ich mich auf die Reise vorberei ten kann«, sagte Bronwyn und wandte sich zum Gehen. Gretchen und Bernsteinwein atmeten erleichtert auf, weil Bron wyn im Unterschied zu sonst so gefügig gewesen war. Sie muss ten in dem Augenblick mit ganz anderen Problemen beschäftigt gewesen sein, und es zeugte auch von Bernsteinweins angegriffe ner Gesundheit, dass ihnen erst sehr viel später auffiel, dass Bronwyns scheinbar so vernünftige Haltung eigentlich verdächti ger war als jede Show, die sie abgezogen hätte. Denn der Ärger mit Bronwyn lag ja darin, dass sie, ohne selbst etwas dafür zu können, einfach nicht die Wahrheit sagen konnte. Spätestens als die Prinzessin mit rasselndem Harnisch aus der Kutsche ausstieg, dämmerte es bei der Ehrenwerten Karola, dass es vielleicht doch nicht so aufregend wäre, hier eine Königliche Hoheit um sich zu haben, als ihr anfänglich weisgemacht worden war, auch wenn es sich dabei um ihre Kusine handelte. Seitdem der Bote durch einen Vogel die Nachricht von der Ankunft der 20
Königlichen Hoheit vor einem Monat hatte überbringen lassen, hatten sich Karolas Gedanken fast ausschließlich um den Besuch gedreht. Die Bewohner rings um Wurmhorst waren alle Umsiedler und Flüchtlinge, die aus einem heruntergekommenen Dorf hierher gekommen waren. Sie waren alle älter als Karolas Eltern und hatten keine Kinder. Karolas Vater konnte ihr wunderschöne Lieder von Kindern vorsingen, die miteinander spielten, und die Dorfschneiderin hielt Karola dazu an, Nähen zu lernen, während sie selbst die Kleider enger machte, aus denen ihre älteren Verwandten im Dorf heraus gewachsen waren. Prinzessin Bronwyn war nur zwei Jahre älter als Karola, und es war zu erwarten, dass sie ihrer Kusine auf dem Land ein paar schöne Kleider vermachen würde. Auch ging das Gerücht um, dass die Ebereschs kein magisches Talent hatten, daher wäre es sicherlich sehr lustig für sie, wenn sie Bronwyn ihre neuesten Zaubertricks vorführen konnte. Wenigstens hatte Karola sich das so ausgedacht. Aber das schwertgegürtete, kraushaarige, rotäugige Wesen, das nun vor ihr aufragte, machte nicht den Eindruck, als ob es zu einer Zaubervorführung aufgelegt wäre. Überhaupt sah das Mädchen kein bisschen freundlich aus. Mit den Worten ›ich bin Bronwyn die Kühne‹ kündigte sich die Prinzessin den fünf oder sechs Bauern an, die in ihrer Arbeit innegehalten hatten, um die Kutsche ankommen zu sehen. Drei davon, die offensichtlich bei Bronwyns Vorstellung genug gese hen hatten, schlenderten wieder davon und arbeiteten weiter. Als ob sie befürchtete, nicht genug Eindruck gemacht zu haben, zog die Prinzessin ihr Schwert, das für ihre Maßstäbe kurz war, aber Karola wie ein richtiger langer Säbel vorkam. Bronwyn war grö ßer als alle Männer im Dorf, dies galt auch für Bernard den Wachtposten, den militärischen Sonderbeauftragten von Wurm horst. Mit einer Selbstverständlichkeit, die offensichtlich auf Wirkung abzielte, zerteilte Bronwyn mit zwei scharfen Hieben die Luft und sagte: »Ich bin im Auftrag meines Vaters hier, denn ich 21
soll die entlegensten Provinzen unseres Reiches inspizieren. Ihr könnt nun auf die Knie sinken!« Karola wusste nicht, was das sollte, jedenfalls mochte sie Bron wyns Ton nicht. Aber vielleicht war ihre Kusine auch nur deswe gen so unfreundlich, weil sie von der langen Reise in der Kutsche müde war. Mit einer Geduld, die für eine Grau-Hexe erstaunlich war, besann sich Karola auf ihre guten Manieren und fragte Bron wyn: »Möchtest du nicht vielleicht zuerst lieber das Essen inspizieren, das eigentlich fertig sein müsste?« Bronwyn steckte ihr Schwert mit viel Geklapper wieder in die Scheide zurück, hielt dann plötzlich inne und sah Karola misstrau isch an und sagte: »Dein Aussehen berührt mich auf seltsame Weise, irgendwie kommst du mir bekannt vor, Mädel, aber dann hast du auch wieder etwas Fremdes an dir. Bist du vielleicht eine Spionin, die mir von meines Vaters Feinden gesendet wurde, um mich zu verderben? Wenn dies der Fall ist …« »Ach, lass doch den Quatsch!«, rief Karola erbost, »ich komme dir bekannt vor, weil ich meiner Mutter gleiche. Wenigstens so in etwa, obwohl Großmutter behauptet, dass ich meines Vaters Nase habe. Natürlich kennst du meine Mutter, weil sie seit geraumer Zeit bei euch im Schloss wohnt und nach deiner Mutter schaut. Aber wenn jemand seiner eigenen Mutter nicht ähnlich sieht, dann bist’s zweifellos du! Du hast ja überhaupt nichts mit dem Porträt von Tante Bernsteinwein im Gästezimmer gemein. Übrigens wirst du dort schlafen, es ist das hübscheste Zimmer im ganzen Haus. Vom hinteren Fenster aus kann man die Ruinen des Eisschlosses sehen.« Da der Kutscher dachte, dass die Mädchen gehen wollten, ließ er Bronwyns Koffer, an dem ein kleiner Schild festgebunden war, auf den Boden fallen. Kurz darauf sprang er selbst vom Kutsch bock herunter und reichte Karola eine versiegelte Schriftrolle. Dann ging er hinter der neugierigsten Frau im Dorf her, die sich nun ebenfalls auf den Weg zum Abendessen machte. Karola entfernte das Siegelwachs und folgte den beiden nach, schnellte aber wie von der Tarantel gestochen wieder zurück, als 22
sie Bronwyn mit der in einem Metallhandschuh steckenden Hand an der Schulter packte. »Halt, Mädchen!«, befahl die Prinzessin, »keiner soll sich unter stehen, ungestraft die Ähnlichkeit mit der Königin in Frage zu stellen. Nimm’s zurück und sage, dass ich ganz genauso wie Mama aussehe!« »Das kann ich nicht«, argumentierte Karola vernünftig, »das würde bedeuten, dass ich die Unwahrheit sagen müsste und Lügen ist ja ganz verkehrt!« »Nimm’s zurück«, wiederholte Bronwyn, indem sie jedes Wort einzeln hervorstieß und die Finger immer tiefer in Karolas Schul ter grub. »He, lass das!« Bronwyn sah so aus, als ob sie gleich losheulen würde, aber ihre Stimme war unerbittlich und zornig: »Ich sagte, nimm es zurück und knie dabei nieder!« »Oder was?«, fragte Karola, denn sie hatte nun genug. Kusine hin oder her, die Prinzessin war kein besonders liebenswürdiges Geschöpf. »Oder ich werde … ich werde dich verdreschen, merk dir’s«, sagte Bronwyn, und es stand außer Zweifel, dass sie es konnte, obwohl sie bis jetzt außer Puppen noch nichts verdroschen hatte. Karola war nur halb so groß wie sie und spindeldürr. »Hmmm …«, sagte das Landmädchen, »jetzt gleich?« Seltsa merweise schien sie überhaupt keine Angst zu haben, sah viel mehr ganz zufrieden aus. Ja, sie summte vor sich hin! Vielleicht war dies das Kampflied ihrer Familie? Wenigstens klang es ein bisschen martialisch. Ja, eindeutig ein Marsch! Dabei auch noch ein wirklich guter Rhythmus! Es war ganz unmöglich, die Füße dabei stillzuhalten. Zu einer solch frischen Melodie musste man einfach den Takt schlagen. Bronwyn ließ die Schulter ihrer Kusi ne los. Verwundert sah sie auf ihre Stiefel herab, die von alleine im Takt stampften. Welch ein Marsch! Wenn nur ihr Vater solch ein Kampflied hätte, dann wären seine Truppen unschlagbar. Vor 23
dem Herrschaftssitz machte Bronwyn kehrt und ging in die entge gengesetzte Richtung, weg vom Haus und ihrer grinsenden Kusi ne. Sie hatte die Melodie noch in den Ohren, lange nachdem Karola wieder in die Küche zurückgeschlendert war. Bronwyn ging die einzige Straße entlang, die das Dorf durch zog, vorbei an der blauweiß gesprenkelten Vorderseite des Glet schers und den halbgeschmolzenen Türmen des Schlosses, die aus dem Eis herausgehauen worden waren, sie ging durch die kargen Wälder direkt zum Fluss hinab – dem Fluss, der sprechen konnte, überlegte sie. Was ihr Tante Gretchen darüber erzählt hatte, waren wenigstens keine Ammenmärchen gewesen. Bronwyn konnte nun ganz deutlich hören, dass der Fluss alle möglichen Wörter mur melte, Wörter, die sie immer deutlicher unterscheiden konnte, je mehr sie sich den wirbelnden Wassermassen näherte. Sie hörte die Worte ganz deutlich, als der Militärmarsch plötzlich ihrem Be wusstsein entschwand und sie den festen Boden verließ, um in die murmelnden Fluten zu plumpsen, die laut aufbegehrten. Als Bronwyn spürte, wie die Wasser über ihrem Kopf zusammen schlugen, erinnerte sie sich – viel zu spät – wieder daran, dass ihre Kusine Karola von einer Hexenfamilie abstammte, was offen sichtlich nicht erfunden war. Und so will ich denn hoffen, hieß es im Brief der Gräfin Greta von Wurmhorst an ihre Tochter, dass Du alles tun wirst, damit sich Bronwyn bei uns wie zu Hause fühlt und nachsichtig bist bezüg lich ihres kleinen Problems, das die Leute hier ganz einfach ihre ›schrullige Art‹ nennen, wie wir auch mit Dir, meine liebe Toch ter, zuweilen Nachsicht üben müssen. In Bronwyns Fall ist näm lich ein Fluch mit im Spiel, sie kann wirklich nicht anders, Du musst also ihr gegenüber gerecht sein und ihr Verhalten einfach ignorieren. Nur die Große Mutter kann wissen, wie sehr das Kind Freunde braucht. Später mehr darüber. Der Kutscher lädt gerade Bronwyns Koffer ein und Bernsteinwein läutet nach mir. Sei brav und grüße Deinen Vater recht lieb von mir, wenn Du ihn vor mir siehst. Alles Liebe, Deine Mama. 24
Karola rollte den Brief wieder zusammen. Ihr selbstgefälliges Lächeln war verschwunden. Fluch? Warum hatte man ihr denn das nicht schon früher gesagt? Auf die Erwachsenen war doch wirklich kein Verlass mehr, die ließen immer das Wichtigste aus! Wahrscheinlich blieb ihr jetzt nichts anderes übrig, als nach der flegelhaften Person zu suchen und sich bei ihr dafür zu entschul digen, dass sie sie durch Wald und Feld gejagt hatte, obgleich ihr das Laufen sicher gut getan hatte, nachdem sie in der Kutsche so lange sitzen musste. Von Bronwyn konnte man allerdings nicht erwarten, dass sie die Dinge so sah. Karola steckte ein paar Kekse in die Tasche – als Friedensgeschenk –, bevor sie ihren Mantel nahm und wieder hinausstapfte. Am Abend war es draußen immer ein bisschen frisch, vielleicht sollte sie auch Bronwyns Mantel mitnehmen, obwohl – sie hatte ja gar keinen gesehen, als sie in die Kutsche geguckt hatte, nur der Koffer mit dem kleinen roten Schild hatte auf dem Boden gestanden. Den Schild konnte sie vielleicht noch brauchen, wenn Bronwyn ihre Entschuldigung nicht gleich annehmen würde. Karola schlug dann den Weg ein, den die Prinzessin genommen hatte. Sie ging nicht übermäßig schnell, aber als sie in der Nähe des Flusses war, fing sie an zu laufen. Wenn sich die Dorfbewoh ner nicht gerade im Herrenhaus zum Abendessen versammelt hätten, hätte sicherlich schon jemand die anderen alarmiert. »Hilfe«, kreischte der Fluss, der vor lauter Entrüstung überkoch te. »Hilfe! Verschmutzung! Vergiftung!« Karola rannte an den Häusern vorbei und wäre am Ufer beinahe ins Wasser gefallen, weil sie nicht mehr anhalten konnte. Sie hätte nicht gedacht, dass die dumme Kuh in den Plappermaulfluss fallen würde, schon gar nicht mit der ganzen Rüstung … »Du – paff – hast sie – paff – doch nicht etwa ertränkt – paff – oder?«, fragte sie, zog ihre Stiefel aus und rollte ihren Mantel zusammen, den sie dann zwischen den Schild und die Halteriemen steckte, um das Kleidungsstück trockenzuhalten. Es schoss ihr durch den Kopf, dass, wenn Bronwyn schon nicht tot wäre, doch wenigstens abgetrocknet werden müsste. 25
»Wie soll ich denn wissen, was das dumme Ding getan hat?«, fragte der verzauberte Fluss entrüstet. »Frag doch mal weiter Flussabwärts, ich will ja wirklich nicht das Schlimmste hoffen … ein aufgedunsener, verwesender Leichnam, würde mir ja gerade noch fehlen, dass ich den mit ins Meer nehme!« »Du würdest sie besser nicht ins Meer hinaustragen«, sagte Ka rola, die vorsichtig ins seichte Wasser stieg und am Ufer entlang watete. »Und untersteh dich, mich auch noch hinunterzuziehen!« »Das würde mir nicht mal im Traum einfallen«, sagte der Fluss schnippisch. Obwohl der elende Schwätzer schlechter Laune war, klang das, was er sagte, zur Abwechslung einmal plausibel. Of fenbar war gestern Nacht ein Einhorn hier gewesen und hatte den Fluss gereinigt. Als Karola am Abend zuvor dort das Wasser für das Abendessen geholt hatte, hatte der Fluss nämlich immer noch geschwätzigen Unsinn von sich gegeben, aus dem sich sein übli ches Repertoire zusammensetzte. Der Fluss war nicht nur verzau bert, sondern wurde auch vom Geist der bescheuerten Hexe heim gesucht, die sich ins Wasser stürzte, nachdem sie dem sinnlos daherredenden und von ihr mit einem Plapperfluch verhexten Fluss gelauscht hatte, damit sie für immer zusammen wären. Erst mit den Einhörnern, die nach Drachenhafen kamen, wurde der Fluss wieder vernünftig und begann Fragen zu beantworten, die man ihm stellte, manchmal waren die Antworten ganz gescheit – ein anderes Mal aber auch wieder nicht. Da Karola ihr ganzes Leben in der Nähe des Plappermaulflusses verbracht hatte, kam es ihr auch überhaupt nicht merkwürdig vor, dass sie das Wasser aus einem sprechenden Fluss schöpfte, und gerade jetzt konnte sie sich davon überzeugen, dass er weniger mitteilsamen Flüssen gegenüber seine Vorteile hatte. Der Fluss begleitete ihre Schritte mit seinem Gurgeln und führte sie weiter abwärts, als Karola sich je vorgewagt hatte. Das hieß aber nicht, dass sie nicht abenteuerlustig gewesen wäre, denn an der steil abfallenden Bergseite, über der sich der Gletscher befand, wuchs entlang den Flussufern soviel Gestrüpp, dass man sich in einem Gewirr von Hecken und Nesseln verstrickte, bevor man 26
zum Wasser kam. Obwohl ihr Vater sie im Sommer manchmal zum Schwimmen mitgenommen hatte, wenn er zufällig einmal nicht für den König geschäftlich unterwegs war oder an einem Seminar an der Singschule teilnahm (von dem Mutter behauptete, dass es ein fürchterlicher Quatsch war und für ihn nur einen Vor wand darstellte, um sich singenderweise mit anderen Musikern die Zeit zu vertreiben und alberne Lieder auszudenken. Karola fand das ziemlich unfair, denn das war ja schließlich, was alle Musi kanten taten). Übrigens mochte es Mutter gar nicht, wenn sie im Wasser herumplanschte, und wenn Mutter etwas nicht passte, dann hatte sie Mittel und Wege, um Karola daran zu hindern. Das Wasser weiter Flussabwärts war sehr viel begieriger darauf, Karola zu helfen, als man das vom Flussabschnitt behaupten konnte, der näher am Ort dran war. Wahrscheinlich rührte es daher, dass die entlegeneren Winkel des Flusses so selten Men schen ausgesetzt waren, dass sie es jetzt genossen, gleich zwei an einem Nachmittag bei sich zu haben, dachte Karola, aber sie überlegte nicht lange, weil sie zu sehr damit beschäftigt war, ihr Gleichgewicht zu halten und nach Bronwyn zu suchen. Das war gar nicht so leicht, weil das Wasser in den Schatten unter dem Gestrüpp pechschwarz war, während dort, wo der Fluss um die Felsklippen einen Bogen machte und sich in der Mitte des Fluss bettes dahinwälzte, die kleinen Wellen so hell glitzerten, dass sie Karola blendeten. Als ob dies nicht schon genug Konzentration erfordert hätte, musste sie auch noch auf die gegurgelten Anwei sungen des Flusses achten. »Nun, hier lang! Mach schnell! Pass auf das Loch auf! Bist du aber tolpatschig! Versuch in Zukunft vorsichtiger zu sein! Also wirklich, mir reicht’s vollkommen, wenn mich einer von eurem Kaliber schmutzig macht. Mach jetzt die Augen weit auf, siehst du, deine Kusine hat den Felsen dort gerammt und einen ganz entsetzlichen Lärm dabei gemacht – der Felsen wird nie wieder wie vorher sein. Wie du sehen kannst, ist ein großes Stück dabei abgehauen worden. Aha, hier wären wir also. Um die nächste Biegung herum und …« 27
»Und was?«, fragte Karola, als sie, wie angewiesen, um die Flussbiegung herumgegangen war und wieder die Felswand vor sich hatte. Vom Fluss war dort nichts mehr zu sehen, und auch von ihrer Kusine hatte Karola noch immer kein Lebenszeichen. »He, das ist nicht fair, wo bist du denn plötzlich?« »Hier unten«, gurgelte die Stimme, die offensichtlich aus dem Inneren des Gletschers herauf drang. »Pfui Teufel!«, rief Karola, schüttelte nachdrücklich den Kopf und trat zurück. »Du hast sie also doch ertränkt und nun willst du auch mich noch holen!« »Jetzt sei bloß nicht albern«, erwiderte der Fluss. »Ich glaube, ich habe meine Gefühle in dieser Beziehung ziemlich deutlich ausgedrückt. Na, wird’s bald?« »Ich kann doch nicht so einfach in den Gletscher hineingehen«, sagte Karola, und ohne dass sie es wollte, bekam ihre Stimme einen weinerlichen Klang, als sie das Treibholz sah, das die uner messlich weite, weiße Gletscherbasis verstopfte, die sich auf beiden Seiten des Flusses bis tief in die Wälder hinein erstreckte. »Nein, aber du kannst ja schwimmen«, erwiderte der Fluss. »Du bist also offenbar wirklich darauf aus, mich zu ertränken!« »Sei nicht so kindisch! Hätte ich dich dann vielleicht vor den Löchern und Strudeln gewarnt? Ich habe hier ziemlich wenig Wasser bis auf eine Stelle ganz unten, aber daran schwemme ich dich vorbei. Lass nur den Kopf unten, damit du ihn dir nicht an der überhängenden Eisdecke anschlägst, und halt dich an dem Ding in deiner Hand fest, damit du weiterschwimmst, wenn du umkippst.« »Du hörst dich ja gerade so an, als ob alles ganz einfach wäre«, sagte Karola zweifelnd. »Ich verbringe schließlich auch meine ganze Zeit damit«, erwi derte der Fluss. »Nun aber runter mit dir. So ist’s recht. Beweg deinen Podex ein bisschen, du bist nämlich stecken geblieben. Jetzt aber … Hurra!«
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Für den Fluss war es ja schön und gut dies zu sagen, dachte Ka rola, die zuerst ein panischer Schrecken ergriff, als sie Flussab wärts glitt. Aber ihr Angstgefühl machte bald einer Hochstim mung Platz, als sie erkannte, dass sie weder fror noch sich unbe haglich fühlte, wie dies bei einem eisigen Gebirgsbach im Herbst nur natürlich wäre. Es war wirklich eine Wucht, im Wasser ein fach so dahinzugleiten. Karola schleuderte Bronwyns Schild nach vorn, so dass die Innenseite nach oben zeigte, dann krabbelte sie hinauf und glitt in die Dunkelheit. Der Gletschereingang war eine Rutsche aus Steinen und Eis, die seit Urzeiten vom Plappermaulfluss abgeschliffen worden waren. Karola glitt mit dem Kopf nach vorn durch die Öffnung und Schloss die Augen vor Angst, dass sie mit dem Kopf anstoßen könnte. Sie hoffte, der Schild würde sie beschützen. Sie brauchte aber keinen Schutz, denn vom Ende der Rutsche aus schoss sie direkt in einen tiefen See hinein und kam erst wie der zur Ruhe, als sie mit aller Wucht gegen einen durchweichten, klirrenden Gegenstand stieß. »Mission beendet«, seufzte der Fluss. »Bitte hol sie raus, bevor sie rostet!«
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II
Der Strudel um sie herum fing an zu kichern, und Karola konnte es ihm nicht verübeln. Hoch über ihnen spiegelten ein paar riesi ge, runde Löcher in der Decke der Eisgrotte eine wild um sich schlagende, fluchende Bronwyn wider, die alle möglichen Arten von Verrenkungen und Kreisbewegungen mit dem Teil ihres Körpers ausführte, der über dem Wasser geblieben war. Karola, die aufrecht zu stehen versuchte, begann sogleich in die dicke Schlammdecke einzusinken. Bronwyn, die bis zu den Füßen in ihrer Rüstung steckte, konnte sich nicht losstrampeln, aber auch Karola, die durch nichts behindert war, vermochte sich kaum über Wasser zu halten. Sie schwamm zu Bronwyn hinüber und rüttelte an ihrem Arm. »Lass mich los«, rief die Prinzessin mit einer klagenden und völlig verängstigten Stimme. »Ich komm schon allein zurecht, danke!« Jeder Idiot konnte sehen, dass dies nicht stimmte, und was die Hilfsaktion anbetraf, so kam Karola mit sich selbst auch nicht so gut zurecht. Der Tümpel bedeckte den ganzen Boden der Grotte und sein eisiger Rand war kaum mehr als ein glitschiger, schmaler Rand mit nichts, woran man sich festhalten konnte und keiner trockenen Stelle, zu der Karola ihre Kusine hätte bringen können, wenn es ihr tatsächlich gelungen war, sie aus dem Schlamm herauszuziehen. »Wie kommen wir hier raus?«, fragte Karola den Fluss. »Raus, raus? Du bist doch gerade erst reingekommen. Wie soll denn ich das wissen, wie ihr hier wieder rauskommt? Schließlich hast du mich doch nur gebeten, nach deiner Kusine zu suchen, als ob Kusinen wichtig wären! Pah! Ich hatte zum Beispiel einen Vetter – ein albern dahinkriechendes kleines Ding –, das zu allem Übel auch noch dachte, dass es das tiefe, blaue Meer wäre, aber wirklich kaum mehr war als eine Dreckpfütze – und bei so etwas dulde ich keinen Widerspruch, kann ich dir sagen. Ich sage also zu dieser Pfütze, jawohl, sage ich …« 30
»O nein«, jammerte Karola – unter anderen Umständen hätte sie mit dem Fuß aufgestampft. Bronwyn berührte die Hoffnungslosigkeit in ihrem Ton wenig stens so sehr, dass sie ihr eigenes Missgeschick vorübergehend vergaß. »Der Einhornzauber verliert seine Wirkung«, erklärte Karola, »nun kommen wir hier nie mehr heraus. Ich wusste doch, dass dieser vermaledeite Fluss versuchen würde, uns beide zu erträn ken!« Sie musste nun wirklich schreien, um den Fluss zu übertö nen, denn wenn er in seiner unvernünftigen Phase war, schwatzte er unablässig vor sich hin, und sein Geplapper war viel lauter als in seiner vernünftigen Phase, und es war ihm egal, ob er andere unterbrach oder vor sich hinschwatzte, wenn sich andere unter hielten. »Und was nun?«, fragte Bronwyn, die nur mit größter Anstren gung schreien konnte, weil sie durch ihren Kampf immer tiefer sank, so dass sie jetzt bis zum Kinn im Wasser steckte und ihre Stimme genauso verzerrt war wie die des Flusses. Karola paddelte um sie herum und schrie schließlich zurück – sie würde mit den Schultern gezuckt haben, wenn es ihr gelungen wäre, sich dabei über Wasser zu halten … »Ich weiß nicht«, sagte sie verzagt, »wahrscheinlich müssen wir so lange warten, bis wieder ein Einhorn kommt und den Fluss segnet, so dass er uns sagen kann, wie wir hier rauskommen oder die Erwachsenen hierherführt. Glaubst du, dass du so lange aushalten kannst?« Als Karola dies sagte, war ihr Tonfall mehr wehmütig als hoffnungs voll. »Klar – blubb – kann ich das«, antwortete Bronwyn, die jetzt so tief gesunken war, dass sie gerade noch die Unterlippe mit äußer ster Anstrengung über Wasser halten konnte. »Bring dich in Si cherheit – schluck – Mädel. Sorg dich nicht – schluck – um mich. Ich komme – schluck – schon alleine zurecht!« Karola, der Bronwyns Fluch wieder einfiel, kam zu dem Schluss, dass der offensichtlich sehr tapfere Verzicht aus dem 31
Mund einer Prinzessin in Wirklichkeit ein Hilferuf und eine Be schwörung war, sie nicht zu verlassen. Als ob Karola gekonnt hätte, wenn sie gewollt hätte! Das Licht, das von den Löchern an der Decke kam, wurde immer schwächer, und Karolas Blicke suchten verzweifelt nach einem Weg aus der Höhle oder einen Felsvorsprung, an den sie sich klammern oder auf den sie hätte klettern können. Schließlich musste der Fluss, wenn er in die Grotte hereinfloss, auch irgendwo wieder austreten. Kaum war sie von Bronwyn weg und um das mit einer rutschi gen Masse gesäumte Halbrund herumgeschwommen, als sie den Ausgang entdeckte und das seltsame Gebilde, das ihn verstopfte. Sie konnte es mehr fühlen als sehen, denn es lag im Schatten. Es fasste sich wie ein Boot an, aber auch wie ein Badezuber mit gewölbten Seitenwänden. Das Ganze war ein bisschen verbogen und roch nach Moder, aber als Karola den Boden mit der Hand abtastete, fühlte sich dessen hölzerne Oberfläche sehr fest und auch nicht nasser an als ihre Hand. »Aha!«, rief sie triumphierend und wandte sich dann an Bron wyn: »Ich glaube, ich habe das Richtige für uns gefunden! Bleib, wo du bist und ich will versuchen, es zu dir rüberzubringen!« »Stell dir nur vor, ich wollte – schluck – gerade Spazierenge hen«, erwiderte Bronwyn. Als Karola den Schild in das baufällige Gefährt geworfen hatte, hakte sie sich mit dem einen Arm am Rand fest und versuchte, das seltsame Boot durch Stöße mit den Beinen in Bewegung zu ver setzen. Unglücklicherweise war der Rand ziemlich hoch, so dass sie sich nicht gleichzeitig festhalten und richtig schwimmen konn te. Also legte sie sich auf den Rücken, packte den Rand mit den Fingerspitzen und begann zu ziehen. Das Boot – oder was es auch sein mochte – glitt mit ihr durchs Wasser. Sie hatte ungefähr die Hälfte des Weges zurückgelegt, als das Gefährt plötzlich in die entgegengesetzte Richtung gezogen wurde. Karola zog fester, aber das Boot rührte sich nicht mehr vom Fleck. Da sie dachte, dass es sich vielleicht verklemmt habe, zog sie sich am Rand hoch. Sie wurde aber vom flügelschlagen 32
den schwarzen Grauen gepackt, bevor sie wieder ins Wasser zurückkonnte. Die Kreatur zischte ganz abscheulich, es klang wie Wasser, das ins prasselnde Feuer geschüttet wird oder wie ein Teekessel, der am Überkochen ist. Sie schlug das Mädchen mit etwas Weichem, aber doch mit großer Wucht, so dass Karola das Gefühl hatte, zugleich gezüchtigt und mit nassen Tüchern erstickt zu werden. Mit einem stumpfen Gegenstand, der sich wie ein hölzerner Löf felstiel anfühlte, stieß ihr das Wesen in die Schulter, in die Hüften, die Wangen, den Rücken und hätte ihr beinahe ein Auge ausge schlagen. Karola fing an zu schreien, und auch Bronwyn stimmte in das Geschrei mit ein. Der Fluss brabbelte unablässig vor sich hin, als ob er nun vollends verrückt geworden wäre; das Ungeheuer stieß erbarmungslos zu, teilte Hiebe aus und zischte. Karola tauchte ins Wasser, um ihm zu entgehen und schwamm zu Bronwyn hinüber, musste aber entdecken, dass ihr das Monster dicht folgte und auch im Wasser, wo das Zischen aufhörte, nach ihr stieß. Dann stürzte es sich plötzlich auf sie, sein Gewicht zog sie hinunter und hüllte sie in seine Tücher ein – und plötzlich nicht mehr. Karola kämpfte sich zur Wasseroberfläche empor und sah Bronwyn, die zwar bis zum Mund im Wasser war, aber mit drohendem Blick ihr Schwert erhoben hatte. Ab und zu hieb sie damit wütend auf den riesigen schwarzen Schwan ein. »Räuber!«, zischte der Vogel, »Diebe! Wie könnt ihr es wa gen!« Karola hatte zwar noch nie zuvor einen Vogel sprechen gehört, aber wenn man sich sein ganzes Leben lang mit seinem Wasservorrat herumgestritten hatte, waren sprechende Tiere nicht gerade etwas, was einen beunruhigte. Mit feindlich gesinnten Schwänen verhielt es sich allerdings etwas anders. »Was heißt da wir?«, brauste Karola auf, »wie kannst du es denn wagen? Wisse, dass ich versuche, das Leben der Kronprin zessin von Argonia zu retten, und du hinderst mich an der Aus übung meiner Pflicht!« Sie fand nämlich, dass es so sehr imposant und offiziell klang. Bernard sagte immer etwas Derartiges, wenn 33
sie mit ihm spielen wollte und er lieber an der Wand weiterdöste, was er als die Erfüllung seiner Wachpflicht ausgab. »Zufällig bin ich die Tochter des Herrn, dem dieses Land gehört, und ich möch te dich darum bitten, uns nicht mehr länger zu belästigen!« »Und ich wäre dir dankbar, mein Fräulein, wenn du dich mit deinen dreckigen Pfoten nicht mehr an meinem Kampfwagen vergreifen würdest!« »Ich wusste ja nicht, dass er dir gehört, ich wollte ihn ja nur aus leihen, um Bronwyn zu helfen. Ich kann sie doch nicht einfach ertrinken lassen!« »Warum nicht?«, meinte der Schwan. »Wie dem auch sei, sie scheint es ja trotz deiner guten Wünsche zu tun!« Karola fuhr herum und sah, wie Bronwyns Kopf gerade vollends untertauchte, hilflos wandte sie sich dann wieder an den Schwan: »Es – ach du meine Güte – es ist nur wegen ihrer Rüstung. Aber frag mich nicht, warum eine Prinzessin eine Rüstung trägt, jedenfalls ist’s bei ihr so …« »Eine Prinzessin? Ach ja, ich glaube, das hast du schon er wähnt!« Das Zischen wurde leiser. »Nun gut«, fuhr das Tier fort, »das ist dann etwas anderes – auch ich bin eine Prinzessin aus königlichem Geblüt.« Die winzigen Augen der Schwänin blitzten plötzlich auf, als sie von den Lichtstrahlen der untergehenden Sonne gestreift wurden. »Du dummes Ding«, fuhr sie fort, »wenn die Prinzessin wirklich von ihrer standesgemäßen Rüstung hinab gezogen wird, warum tauchst du dann nicht einfach hinunter und befreist sie davon. Also ehrlich, die Dienstbereitschaft unter den Menschen scheint ja ziemlich entartet zu sein, seit ich mich in dieses Federkleid gehüllt habe!« Karola, die sich einerseits darüber ärgerte, dass sie herumkom mandiert wurde und sich blöde vorkam, weil sie nicht schon von selbst darauf gekommen war, tauchte zu Bronwyn hinüber. Mit ihrem neuentdeckten Talent, sich im und unter Wasser zu bewe gen, gelangte sie mühelos zu den Lederriemen an Bronwyns Gamaschen und Handgelenkschützern und entdeckte, dass sie trotz der Dunkelheit und dem trüben Wasser ausgezeichnet sehen 34
konnte. Sie zog an den Lederriemen und das durchweichte Leder gab sofort nach. Dann warf sie die Gamaschen weg und packte Bronwyn an den Fußgelenken, legte sich selbst auf den Rücken und zog die Rüstung von Bronwyns Beinen. Sobald sie ihre Füße frei hatte, konnte die Prinzessin ihren Kopf wieder über Wasser halten. Mit Karolas Hilfe streifte sie das Kettenhemd und den Helm ab und warf ihre Rüstung in das seltsame Boot der Schwä nin. Anstatt noch einmal gegen diesen erneuten Überfall auf ihr Ge biet zu protestieren, flatterte das Schwanenweibchen auf eine mütterliche Art um sie herum und sah so aus, als ob sie die Hände ausbreiten wolle, um ihnen zu helfen. »Das arme kleine Ding muss ja ganz durchfroren sein«, sagte sie mit besorgter Stimme, als zusehends mehr von Bronwyn sichtbar wurde, die nun von der Last ihres Panzers befreit war. »Mach schnell, Mädchen«, sagte der Schwan, »und hilf deiner Herrin in mein Gefährt!« Karola, die sich ärgerte, dass sich heutzutage jede als Prinzessin ausgab, nur um sie besser rumkommandieren zu können, sagte so trocken, wie es ihr nur möglich war, zum Schwan: »Also, ich muss schon sagen, du bist ja wirklich wie umgedreht!« Trotzdem befolgte sie die Anweisung des Tieres und zog und schob eine vollkommen durchweichte Bronwyn in das badezuberförmige Boot. Als sie sah, dass der Boden des Bootes auch unter dem wuchtigen Körper der Prinzessin nicht nachgab, kletterte Karola hinter ihr her und wickelte Bronwyn in ihren Mantel, der nur an den Rändern ein bisschen feucht geworden war. Karola sah, dass der Schwan mit einem langen Seil verbunden war, dessen Material sie zwar nicht genau bestimmen konnte, von dem jedoch verschiedene Schlingen und Spangen herabhingen, so dass es ungefähr dem Geschirr eines Pferdeschlittens glich. Das Schwanenweibchen zog daran, und das Boot glitt über das seiden glatte schwarze Wasser zu ihr hinüber. »Hmmm, ja, scheint gut zu funktionieren. Bin offenbar nicht aus der Übung gekommen«, sagte die Schwänin und plusterte sich etwas auf. 35
»Könntest du uns vielleicht hier rausziehen?«, fragte Karola, »ich will damit ja nicht sagen, dass wir deine Gesellschaft nicht schätzen, aber es ist schon fast Zeit zum Abendessen, und wir können nun nicht mehr auf dem Weg zurück, auf dem wir herge kommen sind und …« »Ich f-für m-mein T-Teil b-bin h-hier v-vollkommen g-glück lich«, sagte Bronwyn mit vor Kälte klappernden Zähnen. Die Augen der Schwänin blitzten wieder auf, und sie sagte mit stren ger Stimme zu Karola: »Deine Herrin meint …« »Ich hab’s gehört«, erwiderte Karola mit zusammengepressten Lippen, aber schließlich hatte ihnen die Schwänin erst geholfen, als ihr Karola gesagt hatte, wie vornehm Bronwyn war. Es wäre also nicht sehr klug, nun die weniger vornehmen Züge der Prin zessin zu enthüllen. »Ach, weißt du, sie ist ein großer Spaßvogel, unsere Prinzessin Bronwyn. Stimmt’s, Kusine?« »Ach ja, ich bin wirklich ein ganz großer Spaßvogel. Kaum dass ich geboren war, haben uns alle Hofnarren unter Protest verlassen, weil sie mein albernes Geplärr so witzig fanden …« »Also, ehrlich, sie will mindestens so gern von hier weg wie ich«, unterbrach sie Karola ganz schnell, »aber sie will mich eben aufmuntern. Außerdem ist sie viel zu wohlerzogen, als dass sie sich aus eigenem Antrieb beklagen würde, aber wir können wirk lich nicht hierbleiben.« »Und warum nicht, ich bin hier nun schon seit einiger Zeit zu Hause gewesen!« »Aber hier gibt’s doch nichts zu essen und keine Schlafgelegen heit!«, jammerte Karola, die plötzlich der Schmerz über den Ver lust ihres Abendessens überwältigte, das inzwischen sicher kalt geworden war, wenn es nicht Bernard gegessen hatte, der alles um sich herum aufaß, was nicht versuchte, ihn zuerst aufzufressen. »Ich ernähre mich von den Pflanzen, die auf dem Grund des Teichs wachsen und finde, dass sie sehr wohlschmeckend sind«, sagte die Schwänin mit überlegener Miene, »ihr könntet bestimmt das gleiche tun. Aber – ach nein, ich hätte beinahe vergessen, wie 36
es war, als – nein, nein, das geht natürlich nicht, und ihr armen Geschöpfe habt ja schließlich auch keine Flügel, unter die ihr eure Köpfe beim Schlafen stecken könnt. Ach du meine Güte, ist das lange her! Natürlich müsst ihr gehen, denn für ein so zerbrechli ches, ungefiedertes Geschöpf wie die Prinzessin ist dieser Ort viel zu ungeschützt.« »Wie verständnisvoll du doch bist«, sagte Bronwyn, um die Schwänin vollends einzuwickeln. »Das stimmt«, erwiderte der große Vogel, »aber, wie gern ich selber auch diese Höhle verlassen würde, so befürchte ich doch, dass ich es nicht tun kann.« »Warum?«, schrieen die beiden Mädchen jammernd und wie aus einem Munde. »Ach, meine lieben Damen, weil das Gefährt nicht durch die Öffnung geht und ich nun mal daran gefesselt bin. Wenn es nur nicht so unförmig wäre, dann hätte ich’s schon längst selber aus der Grotte gezogen und wäre dadurch in den Genuss einer ab wechslungsreicheren Szenerie gekommen.« »Könntest du’s nicht vielleicht noch mal versuchen?«, bettelte Karola, »ach, bitte, versuch’s doch, vielleicht können wir dir dabei helfen?« »Nun gut, aber ich habe nicht mehr viel Hoffnung!«, erwiderte die Schwänin. Karola drückte dem Unternehmen die Daumen und wünschte, dass sie nun eine Melodie pfeifen könnte, bei der das Boot schrumpfen würde und sie die Öffnung passieren könnten. Aber es stellte sich heraus, dass Bronwyns natürliche Gaben und nicht die übernatürlichen ihrer Kusine das Dilemma lösten. Der Rü stung und des beträchtlichen Eigengewichts der Prinzessin wegen senkte sich das Boot so sehr, dass es sich mit ein paar Handgriffen mühelos durch die Öffnung quetschen ließ und nach draußen schoss. Bronwyn und Karola fühlten, wie schnell der Fluss dahinfloss, und sie hörten sein Gemurmel viel deutlicher, als ihnen lieb war, 37
aber sie konnten nichts sehen, weil Dunkelheit sie umhüllte. We der nahmen sie irgendwelche Hindernisse wahr noch die Wände, die sich auf beiden Seiten hinzogen. Sie vermuteten, dass die Höhle wieder weiter geworden war. Das Gleiten des Bootes, die Dunkelheit und das langweilige Monologisieren des Flusses, der jede Unterhaltung vereitelte, erinnerte die beiden Mädchen daran, dass es Bettzeit war, und auch ohne die Flügel, die die Schwänin so nützlich fand, waren die beiden bald eingeschlafen. Als sie durch den Berg zogen, war Bronwyn bitter enttäuscht, dass sie im Gletscher keinem Eisdrachen begegneten, der sie zum Kampf herausforderte. Sie war sicher, es mit einem solchen auf nehmen zu können. Ihre Mama und ihr Papa wären dann ziemlich stolz auf sie gewesen, und sie hätte Karola, aber vor allem Tante Gretchen und Onkel Colin, zeigen können, dass sie nicht die einzigen gewesen wären, die es zu ihrer Zeit fertigbrachten, heim tückische Ungeheuer ins Jenseits zu befördern. Bronwyn fand, dass die beiden dabei auch reichlich ungeschickt vorgegangen waren, und war sicher, dass die Lichtlöcher in der Grotte von Drachen stammten, die von der gleichen Art waren wie der, der über ihnen im Gletscherschloss schlummerte. Bis sie am anderen Ende des Tunnels anlangten, vergingen al lerdings noch mehrere Stunden, nachdem sie aufgewacht waren, in denen sie aber weder durch Lindwürmer, Drachen, Trolle, Abgründe, knifflige Seitenkorridore oder andere ernstzunehmende Schwierigkeiten bedroht wurden. Jedenfalls war es für das, was anfangs ein wirklich gefährliches Abenteuer zu werden versprach, ein ziemlich enttäuschendes Ende. Nachdem Bronwyn ihren Sturz in den Fluss glücklich überlebt und das Abendessen verpasst hatte, verspürte sie große Lust, wieder eine gefährliche Situation zu bestehen, ihre große Sorge war nur, dass keine mehr einträte. Da der Tunnel gar so dunkel war, war es zweifellos das beste, einfach vorwärts zu fahren – obwohl in der Gesellschaft einer Kusine, die eine Hexe war und einem Riesenschwan, der sprechen konnte, doch bald etwas passieren musste, das wenigstens ein bisschen aufregender war als unter normalen Umständen. 38
Bronwyn musste wie ein Habicht aufpassen und sich jede Ein zelheit des Geländes merken. Ferner musste sie auf die geringsten Veränderungen im Verhalten ihrer Begleiterinnen und im Er scheinungsbild der Landschaft achten. Hmmm, nun ja, sie konnte sich wenigstens dazu beglückwünschen, dass sie vom Stand der leuchtenden herbstlichen Mittagssonne die Zeit annähernd richtig ablas. Sehr gut, Bronwyn, aber was noch? Ach ja, da war natürlich die Schwänin, die ihr im Vergleich zu der schwarzen Kreatur, die in Dunkelheit gehüllt war, nun viel herrlicher vorkam. Sie war genauso majestätisch wie das Gefährt, das sie zog, und ihre Fe dern waren so glatt und glänzend, dass von jeder ein kleiner Re genbogen reflektiert wurde. Ihr Hals war so lang wie Bronwyns Arm, und stolz reckte sie ihr Haupt empor, das der frischgepflück ten, langstieligen Rosenknospe glich, die der Ritter seiner Dame darbringt. Von einer solchen Kreatur gezogen zu werden, war etwa so, als ob man am gefiederten Ende eines riesigen Pfeils befestigt wäre, so schnell und sicher bewegte sich der Riesenvogel fort. Den Fluss, der unter ihr dahingurgelte, trübte ein feiner wei ßer Schmutzfilm, so dass Bronwyn das Gefühl hatte, auf einem breiten, flachen Strom von Kartoffelsuppe dahinzugleiten. Beim Gedanken an die Suppe hätte sie sich gewünscht, das aus gefallene Abendessen und Frühstück wären nicht die ersten hel denhaften Entbehrungen gewesen, die man von ihr verlangt hatte. Wahrscheinlich musste man bei den Abenteuern stufenweise vorgehen und sicherlich durfte man dabei keinen leeren Magen haben. Der Schwänin stand der Sinn nach höheren Dingen. »Ach, herr jeh – Sonnenlicht!«, zischte sie mit ihrer leicht mundartlich ge färbten Stimme, die einen rauen Klang hatte. Zuerst ihre eben holzfarbenen Schwingen ausbreitend, zog sie das Boot mit einer kreisförmigen Bewegung in die Mitte des Flusses und hielt dann so ruckartig an, dass das Gefährt beinahe ihren Schwanz gestreift hätte. Dann bog sie graziös ihren langen Hals über den rechten Flügel zurück und fragte die beiden Mädchen mit inbrünstiger Stimme: »Wisst ihr eigentlich, wie lange ich schon kein richtiges 39
Sonnenlicht mehr zu Gesicht bekommen habe? Viele Jahre ist es her, meine Lieben, o ja, viele, viele Jahre. Wie mich dieser Glanz doch blendet!« »Ja«, stimmte ihr Karola zu, »aber zu schade, dass sie uns nicht ein bisschen mehr Wärme spendet.« Dann – weil sie nicht den Eindruck bei ihren Weggefährten hinterlassen wollte, sie sei grob und flegelhaft, fügte sie schnell hinzu: »Schwänin, es muss ja wirklich sehr schön für dich sein, wieder aus der Höhle heraus zu sein, in der du, wie du selbst gesagt hast, so lange Zeit gewesen bist.« »Ja, wahrhaftig, das ist es und ein großer Triumph meiner Aus dauer und Zielstrebigkeit, dass ich nicht in der Dunkelheit umge kommen bin, sondern noch lange auf meinem Posten ausgeharrt habe, nachdem sich meine Schwestern wieder in ganz gewöhnli che Vögel zurückverwandelt haben und weggeflogen sind. Ich, als die Älteste, war nämlich immer der Leitschwan gewesen und konnte nicht so leicht aus meinem Geschirr herausschlüpfen wie die anderen. Und doch hätten sie versuchen können, mir zu helfen, die dummen Gänse, oder mich auch nur ab und zu zu besuchen.« »Das war ziemlich fies«, sagte Karola gouvernantenhaft, »aber es ist auch nicht besonders nett von dir, so etwas über deine Schwestern zu sagen.« »Typisch Federvieh, Mädchen! Aber da wir uns ja nun schon mal gegenseitig eine Lektion über das richtige Benehmen erteilen, ist es nicht besonders nett von dir, mich als ›Schwan‹ anzureden, wo ich doch mindestens von so vornehmer Herkunft bin wie deine hochherrschaftliche Kusine. Ich will aber über dein flegelhaftes Benehmen noch einmal hinwegsehen, da du bei meiner Befreiung mitgeholfen hast. Wenn ihr ganz lieb seid, werde ich vielleicht sogar mein Geheimnis mit euch teilen!« »Ich kann schweigen wie ein Grab!«, brüstete sich Bronwyn. Karola murmelte etwas vor sich hin, was die Schwänin jedoch nicht hörte, da sie bereits dabei war, ihr Geheimnis auszuplaudern, und zwar mit einer Stimme, die so laut war, dass sie sogar den 40
Fluss übertönte, der auf dieser Seite des Bergs nicht leiser oder lauter war als ein ganz gewöhnlicher Fluss. »So wisse denn, Prinzessin«, sagte die Schwänin, »dass ich die Tochter eines Königs bin wie auch du. Mein Vater war König Niconar Nesselzunge vom Unpflügbaren Land, ein unrentables, aber enorm freies Königreich im Süden, das östlich vom Mittleren Frostingdung liegt. Ich bin Meine Durchlaucht, Kronprinzessin vom Unpflügbaren Land, Herzogin der Vereisten Fjorde, Mark gräfin der Elenden Sümpfe, Anastasia Ilonia Vasilia Gwendolyn Martha Nesselzunge, zu Euren Diensten, obwohl Ihr ja – genauso gut wie ich – wisst, dass dies nur eine Höflichkeitsformel ist!« »Hoheit!«, erwiderte Bronwyn höflich. »Ach, meine Liebe, wir Hoheiten unter uns sollten nicht so förmlich sein, du kannst mich aber auch gerne bei meinem Spitz namen nennen, für dich bin ich ganz einfach ›Anastasia, die Ver führerische‹.« Karola sagte Anastasia allerdings nicht, wie sie sie nennen soll te, aber Karola hatte sich dazu ihre eigenen Gedanken gemacht und konnte gerade noch das Verlangen unterdrücken, der einge bildeten Kreatur zu sagen, dass sie sie mit »Gräfin Karola« anre den könne. Obgleich es wahrscheinlich auf die Dauer für sie unerträglich werden würde, in der Gesellschaft von zwei Wesen zu reisen, die von ihrer eigenen Wichtigkeit so felsenfest über zeugt waren wie Bronwyn und die Schwänin, so war es doch nicht ratsam, den Transport zu gefährden. Andererseits hatte sie aber auch keine Lust drauf, wieder eine Geschichte von der typisch argonischen, langweiligen Art über sich ergehen zu lassen. Ver zauberte Tiere, pflegte ihre Mutter zu sagen (und sie musste es ja wissen, weil sie viele von der Sorte bei ihren abenteuerlichen Unternehmungen kennengelernt hatte, bevor sie Mutter wurde), hatten kein Gefühl dafür, wann sie den Mund halten oder zur Sache kommen mussten. Sie würden einem doch immer nur die rührselige Geschichte von ihrer Verzauberung auftischen und sich fürchterlich darüber aufregen, wie unfair es doch wäre, ausge rechnet jemanden wie sie in so etwas zu verwandeln. Wenn man 41
sie so sprechen hörte, konnte man wirklich meinen, dass Hexen nichts Besseres zu tun haben, als ihre unschuldigen Mitmenschen boshafterweise in Rindvieh zu verwandeln. Karola hatte genug davon und unterbrach daher die Schwänin auf eine geschickte Weise, indem sie zusammenfasste, was diese sagen wollte: »Also wurden Sie und Ihre Schwestern in Schwäne verwandelt und jemand hat euch vor dieses Boot gespannt, dann ist zuerst diese Person durchgegangen und danach sind wohl auch deine Schwe stern abgehauen, nur du bist hiergeblieben – na, wer sagt’s denn – ist doch ganz wunderbar, da wir jetzt auch hier sind. Und nun, da wir alle hier so vollzählig versammelt sind, Hoheit, wie meinen Sie, kommen wir wieder nach Hause?« Bronwyn warf ihrer Kusine einen Blick zu, der hätte töten kön nen. Immer, wenn es versprach, gerade einmal spannend zu wer den, musste sich diese großmäulige Hexe einmischen. »Die Toch ter meiner Tante ist viel zu höflich als dass sie in Ihrer Privatge schichte herumschnüffeln wollte, Prinzessin Anastasia«, sagte Karola zur Entschuldigung. »Die Verführerische, bitte!«, berichtigte sie die Schwänin ge reizt, »Anastasia, die Verführerische!« »Prinzessin Anastasia, die Verführerische«, fing nun Bronwyn hastig an zu sprechen, »ich, die Heldin von so manch tapferer Tat, habe natürlich ähnliche Erfahrungen gemacht wie Sie, zum Bei spiel hat mich meine Kusine hier in einen Schwan verwandeln wollen, kurz bevor wir auf Sie stießen. Stimmt’s, Kusine Karola? Anders könnte ich’s mir nämlich wirklich nicht erklären, dass sie mich mit Hilfe ihrer Hexenkunst in den Fluss gelockt hat.« »Nun, tut mir furchtbar leid«, erwiderte Karola, »aber wie hätte ich denn auch wissen können, dass ein Fluch auf dir lastet und du nicht einmal die Wahrheit sagen kannst, auch wenn sie sonnenklar ist? Ich dachte eben, dass du nur ziemlich verrückt und obendrein noch garstig bist!« »Ein Fluch?«, fragten die beiden Prinzessinnen im Chor.
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»Du weißt doch – der Fluch, der über dich kam, als du noch ein Baby warst!« »Ach, der Fluch«, sagte Bronwyn, die immer noch sichtlich verwirrt war. »Hast du denn wirklich nichts davon gewusst?«, fragte Karola, »ich war der Meinung, dass deine Mutter wenigstens etwas Derar tiges erwähnt hätte!« »Aber o nein, mein kleines Fräulein, das muss nicht notwendi gerweise der Fall sein«, warf Anastasia die Verführerische ein, die alles besser wusste. »Ich war um einiges älter als ihr beide, als mir meine Mutter plötzlich eröffnete, dass die Frauen in ihrer Familie einen Hang dazu hätten, sich in Schwäne zu verwandeln. Zu diesem Zeitpunkt war es schon zu spät, um noch etwas dagegen unternehmen zu können. In der Familie spricht man nur sehr ungern über die schwierigen Aspekte des Erbgutes, solange die Kinder noch im zarten Alter sind und später, wenn sie erwachsen sind, wird es nur allzu leicht vergessen.« »Kommt mir aber so vor, als ob der Fluch eine zu große Sache wäre, als dass man sie einfach vergessen könnte«, gab Karola zu bedenken. »Aber sogar meine Mutter hat ja erst in ihrem letzten Brief davon gesprochen!« »Auf mir lastet aber kein Fluch, also hör endlich auf, davon zu sprechen!«, gebot ihr Bronwyn, die den Knauf ihres Schwertes fest umklammerte und die Unterlippe trotzig vorschob. »Aber natürlich. Du kennst doch den königlichen Steuerein nehmer? Denselben, mit dem mein Papa herumgezogen ist, um für den Krieg zu sammeln. Der hat’s getan!« Bronwyn nahm die Hand vom Schwert und fing an, genauso affektiert zu lachen, wie sie es von den Damen bei Hof gelernt hatte. »Das hast du vollkommen falsch verstanden, Kusine. Ich weiß, dass bei den Bauern das Gerücht umgeht, dass ich von einem Steuereinnehmer verflucht worden sei, aber …« »Nein, ich wollte ja damit gar nicht sagen, dass er dich verflucht hat, als er schon Steuereinnehmer war, sondern als er noch ein 43
Zauberer war, und zwar verfluchte er dich dazu, dass du immer lügen würdest.« »Wie nett du das sagst«, erwiderte Bronwyn. »Siehst du nun, was ich meine? Wenn du überhaupt zur Wahr heit fähig wärest, dann hättest du mir jetzt vorgeworfen, dass ich es überhaupt nicht nett gesagt habe – und so war es ja auch wirk lich gewesen. Weißt du eigentlich, dass es furchtbar anstrengend ist, sich mit dir zu unterhalten?« Bronwyn verkroch sich vor Scham im Gefährt und sagte kläg lich: »Das haben die Diener und Höflinge zu Hause aber nie so empfunden!« Zum ersten Mal verstand sie, warum sie ihr gegen über immer so verbissen geschwiegen hatten. »Sie wollten sich die ganze Zeit mit mir unterhalten und mit mir spielen. Ich musste mir Kriegsspiele ausdenken, um sie zu vertreiben und ab und zu ein bisschen für mich zu sein.« »Na klar!«, sagte Karola, klopfte Bronwyn aber beschwichti gend auf die Schulter und ließ sich neben ihr nieder. Die Schwänin reckte den Hals zurück, sah Karola unverwandt an und fragte schließlich: »Dieser Steuereinnehmer – wie sieht er eigentlich aus?« »Ich – nun, ich habe ihn erst einmal gesehen, als er kam, um Papa abzuholen. Mama mag ihn nicht um sich haben, aber ich glaube, er soll angeblich mit ihr verwandt sein. Er sieht auch aus wie wir, das heißt wie ich und Mama, hat braune Augen, braunes Haar und so breite Backenknochen …« Um dies möglichst wahr heitsgetreu zu demonstrieren, zog sie ihre rundlichen Backen ein und wandte sich dann an die Schwänin: »Aber warum fragst du?« »Warum ich frage? Mein liebes Fräulein, wenn ich noch die äu ßere Erscheinung der Edelfrau hätte, die ich in Wirklichkeit bin, würde ich jetzt auf der Stelle ohnmächtig werden, denn dein Steuereinnehmerzauberer ist kein anderer als mein vormaliger Gebieter, der Hexenmeister Grau, Furchtbart der Schreckliche.« Die Schwänin ließ den Blick zu Bronwyn schweifen und sagte:
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»Und du, mein armes Kind, sitzt wirklich ganz tief in der Pat sche!« In ihrer Stimme schwang mühsam unterdrückte Erregung und Selbstzufriedenheit mit. Als nächstes wandte sie sich an Karola, da sie es offensichtlich genoss, Leuten Ratschläge zu erteilen, die sich ihrer Meinung nach in einer sehr ernsten und womöglich noch schlimmeren Situation als der eigenen befanden. »Ich glau be, mein liebes Kind«, sagte sie besorgt, »dass du uns nun am besten alles erzählst, was du über die Angelegenheit weißt.« »Das klingt natürlich alles ganz plausibel«, brauste Bronwyn auf, nachdem sie alles erfahren hatte. »Da mein Vater diesem Hexen meister gegenüber für den Fluch, mit dem er mich versehen hat, so dankbar war, hat er ihn kreuz und quer durch ganz Argonia verfolgt, um sich bei ihm für sein Taufgeschenk zu bedanken und mit nichts geringerem als dem Posten eines königlichen Steuer einnehmers zu beehren. Und ich habe natürlich auch vollstes Verständnis dafür, dass mein Vater den Hexenmeister nicht zuvor gezwungen hat, den Fluch von mir zu nehmen.« »Wirklich?«, fragte Karola geistesabwesend, weil sie sich über legt hatte, wie sie rechtzeitig zum Abendessen über den Berg zurück nach Drachenhafen kämen. Bronwyns Problem war zwar schon sehr wichtig, aber schließlich hatte sie sich schon ihr ganzes Leben damit rumschlagen müssen, wohingegen Karola noch nie zuvor eine Mahlzeit ausgelassen hatte und nun waren es gleich drei hintereinander! Auch würde sie sich wahrscheinlich bei der Kälte den Tod holen. Aber Bronwyn und die Schwänin schienen darauf zu warten, dass sie noch etwas sagte, und so fügte sie hinzu: »Ich will damit sagen, dass du’s eben nicht einsiehst, was der springende Punkt ist. Ich versteh deinen Vater übrigens auch nicht, aber es wäre schön, wenn wir uns später noch ausführlicher darüber unterhalten könnten, weil mir dieses Gespräch langsam auf den Geist geht!« Die Schwänin, deren letzte Mahlzeit noch nicht so lange zurück lag wie die ihrer Reisebegleiterinnen und die sich im Laufe ihres 45
Lebens daran gewöhnt hatte, mit Diplomaten und anderen Ge sandten umzugehen, fand es nicht so schwierig wie Karola, sich an Bronwyns unfreiwillige Ausdrucksform anzupassen. »Während du das Wesentliche der Situation begriffen zu haben scheinst, meine liebe Bronwyn«, fing sie an, »scheinst du aber nicht ver standen zu haben, dass selbst wenn dein Vater versucht hätte, dich von dem Fluch zu erlösen, indem er meinen Herrn tötete – was er auch wirklich versucht zu haben scheint – solche Maßnahmen überhaupt nichts genützt hätten, weil Furchtbart den Fluch einer Mittelsperson abkaufte. Ich muss es ja schließlich wissen, weil ich meinen ehemaligen Herrn zu ihr brachte und warten musste, bis das Geschäft abgewickelt war. Man bekommt ziemlich viel mit, wenn so ein Arbeitgeber nicht genau weiß, wie’s mit den Verstän digungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer steht. Das habe ich ge merkt, als sich mein ehemaliger Gebieter einen Spaß daraus machte, Bronwyns Fluch seinem eigenen magischen Talent zuzu schreiben, wo er doch allenfalls nur die Gabe der Überredung besitzt. Der Zauber trug also überhaupt nicht seine Handschrift, und so hatte er auch nicht die Kraft, ihn aufzuheben oder in ir gendeiner Weise zu ändern.« »Ein schlechter Witz«, bemerkte Karola, »Bronwyn hat schließ lich nichts davon gewusst und noch viel weniger davon verstan den. Ich weiß wirklich nicht, was das eigentlich soll!« »Es war ein Taufgeschenk, Kusine«, erwiderte Bronwyn bitter, »wie alle anderen Taufgeschenke sollte es mir helfen, zu einer wirklich großen Königin heranzuwachsen. Begreifst du denn nicht, wie gut der Zauber gewirkt hat – alle reißen sich um meine Gesellschaft, so dass mich meine Mutter und Tante Gretchen wahrscheinlich deswegen hierher verbannten, damit das neue Baby neben solch einer vorzüglichen größeren Schwester nicht immer die zweite Geige spielen müsste. Kannst du dir denn nicht vorstellen, welch dauerhafte und gute Regierung wir haben wer den, wenn mich all meine Untertanen so lieben, achten und mir ihr Vertrauen schenken wie ihr?«
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Karola wand sich und sagte verdrießlich: »Ich weiß, was du meinst. Du meinst, dass du hierbleiben sollst, damit sie dir die Krone verweigern und sie dem Baby geben können. Ich verstehe auch, warum du das glaubst, aber meine Mama und Tante Bern steinwein würden so etwas ganz sicher nicht tun, ohne es dir vorher auseinanderzusetzen.« Die Schwänin zischte rüde. »Nein, ganz bestimmt nicht!«, beteuerte Karola, »und wie dem auch sei, schließlich ist sie ja noch nicht alt genug, um die Herr schaft zu übernehmen und wir haben gerade Krieg und es gibt bestimmt noch zig andere Gründe, weshalb man sie hierher ge schickt haben könnte. Warum hätte mir wohl meine Mama die Sache mit dem Fluch so ausführlich erklärt, wenn sie’s Bronwyn übelnähme? Es ist eben genau so, als ob man nicht gut zeichnen oder rechnen könnte. Es ist ja schließlich nicht so, dass du lügen willst, Bron, und ich bin sicher, dass du sonst auch ganz brav bist.« »Eine äußerst großzügige Meinung, mein Kind, die aber in poli tisch-pragmatischer Hinsicht so ziemlich bedeutungslos ist«, sagte die Schwänin und plusterte dabei dezent ihre Schwanzfedern auf. Bronwyn dachte an all die Puppen, die sie in Lanzenturnieren niedergemetzelt hatte und an die siegreichen Schlachten, in die sie ihre eigenen Puppen geführt hatte. Sicher hatte sie das Schicksal soweit geführt, weil es eine schreckliche Absicht mit ihr verfolgte. »Es gibt nur einen einzigen Kurs, den ich einschlagen kann, um meine Ehre wiederherzustellen«, verkündete sie schließlich, »der Ruf von Bronwyn der Kühnen muss um jeden Preis aufrechterhal ten werden, damit ich beweisen kann, dass ich mich für die Thron folge eigne. Deshalb muss ich mich so bald als möglich meinem Vater anschließen und an seiner Seite auf dem Schlachtfeld den Sieg erringen, um mich zu rechtfertigen.« Einen Augenblick lang sah Karola ihre Kusine mit einem ge quälten Ausdruck an, aber dann hellte sich ihr Gesicht merklich auf und sie sagte: »Ich bin ja so froh, dass du es ausgesprochen hast, denn früher oder später wäre ich wohl selbst auf den Gedan 47
ken gekommen, aber da du es nun erwähnt hast, wissen wir ja, dass es Quatsch ist!« »Dein Vertrauen in mich ist ja rührend, Kusine«, erwiderte Bronwyn, aber trotzdem hellte sich ihre Miene etwas auf. Wenig stens interessierten sich Karola und die Schwänin so sehr für sie, dass sie sich überlegten, was sie meinte, auch wenn sie sich selber nicht ganz sicher war. »Da wäre natürlich noch ein anderer Weg«, sagte die Schwänin. Die beiden Mädchen sahen sie erwartungsvoll an und sie fuhr fort: »Wir könnten die Person ausfindig machen, die für den Fluch verantwortlich ist und ihn vermittelt hat.« »Wie denn?« »Ich schwimme ganz einfach ans Ufer hinüber, wo ihr beide mich von meinem Geschirr befreit. Dann fliege ich nach KleinLieblos zurück, wo dieses schreckliche Weibsbild wohnt, von dem der Zauberer den Fluch bekommen hat. Ich werde sie schon dazu zwingen, dass sie mir sagt, wie man den Fluch wieder auf hebt. Vorher werde ich jedoch nach Wurmhorst fliegen und dort eine Rettungsmannschaft anfordern, die euch abholen wird.« »Wunderbar!«, erwiderte Karola, »vielleicht finden wir in der Zwischenzeit auch etwas zu essen.«
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III
Karola war aber offenbar nicht die einzige, die hungrig war. Ein Magen, den man für einen Bären hätte halten können, knurrte aus der Tiefe des Waldes, und leuchtende Augen beobachteten die beiden Mädchen, als sie vom Schwanengefährt herabsprangen, um Anastasia das Geschirr abzunehmen. Die Schwänin war so lange im Geschirr gewesen, dass die Federn unter den Riemen ganz abgewetzt waren, ein Umstand, um den die verzauberte Prinzessin viel Aufhebens machte. »Ich glaube, das wird entsetzliche Schwielen auf meiner Alaba sterhaut hinterlassen, wenn ich wieder in meine menschliche Gestalt zurückverwandelt werde«, zischte sie aufgebracht. »Viel leicht könntest du die Stellen dann mit einer goldenen Rüstung verdecken – die mit Smaragden und Perlen besetzt ist –, und auf diese Weise eine neue Mode kreieren.« Bronwyn nickte weise mit dem Kopf und sagte: »Weil ich in einer Rüstung so bezaubernd aussehe, haben’s mir unlängst die ganzen Hofdamen nachgemacht!« »Ich glaube«, sagte die Schwänin schroff, »dass jetzt die aller beste Zeit ist, um meine Reise anzutreten. Ich werde nur ein bis zwei Tage weg sein.« Dann faltete sie ihre Flügel und sagte in freundlichem Ton: »Ach, wie gedankenlos ich doch bin! Ihr Kin der müsst ja entsetzlich hungrig sein – ihr werdet ja verhungern, bevor euch eure Leute finden. Wie werdet ihr euch denn bis dahin durchbringen?« »Wir werden es gar nicht merken, wenn wir verhungern«, ver sprach Bronwyn, »weil wir unsere Gedanken auf Staatsangele genheiten gerichtet haben werden. Ich werde Karola darum bitten, dass sie mir sagt, wie die einfachen Leute dazu stehen.« »Danke, sehr freundlich!«, sagte Karola. »Da wären immer noch diese wohlschmeckenden Pflanzen auf dem Boden der Tümpel«, sagte die Schwänin, »ich könnte euch ja noch ein paar abzupfen, bevor ich wegfliege!« 49
»Äh – lass es gut sein«, sagte Karola achselzuckend. »Wir kön nen immer noch fischen und zu dieser Jahreszeit müsste es ja auch Beeren geben. Ach, und ich hätte beinahe vergessen, dass ich ein paar Kekse in meiner …« Sie suchte in ihren Taschen herum, die immer noch feucht waren und zog einen formlosen breiigen Klumpen hervor, der ihr an den Fingern haften blieb. »Nun, die sind zwar ein bisschen nass geworden, aber ich glaube, dass wir schon damit zurechtkommen!« »Ja«, pflichtete ihr Bronwyn freudestrahlend bei, obwohl sie noch nie gefischt oder selbstgepflückte Beeren frisch vom Busch gegessen hatte und überhaupt nicht ahnte, dass man so etwas tun konnte. »Wir braten sie dann auf einem Feuer, das ich in meinem Helm anzünde«, fuhr sie eifrig fort, »ich habe das schon so oft gemacht, wenn ich mit meinem Vater im Feld war und weiß ganz genau, wie es geht!« »Nun lass mal!«, sagte Karola, die über den verwirrten Ton in Bronwyns Stimme lachen musste, »das werden wir schon hinkrie gen, und Sie, Hoheit, kümmern sich jetzt am besten nicht mehr um uns, sondern fliegen fort, um Hilfe für uns anzufordern.« »Gut, dann bleibt aber hier und rührt euch nicht vom Fleck, da mit euch eure Leute auch finden, wenn sie meine Anweisungen bekommen.« »Gut, wird gemacht«, versprach Karola und betrachtete wehmü tig die klebrige Masse in ihren Händen. »Morgen möchte ich wieder zu einem richtigen Abendessen zu Hause sein!« Die beiden Mädchen schauten schweigend zu, als der Schwan seine Flügel ausbreitete und sich über die Bäume in die Lüfte erhob. Einen Augenblick lang verdeckte der Vogel mit seinem Körper die Sonne. Aber kaum hatte sie das Ufer und die erste Baumreihe des Wal des überflogen, hinter der Karola und Bronwyn standen, als ein kleiner Gegenstand kurz vor dem grünen Hintergrund aufblitzte und dann in die Höhe sauste, wie ein Komet, der mit dem Schweif 50
voran flog. Anastasia stieß einen unheimlichen, trompetenartigen Klagelaut aus. Mit dem einen Flügel, der nur noch schwach flat terte und dem anderen, der zusammengeschrumpelt an ihrem Körper herabhing, stürzte sie – indem sie sich auf eine waghalsige Weise im Kreise drehte – zwischen die Bäume herab. Einen Augenblick lang sahen sich Bronwyn und Karola bestürzt an. Dann setzte Bronwyn ihren Helm auf, griff nach Schild und Schwert und rannte in den Wald. Karola folgte ihr auf den Fersen. Sie trafen gerade noch rechtzeitig ein, um eine Tragödie zu ver hindern, obgleich überhaupt nicht feststand, wer der Leidtragende war. An einer kleinen Lichtung saß Anastasia am Boden und lehnte sich nach einer Seite, der Knauf eines Dolches steckte in ihrer Schulter, von dem rubinrote Tropfen herabperlten. Die ver letzte Schulter war der einzige Teil von ihr, der stillhielt. Ihr Schnabel sauste peitschend durch die Luft, stieß zu und schoss wütend nach vorn, dann bog sie ihren Hals zurück, um wieder von neuem zuzuschlagen. Mit dem gesunden Flügel schlug sie auf und nieder und wirbelte mit jedem Schlag Schmutz und verwelktes Herbstlaub auf. Dabei zischte sie ganz abscheulich, was einen nicht gerade verwunderte. Ein pummeliger, dunkelhäu tiger Knabe mit pechschwarzem Haar und einem Gesichtsaus druck, der zugleich raubgierig und schadenfroh war, spielte mit Anastasia wie die Katze mit einer überlebensgroßen Maus. Er foppte sie mit Scheinangriffen, stieß nach ihr, ging um sie herum, wobei er immer den mächtigen, unversehrten Flügel ver mied und schnappte dann, als er meinte, dass er es sich leisten könne, nach dem Messer, das in der Wunde steckte. Bronwyn trat vor und stieß den Knaben kurzerhand um. Dann setzte sie ihm in aller Ruhe die Schwertspitze an die Kehle und sagte: »Bei den vornehmen Gebeinen meines Großvaters, halt ein, du Schurke, oder ich werde dich durchbohren wie den Schwarzen Ritter, als er leichtfertigerweise mit einer meiner Freundinnen herumgetändelt hat.«
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Der Junge wusste weder, wer Bronwyns Großvater war noch welchen schwarzen Ritter sie eigentlich meinte, aber er wusste ganz genau, dass er in der Patsche saß. »Verschont mich, edle Dame!«, sagte er, »verschont einen ar men hungrigen Zigeunerjungen. Ich werde Euch auch einen Teil des Bratens abgeben. Bitte tötet mich nicht, bevor ich meine Henkersmahlzeit eingenommen habe. Eine so erhabene Dame wie Ihr wird doch nicht einen Mann mit knurrendem Magen ins Jen seits befördern?« Bronwyn versuchte, eine grimmige Miene aufzusetzen, denn schließlich war ja Anastasia ihre Verbündete und man musste seine Verbündeten verteidigen, aber andererseits war es natürlich auch sehr einleuchtend, was der Junge übers Essen sagte. Hilfesu chend blickte sie zu Karola hinüber. Der Zigeuner bekam mit, was sich zwischen ihnen abspielte und griff zu einer anderen List. »Liebes Mädchen«, raunte er Karola zu und wand sich, um mit einem schmelzenden Blick die Aufmerksamkeit der Hexe auf sich zu lenken. »Du darfst einfach nicht zulassen, dass mich deine Freundin tötet. Nun, ich habe den Schlüssel zu deinem zukünfti gen Glück in der Hand, ohne mich wirst du nie etwas über das herrliche Schloss erfahren, auf dem du eines Tages leben wirst oder über den schönen Fremden, der in dein Leben treten wird …« Mit dem Fremden meinte er in Wirklichkeit sich selber, aber er hielt es nicht für ratsam zu erwähnen, dass wenn sie auf seine Schmeicheleien hereinfiel, er genauso schnell aus ihrem Leben verschwinden würde wie er dort aufgetaucht war – obwohl er immer noch hoffte, dass er sich ein Stück vom Schwan unter den Nagel reißen konnte, bevor er verduftete. Karola warf ihm einen vernichtenden Blick zu, rümpfte die Nase und kniete sich neben Anastasia nieder. Dann untersuchte sie den Dolch und die Stelle, an der er eingetreten war, von allen Seiten. Anastasia schaute sie so erwartungsvoll an, dass sie sich zu einer Stellungnahme gezwungen fühlte. »Eine Stichwunde«, sagte sie mit einer Miene, die, wie sie hoff te, herdhexenhaft-professionell wirkte. 52
Anastasia Schloss vorübergehend ihre Augen, so als ob sie er leichtert wäre. Karola war froh, dass die Schwänin erleichtert war und wünschte, dass sie es ebenfalls wäre. Die Leute neigten näm lich dazu, in schwierigen Situationen eine ganze Menge von den Hexen zu erwarten, auch wenn man selber noch nicht genug Zeit gehabt hatte, um alles über die eigenen Kräfte herauszufinden, geschweige denn über die Zauberkräfte der Mutter und Großmut ter. In solch kritischen Augenblicken konnte man einfach nicht anders, auch wenn die Zuständigkeit noch etwas zu wünschen übrigließ. Karola verstand sich ganz gut darauf, die Dinge zum Tanzen zu bringen, so konnte sie sogar Hausarbeiten auf eine mehr oder weniger magische Weise erledigen, indem sie zum Beispiel die Fäden durch die Nadelöhre und die Nadeln durch die Stoffe und das Geschirr durchs Spülwasser tanzen ließ. Grob gesprochen entsprach ihre Magie in dieser Beziehung dem Herdhexentalent ihrer Mutter. Aber Karolas Mutter war noch nicht dazu gekom men, ihrer Tochter zu zeigen, wofür die ganzen Pülverchen in ihrem Medizinbeutel gut waren oder sie in den medizinischen Künsten zu unterweisen, für die ihre Urgroßmutter Brown so berühmt war. Obwohl sie eine Hexe war, die aus einem uralten Hexengeschlecht stammte, konnte sie Beifuss nicht von Eisenhut unterscheiden. Sie ließ sofort den Plan fallen, das Messer aus Anastasias Wunde heraustanzen zu lassen, als sie darüber nach dachte, welches Unheil die Klinge anrichten konnte, wenn sie auf der Schulter der armen Schwänin ihre Luftsprünge vollführte. Nichtsdestoweniger musste etwas geschehen, und zwar schnell. Ach wenn doch nur das Flusswasser vom Einhornsegen noch frisch wäre, dann würde alles durch das Wasser geheilt. Obwohl sie auch dann noch das Messer aus der Wunde entfernen mussten. Während Karola den allzu kritischen Gedanken unterdrückte, dass sie die Heilkunde nur deswegen noch nicht erlernt hatte, weil sie im Grunde genommen ein bisschen zimperlich war, rief sie nach ihrer Kusine mit soviel Autorität in der Stimme, wie es für eine Hexe ziemte, die die Verantwortung für eine Sache über 53
nommen hatte. »Bronwyn«, rief sie, »lass die kleine Ratte mal für einen Moment in Ruhe und zieh das hier aus Ihrer Hoheit Schulter heraus. Du bist nämlich viel stärker als ich, und das Messer sollte nämlich mit einem Ruck herausgezogen werden, damit es nicht so weh tut.« Bronwyn übergab Karola das Schwert, das immer noch auf die Kehle des Jungen gerichtet war und sagte: »Er darf uns nicht entkommen, weil er bestimmt ein feindlicher Spion ist, der hierher gesandt wurde, um verzauberte Prinzessinnen zu töten!« »Welche Prinzessin denn?«, fragte der Junge, der sich halb er hob, als das Schwert bei der Übergabe etwas verrutschte. Er legte sich aber sofort wieder hin, als das Schwert wieder in die vorheri ge Position gebracht wurde. »Ich habe keiner Prinzessin etwas zuleide getan, nur dem Schwan dort drüben. Schmeckt übrigens wie Hühnerfleisch – aber ihr könnt euch ja selbst davon überzeu gen!« In der Zwischenzeit legte Bronwyn ihren Schild beiseite, legte beide Hände auf den Knauf des Dolches und zog daran, dabei gab Anastasia einen gedehnten, nach innen gezogenen Zischlaut von sich, um sich dann schnell nach dem Blut umzusehen, das aus der Wunde hervorquoll, die der Dolch zurückgelassen hatte. Sie ließ den Kopf auf den Boden fallen, und bedeckte ihn kurzentschlos sen mit ihrem schlaffen Flügel, bevor ihr ganzer Körper auf die unversehrte Seite kippte. Der Zigeunerjunge lachte kurz und nervös auf. »Ihr habt ja nur euren Spaß mit mir getrieben«, sagte er, »zuerst tut ihr so, als ob ihr wütend wärt und nun schlachtet ihr selbst das Tier! Nur gut, dass ich nicht so gierig bin! Soll ich das erlegte Wild zerlegen oder wollt ihr’s tun?« Das Lachen ging in Husten über, als Karola mehr Druck auf das Schwert ausübte. »Ich werde es tun«, sagte sie, »wenn du nicht bald die Klappe hältst!« Der Junge riss entsetzt die Augen auf. »Ihr meint es also ernst und ihr seid wirklich mit dem Schwan befreundet! Ach ist das ein 54
Pech, dass ausgerechnet der erste Geflügelbraten, der mir über den Weg läuft, höhergestellte Personen zu Freunden hat!« »Sie ist eine Prinzessin«, sagte Karola – obwohl sie nicht son derlich beeindruckt war von Anastasias Anspruch, wollte sie wenigstens, dass es der Junge sei. »Sie wollte uns hier raushelfen und dafür sorgen, dass der Fluch von Bronwyn genommen wird, als du dazwischengefunkt hast!« »Prinzessin? Bronwyn? Ein Fluch? Hör mal, willst du damit sagen – nein, sie kann doch nicht …« Der Zigeunerjunge setzte sich so schnell auf, wie es die Schwertspitze an seiner Kehle zuließ, blinzelte zuerst zu Bronwyn und der Schwänin hinüber und blickte dann wieder zu Karola auf. Sein Mund mit den schneeweißen Zähnen im dunklen Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen und er schlug sich mit der Hand auf die Stirn. »Welch ein glücklicher Zufall«, sagte er, »am gleichen Tag und auf einmal Bronwyn, der kahlgesichtigen Lügnerin und Greta Graus Hexensprössling zu begegnen! Und welch glücklicher Zufall auch für euch, hübsche Fräuleins. Denn heute haben es die Sterne gut mit euch gemeint und euch, wenn auch nicht gerade aus der Wildnis heraus, so doch unter den Schutz von Jacopo – oder auch Jack genannt – dem Zigeuner geleitet!« Einige Zeit später rieb sich Jack, der sich auf seine Ellbogen gestützt hatte und seine Füße an dem behaglichen Lagerfeuer wärmte, genüsslich seinen Bauch und seufzte tief auf. »Wie raffi niert Sie doch sind, Gräfin Karola, dass Sie die Fische aus dem Fluss herauspfeifen. Obwohl ich mich förmlich dazu zwingen musste zu essen, war ich doch vollkommen am Boden zerstört, weil ich diese herrliche Schwanenprinzessin verletzt habe. Es geschah aber nur deswegen, weil ich so hungrig war, Beeren allein reichen eben nicht aus, um einen Mann zu ernähren, und die Fallen, die ich aufgestellt habe, werfen im Moment wenig ab, sonst hätte ich eure Freundin überhaupt nicht angerührt. Ich mag nämlich Tiere sehr gern und sie mögen mich auch. Vielleicht wissen sie, dass mein Großvater einst ein Bär war, der vom glei 55
chen bösen Mann verhext worden war, der auch die Prinzessin Bronwyn verflucht hat.« Er zuckte mit der Achsel und fuhr fort: »Wie dem auch sei, ich verstehe mich eben sehr gut mit den Tie ren. Wie schon gesagt, sie mögen mich, und – wie gut für uns, dass dich die Fische mögen!« Angesichts seines glühenden Blicks, der aber eher befangen wirkte, wurde Karola rot. Obwohl er ein bisschen jünger als sie wirkte und so aussah, als ob er außer der neuerlichen noch keine sehr nachhaltigen Erfahrungen mit dem Hunger gemacht hatte, sah er doch unbestreitbar hübsch aus mit seinen dunklen Locken und dem fröhlichen Grinsen. Karola war froh, dass sie daran gedacht hatte, die Fische aus dem Wasser herauszupfeifen, wo sie dann Jack und Bronwyn fangen, töten und putzen konnten. Jack hatte eine Zunderbüchse dabei und verstand sich ausgezeichnet aufs Feueranzünden (»Eine Sache, auf die wir Zigeuner uns nun einmal gut verstehen, ist das Feueranzünden«, versicherte er ihnen), und wirklich waren sie von dem gebratenen Fisch bald satt geworden und fühlten sich in der Nähe des Feuers recht behaglich. »Ach, das war nichts Besonderes«, sagte Karola bescheiden, »nur so ein kleiner Trick von mir. Auch sollte ich mir nicht soviel Gedanken um Anastasia machen, die nun ganz einfach schläft. Dessen bin ich ziemlich sicher und glaube nicht, dass die Verlet zung so schlimm ist, wie wir anfangs dachten. Wahrscheinlich ist sie von ihrem Sturz noch vollkommen erschöpft.« »Trotzdem«, erwiderte Jack, »könnte ich mir nie verzeihen, wenn von der Verletzung etwas zurückbleiben würde. Unglaub lich, dass ich ausgerechnet das einzige Wesen getroffen habe, das Bronwyn – die wunderschöne Prinzessin Bronwyn – von ihrem Fluch befreien kann …« »Aber es dürfte dir wahrscheinlich piepschnurz sein, dass wir nicht aus unserer Zwangslage befreit wurden«, fuhr ihn Bronwyn an. Sie wollte sich nicht noch einmal durch seine Schmeicheleien an der Nase herumführen lassen. Schließlich hatte sie ja mitge kriegt, als was er sie zuvor bezeichnet hatte, und schließlich war
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es ja nicht so schwer für jemanden, der selber so vertraut war mit der Lüge, die Aufrichtigkeit von der Falschheit zu unterscheiden. »Seid unbesorgt, liebstes Fräulein, habe ich euch nicht schon gesagt, dass es das Schicksal gut mit euch meint? Ich mag euch und werde euch auch deswegen beschützen. Es gibt nichts mehr, um das ihr besorgt sein müsstet. Wir haben ein Lagerfeuer, wir haben genug Fische zu essen und wir haben die freie Natur für uns …« »Und den Winter, der vor der Tür steht«, sagte Karola streng. Schließlich war er nur ein sorgloser, kleiner Junge, wie nett er auch aussehen mochte. »Das wird unseren Meister Jack ja wohl kaum aus der Fassung bringen«, sagte Bronwyn mit zuckersüßer Stimme, »ihn, der ohnehin alles weiß – der zum Beispiel weiß, wer du bist oder ich und der alle die liebenswürdigen Spitznamen weiß, bei denen mich meine Untertanen nennen. Sicher weiß er …« »Ach, meine verehrteste Prinzessin, offensichtlich habe ich euch beleidigt!« Mit der Leichtigkeit einer wohlgenährten Hauskatze, die weiß, wo es warm rauskommt, sprang der Junge auf, um sich sogleich wieder vor Bronwyn hinzuknien. »Wenn euer Gewand einen Saum hätte, dann würde ich ihn sicher unter diesen Umstän den küssen«, sagte er und schaute dabei bedeutungsvoll auf ihre bloßen Knie, die sich genau zwischen dem Saum ihres schenkel langen Unterhemdes und dem oberen Ende ihrer Sandalenriemen befanden. »Der Schimpfname, den euch jene gegeben haben, die noch nie eurer grenzenlosen Schönheit ansichtig geworden sind oder die fürchterliche Kraft eures Schwertes zu spüren bekommen haben, ist nur deswegen über meine Lippen gekommen, weil sich seit der Zeit, da ich bei einem Gespräch zwischen meinem Vater und meiner Großmutter, das ich hinter den Vorhängen unseres Wohnwagens belauschte, zum ersten Mal deinen Namen hörte, die Vorstellung von der schönen Prinzessin, die so furchtbar lügt, dass sie jeden Zigeuner damit in den Schatten stellt, in meine Phantasie als etwas unendlich Liebenswertes eingegraben hat.«
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Karola fing an zu kichern und sagte: »Kusine, das hört sich ja so an, als ob du deinen Meister gefunden hast!« »Absolut nicht!«, erwiderte Bronwyn und errötete, so dass ihre Sommersprossen unter der gleichmäßigen Pfirsichfarbe bald nicht mehr zu sehen waren. »Und Sie, Fräulein Karola«, fuhr Jack fort, »wie kommt es nur, dass Sie mich nicht wiedererkannt haben? Wo wir doch vor den Zelten meines Volkes zusammen gespielt haben, als wir noch klein waren? Deine Eltern haben zusammen mit meinen so manch blutige Schlacht geschlagen. Übrigens weiß man bei uns im La ger, dass die einzigen Frauen in Argonien, die den Vergleich mit unseren dunkelhäutigen Zigeunerschönheiten aushalten, die be zaubernden Hexen aus der Familie Grau sind. Für wen sonst hätte ich dich denn halten sollen, da ich doch ganz genau weiß, dass du nicht meinem Stamm angehörst, aber mir doch so sehr ähnelst, dass du meine Kusine ebenso gut sein könntest wie die der Prin zessin Bronwyn?« »Schade, dass du nicht daraufgekommen bist, bevor du Anasta sia mit dem Messer abgestochen hast«, sagte Karola. Sie erinnerte sich an die Lieder, die ihr Vater über jene Schlachten gesungen hatte, von denen Jack gesprochen hatte. Der Zigeunerjunge hatte allerdings nicht erwähnt, dass sich Karolas Leute und seine eige nen mindestens in einer Schlacht gegenübergestanden hatten. Der Zigeunerjunge zuckte mit der Schulter und sagte kleinlaut: »Wie du schon selber sagtest, ist es nur eine kleine Wunde und wird gewiss heilen.« »So quäle ihn doch nicht, Karola«, sagte nun Bronwyn, »denk doch daran, wie gut es war, dass Jack speziell in der Absicht hierherkam, uns zu beschützen und uns dabei zu helfen, den Fluch zu lösen.« Jack drohte ihr mit dem Finger, an dem immer noch Fischfett klebte und sagte: »Ihr Frauen seid doch alle gleich, auch die Prin zessinnen und die Hexen finden offenbar, dass ein Zigeunerprinz nichts Besseres zu tun hat, als im Wald so lange herumzulungern, 58
bis er euch zu Hilfe eilen kann. Eigentlich war ich wegen einer ganz anderen Sache hier …« »Halt mal«, unterbrach ihn Karola, »du willst mir doch nicht etwa weismachen, dass du ebenfalls einer königlichen Familie angehörst.« Sie fühlte sich allmählich ziemlich ausgeschlossen. »Natürlich, meine sehr verehrten Damen. Meine Großmutter Xenobia ist die Königin der Zigeuner und mein Großvater ist niemand anders als Prinz H. David Würdigmann, der rechtmäßige Kronprinz der Zigeuner und Prinz von Ablemarle. Ich werde sein Nachfolger, wenn ich …« »Wie kommt es eigentlich Prinz Jack«, fragte Bronwyn mit Nachdruck, wobei Misstrauen ihre Stimme wieder verdunkelte, »dass du und angeblich auch dein Großvater – ein Prinz von Ablemarle – unsere Freunde seid, während der König von Able marle, nämlich Würdigmann der Unwürdige momentan ein so großer Freund meines Vaters ist, dass mein Vater mit seiner Flotte zum Golf der Kobolde zieht, um auf halbem Wege mit Ablemar les Streitkräften zusammenzutreffen?« Jack, der an Bronwyns Ausdrucksweise nicht gewöhnt war, sah verwirrt aus, aber Karola ergriff das Wort und sagte streng: »Wir sind im Krieg mit Ablemarle, falls du dies vergessen hast. Du bist doch nicht etwa ein Spion?« Er lachte mit einer etwas gezwungenen Herzlichkeit und sagte: »Aber nicht doch, meine lieben Damen! Ich kann euch versichern, dass mein Großvater der gütige, rechtmäßige Erbe von Ablemarle ist, der eigentlich König sein sollte anstelle seines unwürdigen Bruders, der jetzt das Land regiert. Deswegen kämpft mein Vater auch jetzt noch Seite an Seite mit dem Papa der Prinzessin, ebenso wie mein eigener Vater, und ich werde mich ihnen anschließen, sobald ich das Mannesalter erreicht habe und die mir zustehende Stellung als Thronfolger eingenommen habe.« »Und wann wird das sein?«, fragte Karola gähnend, denn sie begann sich allmählich mit diesen beiden Angebern zu langwei len. 59
»Ich bin gerade auf dem besten Weg dazu, Karola! Wenn du mich so ansiehst, denkst du wahrscheinlich, dass ich hier nur untätig herumsitze, aber indem ich das tue und euch vor großen Gefahren beschütze, erfülle ich nur die Pflichten gegenüber mei nem Volk und zeige ihnen, dass ich nicht nur würdig bin, in den Kreis der Männer meines Stammes aufgenommen zu werden, sondern auch der Thronerbe zu sein.« »Wie bequem«, sagte Karola, die wieder gähnte. Dagegen hatte Bronwyn ihre grünen Augen vor Begeisterung weit aufgerissen. Es machte ihr einen Riesenspaß, jemandem zuzuhören, der noch viel unglaublichere Geschichten in petto hatte als sie. »Ich kann mir vorstellen, dass das sehr schwierig ist«, sagte Bronwyn. Wohlgefällig betrachtete sie ihn, wie er seinen vollen Bauch rieb und wieder vor dem Feuer Platz nahm. »O ja, Prinzessin, das stimmt, um diese Auszeichnung zu be kommen, muss ich nämlich hier in der Wildnis ausharren, ohne dass mir meine Leute helfen, und meinen Mut und meine Schlau heit unter Beweis stellen, indem – äh – ich eine große Tat voll bringe – und wenn möglich, gleich mehrere.« Er zog es vor, nicht noch mehr ins Detail zu gehen des Bildes wegen, das er für seine Gastgeberin von sich und seinem Volk entwerfen wollte. In Wirk lichkeit sahen nämlich die Regeln seines Männlichkeitstestes vor, dass er in die Wildnis gehen und dort – ganz egal wie – einen Profit in Gold machen solle. Da aber dieses Gebiet relativ unbe wohnt war und die Brieftaschen dementsprechend rar waren, hätte auch der versierteste Zigeuner nur einen sehr geringfügigen Profit gemacht, deswegen war die Probe dann auch so schwierig. Von einem zukünftigen König der Zigeuner erwartete man aber, dass er solch unbedeutende Hindernisse überwand. Als ob nicht die Tat als solche schon schwierig genug gewesen wäre, hatte man Jack alles außer seiner Kleidung, seinem Dolch, Feuerstein, Wetzstahl, seiner Zunderbüchse, seinem Verstand und seinem beachtlichen Appetit weggenommen, die schreckliche Großmutter Xenobia hatte dann auch noch zu allem Übel hin Jacks Mutter mit dem Rest der Zigeuner gen Süden geführt, weil 60
der Winter bevorstand. Sie hatten versprochen, bei ihrer Rückkehr an die Ostküste zur Frühlingsschmuggelsaison das aufzulesen, was dann von Jack noch übrig war. Bronwyn und Jack quasselten unaufhörlich weiter. In der Hauptsache ging es dabei um die Verantwortung gegenüber ihrem Volk, er gab großspurige Erklärungen ab, und sie sagte das Ge genteil von dem, was eine Prinzessin gewöhnlich äußern würde. Auf dieses folgte dann wieder eine Erwiderung von Jack, der herausbekommen wollte, was sie eigentlich meinte. Karola fiel nicht viel dazu ein, also pfiff sie zum Zeitvertreib, so dass sich herumliegende Hölzer zu Stapeln aufrichteten, welke Blätter zu tanzen anfingen und Pyramiden bildeten, oder sie flocht ihr Haar, ohne es zu berühren, was sehr kompliziert war. Hin und wieder stand sie auf, um zu sehen, wie es Anastasia ging, deren Zustand aber unverändert war – sie schlief nur, mit dem Kopf unter dem Flügel. Die Wunde hatte aufgehört zu bluten. Als die Sonne unterging, fing der Wind an zu wehen, und Karo la bekam wieder Hunger. »Ich bin hungrig«, verkündete sie laut. »Und meine Mama ist Kunstreiterin und sie reitet auf ihrem Pferd zwischen den Wohnwagen durch und dann springen sie schwuppdiwupp übers Lagerfeuer drüber. Alle wundern sich immer, wie leicht …«, sagte Jack. »Wetten, dass es wie mit meinem Streitross, Donnerhuf, ist. Er kann das auch, nur eben sehr viel besser«, erwiderte Bronwyn. Karola räusperte sich und fragte: »Ist außer mir noch jemand hungrig, ich glaube, ich werde mich nochmals nach einer Fisch mahlzeit umsehen.« Sie hatte eine ganz und gar realistische Vor ahnung, dass ihr die Fische zum Hals raushängen würden, bevor sie dieser Zwangslage entkommen waren. Es sei denn, Bronwyn oder Jack fiel noch eine andere Möglichkeit ein, wie man zu etwas Essbarem kommen könne. Schon der Gedanke daran, dass man einen Hasen oder Vogel durch Singen herbeilockte, um ihn dann zu töten, war abscheulich. Außerdem war sie nicht nur hungrig, sondern fror auch trotz ihres Mantels, den sie von Bronwyn zu rückgefordert hatte. Nun, da sich die Prinzessin getrocknet hatte, 61
schien ihr die Kälte genausowenig auszumachen wie Jack. Das rührte wahrscheinlich daher, dass Bronwyn, obwohl sie im Palast aufgewachsen war, von den Frostriesen abstammte, und was machte schon einem Frostriesen so ein bisschen Kälte aus? Und die Zigeuner waren es ohnehin gewöhnt, sich in der freien Natur zu bewegen. Karola hatte das merkwürdige Gefühl, dass sie zu gunsten der beiden anderen auf alles verzichten musste, was ihr wichtig war. Sie wollte nämlich in ihrem eigenen Bett liegen, das in ihren eigenen vier Wänden war und ihr Haupt auf ihr eigenes Kopfkissen betten und sich mit der gelb umränderten braunen Decke zudecken, die ihre Mutter vor kurzem für sie gewebt hatte. Als sie dann schließlich aufstand, ihr Bein wachschüttelte, das eingeschlafen war, nickten ihr Jack und Bronwyn geistesabwe send zu, offensichtlich hatten sie gar nicht mitbekommen, was sie gesagt hatte – wahrscheinlich weil jeder von den beiden schon doppelt soviel Fisch gegessen hatte wie sie. Langsam stapfte sie durch das Gebüsch zurück zum kiesbedeckten Ufer des Flusses und hockte sich am Wasser nieder. Nun, da er nur noch dahin brauste und nichts Besonderes mehr zu sagen hatte, kam ihr der Fluss ziemlich merkwürdig vor, obwohl sie das Gefühl hatte, dass sie, wenn sie nur aufmerksam genug hinhorchte, das eine oder andere Wort heraushören konnte und sogar so etwas wie einen gleichbleibenden Rhythmus. Aber es war nur ein leises Raunen zu hören, wahrscheinlich hatten der Berg und der Gletscher den Zauber abgefiltert. Sie fror, weil hier keine Bäume wuchsen, die sie vor der Kälte geschützt hätten, als sie sich im Schatten des großen Berges hin hockte, ihre Röcke wickelten sich um ihre Beine und gingen zu beiden Seiten in die gletschergespickte Landschaft über. An den Armen bekam sie eine Gänsehaut, als sie langsam ihre Fischerme lodie pfiff. Es war nicht die fröhliche Weise, die sie um die Mit tagszeit geträllert hatte, sondern ein melancholisches Lied. Die lustige Weise hatte sie gewöhnlich benutzt, wenn sie mit ihrem Papa fischen ging. Er hatte die Melodie gemocht und natürlich fühlte er sich durch ihre Begabung geschmeichelt, weil sie so sehr 62
der seinen glich. Ihre Mama hatte immer gewollt, dass sie ihr Talent zu praktischen Betätigungen verwandte, das Geschirr spülte oder Butter im Butterfass herstellte, aber nicht einmal ihre Mutter sagte nein zu einer ordentlichen Portion Fisch in der Pfan ne. Nach dem ersten Takt kam ein silbrig glänzender Fisch an die Oberfläche des milchigen Wassers geschwommen, klatschend fiel er auf den Uferdamm nieder und wand sich im Rhythmus der Musik. Bald folgte ihm ein anderer und noch einer, dass sie schon drauf und dran war, nach ihren trägen Kameraden zu rufen und von ihnen zu verlangen, die Fische töten und putzen zu helfen, wenn sie etwas von dem Fang abhaben wollten – als sie plötzlich bemerkte, dass sie von einem Instrument begleitet wurde. War es eine Harfe? Nein, viel eher eine Flöte – oder nein, viel leicht war es auch eine Laute, auf der jemand weiter Flussabwärts die Weise spielte, und zwar so weit weg, dass Karola wusste, dass es ihr nichts nutzen würde, wenn sie sich in ihrer unmittelbaren Nähe danach umschaute, und auch bei einem Spaziergang in unmittelbarer Nähe des Lagers würde sie den Musikanten sehr wahrscheinlich nicht ausfindig machen. Dennoch wollte sie es versuchen. Jack und Bronwyn, die pausenlos miteinander weiter schwatzten, würden sie bestimmt nicht vermissen. Was die Fische anbetraf … Bronwyn stürzte aus dem Wald hervor und fuchtelte aufgeregt mit den Armen in der Luft herum. Jack folgte ihr gemesseneren Schrittes und grinste dabei unverfroren. »Sie schläft! Sie schläft!«, rief Bronwyn, »Karola komm schnell, Anastasia schläft jetzt ganz fest!« Die Musik ging im Lärm unter, weswegen sie Karola finster anblickte. »Deswegen brauchst du doch nicht so zu schreien«, fuhr sie Bronwyn an. »Es muss noch jemand anderes hier in der Gegend sein, der mir mein Lied zurückspielt.« Sie hielt die Hand ans Ohr, aber die Musik hatte aufgehört. »Ihr habt sie vertrie ben!«, sagte sie unwillig.
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»Ich gehe gleich wieder zurück und sage Anastasia, dass sie wieder aufwachen soll, wenn du so zu mir bist!«, sagte Bronwyn beleidigt. »Was? Anastasia – oh! Sie ist aufgewacht? Warum hast du das nicht gleich gesagt?« Alle drei kehrten zum Lagerfeuer zurück, wo Anastasia auf sie wartete, die zwar aus ihrer Ohnmacht erwacht war, sich aber sehr elend fühlte und die meiste Zeit schwieg. Aber auch Jack sagte nun nichts mehr und runzelte nur bedeutsam die Stirn, als ob er Probleme im Kopf wälzte, die die Zubereitung einer Fischmahl zeit an Wichtigkeit bei weitem überstiegen. Karola nahm Bron wyns Helm und schlug den Weg zum Fluss ein. »Wohin gehst du?«, fragte er ernst. »Ich dachte, dass Anastasia noch etwas Wasser trinken möchte, bevor wir schlafen gehen.« Er schüttelte den Kopf und sagte gewichtig: »Das würde ich nicht tun, wenn ich du wäre, Karola. Es ist nicht gut, jetzt zum Fluss hinunterzugehen!« » Nicht gut – was meinst du denn damit? Wir sind doch den ganzen Tag über am Fluss gewesen!« Jack senkte die Stimme und ging langsam auf sie zu. Während er dramatisch mit den Händen in der Luft herumgestikulierte, sagte er: »Die Musik könnte von den Wassermännern im Fluss hergerührt haben, die dich herbeilocken wollten. Sie mögen junge Mädchen und haben ihre Schlösser auf dem Grund der Flüsse. Wie aufgebrachte Bauern sind sie mit einer Mistgabel bewaffnet.« Er fing zu zittern an, denn während die Kunde von den Wasser männern ein bloßes Gerede war, waren wütende Bauern aus ei nem Zigeunerleben nicht hinwegzudenken. »Also gut!«, sagte Karola schließlich, obwohl sie insgeheim fand, dass sich die Sache mit den Flussmännern interessant anhör te. Wenn sie diejenigen waren, die gespielt hatten, dann würde sie sie gerne kennenlernen, egal was Jack dazu meinte. Was er sagte, klang ernst, obwohl sie sicher war, dass er wieder einmal über 64
trieb, weil er ihr eben nun mal für sein Leben gern Angst einjagte. Wie dem auch sei, sie war zu müde, um sich mit ihm herumzu streiten. So pfiff sie nur für sich und die beiden anderen ein Lager aus Laub zusammen und eine Laubschicht zum Zudecken. Bron wyn und Jack schliefen sofort ein und kurz darauf hörte sie, wie sich Anastasia hochkämpfte und zum Fluss hinunterhumpelte. Wahrscheinlich ging es der Schwänin schon wieder etwas besser, dachte sie, wenn sie Lust zum Schwimmen hatte. Vielleicht ging es ihr sogar schon so gut, dass sie bald wieder fliegen konnte. Plötzlich setzte sie sich auf. Dichter Nebel umgab sie, den der Fluss in dichten Schwaden ausstieß, so dass sie Mühe hatte, den Weg zum Ufer hinunter zu finden. Von Anastasia fehlte jedoch jede Spur, aber dann war es auch so neblig, dass sie kaum etwas sehen konnte. Sie spürte nur die eisige Nachtluft, die ihr in die Glieder fuhr und konnte die Musik hören, die durch sie herange tragen wurde. Sie hätte zu gerne den Sängern zugerufen, dass sie näherkom men sollten und dass sie sich verirrt hatten, aber sie befürchtete, dass sie Jack dadurch aufwecken würde und dass dieser dann die Musikanten wieder verscheuchen würde. Die Musik schien von weiter Flussabwärts aus der Mitte des Wassers zu kommen. Viel leicht hatten die Musikanten ihr Lager auf einer Sandbank aufge schlagen? Karola watete vorsichtig in den Fluss hinein, aber sie lauschte zu angestrengt der Musik, als dass sie gemerkt hätte, dass es sie gar nicht mehr an den Beinen fror, sobald sie ins Wasser eingetaucht war und dass sie nicht nur die Musik desto besser wahrnahm, je weiter sie hineintauchte, sondern sich auch gleich viel besser fühlte. Bis sie dann schließlich, als sie aus Versehen in ein Loch tappte und mit dem Kopf untertauchte, herausfand, dass sie durch einen akustischen Trick die Musik unter Wasser sogar wie über eine Verstärkeranlage hören konnte. Die Stimme gehörte gar nicht zu einem Wassermann, sondern war die vertraute raue Stimme ihrer Mutter, die Karola durch ihren Gesang Flussabwärts locken wollte, wo sie auf sie wartete. Karola konnte plötzlich so gut schwimmen, wie sie es zuvor nie für möglich gehalten hatte. 65
Obgleich sie schlief, hatte es Bronwyn am Geraschel des Laubs gemerkt, dass sich Karola von ihrem Blätterhaufen entfernt hatte, aber sie hatte angenommen, dass ihre Kusine nur aus allzu natürli chen Gründen von der Abgeschiedenheit des Waldes Gebrauch gemacht hatte. Dass sie dann schließlich doch erwachte, daran war ein Traum schuld und nicht Karola. Sie hatte von ihrer Mutter geträumt, die singend nach ihr gerufen hatte, und obwohl sie nicht wusste, warum, hatte sie der Gesang traurig gemacht und sie wieder mit dem Schmerz und der Sehnsucht erfüllt, über die sie zu der Zeit, als sie ins Exil geschickt wurde, nicht sprechen konnte. Bronwyn schluchzte heimlich vor sich hin und streckte die Hand nach ihrem Schild aus, den sie trostsuchend streichelte, was sie immer tat, wenn sie sich schlecht fühlte. Der Gesang aus ihrem Traum verklang und damit die Erinne rung an die Traurigkeit, obgleich Spuren des Gefühls und ein schwaches Echo der Musik immer noch in der Luft hingen. Bron wyn lag immer noch da und presste ihre Wange an den geschnitz ten Holzschild. Horchend wartete sie darauf, dass Karola zurück kam oder wenigstens im Wald herumbrüllte, dass ein Bär hinter ihr her war und dass Bronwyn doch bitte so gut sein sollte, aufzu stehen und sie zu retten. Das rote Holz war durch den jahrelangen Gebrauch glattgeschliffen worden und Bronwyn glaubte beinahe, dass sie den Bier- und Tabakgeruch von ihres Vaters Händen daran wahrnehmen konnte. Dadurch fühlte sie sich ihm sehr nahe und sehr sicher, wie das schon seit ihrer Geburt der Fall gewesen war. Das Holz stammte von einer Eberesche. Eberesch – das war nicht nur das Wort für Bronwyns Familiennamen, sondern auch das Symbol ihrer Familie und ein Mittel, um die Magie zu bannen. Es stellte natürlich selbst wieder eine Art Magie dar, indem es Zauber bannte, die ihm entgegengerichtet waren. Zu schade, dass sie den Schild nicht bei sich gehabt hatte, als sie der Zauberer verfluchte – oder dann, als sie Karola dazu veranlasste, in den Fluss zu gehen. Sie klammerte sich daran fest und wäre beinahe wieder eingeschlafen, das Geflüster der Musik im Ohr und den Nebel, der durch das Geäst der Bäume webte, vor Augen. 66
Jack setzte sich auf, rieb sich verschlafen die Augen und streute wahllos Blätter umher. »Mama?«, fragte er mit der Stimme eines kleinen Kindes, dann fügte er in gedämpftem Ton etwas Klagen des hinzu, das der Zigeunersprache entnommen zu sein schien. Bevor es bei Bronwyn dämmerte, dass er nicht sie meinte, war er aufgestanden und machte Anstalten, zum Fluss hinunterzugehen, unverdrossen bahnte er sich seinen Weg durch die Büsche, und es schien ihm nichts auszumachen, dass ihm ihre Äste ins Gesicht schlugen und ihn ihre Blätter durch die Ansammlung von Tau und feuchtem Dunst durchnässten. Bronwyn machte selber die Erfah rung, wie feucht sie waren, denn sie musste ihm natürlich nachge hen. Wenn er nämlich sein Schlafwandeln fortsetzte, konnte es passieren, dass er das gleiche tat wie Karola und geradewegs in den Fluss marschierte. Dann würden sie beide womöglich noch nasser werden. Sie holte ihn jedoch schnell ein und konnte ihn gerade noch packen, als er mit dem linken Fuß das Wasser berührte. Als sie ihn an der Schulter fasste, um ihn zurückzuziehen, drehte er sich nach ihr um und blinzelte sie verwirrt an. »Jetzt hör mir mal gut zu, mein Freund. Ich weiß zwar, dass jetzt die günstigste Zeit ist, um nächtlicherweise ins Wasser hi nauszu-waten, aber …« Sie kam nicht weiter, denn dem Wasser schwall, der über die Ufer des Flusses schwappte, folgte unmittel bar Ana-stasias schwarze Gestalt, die aus dem Nebel hervor rauschte. Als sie an der Stelle anlangte, wo Jack und Bronwyn standen, machte die Schwänin einen unbeholfenen Versuch, mit den Flügeln zu schlagen, wobei ein Flügel nur halb ausgestreckt blieb. Ihre Stimme war so schrill wie die des obersten Zimmer mädchens nach einem unglückseligen Kampf, den Bronwyn einst mit ihren neuen Bettvorhängen ausgefochten hatte. »Bronwyn, ach Bronwyn, versuch nicht, sie zu retten! Sie hat es aus eigenem Antrieb getan – sie – sie ist weggeschwommen! Ich konnte nichts mehr tun, um sie zurückzuhalten, um sie zu warnen. Du musst dich selber retten! Stopf dir die Ohren zu und höre nicht auf die Sirenen! Ach, sie sind entsetzlich, ich kann dir ein Lied 67
davon singen! Eine davon hat sogar versucht, meinen alten Herrn und Gebieter zu verführen! Keiner kann – Pass auf den Jungen auf!« Während die Schwänin drauflosschwatzte, hatte Jack seinen Ärmel aus Bronwyns Griff befreit und watete in den Fluss hinein, so dass ihm das Wasser bald bis zum Schienbein ging. Bronwyn, die froh war, dass sie ihre Rüstung ausgezogen hatte, bevor sie sich zur Ruhe legte, stapfte nun hinter dem Zigeuner her, zog ihn wieder aus dem Wasser und musste ihn mehr oder weniger zum Ufer zurücktragen. Er wehrte sich nicht, aber schaute verwirrt drein. »Was machst du denn da?«, fragte er schließlich in einem ganz normalen Ton. »Sirenen!«, antwortete Anastasia an Bronwyns Stelle, »sie ha ben das Mädchen erwischt!« »Aber du«, sagte Bronwyn zu Jack, während sie ihn mit dem Arm hielt, der sonst mit einem Schild bewehrt war und mit einer schwungvollen Bewegung der Hand, die sonst das Schwert hielt auf seine nassen Hosenbeine zeigte, »bist ja viel zu klug, als dass du dich auf die gleiche Weise reinlegen lassen würdest!« »Von einer schönen Frau lasse ich mich jederzeit reinlegen«, erwiderte Jack, der versuchte, ihr einen glühenden Blick zuzuwer fen, dabei aber eher verschlafen aussah und keinen Versuch mach te, sich aus ihrer einseitigen Umarmung zu befreien. »Offenbar ist aber das Fräulein Karola trotz meiner Warnung auf die Fischmu sik geflogen, aber wie bist du eigentlich entkommen, wo sogar ich auf den Zauber hereingefallen bin?« »Kraft meiner Persönlichkeit und meines überlegenen Verstan des«, erwiderte Bronwyn und nickte bedeutungsvoll zu ihrem Schild hinüber. Daraufhin lud sie zuerst Jack ins Boot und stieg dann selber hinein. Einen Moment lang schweiften seine Blicke unschlüssig von Bronwyn zu ihrem Schild und wieder zu Bronwyn zurück. Dann grinste er übers ganze Gesicht und sagte: »Aha, eine Geheimwaf 68
fe! Aber das war ja klar, dass meine Prinzessin eine Geheimwaffe haben würde!« Er eilte zu der Hand, die gewöhnlich den Schild hielt und sagte: »Fürchtet euch nicht, Hoheit, mit eurer Größe, dem Wunderschild und meiner Schlauheit werden wir Karola schon noch aus den Fängen dieser Fischfrauen befreien! Und wenn wir Karola befreit haben, werden wir die Sirenen auch noch dazu zwingen, dass sie uns den versunkenen Schatz, den sie eben falls in ihrem Besitz haben, herausrücken!« »Du kleiner, dummer Räuber, du weißt ja überhaupt nicht, wo von du sprichst!«, sagte Anastasia, die neben dem Boot aufflatter te. »Die Sirenen sind die gefährlichsten Kreaturen, die man sich vorstellen kann! Sie werden euch töten und ich werde euch nicht einmal helfen können – oh, so wartet doch!« Sie brach abrupt ab, als das Boot plötzlich Flussabwärts schaukelte. »So wartet doch, bis meine Wunde geheilt ist, ich kann euch ja nun nicht einmal ziehen, aber …«, rief Anastasia, als sich das Boot, das von der Strömung erfasst und immer schneller wurde, zusehends von ihr entfernte. Aber die Schwänin entdeckte, dass sie noch ein biss chen schneller schwimmen konnte und rief zu ihnen hinüber: »Nun gut, ich komme ebenfalls dorthin. Wenn die Rangen sehen, dass ich bei euch bin, getrauen sie sich vielleicht nicht, etwas zu unternehmen – ich, die schließlich weiß, wie schmachvoll ihre tückischen Tricks in Wirklichkeit sind. Ihr müsst nur auf mich warten!« Das Boot fuhr allerdings schon um die nächste Flussbie gung herum. Seufzend flog Anastasia im Sturzflug in die Mitte des Flusses, wo die Strömung am stärksten war. Auch wenn sie von den Kindern getrennt wurde, war es doch unmöglich, sich zu verirren, denn die Sirenen konnten nur im Meer sein. Unweiger lich würde aber der Fluss sowohl sie wie auch das kleine Boot ins Meer entlassen.
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IV
Was die zwei Seelen in Karolas Brust anbetraf, so war die eine davon wenigstens nicht überrascht, als Karola sah, dass sie nicht von ihrer Mutter, sondern von ein paar Seejungfern erwartet wur de. Obgleich sie unbedingt den Gesang hatte erforschen wollen, sagte sie sich, dass sie vor allem neugierig war und nicht so ge bannt war von der Musik, wie es sich für die Opfer der Sirenen eigentlich gehörte. Andererseits schienen aber die Sirenen erstaunt zu sein, Karola zu erblicken. Die Nixen tummelten sich im seichten Wasser in der Nähe der Küste, wo der Fluss breiter wurde und ins Meer überging. »Sieh nur, Cordelia!«, rief die grünhaarige und deutete von ih rem Sitz auf dem Höcker einer silbergefleckten Seeschlange, die halb unter Wasser war, auf Karola. »Es ist ein kleines Kind mit einem geteilten Schwanz!« »Und zu allem hin auch noch ein Mädchen!« Ihre Freundin, die dies sagte und deren Haar violett war, klang enttäuscht. Die Seejungfern hatten aufgehört zu singen, so dass Karola un gehindert ans Ufer schwimmen konnte, um die Nixen – wieder sicher auf beiden Beinen stehend – zu begrüßen. Nach dem zu urteilen, was ihr Vater über die Gepflogenheiten der Seejungfern erzählt hatte, war es sehr unwahrscheinlich, dass diese sie erträn ken würden, aber man konnte ja schließlich nie wissen! Eigentlich sah die erste Seejungfer genauso aus wie die, die ihr Vater in seinem Lied beschrieben hatte. »Hallo«, sagte Karola, weil ihr gerade nichts Besseres einfiel, »gibt es eigentlich viele grünhaarige Wassernixen oder bist du Lorelei, die Nixe, die mein Vater kennt?« »Wer ist denn dein Vater?«, fragte die Seejungfer mit dem vio lettfarbenen Haar. »Habe ich dir nicht gesagt, Schwester, dass wir jenes Schiff nie hätten ziehen lassen dürfen«, fügte sie, an ihre grünhaarige Begleiterin gewandt, hinzu. »Diese Männer lassen 70
sich offenbar gegenüber ihren Kindern darüber aus, wie leicht wir übers Ohr zu hauen sind, und prompt haben wir hier auch schon eine von diesen Rangen, die unsere Gutmütigkeit ausnützen will!« »Was meinst du denn mit ausnutzen?«, fragte Karola. »Ich habe mich wirklich um meine eigenen Angelegenheiten gekümmert, und ihr habt mich herbeigerufen, indem ihr die Stimme meiner Mutter nachgeahmt habt! Ich weiß das nämlich ganz genau, weil meine Mutter in Königinstadt ist. Außerdem hat mir mein Papa in der Ballade, in der beschrieben wird, wie er und Mama die Köni gin aus der Gewalt des Zauberers befreiten, erzählt, wie ihr die Stimmen von anderen Leuten annehmt.« »Nanu, beim großen Seestern, Cordelia! Ist denn so etwas mög lich! Du brauchst dich jetzt gar nicht mehr aufzublasen wie ein Kugelfisch, da sie ja eigentlich zu uns gehört. Nun, ich könnte wetten, dass sie zum Fluss kam und den Fischen aufgetragen hat, uns von ihrer Anwesenheit in Kenntnis zu setzen, damit wir sie holen würden. Meinst du nicht auch, dass es so war, Liebes? Na, lass dich mal anschauen. Hmmm, abgesehen von deinem geteilten Schwanz und den dunklen Haaren, bist du ja eine richtige kleine Sirene! Bist du denn schon in der Schule, und wie geht’s denn dem lieben Papa?« »Meinem Papa geht’s gut. Er hat mich in Musik und argonischer Geschichte unterrichtet, meine Mutter bringt mir magische Ethik bei und Prinzessin Pegien hat mich die Runensprache und Kalli graphie gelehrt, als ich noch ein ganz kleines Kind war.« »Aber bist du denn schon in der Schule? Ach, liebe Cordelia, ich glaube kaum …« »Es sieht diesen Mischlingen wieder einmal ähnlich, dass sie die Erziehung ihrer Kinder vernachlässigen und sie dann auf uns loslassen, damit wir die Sache wieder zurechtrücken. Ich würde sie am liebsten ertränken!« »Sei doch nicht so giftig!«, fuhr sie Lorelei an, die vom Rücken der Seeschlange heruntersprang und zu Karola hinüberschwamm, um sie vor Cordelia zu beschützen. »Du hast doch gesehen, wie 71
sie den Fluss heruntergeschwommen ist«, sagte Lorelei, »Colins Kinder können viel zu gut schwimmen, als dass sie untergehen würden, weil sie ja schließlich unserem Geschlecht entstammen!« Karola war sehr erleichtert, als sie dies hörte. Weder ihre Mama noch ihr Papa hatten so richtig gewusst, wieviel sie von dem einen oder anderen geerbt hatte. Obgleich ihr Papa Wasser sehr gern mochte, hatte ihre Mama eine Abneigung dagegen, die von der Furcht herrührte, dass Hexen durch zuviel Berührung mit dem feuchten Element schmelzen würden. Einmal war dies offenbar einer Vorfahrin der Graus widerfahren, aber das lag schon lange zurück. Wenn Lorelei der Meinung war, dass Karola gut genug schwimmen konnte, um sich vor Seejungfern zu schützen, dann war sie zufrieden. Sie ging noch ein bisschen näher an den Saum des Wassers heran und setzte sich mit übereinandergekreuzten Beinen hin. Da Lorelei die Freundlichere zu sein schien, wandte sich Karola an sie und fragte: »Ich hatte gedacht, dass ihr nur im Ozean durch euer Singen Schiffe an irgendwelchen Felsenriffen zum Kentern bringen könnt, warum habt ihr denn dieses Mal Flussaufwärts gesungen?« Lorelei fing an, übermütig zu lachen und schüttelte dabei ihre grüne Mähne zurück, dann sah sie Karola ganz scharf an, so wie Urgroßmutter Grau, nachdem ihre Augen immer mehr nachgelas sen hatten. »Die Fische haben’s uns natürlich erzählt, du Dum mes! Du hast doch hoffentlich nicht gedacht, dass du so nahe am Meer Fische durch dein Singen anlocken könntest, ohne dass wir etwas davon erfahren!« »Eigentlich habe ich ja gepfiffen«, sagte Karola. Lorelei war ja so hübsch und hatte große, grüne Augen – was machte es schon aus, wenn sie ein bisschen kurzsichtig war –, und Karola wünsch te, dass ihr eigenes Haar die gleiche Chartreuse-Farbe hätte wie das der Wassernixe und dick und glatt wäre anstatt ganz gewöhn lich braun zu sein und lockig. »Soll – soll ich’s dir vormachen?« »Auf keinen Fall!«, sagte Cordelia bestimmt und versetzte dabei der Seeschlange einen Hieb mit ihrem Fischschwanz. Cordelia war nicht so hübsch wie Lorelei, ihr lavendelfarbenes Haar passte 72
nicht so recht zu der weißlich-blassen Hautfarbe und ihre Augen waren kleiner als die von Lorelei und ihr Mund verkniffener. Lorelei hatte oberhalb ihres glänzenden Fischschwanzes nichts an, außer ein paar sorgfältig drapierten Haarsträhnen, während die prüde Cordelia ein Fischnetz mit tropfenden Algen fest um ihre Schultern geschlungen hatte. »Wir können schließlich nicht zulas sen, dass alle unsere Fische Selbstmord begehen, nur damit du dich aufspielen kannst!«, sagte sie missmutig. »Das wollte ich ja gar nicht«, begehrte Karola auf, »ich kenne noch eine ganze Menge anderer!« Lorelei bespritzte ihre Kollegin mit Wasser und sagte zu Karola: »Nur zu, Kleine, hör nicht auf Cordelia. Sie ist nur wütend, weil keine Fischerboote mehr zum Spielen da sind, seit Brazoria be gonnen hat, sie in den Krieg abzukommandieren. Und sie ist ja solch ein fürchterlicher Geizkragen, ich kann sie einfach nicht dazu überreden, mit mir zum Golf hinunterzuschwimmen, wo das ganze Amüsement ist. Ich würde mir dein Lied gerne anhören. Bitte pfeif mir etwas vor!« »Lorelei!«, fuhr sie Cordelia an. Die grünhaarige Sirene schwamm unter der Wasseroberfläche zu Cordelia hinüber und tauchte unmittelbar vor ihr auf. »Wir müssen doch testen, was sie alles kann, nicht wahr?«, sagte sie zu ihrer Kollegin. »Müssen wir wirklich?«, erwiderte diese gelangweilt, aber sie machte ein Zeichen mit der Hand, dass sie fortfahren sollten. Karola war nun zwar ziemlich demotiviert, aber mit Hilfe von Loreleis ermutigendem Lächeln hatte sie bald eine wunderschöne Sandburg gebaut, indem sie Sandkörner in die ganz spezielle Form pfiff. Natürlich musste sie sich ziemlich fest darauf konzen trieren, dass die Türeingänge nicht zusammensackten oder die Mauerzacken austrockneten und von den Türmen herabfielen, aber aus dem Augenwinkel konnte sie beobachten, wie sich die Seeschlange zu ihrer Melodie sanft wiegte, und sogar Cordelia schien beeindruckt zu sein. 73
»Ich könnte auch noch die Mauern mit Seemuscheln verklei den«, sagte Karola schließlich, »aber ich glaube, das wäre dann wirklich Angeberei!« »Aber nein, Kleines, wir wollen doch, dass du dich aufspielst! Wie ich meiner lieben Schwester schon gesagt habe, müssen wir doch rauskriegen, was du schon alles kannst, bevor wir deine weitere Erziehung in die Hand nehmen. Es wird ohnehin ziemlich schwierig, bis aus dir einmal eine richtige Sirene wird, wegen dieses Geburtsfehlers, mit dem du behaftet bist und der in deinem geteilten Schwanz besteht, aber wenn deine übrigen Talente dem entsprechend sind, wer weiß, was …« Plötzlich tauchte die See schlange Cordelia ganz unsanft ins Wasser, die Schlange, die nun eine einzige Windung war, konnte Karola gerade noch an sich vorüberflitzen und im Flussbett verschwinden sehen, als sie auch schon einen ganz vertrauten Schrei hörte, der von einer männli chen Stimme gefolgt war, die in einer rauen, fremden Sprache fluchte und Bronwyn, die rief: »Mit der Eberesche gegen die Magie!«, was der Schlachtruf ihrer Familie war. Nachdem das laute Geschrei etwas verhallt war, sah Karola wieder die Windung des Seeungeheuers zurückkehren, die aber dieses Mal nicht mehr leer war. »Sei unbesorgt, Karola«, rief Bronwyn, »wir werden dich schon retten!« Das war ziemlich unsinnig, denn das Ungeheuer hatte nun noch eine weitere Schlinge um sich gelegt, so dass eine zusätzli che Windung Jack und Bronwyn aneinanderdrückte. Die Arme der beiden Kinder waren fest eingeklemmt, so dass nicht einmal mehr Bronwyn ihr Schwert freibekommen konnte. »Bring das Monster dazu, dass es sie loslässt«, flehte Karola die Wassernixe an, »es sind Freunde von mir!« Aber Lorelei war untergetaucht, als die riesige Schlange an ih nen vorübergepeitscht war, und auch Cordelia war nicht zu sehen. Karola fing an, laut zu pfeifen, so dass man sie auch noch eine Meile vom Ufer entfernt hörte. Als der Kopf des Seeungeheuers aus dem Wasser auftauchte, sang Karola wieder das Lied, das ihr geholfen hatte, die Sandburg zu bauen, und ließ es in einen ruhi 74
gen Linientanz ausklingen, bei dem sich die Bestie auseinander rollte und in einer Linie liegenblieb und Jack, Bronwyn und das Boot freiließ. Als Karola die Schiffbrüchigen an Land zog, fühlte sie eine un erklärliche Wut in sich aufkeimen. »Was macht ihr denn hier?«, fragte sie ungnädig. »Wir wollen dich retten«, erwiderte Bronwyn. »Aber ich will gar nicht gerettet werden. Ich habe gerade meiner neuen Freundin Lorelei meine Magie gezeigt. Sie findet, glaube ich, dass ich eine ziemlich gute Seejungfer abgeben würde.« In einiger Entfernung von der Küste nahm die Seeschlange ihre gewohnte Auf-und-Ab-Haltung ein und die beiden Seejungfern tauchten wieder an der Wasseroberfläche auf, Cordelia nahm wieder ihren Sitz auf dem Buckel des Monsters ein und versäumte es nicht, der Seeschlange eine Lektion zu erteilen, indem sie ihr Seitenhiebe mit ihrem Fischschwanz verabreichte, während Lore lei einen doppelten Salto in der Luft vollführte, untertauchte, um dann wieder zu Karolas Füßen an der Oberfläche zu erscheinen. »Das war ganz toll, Kleines, wie du Ollie dazu gezwungen hast, deinem Willen zu gehorchen!«, sagte die Sirene, die mit ihren großen grünen Augen Jack und Bronwyn anstarrte, während Anastasia, die sich flatternd neben ihnen niederließ, ihre Neugier de weniger reizte. »Wer sind denn die?«, fragte sie Karola. Dann, bevor Karola antworten konnte, deutete die Seejungfer auf Bron wyn und sagte: »Das kommt mir bekannt vor!« »Lorelei«, sagte Karola voller Stolz, obwohl sie nicht hätte sa gen können, ob es sie mehr reizte ihre Kusine, die Prinzessin ihrer neuen Freundin, der Seejungfer vorzustellen oder umgekehrt. »Ich möchte dir Ihre Königliche Hoheit, Prinzessin Bronwyn Eberesch, Kronprinzessin von Argonien und – äh – Jack vorstellen. Die Schwänin ist ebenfalls eine Prinzessin!« »Ja, Liebes«, sagte Lorelei, die den letzten Teil der Vorstellung mit einer gelangweilten Bewegung ihrer Hand quittierte, zwischen deren Finger sich feine Schwimmhäute spannten. »Sind sie doch 75
alle«, fuhr sie fort. »Welche von euch kleinen Elritzen ist denn nun welche? Ihr seht für mich nämlich alle gleich aus!« »Wir sind«, sagte Bronwyn, »auch vollkommen gleich!« »Äh – was sie meint, ist, dass wir das gleiche Problem haben.« Karola versuchte Bronwyns Aussagen zu erklären, »in Wirk lichkeit ist es Bronwyns Problem, aber insofern auch eine patrioti sche Angelegenheit.« »Hat sie auch so etwas wie einen Vater?«, fragte Lorelei unver mittelt und sah sich dabei Bronwyn aus der Nähe an. »Noch grö ßer und mit korallenfarbenem Haar?« Bronwyn fühlte sich geschmeichelt. »Nein, in Wirklichkeit bin ich das erste Mädchen in Argonia, das aus der Verbindung zwi schen einer Frau und einem Baribal hervorgegangen ist!« »Mach dir nichts draus, Lorelei!« Karola schrie ihre prahleri sche Kusine förmlich nieder. »Das ist ein Teil ihres Problems. Sie ist verflucht, und Jack und Anastasia die Verführerische haben gelobt, ihr zu helfen.« »Ja, ist das nicht ganz allerliebst?«, sagte Lorelei, aber machte dabei keinen sehr interessierten Eindruck. »Ich würde sagen, dass die Rangen deine Schulungspläne für Colins Sprössling eher durchkreuzten, was meinst du, Schwester herz?«, fragte Cordelia, die ihren Kamm in Richtung der Neuan kömmlinge schwenkte und mit einer verdächtig süßen Stimme hinzufügte: »Aber die werden im Meer nicht lange überleben!« »Nein, das glaube ich auch nicht. Sag mal, Kleines, du hast doch nichts dagegen, wenn wir sie alle ertränken? Alles geht ganz schnell und ist kein bisschen qualvoll. Sie würden nichts davon merken und wir hätten einen Riesenspaß dabei!« »Kommt gar nicht in Frage!«, erwiderte Karola, »ich sagte dir doch schon, dass sie meine Freunde sind!« »Aber wenn du nun in der Schule bist – du meine Güte –, was soll dann mit den beiden so lange geschehen? Wir können euch nicht ertränken, aber wir können es uns auch nicht leisten, alle 76
Sterblichen entkommen zu lassen. Cordelia ist bereits furchtbar wütend auf mich wegen …« und dabei sah sie Bronwyn wieder an, »wegen dieses Riesen mit dem korallenfarbenen Haar«, fuhr sie fort, »und dieses aalglatten Zauberers!« Sie schaute sich flehentlich nach Cordelia um, die nur aufseufz te, ihren Schal zurechtzupfte, von der Schlange herunterglitt und zu den anderen herüberschwamm, um sich das Ganze einmal aus der Nähe zu besehen. »Nun ja«, sagte Cordelia, nachdem sie sich alles angeschaut hat te, »sie ist ja wirklich begabt, und heutzutage wird ja nicht mehr in ausreichendem Maße für Nachwuchs gesorgt, aber sie muss natürlich zuerst lernen, die Dinge ordentlich zu tun. Und ich finde, da wir ja unseren Ollie haben, könnten wie sie dort ruhig als Haustiere halten lassen. Wir könnten sie ja sicherheitshalber aufs Atoll bringen, obwohl ich bezweifle, dass sie dies mögen.« »Ihr seid ja wirklich ganz bezaubernd«, sagte Jack, indem er sich vor den beiden Seejungfern ganz tief verbeugte. »Aber wie schon unser Fräulein Karola erwähnt hat, haben wir einen Auftrag im Namen von Ihrer Königlichen Hoheit zu erfüllen, den wir uns wirklich unter gar keinen Umständen ausreden lassen können …« Aber Cordelia hatte bereits die Seeschlange angewiesen, wieder zum Strand zurückzukehren, wo sie sich einmal um Bronwyn schlang und diese mit sich fortnahm. Lorelei lächelte Karola holdselig an und hielt ihr die Hand hin, während sie ein Liedchen vor sich hinsummte. Solch ein bezauberndes Lied, musste Karola denken, und die beiden waren ja so wunderhübsch! Nach diesem Lied zu urteilen, das begriff sie nun, musste die Schulung etwas ganz Fabelhaftes sein, und sie fühlte, dass sie das auch unbedingt lernen musste, was ihr die beiden Seejungfern beibringen wollten. Schließlich gehörten sie genauso zu ihrer Ahnenreihe wie die Hexen, und über die Hexerei wusste sie ja schon Bescheid. Sie musste sich unbedingt von den beiden schulen lassen. Wenigstens eine Zeitlang. Bronwyns Fluch hatte ja schließlich schon ihr gan zes Leben lang gedauert und konnte daher noch ein Weilchen
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warten. Wie in einem Traum glitt sie ins Wasser und schwamm auf Lorelei zu. Ohne das miese Wetter wäre das Atoll der Seejungfern gar kein so übler Aufenthaltsort gewesen. Nirgends konnten sich die Men schen vor den Windböen schützen, die über den nackten Fels hinwegfegten und die graue See aufrührten, deren zermalmende Wassermassen die Szenerie ausschließlich bestimmten. Anastasia hatte es da etwas besser, denn die Klippen, die vom Atoll abfielen, bildeten in ihrer Mitte einen kleinen, windgeschützten Tümpel mit klarem blauem Wasser, in dem der Schwan schwimmen konnte. Und jeden Morgen, sobald sie ihren Kopf unter dem Flügel her vorgezogen hatte, schwamm Anastasia unablässig hin und her, vor und zurück. Ihr Gefährt, das sie hinter sich hergezogen hatte, als sie auf dem Rücken der Seeschlange zum Atoll geritten war, lag an einer Seite des Tümpels vor Anker. Bronwyn fand es seltsam, dass die Schwänin ihr Gefährt nicht aufgeben wollte, an das sie seit so langer Zeit gefesselt war, nun, da eigentlich die günstigste Gelegenheit dazu gewesen wäre, aber wahrscheinlich war es die Vertrautheit mit dem Gegenstand zusammen mit der Tatsache, dass das Boot nun das einzige war, was die Schwänin noch besaß und ihr Verantwortungsbewusstsein gegenüber diesem Besitz noch erhöhte. Aber Boot hin oder her, Anastasia war deswegen auch nicht glücklicher als Jack oder Bronwyn, auf dem Atoll festzusitzen. Obwohl das Wasser des Tümpels kaum salzig war, wenn es sich nicht gerade einmal zufällig mit der außergewöhn lich hohen Brandung vermischte, wuchsen dort nicht die Pflanzen, die Anastasia so gern mochte. Wie die anderen auch, war sie daher gezwungen von Algensalat zu leben. Karola bekam die Kälte und Nässe weniger zu spüren als Jack und Bronwyn. Sie musste es ja nur den Seejungfern gleichtun und im Wasser untertauchen, um sich wohl zu fühlen. Cordelia und Lorelei sorgten schon dafür, dass sie die meiste Zeit im Wasser war, öfters banden sie ihr die Füße zusammen, um ihr wenigstens beizubringen, richtig zu schwimmen und nicht nur mit den Füßen 78
zu treten. Als sie versucht hatte, mit Jack und Bronwyn über ihren Unterricht zu sprechen, hatte sie Cordelia gescholten und gesagt: »Geschöpfe mit geteiltem Schwanz verstehen nicht viel mehr von dem, worauf es ankommt, als ein Stück Treibholz. Du musst noch eine ganze Menge dazulernen, um über deine Behinderung hin wegzukommen und so zu werden, dass man dich auch in unseren Kreisen, wenn auch als eine etwas abartige Wassernixe anerkennt. Du musst dich wirklich ganz auf deine Lektionen konzentrieren und dabei nicht mit diesen anderen quatschen.« Einen Augenblick lang schaute Karola genauso jammervoll drein, wie es Jack und Bronwyn ums Herz war. Bronwyn hatte gehofft, dass sich Karola so langsam einen Fluchtplan ausdenken würde. Vielleicht wäre auch Anastasia in ein paar Tagen wieder soweit hergestellt, dass sie sie nacheinander wieder zum Festland zurückfliegen könnte, während die Seejungfern Karola gerade zeigten, wie man Schiffe auskundschaftete oder sie zu einer Be sichtigungstour an ihren ehemaligen Eroberungen vorbei mitnah men – Schiffswracks, die tief unter den Wellen begraben waren. Aber in dieser Nacht war das Wetter klar, als Karola über die Felsen wieder zu ihren Freunden hinaufkletterte, um bei ihnen die Nacht zu verbringen. Die Seejungfern gesellten sich zu ihnen, und Lorelei sang ihnen allen etwas vor und flocht dabei Perlen in Karolas Haar. Der blöde Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Kusine verriet Bronwyn, dass wenn sie und Jack jetzt fliehen würden, Karola sie nicht begleiten würde. Ihr selber machte das zwar nichts aus, da sich die dumme kleine Hexe neuerdings so albern aufführte, aber Tante Gretchen würde etwas dagegen haben; und wäre es nicht furchtbar schade, wenn sie nun all diese gefährli chen Abenteuer bestände, nur um bei ihrer Rückkehr von der eigenen Tante umgebracht zu werden? Aber so wenig sich Karola auch um das Wohlergehen ihrer Freunde zu kümmern schien, für die Seejungfern blieben sie trotzdem ein Stein des Anstoßes. In einer anderen Nacht, die die beiden Wassernixen bei ihnen auf dem Atoll verbrachten, hatte Lorelei hänselnd gefragt: »Wenn du mir wenigstens erlauben 79
würdest, den Jungen zu ertränken, damit ich nicht ganz aus der Übung komme, weil es schon gar so lange her ist, dass hier ein Schiff durchgekommen ist!« Karola hatte sich von Loreleis Kamm losgerissen und kicherte, so als ob sie meinte, dass die Nixe nur einen Spaß gemacht hätte. »Nein, Dummerchen«, sagte sie, indem sie einen von Loreleis Lieblingsausdrücken benutzte, »natürlich kannst du ihn nicht ertränken!« Cordelia, die gerade damit beschäftigt war, Perlen auf ihren Schal aus Fischnetz aufzureihen, schlug ungeduldig mit ihrem Fischschwanz auf den felsigen Boden und sagte: »Für uns gibt es kein ›Natürlich könnt ihr das nicht tun!‹, Kleines! Das hier ist unser Territorium und ihr seid nur unsere Gäste – also wäre ich dir dankbar, wenn du dich dementsprechend benehmen würdest! Ich hätte selber gute Lust, ihn zu ertränken, nur um dir eine Lektion zu erteilen!« Jack, der schon am Ende des ersten Tages sein großspuriges Gehabe ablegte, an dem er nur Algensalat zu essen bekam und vom Wasser vollkommen durchweicht worden war, konnte da nach wirklich nicht mehr anders, als unglücklich auszusehen. »Wenn du das tust, dann lasse ich euch nie mehr ein Schiff ka pern!«, sagte Karola. »Ich schwöre euch, dass ich sie alle vor euch warnen werde!« »Hmmm«, sagte Cordelia, »das wird dir allerdings nicht gelin gen, denn wie du selbst weißt, kann keine Schiffsmannschaft dem Sirenengesang widerstehen!« »Doch, das kann sie – wenn sie damit beschäftigt ist, nach der Melodie zu tanzen, die ich ihnen vorpfeife, dann hört sie über haupt nichts, das kann ich euch versprechen!« Um es ihnen vorzumachen, spitzte sie die Lippen und pfiff eine flotte Tanzweise, welche die Seejungfern dazu veranlasste, dass sie zuerst in die Hände klatschten und mit ihren Fischschwänzen den Takt schlugen. Dann tauchten sie ins Meer, wo sie wie die Delphine herumtollten, die ein bisschen weiter draußen waren. 80
Glücklicherweise war die Seeschlange gerade in irgendeiner Angelegenheit unterwegs, sonst hätte sie wohl auch versucht zu tanzen und dabei die ganze Insel mit Meerwasser überschwemmt, wodurch ihr Wasser dann zum Trinken zu salzig geworden wäre. Jack und Bronwyn tanzten über die Felsen, drehten einander im Kreis herum, wobei sie Kies aufwirbelten und mit den Füßen an die Steine stießen, bis Bronwyns Fuß zufällig an ihren Schild stieß. Als sie ihn berührte, hörte der Zauber bei ihr wenigstens so lange zu wirken auf, dass sie den Schild und Jack packen konnte. Erleichterung erfüllte sie, als sie mit Jack erschöpft an den Felsen niedersank, und sie war froh, dass sie nicht in ihr Verderben ge tanzt waren. Lorelei tauchte wieder vor der Insel auf mit Wangen, die vor Anstrengung ganz rosig waren. Beide Seejungfern schafften es, sich an den Felsen hochzuziehen, obwohl sie immer noch auf eine furchterregende Weise in die Hände klatschten und mit den Fisch schwänzen schlugen, so dass sich durch die wilden rhythmischen Verrenkungen schillernde Schuppen lösten, die auf die Felsen nie derregneten. »O hör doch auf!«, keuchte Lorelei, »Cordelia – paff – bring sie doch endlich dazu aufzuhören. Ich werd bestimmt in all dem Sauerstoff ertrinken, wenn ich das noch sehr viel länger weiter machen muss!« Cordelia musste schließlich kapitulieren, und danach ließen die beiden Nixen Bronwyn und Jack für geraume Zeit völlig links liegen, obwohl sie mit Karola sehr viel strenger verfuhren und darauf bestanden, dass sie singen solle anstatt zu pfeifen, wie es die richtige Sirenenart sei und versuchen solle, die sprudelnde Sprache zu erlernen, in der sich die Seejungfern mit Ollie und den anderen Meerbewohnern unterhielten und sich ganz bestimmte Locklieder in dieser Sprache anzueignen. Eines Tages begann Lorelei damit, Karola das Wackeln mit dem Oberkörper beizubringen. Dieser Abschnitt in der Erziehung der Hexe stellte insbesondere für Jack eine enorme Abwechslung dar, da Lorelei meinte, dass sie das erotische Gewackele immer wieder 81
demonstrieren müsse. Irgendwie schien Karola nicht den Dreh rauszukriegen, was kein Wunder war, da sie ja nicht nur zu jung war, um die nötigen Voraussetzungen zu einer ordentlichen Aus führung der Aufgabe zu haben, sie war auch zu streng erzogen worden, als dass sie so mir nichts, dir nichts ihr Unterhemd aus zog, egal was die beiden Seejungfern taten, und so verdarb sie sich schon von vornherein jede noch so geringe Wirkung, die sie hätte erzielen können. Nicht einmal Nässe und Kälte konnten sie davon abhalten, laut aufzulachen. An diesem Abend wurde das Abendessen noch lustiger durch Cordelias Abwesenheit. Eine Muräne hatte nämlich eine Botschaft überbracht, die sehr dringlich klang und von einer Herde von Seehunden stammte. So wenigstens hatte es Lorelei den drei Kindern erklärt, als sie ihnen ihren Meeresfrüchtesalat brachte, und die gute Cordelia hatte einfach die Antwort persönlich überbringen müssen. »Ich weiß, dass sie manchmal ganz unerträglich ist, aber sie ist eben auch sehr gewissenhaft, was die Verwaltung dieser Gewässer anbetrifft, mit der sie betraut ist.« »Verwaltung?«, fragte Jack, der mit dem Dolch eine schleimige grüne Algenschnur hin und her schob, »wenn ihr all diese Schiffe zerstört, ist das ja eine reichlich merkwürdige Bezeichnung da für!« Anastasia hielt vorübergehend in ihrer Gleitbewegung inne, um ihm eine Rüge zu erteilen: »Ich muss mich doch sehr wundern, dass sich sogar ein junger Kerl wie du so weit herablässt, um mit diesen – diesen …« Aber Bronwyn, die froh darüber war, dass sich nach einer Wo che, in der die Schwänin nur schweigend und kampflustig in ihrem Tümpel herumgeschwommen war, Jack aber geschwiegen hatte, als ob er krank wäre und sich die Seejungfern und Karola nur untereinander verständigten, endlich wieder die Möglichkeit zu einem gemeinschaftlichen Gespräch bot, ermutigte Lorelei sogar dazu, weiterzureden. »Ich glaube, dass es eine Heidenarbeit ist, zu entscheiden, welche Schiffe sich am besten zum Versenken
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eignen und die Gewässer von den Wrackteilen zu säubern, die bedauerlicherweise immer zurückgelassen werden!« »Wie klug du doch bist, dass du das eingesehen hast«, sagte Lo relei geschmeichelt, »die meisten Sterblichen werden ziemlich sauer, wenn man vom Versenken spricht und sind sich gar nicht darüber im klaren, welche Dienste wir ihnen erweisen, indem wir das trostlose Los der Matrosen mit einem Hauch von romanti schem Abenteuer beleben, indem wir verhindern, dass die Flotten zu groß werden und indem wir den Fischen einmal die Möglich keit geben zurückzuschlagen …« »Ich glaube, das kommt daher, dass ich als Prinzessin erzogen wurde«, fügte Bronwyn geschwätzig hinzu, »da hat man doch gleich einen viel weiteren Horizont!« »Kann schon sein«, erwiderte Lorelei, »aber ich kann beschwö ren, dass es niemand für möglich halten würde, was sich in diesem Gewässer abspielt, bevor er hier nicht selbst Tag für Tag herum kreuzt. Ihr glaubt, dass Ollie ein Monster ist! Ihr solltet einmal die Scheußlichkeiten sehen, die in den Jahren nach der Vertreibung der Seikies vor der Küste von Frostingdung entstanden sind!« »Ich bin überzeugt davon, dass sie auch nicht furchterregender sind als die Bestien, die ich bei so mancher tapferen Heldentat besiegt habe«, fing Bronwyn wieder an, aber Karola schnitt ihr wieder das Wort ab, wie sie es sich ärgerlicherweise zur Gewohn heit gemacht hatte. »Erzähl uns doch, Lorelei«, sagte sie. »Einige behaupten, dass sich die Meere zu verändern begannen, als Leofwin alle Magie zerstörte, andere meinen, dass es erst dann passiert wäre, als er seine Lilienperle mit Belburga, ihrer Mutter, der Hexe mit den spitzigen Zähnen und ihrer Schwester …« »Belburga?«, fragte Anastasia plötzlich und reckte den Kopf nach vorn, »aber wie ist denn das möglich? Sicher hast du dich geirrt, denn es kann doch kaum zwei – nein, nein, nicht mit Töch tern und spitzigen Zähnen! Aber wie verwirrend das alles doch ist! Zuerst ist sie in Klein-Lieblos und verkauft meinem alten 83
Meister den Fluch, der Prinzessin Bronwyn so übel mitgespielt hat und nun, sagst du, ist sie in Frostingdung?« Bronwyn stimmte der Schwänin zu und sagte: »Es ist wirklich sehr schwer zu verstehen, wie sie umziehen konnte, ohne dich vorher zu befragen, als du nur einen Augenblick unter jenem Gletscher warst!« Die Schwänin bewegte den Kopf, als ob sie Wasser abschütteln wollte und putzte sich dann auf eine hektische und überpenible Art und Weise. Die Seejungfer sah Bronwyn mit neuerwachtem Interesse an und fragte: »Dieser Fluch, der bereits erwähnt wurde, worin be steht der denn?« »Eiterbeulen«, erwiderte Bronwyn, die sich die Niedergeschla genheit im Gesicht ihres Haushofmeisters ins Gedächtnis zurück rief, deren Entstehen und Vergehen sie mit einer Art von angewi derter Faszination zu beobachten pflegte. »Ich bekomme ganz entsetzliche Eiterbeulen, wenn mich jemand gewaltsam anfasst. Tut entsetzlich weh, und natürlich sind die ansteckend. Große, rote Geschwülste mit weißen Köpfchen, die Pop machen und …« »Ja-aaa«, beeilte sich Lorelei zu sagen, deren Wangen nun bei nahe so grün wie ihre Augen und ihr Haar waren. »Ich kann ja verstehen, wo dir das zum Nachteil gereichen könnte.« »Es ist ja nicht nur der Schmerz, o nein«, fuhr Bronwyn, die nun erst so richtig in Schwung kam, unbeirrt fort, »ich hab nämlich eine ziemlich stoische Haltung, obwohl also die Schmerzen kaum mehr auszuhalten sind, sind sie Lappalien im Vergleich zu den politischen Nachteilen.« Die Prinzessin wartete, bis Lorelei fragen würde, worin denn die beständen, aber die Seejungfer biss nicht an, so dass Bronwyn auf eigene Faust weitermachte, um sie trotz dem aufzuklären: »Was ich damit sagen will – du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schwierig es ist, sich einen Namen als Krie gerprinzessin zu machen, wenn der erste Gegner, mit dem man in ein Handgemenge gerät, plötzlich am ganzen Körper Eiterbeulen bekommt. Natürlich findet sich kaum mehr einer, der mit dir 84
kämpfen will. Ich muss mich also so schnell als möglich von diesem Fluch befreien.« Lorelei berührte Karola am Arm und sagte eindringlich: »Komm mit, Kleines, ich glaube, wir sollten ein mitternächtliches Bad nehmen. Ich werde dir die Meerharfe zeigen, wenn du willst, und dann können wir vielleicht noch weiter hinausschwimmen und Cordelia empfangen, wenn sie nach Hause kommt.« Nachdem Karola ihren Freunden noch einen bedauernden Blick zugeworfen hatte, drehte sie sich um und sprang hinter der See jungfer ins Wasser. Jack schüttelte sich vor Lachen. »Ausgerechnet Eiterbeulen! O Prinzessin, das war großartig! Sie werden es nun nicht wagen, dich zu ertränken. Wir wissen jetzt aber auch, dass wir nach Fro stingdung müssen, um dich von deinem Fluch zu befreien, wer weiß, vielleicht bringen uns sogar die Fischweiber dorthin, wenn Jungfer Karola ihres Schwimmunterrichts überdrüssig wird.« Die Schwänin ließ ein lautes Zischen vernehmen. »Das ist sehr unwahrscheinlich«, sagte sie, »habt ihr denn nicht gehört, was sie über die Seeungeheuer gesagt hat? Ich könnte mir zwar keine Monster vorstellen, die diese Schlampen fürchten würden, aber ich habe keine besonders große Lust, ihnen zu begegnen. Wir müssen uns einen anderen Plan ausdenken, wie wir Belburga erreichen, die den Fluch wieder aufheben kann. Ich kann es füh len, dass ich beinahe wieder soweit hergestellt bin, dass ich das Gefährt mit euch beiden ziehen könnte, aber die Meergeschöpfe können jederzeit ihr Monster schicken, um uns zu holen. Aber auch wenn sie das nicht tun und die Küste von Frostingdung erreichen, sind dort die Ungeheuer, mit denen wir wirklich kämp fen müssen. Und, ihr müsst mir schon verzeihen, aber schließlich ist es ja meine Unterseite, die ungeschützt im Wasser herum schwimmt. Also wirklich, nein danke! Du musst dir schon ein ungefährlicheres Verfahren ausdenken, um dich von deinem Fluch zu befreien, meine liebe Bronwyn!« »Warum benutzt du denn nicht einfach deinen Schild, um den Fluch loszuwerden?«, fragte Jack, »schließlich hat er dich ja vor 85
der Magie der Seejungfern beschützt und uns ermöglicht, mit dem Herumhopsen aufzuhören, als Karola die Seejungfern herumhüp fen ließ.« »Ach ja«, sagte Bronwyn, »aber dies waren schließlich große Zauber, die absolut nicht zu vergleichen sind mit dem Bagatell fluch, der meiner persönlichen Integrität einen kleinen Schaden zugefügt hat. Angesichts einer solchen Lappalie würde mein Schild seine Kräfte schon gar nicht verschwenden!« Anastasia fügte hinzu: »Außerdem würde dich ein Schild auch nur vor äußerlichen Gefahren beschützen, während dein Fluch offenbar wie der meinige ein Teil deiner selbst ist, vor dem dich äußerliche Mittel nicht schützen können.« Bronwyn seufzte nur tief auf. Obwohl Karola schon des Öfteren erwähnt hatte, wie gerne sie die Unterwasserinstrumente besichtigen würde, mit deren Hilfe sie damals am Fluss gerufen wurde, war sie nun zu zerstreut, um ihnen die nötige Beachtung zu schenken, denn die Tatsache, dass sie zwischen zwei Gruppen von Freunden gefangen war, die sich nicht mochten, belastete sie allmählich furchtbar, um so mehr, da eben auch die Unterbringung überhaupt nicht das war, was ihre Mutter als standesgemäß betrachten würde. Obwohl es Karola wirklich amüsant fand, ins Meer zu tauchen, zwischen den glän zenden Fischen herumzuschwimmen, in den Schiffsladungen von muschelbedeckten Wracks herumzustöbern und mit den Seebe wohnern zu singen und sich zu unterhalten, dass es ihr nichts mehr ausmachte, wenn sie dann anschließend auf den zerklüfteten Felsen übernachten musste und nur Algen zu essen bekam, aber sie sah allmählich ein, dass weder Jack noch Bronwyn den erzie herischen Wert des Abenteuers richtig zu würdigen wussten. Sie hatte ja wirklich versucht, ihr Abenteuer mit den anderen zu teilen. Da Jack von einem Schatz gesprochen hatte, hatte sie sich von Lorelei die Erlaubnis geholt, etwas mit nach oben zu nehmen, um es ihm zu zeigen, aber er hatte es nur in der Hand gehalten, 86
während er sie fragte, ob es denn wirklich keine Möglichkeit gäbe, die Seejungfern dazu zu überreden, dass sie ihnen erlaubten, von hier zu verschwinden. Als sie ihn wissen ließ, dass es keine gäbe, fragte er sie, ob sie nicht heimlich den einen oder anderen Fisch töten und ihnen bringen könne, wenn die beiden Seejung fern gerade einmal nicht hinschauten. Aber das war zu einem Zeitpunkt, als sie die Sprache der Fische erlernt hatte und sie war ziemlich entsetzt über den Vorschlag. Es war etwas ganz anderes gewesen, als sie die Fische im Fluss getötet hatten. Sie waren dumm und nicht annähernd so hübsch wie die vielfarbigen Arten rund um das Atoll. »Ich glaube, du willst nun wissen, wie wir die Instrumente unter Wasser spielen, ohne dass sie ihren Klang verlieren«, sagte Lore lei, die eine goldene Harfe mit Einlegearbeiten aus Perlmutt und ihrem geschnitzten Konterfei am Schallkörper in den Händen hielt. »Hmmm, hmmm«, erwiderte Karola geistesabwesend. Obwohl die Grotte, durch die nun das Mondlicht geheimnisvoll zitterte und die außer der Harfe noch unzählige andere Wertgegenstände enthielt, die die Seejungfern bei ihren ›Bergungsaktionen‹ erwor ben hatten, für Karola der prächtigste Ort war, den sie sich vor stellen konnte, blieb sie nur, um Loreleis Gefühle nicht zu verlet zen. Was die Kunde von den sagenumwobenen Meergeschöpfen anbetraf, so konnte Cordelia darüber sehr viel interessanter berich ten als Lorelei. Sie hatte erklärt, dass die Meergeschöpfe das Meer beherrschten, weil sie die Ureinwohner der Welt und die Sterbli chen nur ein ausgetrockneter nachträglicher Einfall wären, Irrläu fer. Da die Fischer und Schlangenjäger im Wasser lebende Tiere töteten, würden die Seegeschöpfe das Gleichgewicht wieder her stellen, indem sie die Mörder mordeten. So logisch das auch klang, Karola mochte es nicht. Sie hatte nämlich gedacht, dass die Funktion einer Sirene hauptsächlich darin bestand zu schwimmen, zu singen, sich die Haare zu kämmen und vor allem hinreißend auszusehen. Ertrinkende hatte es in ihren Vorstellungen nicht gegeben, aber sie hatte ja auch noch nicht wirklich gesehen, wie 87
Cordelia und Lorelei jemanden ertränkten, geschweige denn, dass sie es selbst getan hätte. Sie bildete sich ein, dass das Geschwätz vom Ertränken den Leuten nur dazu diente, zu zeigen wie grim mig oder mächtig ihre Urahnen gewesen waren, es erinnerte sie an ihre Mutter, die immer wieder davon anfing, wie Großmutter Elsbeth die Kinder aufgegessen hätte, die zu ihr gekommen wa ren, um an ihrem Lebkuchenhaus zu knabbern. Und auch Lorelei und Cordelia hatten bestimmt nur versucht, sie zu beeindrucken und Bronwyn und Jack Angst einzujagen, damit sie sich besser benähmen. Nun, sie hatte es ihnen auch gezeigt und würde ihnen auch noch sagen, was sie davon hielt, dass sie solch billige Tricks bei ihren Freunden anwandten! Sie war überzeugt davon, dass die Geschichten, die sich andere Leute über Seejungfern erzählten, nichts als neiderfüllte Lügenmärchen waren, weil die Sirenen so schön und bezaubernd waren. Da waren natürlich auch all diese Skelette und Wracks am Fuße des Atolls, aber noch dazu waren dies natürlich sehr stürmische Gewässer, und das Atoll befand sich an einer höchst ungünstigen Stelle für ein Schiff, das dort von einer Sturmbö hin- und hergeworfen wurde. »Aber Kleines, du hörst mir ja gar nicht zu«, schmollte Lorelei, »Cordelia wird böse auf mich sein, wenn ich dir heute, während ihrer Abwesenheit, nichts beibringe. Ich hätte gedacht, dass du etwas über die Instrumente erfahren willst, du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie sehr ein Mädchen seine Reichweite damit vergrößern kann. Wir haben dich zuerst damit gerufen, um deine Aufmerksamkeit auf uns und unseren Gesang zu lenken.« Sie stellte die Harfe neben eine Laute, die aus einer Muschel gemacht worden war, einem Seeschneckenhorn und Panflöten, die aussa hen, als ob sie aus den Knochen einer Menschenhand gemacht worden wären. Der Sand wirbelte vom Meeresgrund auf, als die Harfe darin versank. »Lorelei, willst du denn wirklich die Leute ertränken?«, fragte Karola, die nun ihre Schultern ein wenig hochzog und die Brust dehnte – eine Methode, um wieder zur Oberfläche zu gelangen, die sie von Lorelei und Cordelia gelernt hatte. Vorher hatte sie 88
immer die Füße dazu benutzt. Lorelei begleitete sie zur Oberflä che. »Wenn du, was den Jungen anbetrifft, doch nur ein bisschen vernünftiger wärst, dann würde ich’s dir gerne zeigen«, sagte Lorelei mit besorgter Stimme. »Tut mir leid wegen der Schiffe.« Karola wollte gerade beteuern, dass es ja ganz in Ordnung sei und sie sich ihretwegen keine Sorgen zu machen brauchte, als sie eine Welle erblickte, die etwas höher als die anderen war und dann merklich höher wurde, bis sich schließlich die bewegte Wellenlinie von Ollies Körper abzeichnete, der sich auf sie zu wand, eine graue Masse vor einem etwas helleren grauen Himmel. Karola hörte ihn rufen, bevor sie ihn sehen konnte, und er war immer noch an die achthundert Meter weit entfernt, als sie den Sinn seiner Botschaft verstand, wenn auch nur unvollständig, da sie die Seeschlangensprache noch nicht vollkommen beherrschte. Aber Lorelei vollführte vor lauter Freude einen Salto nach rückwärts und landete wieder im Wasser. »O fein!«, rief sie, »wie günstig! Siehst du nun, wie sich immer alles zum besten wendet: Gerade jetzt, wo wir so dringend ein Boot gebraucht haben, hat Cordelia eines gesichtet!« Ihre grünen Augen funkelten im Mond licht, als ihr Gesicht einen zärtlichen Ausdruck annahm. »Na, wer sagt’s denn«, wandte sie sich an Karola. »Cordelia ist nicht so unerbittlich wie sie sich anhört. Anstatt das Schiff im Alleingang zu zerstören, hat sie es für uns aufgehoben. Schnell, wir müssen Ollie nach!« Sie trafen Cordelia kurz vor Sonnenuntergang, die große Entfer nung, die zwischen ihnen gewesen war, war in dem gleichmäßi gen Schwimmstil, den sie die Nixen gelehrt hatten, sehr leicht zu meistern gewesen. »Ich glaube, wir schicken Ollie dieses Mal weg und zertrüm mern das Schiff am Atoll, damit deine Lieblinge einmal beweisen können, was sie wert sind, Kleines«, sagte die hinterlistige Corde lia und entließ die Schlange mit einem jener Klagelaute, die man benutzte, um sich mit ihr zu verständigen. Karola hatte nicht die leiseste Ahnung, was Cordelia damit meinte und was Bronwyn 89
und Jack tun mussten, um sich würdig zu erweisen, aber irgend wie hatte sie das ungute Gefühl, dass es nicht darin bestand, die Überlebenden wieder gesund zu machen. Die beiden Seejungfern begannen schon, Nebelbänke vor sich herzutreiben, als das Schiff noch ein winziger Punkt in der Ferne war. Karola beobachtete sie voll Bewunderung, als sie den Nebel über die Wellen jagten, damit er das Schiff umgarne. Das Erzeu gen von Nebel war etwas, das für sie ebenso schwierig war wie das Wackeln mit dem Oberkörper, und nun konnte sie auch ver stehen, warum sich Cordelia so sehr darüber aufgeregt hatte: Die beiden Sirenen hüllten sich selber im Nebel ein, aber auch die Felsen und je nachdem die Seeschlange, wenn sie mit deren Hilfe das Schiff kentern lassen wollten. Die Sirenen fingen an zu singen, und Karola versuchte etwas zögernd, mit einzustimmen, aber sie beherrschte noch nicht das tief ins Bewusstsein dringende Intonieren, durch das jeder Zuhö rer die Stimme der über alles geliebten Person vernahm. Das Schiff ließ sich nicht lang bitten. Kaum war es in den Nebel eingehüllt, als es auch schon wieder daraus hervorglitt und mit Segeln, die sich vor dem heller werdenden Himmel blähten, blink te auch der Schiffsrumpf, der zusehends größer wurde, durch den Nebel. Am Steuerbord, der Seite, die ihnen zugekehrt war, leuch tete eine Bake, und über dem Nebel erblickte Karola eine schwarzweiße Flagge, die vom Hauptmast flatterte. Als das Schiff noch nähergekommen war, legte sich Karola auf den Rücken und stieß zurück. So konnte sie das Zeichen der Flagge erkennen und fand es zugleich komisch und grausam, dass man so etwas auf eine Flagge malte, nämlich einen Totenkopf mit zwei gekreuzten Knochen. War das nicht auch das Zeichen gewesen, mit dem Urgroßmutter Grau die Tränklein markierte, die giftig waren? Das Schiff verhielt sich aber nicht ganz so, wie es Cordelia vor ausgesagt hatte – dazu glitt es viel zu dynamisch auf sie zu, fuhr zu schnell und kam zu nahe heran. Eigentlich hätte die Mann schaft, sobald sie die ersten Klänge des Liedes hörten, alles liegen und stehen lassen und vor allem vergessen sollen, das Schiff 90
weiterzusteuern, damit es dann eine Beute der Gefahren geworden wäre, die die Sirenen für sie parat hielten. Wenn sie ein Schiff in eine ganz bestimmte Falle lockten, sangen sie zuerst eine Zeitlang, um die Aufmerksamkeit von allen auf sich zu lenken, machten dann so lange eine Pause, um den Opfern die Möglichkeit zu geben, sich der Falle zu nähern und sangen dann wieder, damit die Besatzung nicht wieder soweit zur Besinnung kam und merkte, dass sie vom Kurs abgekommen war. Dieses Schiff aber pflügte durchs Wasser, als ob es ganz genau wüsste, wohin es fuhr. Karo la war zurückgepaddelt und schwamm nun in den Wellen um das Heck, während Lorelei und Cordelia weitersangen und das schnel le Vorankommen des Schiffes mit selbstgefälligem Lächeln quit tierten. Sie schienen sich viel zu sehr auf das zu konzentrieren, was jetzt passieren sollte, als dass ihnen – wie Carola – der Wi derspruch zwischen Theorie und Praxis der Schiffstäuschung im vorliegenden Fall aufgefallen wäre. Als das Schiff Seite an Seite mit den Sirenen war, brach auf dem Deck eine hektische Betriebsamkeit aus. Etwas wurde über die Reling geworfen, es breitete sich aus, tauchte unter und schaufelte die Seejungfern auf. »Igitt!«, schrie Lorelei. »Ollie!«, rief Cordelia etwas geistesgegenwärtiger, aber mitt lerweile musste das Seeungeheuer mit seinem bestimmt meilen langen Leib schon eine solch große Entfernung zurückgelegt haben, dass es auch die Stimme einer Sirene ohne Hilfsmittel nicht mehr erreichen konnte. Schallendes Gelächter ertönte auf dem Schiff und der Nebel teil te sich, als ob ihn das Gelächter zerstreut hätte. Ein Fischnetz, in dem weiße Haut, silbrige Fischschwänze und grünes und lavendelfarbiges Haar kunterbunt durcheinanderge mischt waren, wurde an Bord gehievt. Die Seejungfern kreischten und das rohe Gelächter der Männer an Bord antwortete ihnen. Die Männer, die das Netz hochzogen, beugten sich nun über die Re ling, und Karola konnte ihre niederträchtigen, lüsternen Gesichter sehen. Einer dieser Gesellen, der besonders fies aussah, trug einen 91
zerfetzten schwarzen Augenschutz über einem Auge, das aber die Bosheit seines lüsternen Blickes nicht halbierte, sondern eher verdoppelte. Er lachte und röhrte lauter als alle anderen. Karola tauchte unter, damit sie sie nicht sehen würden und kam in unmittelbarer Nähe des Schiffsrumpfes wieder an die Oberflä che, so dass sie sich einen Holzsplitter ins Knie einzog, während sie das aufzuschnappen versuchte, was an Bord gesprochen wur de. Aber alles was sie hörte, waren schlurfende Schritte, ein Ge räusch, das sich anhörte wie ein schwerer Fisch, der auf Holz planken fällt und dann – begleitet von einem Schmerzensschrei – von einem schweren Fisch, der auf Menschenfleisch klatscht. Ob es nun fair war oder nicht, kehrtzumachen, in diesem Fall wäre es jedenfalls nicht anständig gewesen. Da war eine ganze Menge Matrosen und ziemlich schreckliche obendrein, nach der Visage des Bösewichts zu urteilen, die Karola erblickt hatte. Aus irgendeinem Grund schienen sie auch dem Sirenenzauber wider standen zu haben. Karola kam es in den Sinn, dass sie vielleicht taub waren, obwohl – welcher Kapitän wäre wohl so blöd gewe sen, eine ganze Schiffsladung von tauben Matrosen anzuheuern? Sie war zu müde, um sich darüber noch weiter den Kopf zu zer brechen. Nun, es käme auf einen Versuch an. Sie pfiff eine Tanz weise und horchte dann. Sie hörte Schritte, die auf eine völlig unmusikalische, routinierte Weise hin und her schlurften, die Seejungfern schrieen auch weiterhin unkontrolliert auf und wur den von dem seltsamen Gelächter ab und zu unterbrochen. Anson sten war nur das Klatschen der Wellen, das Knarzen des Holzes und das Flattern der Segel zu hören. Aber obwohl sie mit ihrem Lied keinen großen Eindruck auf die Matrosen zu machen schien, fing ein Seil, das über ihrem Kopf baumelte, wie der Schwanz einer Kuh zur Zeit der größten Fliegenplage hin und her zu we deln an, was Karola auf einen Einfall brachte. Sie tauchte unter und so weit weg wieder auf, dass sie das ganze Schiff sehen konnte. Das Netz, in dem Lorelei und Cordelia ge fangen waren, baumelte nun völlig geräuschlos vom Bug herab. Die Seejungfern hatten aufgehört zu kreischen, und Karola dachte 92
einen Moment lang, dass sie tot wären, aber ein vereinzelter Seuf zer überzeugte sie davon, dass die beiden wahrscheinlich zu ent mutigt waren, um tatkräftigen Widerstand zu leisten. Der Morgen dämmerte herauf. Trotz der weiten und gleichför migen See um sie herum glaubte Karola, dass sie ihren Weg zu rück zum Atoll finden würde. Obwohl die wertvollsten Schätze der Seejungfern in der Grotte am Fluss des Atolls aufbewahrt wurden, waren Lorelei und Cordelia keine besonders ordentlichen Haushälterinnen, so dass kleine Lager mit Juwelen und Münzen, verfaulende Einrichtungsgegenstände und die Wracks der großen Schiffe über dem ganzen Meerboden verteilt waren wie schmutzi ge Flaschen nach einer Party. Indem Karola in regelmäßigen Abständen tauchte, könnte sie diese, wenn auch nicht als Orientie rungspunkte, so doch als Bezugspunkte benutzen. Sie wollte nun nicht mehr das Schiff zerstören, wie es die Seejungfern ursprüng lich geplant hatten – nun, da diese im Netz gefangen waren und Karola allein im Meer war, kam sie zu dem Schluss, dass sie einige von den Dingen nicht mehr tun wollte, über die sie gespro chen hatten, wie zum Beispiel den Rest ihres Lebens im Ozean verbringen. Es war zwar nicht so, dass sie genau wusste, was sie eigentlich wollte, aber sie und die anderen konnten das noch ausknobeln, wenn sie beschlossen hatten, was mit diesem blöden Schiff geschehen solle. Wenn es einer Prinzessin, die ein riesiges Schwert führte, ein schwarzer Riesenschwan königlicher Ab stammung, ein fetter Zigeunerjunge und eine Meerhexe in der Ausbildung schon nicht fertigbrachten, sich selber und ihre Gast geberinnen aus der gegenwärtigen misslichen Lage zu befreien, dann gelang dies vielleicht einer Seeschlange. Wenn Ollie nicht schon am Atoll war, dann würde ihn eines der Unterwasserin strumente im Nu dorthin beordern. So stimmte also Karola einen Gesang an, der mehr dem Schiff selber als der Besatzung galt, aber als das Boot auf ihre Verzaube rung reagierte und seine eigenen Wege gehen wollte, kapierte das der Steuermann sehr schnell und bemühte sich, wieder Herr der Lage zu werden. Seine Hände aus Fleisch und Blut waren stärker 93
als ihr mickeriger Gesang aus dieser Entfernung, und das Schiff war doch ein sehr großer Gegenstand, den es unter Kontrolle zu bringen galt! Es war zwar kleiner als Ollie, aber schließlich war ja Ollie ein Lebewesen. Nun gut, wenn sie das Ruder in die Hand nahmen, dann würde sie auch noch ein anderes Material an Bord des Schiffes ausfindig machen, dem die Benutzung guttat. Sie entdeckte eine Seilrolle, der sie eine laute und serpentinenhafte Melodie vortrillerte, und die Rolle reagierte darauf wie Ollie auf ein nahezu identisches Lied, indem sie sich von selber abwickelte und sich auf die Füße des nächstbesten Mannes zubewegte. Ein anderes Seil, das auf ihren belebenden Gesang reagierte, schlang sich voller Begeisterung um den Steuermann, der laut aufschrie, aber von seinen Kollegen unbeachtet blieb und nieder fiel. Danach konnte Karola mit dem Schiff wieder machen, was sie wollte und führte es wie einen verirrten Hund zum Atoll zu rück. Der Matrose im Ausguck war der erste, der sich das Schiff so genau besah, dass er Karola entdeckte, bevor er weit genug hinaus sah, um das Atoll zu entdecken. Ob er nun wirklich fahnenflüchtig wurde, indem er über Bord ging, darüber hätte man sich vor einem Kriegsgericht der Marine streiten können, aber da ihn seine Ka meraden nicht hören konnten, hätte man dagegenhalten können, dass er sie durch sein Beispiel warnen wollte. Zwei Matrosen auf den darunterliegenden Decks sahen ihn und sprangen hinter ihm her, zwei weitere sahen diese und folgten ihrem Beispiel. Ein weiterer Matrose flog vor Karolas Nase ins Wasser und tauchte sie unter, als er selber ins Wasser plumpste und ver schwand. Jack rief und winkte ihr vom Atoll aus aufgeregt zu. Bronwyn zog indessen ihr Schwert und sagte: »Aha, es hat den Anschein, dass meine Kusine von Piraten gefangengenommen wurde!« Jack nickte zustimmend und sagte: »Was meinst du, was sie mit ihnen anstellen wird?« Karola winkte ihnen aufgeregt zu, indem sie auf das sinkende Schiff deutete, aber keiner von den beiden hatte das Blut von 94
Meergeschöpfen in sich und sie dachten auch gar nicht daran, einen Tropfen von dem kostbaren Saft, der in ihren Adern rann, zu verschütten, indem sie versuchten, dort hinauszuschwimmen, um an Bord eines Piratenschiffes zu gehen, das so weit entfernt und dessen Besatzung ihnen höchst wahrscheinlich feindlich gesinnt war. Eine andere Gruppe war dagegen einsatzbereiter. Ollies Kopf erhob sich auf der Rückseite des Atolls aus dem Wasser, seine vordere Körperhälfte beugte sich nur ganz kurz über den Süßwas sertümpel, bevor er seinen Schlangenleib, der um den felsigen Untergrund der Insel gewickelt gewesen war, vollends auseinan derrollte und sich im Zick-Zack-Kurs auf das Schiff zubewegte. Als die Schlange an ihr vorbeischwamm, stieg Bronwyn auf und Jack folgte ihrem Beispiel, um nicht von ihr ausgestochen zu werden. Anastasia schlug unentschlossen mit den Flügeln und zischte unverständliche Ratschläge. Als die Schlange das Schiff umzingelte, gesellte sich Karola zu ihren Freunden auf dem Rücken des Ungeheuers und sagte keu chend: »Ich glaube, wenn wir jemals hier rauswollen, dann müs sen wir es verhindern, dass Ollie das Schiff zertrümmert. Wir müssen die Besatzung dazu zwingen, sich zu ergeben – und zwar schnell!« »Keine Sorge, Kusine«, erwiderte Bronwyn, »Bronwyn die Kühne hat schon mehrere Piratenschiffe geentert – lasst mich erst einmal aufs Deck und im Handumdrehen werde ich alle an ir gendwelchen Stricken aufgeknüpft haben und sie werden von den Stangendingern dort herabbaumeln!« »Dann nur zu, aber ich würde an deiner Stelle ein bisschen auf die Stricke aufpassen. Es kann nämlich sein, dass sie immer noch ein bisschen herumkriechen. Meine Lieder wirken manchmal länger nach, als ich es eigentlich will!« »Äh – entschuldige, dass ich frage«, sagte Jack höflich, »aber wie kommt es, dass die Seile tanzen und die Matrosen im Wasser herumschwimmen?« 95
»Weil die Seile auf meinen Gesang gehört haben, aber die Ma trosen nicht. Ich glaube, die Schiffsbesatzung ist taub!« »Wie Großvater Würdigmann, wenn er Wachsstöpsel in die Oh ren steckt, um sich Großmutter Xenobias Schimpfkanonaden nicht mit anhören zu müssen«, sagte Jack und nickte verständnisvoll mit dem Kopf. »Oh, ganz bestimmt nicht!«, stimmte ihm Bronwyn zu, die in ihrer Kletterpartie über die Schlangenwindungen einhielt, um unverfroren zu ihnen herabzugrinsen. »Natürlich kann es sein, dass sie ihre Ohren zugestopft haben«, sagte Karola. »Es ist auf jeden Fall sehr viel plausibler, als dass sie alle taub sind. Ich würde das an deiner Stelle prüfen, während du das Schiff eroberst.« »Meiner Treu!«, wendete Jack ein, »was ist aber, wenn sie es vorziehen, uns, die wir freundlicherweise versuchen, ihr Hörver gnügen zu erhöhen, ganz einfach abmurksen?« »Warum muss ich denn eigentlich an alles denken?«, beschwer te sich Karola. »So tu es doch, bevor wir an Bord eines Holzhau fens gehen! Ich muss unbedingt Lorelei und Cordelia freilassen.« »Wirklich?«, rief Bronwyn, kurz bevor sie über das Geländer stieg. »Ich glaube auch, dass Ollie nichts dagegen einzuwenden hat, wenn ich ihn ganz allein davon abzuhalten versuche, das Schiff zu zerquetschen.« Die Gruppe, die an Bord ging und die aus zwei Personen be stand, betrat das Schiff mit einem gedämpften Selbstbewusstsein, das weniger durch die kalte Dusche bedingt war, die sie im Was ser bekommen hatte als durch ihre Nervosität – wenigstens traf dies auf Jack zu – aber Bronwyn machte sich unverzüglich an die Arbeit. Nur zwei Mitglieder der gesamten Besatzung waren an Bord geblieben: der einäugige Bösewicht mit dem Holzbein, den Karola erspäht hatte, und eine Frau, die in einen olivfarbenen Wollumhang gehüllt war.
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Der Pirat mit der Augenbinde grinste Jack und Bronwyn an, als ob er sie jetzt dann gleich mit Haut und Haaren verschlingen wolle und knurrte die Frau an: »Wir sind offenbar gekapert wor den, Frau Rosie. Wie Sie auch über meinen Auftrag denken, so helfen Sie mir nun am besten, diese Piraten abzuwehren oder die beiden füttern mit uns die Fische!« Aber die Frau kniete bereits mit geneigtem Haupt vor Bronwyn. Ihre Haltung war unterwürfig, bis auf die eine Hand, die ungedul dig an der zerfetzten Schärpe des Piraten zerrte. »Quatsch«, knurr te sie zurück, »wenn Prinzessin Bronwyn deinen undichten Waschzuber unbedingt will, dann schlage ich vor, dass du ihn ihr unverzüglich gibst. Auf die Knie, du mieses Stück. Erweise deiner zukünftigen Monarchin ein bisschen mehr Respekt!« Inzwischen musste Karola mit ganz anderen Problemen kämp fen. Indem sie ihre eigene Version der Seebewohnersprache be nutzte, überredete sie Ollie dazu, das Schiff nicht in tausend Stük ke zu zerquetschen, während sie Cordelia und Lorelei befreite. Als sie an den glitschigen Windungen der Schlange hochgeklettert war, war sie auf gleicher Höhe mit dem Deck und nur noch zwei Armlängen von dem Knoten entfernt. Lorelei und Cordelia waren ganz still. Vielleicht waren sie ohnmächtig geworden. Karola hoffte, dass sie die lange Trennung vom Meerwasser nicht getötet habe. Aber das konnte nicht der Fall sein, denn die Wellen, die gegen den Bug klatschten, hätten sogar einen Fisch, der nur unter Wasser existieren konnte, am Leben erhalten. Sie überlegte sich, wie sie mit ihrem Gesangstalent einen Kno ten lösen könnte und bedauerte, dass sie nicht daran gedacht hatte, jemandes Messer zu borgen, obwohl Bronwyn und Jack ihre Messer wahrscheinlich brauchten, um gegen die Piraten zu kämp fen. Dann sah sie direkt über ihrem Kopf ein Entermesser, das jemand vergessen hatte, griff danach und hieb den Knoten ent zwei, an dem das Netz aufgehängt war. Die beiden Seejungfern kippte sie seitlich ins Meer, dann folgte sie ihnen dorthin nach.
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V Der Pirat schüttelte verwundert den Kopf und sagte: »Ich habe schon siebenhundertundfünfzig Jahre in diesen Gewässern ver bracht, als Mann, Kobold und Schiffsjunge, aber habe dabei noch nie eine Seejungfer erlebt – und schon gar nicht zwei – die einen einzigen Gefangenen hätte laufen lassen – geschweige denn eine ganze Schiffsladung – und das Küken nicht zu vergessen, auf das sie angeblich einen Anspruch hatte!« Das Schiff hatte das Atoll vor fast zwei Stunden hinter sich ge lassen und nun saßen der Pirat, der sich der Flotte Jehan nannte, die Dame, Karola, Bronwyn und Jack in der Schiffskombüse mit ihren Bechern voll dampfenden Tees, einem Teller mit Salzherin gen und fünf Laib Brot, die sie mit köstlicher Pfefferminzmarme lade vollschmierten und auf einmal hinunterschlangen. Karola zuckte mit der Schulter. »Vielleicht war es deswegen so, weil ich eben doch keine sehr gute Seejungfer bin.« Jack schüttel te den Kopf und wies Karolas Einwand ganz entschieden zurück: »O nein, meine ehrenwerte Karola, du warst eine großartige See jungfer. Sie haben aus lauter Dankbarkeit für dich auf die Matro sen mitsamt dem Schiff verzichtet, davon bin ich überzeugt, denn aus welch anderem Grund als dich zu belohnen hätten sie dir denn ihre Flöte gegeben?« Karola fingerte an der Flöte herum, die sie an einer Schnur um den Hals trug, die gleiche, an der auch ihr Medizinbeutel befestigt war. Lorelei hatte ihr das Instrument förmlich aufgenötigt, als Cordelia gerade nicht hersah und gesagt: »Falls du uns einmal brauchst, kannst du uns damit herbeirufen, Kleines.« Bronwyn lächelte wissend und spießte noch ein Stück Salzhe ring auf. Zu Jehan und der Dame sagte sie, als sie dies tat: »Wis sen Sie, Sie sollten nicht soviel Aufhebens davon machen, Ihr Schiff zu retten, war gar nichts für meine Kusine Karola. Sie ist die Königin der Sirenen, die alles tun werden, was sie von ihnen verlangt. Sie erkannten ihre überlegene Magie und ihre Führungs 98
qualitäten auf den ersten Blick und bestanden darauf, dass sie bei ihnen bleiben sollte, um über sie zu herrschen, und wir sollten sie dabei beraten. Obwohl sie wegen meiner Beulenkrankheit ziem lich beunruhigt waren, konnten sie es nicht ertragen, von uns getrennt zu werden. Sie brauchten jemand wie Karola, der sie organisieren musste. Ein saft- und kraftloser Haufen, wenn sie sich selbst überlassen blieben. « Zum Glück füllte sie dann ihren Mund mit Essen und musste kauen statt reden. Karola schaute Bronwyn nur an und schnitt eine Grimasse, als der Marmeladetopf an ihr vorbei zum niedrigsten Teil des sich neigenden Tisches rutschte. Lorelei und Cordelia von den Matro sen loszureißen war einer der schwierigsten Versuche gewesen, den sie jemals unternommen hatte, zum Teil deswegen, weil die Seejungfern so wütend gewesen waren und auch so froh, dass sie endlich Hand anlegen konnten an ihre Peiniger und zum Teil auch, weil Karola so erschöpft war von der Anstrengung, die es sie kostete, Schiffe herumzupfeifen. Nun hatte sie kaum mehr genügend Luft übrig, um die beiden Seejungfern von ihrer Beute wegzupfeifen. In dem Moment, wo sie die Matrosen rettete, hatte sie nun den Beweis dafür, dass die übersprudelnde Lorelei und streitsüchtige Cordelia wirklich Seeleute zum Spaß und aus Ge winnsucht ertränkten, wie sie ihr schon die ganze Zeit über erzählt hatten. Nur aus Dankbarkeit dafür, dass es Karola verhindert hatte, dass man aus ihnen Galionsfiguren machte, hatten sie das Schiff und die Schiffsbesatzung wieder freigelassen. Sie hatte ihnen auch angedroht, dass sie sie bis in alle Ewigkeit auf ihren Schwanzspitzen weitertanzen lassen würde, wenn sie ihr nicht gehorchten. Aber es war angenehm, dass sie die anderen endlich zu schätzen begannen. Bronwyns Lüge hatte Karola wenigstens zur Königin von Irgendetwas erhoben und ihr eine adäquate wenn nicht sogar höhere gesellschaftliche Stellung als die eigene und die von Ana stasia und Jack eingeräumt. Und wenn sich die Seejungfern als nicht so tüchtig erwiesen hatten als sie schön waren, so war auch Jehan nicht so böse wie er hässlich war. Er und die Dame im 99
grünen Umhang, Madame Himbeere, waren gute Freunde des Königs, und das war auch der Grund gewesen, warum die Dame Bronwyn sofort erkannt hatte. Jehan sah nicht so gut wie seine Begleiterin, wegen der Verletzung, die ihn sein Auge gekostet hatte, und Karola nahm an, dass dies auch der Grund dafür gewe sen war, dass er sich dieses lauernde Zwinkern angewöhnt hatte. Er hatte ihnen auch gesagt, dass er Lorelei und Cordelia in der Absicht gefangen habe, sie auf die vereinigten ablemarlonischen und brazorianischen Flotten loszulassen. »Wisst ihr, mein alter Piratenkahn ist nur um der alten Zeiten willen«, sagte er. »Ich war im internationalen Import-ExportGeschäft, bevor ich zum Kobold wurde und wollte es nur mal wieder ausprobieren, bevor ich in den Krieg hineingezogen wür de.« »Ich würde ja auch sehr gerne Pirat werden, aber ich habe mei ner Prinzessin hier geschworen, dass ich ihren Fluch beenden würde.« Aus dem Augenwinkel schaute er seine Prinzessin be wundernd an. Wirklich, so eine majestätische Person, seine Bron wyn. Wie vornehm sie doch aß mit beiden Händen, und ihr an sehnlicher Appetit entsprach natürlich ihrer eindrucksvollen Figur. Wie sicher er sich doch gefühlt hatte, als er hinter ihr gehend das Schiff einnahm – das war nun wirklich die Art von Frau, die seines Schutzes würdig war. Obwohl er sich sehr hungrig gewähnt hatte während der Zeit, als er nur Algensalat hinuntergewürgt hatte, so schaffte er jetzt nur acht Scheiben Brot und ein paar bescheidene Schluck Tee, während Bronwyn die dreifache Menge wegputzte. Plötzlich brachte Karola keinen Bissen mehr runter vor lauter Gähnen. Sie war durch das, was sie in den letzten Wochen wegge schwommen hatte, förmlich feingeschliffen, geschärft und dunkler gemacht worden, bis sie sich wie die Klinge ihres früheren Selbst fühlte, aber die Anstrengung, die es sie kostete, das Schiff dorthin zu bringen, wohin sie wollte und der Kampf mit den Seejungfern hatten sie vollkommen ausgelaugt.
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»So haben Sie also endlich beschlossen, Königliche Hoheit«, sagte die elegante Madame Himbeere, wobei sie ein bisschen Marmelade mit einer ziemlich spitzigen Zunge, die dann schnell wieder zwischen den Lippen verschwand, aus dem Mundwinkel holte, »etwas gegen Ihren Fluch zu unternehmen. Was soll denn die Geschichte mit den Beulen? Sie sind doch eine Lügnerin, nicht wahr? Wenigstens steht das in den Archiven geschrieben. Ja, ja, ich weiß schon. Herr Cyril Hühnerstange hat mich um meinen Rat gebeten, als ich das letzte Mal in Königinstadt war. Ja, ich verste he. Das war gelogen hinsichtlich der Beulen. Große Mutter, wie lästig für dich und Sie, armes Kind. Ich kann sehr gut verstehen, dass Sie auf die Suche gehen würden, um etwas dagegen zu un ternehmen. Ich finde eben nur, dass Sie sich einen etwas ungün stigen Zeitpunkt dazu gewählt haben, also wirklich, meine Liebe, schließlich haben wir doch Krieg mit all seinen schlimmen Be gleitumständen. Hätten Sie nicht noch ein bisschen warten sollen, bis Ihnen Ihr Vater wieder dabei helfen könnte?« »Mein Vater kann sich doch nicht um so alberne Dinge wie Flü che kümmern«, erwiderte Bronwyn »Ich glaube, dass sie damit sagen will, dass er es schon versucht hat«, sagte Jack, der versuchte, Bronwyn an den Augen abzulesen, ob er auf der richtigen Spur sei, »und dass die Sache für ihn viel zu wichtig geworden ist, als dass er damit warten könnte. Übri gens ist die Prinzessin der Ansicht, dass es ihr Fluch und nicht der Seiner Majestät ist!« »Ja«, sagte Karola, gähnte ungeniert und lehnte sich auf dem Stuhl zurück, wobei sie die Hände hinter dem Kopf verschränkt hatte. Sie erinnerte sich gerade noch daran, dass sie die Füße fest gegen das Deck stemmen musste, während sie sich zurücklehnte, um nicht über Bord gespült zu werden, wenn das Schiff anfing zu schlingern. Ihre Kameraden und die Schiffskombüse verschwan den immer wieder aus ihrem Blickfeld, weil ihr die Augendeckel vor Müdigkeit zufielen, aber trotzdem versuchte sie mit einer Stimme, die nur noch ein Murmeln war, Jehan und der Dame zu erklären: »Wisst ihr, der König wollte sie vom Fluch heilen und 101
verfolgte deswegen den Steuereinnehmer, nur dass dieser in Wirk lichkeit gar kein Steuereinnehmer war, sondern – wie mir Bernard erzählt hat – der Onkel meiner Mutter, und dass er deswegen auch ein Zauberer ist und uns ähnlich sieht. Nur dass eben nicht er es war, der Bronwyns Fluch gemacht hat, obwohl er sie damit ver hext hat, weil nämlich nach der Meinung von Anastasia eine Hexe mit Namen Belburga daran schuld ist.« »Menschenfresserin«, korrigierte sie die Dame leise. »Wie bitte, gnädige Frau?«, fragte Karola und öffnete weit die Augen, nur um Madame Himbeere vor sich zu sehen, die mit einem gequält-wehmütigen Blick dasaß und einer Katze glich, die gleichzeitig auf zwei Schößen sitzen will. »Ja, eine Menschenfresserin. Belburga ist eine Menschenfresse rin.« Das wehmütige Lächeln ging in eines über, bei dem die scharfen, spitzigen Zähne der Dame entblößt wurden, die zu deren Ohren und der ganzen übrigen Erscheinung passten. »Ich muss es ja wissen, denn sie ist meine Mutter. Wir haben den gleichen Mund.« »Verflucht!«, stieß Bronwyn hervor. »Wir sind dem Feind in die Hände gefallen.« Pflichtgetreu hob sie den magischen Schild in die Höhe, aber blieb damit an der Tischkante hängen und warf die Teebecher um, die den stark geneigten Tisch hinunterrutschten und krachend auf den Boden fielen, so dass Bronwyns Kriegser klärung bei den nun stattfindenden Aufwischarbeiten völlig unter ging. »Schwerlich«, sagte schließlich Madame Himbeere, als alles aufgewischt war. »Offensichtlich steht mir meine Mutter doch nicht sehr nahe – sie hat mich als vierzehnjähriges Mädchen allein gelassen und ist nach Frostingdung verduftet.« »Aber das ist ja furchtbar!«, murmelte Karola und dabei riss sie die Augen auf in einer Anwandlung, die, wenn sie nicht so schläf rig gewesen wäre, als aufrichtige Anteilnahme hätte gelten kön nen. »Ganz furchtbar!«, fügte sie noch hinzu.
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»Nein«, erwiderte Madame Himbeere, »in Wirklichkeit war es einer der Höhepunkte meines Lebens, denn als sie mich verließ, entschloss sich mein Vater, der auch für solch eine Aufgabe viel kompetenter ist, schließlich dazu, meine Erziehung selbst in die Hand zu nehmen. Wisst ihr, er ist ein großer Zauberer und ein guter Freund Ihres Vaters, Königliche Hoheit, obwohl Sie ihn wahrscheinlich nie kennengelernt haben. Wir leben nämlich ge wöhnlich im Wald, und Vater geht beinahe nie von zu Hause weg – es sei denn in so zwingenden Fällen wie dem Krieg.« »Aber wenn dein Vater ein so guter Kerl ist, warum hat er dann eine Menschenfresserin geheiratet?«, fragte Jack. »Die sind doch wirklich sehr übel, wenn sie Menschen fressen!«, fügte er noch hinzu. »Nun – vielleicht war dies einst bei den reinrassigen Exempla ren nicht der Fall, aber wie alles andere in Argonien kreuzten sich auch die Menschenfresser und Menschenfresserinnen, und zwar anfangs hauptsächlich mit Riesen, Zauberern und Hexen, denen ein schlechter Ruf anhaftete. Schließlich konnten auch einige, wie zum Beispiel meine Mutter, die soziale Stufenleiter hinaufklettern und verbanden sich mit Leuten, die einer höheren Gesellschafts schicht angehörten. Und wie das eben oft auf die tödlicheren Arten zutrifft, so haben auch die Menschenfresser immer über einen ganz bestimmten, etwas ordinären Charme verfügt, und offensichtlich war Mutter in ihrer Jugend sehr viel bezaubernder als die meisten dieser Ungeheuer gewesen, und ihr müsst wissen, dass sie die Leute nicht richtig ›frisst‹, sie knabbert nur so lange daran herum, bis sie sich vollkommen zerfetzt fühlen.« Ihr Lä cheln war zynisch und spitz. »Dann kaut sie sie noch vollends durch und spuckt sie schließlich aus. Die Redensart ›sich vor Gram verzehren‹ hätte in Anerkennung der Dienste meiner Mutter geprägt worden sein können.« »Ich kann mir aber nicht gut vorstellen, wie sich jemand mit auch nur ein bisschen Vernunft von so einer Person an der Nase rumführen lässt!«, sagte Bronwyn altklug.
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Madame Himbeere blickte sie mitleidig an und sagte: »Wenn vielleicht auch nicht gerade mit Vernunft begabte, so doch Män ner von hervorragenden Fähigkeiten. Wie schon erwähnt, ist mein Vater ein ziemlich mächtiger und berühmter Zauberer. Meine jüngste Schwester, Esmeralda Tausendschön, wurde von einer männlichen Nymphe gezeugt. Er hatte wenigstens noch soviel Verstand, dass er sich in einen Baum verwandelte, um der missli chen Lage zu entgehen, in die er sich gebracht hatte. Deswegen hatte Tausendschön schon von Kindesbeinen an eine Zuneigung zu allem Kreatürlichen gefasst. Und was meine älteste Schwester Lilienperle anbetrifft, so wurde diese von Mutter Belburga dazu ermuntert, sich immer sehr überlegen zu fühlen wegen des Um standes, dass ihr Vater ein Prinz war, wenn auch kein sehr bedeu tender. Lily pflegte uns alle an den Rand des Wahnsinns zu brin gen mit ihren weißen Kleidern und Rosenblätter-und-MilchBädern, denn Mutter bestand darauf, dass sie jeden Tag eines nähme, um bereit zu sein, wenn der Prinz käme. Zu unser aller Glück gelang der Plan. Prinz Leofwin genas damals von einer beinahe tödlichen Verletzung und hat dann etwas durchgemacht, was einer ungewöhnlichen religiösen Erfahrung gleichkam. Ihm blieb gar keine andere Wahl. Obwohl ich ihn ziemlich bedauerte, gefielen mir doch einige von seinen Vorstellungen überhaupt nicht, so dass ich, als sich Mutter und Lilienperle darüber unter hielten, dass wir alle in Frostingdung leben sollten, wo Lily Köni gin würde, einfach davonrannte und mich versteckte. Meine Mut ter war in solch einer Eile fortzukommen, dass sie nicht einmal mehr sehr gründlich nach mir suchte und seit damals habe ich keine mehr von ihnen gesehen.« »Und dies scheint auch kein großer Schaden gewesen zu sein«, fügte Jehan hinzu. »Vielleicht nicht und doch fehlt einem auch wieder die Familie, mein Freund. Besonders Tausendschön war eine recht nette Per son. Ich habe oft gedacht, dass sie wahrscheinlich sehr viel besser gefahren wäre, wenn sie sich mit mir versteckt und dann mit mir zu meinem Vater gezogen wäre. Er gehört ebenfalls zur Elfenfa 104
milie und ist genauso närrisch mit Tieren wie sie. Übrigens hoffe ich, dass ich Lilienperle dazu überreden kann, dass sie ihren Ein fluss auf König Leofwin geltend macht und ihn dazu bewegt, dass er auf Argoniens Seite in den Krieg eintritt. Ich habe von einem der – äh – Botschafter meines Vaters die Nachricht bekommen, dass Ablemarle versucht hat, Frostingdung so unter Druck zu setzen, dass es gegen uns Partei ergreift.« »Sagen Sie mal, nehmen Sie eigentlich immer das erstbeste Pi ratenschiff, wenn Sie an Familienzusammenkünften teilnehmen oder politische Bündnisse schmieden wollen?«, fragte Bronwyn. »Nein, nicht gerade«, antwortete Madame Himbeere liebenswür dig. »Jehan war mir früher einmal in seiner Eigenschaft als dienstbarer Geist nützlich. Nachdem ich ihn befreit hatte und er meine Wünsche erfüllt hatte, blieben wir gute Freunde. Warum auch nicht? Natürlich habe ich auch nicht eingesehen, weshalb ich nicht meinem Wunsch nachgeben sollte, meine Familie wiederzu sehen, als er dem Verlangen Ausdruck gab, dass er seine See mannskarriere gerne fortsetzen wolle.« Jehan grinste wie ein waschechter Seeräuber und sagte mit ei nem Mund voll Fisch, Brot und Marmelade: »Aus meiner Zeit als Geist habe ich auch noch gewusst, dass man sich die Ohren wegen dieser Sirenen verstopfen muss. Ihr würdet euch wundern, was ein Junge in einem Tonscherben im Meer alles aufschnappen kann.« Zwei Tage danach sichtete der Beobachtungsposten das erste der Ungeheuer. »Sie bläst!«, schrie er und alle stürmten an Deck, um zu sehen, was er damit meinte. »An der Backbordseite, Kapitän!«, sagte der Schiffsmaat zu Je han und deutete in diese Richtung. »Was ist es denn, Herr?«, fragte der Bootsmann. »Ich kann es nicht richtig erkennen.« »Das arme Geschöpf«, sagte Madame Himbeere in einem sehr viel weicheren Ton, als ihn die anderen gewohnt waren. »Es bläst nicht, es blutet.«
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Und das war auch tatsächlich der Fall. Blut sprudelte aus der Finne an seinem Kopf hervor und an den stoppelartigen Fangar men, die seinen gesamten Körper bedeckten, der schwarz-weiß gefleckt war wie ein Schwertwal, aber auch doppelt so groß war, obwohl er unnatürlich groß erschien, so als ob er aufgedunsen wäre. »Na, so was!«, rief Jehan. Keiner ging mehr hinunter, nachdem sie der verwundeten Kreatur ansichtig geworden waren, sondern alle blieben an Deck, um zuzuschauen, wie immer mehr von den übel zugerichteten Geschöpfen kurz an der Oberfläche auftauch ten, um dann gleich wieder in den Wellen zu verschwinden. »Das ist ja eine mordsmäßige Schande!«, sagte Jehan und machte eine Kopfbewegung in die Richtung eines Seeungeheuers, das gerade auftauchte. »Aber nichtsdestotrotz hoffe ich, dass alle großen an dem Übel eingegangen sind, das sie befallen hat.« Er schielte erwartungsvoll nach dem Schiffsdeck zu seinen Füßen, als ob er jeden Moment damit rechnen würde, dass ein mit Fangarmen gepanzerter Rücken durch die Bretter dringen würde, und danach warfen auch alle anderen gelegentlich einen ängstlichen Blick nach unten. Am Nachmittag wurde ihre Aufmerksamkeit dann auf etwas anderes gelenkt. »Land in Sicht!«, rief der Wachtposten. »Die Küste von Fro stingdung direkt vor uns!« Jack, Bronwyn und Karola sahen sich flüchtig an. Bei den unge stalten Meeresbewohnern musste es sich um Monster handeln, die zu den Sirenen gehörten. Stand ihnen noch Schlimmeres bevor? Etwa Geschöpfe, die so schrecklich waren, dass es bei ihrem Anblick sogar die Sirenen schüttelte? Offensichtlich war auch Jehan dieser Meinung. »Zieh’ die Pira tenflagge ein, Bootsmann«, ordnete er an, »wenn die Meerestiere schon so schlimm aussehen, möcht ich nicht wissen, wie die Leute hier herum aussehen.«
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Die Leute kamen Bronwyn ganz normal vor, ja sie schienen auf den ersten Blick sogar ein bisschen besser auszusehen als die Leute an Bord, die sie nun tagaus, tagein bis zum Überdruss gese hen hatten, und das Land sah vielversprechend aus. Fest und unerschütterlich erstreckte es sich bis zu einem Hügel, der von einem flachen, viereckigen Schloss gekrönt wurde, und vom Ufer aus keine einzige Welle landeinwärts, soweit das Auge reichte, abgesehen von dem Fluss zur Rechten, zu dem sie aber gar nicht hinüberblickte. Sobald sie einmal den Fuß auf den wunderschö nen, sandigen Boden gesetzt hatte, vollführte dieser keine Kaprio len mehr, sondern blieb einfach und ohne sich zu rühren liegen. Jehan wollte sie zuerst nicht allein lassen, aber seine Angst schien unbegründet zu sein. Die Hafenstadt, in der sie vor Anker gegan gen waren, schien ziemlich normal zu sein, nur dass sie etwas sauberer und ordentlicher war als die paar Fischerdörfer, die Bronwyn bis jetzt zu Gesicht bekommen hatte. Der weiße Verputz der Häuser leuchtete und die Leute eilten geschäftig durch die engen Gassen. Am Ufer waren Netze zum Trocknen aufgespannt. Als er sich davon überzeugt hatte, dass niemand seine Passagiere auffraß, wenn sie das Schiff verließen, ließ sie Jehan mit dem Beiboot an Land bringen. Anastasias Gefährt, auf dem der Schwan wie ein Huhn saß, das ein seltsames Ei ausbrütet, hatten sie ins Schlepptau genommen. Nachdem sie den vier Personen ans Ufer geholfen hatten, spran gen die Matrosen wieder in ihr Boot zurück und ruderten so schnell zum Schiff zurück, als ob es um ihr Leben ginge, und vielleicht war dies auch der Fall, denn ein paar Augenblicke später bauschte der Wind die Segel und trug das Schiff wieder davon. Bronwyn war das nur recht. Madame Himbeere deutete auf eine verfallene, sandverwehte Mauer am Sockel eines Hauses, an der noch die Spuren von Ein schüssen sichtbar waren. »Ich wette, dass die Ruinen König Le ofwins Werk sind«, sagte sie, »das äußere Frostingdung war vor den Eroberungskriegen Sulskeria.«
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»Was für eine gelehrte junge Dame du doch bist«, sagte Anasta sia anerkennend, als sie ihre Federn zum Trocknen in der Sonne spreizte. Sie war froh, dass sie endlich aus dem Salzwasser heraus waren, gewiss hatte es ihrer einstmals makellosen menschlichen Gesichtshaut erheblichen Schaden zugefügt. Madame Himbeere lächelte sie an und sagte: »Aber nicht so ge lehrt, um nicht darüber erstaunt zu sein, dass ich Sie verstehe, ohne dass wir uns auf Panelfisch unterhalten. Seltsam, dass ich nie erfahren habe, dass die Schwäne des Dunklen Pilgers sprechen können.« »Es gibt Situationen, in denen man besser schweigt«, erwiderte Anastasia. »Und dann waren wir natürlich von dem Zauberer, der uns an Grau weiterverschachert hat, dazu verdammt, dass wir unserem Herrn ohne Widerrede gehorchen mussten, und zwar zu einem Zeitpunkt, als wir uns bereits in Schwäne verwandelt hatten – aber lassen wir das jetzt, weil es im Moment auch nicht so wich tig ist!« »Wir haben im Moment also auch nichts davon, wenn wir dar über sprechen«, sagte Madame Himbeere ziemlich hastig und mit leiser Stimme, als sich ihnen ein Mann näherte, der den Hammer eines Hufschmieds in der Hand hielt. »Wir müssen hier vorsichtig sein. Soweit ich gehört habe, ist die Magie in Frostingdung unter sagt. Tröstliche Maßregel, wie?« »Kann man wohl sagen!«, sagte Bronwyn. Obwohl sie selber keine magischen Fähigkeiten hatte, konnte sie sich vorstellen, wie sich das Verbot auf die Leute auswirken musste, die mit Magie begabt waren und mit Tieren sprachen, den Ort schnell wechseln und unangenehme Dinge in passendere verwandeln konnten. Natürlich hatte ihr die Magie von Zeit zu Zeit Unannehmlichkei ten bereitet – nun, eigentlich sogar die ganze Zeit, wenn man den Fluch mitrechnete – aber nichtsdestotrotz fand sie, dass Magie notwendig war und hatte es gern, wenn sie verfügbar war. Madame Himbeere grüßte den hammertragenden Dorfbewohner durch ein kurzes Kopfnicken, das er erwiderte. Hier war es offen bar nicht üblich zu lächeln, nach den Gesichtern der anderen 108
Passanten zu urteilen. Auch wenn dies der Fall gewesen wäre, so war mit einem Gebiss wie dem von Madame Himbeere ein Kopf nicken der zivilisiertere Ausdruck. »Guter Mann, sagen Sie mir doch bitte«, fragte sie ihn, indem sie sehr langsam und deutlich sprach, »welchen Weg man einschlagen muss, um von hier zur Hauptstadt zu gelangen?« »Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. War nie dort gewe sen. Nie! Und werde auch in Zukunft nicht dorthin gehen. Wollte nie!«, erwiderte der Mann. Er sprach einen Dialekt, der dem Argonischen sehr nahe kam, nur dass er dazu neigte, die zweiten Silben der Wörter statt der ersten zu betonen. Seine Sprache war hart. Als er an der Gruppe vorbeiging, rückte er ein bisschen von ihr ab, als ob er Angst hätte, dass sie seinen Hammer beschmutz ten. »Hilfsbereiter Kerl«, sagte Bronwyn. Ein anderer Bewohner schlenderte vorbei, und Madame Him beere wiederholte ihre Frage, aber bekam darauf eine noch viel unhöflichere Antwort als beim ersten Mal, obwohl sie ihm in Aussicht stellte, dass sie ihn für seine Dienste gut bezahlen würde. Der dritte Mann, den sie fragte, machte sich nicht einmal die Mühe zu antworten. »Also, wirklich!«, empörte sie sich. »Ich hätte gute Lust, ihnen Tanzstunden zu geben«, sagte Karo la, deren Augen sich gefährlich verengten. »Aber nicht hier, denn dann würden sie uns zumindest dafür ins Gefängnis werfen, weil wir ihr albernes Gesetz übertreten haben. Wenn wir von so etwas Gebrauch machen müssen, dann wäre es wahrscheinlich sicherer, wenn ich mich bei den Tieren erkundigen würde, obwohl ich etwas gegen die Vorstellung habe, dass ich mit einer diplomatischen Mission die neue Heimat meiner Schwester betrete, nur um gleich als erstes das Gesetz des Königreiches zu übertreten.« »Ich finde, dass dies keine Rolle spielt«, sagte Karola. »Außer dem ist es ein albernes Gesetz, und so wie sich die Leute beneh men, wird ohnehin niemand erfahren, dass wir hier sind. 109
Vielleicht würde einer, der den Umgang mit Fremden gewöhnt ist, mehr Glück haben«, sagte Jack mit einem gewinnenden Lä cheln. »Geben Sie mir das Geld, das Sie an diesen Schmied ver schwendet hätten, ehrwürdige Dame, und ich werde den Weg zur Hauptstadt herausfinden.« »Mein Schwert dürstet danach, dir dabei zu helfen«, bot sich Bronwyn an, obwohl ihr Schwert dazu natürlich keine Gefühle in dieser oder jener Hinsicht hatte. Aber Bronwyn verabscheute es, die einzige Person aus den Augen zu lassen, die zu ihr gleichblei bend freundlich gewesen war. Man konnte nämlich nie wissen, wann es Karola wieder einfiel, sie in etwas Flüssiges zu tunken, oder wann Anastasia wieder ihren königlich-schwanenhaften Rappel bekam, und Madame Himbeere war kühl und nüchtern, obwohl sie sich einen gewissen Respekt vor Bronwyns Rang und Person bewahrt hatte. »Nein, meine liebe Hoheit«, erwiderte Jack, »du musst hierblei ben. Um diese Aufgabe bewältigen zu können, muss man wie ein waschechter Zigeuner umherschleichen, und deine eindrucksvolle Größe lässt dich dafür nicht gerade geeignet erscheinen.« Er blieb einen Moment lang unschlüssig stehen und kam noch einmal kurz zurück, um vertraulich hinzuzufügen: »Aber da diese Stadt auch für mich fremder ist als gewöhnlich und ich nicht meine Leute dabeihabe, die mir Rückhalt bieten, könntest du dein Schwert um meinetwillen bitten, durstig zu bleiben, und wenn du mich rufen hörst – « Sie nickte zustimmend und er verschwand in einer Wolke von verblichenen Fetzen, in der ab und zu ein paar schmutzige Fersen aufblitzten. »Dafür, dass ich so betont links liegengelassen werde, fühle ich mich furchtbar verdächtig«, bemerkte Madame Himbeere, stellte ihren Koffer hin und ließ sich direkt daneben auf dem sandigen Ufer nieder. Bronwyn und Karola folgten ihrem Beispiel. Inner halb der nächsten Viertelstunde kamen drei Frauen auf ihrem Weg von einem kleinen, weißverputzten Haus am einen Ende des
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Dorfes zu einem ebenso unansehnlichen am anderen Ende an den Wartenden vorbei. »Man kann es ihnen eigentlich gar nicht übelnehmen, dass sie so geschwätzig sind. Dies scheint ja wirklich eine furchtbar geschäf tige und aufregende Stadt zu sein.« Auch sie blickte nun sehn suchtsvoll dem Piratenschiff nach, das nun zu einer kleinen Beule am Horizont zusammengeschrumpft war. »Ja«, sagte Karola, die gerade die Leute beobachtete, die in den Häusern aus und ein gingen und offensichtlich alles mögliche miteinander zu tun hatten, bis sie an den Fremden vorbeikamen und betreten schwiegen. »Stimmt’s?« »Für ein Fischerdorf«, bemerkte Madame Himbeere weise, »scheinen sie ja nicht viel zu fischen. Seht ihr, dass sie die mei sten Boote umgedreht haben und seht nur«, sagte sie und streckte ihre Hand nach einem seidigen, grauen Spinnengewebe aus, das lose von einem Fischernetz herabhing, »diese Netze sind trocken. Sie sehen aus, als ob sie nur zum Schmuck da wären und sich seit Jahren kein Fisch mehr darin verfangen hätte.« »So dass anzunehmen ist, dass sie nicht nur borniert, sondern obendrein auch noch faul sind«, sagte Karola. »Na und?« »Ich frage mich, ob sie Algen essen wie deine Freunde im Was ser. Ich sehe nämlich keine Gärten hier herum oder Tiere oder irgend etwas anderes, das man essen könnte, ihr vielleicht?« »Heute ist eben ein Feiertag«, sagte Bronwyn, »und um ihre Götter zu ehren, fasten sie und sprechen mit keinen Fremden.« Und wieder huschte eine Frau an ihnen vorüber, sie warf nur einen flüchtigen Blick auf Karolas braune Lumpen, Madame Himbeeres spitzige Ohren und Bronwyns Rüstung und floh wie der. Karola dachte, dass sie ein Zeichen wider den bösen Blick machen würde und erwartete das gleiche von ihrer eigenen Grup pe, weil an diesem Dorf irgendetwas faul war. Obwohl sie zuerst gedacht hatte, dass die Leute hier sich auch nicht von den anderen unterschieden, stellte sich bei näherer Betrachtung heraus, dass dies nicht der Fall war: Sie waren sehr viel unattraktiver als die 111
durchschnittlichen Argonier. Allesamt schienen sie untersetzt zu sein, sogar die größeren und runzelten dauernd die Stirn. Sie hatten alle eine fliehende Stirn, eine weit vorspringende Nase, ein fliehendes Kinn und ihre Augenbrauen waren dichter als ihr Haupthaar. Aber als sie noch länger wartete, sah sie, dass einzelne Personen, die nicht in die Nähe des Strandes kamen, etwas besser aussahen als der Rest. Diese Leute waren entweder sehr alt oder sehr jung, und sie trugen goldene Armreifen. Auch auf die Entfer nung konnte sie sehen, dass diese mit hübschen Schneckenmu stern verziert waren. »Seht mal, sind die aber hübsch. Vielleicht fischen sie hier gar nicht mehr und machen nur noch die Armbän der, die sie dann verkaufen. Ich wünschte, ich hätte ein bisschen Geld dabei. Das ist das Hübscheste, was ich in diesem blöden Dorf bis jetzt gesehen habe.« Sie hörte jemand hinter sich kichern, drehte sich um und sah eine kleine Gestalt mit einem verhutzelten Gesicht und jugendli chen Sommersprossen an der Nasenwurzel, welken Wangen und einem katzenartigen, dreieckigen Kinn, die die Hand ausstreckte, um Anastasia übers Gefieder zu streichen. Der Schwan, der ge wöhnlich nicht zu Vertraulichkeiten ermutigte, schien in diesem Fall eigenartigerweise nichts dagegen zu haben. Das alte Weib streckte ihre andere Hand Karola entgegen. Eines der begehrten Armbänder schmückte das Handgelenk der alten Frau über den knorrigen Händen mit den hervortretenden Adern. Obgleich die Flicken auf ihrem schmutzigen Kleid ordentlich draufgenäht waren, war von ihren bloßen Füßen angefangen bis zu ihrem unordentlich geschnittenen Haar nichts, was auf den Wohlstand hindeutete, der den Kauf von einem derartigen Schmuckstück ermöglicht hätte. »Du kannst meines nicht haben, Fräuleinchen«, sagte sie mit einer Stimme, die seltsam jung und melodiös war. »Ich geb’s dir für nichts, aber es wird dich was kosten.« Als sie dies sagte, tippte sie mit dem Finger auf Karola, als ob sie auf den Scherz noch besonders hinweisen wollte, und kicherte wieder. Wenigstens war sie leicht zu unterhalten, dachte Karola verdrießlich. 112
»Das ist ja sehr nett von Ihnen, aber ergibt überhaupt keinen Sinn«, sagte sie zu dem Hutzelweib mit leicht gerunzelter Stirn, um ihre Missbilligung anzudeuten, damit das arme, alte Ding verstand, dass wenigstens einer hier wusste, wo es lang ging. »Nein, wirklich nicht? Aber das ist doch ein Sklaven-Armband, Fräuleinchen! Ich würde es dir ja gerne geben, aber es würde dich deine Freiheit kosten, hi, hi. Hast du’s nun verstanden?« Hinter ihr war plötzlich ein Knurren und Bellen zu hören, und ein kleiner Hund, eine Art Terrier, stürzte zwischen ihren Beinen hervor, um Anastasia die Meinung zu stoßen. Madame Himbeere sagte ganz schnell etwas in einer fremden Sprache, worauf die alte Frau nur angespannt hinter sich blickte und den Hund und Madame Him beere gleichzeitig zum Schweigen brachte. »Sie sprechen die Sprache, gnädige Frau, nicht wahr? Das sollten Sie aber hier herum sein lassen, sonst werden Sie dafür festgenommen, dass Sie Magie ausüben, und werden sich eine dieser Spangen dafür ein handeln, wenn Sie’s überhaupt überleben.« »Jetzt seien Sie bloß nicht albern. Ich habe doch keine Magie ausgeübt, und die Sprache, wie Sie sie nennen, ist doch nur eine Sprache wie jede andere.« »Ach ja, zwar wissen wir beide das, aber …« Nun kam Jack die Straße – oder was man in diesem Dorf als solche bezeichnen konnte – herauf. Mehrere Männer begleiteten ihn. »Ich gehe nun besser wieder und ihr auch, wenn ihr wisst …« Aber sie sollten nicht mehr erfahren, was sie ihnen sagen wollte, denn einer der Männer rief ihren Namen, woraufhin sie dann so schnell davon hoppelte, dass ihre alten Beine eine erstaunlich weite Strecke in verhältnismäßig kurzer Zeit zurücklegten. Madame Himbeere erhob sich, um den Männern entgegenzutre ten, die Jack begleiteten, ihre fuchsrote Mähne und ihr olivgrüner Mantel blähten sich in der salzigen Brise. Die Männer waren gut gekleidet und hatten Gewänder aus einem Stoff an, der wie feines Leinen aussah. Ihre Kleidung war einfach geschnitten, aber für die Dauer gemacht. Einer davon umklammerte Jacks Hals mit der Hand, als ob er ihn abknipsen wollte. Bronwyn und Karola stan 113
den nun ebenfalls auf. Bronwyn stellte sich vor Madame Himbee re hin, so dass ihr Schild die beiden Weggefährten und sie selbst deckte. Die andere Hand hatte sie auf dem Schwertknauf. »Kein unberechtigter Aufenthalt«, sagte der Mann in der Mitte und fing beinahe zu schreien an. Dabei warf er die Arme nach hinten, als ob er sie alle damit ins Meer zurückwerfen wollte. »Sie brauchen ja wirklich nicht zu schreien«, sagte Madame Himbeere gereizt, »ich kann Sie nämlich auch so ganz gut hören und verstehen.« Verdutzt und verunsichert wie er war, schaute er sich nach sei nen Freunden um, die die Dame und ihre Kameraden ansahen, als ob sie von ihnen erwarteten, dass sie jetzt gleich in den Boden versänken. »Nun, wenn ihr mich verstehen könnt, dann lasst euch das folgende gesagt sein: Ihr springt jetzt am besten gleich in euer kleines Boot dort drüben und begebt euch wieder dorthin, von wo ihr gekommen seid!« »Ich bitte Sie um Entschuldigung, mein Herr«, sagte Madame Himbeere in einem Ton, der klarmachte, dass sie nichts derglei chen im Sinn hatte, »aber ich bezweifle, dass meine Schwester, Ihre Königin Lilienperle, Ihre Abneigung gegen meine Gesell schaft teilt!« »Kaiserin«, berichtigte sie der Mann, der rechts von Jack stand und sich genüsslich die Lippen leckte. »Wie bitte?«, fragte der Mann, der Jack am Wickel hielt. »Kai serin. Lilienperle ist jetzt Kaiserin. Erinnerst du dich nicht, Kaiser Leofwin hat sie doch letztes Jahr gekrönt?« »Ich freue mich, dies zu hören«, sagte Madame Himbeere. Der Mann in der Mitte war nicht überzeugt von ihr. »Da könnte doch jeder x-beliebige vom Meer hereingesegelt kommen und behaup ten, dass er mit dem Königshaus verwandt sei. Obwohl, die Kaise rin hat eine Schwester.« »Ja, und vor allem auch eine Mutter«, sagte der Mann, der sich die Lippen geleckt hatte, kläglich.
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»Ich habe sie beide mit eigenen Augen gesehen. Die Schwester der Kaiserin ist aber wirklich keine, die auf fremden Segelschiffen Lustfahrten unternehmen würde. Sie ist eine richtige Prinzessin und mit Prinz Leofrig verheiratet …« »Das freut mich ja so sehr für sie«, sagte Madame Himbeere. »Und sie hat vor allem keine spitzigen Ohren!« »Nun denn, da Sie ja mit meiner Familie so vertraut zu sein scheinen und sich so genau an die physiognomischen Eigenheiten meiner Schwester erinnern können, wissen Sie vielleicht auch noch«, sagte Madame Himbeere und lächelte ihr Sägenblattlä cheln, »ob sie spitzige Zähne hat?« Während der forsche Kerl in der Mitte völlig verdutzt war, nick te sein lippenleckender Kamerad mehrere Male mit dem Kopf. »Ja, ja, das beweist alles, Murdo, sie hat die gleichen Zähne. Ja, Herr, sie ist …« Der dritte ließ Jacks Nacken los. »Wenigstens beweist das, dass sie von Menschenfressern abstammt«, gab er zu. Der Lippenlecker nickte wieder zustimmend. »Ja, spitzige Zäh ne sind ein sicheres Zeichen. Es heißt auch, dass Leofwins Groß vater, König Gawdauful der Kobold mit einer Frau verheiratet war, deren Zähne so spitzig waren, dass sie sich einmal so fest in die Lippe gebissen hat, dass sie anschließend verblutet ist.« »Ich – äh – das heißt, wir, scheinen einen Fehler gemacht zu haben, Madame«, sagte Murdo, »denn schließlich scheinen Sie ja die richtigen Voraussetzungen zu erfüllen, um den Fuß auf unse ren Boden zu setzen. Aber wir drei führen hier die Aufsicht, wäh rend der junge Herr mit seinen Gefolgsleuten bei Hofe ist, und Sie werden ja sicher verstehen, dass wir sehr vorsichtig sein müssen. Wenn Sie mit der kaiserlichen Familie verwandt sind, dann nehme ich doch schwer an, dass Sie gegenüber der Kaiserin unseren Eifer lobend erwähnen werden und sich nicht über unsere Fragerei beschweren.« Sie neigte anmutig den Kopf und die Pupillen in ihren Augen begannen zu funkeln. 115
»Aber wir werden ja ohnehin früh genug erfahren, ob Sie auch wirklich die sind, die Sie zu sein vorgeben«, sagte Murdo. »Ihre Schwester wird Sie sicherlich erwarten und eine Abordnung von Soldaten herschicken, um Sie abzuholen.« »Das würde sie bestimmt, wenn sie wüsste, dass ich komme, aber ich wollte sie mit meinem Besuch überraschen. Ich konnte ja wirklich nicht im Voraus ahnen, dass dieses Gestade so – gast freundlich ist.« »Schön, dass Sie das bemerkt haben«, sagte der Lippenlecker, wobei seine Blicke zwischen ihr und ihren Begleitern hin und her flitzten und ziemlich sehnsuchtsvoll an der flaumweich gefieder ten, knopfäugigen Anastasia haften blieben. »Vielleicht könnten Sie uns jetzt noch sagen, was eine nette Dame wie Sie in der Gesellschaft von diesen Vogelscheuchen verloren hat? Haben Sie die Insassen Ihrer Gefängnisse mitgebracht, wollen Sie sich und Ihren Schwestern damit etwa einen Riesenspaß bereiten?« Bron wyn erwiderte an Madame Himbeeres Statt: »Sie sollten ein biss chen höflicher sein, Fremder. Sehen Sie denn nicht, dass wir zahlenmäßig überlegen sind? Wie es der Zufall will, bin ich die Walküre der gnädigen Frau, Walkie die Kriegerin, und das sind die persönlichen Zwerge und obersten Berater der gnädigen Frau. Sie sind«, sagte sie geheimnisvoll, »zusammen fünfhundert Jahre alt.« »Hmmm«, sagte Murdo, »um so alt zu werden, müssen sie aber Magie betrieben haben!« »Überhaupt nicht«, unterbrach ihn Madame Himbeere ganz ru hig, sehr zu Bronwyns Erstaunen, »eine Veränderung in der Er nährung, im Klima oder in der Arbeit, die man ausübt, kann oft Wunder wirken hinsichtlich der Lebensdauer und der Gestalt. Nur, weil die Leute hier gewöhnlich nicht so alt werden …« »Wer sagt denn das?«, unterbrach sie der Kerl, der Jack hielt. »Nun, unsere Leute werden doch mindestens genauso alt wie irgendwelche hergelaufenen Zwerge…«
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Murdo warf ihm einen vernichtenden Blick zu und sagte: »Prin kel, pass auf, was du sagst. Auf etwas, was so sehr nach Magie schmeckt, kann man doch nicht stolz sein! Was ist mit dem Vo gel?«, fragte er Madame Himbeere, »ich nehme an, dass Sie uns jetzt dann gleich sagen, dass er Ihr Herr und Meister ist!« »Natürlich nicht«, erwiderte Madame Himbeere und fügte eine Unwahrheit hinzu, die Bronwyns würdig gewesen wäre, »Anasta sia ist mein Ross, das aber zur Zeit lahmt. Ich nehme an, dass ihr hier ein Kutscherhaus habt. Wenn nicht, tut es auch ein gewöhnli cher Stall, obwohl ich annehme, dass die Edelleute hierzulande wie anderswo auch auf dem Rücken von Schwänen zu reiten pflegen.« Murdo sagte nichts, sondern warf nur den Kopf zurück, womit er seinen Begleitern bedeutete, dass sie mit ihm zur Seite treten sollten, was sie auch taten. Die drei sprachen leise miteinander und warfen ab und zu Blicke zu den Fremden hinüber. Die Blicke waren nicht richtig feindselig, aber sie waren auch nicht besonders freundlich. Die Blicke, die Anastasia galten, waren gieriger als die anderen, dachte Jack. »Warum hast du dir ausgerechnet die ausgesucht?«, fragte ihn Karola. Er zuckte mit der Achsel und ließ den Kopf hängen, denn er fühlte, dass er seine Ehre verloren hatte. Er war unfähig, sein Volk zu führen, nun und in alle Ewigkeit. Offenbar konnte er nicht einmal richtig das Terrain sondieren. »Verzeiht mir«, sagte er traurig aber liebenswürdig. Es war immer ratsam, liebenswürdig zu sein, wenn man um Vergebung bat. »Das Gasthaus im Dorf ist gleichzeitig das Hauptquartier dieser Polizisten.« Sie hatten ihn in dem Augenblick gepackt, als er zur Tür herein kam, was er tun musste, weil das Haus keine Fenster hatte, nur weißen Verputz. Sie wollten sofort wissen, woher er kam und was er hier zu suchen hatte. Das geschah, als er sie zu Madame Him beere und Bronwyns schützendem Schwert zurückführte.
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VI
Im Wirtshaus war nicht besonders viel los. Es war auch kein Ort, an dem es besonders lustig zugegangen wäre. Nachdem den Fremden das Abendessen serviert worden war, wusste Jack auch, warum. Zum Essen hatten sie eine Schüssel mit grauweißem Brei bekommen, der schwarz gesprenkelt war und der im wesentlichen fade schmeckte, aber einen bitteren Nachgeschmack hatte. Ser viert hatte ihn Murdos Frau, die genauso gut angezogen war wie ihr Mann und genauso unansehnlich war. Wenn Wölfe plötzlich ihr Fell verlieren, auf ihren Hinterbeinen stehen und sich Kleider anziehen würden, dachte Jack, dann hätten sie wahrscheinlich wie Murdos Leute ausgesehen. Die sieben Kinder waren genauso schlimm, der Älteste sah so aus, als ob er ein oder zwei Jahre jünger wäre als Jack, der Jüngste war noch ein Baby, das wie ein übergroßer Ball zwischen den Geschwistern hin- und hergereicht wurde. Sie machten einen ebenso reinlichen Eindruck wie ihre Eltern, nur fauchten sie sich ständig an und je nachdem zwickten sie ihre Mutter oder jammerten ihr etwas vor. Nach dem Abendessen wühlte Madame Himbeere in ihrer Rock tasche herum und zog ein Stück Gold heraus. »Dies sollte die Auslagen decken«, sagte sie und gab es Murdos Frau. Mutter Murdo musterte das Goldstück, als ob es Schmutz wäre. »Oh, das bezweifle ich aber, gnädige Frau«, sagte sie. Obwohl man ihr nichts davon gesagt hatte, dass Madame Himbeere angeb lich mit dem Herrscherhaus von Frostingdung verwandt sein wollte, behandelte sie die Dame mit Ehrerbietung, die ihrem mit Seide bestickten und mit Spitzen besetzten Gewand und der To pasbrosche, die ihren Mantel zusammenhielt, entsprach. »Was? Das ist aber genug Gold, um zwei Pferde davon zu be zahlen, und dann ist immer noch was übrig für das tägliche Brot!« »Vielleicht in der Gegend, aus der Sie kommen, gnädige Frau«, sagte Frau Murdo und wischte sich die Hände an der Unterseite ihrer makellos reinen Schürze ab. »Aber hier wird mit Eisen be118
zahlt.« Ihr Mann warf ihr einen abgrundtiefen Blick zu, so dass sie schnell und mit einem Großmut hinzufügte, der für die Leute hier überhaupt nicht typisch zu sein schien: »Aber ich bin sicher, dass Sie Ihre Rückstände bezahlen werden, wenn Sie Ihr Gold erst einmal in die hiesige Währung eingetauscht haben. Wenn Sie Geld brauchen, könnten Sie ja auch diesen hübschen Vogel ver kaufen, dann hätten Sie genug Bargeld, um eine Zeitlang davon leben und um Armreifen für Ihre Sklaven kaufen zu können. Die Münzen, die Sie da haben, können Sie gut dazu verwenden, die Sklavenarmbänder zu verzieren«, fügte sie anerkennend hinzu. »Ja, wir haben eine alte Frau getroffen, die uns erzählt hat, dass sie eine Sklavin sei, und uns ihr goldenes Armband gezeigt hat. Aber warum tragen eure Sklaven so wertvollen Schmuck?« »Habt Erbarmen, gnädige Frau, aber Gold ist hier in Frosting dung nun mal nicht so wertvoll. Eisen ist den Umständen entspre chend das Material, auf das es ankommt. Wir fördern beides in unseren Minen, und lange Zeit hindurch trugen die Sklaven bloßes Eisen. Aber die Kaiserin, als sie noch Prinzessin war, fand, dass dieses Land ein bisschen herausgeputzt werden müsste, und ord nete an, dass alle eisernen Armreifen in Gold getaucht wurden. Zugegeben, es glänzt schöner und die Armreifen können auch ein bisschen leichter und billiger hergestellt werden. Wer war denn die alte Dame, die Sie getroffen haben, gnädige Frau?« »Oh, sie war sehr alt und hatte einen H …« »Es war Glitha. So, jetzt reicht’s aber«, sagte Murdo. »Unsere Gäste sind sicher zu müde für dein Geschwätz. Sie werden hier übernachten. Du solltest sie jetzt auf ihre Zimmer bringen. Die Dame schläft im großen Zimmer, die beiden Dienerinnen im Zimmer daneben und der Diener im kleinsten Zimmer.« Da Mutter Murdo einen bestürzten Eindruck machte, sagte Ma dame Himbeere: »Wir wollen Ihnen aber keine Ungelegenheiten bereiten. Da wir es gewöhnt sind, ohne großen Komfort zu leben, könnten wir den Raum mit Ihnen auf Ihrem Stockwerk teilen, wenn Sie und Ihre Familie gewöhnlich hier übernachten …« 119
»Meiner Treu, gnädige Frau«, erwiderte Mutter Murdo, die auf halbem Wege zur Tür stehengeblieben war, »wir denken ja gar nicht daran, hier zu übernachten. Wir haben doch unser eigenes Häuschen mit Eisenbeschlägen und …« »Gnädige Frau brauchen sich um uns keine Sorgen zu machen«, sagte Murdo. »Wir kümmern uns um unsere eigenen Angelegen heiten und würden Ihnen empfehlen, dasselbe zu tun.« Karola und Bronwyn fingen bereits zu gähnen an und waren froh, als sie sich in das Zimmer zurückziehen konnten, das ihnen von Mutter Murdo zugewiesen worden war. Da ihnen Jacks natür liches Gespür für Intrige abging, nahmen sie auch nicht die be drohlichen Untertöne in Murdos höflichem, wenn nicht sogar freundlichem Benehmen wahr. Der Mann erinnerte Jack an einen Gutsbesitzer, der die Zigeuner hauptsächlich deswegen in sein Dorf hatte kommen lassen, weil er ihnen die Schuld an der Miss ernte in dem betreffenden Jahr zuschieben wollte. Glücklicher weise waren aber ein paar Stammesangehörige erst später ge kommen und hatten ein paar Bewohner beim Errichten eines Galgens erspäht, so dass seine Leute noch rechtzeitig entfliehen konnten. Deswegen stach ihm auch sofort der hölzerne Balken in die Augen, mit dem man seine Tür von außen verriegeln konnte, während sich auf der Innenseite kein Schloss befand. Die Vorrich tung war also dazu bestimmt, den Insassen einzuschließen und Eindringlingen jederzeit zu gestatten hereinzukommen. Aber ein echter Zigeuner war stolz darauf, dass er wie eine Katze war – es war gleichermaßen unmöglich, ihn dort auszuschließen, wo er hineinwollte, wie es auch unmöglich war, ihn dort einzuschließen, wo er hinauswollte. Wenn Jack nicht so angestrengt darüber nachgedacht hätte, wie er entkommen könnte, wäre er jetzt belei digt gewesen. Wie hätten die Leute schließlich auch wissen sollen, dass er nicht der war, der er zu sein schien? Wer weiß, vielleicht würde er auch von seinem Plan Abstand nehmen, dem Schloss einen späten Besuch abzustatten, um dort das Gold zu entwenden, das in diesem Land offenbar wertlos war. Aber der Riegel würde
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ihm dabei nicht im Weg sein. Schließlich hatte er ja noch seinen Dolch. Das Zimmer war einfach, aber gemütlich eingerichtet. Auf dem Bett lag eine fadenscheinige blaue Decke. Unter dem Bett lag eine gewebte Schilfmatte auf dem Boden, die braun eingefärbt worden war und auf der ein irdener Nachttopf stand. Außerdem war auch noch ein Waschtisch im Raum mit einer Waschschüssel und einem Wasserkrug. Jack ging zum Bett hinüber, kroch unter die Decke und tat so, als ob er schlafen würde. Wenig später hörte er, wie der Riegel an der Tür in die Halterung klappte. Er kroch zur Tür und lauschte. Draußen war ein Streitgespräch im Gange. »Aber was ist, wenn sie wirklich die ist, für die sie sich aus gibt?«, sagte eine vertraute Piepsstimme, in der er eine seiner ersten Bekanntschaften in Frostingdung wiedererkannte. »Dann werden wir alle hingerichtet!« »Sie kann es gar nicht sein. Findest du denn, dass sie wie die Schwester einer Kaiserin aussieht?« »Nein, abgesehen von den Zähnen.« »Die hat jede Menschenfresserin. Nein, ich kann dir sagen, sie ist eine Abenteurerin, und dieses Mal ist sie eben etwas zu weit gegangen. Jedenfalls sind nicht wir es, die ihr etwas zuleide tun. Wir geben ihr nur zu essen und bringen sie so komfortabel unter wie nur irgend möglich und wie es unsere Pflicht ist. Niemand könnte Besseres leisten. Wenn sie irgendwelchen Schaden davon trägt, dann ist es auch nichts anderes, als was uns und unsresglei chen schon oft widerfahren ist, stimmt’s?« »Ooooh, aber Oswy!«, unterbrach sie Mutter Murdo, »denk doch daran, die Schwester der Kaiserin! Sollten wir nicht …?« »Wie kannst du vergessen, was deinem Sohn und Cressida Prinkle widerfahren ist? Es ist ja schön und gut, wenn man alles so zurechtmacht, dass es die Kaiserin hübsch findet, aber der schöne Schein hat eben noch nichts mit Herrschaft zu tun. Es wird langsam Zeit, dass der Adel einsieht, was die gewöhnlichen Sterb 121
lichen hier draußen mitmachen. Denk doch nur mal an den jungen Saufbold, der alle Soldaten mitgenommen hat, als er in die Haupt stadt gezogen ist und uns ohne Schutz zurückgelassen hat. Den größten Hafen von Frostingdung! Und wenn sich wider Erwarten herausstellen sollte, dass sie doch die Schwester der Kaiserin ist, wer weiß schon, dass sie hier ist, außer ihr selbst, der BlechRiesin und ihren zwei dunklen Bälgern?« Sein Lachen war sehr unfreundlich. »Dann glaubst du also nicht, dass sie fünfhundertjährige Zwerge sind?« »Wenn sie’s sind, dann sind sie an den falschen Ort gekommen, um fünfhunderteins Jahre alt zu werden. Beeilt euch, die Sperr stunde kann jetzt jeden Moment beginnen, und wir müssen heute Nacht noch unsere Messer schleifen, damit wir uns morgen früh gleich um den Vogel kümmern können!« Die Leute verließen den Wirtshaussaal unter Murren. Jack hörte noch das Rücken der Bänke, das Kreischen der Kinder und hier und da einen Klaps, dann trat wieder Stille ein, die allerdings einen Moment später durch einen tiefen, markerschütternden Hörnerschall durchbrochen wurde. Jack nahm an, dass dies das Zeichen zur Sperrstunde war. Mit einem Sachverstand, der ihn selber ganz erregt machte, steckte er die Klinge seines Dolches in den Spalt zwischen Tür und Rahmen und schob sie nach oben, bis sie auf den harten hölzernen Riegel stieß, und immer weiter, bis der Riegel parallel zur Türkante war. Dann stieß er wieder zu und schlich sich zur Tür hinaus. In der Wirtsstube war es dunkel, nur ein schwacher Geruch von verbranntem Lampenöl hing noch im Raum. Jack nahm an, dass Madame Himbeere, Bronwyn und Karola ebenfalls in ihren Zimmern eingesperrt waren, wie er es eigentlich hätte sein sollen, und mit einer Anwandlung von Ritterlichkeit überleg te er sich kurz, ob er sie befreien sollte. Er hielt den Atem an, bis diese für einen Zigeuner untypische Anwandlung vorüber war. Schließlich war Bronwyn mit viel besseren Waffen ausgerüstet als er, Karola verfügte über magische Kräfte, und er zweifelte nicht 122
daran, dass auch Madame Himbeere über irgendwelche Geheim kräfte verfügte, die in diesem Land ein verbotenes Gut waren. Alle diese Damen konnten sich aufgrund ihrer Ausrüstung sehr viel besser verteidigen, als er dies vermocht hätte. Die Gefahr, auf die Murdo hingewiesen hatte, schien ihn nicht unmittelbar zu bedrohen, und wahrscheinlich hatte er Jacks Be gleiter nur deswegen als gefährdet angesehen, weil er sie als ganz normale Frauen und Kinder eingeschätzt hatte. Hah! Andererseits konnte sich Jack auch deswegen nicht dazu ent schließen, die Türen der anderen anzurühren, weil er Angst hatte, dass er seine Kameraden damit aufwecken würde, er vermutete nämlich, dass sie seine Plünderungsvorhaben nicht gutheißen würden. In ein paar Stunden würde er ja ohnehin wieder zurück sein. Er wäre dann um vieles reicher und würde sie wecken, um ihnen von dem Gespräch zu berichten, das er mitangehört hatte. Gemeinsam würden sie dann die Vorkehrungen treffen, damit sie alle heil und so beweglich blieben, dass sie sich auf den Weg in die Hauptstadt machen konnten. Als er sein Gewissen dergestalt erleichtert hatte, wagte er sich durch die Wirtsstube und zur Eingangstür hinaus – die nicht ver riegelt war, was ihn nicht wenig verwunderte – und schlug den Weg ein, der vom Wirtshaus zum Stall führte. Im Stall war Licht. Da Anastasia wahrscheinlich nicht aufge blieben war, um zu lesen, und auch nicht dazu imstande gewesen wäre, ein Licht anzuzünden, selbst wenn ihr die Gastgeber ein solches freundlicherweise zur Verfügung gestellt hätten, musste er annehmen, dass noch jemand anderer mit im Stall war. Vielleicht ein Stallknecht? Jedenfalls wäre es jetzt ganz gut, wenn er seine etwas angeschlagenen Späherfertigkeiten einsetzen würde, um herauszufinden, wer die Person war, und sich gleichzeitig der Sicherheit von Prinzessin Anastasia zu vergewissern, bevor er sich selber auf die Abenteuersuche machte. Es ging ihm durch den Sinn, dass, wenn er sie aus dem Stall befreite, sie vor Madame Himbeeres und Karolas und Prinzessin Bronwyns Tür Wache 123
stehen und die Türen, wenn notwendig, entriegeln konnte. So würde er sich die notwendige geistige und körperliche Freiheit verschaffen, um seinen eigenen Interessen nachgehen zu können. Sehr zustatten kam ihm, dass der Mond wenigstens schon so voll war, um die Nacht hinlänglich zu erleuchten. In seinem Licht sah Jack, dass die Frostingdungianer Eisen sehr reichlich ver wendeten für Leute, die dieses Metall so hochschätzten. Der Stall war an drei Stellen mit Eisenstreifen versehen, einer befand sich in der Nähe des Bodens, ein anderer lief um die Mitte herum und quer über die Tür. Als er nahe genug war, um dieses Detail zu gewahren, hörte er auch ein seltsames Gackern und Singen und einmal ein raues Gebell. »Sag mal, würde es dir sehr viel ausmachen, aber ich versuche gerade den Schönheitsschlaf nachzuholen, den ich so bitter nötig habe?« Jack spitzte durch einen Spalt in der Mitte der Doppeltür. Das Licht im Stall, das er von der Tür des Wirtshauses aus gesehen hatte, war eine Kerze, die das verwirrte Gesicht der kleinen alten Frau erhellte, die er von seinen Freunden hatte weghoppeln sehen, als er mit den Gendarmen eingetroffen war. Sie blinzelte einen Moment lang neugierig nach oben, schüttelte sich dann kaum merklich und bewegte den Kopf hin und her, als sie den gelbbraun gefleckten Hund zu ihren Füßen fragte: »Kann man auch das Gegenteil von taub werden, Drache? Oder bin ich gar nicht mehr richtig im Kopf und höre schon Stimmen in meiner Verwirrung? Wie dem auch sei – sollen wir vielleicht noch ein Lied singen oder willst du lieber tanzen? Komm, lass uns tanzen, wie? Hoch das Bein, Jüngelchen, hoch, hab’ ich gesagt!« »Und ich sage, aufhören! Das ist eine königliche Verordnung!«, zischte Anastasia von oben herab. Obwohl sie Jack nicht sehen konnte, nahm er an, dass sie auf den Heuboden geflogen war. »Pst, Drache! Sei mal still!« Die alte Frau erhob die Hand und sah sich verstohlen um. Der Hund winselte, und sie streckte gei stesabwesend die Hand nach ihm aus, um ihn zu tätscheln, wäh rend sie mit den Blicken immer noch den Raum absuchte. 124
Schließlich zog sie die Schultern hoch, als ob sie erwartete, dass ihr jemand ein Messer dazwischen hineinstoßen würde, und mach te sich daran, die wacklige Leiter hinaufzusteigen. Jack, der die größte Achtung vor alten Damen hatte, da seine Großmutter immer noch jeden Mann seines Stammes im Lügen und Kämpfen schlagen konnte, zog die Tür auf und schlich sich nach drinnen. Er wollte der Frau sagen, dass sie sich nicht ängsti gen sollte, dass er selber mit Anastasia sprechen würde. Aber plötzlich fiel ihn der Hund kläffend an und schnappte wütend nach ihm. Er starrte das Tier schweigend an, hypnotisierte es mit seinem zauberkräftigen Zigeunerblick und gebot ihm, still zu sein. Instinktiv gehorchte er ihm und er sprach in seiner Muttersprache beruhigend auf den Hund ein. Dieser setzte sich und hielt den Kopf schief, als ob er zu verstehen versuchte, was genau Jack meinte, und als ob er es bedauern würde, dass er die Zigeuner sprache nie so richtig gemeistert hatte. Dann schlug er mit dem Schwanz auf den Boden und winselte wieder. Jack, den Blick immer noch unverwandt auf das Tier geheftet, ging darauf zu, streckte die Hand aus und sprach mit ihm. Der Hund stand auf, wedelte mit dem Schwanz und leckte seine Hand. Die Frau auf der Leiter drehte sich um. »Wie?«, fragte sie, und dann, als sie Jack sah, rief sie nach dem Hund. »Bist du verrückt, Drache? Du sollst ihn doch nicht ablecken, sondern ihn beißen! Los, gib ihm schon den Rest!« Aber der Hund hörte nicht auf, Jacks Handfläche zu lecken. Die alte Frau fiel mehr die Leiter herab, als dass sie sie herabgestiegen wäre, und hoppelte dann auf Jack zu, indem sie vor sich hinmurmelte: »Wenn man einmal eine Sache richtig gemacht haben will …« »Tadle nicht deinen Hund dafür, Großmutter«, sagte Jack lie benswürdig, »denn alle Tiere finden mich unwiderstehlich!« »Ja«, rief Anastasia von oben herab, »und wenn du versuchst, ihm zu widerstehen, dann kennt er Mittel und Wege, einem seinen Zauber aufzuzwingen. Ich muss es ja wissen!« Die alte Frau blieb mitten im Gehen stehen und ließ ihren Blick von Jack zum Heuboden wandern, dann lehnte sie sich nach vorn 125
und ließ ihren Daumen in die Höhe schnellen, während sie den Kopf zur Seite neigte und dabei Jack fragend ansah. Er lächelte nur und zuckte mit der Achsel. »Das ist nur die Prinzessin Anastasia, Alterchen, die ihren Spaß mit dir treibt!« »Welche Prinzessin?«, fragte die alte Frau. »Die Schwänin. Sie ist Prinzessin Anastasia. Du hast sie sicher schon heute am Strand gesehen, bevor du weggerannt bist.« Anastasia flog nun im Gleitflug zu ihnen herab und funkelte die alte Frau hochmütig an. Als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, schien sie zu bemerken, dass viel Pflege notwendig sei, um ihr Gefieder wieder glattzustreichen. »Ach ja, natürlich, die Schwänin!«, sagte die alte Sklavin. »Sie muss natürlich eine Prinzessin sein, nicht wahr?« Sie kraulte Anastasia unter dem Schnabel. »Verstehst du, meine Schönheit, wenn du wirklich eine hochwohlgeborene Dame bist, dann ver wandelst du dich am besten wieder in deine menschliche Gestalt zurück, wenn du am Leben bleiben willst. Denn das Fleisch ist knapp hier, und …« Plötzlich durchdrang ein langgedehnter Schrei die Stille der Nacht, worauf die Kinnlade der Alten über ihre Oberlippe herauf klappte, und ihr Kopf fing an, leicht zu zittern, als ob sie eine gewaltige Anstrengung machte, sich umzudrehen. »Was ist denn das?«, fragte Jack. Sie wartete so lange mit der Antwort, bis der Schrei wieder ver klungen war, dann sagte sie mit einem schlauen Lächeln: »Das? Nun, das ist einer der Gründe dafür, warum die Leute hier so scharf auf Fleisch sind. Aber lass dir’s nochmals gesagt sein, Schönheit, du tätest wirklich gut daran, wenn du dich wieder in dein wahres Selbst zurückverwandeln würdest!« »Gute Frau, dies ist mein wahres Selbst während der letzten zwei Jahrzehnte gewesen, und ich werde es nicht dulden, dass man mir Unverschämtheiten an den Kopf wirft, in dieser Verklei dung oder in irgendeiner anderen!« 126
»Das Alterchen hat doch nur versucht, Sie zu warnen, Hoheit«, sagte Jack. »Die Menschen, die uns hier untergebracht haben, scheinen wirklich eine ziemlich hungrige Rasse zu sein.« »Ach, dann bist du also der Junge, der zu dieser rothaarigen He xe gehört?«, fragte die Alte und sah Jack dabei scharf an. »Hat dich Murdo zum Schlafen hierhergeschickt?« »Nein, wir sind alle im Wirtshaus untergebracht, aber …« »So, so?« Sie kicherte wieder, aber wie Jack feststellte, nicht vor Vergnügen, sondern weil sie nervös war. »Oho, dieser Murdo meint wohl, dass er ein schlauer Hund ist, aber du bist noch viel schlauer, wie, Junge? Schlau wie du bist, hast du dein Schicksal vorausgesehen«, sagte sie, indem sie die Vokale des Wortes auf eine komische Art und Weise dehnte, aber er hatte immer noch das Gefühl, dass sie sich ganz und gar nicht amüsierte, »und natürlich gemeint, dass du ihm entronnen bist, stimmt’s?« »Ja, ich habe wirklich die Tür entriegelt und beschlossen – äh – , mich umzusehen«, gab Jack zu. »Aber was mein Schicksal anbe trifft …« Er zuckte nur mit der Achsel. »Sobald ich heute Nacht meine Aufträge ausgeführt habe, werde ich meine Freunde von hier wegführen. Aber ich finde, dass die Prinzessin Anastasia solange bei ihnen wachen soll.« »Oh, das glaube ich aber nicht!«, erwiderte die alte Frau ki chernd, aber immer noch in vollem Ernst. Sie flüsterte hinter ihren vorgehaltenen Händen, aber immer noch so laut, dass man es in der Wirtschaft hören konnte: »Du musst nämlich wissen, die Sperrstunde hat schon angefangen!« »Liebe Großmutter, ich bin doch ein Zigeuner und nicht eures gleichen, eure Sperrstunde geht mich nichts an!« »Das ist Blödsinn, was du da sagst, mein Junge!« Sie drohte ihm mit dem Finger, hörte auf zu flüstern und sagte in einem Ton, der plötzlich stocknüchtern war: »Die Sperrstunde geht jeden etwas an!«
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»Warum bist du dann hier?« Er zeigte auf ihren Armreif. »Auch wenn du nur eine Sklavin bist, so verlangen sie doch sicher nicht von dir, dass du im Stall übernachtest?« »Sie würden noch Schlimmeres tun, wenn mein Herr es zulassen würde«, sagte sie. »Eine ungebildete, übellaunige und hässliche Bande, das ist es genau, was sie sind! Aber nein, ich bin hierher in den Stall gekommen, um bei Drache zu sein. Er ist der letzte Hund in ganz Suleskeria, und mein Herr sagt, dass er mir gehört und dass ich ihn behalten kann. Aber die Haushälterin will nicht, dass ich ihn bei mir im Schloss habe. Auch – habe ich natürlich Angst, wenn ich am Morgen nicht hier bin, um mit ihm zusammen wegzugehen, dass ihn Murdo und die anderen Dungies aufessen oder ihn denen dort zum Fraß vorwerfen, nur um dem Herrn und mir eins auszuwischen.« »Wem soll er zum Fraß vorgeworfen werden?« Die alte Frau deutete mit dem Kinn auf die Tür und sagte: »Ih nen, die jetzt draußen ihr Unwesen treiben, die dich an den Ort holen würden, wo Murdo meint, dass du jetzt bist, mein Junge; und was die Damen in deiner Gesellschaft anbetrifft, so werden sie wohl unweigerlich von den Unholden geholt werden.« Jack hatte die Tür einen Spalt offengelassen, als er hereinge kommen war. Als die Frau auf die Tür deutete, sah sie die Öff nung, machte einen Satz nach vorn und schrie: »Du Idiot! Du hast uns alle auf dem Gewissen!« Obwohl Jack überhaupt nicht wusste, warum sie so aufgebracht war, rannte er vor ihr zur Tür, um sie zuzumachen. Auf diese Weise wollte er sich für seine Kopflosigkeit entschuldigen. Als er das Holz berührte, fing das Mondlicht für einen kurzen Moment etwas Klumpiges und Rotes ein. Fingerlange Zähne schossen aus der Röte hervor und schnappten nach Jacks Gesicht. Geistesge genwärtig schlug er die Tür zu, er hörte noch das Geräusch von zersplitterndem Holz und dann wieder den Schrei. Erschöpft brach er an der Tür zusammen, sprang aber gleich wieder auf, um einen Riegel zu suchen, mit dem er die Tür von innen verrammeln konnte. 128
»Ist keiner da«, sagte die Alte. »Aber wenn die Tür nur erst mal geschlossen ist, dann wird sie das Eisen schon fernhalten.« »So langsam beginne ich die Währung hier zu verstehen«, sagte Jack und wischte seine Stirn ab, die plötzlich ganz feucht war. »Woher ist denn das gekommen?« »Wenn du’s sehen konntest – aus dem Meer«, erwiderte sie. »Die Netze hindern die meisten daran zu kommen. Sie haben eine furchtbare Angst vor den Netzen. Aber wenn du’s nicht hast sehen können, dann wär’s ein Klammheimlicher. Man kann sie meistens weder sehen noch hören, nur fühlen, bis sie dich dann schließlich packen – ja, und das wär’s dann. Komm jetzt!«, sagte sie und winkte ihm mit ihrem knorrigen Finger, ihr zu folgen. Sie führte ihn durch einen leeren Pferdestall. Mit den Fingern suchte sie einen Moment lang die Wand ab und sagte dann zu ihm: »Wenn ich ›jetzt‹ sage, dann musst du ganz schnell schauen, denn wenn wir das Loch zu lange offenlassen, finden sie es wahrscheinlich sofort.« Mit ihrem Daumen und Zeigefinger ergriff sie eine Vorwölbung an der Wand und zog einen Pfropfen aus seinem Loch heraus. »Jetzt!« sagte sie und schob ihn zu dem Guckloch hin. Jack schau te hinaus. Die Nacht war erfüllt mit entsetzlichen Erscheinungen. Nicht alle waren so schlimm wie das Ding an der Tür oder das Unge heuer, das der Wachtposten vom Schiff aus gesehen hatte, aber missgestaltete Geschöpfe in allen möglichen Ausfertigungen watschelten auf Schwimmflossen und Finnen, auf blutigen Fang armen und Beinen dahin. Die meisten waren an den Netzen hän gengeblieben, die eine Art Bollwerk gegenüber dem Meer dar stellten. Aber neben den Seeungeheuern gab es auch noch andere. Etliche davon bewegten sich in der Luft. »Was sind denn die fliegenden Geschöpfe?«, fragte Jack. »Das sind Flieger«, sagte sie, »sie stechen.« Sie waren so groß wie Fledermäuse und das Mondlicht wurde von speerartigen Auswüchsen an ihren Rüsseln zurückgeworfen. 129
»Ich hoffe, dass sie einen auf der Stelle töten«, sagte Jack be bend. »Sie töten dich überhaupt nicht«, sagte sie. »Wenn sie dich ge stochen haben, bringst du dich selbst um. Der Stachel ruft einen entsetzlichen Juckreiz hervor. Ich habe erwachsene Männer erlebt, die sich mit eigenen Händen die Haut vom Leibe rissen, bevor sie ihre Freunde fesseln konnten. Und selbst wenn man sie gefesselt hat und nicht in Öl tunkt, gehen sie bei dem Versuch zugrunde, sich zu kratzen.« Sie kicherte wieder. Der Mond spiegelte sich ganz klar an den weißverputzten Mau ern des Wirtshauses wider, das auf der anderen Seite des Weges lag. Auf dem Strohdach wimmelte es nur so. Es schwankte, ver schwand und kam wieder zum Vorschein, wobei es sich im Mond licht kräuselte. Ohne dass es ihm bewusst gewesen wäre, trat er wieder zurück und machte mit seinen Fingern ein Hornzeichen. Die Frau schubste ihn hinter sich und blickte nun selber durchs Guckloch. »Aha, die Klammheimlichen treten nun in Aktion. Ich hoffe, dass du die Mädchen nicht so sehr liebgehabt hast!« »Ich – was?« Etwas an diesem schimmernden Dach war schlimmer als die Greuel, die aus dem Meer kamen und die er wenigstens klar erkennen konnte. »Du wirst sie nicht mehr zu Gesicht bekommen, wenn sie die Klammheimlichen erledigen. Und in dem Gebäude tun sie das bestimmt. Kein Eisen, weißt du!« »Bron… Bronwyn!« Karola setzte sich aufrecht hin und wurde geschüttelt von Entsetzen. Etwas überquerte zitternd die Decke. »Bronwyn, so wach doch endlich auf!« »Wa…?« Die Prinzessin öffnete ein Auge und griff nach ihrem Schild. Die Mädchen teilten ein schmales Bett, und Karola musste halb auf ihrer Kusine liegen, um überhaupt ein bisschen Platz zu haben. Bronwyn hatte dies kaum etwas ausgemacht, denn Karola 130
war nicht besonders groß und bewegte sich auch nicht viel, aber dieses Gerüttel und Geschrei mitten in der Nacht musste aufhören. »Was für eine phantastische Zeit aufzuwachen!«, murmelte sie und zog den Schild über sie beide hoch. »Sieh doch, dort oben!« »Wo denn?« »Dort!« »Was soll denn dort sein? Ich kann nichts sehen!« Es war stock finster. »Ich weiß auch nicht. Man kann eigentlich nichts sehen – aber die Spuren in etwa mit dem Finger verfolgen.« Sie bewegte ihre Finger in einem Bogen, um eine unsichtbare Linie über ihnen nachzuzeichnen. »Aber da ist doch gar nichts«, sagte Bronwyn gähnend. »We nigstens nichts, was einen ängstigen könnte –YiiiIIIkkS!« Etwas war herumgewitscht; und ohne etwas gesehen zu haben, wussten sie beide, dass es entlang der Decke und an der Wand herunterge huscht war. Anschließend war es dann unterm Bett durch und an der Seite hochgekrochen, um sich unter Bronwyns Schild zu schleichen und die beiden Mädchen zu packen. Bronwyn war im Nu auf den Beinen, vor lauter Anstrengung, den Schild vor sich hinzuhalten, drehte es sie im Kreis herum. Stilles Gelächter ver spottete sie, während unsichtbare Finger an ihrem Hemd zogen, an ihren Haaren zerrten und sie zwickten. Karola war, ohne dass ihr das bewusst gewesen wäre, aus dem Bett gerollt und krümmte sich vor den Füßen ihrer Kusine am Boden. Wenn Bronwyn jetzt ihre Rüstung angehabt hätte, hätte sie wie ein Kessel voller Steine gerasselt, so sehr zitterten ihre Knie und Ellbogen. Mit greifbaren Feinden zu kämpfen, auch wenn diese über magische Kräfte verfügten – darauf war sie gefasst –, aber die Feinde, die gerade in dem Moment wegtauchten, wenn man glaubte, ihnen gegenüberzustehen, die einen von hinten angriffen, einen so heimtückisch foppten, dass man sie gerade noch aus den Augenwinkeln wahrnehmen und sich dann ganz schnell aus dem 131
Blickfeld herauswanden, Feinde, die greifbar genug waren, dass man sie kneifen konnte, aber zu flüchtig, als dass man sie hätte sehen können; diese Art von Feinden musste selbst den tapfersten Krieger einschüchtern! »Karola, k-kennst du v-v-v-v-vielleicht i-i-i-irgendwelche L-l-1 lieder, die gut gegen G-g-g-g-gespenster sind?«, fragte Bronwyn und schrie gellend auf, als sie an einer Haarsträhne kräftig gezo gen wurde. »Shhh«, sagte Karola. Sie war ganz leise geworden, als sie er kannt hatte, was hier vorging. Sie fürchtete sich viel zu sehr, um auch nur noch ein einziges Wort hervorzubringen, aber während sie schwieg, schnappte sie mit ihrem ausgezeichneten Gehör das Gewisper auf, das im Raum umherschwirrte und die unsichtbaren Körper begleitete. Bronwyn war ganz still bis auf das Knistern ihrer Haare, das Klappern ihrer Zähne und das Anschwellen der Gänsehaut-Pickel, die beinahe wie die Beulen waren, die sie den Seejungfern be schrieben hatte. Sie hörte nur diese Geräusche und das Pochen ihres Herzens. Dann hörte auch sie eine Art von windigem Ge seufze. Ein ausgesprochen unangenehm pfeifendes Gelächter erfüllte den Raum und etwas gab den beiden Mädchen einen solchen Klaps auf den Rücken, dass sie vornüber fielen. Zu ihrer Schande fühlte Bronwyn, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Die Erniedrigung, die sie dabei empfand, machte sie wütend. »Nun gut, edler Spuk!«, rief sie und zog ihr Schwert unter der Matratze hervor, wo sie es über Nacht aufbewahrt hatte, um es in greifbarer Nähe zu haben. »Ich habe nun deine sanften Liebko sungen zu spüren bekommen, hier sind meine!« Und dann begann sie, mit dem Schwert blind um sich zu hauen, und hörte nicht mehr auf damit. Das Schwert sauste über Karolas Kopf hinweg, und das war das auslösende Moment, dass Karola ihre Sprache wiederfand.
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»Fürchten Sie sich nicht, Prinzessin«, äffte ihn Anastasia nach, »ich bin ein starker Zigeuner. Ich werde Sie beschützen! Welch ein Unsinn!« Die Schwänin flog auf Jack zu und wedelte ihm verächtlich mit dem Flügel ins Gesicht. »Welcher Dünkel! Du schleichst hier draußen herum, um dir was zusammenzustehlen, und lässt dabei deine Kameraden im Stich. Pfui Teufel, kann ich dazu nur sagen, junger Mann, pfui Teufel!« »Aber Euer Schwanheit, ich dachte doch nur, dass Sie meinen Schutz dringender brauchen als sie! Darum bin ich zuerst hierher gekommen. « »Also, du dachtest! Alles was du dachtest, war, wie du dir mög lichst schnell möglichst viel zusammenklauen könntest, und dann wärst du abgehauen. Du darfst nicht vergessen, mein Junge, dass ich mit deinesgleichen schon früher zu tun hatte!« »Und ist das nun jetzt der Fall, meine Schöne?«, fragte die alte Frau, die dabei leise vor sich hinkicherte. »Nichtsdestotrotz, inwiefern sind sie denn dann gleich? Ist das nicht ein hübscher Gedanke?« Ihr lebhafter Blick sprang zwischen den beiden hin und her. »Das ist übrigens auch, was die Mistkerle von meinen Leuten behaupten – dass wir alle gleich sind. Oh, aber das ist ganz und gar nicht der Fall. Wirklich nicht!« Das alte Weib schien zwischen Zurechnungsfähigkeit und Seni lität hin und her zu schwanken, aber ihre Augen frohlockten, was Jack wie der Blick seiner Tanten vorkam, als diese unwissenden Bauern ihr Silber abknöpften, indem sie so taten, als ob sie noch viel unwissender wären. Anastasia blickte beschämt drein und führte ihre Ansprache et was lustlos zu Ende: »Trotzdem hättest du diese armen Damen nicht allein lassen sollen!« »Eine dieser armen Damen ist bis an die Zähne bewaffnet«, er widerte er, »und die beiden anderen sind ja Hexen, wie Sie selbst wissen. Und so verfügen sie über mehr Kräfte als Sie oder ich zusammen.«
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»Sind sie das wirklich?«, fragte die kleine alte Frau. »Hexen, sagst du? Richtige Hexen?« Sie rieb sich erfreut die Hände, und ihr Hund stupste sie, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Karola ist bestimmt eine Hexe, von Madame Himbeere vermute ich es nur, aber wahr ist, dass sie eine Menschenfresserin ist.« Er grinste und zeigte auf seine eigenen Zähne. »Da sieh mal einer an, dass man doch so hübsch ungesetzliche junge Damen in der Wirtschaft untergebracht hat! Wäre nie pas siert, wenn mein Herr hier gewesen wäre, aber das ist nun einmal nicht der Fall, obwohl zu befürchten ist, dass sie gegen die Klammheimlichen nicht viel ausrichten.« »Sind sie eigentlich in der Wirtschaft in größerer Gefahr, als wir es hier sind?«, erkundigte sich Anastasia. »Ja natürlich. Kein Eisen in der Wirtschaft. Altes Gebäude, das einzige echte, das noch aus der Zeit vor dem Krieg übrig ist. Nein, sie werden dort drinnen nicht lange überleben.« »Aber das ist ja einfach entsetzlich!«, rief Anastasia und funkel te die alte Frau dabei so an, als ob es alles ihre Schuld wäre, sie blitzte sie sogar so wild an, dass sie der Hund anknurrte. »Willst du damit sagen, dass die jungen Leute in dem Gebäude dort drü ben mit all diesen abscheulichen Kreaturen eingeschlossen sind und wir nichts tun können, um ihnen zu helfen?« »Nein, natürlich helft ihr ihnen nicht, wenn ihr nur jammernd hier herumsitzt!«, erwiderte die Frau. »Und wenn wir hier herumsitzen und nicht jammern?«, fragte Jack wütend. Er war sauer auf die alte Frau, weil sie ihn verspotte te. »Willst du damit etwa sagen, dass ich nicht alles tun würde, was in meinen Kräften steht, um der Prinzessin zu helfen?« »Jetzt auch?« »Aber gewiss doch!« »Nun gut, dann kommt mit«, sagte sie und führte sie zur Stall tür. »Aber an deiner Stelle würde ich die Schaufel dort mitneh men. Ist wenigstens Eisen an der Spitze dran. Und vielleicht soll
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test du das Zaumzeug dort um den Schwan herumdrapieren, weil Eisen in den Ringen und im Gebiss ist.« Das Wirtshaus war keine zehn Wagenlängen vom Stall entfernt, aber die Reise war eine der längsten, die Jack in seinem Leben jemals unternommen hatte, und seinem Leben hatte es gewiss nicht an wilden Läufen gemangelt. Aber viel schlimmer als auf gebrachte Bauern, eine blutrünstige Menschenmenge oder wüten de Zauberer waren diese miauenden Kreaturen, die sich durch die dunklen Straßen wälzten oder gefährlich nahe über seinem Kopf hinwegsurrten. Das Blut pochte in seinen Adern, als ob er entflie hen würde, und doch war er sich im klaren darüber, dass er am Ziel seiner Flucht, im Innern des von Feinden durchdrungenen Wirtshauses, noch lange nicht außer Gefahr sein würde. Nun, da er wusste, was das Fehlen von Eisenbändern für das Gebäude bedeutete, kam es ihm nackt und verletzbar vor. Auf der anderen Seite des Gebäudes glotzten ihn Tausende von Augenpaaren hinter dem Fischernetz an. Die Ungeheuer, zu denen sie gehörten, bewegten ihre unheimlichen Fangarme hin und her, ihre Kiemen hoben und senkten sich verzweifelt und ihre missgestalteten Kör per wurden gegen die Fischernetze getrieben. Als erstes erreichte Anastasia das Wirtshaus, aber sie musste sich die Monster so lange mit Flügelschlagen vom Leibe halten, bis die anderen die Tür für sie aufrissen. Die alte Frau, die leise vor sich hin murmelte und fluchte und mit ihrem beringten Arm nach den Ungeheuern schlug, bildete die Nachhut. Das Innere des Wirtshauses erbebte von den schweren Schlägen des Kampfes, so dass selbst die Wände zu summen schienen. Zu spät, dachte Jack und rannte auf die Tür von Bronwyns Zimmer zu, obwohl er kurz stehenblieb und sich überlegte, dass, wenn er wirklich zu spät dran war, seine Freunde doch sicherlich nicht wollten, dass er die Tür öffnete und auf diese Weise die Kreatu ren, die sie getötet hatten, auch noch auf sich selber hetzte. Aber gerade in dem Moment, als er stehenblieb, wölbte sich die Tür nach außen und zerbrach schließlich krachend in viele Split 135
ter. Jack fiel nach hinten und landete vor Bronwyns Füßen. »Aber das verdammte Ding war ja offen«, rief sie in den Raum zurück und ließ den schweren Holzbalken hochschnellen, als ob es ein einfacher Schnappriegel wäre. Als ob sie sich eines Besseren besonnen hätte, riss sie den Riegel ab und gab ihn Karola, die hinter ihr zur Tür herauskam. Das Zimmer sah leer aus, aber Jack kam es so vor, als ob es rhythmisch schwankte. »Aber meine Prinzessin, du bist ja gesund und munter!«, rief er und wollte sich ihr an den Hals werfen, aber da er schlecht gezielt hatte, endete er damit, ihre Knie zu umfassen. »Mehr oder weniger!«, erwiderte sie. »Aber wie mir scheint, hat es dich erwischt!« »Ich – äh – bin entkommen, indem ich gute Beinarbeit geleistet habe und meinen beweglichen Verstand gebraucht habe«, gab er bescheiden zu. Karola, die immer noch mit dem Anflug eines freudlosen Lä chelns auf dem Gesicht vor sich hinsummte, nahm Jack, den Schwan, die alte Frau und ihren Hund mit einem einzigen Blick auf und ging hinter Bronwyn her zum Zimmer nebenan. Madame Himbeere hatte keinen Schutz gehabt, und Karola konnte nur hoffen, dass durch ihre magischen Gesänge auch die potentiellen Angreifer der Dame irgendwie angezogen oder zerstreut wurden. Sie hob den Riegel hoch und zog. Bronwyn und Jack hatten auf gehört, sich zu unterhalten, um ihr über die Schulter zu schauen. Madame Himbeere kniete mitten auf ihrem Bett, das sie von dem zusammengerollten Läufer weggeschoben hatte. Wo der Läufer gelegen hatte, war eine aufgeklappte Falltür. Im Unterschied zu dem Raum, den Karola und Bronwyn geteilt hatten, pulsierte Madame Himbeeres Zimmer nicht mit tanzenden Wellen. Statt dessen vibrierte die Dunkelheit im Loch etwas, und die Dame beugte sich angestrengt nach vorn, wobei die Spitzen ihrer Ohren zuckten, und mit der Zunge fuhr sie sich aufgeregt über die spitzigen Zähne.
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Bronwyn schüttelte den Kopf. »Armes Ding, hat sich dort hin gekauert und zittert um ihr Leben.« Madame Himbeere blickte zu ihnen auf, der Schleier vor ihren Augen wich nun einem leichten Lächeln, das über ihr Gesicht huschte, und sie ließ den Deckel der Falltür auf das Loch herun terklappen. »Immateriell«, sagte sie leise und leckte sich die Lippen genüss lich. »Ich war dir für deinen Gesang dankbar, meine Liebe. Er hat mir ermöglicht, eines dieser Geschöpfe zu isolieren. Nächstes Mal werde ich in der Lage sein, mir sein Selbst anzueignen.« Der Hund kläffte und sprang herum wie ein verrückt geworde ner Mop, und Jack nahm ihn geistesabwesend zu sich auf den Arm und beruhigte ihn wieder, indem er ihn streichelte. Die alte Frau starrte an Jack vorbei auf die wabernde Energie in dem Raum, den Bronwyn und Karola gerade geräumt hatten. »Los, raus jetzt und zurück zum Stall, sonst erledigen sie uns auch noch!« »Aber glaubst du wirklich, dass sie uns noch wollen?«, fragte Jack, der ziemlich stolz darauf war, wie sich seine Freunde aus eigener Kraft befreit hatten. Madame Himbeere nahm ihren Umhang und ihren Reisekoffer und rauschte an ihm vorbei zur Tür. »Merk dir das, mein Junge«, sagte sie, »wenn du an einem fremden Ort bist, solltest du dich nie mit den Eingeborenen wegen ihrer Gebräuche anlegen!« Sie legten sich in der saubersten Ecke des Stalles schlafen und warteten auf den Morgen. Jack brummte: »Wir hätten wahrscheinlich in unseren Betten schlafen können, schließlich haben wir diese Geschöpfe besiegt, und sogar ein Wolfsrudel zieht sich zurück, wenn es geschlagen ist.« Die alte Frau kicherte wieder. »Ach, aber das ist kein Wolfsru del, wirklich nicht! Die Nachtgeschöpfe kehren jede Nacht wieder und ermüden dich durch ihre ewige Wiederkehr, bis sie dich dann 137
verschlingen – oder noch schlimmer. Frag Murdo, wenn du der alten Tieny nicht glaubst!« »Was ich aber die alte Tieny gerne fragen würde, ist, was sie eigentlich so lustig findet?«, sagte nun Karola. »Diese entsetzli chen Wesen haben uns beinahe den Garaus gemacht, und du benimmst dich so, als ob es harmlose Hofnarren wären!« Jack, der sich an den schwarzen Humor der alten Frau inzwi schen schon gewöhnt hatte, nahm das Ganze nicht so persönlich. »Sag mir lieber, wer diese Ungeheuer sind und woher sie eigent lich kommen!« »Das ist eben die Art von Tieren, die sie hier herum haben, Jack«, sagte Bronwyn. »Statt Hasen, Hauskatzen oder derglei chen. Hast du nicht gemerkt, wie gut die lieben Dinger auf das Temperament der Leute hier abgestimmt sind? Hab ich recht, meine gnädigste Tieny, oder etwa nicht?« »Recht, mein Herz, und auch wieder nicht«, erwiderte Tieny. »Denn es stimmt wirklich, dass nicht viele Tiere von der ande ren Art übriggeblieben sind, abgesehen von den paar Pferden, die man geschützt hat, und dem einen oder anderen Hund, der ent kam.« Sie drückte ihren Hund einen Augenblick lang an die Wan ge und streichelte zärtlich sein Fell mit ihren knorrigen Fingern. Als sie wieder aufsah, blinzelte sie im schwachen Schein der Kerze. »Sie –diese Wesen dort draußen – fraßen die Mehrzahl der natürlichen Tiere auf und eine ganze Menge Menschen – von uns, weil wir damals noch keine Armreifen hatten, und den Dungies.« Einen Augenblick lang kehrte ihr Kichern, obwohl sehr schwach, wieder. »Vor den Invasionen gab es keine Seeungeheuer, nur die natür lichen Tiere – Bären, Drachen, Rehe, Schlangen, Seehunde, See otter, Wale, Einhörner und dergleichen. Sie sind nun alle fort. Sie empfingen von den Insekten die tödlichen Stiche, wurden ver rückt, als ihre Herren am Tage der Entzauberung starben, oder verwandelten sich in die elenden Kreaturen, die zur Futtersuche
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aus dem Meer kriechen müssen, seit Leofwin alle Zaubermixturen ins Meer geschüttet hat.« »Dann hat also Leofwin die Ungeheuer kreiert?«, fragte Karola ungeduldig. »Warum hat er denn so was getan, wo doch die Un geheuer alle Tiere und ein paar von seinen eigenen Leuten getötet haben?« »He, das scheint ja wirklich eine ganz entzückende Familie zu sein, in die Ihre Schwester eingeheiratet hat«, sagte Bronwyn zu Madame Himbeere und verzog dabei ihre Mundwinkel. »Wie dem auch sei«, fuhr Karola fort, »wie hat es denn Leofwin fertiggebracht, Ungeheuer zu kreieren? Dazu wäre doch Magie nötig, deren Ausübung er aber in seinem Reich verboten hat!« Die alte Dame schnaubte verächtlich. »Er lässt die Magie nur deswegen nicht zu, weil er selber nicht magisch begabt ist. Aber meine Leute haben einst sehr gut verstanden, mit der Magie um zugehen. Die größten Magier in den sieben Ländern waren Su leskerianer. Ihr müsst wissen, dass in unseren Adern Selkierblut fließt. Wir sind nämlich eine Mischung aus Seeotternleuten und Elfen auf der anderen Seite. Nicht wie die Dungies – die halb Mensch und halb Kobold sind mit einem Anflug von Menschen fresserischem.« Zu Madame Himbeere gewandt, sagte sie: »Ich möchte Sie ja nicht verletzen, meine Liebe, aber deswegen sind wir eben so sehr viel anmutiger«, wobei sie ihre verfilzten grauen Haarbüschel voller Stolz sträubte. »Dann waren es also deine eigenen Leute, die die Ungeheuer erzeugt haben?«, fragte Karola. »Dann wäre ich an deiner Stelle nicht so stolz darauf. Anmutig ist nur, wer sich auch durch sein Tun als anmutig erweist.« Tieny sah sie wütend an. »Wie ich euch doch schon gesagt habe, der Krieg hat die Ungeheuer erzeugt!« »O ja«, mischte sich nun Bronwyn ein, »der Krieg, das hat sie uns wirklich schon gesagt, Karola, und ich glaube, das erklärt alles!« Karola versuchte ungeduldig, ihre Kusine zum Schweigen zu bringen, aber Bronwyn fuhr fort, besänftigend auf die alte Frau 139
einzureden: »Meine Kusine ist ja eine sehr hilfsbereite und fried fertige Person, Madame Tieny, aber sie kennt sich eben in Kriegs dingen nicht so gut aus wie wir Veteranen.« »Ich verstehe einfach nicht, warum irgend jemand so abscheuli che Wesen in die Welt setzen sollte, sei es nun, um sie zur Krieg führung zu benutzen oder für andere Zwecke«, stieß Karola zwi schen zusammengebissenen Zähnen hervor, »wenn sie sich gegen einen selber kehren!« »Am Anfang waren sie gar nicht so übel«, erwiderte Tieny. »Die Flieger waren am Anfang nur Waffen – sie wurden in Bint nar, dem heutigen westlichen Frostingdung, hergestellt. Als die Zauberer, die sie herstellten, noch lebten, gehorchten sie und verletzten nur das, worauf sie abgezielt waren. Sie verwilderten dann, könnte man sagen, als alle ihre Herrn am Tage der Entzau berung umgebracht wurden. Und wahrscheinlich könnte man sogar behaupten, dass Leofwin die Dinge auf dem Gewissen hat, die aus dem Meer herausgekrochen kommen. Als die Seikies versuchten, meinen Leuten während der Invasion zu Hilfe zu eilen, schüttete Leofwin von dem Zaubermittel ins Meer, mit dem er die Sieben Könige und die Großen Magier am Tag der Entzau berung vernichtet hatte. Und als seine Gefolgsleute die Studier stuben und Laboratorien unserer Großen plünderten, ordnete er an, dass sie die Zaubermixturen und heiligen Bücher in die Flüsse und ins Meer warfen. So kam es, dass alle die Meerestiere und Seikies, die nicht entkamen, in die Wesen verwandelt wurden, die nachts an Land kommen und uns auffressen. Wahrscheinlich ist das, was sie sonst gefressen haben, an der Magie im Wasser ein gegangen. Das ist der Grund, weshalb wir hier keine Fische mehr essen.« »Und diese – diese Gespenster«, sagte Bronwyn, der es bei der Erinnerung daran eiskalt über den Buckel lief. »Sind sie die Gei ster eurer Verstorbenen? Oder etwa verstorbene Feinde, die euer Terrain mit Hilfe eurer Magie bis in alle Ewigkeit heimsuchen?« Tieny kicherte wieder. »Nicht gerade Gespenster, Liebes«, er widerte sie. »Du könntest eher von einem Letzten Willen oder 140
Testament sprechen. Als die Dungies in unser Gebiet eindrangen, waren wir erledigt, bevor wir überhaupt begonnen hatten. Jeden Magier, der stark genug war, sich ihnen zu widersetzen, hatten sie am Tag der Entzauberung durch Verrat umgebracht. Die Zaube rer, die noch übrig waren, waren wirklich ziemlich schwach, aber wir dachten, wenn wir ein paar von den halbwegs annehmbaren Magiern, die noch übrig waren, in den Höhlen und Kellern ver steckten, könnten sie die Dungies von dort aus bekämpfen. Es klappte aber nicht, denn die Dungies fanden sie und bewachten die Löcher mit Eisen, bis die Zauberer verhungerten. Aber als die Seufzer aufgehört hatten und die Leichen fortgeschafft waren, hörten die Dungies auf, die Eingänge zu bewachen. Das war dann der Moment, in dem die Klammheimlichen herauskamen.« Mit ihren Fingern vollführte sie Krabbelbewegungen auf dem Rücken ihres Hundes. »Und alle erledigten oder wenigstens die, die nicht schon Eisen an sich hatten, und wie ihr wahrscheinlich denken könnt, waren das gar nicht so viele. Dungies sind ganz verrückt nach Eisen und sind gut damit ausgerüstet, wenn sie hierherkom men, um gegen uns zu kämpfen.« Sie blickte wehmütig auf den Ring herab, der in dem schwachen Licht an ihrem welken, runzli gen Arm erglühte. »Aber wenn ihr doch die Klammheimlichen erschaffen habt, wie kommt es dann, dass sie jedem weh tun? Warum begnügen sie sich nicht einfach damit, an euren Feinden Rache zu neh men?«, fragte Karola. Tieny zuckte mit der Schulter. »Wenn man einen Speer erst einmal losgeschleudert hat, weicht er dann noch aus, wenn ihm ein Freund statt eines Feindes in die Quere kommt? Die Erfinder der Klammheimlichen sind tot. Außerdem sind sie unsichtbar und obendrein noch verfemt. Was wissen sie schon von Loyalität?« Sie gluckste wieder vergnügt vor sich hin. »Aber wie die Dinge nun einmal liegen, so beschützen uns auch die Armreifen, die sie nur dazu benutzen wollten, um uns zu überwachen, aber das soll nicht heißen, dass das Leben noch sehr viel Spaß macht. Die Dungies haben wesentlich mehr zu verlieren.« 141
»Wie dumm von Leofwin, dass er seine Feinde nicht mit Stumpf und Stiel ausgerottet hat oder mit ihnen Frieden geschlossen hat«, sagte Madame Himbeere, die sich erhob, um sich zu strecken. »So, wie er’s gemacht hat, stellen deine Leute nach ihrem Tod eine viel größere Gefahr für ihn dar als zu Lebzeiten.« »Ja«, sagte die alte Dame grinsend und gluckste wieder vor sich hin. »Er muss es genauso empfinden. Er hat versucht, so zu tun, als ob es nie passiert wäre, als er mit der Gnädigen aus Argonien zurückkam. Er hat zuerst die Straßen und die Häuser und dann die Geschichte gesäubert. Aber er hat noch nicht mit den Klamm heimlichen und den übrigen Greueln aufräumen können, obwohl er mit einmal so tut, als ob er gar kein Kobold mehr wäre. Und er weigert sich immer noch, die unschuldigste Art von Magie zu erlauben oder auch nur, dass darüber gesprochen wird. Aber er weiß nicht alles!« »Du willst damit sagen, dass du sie immer noch ausübst?«, frag te Karola. »Oh, doch nicht ich. Nicht mit diesem Ring. Aber ich unterhalte mich öfters mit Drache, und wir bemerken Dinge, die der Kaiser nicht sieht. In Frostingdung ist eine Magie am Werk, im Vergleich zu der die frühere harmlos erscheint.« »Das werden wir uns merken«, sagte Madame Himbeere, »aber im Moment brauchen wir nur ein ganz weltliches Mittel, um von diesem düsteren Ort wegzukommen.« »Dann müssen Sie uns eben begleiten, gnädigste Tieny«, sagte Bronwyn. »Ich werde Ihnen den Sklavenreif vom Arm ziehen und jeden erschlagen, der noch einmal versuchen sollte, Sie zu unter jochen.« »Spinnst du eigentlich?«, sagte Tieny, die Bronwyns Begleitern zuvorkam. »Ich habe dir doch klarzumachen versucht, dass mich dieser Schnickschnack beschützt!« Bronwyn sah ziemlich ver dutzt drein, so dass ihr die alte Frau die Hand besänftigend auf den Arm legte. »Ich weiß ja, dass du es nur gut gemeint hast, Mädel, aber ich bin zu alt, um noch einmal auf Reisen zu gehen, 142
und da ist auch Drache, um den ich mich kümmern muss. Für einen Herrn ist mein Baron gar nicht so übel. Gilles Kitgilles ist jung. Ich kannte ihn schon als Baby und war dabei, als meine Herrin ihn gebar, nachdem sie ihre Ehre preisgegeben hatte, um mit diesem Dungie-General zusammenzuleben, der unser Schloss einnahm.« Sie gluckste wieder vor sich hin und fuhr fort: »Das Baby sah wie ein Dungie aus, als es geboren wurde. Meine Herrin war voller Magie, die durch kein Eisen beeinträchtigt war. Heut zutage verwechseln ihn manchmal die, die sich noch erinnern können, und ein paar von den Dungies sind dazu wirklich in der Lage, mit unserem verstorbenen Herrn. Mein Gilles Kitgilles ist nicht sehr beliebt bei den Leuten. Aber er ist der beste Herr in ganz Suleskeria und«, sagte sie grinsend und zeigte dabei ihre Zahnlücken, »ziemlich verrückt. Die anderen können ihn nicht ausstehen, also muss ich hierbleiben. Ich danke euch, aber ich bleibe hier.« »Nun, ich finde aber, dass wir das nicht tun sollten«, sagte Ma dame Himbeere. Die Kerze flimmerte nur noch schwach in einer Lache aus Wachs, aber ein Licht, das hell genug war, dass sie sich gegenseitig noch als Schema erkennen konnten, drang nun in den Stall. »Kannst du uns den Weg zur Hauptstadt weisen?« »Das könnte doch jeder«, sagte Tieny erstaunt. »Ihr müsst nur zwei Tage lang Flussaufwärts gehen und dann nach rechts schwenken, wo sich das Flussbett teilt. Ihr könnt es wirklich nicht verfehlen.«
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VII
»Wenn ihr dann für die Nacht eine Bleibe sucht«, erzählte ihnen Tieny, »werdet ihr auf zwei Häuser stoßen. Das erste ist groß und sieht sehr komfortabel aus. Geht daran vorbei! Das zweite ist klein und bescheiden, aber seine Holzstämme werden durch Eisenbän der zusammengehalten. Übernachtet dort!« »Warum, sind denn die Wirtsleute im ersten Gasthof böse, und könnte es sein, dass sie uns umbringen?«, fragte Karola. »Nein, aber sie verlangen zuviel und das Essen ist schlecht. Das andere ist eine kleine Kneipe, in der Fischer verkehren – so könn te man sie wahrscheinlich immer noch nennen –, sie ist mit Vorrä ten reichlich ausgestattet, und vor allem weiß man, dass sie die Leute, die dort übernachtet haben, wieder lebendig verlassen.« Aber bevor sie sich mit dem Problem befassen mussten, wo sie übernachten sollten, mussten sie zuerst einmal dorthin gelangen, und für eine geraume Zeit sah es so aus, als ob dies unmöglich wäre. Sie hatten kaum Mühe, den Stall zu räumen, bevor die Dorfbewohner aufstanden und das zunehmende Tageslicht die Ungeheuer verscheuchte. Der Wagen war noch dort, wo sie ihn stehengelassen hatten, er war noch ganz und schien unbehelligt geblieben zu sein. Sie zogen ihn zum Fluss und stießen ihn dort halb ins Wasser, aber als sie soweit waren, dass sie Anastasia anspannen konnten, weigerte sich diese rundweg. »Ihr seid viel zu viele«, sagte sie, »und außerdem habe ich gese hen, was letzte Nacht aus dem Meer gekrochen kam. Glaubt ihr, dass ich mich selbst so erniedrigen und zwischen diesem Gelichter herumschwimmen würde? Ich ziehe es vor zu fliegen!« »Und wenn wir rudern? Würde das vielleicht etwas nützen?«, fragte Karola. »Es würde vielleicht dir etwas nützen, meine Liebe, aber für mich würde sich dadurch überhaupt nichts ändern. Ich werde durch die Luft fliegen!« 144
»Dann werden alle glauben, dass du dich aus einem Schwan in ein Huhn verwandelt hast«, meinte Karola. »Aber wenn du schwimmst, dann werde ich auch schwimmen. Dann sind schon nicht mehr so viele Personen im Boot, und du kannst nicht mehr behaupten, dass ich nicht das gleiche riskiert hätte wie du!« »Ich riskiere überhaupt nichts!« Auf der Trompetenschnecke wurde nun das Entwarnungssignal geblasen, und hinter ihnen erwachte allmählich die Stadt. Jack erwähnte beiläufig die Unterhaltung, die er am Abend zu vor zufällig in der Wirtschaft belauscht hatte und bei der Murdo vorgeschlagen hatte, dass die Männer im Morgengrauen mit frisch geschliffenen Messern einem gewissen Vogel nachstellen sollten. Jack vergaß natürlich auch nicht zu erwähnen, wie er sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um den in Frage stehenden Vogel zu warnen. War dies nun der Dank, den sie ihm bezeugte, dass sie sein Leben wieder aufs Spiel setzte und das ihrer Freunde mit dazu? Wenn sich alle königlichen Hoheiten so benahmen, dann war er froh, dass er nur ein einfacher Zigeuner war. Ein paar Bewohner kamen aus ihren Häusern und machten An stalten, auf die Gruppe zuzugehen. »Wenn ich es mir recht überlege, Karola, hat dein Vorschlag einen beachtlichen praktischen Wert«, sagte der Schwan hastig und fügte, zu Bronwyn gewandt, hinzu: »Nun, worauf wartest du eigentlich noch? Meinst du etwa, dass ich mir dieses alberne Geschirr mit meinen Stoppelfedern überziehen kann?« Bronwyn saß auf der einen Seite des wassertüchtigen Kampf wagens und Madame auf der anderen, um ihr Gewicht auszuglei chen. »Gut gemacht«, flüsterte Madame Himbeere Jack zu, »du bist ja manchmal ein richtiger Überredungskünstler.« Er zuckte mit der Achsel. »Es ist nur, weil ich einen guten Draht zu Tieren hab’.«
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»Sprichst du eigentlich oft mit ihnen?«, fragte Madame Himbee re, die darüber erstaunt war, dass sie etwas mit einem schmudde ligen Jungen in Jacks zartem Alter gemeinsam hatte. »Nur das übliche – Spring! Brrr! Auf! Hinunter! Wälz dich! Sitz! Obwohl Anastasia natürlich ein besonderer Fall ist.« »Wie trostlos! Warum hast du dich nie darum bemüht, ihre Sprache zu lernen, so dass du dich mit ihnen richtig unterhalten kannst?« »Es ist unter der Würde eines Menschen, mit Tieren zu spre chen, die keine richtige menschliche Sprache sprechen«, sagte er und kreuzte die Arme über seiner Brust, so dass er enorm überle gen aussah. »Wie kann ein Mensch die Kontrolle über sich be wahren, wenn er sich dazu herablässt, wau-wau zu sagen oder sich wie diese Fischweiber mit ihrer Schlange im ›bubbel-bubbel‹-Ton zu unterhalten?« »Nun, wenn du eine solche Haltung an den Tag legst, dann möchte ich dich nicht dazu drängen, Panelfisch zu lernen. Ich hatte gedacht, dass es dir vielleicht Spaß machen würde. Mein Vater und ich, wir unterhalten uns regelmäßig mit allen möglichen Arten von Tieren – tatsächlich ist sogar sein engster Vertrauter neben mir, ein Rabe namens Jack, und ich sollte dir vielleicht noch sagen, dass dieser Jack einst die gleichen Vorbehalte gehabt hat, sich mit Menschen zu unterhalten, wie du sie gegenüber der Unterhaltung mit Nichtmenschen hegst. Und ich kann ihm diesbe züglich nicht einmal Vorwürfe machen, denn ich persönlich fühle mich in der Gesellschaft von so manchen Tieren wohler als in der von einigen sogenannten Menschen.« »Sie unterhalten sich also mit den Tieren? Wie zum Beispiel die Fischfrauen?« »Ja, gewiss, aber ich kann mich mit allen Arten von Tieren un terhalten, nicht nur den Meerbewohnern. Ich war sogar dafür bekannt, dass ich mich gelegentlich in die eine oder andere Tierart verwandelte, obwohl ich das nicht so leicht fertigbringe wie mein Vater. Letzte Nacht im Wirtshaus war ich gerade dabei herauszu 146
bekommen, wie ich mich am besten in einen dieser Klammheim lichen verwandeln könnte, als ihr mich unterbracht.« »Ach so, und ich habe gedacht, dass Sie versuchten, die Monster zu verschlingen!« »Gemäß unserer diätetischen Vorliebe sind sowohl mein Vater wie auch ich strikte Vegetarier«, sagte sie kurz. Jack war fasziniert von ihr, aber sein Stolz stritt mit seiner Neu gier. Er blickte zu Bronwyn hinüber, die ihren Kopf auf die Kante des Bootes gelegt hatte und mit offenem Mund schlief. Karola und der Schwan schwammen vor ihnen her. Wer von den anderen würde also überhaupt etwas davon merken? »Gewiss würde sich eine so großherzige Dame wie Sie doch nicht durch den natürli chen Stolz eines armen und unwissenden, aber vielversprechenden Jungen davon abhalten lassen, ihn eine Fertigkeit zu lehren, die ihn zu einem besseren Menschen machen würde? Es ist Ihre Pflicht als Erwachsene, mich dazu zu zwingen, derartige Dinge zu lernen. Nun denn, ich unterwerfe mich Ihrer Führung!« Der Tag ging dahin. Bronwyn wurde nur so lange wach, um sich zu beschweren, dass sie Hunger hatte. Auch Karola, die schwim men musste, klagte über Hunger, und sogar Anastasia jammerte darüber, dass sie hungrig sei, da sie, wie sie sagte, nicht daran dächte, an einem solchen Ort nach Wasserpflanzen zu tauchen, auch wenn sie gerade nicht damit beschäftigt wäre, Passagiere zu befördern. Madame Himbeere und Jack stimmten auf eine leutse lige Art in die Klagen mit ein, aber Jack war mit einem solchen Feuereifer bei seinen Lektionen, dass er beinahe vergessen hätte, dass er hungrig war. Karola und Anastasia wurden wenigstens nicht von irgendwel chen Wasserungeheuern belästigt – ein Umstand, mit dem sie sich gegenseitig trösteten. Welch missgestaltete Fische und andere missliebige Geschöpfe im Fluss auf der Lauer liegen mochten, sie blieben hübsch bedeckt vom Wasser und machten keine Versuche, sie anzufallen. 147
Der Nachmittag war schon zur Hälfte vorüber, als sie zur ersten Herberge kamen, die Tieny erwähnt hatte. »Aber sie hat doch nichts davon gesagt, dass wir hier nicht zu Mittag essen könnten«, sagte Karola sehnsüchtig. »Sie hat nur davon gesprochen, dass wir nicht über Nacht bleiben sollten.« »Aber sie hat gesagt, dass die Preise hoch wären, und ich habe nur Gold dabei, das ich trotz der hiesigen Vorliebe für Eisen nicht zu verschwenden gedenke«, erwiderte Madame Himbeere. »Die Herberge, die sie uns empfohlen hat, kann nicht sehr weit sein.« Was auch wirklich der Fall war. Die mit Eisenbändern versehene Hütte kam ihnen vor wie der prächtigste Palast. Im Innern waren zwei Strohbetten mit richtigen Decken, und es gab auch etwas zu essen – Kuchen, die etwas altbacken waren, aber herzhaft schmeckten, getrocknete Früchte, Nüsse, und über der Feuerstelle hing ein Topf mit grauweißem Brei, der aber kalt geworden war. Sie rührten weder den Topf noch den Brei an. Erleichtert stellten sie fest, dass dort keine Falltür zu sein schien. Bronwyn, die das Schlafen satt hatte, sagte, dass sie Wache schieben würde, obwohl dort überhaupt keine geeignete Stelle war, von der aus sie hätte wachen können, weil sie nämlich die Tür schließen mussten, um die Klammheimlichen und die anderen Kreaturen draußen zu halten, und außerdem hatte die Hütte keine Fenster. Anastasia steckte den Kopf unter die Flügel und schlief sofort ein, und auch Karola, die nach einer Nacht voller Magie und einem Tag, den sie mit Schwimmen zugebracht hatte, ziemlich erschöpft war, schlief schon nach kurzer Zeit ein. Madame Him beere suchte noch nach ein paar Sachen in ihrem Koffer herum und machte ein paar Eintragungen in ihr Buch, bevor auch sie sich neben Karola zum Schlafen niederließ und dabei ihren Mantel als Kopfkissen benutzte. Jack wiederholte noch einmal seine Sprach lektion, mit der er sich zum größten Pferdedompteur und Partner 148
für Tanzbären emporschwingen würde, den sein Stamm jemals erlebt hatte. Aber dann schlief auch er ein. Verglichen mit dem Dorf schienen die Wälder verhältnismäßig ruhig zu sein, so dass sogar Bronwyn durch die Friedlichkeit schließlich eingelullt wurde. Bei Tagesanbruch zogen die fünf, nachdem sie sich noch soviel Proviant unter den Nagel gerissen hatten, wie sie in ihren Taschen verstauen konnten, das Boot wieder auf den Fluss hinaus. Plötz lich glitt Jack auf etwas aus und wäre fast in den Fluss gerutscht. Das Etwas war rot und sah ungefähr wie Tomatenpüree aus, nur dass hier und da noch ein Knochen vorhanden war. Jack machte einen Satz zurück und ließ das Ende des Kampfwagens aus, das er hielt. »Wa-was ist denn das?«, fragte Karola würgend. »Irgendeine Art Tier«, erwiderte Madame Himbeere, stieß die undefinierbare Masse mit ihrem spitzigen Fingernagel an und drehte sie herum. »Aber leider unkenntlich!« »Zu dumm«, sagte Bronwyn und machte eine ausholende Geste mit dem Arm, die die ganze Uferböschung umfasste, auf der noch unzählige dieser grausigen Überbleibsel verstreut waren und der Fluss, auf dem sie entlangtrieben. »Aber da scheinen keine über lebt zu haben!«, stellte sie abschließend fest. Aber die blutigen Haufen waren zu formlos, als dass die Rei senden hätten erkennen können, was für Geschöpfe das einmal gewesen waren. Sie konnten nur noch feststellen, dass es einmal lebendige Tiere gewesen waren – an einigen sahen sie noch Fell teile kleben. An anderen war unter Umständen ein Auge deutlich erkennbar oder eine Pfote oder ein Lauf. Madame Himbeere wurde von ihren Begleitern bitter enttäuscht, als diese Einspruch dagegen erhoben, dass sie die greulichen Überreste noch einge hender untersuchte. »Sie sind tot, meine Liebe«, sagte Anastasia. »Was sie einmal waren, möchte ich lieber nicht wissen, wenn ich meinen Tag damit verbringen muss, zwischen ihnen herumzuschwimmen!« 149
»All dies beweist eigentlich nur«, sagte Bronwyn, »dass wir in der vergangenen Nacht wirklich so sicher untergebracht waren, wie es uns anfänglich geschienen hat. Wir waren viel sicherer untergebracht als im Dorf.« Anastasia und Karola waren angenehm überrascht, als sie am späten Vormittag erfuhren, dass sie sich nicht mehr länger zwi schen verstümmeltem Treibgut durchquälen mussten. Zwei Boote kamen ihnen entgegen, zwischen denen ein Netz gespannt war. Die Boote waren königsblau und jeweils mit dem rot-goldenen Wappen von Leofwin dem Schädelbrecher versehen, einem ge krönten Haupt, das von einem Schwert gespaltet wurde. Die Männer in den Booten, die hübsche Livreen trugen, verlang ten, dass der Fluss vom Kampfwagen und den Schwimmenden geräumt werden musste, so lange, bis sie mit ihren Booten an ihnen vorbei waren. Als das Netz an Bronwyn vorüberzog, sah sie, dass es mit roten Formen gefüllt war. »Ordentliches Volk!«, bemerkte Madame Himbeere anerken nend, als sie sich in Anastasias Kampfwagen wieder auf ihren Platz neben Jack gesetzt hatte. Sie erreichten die Hauptstadt am späten Nachmittag, nachdem sie zuerst an einem Wald und dann an einem Stück verbrannter Erde vorbeigekommen waren, das an die äußere Mauer der Stadt angrenzte. Die Mauern waren befestigt, aber offensichtlich nicht gegen Leute. Niemand fragte sie aus, als sie ihr Boot aus dem Fluss ans Ufer zogen. Ein verriegeltes Eisentor trennte den Flussabschnitt innerhalb der Stadtmauern von dem, der sich außerhalb befand. Die Stadt, die um den Fluss herum erbaut worden war, war ganz neu. Ein Kanal floss zwischen den niederen, mit Eisenbändern versehenen Wohnhäusern und Geschäftsgebäuden durch. Den kleineren Kanal zur Rechten hatte man gestaut, damit er den Wassergraben, der das leuchtende Schloss umgab, im Ernstfall mit Wasser versorgen würde.
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Die silbernen und goldenen Schindeln des Schlosses schillerten in der Rosenfarbe der untergehenden Sonne. »Aber das ist ja so schön!«, jammerte Karola. »Ich kann dort nicht hineingehen, ich bin pitschnass!« »Wie dem auch sei«, erwiderte Madame Himbeere, »so schei nen sie auch gar nicht gewillt zu sein, jemanden durchzulassen!« Die Zugbrücke war hochgezogen und gab eine abweisend glatte Wand zwischen den beiden Wachttürmen ab. »Glaubt ihr, dass wir zuerst einen Termin vereinbaren müs sen?«, fragte Anastasia. Wenn dies wirklich der Fall war, dann waren sie zu spät dran, denn um sie herum schlossen die Läden, und die Leute begannen sich in ihre Häuser einzuschließen. »Wahrscheinlich brauchen wir sie nur herauszurufen, um einge lassen zu werden«, sagte Bronwyn. »Für mich wird das nicht früh genug sein«, sagte Jack. »Mein Bauch wäre sehr dankbar, wenn er jetzt eine warme Mahlzeit bekäme.« »Das sollte kein Problem sein«, sagte Bronwyn fröhlich. »Ma dame Himbeeres Mutter wird mir nun, da sie sich die Sache noch einmal reiflich überlegt hat, ganz bestimmt den Gegenfluch ge ben, wenn sie nun auch sieht, dass ich mit ihrer Tochter so gut wie befreundet bin, und dann können wir alle gleich wieder nach Hause gehen. Schließlich hat sie ja nichts gegen mich persönlich.« »Merk dir, dass du das gesagt hast!« Es war Karola, die sie mit grimmiger Miene darauf hinwies. »Ich fürchte ebenfalls, dass es nicht so leicht werden wird«, er widerte Madame Himbeere, »denn meine Mutter betreibt ihre Geschäfte nicht im Hinblick auf die Persönlichkeiten, die dadurch betroffen sind. Du kannst von Glück sagen, Bronwyn, wenn du sie davon überzeugen kannst, dass ein Vorteil für sie dabei raus springt, wenn sie dich vom Fluch befreit.« »Ich werd ihr schon einen Vorteil geben«, knurrte Bronwyn und griff mit der Hand nach dem Schwertknauf.
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»Du darfst nicht vergessen, o meine Prinzessin, dass die Men schenfresserin Madame Rosties Mutter ist«, sagte Jack, der den anderen zeigen wollte, wer der eigentliche Busenfreund von der Schwester der Kaiserin war und sich so verdient um sie gemacht hatte, dass er sie bei ihrem Spitznamen rufen durfte. »Tut mir leid«, sagte Bronwyn, ohne dass Reue in ihrer Stimme mitklang. Was ihr leid tat, war nur, dass Belburga die Mutter ihrer Freundin war. »Ich muss zugeben, dass ich zuweilen den gleichen Impuls hat te«, sagte Madame Himbeere, »aber vielleicht ist sie nun men schenfreundlicher geworden. Wenigstens hoffe ich das um aller Beteiligten willen. Im Moment wünschte ich nur, dass sie das Tor öffnen lassen würde.« »Vielleicht hören uns die Wachen, wenn wir alle gleichzeitig brüllen«, sagte Jack. Die fünf einigten sich darauf, was sie brüllen würden, zählten auf drei und schrieen dann aus vollem Halse: »He da, im Schloss!« Aber nichts geschah. »Es ist schon sehr spät«, sagte Karola, als sie die bläulich-rote Färbung des Himmels gewahrte, die vom Wasser im Schlossgra ben zurückgeworfen wurde. »Seht euch die Sonne an. Wenn wir noch viel länger zuwarten, wird es dunkel werden und die Unge heuer können uns abmurksen. Vielleicht sollte ich durch den Schlossgraben schwimmen und den Wachen sagen, dass wir hier sind.« »Ja«, stimmte ihr Bronwyn zu, »du wirst ihnen wahrscheinlich an die Helme tippen müssen, denn sie scheinen sich Wachs in die Ohren gestopft zu haben wie Jehans Piraten.« »Oder vielleicht sind sie auch alle nach drinnen gegangen, um zu Abend zu essen und dann anschließend ins Bett zu gehen«, sagte Jack bebend. »Wenn ich in diesem Land Soldat wäre, hätte ich auch keine Lust, nachtsüber Wache zu schieben.« Abgesehen von seiner roten Farbe sah der Schlossgraben sehr viel sauberer aus als der Fluss. Karola sprang mit den Beinen 152
zuerst hinein und kroch tropfend wieder ans Ufer, als das Wasser wild zu kochen anfing und sich die Röte im Wasser in einem riesigen Band zu sammeln schien, das so lang und so breit war wie Ollie, die Seeschlange. Das Band hatte einen Kopf, der eben so flach war, aber an seiner Spitze zweischichtig war, um so ein Maul zu bilden. Seine Augen hingen von zwei kleinen Stielen herunter. Der Kopf schwebte in der Mitte zwischen den Reisenden und dem Eingangstor in der Luft. Madame Himbeere sprach das Geschöpf auf Panelfisch an. »Lass uns bitte durch«, befahl sie ihm. »Wir haben mit der Kaise rin geschäftlich zu tun!« »Das wird nicht geschehen, solange ihr nicht die üblichen Vor schriften einhaltet! Seid ihr gerufen worden? Wenn dies der Fall ist, habt ihr die notwendigen Formulare und Ausweise? Auch ist es meine Pflicht, euch davon in Kenntnis zu setzen, dass ihr die 7. Gesetzesvorschrift, Absatz 21 übertreten habt, die es den Men schen verbietet, mit Tieren zu sprechen, und den Unterabsatz D, der im einzelnen festsetzt, dass sich die Menschen nicht mit gro ßen Bandwürmern unterhalten dürfen.« »Ich bitte um Entschuldigung, aber wir sind Argonier und mit den Gesetzen nicht vertraut, aber ich bin mir sicher, dass die Kaiserin, die meine Schwester ist …« »Können Sie diesen Tatbestand in irgendeiner Form bewei sen?«, fragte der Wurm. »Genügt ein dentales Beweisstück?«, fragte Madame Himbeere und entblößte ihre Zähne. »Nein, wir brauchen eine richtige Identifizierung. Ihr hättet das Formular 670 und 1083 ausfüllen, einreichen und die entspre chenden Abgaben und Gebühren bezahlen sollen, bevor ihr euch dem Schloss genähert habt.« Während der Wurm sprach, faltete er sich zusammen, so dass, was bei einem runden Wurm die Windungen gewesen wären, ein Gewirr von scharfkantigen Gliedern war, das sich so hoch auf
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türmte wie der Grabenwall. Sein Kopf fuhr nach vorn und blieb unmittelbar vor Madame Himbeeres Nase stehen. »Mein liebes Geschöpf, sei bloß nicht so pedantisch. Ich bin die Tochter von Belburga und Schwester der Kaiserin. Du brauchst nur drinnen nachzufragen, und nun sei so gut und lass uns endlich vorbei!« »Es ist nicht meine Aufgabe, drinnen nachzufragen. Das ist die Aufgabe des Herolds. Meine Pflicht ist es, zu verhindern, dass Personen ins Schloss eindringen, die nicht den normalen Instan zenweg einschlagen und deswegen auch nicht die Zugbrücke überschreiten!« Bei jedem Wort faltete sich der Fächer seines Körpers gegen das schon vorhandene Gewirr, um eine dünne, aber komplizierte Konstruktion aus flachen roten Wurmgliedern zum Schlosstor hinauf zu bilden. »Nun gut«, sagte Madame Himbeere wütend und klappte ihre Reisetasche auf, aus der sie ihr großes Buch und eine Feder he rauszog, deren Spitze sie wütend in ein Tintenfass eintauchte, das irgendwo in der Tiefe der Tasche verborgen war. »Jetzt reicht’s mir aber! Wie heißt du und wer ist dein unmittelbarer Vorgesetz ter?« »Ich bin Großes Band, das Wachttier der offiziellen Regierung von Großfrostingdung, die in dieser Festung ihren Sitz hat. Ich stehe niemand Rede und Antwort, und ihr tätet besser daran, es zu glauben!«, sagte Großes Band mit einem bösartigen Schnappen, das eine Lage von scharfkantigen roten Gliedern bis zu den Zin nen hochschnellen ließ. Karola machte sich den Umstand zunutze, dass das Tier mit Madame Himbeere beschäftigt war, und betrat das Wasser in der Nähe der Schwanzspitze, denn der Wurm hatte seinen Schwanz aus dem Wasser gezogen, so dass er seine ganze Länge dazu benutzen konnte, um einen hauchdünnen Turm zu bilden, der den Eingang blockierte. Karola war sich sicher, dass sie um das Tier herum schwimmen konnte. 154
Aber bevor sie einen einzigen Zug schwimmen konnte, entwirr te sich der Schwanz und umschlang sie, so dass ihre Arme gegen die Seiten gedrückt wurden. »Hör auf! Das tut weh!«, schrie sie. »Hilfe!« Bronwyn zog ihr Schwert. »Los, hau ihn mittendurch, Prinzessin«, spornte sie Jack an, aber Madame Himbeere sagte: »Nein! Das wäre – äh – nicht besonders diplomatisch. Karola, könntest du dich nicht vielleicht singender weise befreien?« »Ich bin überzeugt davon, dass ihr das ungeheuer leicht fallen wird, während sie zu Tode gedrückt wird!«, sagte Bronwyn, die vor Wut schäumte. Aber trotzdem versuchte es Karola. Der Wurm drückte nur um so fester, und Madame Himbeere und Jack hörten, wie er sagte: »Nicht nur, dass du in verbotene Gewässer eindringst, du übertrittst nun auch Statut …« »Wurm!«, rief eine Stimme von oben. »Du unartiger, böser Wurm! Hör sofort auf damit! Jetzt gleich, habe ich gesagt. Lass sofort das Kind los!« Obwohl die Stimme hoch und lieblich war und mehr Argonisch als Panelfisch oder Frostingdungianisch sprach, gehorchte der Wurm sofort. »Du weißt doch ganz genau«, schimpfte ihn die Stimme aus, »dass du gegen Menschen ohne vorherige Genehmi gung nichts unternehmen sollst!« »Tausendschön?«, sagte Madame Himbeere und ließ ihren Blick über die Zinnen über dem Monster schweifen, das Karola ganz schnell losließ und sich wieder in die Länge zu strecken begann. Eine mollige Matrone mit langen blonden Ringellocken winkte von den Zinnen zu ihnen herab. Als sie Madame Himbeere mit ihrem Namen anredete, hörte sie einen Moment lang auf zu win ken und starrte Madame Himbeere entgeistert an, nur um dann um so fester und aufgeregter weiterzuwinken. »Rostie? Das darf ja nicht wahr sein! Bist du’s denn auch wirk lich?«
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»Dein Wurm hat’s mir allerdings nicht geglaubt!«, rief Madame Himbeere fröhlich zurück. Auch sie winkte nun wie eine Wahnsinnige. »Oh! Aber das ist ja wunderschön! Oh, Rostie, mein Herz, ver gib dem Wurm. Er ist eben sehr tüchtig in der Ausübung seines Amtes, das darin besteht, die Leute zu verwirren und sie in Schach zu halten, aber ich fürchte, er ist eben nicht besonders helle oder kritisch. Ich bin sofort bei euch und lass euch rein!« »Alles unter Kontrolle!«, sagte Madame Himbeere und wandte sich den anderen zu, die eine japsende Karola aus dem Graben zogen. »Die Frau dort oben ist meine jüngere Schwester, Esme ralda Tausendschön.« Die Zugbrücke polterte auf die Anlegestelle am Grabenwall her ab, und Tausendschön überquerte sie, um sie zu begrüßen. Die beiden Schwestern umarmten sich herzlich, aber als sich Madame Himbeere anschickte, die Brücke zu überqueren, hielt sie Tau sendschön mit erhobener Hand zurück und sagte: »Da gibt es noch etwas, was ich vorher klären muss. Wurm, kannst du mich verstehen?« Großes Band hob den Kopf gerade so hoch, dass seine Augenstiele über Wasser waren. Er sah vollkommen zer knirscht aus. »Diese guten Leute hier sind nicht nur rechtmäßige Gäste«, fuhr Tausendschön fort, »sondern diese Frau hier ist meine eigene Schwester. Ich will, dass du dich bei ihnen ent schuldigst und ihnen zeigst, wie froh wir darüber sind, dass sie zum Goldrosen-Palast gekommen sind!« Die Augenstiele schwankten einen Moment lang hin und her, als ob sie verlegen oder unentschlossen wären, dann entfaltete das Tier eine ansehnliche Länge seines Schwanzes auf den splittrigen Brettern der Zugbrücke, die es so vom einen Ende zum anderen mit einem roten Teppich belegte. Als Esmeralda Tausendschön darauf bestand, benutzten die Besucher diesen Abschnitt der Wurmanatomie als Laufplanke. Da sie die Augenstiele mit bösem Blick verfolgten, überquerten sie die Brücke äußerst behutsam. Am anderen Ende gingen sie unter einer gezackten Falltür durch und gelangten in einen wunderschönen Garten, der ringsum durch 156
eine mit silbernen und goldenen Schindeln bedeckte Mauer einge grenzt war. Aus einem Hof im Innern stürzte eine Frau hervor, deren Haar mit den Schindeln um die Wette glänzte. »Esmeralda Tausendschön, verdammt noch mal, hast du mich aber erschreckt. Der Prinz hat nach dir gerufen und es ist schon beinahe Sperrst... – Rubinrose!« Ohne lange zu fackeln, rannte sie mit ausgebreiteten Armen auf Madame Himbeere zu. So glatt war der Übergang und so anmutig ihr Erstaunen, dass Bronwyn hätte schwören mögen, dass die fremde Frau schon die ganze Zeit gewusst hatte, dass sie hier waren und nur so tat, als ob sie sie jetzt erst bemerkt hätte. Hatte sie ihnen vielleicht schon zugesehen, als das Tier sie be drohte? »Ach Rubinrose, mein verlorener Liebling, was für ein scheußliches Kleid du anhast! Muss wohl deines Vaters Ge schmack sein. Und dein Haar ist schon seit Monaten nicht mehr richtig gelegt worden, so wie es jetzt aussieht! Wir werden etwas dagegen tun müssen vor dem Fest, aber sei unbesorgt, deine Mut ter wird dich im Nu wieder herausputzen. Bist du immer noch nicht verheiratet? Aber, gut so! Hier in Frostingdung gibt es ohne hin sehr viel mehr junge Männer, die für dich in Frage kommen, und wir haben jetzt auch sehr viel bessere Beziehungen. Du hast dir die beste Zeit rausgesucht, um wieder nach Hause zu kommen und das gebrochene Herz einer liebenden Mutter zu heilen!« Sobald sich die Frau zu erkennen gegeben hatte, packte Bron wyn, die den Griff ihres Schwertes in der Hand hatte, automatisch fester zu und ging zielbewusst nach vorn, um die Menschenfresse rin zur Rede zu stellen, die auf eine so kaltblütige Art und Weise ihr Leben zerstört hatte. Aber Madame Himbeere hielt sie zurück und murmelte ihr zu: »So warte doch, meine Mutter kann sehr gefährlich werden. Man muss wissen, wie man mit ihr umzugehen hat. Wenn du von deinem Fluch befreit werden willst, dann musst du dich jetzt zurückhalten, sei geduldig und überlass sie nur mir!« In einem sehr viel lauteren Ton sagte sie zu Belburga: »Ich hab dich doch gar nicht verlassen, Mutter, wenn du dich vielleicht erinnern würdest!« Dann schloss sie die Frau in die Arme, wobei
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sie aber noch sehr viel vorsichtiger war als beim Überqueren der Zugbrücke auf dem Rücken des Grabenungeheuers. »Nein, das stimmt«, sagte die Frau und warf dabei den Beglei tern ihrer Tochter einen Blick zu, zu dem der des Grabenungeheu ers vergleichsweise liebenswürdig war. »Soviel ich sehen kann, wurdest du von ein paar übelmeinenden Kameraden weggelockt!« »Das würde ich nun wieder nicht sagen!«, meinte Madame Himbeere, deren Stimme nun nicht mehr ganz so erbittert, sondern eher ein bisschen amüsiert klang. »Ich würde dir gerne Ihre Kö nigliche Hoheit, Bronwyn Bernsteinwein Greta Eberesch, Kron prinzessin von Argonia, Prinz Jacopo Würdigmann, den Spröss ling einer nomadischen Subkultur und einer Nebenlinie des able marlonischen Königsgeschlechts, und die Ehrenwerte Freifrau Karola Maud Liedschmied-Grau, Tochter von Prinzessin Greta von Argonia und Gräfin von Wurmhorst vorstellen.« Dann warf sie einen bedauernden Blick zu Anastasia hinüber und fügte hin zu: »Womit aber nur einige der vornehmen Mitglieder meiner Reisegesellschaft genannt wären …« Die Schwänin sah zur Seite und spielte die Gleichgültige, als sie einen Raum betraten, der die Größe eines Ballsaales hatte und mit Blumen und einem Zierbrunnen ausgestattet war. Anastasia flog sofort darauf zu und ließ sich im Wasser nieder, wo sie sofort so unbeschwert ihre Kreise zu ziehen begann, als ob sie ein Teil des ursprünglichen Dekors gewesen wäre. »Sicher verzaubert!«, sagte Madame Himbeeres Mutter mit ei ner unangenehmen Stimme, die so flach war wie Großes Band. »Wie wir alle«, sagte Bronwyn bitter, nur der Fluch veranlasste sie dazu, mit einem Anflug von Höflichkeit zu antworten, die sie aber nicht empfand. Wütend funkelte sie den Rücken der unver schämten Frau an, den sie ihnen auch dann zugekeht hatte, als Madame Himbeere sie vorstellte. Auch wenn Belburga nicht für den Fluch verantwortlich gewesen wäre, hätte Bronwyn die Frau nicht gemocht. Sie war dreist, gewöhnlich, laut, grob und besaß auch noch die Unverfrorenheit, nach außen hin so zu tun, als ob alle Mitglieder der Reisegesellschaft mit Ausnahme ihrer Tochter 158
unter ihrer Würde wären. Zweifellos fand sie bösartige und Flüche austeilende Zauberer etwas mehr nach ihrem Geschmack. »Lilienperle und der Kaiser werden darüber entzückt sein, dich wiederzusehen, Liebes«, quasselte die Frau in ihrem unangenehm monotonen Tonfall weiter. »Heute Nacht wird hier ein großes Fest stattfinden. Ich werde dafür sorgen, dass man dich und deine Freunde mit den angemessenen Gewändern versorgt und …« »Schön, Mutter. Ich muss jetzt aber noch eine Angelegenheit mit dem Kaiser durchsprechen, und ich fürchte, dass wir, das heißt du, die Prinzessin Bronwyn und ich auch noch ein Wörtchen miteinander zu reden haben. Etwas wegen der Mithilfe, die du einst einem gewissen Zauberer geleistet hast.« »Du kennst mich doch, Rubinrose, mein Herz, ich bin doch je derzeit bereit und willens zu helfen, wenn jemand in Not ist. Ich habe schon immer gesagt …« Und sie begann ausführlich zu wiederholen, was sie schon im mer gesagt hatte, bis sie sich schließlich mit Madame Himbeere in ein Salonzimmer neben der Empfangshalle zurückzog und durch Esmeralda Tausendschön einem Bediensteten auftragen ließ, dass er die Gäste auf ihre Zimmer führen solle. Der Bankettsaal war mit fremdartigem Pomp ausgestattet. Nicht einmal König Brüllos großer Festsaal konnte damit konkurrieren – aber schließlich, rief sich Bronwyn mit einer tüchtigen Portion Selbstgerechtigkeit ins Gedächtnis zurück, verwendete ihr Vater ja auch seine ganze Kraft auf die Verteidigung und Organisation seines Volkes und nicht auf die Unterdrückung und Ausbeutung von fremden Völkern. Tausende von Fackeln flackerten zwischen üppigen Wandteppi chen in den schillerndsten Farben, der Tisch war hell erleuchtet von Wachskerzen, die sich auch in den Juwelen brachen, mit denen die Gewänder, der Kopfschmuck und Schmuck der Feiern den verziert waren. Der Boden war mit Mosaiken übersät und nicht wie sonst mit Schilfmatten bedeckt, und in jeder Ecke waren bunt leuchtende Schnittblumen, deren Farben mit den Farbtönen 159
an den Gewändern der versammelten Edelleute wetteiferten. Überall sonst an den Wänden und im Raum waren Schilde und Rüstungen, die stolz zur Schau gestellt wurden, auf Hochglanz poliert. »Du wirst Lilienperle kaum wiedererkennen!«, flüsterte Tau sendschön ihrer Schwester zu. »Ich kann auch sonst kaum jemand wiedererkennen, mich selbst nicht ausgeschlossen«, erwiderte Rostie und streifte dabei ihre Wegbegleiter mit einem belustigten Blick. Sie standen an der Eingangstür zum Bankettsaal und warteten darauf, vom königli chen Herold vorgestellt zu werden. Rostie trug ein bronzefarbenes Gewand mit zartgrünen Besätzen, eine ziemlich konservative Wahl, wenn man bedachte, dass es ihr auf Belburgas Betreiben hin gebracht worden war. Tausendschön, der die neu hinzuge wonnene Rundlichkeit eine gewisse Festigkeit verlieh, die in dem schmetterlingshaften Dryadenmädchen, als das sie Rostie in Erin nerung hatte, noch nicht vorhanden gewesen war, machte ihrem Namen alle Ehre, indem sie ganz in Hellgelb mit braunem Samt futter und Besatz gekleidet war. Sogar der melancholische Anflug in ihrem Gesichtsausdruck, der zweifellos durch das Fehlen von anderen Tieren als dem Riesenbandwurm in Leofwins Reich verursacht wurde, stand ihr ganz gut. Jack sah blendend aus in seinen roten Satinhosen und einem orangefarbenen Hemd. »Ich hab’s mir selbst ausgesucht«, gab er zu, indem er seine geschwungenen Augenwimpern senkte, was wohl ein Zeichen für seine Bescheidenheit sein sollte. Karolas rosafarbenes Gewand mit dem granatfarbenen Besatz stand ihr sehr gut, aber die ganze Gruppe erblasste vor Bronwyns prächti ger Erscheinung. Belburgas Snobismus hatte hier offensichtlich den Sieg über ihre Menschenfressereigenschaften davongetragen, denn sie hatte ihren erlauchtesten Gast in ein Gewand gesteckt, das sie einer Kronprinzessin auch wirklich für angemessen erachtet hatte. Bronwyns Gewand hatte eine satte Purpurfarbe und war mit gol denen und silbernen Pfauen bestickt, in deren Schwänzen Ame 160
thyste und Aquamarine aufleuchteten. Eine kleine Kappe, die wie ein weiterer Pfauenschwanz aussah und ebenfalls mit Aquamari nen und Amethysten besetzt war, war im wilden, roten Haar der Prinzessin befestigt worden. Die hastig hinzugefügten Volants aus Batikseide am Saum fielen kaum auf. Sie gingen von Bronwyns Knie aus und am Ärmel in der Mitte des Unterarms, damit das Kleid so verlängert wurde, dass es ihr auch wirklich passte. Die Gesamtwirkung war erstaunlich und wurde nur dadurch ruiniert, dass Bronwyn darauf beharrte, ihren Schild zum Fest mitzuneh men. Glücklicherweise handelte es sich dabei nur um einen klei nen Rundschild, den sie bequem unter den weiten Ärmeln ver stecken konnte. »Nett, dass ihr uns zu Ehren ein Fest veranstaltet«, sagte sie ge schwätzig zu Esmeralda Tausendschön. »Ich wünschte ja nur, dass es euch zu Ehren wäre«, sagte Esme ralda, die jetzt ziemlich besorgt klang. »Ich bin mir nicht sicher, dass Leofwin das Richtige tut, wenn er um Gilles Kilgilles einen solchen Wirbel macht.« »Ist das etwa Baron Gilles Kilgilles?«, fragte Karola. »Wer ist denn das? Wir haben auf dem Weg hierher eine Person kennenge lernt, die mit ihm befreundet ist.« Tausendschön blickte verwundert drein, aber antwortete dann: »Das ist der Kerl dort drüben mit dem blonden Haar und dem Gesicht halb im Weinbecher versunken. Ach, du meine Güte, ich wünschte wirklich, dass Leofwin meinen Gatten nicht neben diesen Menschen gesetzt hätte. Der arme Schatz ist ja davon schon ganz grün im Gesicht!« Der Herold kündigte sie nun an, und sie marschierten hinterein ander zu ihren Plätzen am Tisch. Nach frostingdungianischem Brauch saßen die Männer auf der einen Seite des Tisches und die Frauen auf der anderen. Die Kaiserin, ein weißhaariges Wesen mit einem Gewand, bei dem offensichtlich ein Wickeltuch Pate ge standen hatte, saß ihrem Gatten gegenüber. Neben ihr befand sich Esmeralda Tausendschön, die gegenüber ihrem Ehegespons, Prinz 161
Leofrig saß, der noch etwas breiter gebaut und kahler war als Leofwin. Prinz Leofrig hatte eine breite Nase, schlitzförmige Augen und einen Mund, der von einem Ohr zum anderen zu ge hen schien. Die Familienähnlichkeit war jedoch beachtlich, und Bronwyn erinnerte sich wieder daran, dass Leofwin zu einem Wurf von eineiigen Drillingen gehörte. Madame Himbeere saß auf der andern Seite von Tausendschön, Baron Gilles gegenüber, der einen schöneren Anblick für sie darstellte als ihre Schwestern. Gilles Kilgilles mochte von ihr aus verrückt sein und gewiss hatte er schon ein bisschen zu tief ins Glas geblickt, aber er war bemer kenswert gutaussehend, was besonders unter den Frostingdungia nern Seltenheitswert besaß. Natürlich war er nicht so stattlich wie Bronwyns Vater, aber die glänzende Haube seines feinen silber nen Haares war sehr eindrucksvoll, seine Augen waren so klar und blau wie ein Gletschersee, und seine Bewegungen, ob er nun betrunken war oder nicht, waren geschmeidig und anmutig. Ma dame Himbeere schien es absichtlich zu vermeiden, ihn anzuse hen, aber Karola, die Jack gegenüber saß, starrte ihn ungeniert an, so dass sich Bronwyn überlegte, wie ihre Kusine eigentlich essen wollte, wenn sie ihren Mund ständig offen stehen ließ. Der Mann gegenüber Bronwyn hatte eine dunkle, pockennarbige Haut, eine athletische Figur, durchdringende schwarze Augen und ziemlich fettig aussehendes, schwarzes Haar. Seine Kleidung war konservativ, naturfarbenes Leinen, das sehr geschmackvoll mit goldenen Ornamenten verziert war. »Herzog Docho Dürrheim, Hoheit«, sagte Tausendschön, die Bronwyn dienlich sein wollte, »einer von Leofwins höchsten Ratgebern und der Architekt, der das Schloss und die Stadt entworfen hat.« Bronwyn mochte den Mann nicht, aber dann war es ja auch so, dass sie keine höchsten Ratgeber brauchte, weil sie in den letzten beiden Wochen mehr unfreiwillige Ratschläge bekommen hatte als in ihrem ganzen bisherigen Leben. »Ich habe gehört, dass Sie eine Schwertkämpferin sind, gnädi ges Fräulein«, sagte der Mann gesprächig, während er an der Vorspeise herumkaute, die nicht richtig durchgebraten und kalt 162
war, als sie auf dem Tisch ankam. Offensichtlich versuchte Leof win mit der prunkvollen Tafelausstattung das mangelhafte Essen auszugleichen. Goldene Teller waren ja schön und gut, aber Bronwyn wäre es lieber gewesen, wenn das Hammelfleisch dafür warm gewesen wäre. »Wer, ich?«, fragte sie. »Wer in aller Welt hat Ihnen denn so was erzählt?« »Ihr junger Freund dort«, erwiderte er und nickte Jack zu, »hat es erwähnt, als ich – äh – am frühen Abend seine Bekanntschaft in der Nähe der Schatzkammer machte, und die Freifrau Belburga war so freundlich, mir einen Einblick in Ihre Familiengeschichte zu gewähren.« »Da sieh mal einer an«, sagte sie unverbindlich, so dass sie nicht lügen und deswegen bestreiten musste, was für eine großartige Schwertkämpferin sie war. »Ich dachte schon, dass ich Sie – wenn Sie Zeit haben – viel leicht für einen Wettkampf interessieren könnte, der morgen stattfindet. « »Oh, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nicht die Zeit für solch einen Luxus übrig habe«, sagte sie kurz. »Schade, ich habe nicht gemeint, Schwert gegen Schwert mit Ihnen zu kämpfen, sondern wollte Ihnen nur die Waffe vorführen, die aus meiner Heimat – äh – meiner Region kommt.« »Ja?« Er zog zwei eingedellte Kupferkegel aus der Tasche, die an ei nem geflochtenen Lederriemen befestigt waren, der in der Mitte zwischen den beiden Gewichten eine Schlinge bildete und gekno tet war. Bronwyn zerbrach sich das Gehirn darüber, warum die Gewichte nicht aus Eisen waren wie alles andere in Frostingdung. »Sehen Sie, das hier ist die ›Bintnarangianische Senyaty‹!« »Sieht aus wie eine Waffe, die vorzüglich zum Hacken und Quetschen geeignet ist!« Er fing an zu lachen. »Das gnädige Fräulein hat einen bezau bernden Sinn für Humor!« 163
»Das gnädige Fräulein möchte jetzt lieber den Pfeffer haben. Könnten Sie ihn bitte herüberreichen?« Sie hoffte, dass er ihr auch das Salz reichen würde, denn das war es, was sie eigentlich woll te. Der Pfeffer sowie das Salz waren unter der Obhut des Kaisers, der sie aber mit einer gefälligen Geste weiterreichte, indem er eine hitzige Diskussion über die von ihm vorgesehenen Reformen mittendrin unterbrach. Als er sah, für wen das Salz und der Pfeffer bestimmt waren, versuchte er sich von dort eine Bestätigung seiner Beweisführung zu holen. »Wie denken Sie darüber, Prinzessin Bronwyn? Ihr Vater herrscht über ein großes Land, das bekanntlich viele Ungeheuer sowie auch andere …« »Nimm dich in acht, Bruder«, sagte Leofrig, »ich möchte dich daran erinnern, dass Damen anwesend sind.« »Wie es der Zufall will, kommen alle Damen in Hörweite aus einem Land, wo sie eine ganze Menge duweißtschonwas haben. Ich glaube also nicht, dass es ihnen was ausmacht«, erwiderte der Kaiser, der aber trotzdem ein bisschen rot wurde. »Ich wünschte, jemand würde uns sagen, was wir nicht hören sollen, weil es das Feingefühl verbietet«, bemerkte Madame Him beere dazu. »Also, Rubinrose«, begann ihre Mutter herumzudrucksen. Aber Baron Gilles kam ihr zuvor und erfüllte Madame Himbee res Wunsch. »Magie«, sagte er, indem er aufstand und sich tief vor ihr verbeugte, »und nochmals Magie, Zauberei, Hexerei, Scharlatanerie, Hokuspokus und Spuk aller Art.« Prinz Leofrig wandte sich so abrupt an seinen Tischnachbarn, dass er beinahe seinen Stuhl umgeworfen hätte und sagte: »Herr, es wäre mir sehr recht, wenn Sie Ihre Zunge ein bisschen zügeln würden! Schließlich ist meine Frau anwesend und ich möchte nicht, dass man sie durch eine solch entsetzliche Spra-grrrk!« Der Prinz beendete seine Rede mit einem heiseren Gequake. Während seines Wutanfalls war sein Gesicht ganz feucht und hubbelig 164
geworden und statt rot zu werden, wie man es von wütenden Leuten gewöhnlich erwartet, wurde er ganz grün im Gesicht. Bronwyn wurde an Lorelei, aber Esmeralda Tausendschön wurde an etwas ganz anderes erinnert. »Grrrk!«, sagte er wieder, worauf sich seine Gemahlin hastig über den Tisch zu ihm hinüberlehnte und ihm einen herzhaften Schmatz auf den Mund gab. »Aber, aber, mein Herz, du darfst dir das doch nicht so zu Her zen gehen lassen. Ich fühle mich dadurch überhaupt nicht belei digt. Ich weiß, dass dich die Erwähnung von duweißtschonwas in Erregung versetzt, aber das ist doch kein Grund dafür, dass du dich jetzt, vor unseren Gästen veränderst! Wenn duweißtschonwas nicht gewesen wäre, hätten wir uns ja schließlich auch nicht ken nen- und lieben gelernt, oder?« Sie küsste ihn noch ein paar Mal und allmählich wurde seine Haut wieder weißlich. »Grrrk – tut mir leid, mein Herz. Tut mir leid, Eure Kaiserliche Majestät, alter Knabe! Ihr wisst, dass dies ein rotes Tuch für mich ist. Aber du, Kilgilles, solltest lernen, deine Zunge zu zügeln!« »Aber, aber, mein alter Froschprinz, jetzt lass uns nur nichts überstürzen!«, sagte der Kaiser besänftigend. »Ich wollte ja nur Gilles’ Meinung zu ein paar wichtigen Problemen hören. Sein Bezirk ist schließlich mit am schlimmsten dran. He, was meinst du dazu, Gilles?« »Meinen, Herr?« »Zu meinem Vorschlag. Findest du nicht, dass wenn wir sie gut genug abschirmten, wir ein paar Eingeborenen gestatten könnten, ihre Armringe abzunehmen, wenigstens zeitweise und sich ihre Freiheit zu erkaufen, indem sie die Felder bestellen und Vieh züchten. Ich schwöre dir, wir haben es mit unseren eigenen Leu ten versucht, aber wir Frostingdungianer sind eben ein Volk von Bergleuten und Kriegern. Scheinbar gedeiht bei uns nur das Un kraut und diese Klammheimlichen! Wie soll einer ein Land regie
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ren, wenn dort nach Einbruch der Dunkelheit die Leute nicht mehr zusammenkommen können!« »Um ehrlich zu sein, das weiß ich auch nicht, Herr. Ich möchte nicht mit Euch tauschen!« Gilles lächelte ihn entwaffnend und beinahe teilnahmsvoll an. »Nun, dazu brauche ich aber deine Hilfe, alter Knabe. Wie du es wahrscheinlich schon herausgeschmeckt hast!« Leofwin starrte hasserfüllt auf sein Essen und stieß sein Messer in den Tisch. »Wenn wir schon dabei sind, dann wollen wir auch ein paar der Chefs freisetzen! Ein Mensch sollte sich zwar an etwas Derartiges gewöhnen können, aber mein Darm scheint es nicht zu begrei fen!« »Ein paar von diesen Wilden befreien?« entrüstete sich Leofrig. »Bruder, du kennst sie nicht so gut wie ich. Sobald du ihnen die Armreifen abnimmst, werden sie sofort wieder auf ihre alten Tricks verfallen …« »Ich glaube, Sie unterschätzen die Gründlichkeit des frosting dungianischen Sieges«, führte Gilles dagegen an. »Die Führung der sechs Vasallenstaaten wurde ja bekanntlich am Tag der Ent zauberung vollkommen vernichtet. Für uns stellt der Kaiser die einzige Alternative dar, die wir zwischen dem totalen Chaos und einem neuerlichen Krieg haben, auf den aber keiner von uns richtig vorbereitet ist. Wenn man unter den Sklaven sorgfältig aussuchen würde …« »Und ich behaupte, dass ein Sklave aus einem Grund ein Sklave ist und deswegen auch einer bleiben sollte. Es ist eine primitive, minderwertige Rasse. Die bloße Berührung mit einem von ihnen hat mich zum Krüppel gemacht – was noch sehr viel schlimmer wäre, wenn ich Tausendschön nicht hätte. Um ganz zu schweigen von unserem heiliggesprochenen Bruder Leofrig, der nicht mehr den Mut aufgebracht hat, in den Schoß seiner Familie zurückzu kehren, nachdem er am Tag der Entzauberung das höchste Opfer dargebracht hat. Du bist erst nach diesem Tag geboren, mein Junge, und weißt nicht, wovon du sprichst!« 166
»Zweifellos haben Sie …« erwiderte Gilles und rülpste elegant, wobei er sich seine vornehme, schmalgliedrige Hand vor den Mund hielt, »… Recht.« »Also, wenn das nicht die trübste Gesellschaft ist, die ich jemals erlebt habe!«, rief die ausgebleichte Kaiserin mit einer Stimme, die genauso natürlich war wie die hochrote Farbe auf den Wangen ihrer Mutter. »Leofwin, du kannst einem ja wirklich ein Fest vermiesen mit deinen Gesprächen über Sklaven und den ganzen übrigen Themen, die so unangenehm sind!« »Tut mir leid, Liebste, aber verstehst du, einer muss eben zuwei len das Land regieren!« »Ja, aber doch nicht während eines Festes. Wo bleiben denn die Musikanten? Wir wollen ein bisschen tanzen. Bist du nicht auch schon ganz verrückt darauf, von Rubinrose die neuesten Tanz schritte aus Queenston vorgeführt zu bekommen?« »Ganz verrückt darauf«, stimmte er ihr zu. »Baron Gilles, da mein Gatte in einer so trüben Stimmung ist, vielleicht wollen Sie …?« Sie erhob sich und streckte die Hand über den Tisch. Gilles schaute die Hand an, als ob er sich fragte, ob er über den Tisch springen oder darunter hindurchkriechen sollte, um Lilienperle aufzufordern, aber beschloss dann schließ lich, sich tief zu verbeugen, die Hand der Kaiserin zu küssen und um den Tisch herum zu gehen, bevor er die Kaiserin zur Tanzflä che führte. »Nun, Prinzessin Bronwyn«, sagte Leofwin und wandte sich ihr lächelnd zu. »Ein paar alte Haudegen wie wir, sollten vielleicht einen Handzuhandkampf vortäuschen, wenn sie schon nicht rich tig tanzen, wie? Und ich hätte gerne von dir das eine oder andere über den Umfang von deines Vaters Besitzungen gewusst. Du wirst sie doch einmal erben, nicht wahr? Also, wir sehen uns am Ende dieser verdammten Tafel wieder!« Belburga zog ihre Augenbraue bis zum Haaransatz hinauf, als sich ihr Schwiegersohn zusammen mit Bronwyn den anderen Tanzpaaren anschloss. Als sich Dürrheim ihr näherte, um sie zum 167
Tanzen aufzufordern, sagte Madame Himbeere mit einem ganz unschuldigen Lächeln zu ihrer Mutter: »Hast du nicht vorhin erwähnt, dass sich Lilienperle und Leofwin vor kurzem gestritten haben? So ist es eben mit der Liebe. Wenn eine Frau statt der Mitgift nur Schönheit und eine vornehme Herkunft mit in die Ehe bringt, kann man auch nur erwarten …« Aber sie redete nicht aus, sondern rauschte an dem mit feinem Leinen bestickten Arm des Herzogs davon. »Also, was sich dieses Mädchen doch alles herausnimmt!«, sag te Belburga entrüstet. Karola hatte mit großem Interesse zugehört und sagte nun: »Aber diese unbeholfene Riesin ist doch noch ein Kind!« »Aber leider auch ein Kind, das mit Titeln und Ländereien ge segnet ist«, erwiderte Esmeralda Tausendschön. »Deine Schwester war schon immer eine elende Unruhestifterin gewesen«, fuhr sie Belburga an, die jetzt aufstand und hoch erho benen Hauptes davonstolzierte. »Ich glaube, ich werde mich jetzt zurückziehen, mein Herz«, sagte Prinz Leofrig hastig. »Mein Bruder will morgen noch weite re Staatsangelegenheiten mit mir bereden, und ich brauche meinen Schlaf, wenn ich mich gegen Baron Kilgilles durchsetzen will. Kommst du mit?« »Kannst du mir nochmals verzeihen, mein Schatz? Aber für Ro stie und mich gibt es noch soviel zu erzählen und bis jetzt hatten wir kaum einen Augenblick für uns allein.« »Aber natürlich.« Mit berufsbedingter Neugierde beugte sich Karola zu Tausend schön hinüber und fragte diese: »Entschuldigen Sie, hab ich mich getäuscht oder hat es wirklich einen Moment lang so ausgesehen, als ob sich Ihr Gatte in einen Frosch verwandeln würde?« »Ja, ich fürchte, das entspricht den Tatsachen«, gab Tausend schön zu. »Sehr nett von dir, dass du in seiner Anwesenheit noch nichts darüber gesagt hast. In der Beziehung ist er nämlich fürch terlich sensibel. Kurz nachdem Leofwin nach Argonien abgereist 168
ist, wo wir uns dann kennengelernt haben, hat mein späterer Ehe mann ein Expeditionskorps nach Negelia geführt, um sich zu vergewissern, dass dort alle die kleineren Magier ausgehoben worden waren – ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll, liebe Karola, aber die Leute hier waren damals überzeugt davon, dass sie nur auf diese Weise ihre Angelegenheiten wieder in Ordnung bringen konnten, und ich fürchte …« »Das wissen wir bereits«, sagte Karola, »nur zu!« »Kurzum, mein Gatte hat noch einen Zauberer gefunden – in Wirklichkeit war es eine Hexe und bevor sie sie überführt haben, hat sie es fertiggebracht, Leofrig in einen Frosch zu verwandeln. Da Tiere hier sehr selten sind, hat ihn einer seiner Gefolgsleute in die Tasche gesteckt und hierhergebracht, weil er ihn braten und dann dem Kaiser vorsetzen wollte. Natürlich hatten die Männer im Expeditionskorps keine Ahnung davon, was aus ihrem Prinzen geworden war, sicher dachten sie, dass ihn die Klammheimlichen geholt hätten. Aber Leofrig erriet die Absicht seines früheren Dieners und hüpfte im entscheidenden Augenblick aus der Tasche und lebte von da an im Brunnen in der Eingangshalle, wo deine liebe Schwänin nun ist. Ich nehme an, dass dir Rostie erzählt hat, wie sehr ich Tiere mag, und meine kleinen Freunde, die ich in Klein-Darlingham zurücklassen musste, haben mir hier natürlich ganz fürchterlich gefehlt, und eines Tages, als ich wieder einmal weinend am Brunnen saß …« »Ich weiß schon!«, sagte Karola, »er hat sich dir zu erkennen gegeben und du hast Mitleid mit ihm gehabt und ihn geküsst …« »Nein, eigentlich war es mehr so, dass er mit mir Mitleid hatte und mir erlaubte, ihn zu küssen. Ich war damals einfach ganz verrückt nach einem Tier, an das ich mich anschmiegen konnte«, gestand ihr Tausendschön. »Und er verwandelte sich in einen hübschen …« »Zumindest einen Prinzen. Siehst du, das Problem ist, dass ich aus einem Dryadengeschlecht stamme und keine Prinzessin bin, so dass der Gegenzauber, den ich angewandt habe, eben nicht so 169
gut gewirkt hat wie bei einer richtigen Prinzessin. Ich muss ihn ziemlich oft küssen, damit er sich nicht wieder zurückverwan delt.« »Du meinst – in einen …?« fragte Karola und schnitt dabei eine Grimasse. »Ja, leider«, meinte Tausendschön resigniert. »Pfui!«, sagte Karola. »Genau«, seufzte Tausendschön. »Obwohl ich es manchmal schon fast lieber habe. Ich habe die Menschen manchmal so satt, und wenigstens ist Leofrig in seiner Froschlaune eine angenehme Abwechslung von der Gesellschaft des Großen Bandwurms. Ich bin ja so froh, dass ihr Rostie hierhergebracht habt!« In dem Moment, als sie dies sagte, hatte Jack alles halbwegs Essbare verdrückt, was er noch auf dem Tisch finden konnte. Nun näherte er sich Tausendschön mit der schwungvollsten Verbeu gung, die er in Petto hatte, und zusammen nahmen sie am Tanz teil. Wenn man es so nennen konnte. Wenn es etwas gab, auf das sich die Frostingdungianer noch weniger verstanden als aufs Kochen, dann war es das Musizieren, dachte Karola. Das Problem war eben nicht nur, dass es sich um fremdländische Musik handel te – auch ihr Vater kannte ein paar ausländische Lieder, die er faszinierend fand, auch wenn man danach nicht so gut tanzen konnte wie nach den argonischen. Auch lag es nicht an der Befä higung der Musikanten, die gut genug spielten, auch wenn sie nicht den Eindruck machten, als ob sie daran besonders interes siert wären. Sie hätten genauso gut Töpfe scheuern können, ge messen an der Freude, die sie in ihren Weisen an den Tag legten. Was natürlich durchaus verständlich war, aber für Karola uner wartet kam – dass sie langweilige Musik hörte. Und die Tanzenden sahen alle genauso gelangweilt drein wie die Musikanten spielten, auch wenn bei dem Tanz die Partner ausgetauscht wurden. Bronwyn tanzte nun mit Dürrheim und Madame Himbeere mit Graf Gilles. Sie gaben ein merkwürdiges 170
Paar ab, und Karola konnte zwar sehen, dass Madame Himbeere versuchte, auf ihre spröde Art fröhlich zu sein, aber dass Tienys junger Herr nur sehr schwer aufzuheitern war. Er sah traurig und sorgenvoll aus und vielleicht sogar ein bisschen ängstlich – ja, vielleicht auch verrückt, aber Karola war sich dessen gar nicht so sicher. Sie hatte das Gefühl, dass nachdem die Frostingdungianer sie und ihre Reisebegleiter kennengelernt hatten, die Dungies glauben mussten, dass die Argonier sehr viel verrückter waren als Herzog Gilles. Während ihr das durch den Sinn ging und sie die Tanzenden beobachtete, begann sie zu summen, zuerst nur ein wenig, denn sie hatte wirklich nicht die Absicht, Magie auszuüben. Wenn sie den Musikern summenderweise nur ein paar Anregungen gab, die noch dazu rein musikalischer Natur waren, so konnte dies doch wirklich nicht als Magie gelten. Also fügte sie eine kleine Harmo nie hier und ein Glissando dort hinzu und diese und jene Verzie rung, bis sie allmählich immer zuversichtlicher und einfallsreicher wurde und ihr Summen schließlich mit der neuen und wesentlich verbesserten Musik vollkommen verschmolz. Es hörte sich schon sehr viel besser an. Am Schluss des Tanzes hatte jeder ein leicht glänzendes Gesicht vom Schwitzen. »Ich muss schon sagen, ich hatte das ganz anders in Erinnerung, Lieb ster«, sagte die Kaiserin zum Kaiser, den sie nun als Tanzpartner hatte, »was meinst du dazu?« »Ich muss dir gestehen, dass ich mir kaum Gedanken darüber gemacht habe, Liebste«, erwiderte er. »Ich glaube, ich werde so langsam müde. Außerdem kommen morgen die Wildhüter wegen ihrer wöchentlichen Berichterstattung. Was sagen wir …« »Na schön«, sagte die Kaiserin kurz angebunden. Viele Höflinge folgten dem kaiserlichen Paar, als es sich aus dem Festsaal zurückzog, aber die Musikanten spielten noch einen Tanz für die Zurückgebliebenen, und Karola half auch dabei aus. Madame Himbeere, die wieder mit Graf Gilles tanzte, war so rot im Gesicht, dass sie ihrem Namen alle Ehre machte, und Gilles 171
lachte und lächelte beinahe den ganzen Tanz über und schien mit seiner Tanzpartnerin zu scherzen. Aber als die letzten Akkorde verklangen und Madame Himbeere pflichtschuldigst mit Esmeralda Tausendschön davonmarschierte, sah der schöne junge Baron über die Köpfe der Tanzenden hin weg, um Karolas nachdenklichen Blick mit einem pfiffig aner kennenden zu erwidern. Er schlenderte zu ihr hinüber, schenkte sich noch ein Glas ein, leerte es und lehnte sich über den Tisch, indem er seine Arme vor der Brust verschränkte und Karola mit einem verblüffenden Blick ansah. Als alle den Saal verlassen hatten, außer den Dienern, die die Tische abräumten, sagte er mit leiser Stimme zu ihr: »Kleine Tricks wie diese können Ihnen hier ein neues Schmuckstück eintragen, Fräulein!« »Wem? Mir?«, fragte Karola und schaute unschuldig um sich. »Sie müssen sich täuschen, mein Herr. Ich bin nur hier herumge sessen und habe die Musik genossen.« »Hmmmm, das habe ich gemerkt, und da dies normalerweise unmöglich ist, habe ich sofort gefolgert, dass Sie die Missetäterin sein müssten.« »Gar nicht so übel für einen Verrückten!«, sagte Karola. Er mochte ja ganz schön sein, aber er war auch recht eitel. »Wie ich sehe, ist mir mein schlechter Ruf schon vorausgeeilt. Sie brauchen mich aber nicht so scharf anzufahren, Fräulein. Was Ihr Geheimnis anbetrifft, so werde ich darüber schweigen wie ein Grab. Ich bin ohnehin dafür bekannt, ein halbblütiger HexenLiebhaber zu sein, obwohl ich nicht glaube, dass ich bis jetzt jemals das Vergnügen gehabt habe.« »Aber ist nicht Tieny ohne Armreif in Wirklichkeit eine He xe?«, fragte Karola mit scheinheiliger Stimme. »Tieny Flittrum? Schon möglich, dass sie das war, aber sie wur de zur Sklavin, bevor ich geboren wurde, keine Möglichkeit mehr, das jetzt noch festzustellen.«
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»Aber würden ihre magischen Eigenschaften nicht zurückkeh ren, wenn Ihnen der Kaiser erlaubte, ihr den Armreif abzuneh men?« »Darauf besteht nicht viel Hoffnung«, erwiderte er, ließ sich in einen Stuhl fallen und füllte und leerte seinen Becher noch zwei weitere Male, wobei er seinen Mund mit einer Geste abwischte, die weniger anmutig war als die vorangegangenen. »Gut, Leofwin ist nicht mehr derselbe Mann, der die Sechs unterworfen hat, da er in Argonien religiös wurde oder wie man’s nennen will, abgese hen von diesem weiblichen Klammheimlichen, mit dem er nun verheiratet ist. Aber Dürrheim und Leofrig sind dieselben geblie ben. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass sie es jemals zulassen, dass irgendwelche Armreifen entfernt werden, auch wenn das ganze Land dabei verhungert.« »Wenn diese Leute Sklaven sind, kann man sie nicht dazu zwingen, Ackerbau zu betreiben?« »Natürlich kann man das. Mein Vater, Gory Kilgilles, hat das zum Beispiel versucht. Die Rebe, aus der der Breimampf gewon nen wird, wird zum Beispiel von Sklaven angebaut. Aber das wird nicht helfen, das Schlachtvieh und die Fische zurückzubringen!« »Aber ihr müsst doch Schlachtvieh haben«, sagte Karola, »schließlich hatten wir ja heute Braten zum Abendessen.« Er lachte und obwohl sein Lachen voll und tief war anstatt alt und zittrig, erinnerte es ihn an Tieny. »Ja, wie haben Sie denn Ihr Roastbiest gefunden? Leofwins Wildhüter fangen diese besondere Art von Kriechtier, indem sie über Nacht Fallen aufstellen, die mit Ködern aus den Überresten der Nacht zuvor versehen sind. Ur sprünglich wurde ein Sklave als Köder verwendet, aber Leofwin ist von diesem Brauch abgekommen. Die Leute in meiner Region tun das gleiche mit den Meerestieren. Wenn keine vorhanden sind, essen wir eben Brei.« »Ich glaube, dass man sich daran gewöhnt«, sagte sie unsicher. Marta, die Näherin auf Wurmhorst pflegte das gerne zu sagen,
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aber Marta hatte natürlich nie den frostingdungianischen Brei mampf vorgesetzt bekommen. »Nur wenn man nichts Besseres gewöhnt ist. Aber bei mir ist dies der Fall. Das Essen wurde hier von Jahr zu Jahr weniger und schlechter.« Er wollte gerade noch etwas anderes sagen, aber plötzlich veränderte sich sein Gesicht und sein ganzes Gebaren. Die meisten Kerzen und Fackeln im Raum waren nun diskret gelöscht worden. Als Karola den Baron aufmerksam betrachtete, schien eine vollkommen andere Person über Gilles’ Kopf zu gleiten wie ein Kleidungsstück. Seine Augen verengten sich und wurden länger, sein Körper straffte sich und machte keinen resi gnierten und vom Trinken heruntergekommenen Eindruck mehr, sondern sah strenger und unnachgiebiger aus. Er rutschte nach links und wandte sich an den leeren Platz, den er zuvor einge nommen hatte. »Du weinerlicher Balg! Wenn ich an die Kränkungen denke, die deine Mutter von diesem Kobold ertragen musste, um ein armse liges Produkt wie dich hervorzubringen, könnte ich weinen! Und nun, beklagen wir uns gar über unser Abendessen, während unser Volk in Eisen schmachtet und unser Reich in Schutt und Asche liegt? Wie würde es dir denn passen, wenn du dein Leben lang Staub fressen müsstest?« »Moment mal!«, sagte Karola, die in dem neuen Gesicht nach Spuren des ursprünglichen Gilles forschte. Ihretwegen mochten es die Frostingdungianer als Verrücktheit bezeichnen, aber eine Hexe, die ihr Pulver wert war, wusste sofort, wann sie mit dem Übernatürlichen konfrontiert war. Dies hier hatte nichts mit Ver rücktheit zu tun, sondern es handelte sich dabei entweder um eine Geistererscheinung oder um eine Zwangsvorstellung. »Wer sind Sie denn eigentlich und was fällt Ihnen bloß ein, sich so einfach in unsere Unterhaltung einzumischen?« »Ich bin sein Vater«, informierte sie das Wesen kühl. Sie ertapp te sich dabei, ziemlich erstaunt darüber zu sein, dass es auch ihre Anwesenheit wahrnahm. Sie war immer der Ansicht gewesen, dass Geistererscheinungen beziehungsweise Zwangsvorstellungen 174
immer eine mehr oder weniger private Angelegenheit zwischen der Erscheinung und ihrem Adressaten waren. »Und wer bist du?« Aber bevor Karola antworten konnte, rutschte der Mann an sei nen alten Platz zurück und wurde wieder zu Gilles. »Sie ist eine Hexe, alter Knabe, eine wirklich sehr sachkundige, ungebannte Hexe. Du bist aber gar nicht mein Vater, und wenn du willst, dass einer von uns überlebt, dann wäre es besser, wenn du so etwas vor mir mit keinem Sterbenswörtchen erwähnen würdest. Hast du denn gar nicht bemerkt, dass wir in Leofwins Schloss sind?« Er tauschte wieder den Platz und die Maske seines Vaters glitt erneut über seine Züge. Das Gespenst interessierte sich überhaupt nicht für ihren geographischen Standort und sagte nur: »Wie bitte, eine Hexe? Und sag bloß, sie verfügt noch über eine intakte Zau berkraft. Wird sich hier herum nicht lange halten können.« Gilles wurde wieder er selber. »Ich habe ihr gerade von den Schwierigkeiten erzählt, in denen sich das Land befindet und wie Leofwin versucht, sie zu lösen. Ich wollte ihn dazu überreden, die Sklaven freizulassen, was ohne Zweifel helfen würde, die Nah rungsmittelknappheit zu beseitigen.« »Das Land! Was meinst du eigentlich mit ›dem Land‹! In Wirk lichkeit sind es sieben Länder und Frostingdung ist von allen das niedrigste. In Suleskeria, Bintnar und sogar in den Unpflügbaren Ländern hatten wir alle genug zu essen, als es im Meer noch Fische gab, unsere Leute noch die Kraft und die Fertigkeiten dazu besaßen, die Pflanzen aus der Erde hervorzulocken und als sich unsere Tiere noch fortpflanzen durften. – Die Dungies haben nie begriffen, dass man die Magie nicht von der Produktion trennen kann. Die Kobolde beuten die Erde aus, indem sie ihr die Metalle entreißen, die nicht nachwachsen. Man kann aber das gleiche Prinzip nicht auf die Nahrung anwenden, sonst verhungert man. Und jetzt verhungern sie eben, und ich bin der Meinung, dass ihnen recht geschieht!« Je länger das Gespenst sprach, desto erregter wurde es und seine Stimme wurde dabei immer lauter, bis es dann schließlich mit Gilles’ Zähnen wütend knirschte.
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Karola beobachtete die Erscheinung, die sie zugleich faszinierte und mit Besorgnis erfüllte, und wartete darauf, dass sich der junge Edelmann wieder in sein ursprüngliches Selbst zurückverwandeln würde, als sie plötzlich auf ein anderes Geräusch aufmerksam wurde. »Pssst! Ehrwürdige Karola!«, begrüßte sie Jack. »Wer ist denn das?«, fragte das Gespenst und drehte sich rasch um und sah sich Jack gegenüber. »Sag nur, noch so ein Hexen meister?« »Nein, das ist Jack – ein Zigeuner.« »Das kann man wohl sagen. Was war denn das für ein Ge schöpf, mit dem du vorhin getanzt hast, Balg?« »Das ist Madame Himbeere«, antwortete Karola, die die ständi gen Verwandlungen leid war, »sie stammt aus einem Geschlecht von Menschenfressern und – ist meines Wissens nach auch ein bisschen magisch begabt.« Das Gespenst fing an zu kichern. »Dann lässt Leofwin neuer dings Zauberer zu sich an den Hof kommen, wie? Könnte sein, dass er endlich begriffen hat, dass er sie braucht.« Jack hörte das Kichern und stürzte nach vorn. Gilles wechselte wieder den Platz und antwortete seinem Gespenst: »Ich bin gerade dabei, den Kaiser davon zu überzeugen und deswegen solltest du mir die Angelegenheit nicht schon im voraus vermasseln!« »Du! Alles was du tust, ist, dich vollaufen zu lassen«, sagte das Gespenst wieder von links. Jack, der im ersten Moment nach Karolas Arm gegriffen hatte, ließ seine Hand wieder sinken und starrte zuerst Gilles & Co. entgeistert an und dann Karola. »Komm jetzt, Karola«, sagte er schnell. »Es ist nicht gut für dich, in diesem dunklen Saal mit Tienys verrücktem Herrn zu sammen zu sein. – Aber auch Sie sollten schon längst im Bett sein, so wenigstens würde es die gute alte Tieny haben wollen«, fügte er etwas halbherzig hinzu.
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»Eine ganz vorzügliche Idee!«, sagte der richtige Gilles und er hob sich. »Schließlich können wir unseren Disput ja auch auf meinem Zimmer fortführen, alter Knabe!« »Bah!«, erwiderte das Gespenst, aber zog es dann doch vor, zu schweigen.
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VIII
Bronwyn war dem Herzog von Dürrheim nicht gerade ausgewi chen, als er sie fand, aber sie war auch nicht hinter ihm hergelau fen. Eigentlich hatte sie auf Madame Himbeere gewartet, die Bronwyn dazu aufgefordert hatte, sich nach dem Frühstück mit ihr im westlichen Hof zu treffen. Da das Frühstück genauso schlecht wie das Abendessen war, hatte Bronwyn trotz ihres Hungers beschlossen, es auszulassen. Sie kam also etwas früher im Hof an und hoffte, sich noch ein bisschen im Schwertkampf üben zu können. Sie beabsichtigte, direkt an die Front zu gehen, um ihrem Vater zu helfen, nachdem sie die Menschenfresserin von ihrem Fluch befreit hatte. Zweifellos hatte er dort schon alles unter Kontrolle gebracht, denn er war ja schließlich der größte Krieger auf der ganzen Welt; aber sie wollte ihm wenigstens noch beweisen, dass sie ihm an Größe kaum nachstand. Wahrscheinlich würde es auch nicht genügen, sich vom Fluch zu befreien, sondern sie musste ein paar Leute davon überzeugen, ihr zu glauben, wenn sie etwas sagte, und Vater pflegte immer zu sagen, dass es kein besseres Mittel gäbe als ein Schwert, um aus jemandem einen Gläubigen zu machen. Sie probierte Hiebe aus, bei denen sie vortäuschte, ein paar ablemarlonische Generäle vierzuteilen. Als sie dessen müde wurde, dachte sie, dass sie vielleicht gute Angriffs- und Verteidi gungstaktiken finden könnte, die sich mit Ungeheuern befassten, die in diesem Gebiet nützlich waren, und sie ging daran, solche zu entwickeln. Sie dachte an Großes Band, als sie eine glücklose Wäscheleine, die zur richtigen Zeit am falschen Platz hing, in Stücke haute. Als sie sich an die Flieger erinnerte, hieb sie ein paar große Fetzen aus der Luft heraus, aber sie war schon beinahe wieder soweit, sich zu langweilen, als der Herzog des Weges kam. »Hoheit! So haben Sie also doch noch beschlossen, mich mit einem Duell zu beehren«, sagte er und machte dabei eine schwungvolle Verbeugung.
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»Ich warte schon eine geraume Zeit«, sagte sie und keuchte von dem Versuch, dem Himmel eine Lektion zu erteilen. »Dann lassen Sie uns doch auf alle Fälle sofort beginnen«, sagte er und zog seine Waffe aus der Tasche. Dürrheim fühlte sich nicht im geringsten durch dieses übergroße Kind bedroht. Wenn sie Leofwin mit einer ausgewachsenen Frau verwechselte, dann war das seine Sache, ihm konnte das nicht passieren. Er hatte es von dem Zigeunerjungen, dass die Prinzes sin nur deswegen so groß war, weil sie von Riesen abstammte und nur deswegen eine Kämpferin war, weil sie sich selbst dazu er nannt hatte. Eine Zeitlang umkreisten sie sich, und Bronwyn machte einoder zweimal einen Scheinangriff. Sie hatte schon zuvor mit Veteranen geübt, weil ihr Vater, der ihr liebster Kampfpartner war, nur sehr selten Zeit hatte und ihr irgendeinen General vorbei schickte, der auf eine Audienz bei ihm gewartet hatte. Der musste dann seine Tochter in der Kriegskunst unterweisen. Aber sie hatte dabei immer das Gefühl gehabt, dass sie diese Männer nicht ernst nahmen und nicht hart genug mit ihr kämpften, weil sie die Thronerbin nicht verletzen wollten. Sie hatte ihr möglichstes getan, um sie herauszufordern, und zweifelte nun kaum mehr an den eigenen Fähigkeiten, wenn es darum ging, ihr Schwert gegen ein fremdes Schwert oder eine Lanze einzusetzen, aber die un konventionelle Waffe des Herzogs war wieder eine ganz andere Geschichte. Nach ihrem zweiten Täuschungsmanöver beugte er sich etwas zurück und setzte seine Waffe in Bewegung; das rechte Gewicht wirbelte in Richtung Sonne und das linke in entgegengesetzter Richtung. Die schnippenden Metallgewichte fesselten Bronwyns Aufmerksamkeit so sehr, dass sie beinahe nicht bemerkt hätte, wie Dürrheim seine Waffe losließ. Er hatte nach ihrem Nacken gezielt, was natürlich äußerst un sportlich war, aber Bronwyn sprang zurück. Die Senyaty, nach dem sie Bronwyns Nacken verfehlt und dann herabgefallen war,
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traf stattdessen ihre Beine, um die sie sich fest herumwickelte und das Mädchen zu Fall brachte. Bronwyn fiel mit erhobenem Schwert nach hinten, doch deckte sie sich mit ihrem Schild. Dann verschwendete sie einen kostba ren Augenblick darauf, sich zu überlegen, wie sie die Senyaty am besten entwirren konnte, ohne sie kaputtzumachen. Dies war, bevor sie nach oben blickte und sah, wie sich der Herzog mit gezogenem Schwert über sie hermachte, und sie erkannte blitzar tig, dass er fest entschlossen war, ihr den Rest zu geben, was auch immer sie mit seiner Waffe machen würde. Ihre Reflexe gehorch ten ihr zwar gut genug, aber ihre Verwirrung ließ sie fast zu lange zögern. Sie dachte immer noch daran, ihre Füße zu befreien, und hatte ihre Klinge schon am Lederriemen, als Dürrheims Schwert auf ihren Kopf herniedersauste. Sie warf ihren Schild hoch und sein Schwert fuhr zur gleichen Zeit krachend darauf nieder, als ihres den Lederriemen durch trennte, der ihre Füße band. Bevor sie mit ihrem Schwert einen Angriff starten konnte, stürzte er sich mit einer weiteren Senyaty in den Händen auf sie, wickelte den Lederriemen um ihren Hals und zog so fest zusammen, dass Bronwyn kraftlos zusammensack te. Warum tat er dies? Konnte er vielleicht keine Rothaarigen aus stehen oder hasste er große Mädchen? Von der ganzen Abordnung aus Argonia war es Bronwyn, die am wenigsten magische Eigen schaften hatte. Wie kam er als Angehöriger eines Volkes, das die Magie hasste, dazu, ausgerechnet auf ihr herumzuhacken? Zwei fellos hatte er erkannt, dass sie ihr natürlicher Mut dazu veranlas sen würde, ihren Kameraden sofort zu Hilfe zu eilen, wenn er sie zuerst angreifen würde. Dürrheim wollte sie zuerst aus dem Weg räumen, bevor er sein eigentliches Ziel in Angriff nehmen würde. Bronwyn wollte ihn noch fragen, ob sie Recht hatte, aber alles, was sie noch herausbrachte, war ein kläglicher Würgelaut, als er sie herumriss und die Lederriemen noch fester zuzog. Ihr Schwertarm war viel zu kraftlos, um ihm damit einen Hieb zu verpassen. 180
Sie fiel rückwärts, und ihr Gewicht ermöglichte es ihr, ihn nie derzuschlagen. Die Riemen lockerten sich, so dass sie Bronwyn vollends herunterreißen konnte, obwohl ihre Finger ohne Gefühl waren. Ihr Schwert war in dem Handgemenge zu Boden gefallen, und nun hechteten sie und der Herzog gleichzeitig danach. »Aha, Dürrheim, wie ich sehe, verhelfen Sie unserem hübschen jungen Gast zur gesunden körperlichen Ertüchtigung«, sagte eine Stimme. Sowohl Bronwyn als auch der Herzog ließen ihr Schwert los, um ihre verschwitzten, verzerrten Gesichter dem Kaiser zu zuwenden. Der Kaiser war von Madame Himbeere auf der einen und Graf Gilles auf der anderen Seite flankiert. Rostie streifte Bronwyn nur mit einem hochnäsigen Blick, als sie sah, wie sehr das Mädchen in Unordnung geraten war. »Nett von dir, sie zu unterhalten – aber sei doch nicht so grob zu ihr.« Bevor Dürrheim oder Bronwyn antworten konnten, kam ein junger Page in den Hof gerannt. Er mäßigte sein Tempo etwas, als er Leofwins ansichtig wurde: »Entschuldigen Sie, Herr, aber Sie wollten, dass man Ihnen Bescheid sagt, wenn sich die Wildhüter versammelt haben. Sie warten auf Sie!« Als er des Herzogs an sichtig wurde, verbeugte er sich auch vor diesem und warf ihm einen etwas schrägen Blick zu, wie Bronwyn meinte, als er sich nun mit den folgenden Worten an diesen wandte: »Seine Königli che Hoheit, Prinz Leofrig erwartet Sie im Bad, Herr!« Herzog Dürrheim verbeugte sich hastig und zog sich zurück. Bronwyn ergriff die Hand des Kaisers, der ihr beim Aufstehen half, und sah sich dabei ihre aufgeschürften Knie an. Der Kaiser blickte Dürrheim einen Moment lang nach, und Bronwyn war es so, als ob sie dabei Argwohn in Leofwins tieflie genden Augen hätte aufblitzen sehen, den er allerdings sofort wieder mit einem freundlichen Lächeln tarnte. »Ich darf die Wild hüter nicht warten lassen, oder? Aber Prinzessin Bronwyn, nach dem Empfang würde ich gerne mit Ihnen sprechen. Als ich mit Schwester Rubinrose und Graf Kilgilles gesprochen habe, ist mir der Gedanke gekommen, dass wir mit Argonia vielleicht bezüg lich eures Krieges und unserer Lebensmittelknappheit zu einer 181
Übereinkunft kommen könnten, die beide Staaten zufriedenstellt, und ich hätte nun gerne Ihre Meinung dazu gehört.« Aber bevor Bronwyn antworten konnte, seufzte Madame Him beere mit einer mütterlichen Anteilnahme, die überhaupt nicht bezeichnend für sie war: »Aber meine liebe Prinzessin Bronwyn, du hast dir ja dein Knie blutig geschlagen! Dagegen müssen wir was tun. Komm mit, und wir wollen Mutter bitten, dass sie uns beim Verbinden hilft.« Der Kaiser ergriff sofort die Flucht, als sich das Gespräch Wei berangelegenheiten zuwandte, und Rostie flüsterte Bronwyn zu: »Wir dürfen nicht riskieren, dass dein Fluch die Konferenz zum Scheitern bringt. Lass uns deswegen sogleich mit Mutter reden, dass sie dich heilt.« Belburga saß gerade vor ihrem Frisiertisch, als die beiden bei ihr anlangten. Sie war schon ziemlich überrascht, als sie Rostie sah, aber konnte es kaum fassen, als auch noch Bronwyn aufkreuzte. »Aber meine Liebe, welch unerwartetes Vergnügen«, rief sie und fand sehr schnell ihre Selbstbeherrschung wieder. Plötzlich schwenkte sie einen Rougetopf in die Richtung von Bronwyns Knie und fragte: »Sag mal, was hast denn du da angestellt?« »Du weißt ebenso gut wie ich, dass dir die Prinzessin keine auf richtige Antwort darauf geben kann, aber ich glaube, dass sie der Herzog von Dürrheim angegriffen hat. Sein Schwert lag zerbro chen am Boden, als wir ankamen. Ich glaube«, fuhr sie fort und sah ihre Mutter dabei starr an, »dass ihn jemand dazu abgerichtet hat. Aber Bronwyn kann in ihrer jetzigen Verfassung nicht als Zeugin gegen ihn auftreten, so dass wir die Sache also so lange nicht klären können, bis du sie von dem Fluch befreist, mit dem du sie bei ihrer Taufe verhext hast.« Belburga tat so, als ob sie kein Wässerchen trüben könnte und entrüstete sich: »Aber Rubinrose, mein liebes Mädchen, die Reise muss dich so sehr mitgenommen haben, dass sich deine Sinne
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verwirrt haben. Ein Fluch ist eine Art von Magie, aber ich habe keine magischen Eigenschaften.« »Bist du dir da ganz sicher?« Belburga vermied es, ihrer Tochter in die Augen zu sehen, und Rostie seufzte tief auf: »Nun, das ist aber jammerschade, weil es nun sehr schwer sein wird, Dürrheim zu bestrafen. Aber anderer seits bin ich auch überzeugt davon, dass der Kaiser Bronwyn besser bewachen lässt, wenn ich mit ihm erst einmal über meinen Verdacht gesprochen habe. Er hat Pläne geschmiedet, für die Bronwyns Hinscheiden sehr ungelegen käme, gelinde ausge drückt.« Sie wandte sich Bronwyn zu, die sich allmählich zu fragen begann, wer hier eigentlich verflucht sei, und sagte in einem lebensmüden Ton: »Mein liebe Bronwyn, ich fürchte, dass es dir nicht mehr möglich sein wird, dem Kaiser deine wirklichen Gefühle in der Angelegenheit mitzuteilen, die du mit ihm bespro chen hast. Du bist ja noch sehr jung, aber …« »Aber was?«, fragte Belburga, die ihren lauernden Blick zwi schen den beiden hin- und herschweifen ließ. »Was führt mein schwachköpfiger Schwiegersohn denn nun schon wieder im Schild? Hat er vielleicht vor, meine Lilienperle zu betrügen?« »O nein, Mutter, ich würde es nicht so scharf formulieren! Aber er kommt jetzt dann in die besten Jahre und du weißt ja selbst, wie die Männer dann werden. Schließlich wird Bronwyn eine ganz gediegene Erbschaft zufallen, die sie in ihrer derzeitigen Situation nicht allein verwalten kann. Es wäre also nur natürlich, wenn König Brüllo eine Verbindung suchen würde …« »Aber der Kaiser ist doch ein verheirateter Mann, und sie ist noch kaum den Windeln entwachsen. Außerdem kennt Leofwin die Ebereschs kaum.« »Aber Leofwin weiß, dass die Leute in Argonia immer noch zu essen haben. Und es soll immerhin schon vorgekommen sein, dass Ehefrauen aus politischen Gründen abgeschoben wurden, wenn ihnen nicht noch Schlimmeres widerfahren ist. Warum machst du also solch einen Zirkus? Sicher wird er für Lilienperle – und dich, 183
natürlich, sorgen, obwohl du wahrscheinlich unter den gegebenen Umständen nicht mehr im Palast bleiben willst.« »Ja«, sagte nun auch Bronwyn, »machen Sie sich keine Sorgen, gnädige Frau. Ich werde schon dafür sorgen, dass Sie und die Kaiserin Ihren Breimampf zweimal pro Tag bekommen und ab und zu ein schönes Stück Monster; und wenn ich dann ein Ge wand über habe, wird davon auch mal eines abfallen, das für Sie und Ihre Tochter genügen muss!« »Halt – lasst mich mal überlegen«, sagte Belburga, legte ihren Finger ans Kinn und den Kopf schief – eine Geste, mit der sie ihre Nachdenklichkeit demonstrieren wollte. »Obwohl ich natürlich noch nie so etwas Gemeines getan habe, wie du gerade angedeutet hast, erinnere ich mich vielleicht an etwas aus meiner vornehmen Erziehung, das diesem armen Mädchen unter Umständen nützlich sein könnte.« »Für jedes bisschen Weisheit, das Sie mit mir teilen können, bin ich Ihnen ja so unendlich dankbar«, sagte Bronwyn so unterwürfig als möglich. »Du sollst es gewiss haben«, erwiderte Belburga, die es immer noch darauf anlegte, Zeit zu gewinnen, mit einer zuckersüßen Stimme und einem Lächeln, bei dem sie ihre dolchartigen Zähne zeigte. »Wie traurig für dich, dass du das Opfer eines so schmut zigen politischen Handels geworden bist!« »Schade, dass du nicht schon damals so besorgt gewesen bist, als du dem Zauberer den Fluch beschafft hast, der sie in diese missliche Lage gebracht hat!« erwiderte Rostie zähnefletschend. Der Gesichtsausdruck ihrer Tochter sagte der Freifrau Belburga, dass es nun an der Zeit sei, auf eine andere Taktik umzuschwen ken, und sie sank sehr theatralisch auf eine Couch nieder, die wie Brokat verziert war, deren ursprünglicher Schmuck aber nur aus ein bisschen Stickerei in Reifen aus Elfenbein bestanden hatte. Die Menschenfresserin strich sich mit der Hand über die mit Korkenzieherlocken verzierte Stirn und sagte: »Aber mein Schatz, was hätte denn deine Mutter tun sollen? Dieser elende Zauberer 184
und seine Banditen waren überall um uns herum. Wie hätte sich eine arme, aber immer noch attraktive Witwe mit ihren drei schö nen, aber schutzlosen Töchtern aus dieser Situation anders retten sollen als durch ihren Verstand? Ich musste diesem Befehl gehor chen, um unsere Ehre zu retten. Rubinrose, du wirst einfach nie in vollem Umfang die Opfer ermessen können, die deine Mutter für dich dargebracht hat.« »Nun, Mama, jetzt wirst du gleich Gelegenheit haben, dem noch ein paar weitere Opfer hinzuzufügen, und ich verspreche dir, dass ich dir dieses Mal richtig dankbar sein werde, wenn du dich nur ein bisschen beeilst. Wie du weißt, ist Leofwin nicht wegen seiner Geduld Kaiser geworden. Und ich verspreche dir auch noch die ses: Je früher du uns hilfst, desto schneller bist du uns auch wieder los!« »Ich bin ja so froh, dass du das versprichst, meine Liebe«, sagte Belburga mit einem gehässigen Seitenhieb auf Bronwyn, »sonst würde ich nämlich kein Wort davon glauben. Na, Fräulein Prin zessin, wie fühlt man sich denn so, mit dem Königspalast, der hübschen Mama und dem reichen Papa und wenn man ganz genau weiß, was für eine verlogene Person man eigentlich ist, mit der keiner etwas zu tun haben will, und der es wahrscheinlich auch keiner glauben wird, wenn sie ihm sagt, dass sie vom Fluch befreit worden ist?« »Gut!«, erwiderte Bronwyn, die der Frau am liebsten ihr Schwert in den Leib gerannt hätte. »Bronwyn könnte ebenso gut fragen, wie einem zumute ist, wenn man eine der Hauptursachen dafür ist, dass man in Argonien unbedingt die Magie abschaffen und die Zauberer ausrotten will, wie man es hier bereits getan hat«, sagte Rostie zu ihrer Mutter. »Wie man wenigstens versucht hat, es hier zu tun«, fauchte Bel burga zurück. »Du bist nicht die einzige hier, die widerlich sein kann, Mama«, sagte Rostie ruhig. »Unter Vaters Anleitung habe ich mir auch so manche Fertigkeiten angeeignet.« 185
»Der Schwächling würde dir doch nichts wirklich Wirksames beibringen!« »Wirklich?«, fragte Rostie und lachte dabei Belburgas Lachen, so dass Bronwyn sie verwirrt anstarrte. »Nein, er hat mir aller dings nicht beigebracht, meine Kraft gegen dich einzusetzen, aber das war ja auch gar nicht nötig. Schließlich bin ich ja auch deine Tochter. Interessiert dich vielleicht meine berufliche Laufbahn, Mama? Ich habe von Vater einiges über Verkleidungen gelernt, aber ich praktiziere es anders – schneller und überzeugender und – und ich kann mich in Dinge verwandeln, die nicht besonders erfreulich sind, Mama. Aber ich kann noch weitergehen als Vater, ich kann nämlich auch andere Personen in Dinge verwandeln, die nicht besonders angenehm sind. Wie würdest du das denn finden, wenn du eines Tages als eines dieser Seeungeheuer erwachen würdest, Mama, oder – wenn dir eines Morgens der Kopf eines dieser Fledermausgeschöpfe aus dem Spiegel deiner hübschen Frisiertoilette entgegenstarren würde? Man kann ja nie wissen!« »Ist ja schon gut, mein Kind. Du brauchst dich doch nicht so aufzuspielen. Das wirkt nämlich sehr unvorteilhaft. Aber du warst ja schon als Kind längst nicht so liebenswert wie deine Schwe stern. Deswegen habe ich dich auch verlassen.« »Der Fluch, Mama.« »Er stammt nicht von mir. Sie wird das Unternehmen zu Rate ziehen müssen, von dem ich ihn gekauft habe und …« »Unternehmen?« »Aber sicher. Ich habe einen ihrer Vertreter bei einem meiner Familientreffen kennengelernt und mit ihnen seitdem Handel getrieben.« »Und wo hat dieses Unternehmen seinen Stammsitz?«, fragte Rostie, die immer skeptischer wurde. »Natürlich nicht hier. Hier gibt es keine Magie, wie ich dir schon die ganze Zeit klarzumachen versuche.« »Wo dann?«
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»Das könnte ich dir nicht einmal sagen. Du nimmst doch hof fentlich nicht an, dass ich wegen jedes winzigen kleinen Zaubers nach Miragenia gehe? Nein, keinesfalls. Ich gebe nur immer die Bestellung auf und sie schicken mir die Artikel per Eilboten zu.« »Was ist denn Miragenia?«, fragte Bronwyn. »Ein Land«, erwiderte Belburga, »oder vielmehr der Ort, an den ich meine Bestellungen zu schicken pflege.« »Das ist ja alles sehr interessant, Mutter«, sagte Rostie. »Aber wir brauchten eigentlich nur zu wissen, welche Person für Bron wyns Fluch verantwortlich ist.« »Du meine Güte, glaubst du eigentlich, dass deine Mutter alles weiß? Ich habe keinen blassen Schimmer. Du wirst dich eben ganz einfach mit diesem Haufen verwahrloster Kinder auf den Weg nach Miragenia machen müssen, um herauszufinden, wer dafür verantwortlich ist, wenn du wirklich willst, dass Fräulein Priss hier wieder ›sauber‹ wird.« »Sag mal, Mutter, hab ich dir eigentlich schon mal gesagt, dass du eine durch und durch unsympathische Frau bist?« »Aber, Liebes, ich hätte gar nicht gedacht, dass du dir darüber Gedanken machst. Ich muss dir nämlich gestehen, dass du von meinen drei Töchtern nicht gerade mein erklärter Liebling warst, obwohl du die einzige zu sein scheinst, die mir nachschlägt!« Rostie überhörte die letzte Bemerkung ganz einfach. »Du wirst dich wohl auch darum kümmern müssen, dass wir sicher nach Miragenia kommen, Mutter.« »Ich? Das musst du schon mit meinem Schwiegersohn ausma chen. Er würde ihr sicher gerne dabei helfen, nach Miragenia zu gelangen, wenn er es selber finden könnte!« »Du meinst, er kann es gar nicht finden? Wo soll es dann eigent lich liegen?« Rostie war mit ihrer Geduld so ziemlich am Ende. »Irgendwo jenseits der Grenze. Aber es ist ein magisches Land, und da Leofwin nicht an die Magie glaubt, könnte er es auch nicht finden – er hat nur die Länder erobert, an die er glaubt.« 187
»Ist es weit?«, fragte Bronwyn. »Ein paar Berge und ein bisschen Wüste liegen schon noch da zwischen, aber das sollte einem so großen, starken Mädchen keine Schwierigkeiten bereiten, dich werden schon die Flieger und Klammheimlichen erledigen. Nun, warum setzt ihr euch nicht endlich in Gang und lasst mich allein? Ich war ja schon mehr als kooperativ!« »Du warst mehr als ausweichend«, gab ihr Rostie zurück, und zu Bronwyn gewandt, sagte sie: »Entweder man kann dich nun heilen oder nicht. Leofwin würde sich jedenfalls darüber freuen.« Vorübergehend hatte Belburga diesen Aspekt ganz vergessen. »Also gut, du hast gewonnen, und da sowohl Leofwin als auch Dürrheim unfähige Idioten sind, musste es wahrscheinlich so kommen. Aber wenn ich jetzt Ihrer Hoheit meine Siebenmeilen stiefel gebe, damit sie nach Miragenia gehen kann, musst du mir auch versprechen, dass du mich mit dieser Angelegenheit in Zu kunft verschonst. Ich will weder dich noch diese schmuddeligen Pimpfe noch einmal zu Gesicht bekommen, sonst werde ich dich vor Leofwin als die miese kleine Hexe bloßstellen, die du in Wirklichkeit bist, und wenn es uns auch allen das Leben kosten sollte!« Bronwyn war schon einen halben Tag lang allein unterwegs ge wesen, als ihr die Vorteile einfielen, die man mit Reisegefährten hat. Karola wurde schnell wütend, aber mit ihrer Magie hatte sie die Fische besorgt. Rostie hatte die Küche geplündert, während ihre Mutter die Stiefel holte, aber eine Schüssel mit Brei reichte kaum aus, um den Appetit zu stillen, der beim Gehen mit Sieben meilenstiefeln entstand. Bronwyn hatte den Brei schon während der ersten beiden Stunden hinuntergeschlungen. Auch Jack ver misste sie sehr, und sie fragte sich, was er nun wohl von ihr den ken würde, da sie doch allein und ohne ihn losgezogen war. Rostie hatte ihr nicht mehr die Möglichkeit gegeben, sich zu verabschie den – sie befürchtete, dass sich ihre Mutter wieder eines anderen 188
besinnen würde, wenn Bronwyn nicht zum Abmarsch bereit war, wenn sie mit den Stiefeln zurückkam. In den Stiefeln zu gehen, war ein mühsames Unterfangen. Bronwyn hatte ja nichts dagegen, groß zu sein, aber es war beäng stigend, wie sie bei jedem Schritt vom Boden hochgezogen und sieben Meilen weit über frostingdungianischen Wald oder kahles Vorgebirge getragen und dann wieder auf dem Boden abgesetzt wurde, was manchmal ziemlich unangenehm war, da sie ja durch die Bäume nicht sehen konnte, wohin sie ihren Fuß setzte. Sie hielt sich an die unbewohnten Landstriche, weil sie Angst hatte, dass sie sonst Leute niedertrampeln würde. Die Stiefel waren natürlich aus Argonia, von Elfenhand gefer tigt. Belburga hatte sie von dem Banditen bekommen, der sie Leofwin abgeknüpft hatte. Die Menschenfresserin hatte sich nicht die Mühe gemacht zu erklären, wo der Kaiser die Stiefel erworben hatte und warum gerade er, der doch behauptete, die Magie zu verachten, sie besessen hatte. Das Ergebnis war jedenfalls gewe sen, dass die Stiefel bei ihr hängengeblieben waren, da der Bandit, der sie dem Kaiser weggenommen hatte, ein Werwolf war und so etwas gar nicht brauchte. Als Leofwin Lilienperles Mutter und Schwester und natürlich auch Lilienperle selber von zu Hause fortgelockt hatte, fühlte Belburga instinktiv, dass ihr die Stiefel noch einmal gelegen kommen konnten. Sie sagte zwar, dass es ihr nun lieber gewesen wäre, wenn sie sie in den Graben geworfen hätte, aber bei dem Bandwurm wusste man nie, ob er so etwas nicht gleich brühwarm weitertratschen würde. Aber Bronwyn war froh, dass Belburga die Stiefel nicht wegge worfen hatte, obwohl sie eng und unbequem waren, denn sie trugen sie sehr schnell über Leofwins armseliges Herrschaftsge biet hinweg. In Wirklichkeit sogar so schnell, dass sie ihren eige nen Flugwind erzeugte. Madame Himbeere hatte sich glückli cherweise daran erinnert, dass der Winter vor der Tür stand und Bronwyn den olivfarbenen Umhang geliehen, für den ihr die Prinzessin nun äußerst dankbar war. Bald gesellte sich zu dem Wind, den sie durch den schnellen Flug erzeugte, ein aufkom 189
mender Nordwind hinzu, und die Wolken zogen sich über ihr zu einer dichten, weißen Decke zusammen. Aber wenigstens schienen die Schneeflocken die fliegenden Monster abzuschrecken und vielleicht auch die anderen. Dies war mehr als ein glücklicher Zufall, denn Bronwyn hatte ihren Schild zurücklassen müssen, damit er nicht dem Zauber in den Stiefeln entgegenwirkte. Zuerst hatte sie es nicht tun wollen, aber dann schreckte sie doch die Vorstellung ab, für den Rest ihres Lebens eine Lügnerin zu sein. Aber auch als die Nacht hereinbrach und sie immer noch weiterwanderte, weil sie zu aufgeregt war und zu sehr fror, um schlafen zu können, blieb sie unbelästigt. Als sie dann das Vorgebirge erreichte, war es schon Morgen. Die Hügel und Berggipfel, die dahinter lagen, waren auf der fro stingdungianischen Seite mit einer feinen Schneeschicht bedeckt, die sie wirklich wie glasierte Misthaufen aussehen ließ. Ein weite rer Schritt führte sie auf die andere Seite, wo die Berge klar waren und die Wolkendecke aufriss, um einen Himmel von einem be sonders intensiven Blau zu enthüllen und meilenweit steinige Berge, an die sich eine weite Fläche anschloss, die aus Fels und Sand bestand. Bronwyn trat auf den Sand hinaus und fühlte plötz lich, dass sie keinen weiteren Schritt mehr machen konnte. Der schnelle Wechsel von kalt zu warm ermüdete sie mehr als der ganze Flug. In der Hoffnung, dass sie mit dem frostingdungiani schen Wald auch dessen Bewohner hinter sich gelassen hatte, warf sie sich auf den Sand und schlief erschöpft ein. Sie träumte, dass es ihr Zuhause nicht mehr gab – dort, wo der Palast, die Stadt und die Schiffswerften sich einst befanden, war nur noch leerer Strand mit nichts als den sturmgepeitschten Wel len, die sich an dem unkrautüberwachsenen, felsigen Ufer bra chen. Sie sah sich selbst am Strand entlangrennen und schauen, ob noch jemand da war. Aber sie schien weder ihre Eltern noch Onkel Binkie oder Jack oder Tante Gretchen zu finden. Einmal jedoch, als sie immer wieder nach ihnen rief, hörte sie Gelächter hinter sich, und als sie sich umdrehte, sah sie Docho Dürrheim, der die Riemen seiner Senyaty zwischen den Fäusten bewegte. 190
Der Traum beunruhigte sie so sehr, dass sie schon sehr früh aufwachte. Unter ihrem Wollmantel war sie in Schweiß gebadet, und alles tat ihr weh, aber trotz alledem war sie froh, dass sie nun wach war – allerdings nur, bis sie sich umsah und sich zu fragen begann, ob sie auch wirklich bei sich wäre. Ihr Schwert hing ihr immer noch an der Seite, und sie hatte das Gefühl, als ob die Haut ihrer geschwollenen Füße mit den Stiefeln zusammengeschweißt wäre. Aber die ganze Landschaft hatte sich verändert – keine Berge, kein Vorgebirge, keine Felsen waren mehr zu sehen, sondern nur noch Sand. Sie hätte auch nicht mehr mit Sicherheit sagen können, in welcher Richtung die Berge la gen. Sie streckte die Beine aus und schon wurde sie liegend wei tertransportiert, an eine Stelle, die viele Sanddünen von dem Ort entfernt war, an dem sie aufgewacht war. In der Mutter Namen, was – fragte sie sich, aber dann begriff sie, dass sie im Traum wirklich gerannt sein oder wenigstens ihre Füße bewegt haben musste und dass sie die Stiefel weitergetragen hatten, so als ob sie wirklich auf dem Boden gestanden hätten. Sie war auch fürchterlich durstig, und als sie versuchte aufzu stehen, musste sie einsehen, dass dies mehr war, als sie verkraften konnte. Hier ist ja ohnehin niemand, sagte sie sich, also ist es auch unge fährlich, wenn ich jetzt meine Stiefel ausziehe und meine Füße reibe, damit die Schwellung zurückgeht. Obwohl der Sand so heiß war wie der Atem eines Drachens, machte ihn die Linderung erträglich, die ihren Füßen nun zuteil wurde. Das Gefühl war sogar so wohltuend, dass Bronwyn be schloss, weiterzuschlafen, mit den Stiefeln sicher unter ihrem Kopf statt an den Füßen, wo sie ihr nur weh taten und mit ihr irgendwohin wanderten, wenn sie nicht aufpasste. Also schlief sie wieder ein, und als sie erwachte, war sie verständlicherweise wütend, denn auch wenn sie die Stiefel gar nicht anhatte, blieb die Landschaft nicht an Ort und Stelle.
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Mit seiner gewohnten Kaltblütigkeit hörte Docho Dürrheim der tobenden Menschenfresserin zu. Es machte ihm überhaupt nichts aus, denn er fand sie am attraktivsten, wenn sie sich von ihrer natürlichsten und unverfälschtesten Seite zeigte. »Du Idiot!«, schrie sie. »Wegen deiner Unfähigkeit hat mich meine eigene, undankbare Tochter demütigen und mir Schande bereiten können! Hast du eigentlich begriffen, dass du mich dazu gebracht hast, eine wichtige Geschäftsverbindung preiszugeben, abgesehen davon, dass ich beinahe vor diesem seichten Leofwin als ein Händler von magischen Dingen entlarvt worden wäre?« »Na, na«, sagte der Herzog ohne jegliche Sympathie. »Ich weiß wirklich nicht, weshalb du dich beschwerst. Du bist nicht die einzige hier, die etwas von Miragenia weiß – deine Tochter hätte es über kurz oder lang selbst herausgefunden. Und wer weiß, in welcher Verfassung die argonische Riesin von dort zurückkehren wird?« Er gähnte vernehmlich und lümmelte sich neben sie auf die Brokatcouch, auf der sie von dem Moment an, als er ihrer Vorladung folgend, das Zimmer betrat, gelegen hatte und so tat, als ob sie vor Schrecken und Enttäuschung halb ohnmächtig wäre. »Außerdem brauchst du dir auch nicht mehr den Kopf darüber zu zerbrechen, auf wen Leofwin bald stehen wird. Am besten lassen Sie diese verblasste Hexe, mit der er nun verheiratet ist, für eine Weile von der Bildfläche verschwinden.« »Was meinst du eigentlich damit?«, fragte sie und rückte weiter, um ihm Platz zu machen. Dabei klapperte sie verführerisch mit ihren stachligen Augenwimpern. Er mochte sie wirklich lieber, wenn sie einen Wutanfall hatte. »Ich hab mir gerade überlegt, ob es Ihnen wirklich was aus macht, welche von Ihren Töchtern Kaiserin ist?« »Du meinst doch nicht etwa, dass dieser arme Frosch, mit dem Tausendschön verheiratet ist, vorhat …?« Dürrheim nickte zustimmend und sagte dann: »Doch, und zwar mit meiner Hilfe. Ferner haben wir uns darauf geeinigt, dass eine vernünftige Frau mit Ihren Fähigkeiten im Augenblick von gro 192
ßem Nutzen für uns sein könnte. Obwohl, wenn Sie Leofwin treu bleiben wollen …« »Diesem Schlappschwanz? Also wirklich nicht! Aber welche Rolle gedenken Sie denn dabei zu spielen, mein lieber Herzog?«, fragte sie und bog ihren Hals in einer – so hoffte sie wenigstens – gewinnenden Art, und einige ihrer Falten glätteten sich dabei gefällig. »Gnädige Frau, man könnte sagen, dass ich das Ganze be schleunige. Wie Sie habe auch ich ein paar ungeahnte Fähigkeiten …« Er runzelte die Stirn und fügte hinzu: »Eine weniger, seit ich heute Nachmittag mein Schwert am Schild Ihrer Hoheit zerbrach. Dieses Schwert hatte besondere – äh – Eigenschaften. Es wird Sie ziemlich teuer zu stehen kommen, dies zu ersetzen, gnädige Frau – da ich auf Ihr Geheiß hin versucht habe, die Prinzessin aus dem Weg zu räumen, denn persönlich habe ich ja nichts gegen sie. Ich finde auch, dass sie eine ganz vorzügliche Geisel abgeben würde.« »Ach ja, nun erinnere ich mich wieder daran, dass auch Rubin rose erwähnt hat, dass dein Schwert zertrümmert wurde – sei auf der Hut, Docho, Liebling«, sagte sie, und er stellte amüsiert fest, dass ihre Vertrautheit in Windeseile wuchs. »Meine Tochter mag ja ein Würstchen sein, aber sie weiß ganz genau, wann sie es mit Magie zu tun hat. Es war ja wirklich nicht sehr klug von dir, ein zauberkräftiges Schwert in ihrer Gegenwart zu schwingen.« Er stand auf und verbeugte sich. »In Wirklichkeit habe ich es weniger geschwungen als zerbrochen und nehme mir die War nung zu Herzen. Und seien Sie so gut: Bringen Sie Ihre lästige Tochter dorthin, wo sie uns nicht mehr schaden kann!« »Das gleiche gilt für die anderen Rangen. Mir ist es gleich, ob du sie Tausendschöns Monster zum Fraß vorwirfst!« »Du kannst diese Angelegenheit als erledigt betrachten«, sagte er vage, aber beruhigend. Er hatte weder Zeit noch Lust, mit ihr die Pläne zu besprechen, die er sich hinsichtlich der Argonier ausgedacht hatte. An diesem Ort, wo es so wenig Magie gab, hatte er nicht die Absicht, seine Perlen vor die Säue zu werfen. 193
Karola saß auf dem Rand des Brunnens und kochte vor Wut, während Anastasia um die Statue des Kraken herumschwamm, der Wasser ins Becken spie. Dass Bronwyn die Unverfrorenheit besessen hatte, ohne sie davonzulaufen, nachdem sie die weite Reise hierher mitgemacht hatten, um ihr zu helfen. Wenn Rostie nicht so rücksichtsvoll gewesen wäre, ihnen zu sagen, was passiert war, dann hätten sie beide sich jetzt vor Sorge verzehrt. Aber das war nicht das einzige, sondern es war auch unwahr scheinlich trübselig in diesem düsteren Schloss. Wie sie es jemals hatte schön finden können, überstieg ihr Fassungsvermögen. Ungefähr an jeder Tür standen Wachen, und man konnte praktisch nirgendwohin gehen. Man konnte nicht in die Stadt gehen, weil man dann über die Zugbrücke und an dem diensteifrigen Band wurm vorbeigemusst hätte. Und nun schneite es draußen und war zu kalt, um Gänge zu den anderen Gebäuden im Schloss attraktiv zu machen. Und nicht einmal auf ein wohlschmeckendes Abend essen konnte man sich freuen! Sie konnte sich jetzt nur noch nützlich machen, indem sie hier herumsaß und Anastasia Gesellschaft leistete, so dass sich nie mand die Schwänin unter den Nagel reißen und aufessen konnte. Karola musste zugeben, dass, wenn sie nicht über Anastasias wahre Identität Bescheid gewusst hätte, auch sie nun versucht gewesen wäre, sich an dem Vogel zu vergreifen. Jack kam aus einem Seitengang in die Eingangshalle, der zum großen Festsaal führte oder zu dem Flügel, in dem ihre Gruppe untergebracht war. Er sah enttäuscht und irgendwie unfertig aus, als ob er noch etwas Großes brauchte, das ihn überragte, um seine Erscheinung zu vollenden. In der Linken trug er Bronwyns Schild, den er auf die Oberschenkel aufstützte, als er sich nun neben Karola niederließ. Sie klopfte ihm etwas linkisch auf die Schulter. »Scheißspiel, was?«, fragte sie auf eine kameradschaftliche Art und fügte dann –auch zur eigenen Beruhigung – ganz vernünftig hinzu: »Natür lich bin ich mir ganz sicher, dass sie Rostie nicht fortgeschickt hätte, wenn es nicht einigermaßen ungefährlich wäre und nicht einmal von Bronwyn könnte man erwarten, dass sie in Siebenmei 194
lenstiefeln nach Miragenia marschiert und uns dabei huckepack trägt. Es war nur ziemlich schofel, dass sie sich nicht einmal die Mühe gemacht hat, uns ›Auf Wiedersehen!‹ zu sagen!« Jack fragte gereizt: »Warum reitest du bloß auf diesen Dingen herum, wenn ich auch nicht mehr darüber weiß als du? Du belei digst mich, Bronwyns Abwesenheit macht mir überhaupt nichts aus. Glaubst du, dass ich wegen einer Frau leiden würde, die nicht da ist, auch wenn sie noch so wundervoll wäre?« Er schnalzte verächtlich mit der Zunge, um zu zeigen, dass ihm so etwas nicht passieren könne, dann ließ er aber doch die Schultern hängen, nickte beinahe unmerklich und fügte dann hinzu: »Aber es stimmt, dass ich mir Sorgen mache.« Anastasia hörte auf, im Kreis herumzuschwimmen, funkelte ihn wütend an und zischte: »Da du uns ja gerade ausreichend klarge macht hast, dass sich deine Besorgnis nicht auf Bronwyn bezieht, würdest du uns dann vielleicht sagen, worauf sie sich sonst be gründet oder sollen wir es vielleicht selber erraten?« »Nein, ich werde es euch sagen«, erwiderte Jack würdevoll. »Denn wenn meine Verdächtigungen nicht ganz falsch sind, dann habe ich recht.« »Klingt sehr vernünftig!« sagte Karola. »Was ich sagen will, ist, dass wenn sich die Zigeuner auf etwas verstehen, dann ist es, andere zu täuschen, und dieses Mal bin ich es gewesen, der Zigeuner, der getäuscht worden ist.« »Du? Das darf doch nicht wahr sein!«, sagte Karola ermutigend. »Doch, ich«, sagte er nüchtern. »Der Herzog von Dürrheim sag te zu mir gestern Abend, als ich vor dem Abendessen einen klei nen Gang durch das Schloss machte (genau genommen, um mich mit seiner Konstruktion vertraut zu machen, ihr wisst schon, damit ich mich nicht verirren würde), dass ich sofort aus dem Turm zimmer rausmüsste, in dem ich gerade befand, weil es die Schatz kammer sei und mir, dem Fremden, verboten sei, mich dort auf zuhalten. Natürlich begab ich mich heute, als Dürrheim mit Ro sties hässlicher Mama beschäftigt war, wieder dorthin. Aber zu 195
meinem großen Erstaunen stellte sich heraus, dass die Kammer nichts anderes ist als ein Badezimmer! Eine Dienerin putzte es und ließ die Tür dabei offen. Ich konnte alles ganz deutlich erken nen: keine Juwelen, kein Gold und keine anderen Wertsachen. Es war alles sehr enttäuschend, und zwar nicht nur deswegen, weil dort kein Schatz war«, an dieser Stelle bemühte er sich nun, sehr verletzt auszusehen, »sondern weil ein Edelmann meinte, einem Zigeuner ungestraft einen Bären aufbinden zu können!« »Nun, das hätte ich dir gleich sagen können, dass der nicht sehr zuverlässig ist«, sagte Karola. »Er sieht geizig aus, das ist mir schon die ganze Zeit durch den Kopf gegangen. Heute nach dem Mittagessen hat mir übrigens Rostie erzählt, dass er vermutlich versucht hat, Bronwyn umzubringen. Das war einer der Gründe, warum es Rostie so eilig damit hatte, ihre Mutter anzutreiben, dass sie Bronwyn half, das Land zu verlassen.« »Nun ja, aber Mordgelüste sind doch ein bisschen etwas ande res, als wegen eines Badezimmers zu lügen. Er kann doch wirk lich keinen Grund gehabt haben, wegen so was zu lügen!« »Ich glaube nicht, dass der alte Docho einen Grund dafür braucht, um gemein und hinterrücks zu sein«, sagte Karola und warf den oberen Teil einer geköpften Blume ins Brunnenbecken. Nicht einmal die Blumen waren hier echt, sie waren aus einer Art von Tuch gemacht. Anastasia reckte den Hals über den Brunnenrand und fragte so bösartig zischend, wie sie Karola noch nie hatte zischen hören: »Sagtest du Docho? Handelt es sich etwa um Docho, den bintna rangianischen Söldner?« »Nein, glaube ich nicht«, sagte Karola, »es ist ein Herzog – ich glaube, er bezeichnet sich als Herzog von Dürrheim. Aber wie wir schon gesagt haben, ist er kein besonders erfreulicher Kerl.« »Ach, wenn mir das doch nur erspart geblieben wäre! Es kann eigentlich gar keine Verwechslung geben, und wenn er hier ist, ist alles verloren! Ach Karola, Karola, warum hast du mir nicht schon früher davon erzählt!« 196
»Tut mir leid, aber wenn ich gewusst hätte, dass du eine Gästeli ste willst, hätte ich wahrscheinlich Tausendschön darum bitten können.« »Du erzählst mir nie etwas! Ist es vielleicht deswegen, weil ich ein Schwan bin? Die Unverzauberten sind immer so rücksichtslos, so unfreundlich! Sobald ihr einen Artgenossen habt, mit dem ihr euch besprechen könnt, vergesst ihr vollkommen, mich auf dem laufenden zu halten!« »Du kommst jetzt aber vom Thema ab – und wirst auch furcht bar laut!«, warnte sie Karola mit leiser Stimme. Jack war auch nicht gerade eine große Hilfe, als er zugab: »Es ist eben manchmal schwer, sich wieder daran zu erinnern, dass du mehr bist als nur ein Tier!« »Docho, der Söldner, ist mit Schuld daran, dass ich ein Tier bin«, sagte sie mit tragischer Würde. Sie glättete ein paar Federn auf ihrem Rücken, als ob sie sich überlegen würde, ob sie ihnen noch mehr darüber sagen sollte und fügte dann hinzu: »Er ist auch derjenige, durch den meine Schwestern in die Sklaverei geraten sind!« Bronwyn hatte zwar schon von Treibsand gehört, aber dies hier war lächerlich. Die langgestreckte Bergkette vor ihr mit den wei ßen Gipfeln war nicht aus Sand, und auch die glänzende Stadt vor ihr mit ihren reichverzierten Bogen und Türmen und den vielfar bigen, zwiebeiförmigen Kuppeln war absolut keine Sandburg. Und was noch wichtiger war, das breite, schimmernde Band, das die Stadt in seinen grünen Tiefen widerspiegelte, war ganz be stimmt Wasser. Auch wenn es das nicht war, sie würde jedenfalls davon trinken. Sie zog die Stiefel nicht mehr an, denn sie war überzeugt, dass die Stadt keine sieben Meilen weit weg war. Sie zog also die Zehen ein und bewegte sich ziemlich mühsam über den Sand fort. Als sie schon ein gutes Stück Wegs gegangen war, hatte die Son ne ihren Zenit erreicht, aber tauchte hämischerweise wieder herab, um ihre Augen zu reizen, so dass sie manchmal nicht einmal zur 197
Stadt oder zum Wasser hinübersehen konnte, wegen der Hellig keit, die sie umgab. Sie hatte das Gefühl, dass ihr die Augen ausbrannten. Um dies zu vermeiden, sah sie auf den Sand herab, was eine ganz gute Idee war. Denn wenn sie ihren Fuß an der Stelle niedergesetzt hätte, auf die er zusteuerte, wäre sie auf die Schlange getreten. Aber die Schlange schien deswegen nicht beunruhigt zu sein. Sie ringelte sich nicht zusammen oder zischte oder setzte ihre Rassel in Bewegung. Sie erhob nur ihren leuchtend grünen Kopf, ließ die gespaltene Zunge ein paar Mal aus dem Maul hervor schnellen und sagte in akzentfreiem Argonisch: »Na, so was, ich fress einen Besen, wenn dies nicht eine Kind-Riesin ist! Sag, willst du in die Stadt?« Sprechende Schwäne waren eine Sache für sich, und nachdem es ihr Karola, Madame Himbeere, Jack und Tausendschön erklär ten, hatte Bronwyn schließlich auch über das Grabenmonster Bescheid gewusst, aber diese sprechende Schlange war einfach ein Ding der Unmöglichkeit. Eigentlich wusste sie gar nicht, ob eine Schlange überhaupt möglich war. Natürlich hatte sie Ollie gesehen und Großes Band und die Drachen, die angeblich mitein ander verwandt sein sollten. Und auch den Schnee hatte sie zu Gesicht bekommen, unter dem der Lindwurm angeblich schlum merte. Aber eine kleine grüne Schlange von der Größe? Entsprach sie im Bereich der Monster den Kleinen Leuten bei den Men schen? Wie dem auch sei, so schien das Geschöpf doch zu erwarten, dass sie antwortete: »Nein, ich mache gerade einen Spaziergang«, erwiderte Bronwyn, »sozusagen, um ein bisschen Wüstenluft zu schnappen. Frisch heute, wie?« Sie beglückwünschte sich selber dazu, dass ihre Antwort so freundlich ausgefallen war, denn vor ihren jüngsten Erfahrungen hätte sie der Schlange wahrscheinlich weisgemacht, dass sie gekommen wäre, um den Ort eigenhändig zu erobern. Wahrscheinlich hätte sie dann die Schlange gebissen und das wäre es dann wohl gewesen.
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Die Schlange schien ihre Haltung zu würdigen. »Entschuldige meine Neugierde«, sagte sie, »aber wir bekommen nicht sehr viel Besuch hier draußen.« »Bist du von dort?«, fragte Bronwyn und deutete auf die Stadt. »O ja, ich habe mich gerade auf der Mauer gesonnt und sah dich kommen. Ich dachte, ich könnte eben mal herbeigleiten, um he rauszufinden, was du willst. Was war es doch gleich?«, fragte die Schlange schlau. »Oh, nichts«, erwiderte Bronwyn und grub mit ihrer Zehe ein kleines Loch in den Sand. »Mag sein, aber es passiert nicht oft, dass die Leute so weit rauskommen, nur weil sie gerade in der Gegend sind. Tatsächlich sieht auch nicht jeder die Stadt. Wenn eine Person hier nicht wirklich geschäftlich zu tun hat, würde sie die Stadt nämlich gar nicht finden!« »Ja, wirklich?«, sagte Bronwyn und überlegte sich, dass diese Kreatur für eine Schlange doch sehr viel wusste. »Ja, so ist das. Warum hast du eigentlich deine Stiefel nicht an?« »Man kann ja nie wissen, wann man einmal waten muss«, erwi derte sie, »so wollte ich lieber darauf vorbereitet sein.« Das war natürlich gelogen, aber gar nicht so übel, wie sie nachträglich fand. Manchmal brachte sie ihr Fluch aus Versehen doch auch auf gute Ideen. Die Schlange hatte offenbar beschlossen, sich an ihrer Seite spazierenzuschlängeln, wahrscheinlich um sie zu überwa chen. Als sie schließlich in den breit dahinfließenden Fluss hin einwatete, fühlte sie die angenehme Kühle des Wassers wie Seide über ihre brennenden Füße gleiten; die Schlange wand sich eben falls vor ihr durchs Wasser, indem sie unmittelbar vor ihren Bei nen herschwamm. »Du bist doch hoffentlich nicht giftig oder dergleichen?«, fragte sie vorsorglich, weil sie immer noch befürchtete, dass die Schlan ge nur auf den richtigen Augenblick wartete, um sie zu beißen.
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»Selten«, antwortete die Schlange, »und ich kann dir versichern, dass meine Absichten ehrenvoll sind. Ich dachte ja nur, dass du gern einen Führer hättest, der dich durch die Stadt führt und dich dorthin bringt, wo du deine Geschäfte abwickeln musst. Mirage nia ist ein ziemlich ungewöhnlicher Ort, an dem man sich ziem lich leicht verirren kann.« »Wie soll ich mich denn verirren, wenn ich gar kein besonderes Ziel im Auge habe?«, fragte Bronwyn. Die Schlange dachte gar nicht daran, diese Lüge mit einer Antwort zu honorieren, was bedeuten konnte, dass sie kapierte, worin ihr Fluch bestand. Aber Bronwyn wollte es genau wissen und fragte: »Sag mal, können hier eigentlich alle Tiere sprechen?« »Gewiss doch, außer ein paar, die eben sehr dumm sind, mei stens handelt es sich dabei um Importe, die von auswärts kom men. Erst neulich habe ich mit Mizmir darüber gesprochen …« »Mizmir?« »Ein Dromedar aus meinem Bekanntenkreis. Dieses Wasser fühlt sich gut an, nicht wahr? Obwohl es nicht so angenehm ist wie eine ganz gewöhnliche, sonnenbeschienene Mauer …« »Natürlich nicht«, stimmte ihr Bronwyn zu. Mittlerweile war ihr ganzer Körper von einem Wonnegefühl durchdrungen, und sie konnte sich sogar noch ein bisschen kleiner machen, so dass ihr das Wasser bis zur Taille ging. Auch die Erlösung vom Fluch erschien ihr als armseliger Anreiz, um das Flussbett mit dem wohltuenden Wasser mit der vollendeten, aber erstickenden Enge der Stadt zu vertauschen. »So sympathisch, einer Person zu begegnen, die soviel Scharf sinn hat, dass sie meine Auffassung teilt«, sagte die Schlange. »Aber ich weiß nicht, ob die Mauer breit genug ist, dass du dich richtig ausstrecken kannst. Obwohl – der Staub in den Straßen ist auch ganz schön. Folge mir!« Und mit diesen Worten schlängelte sie sich ans Ufer. Die Überzeugung des Tieres, dass es in seiner Eigenschaft als Führer unerlässlich sei, war ansteckend, und Bronwyn ertappte sich dabei, wie sie ihm folgte und sich reumütig 200
einredete, dass sie ja immer noch zurückkommen und dort her umwaten konnte, wenn sie keine Lügnerin mehr wäre. Schließlich musste eine angehende Herrscherin auch damit rechnen, Opfer zu bringen. Aber ihre Haut fing wieder an zu brennen, und was nass gewe sen war, trocknete sofort, als sie der Schlange zum Stadttor folgte. »Da du auf kein besonderes Ziel fixiert bist«, meinte die Schlange, »hättest du vielleicht Lust, dir den Marktplatz anzuse hen.« »Ja, vielleicht«, sagte Bronwyn eifrig. Vielleicht hatte die Schlange das zweite Gesicht. Sie verfluchte ihren Fluch, weil er sie daran hinderte, der hilfsbereiten Kreatur zu sagen, wohin sie eigentlich gehen wollte, aber die Schlange schien sie ganz instink tiv an den richtigen Ort zu führen. Belburga hatte ihr ja gesagt, dass ein Unternehmen für den Fluch verantwortlich sei, und ein Markt würde sich wahrscheinlich vorzüglich dazu eignen, um nach einem Unternehmen zu schauen. Wichtigtuerisch erschlängelte sich die seltsame Kreatur einen Vorsprung von ein oder zwei Schritten und sagte dann zu Bron wyn: »Wenn ich jetzt dann auf den Marktplatz weitergleite, wer den mich die Leute bestimmt niedertrampeln und mir Schaden zufügen. Hast du eine Tasche in deinem Gewand?« Eine Schlange in der Tasche mit herumtragen? Was für ein ab stoßender Gedanke! Aber bis jetzt war sie ihr doch ganz sympa thisch gewesen, jedenfalls sympathischer als einige von den Leu ten, die sie in Frostingdung zurückgelassen hatte, und wenn sie sie wirklich hätte beißen wollen, hätte sie dazu schon ausreichend Gelegenheit gehabt. Sicher wäre es sehr undankbar gegenüber dem kleinen Geschöpf, also ließ sie die Schlange über den Arm in ihre Brusttasche gleiten, die sich unmittelbar über dem Herzen befand. Dabei bekam sie eine Gänsehaut, und es lief ihr auf eine höchst unstandesgemäße Art eiskalt über den Rücken. Aber wenn sie die Schlange dort wirklich beißen sollte, dann würde der Tod wenigstens schnell eintreten, und sie musste nicht lange leiden. 201
Unter diesen intimen Verhältnissen spürte die Schlange Bron wyns Missbehagen natürlich sofort, wie dies vorher nicht in dem Maße der Fall gewesen war und beruhigte sie schnell wieder. »Ich war vorhin nur vorsichtig: Ich bin nämlich überhaupt nicht giftig. Da wir uns nun etwas besser kennen, ist dir vielleicht schon selbst aufgefallen, dass ich eine magische Schlange bin. Ich sage dies nicht, um dich zu beeindrucken, sondern deswegen, weil alles und jeder in Miragenia magisch ist.« »Jeder?« Bronwyn fand das sehr merkwürdig, denn in Argonien gab es zwar ein paar magische Dinge und ein paar Leute, die ihre magische Begabung auch wirklich in die Praxis umsetzen konn ten, wie zum Beispiel Karola und Tante Gretchen. Aber im Gro ßen und Ganzen war alles ziemlich gewöhnlich, wenn auch nicht so gewöhnlich wie Frostingdung, wo – abgesehen von den Mon stern natürlich – alles auf eine plumpe und unattraktive Weise durchschnittlich war. Von Miragenia versprach sich Bronwyn eine interessante Abwechslung. Die Einlösung des Versprechens übertraf Bronwyns Erwartun gen bei weitem. So etwas wie den Marktplatz hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie gesehen. In Argonia erschien jeder recht normal, obwohl es auch dort Anzeichen des Zwergenhaften, El fenhaften, Riesenhaften oder was auch immer bei einem großen Teil der Bevölkerung gab, und oft zogen sie ausgefallene Kleider an oder sprachen seltsam – aber als sie sich’s noch einmal über legte, fand sie, dass sie sich auch nicht viel seltsamer benahmen als sie selbst. Nur sehr selten traf man jemanden an, der ganz offensichtlich magisch war – ein winziges Kleines Wesen, einen Wer oder Drachen. Die meisten magischen Personen oder Tiere brauchten eine besondere Umgebung oder waren aus anderen Gründen nicht dazu geeignet, bei Hofe zu erscheinen. Aber hier sah nichts auch nur im entferntesten normal aus. Zum einen hatten die Leute, die normal aussahen, die ungewöhnliche Angewohnheit, auf verschiedenfarbigen Dunstwolken herumzu fliegen, die sie vom Saum ihrer grässlichen Gewänder herauf umhüllten. Die Kleider waren ziemlich lang, so dass es aussah, als 202
ob sie keine Füße hätten. Die Tiere gingen hier auf den Hinterbei nen, während die Menschen auf allen vieren gingen, und einige Pferde hatten die Köpfe von Menschen und einige Menschen die Köpfe von Tieren. Viele von diesen Tieren und Menschen oder auch den Verbindungen von den beiden (oder mehr) schienen im Durchschnitt auch weniger begriffsstutzig und brillanter zu sein als die Bewohner an den anderen Orten, die Bronwyn bis jetzt besucht hatte. Aber es war nicht nur das, sondern in den Straßen streiften viele Tiere umher, die sie nie zuvor gesehen hatte. Ein kleines behaartes Wesen, dessen Gestalt Bronwyn entfernt an einen Menschen erinnerte, mit einem eingedrückten und hässlichen, aber irgendwie doch auch liebenswerten Gesicht und einer orangefarbenen Binde um den Kopf spazierte auf den Händen vorbei, während es oran gefarbene Früchte mit seinen Füßen jonglierte und mit seinem Schwanz wedelte, an dem eine Fahne befestigt war. »Was ist denn das?«, fragte Bronwyn. »Nur der übliche Jonglieraffe«, erwiderte die Schlange. »Und dabei noch nicht einmal ein besonders guter. Beim letzten Voll mond hat er eine Orange fallen lassen, und seitdem haben seine Manager keinen Profit mehr mit ihm gemacht.« »Das ist aber auch schade!«, sagte Bronwyn, die keine Ahnung hatte, warum ein solches Tier einen Manager brauchte, geschwei ge denn, warum dieser von ihm profitierte. In den engen und überfüllten Straßen des Marktes, die förmlich vor Lärm, bunten Tüchern, Töpfen und Schnüren, auf denen irgendwelche Gegenstände aufgereiht waren und den durchdrin gend würzigen und blumigen Gerüchen explodierten, die Bron wyn zusammen mit der Hitze, dem Staub und der Fremdheit der Situation betäubten, sahen sie Tiere an sich vorübergehen, die noch viel seltsamer waren als der Affe. Die Schlange wies Bron wyn auf verschiedene Dromedare hin, die noch viel hässlicher waren als ein Frostingdungianer an einem trüben Tag. Die Tiere waren sehr groß, hatten lange Köpfe, die mehr einem Elchskopf glichen als einem Pferdekopf, und ein graubraunes Fell. Sie waren 203
mit einem lächerlichen Höcker auf dem Rücken geschlagen. Ihre Manager, wenn dies die Leute waren, die sich an ihnen zu schaf fen machten, versuchten die Höcker zu verstecken, indem sie knallbunte, handgewebte Teppiche mit einfachen geometrischen Mustern, die an allen möglichen und unmöglichen Stellen mit Glöckchen und Quasten versehen waren, darüberdeckten. Eines der Dromedare trug einen kleinen Pavillon auf dem Rücken, und bevor die Schlange Bronwyn warnen konnte, hatte diese, neugie rig wie sie war, den Vorhang beiseite gezogen, der von dem spit zigen Dach des Aufbaus hing und der für jemanden von ihrer Größe gerade auf Augenhöhe war. Ein Paar wütende, schwarze Augen blitzten sie aus einem Gewoge von gefalteter Gaze an. »So etwas darfst du doch nicht tun!«, zischte sie die Schlange aus der Tasche an. »Komm, lass uns jetzt zum Hauptmarkt ge hen!« »In dem Land, aus dem ich stamme, werden Schlangen hinge richtet, die wie du an Königlichen Hoheiten herumnörgeln«, sagte Bronwyn. Aber an wie vielen Buden und winzigen Läden sie auch vorbei kamen, so wollte die Schlange doch absolut nicht, dass Bronwyn dort verweilte und sich die Männer ansah, die auf ihren Betten aus Nägeln herumlagen oder an Seilen in schwindelerregende Höhen kletterten oder sich auf eine andere Weise vergnügten. Die Schlange ließ nicht locker und trieb Bronwyn zum Markt voran, obwohl die Prinzessin schon eine halbe Meile, bevor sie endlich anhalten durfte, hätte schwören mögen, dass sie schon die ganze Zeit auf dem Markt gewesen waren. Als sie dann schließlich vor einem Laden standen, der drei Bu den umfasste und mit Teppichen, Körben, Flaschen und Lampen aller Art vollgestopft war, schlug die Schlange vor, dass sie ste henbleiben sollte, was Bronwyn auch gerne tat. Würzige Essens gerüche wehten ihnen aus den Eingängen ringsum entgegen, und Bronwyn konnte sich gerade noch beherrschen, dass sie der Schlange nicht den Kopf vollsabberte, weil es ihr das Wasser im Mund zusammenzog. Teilweise kamen die Gerüche aus dem 204
Laden vor ihnen, und Bronwyn hoffte, dass der Mann, der am Eingang saß und webte, bald seine Arbeit beiseite legen und ihnen etwas zu essen anbieten würde. Aber er schien vollkommen in seine Arbeit vertieft zu sein, ob wohl er hin und her rückte, um das Muster seiner sorgsam ge knüpften karminroten, azurblauen und goldfarbenen Knoten aus zugleichen. Er hatte den Teppich halbfertig gewoben, und da er einen großen Webrahmen benutzte statt des horizontalen Web stuhls, den die Weber in Königinstadt hatten, war er mit der Ar beit nun schon über seinen Kopf draußen, so dass er sich zur nächsten Reihe noch ein bisschen höher hinaufstrecken musste. Aber als er hinauflangte, hob der Teppich, auf dem er saß, gehor sam vom Boden ab und schwebte ungefähr zehn Zentimeter höher in der Luft, um dem Mann die Arbeit ein bisschen zu erleichtern. Bronwyn schlug entzückt die Hände zusammen und sagte: »Oh, das ist genau das, was ich brauche, da ich nie etwas erreichen kann!« Der Mann, der einen weißen Bart und um den Kopf ein blaues Tuch hatte, das vorne, wo es festgesteckt war, ein blaues Juwel zierte, wandte sich ihnen zu. »Möge der Profit wachsen!«, sagte er höflich und wartete, dass sie etwas sagen würde. Aber bevor sie etwas erwidern konnte, kroch die Schlange aus ihrer Tasche her aus und glitt an ihrem Arm hinunter, um sich dann neben dem Mann auf den Boden fallenzulassen. Der alte Mann sagte: »Aha, du bist zurückgekommen, Mirza, dann ist es also ›sie‹!« »Ja, sie ist es. Aber zuerst, beim Profit, würdest du bitte so freundlich sein und deinem unwürdigen Diener seinen Korb brin gen.« Der alte Mann verbeugte sich und sagte: »Ich höre und gehor che.« Da er sich nun vollständig von seiner Webarbeit abwandte, ließ ihn der Teppich, auf dem er saß, ziemlich unsanft auf den Boden zurückplumpsen.
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Er rappelte sich wieder hoch und duckte sich, als er den Laden betrat. »Der Teppich ist nur zum Weben«, sagte die Schlange zu Bronwyn. »Sobald er eine andere Arbeit darauf macht, wird er abgeworfen. Ein rebellisches, unrentables Ding!« Als der alte Mann wieder zurückkam, trug er in der Hand einen schüsselförmigen Korb mit einer engen Öffnung. Er kippte den Korb auf dem Boden auf die Seite, so dass die Schlange hinein kriechen konnte. Dann stellte der alte Mann den Korb richtig hin, holte eine Flöte aus seinem Gewand hervor und begann, eine seltsame Melodie zu dudeln. Bronwyn war überzeugt davon, dass die Weise Karola sehr gut gefallen hätte. Als der alte Mann spielte, schlängelte sich die Schlange zur Korböffnung heraus und streckte sich immer mehr, so dass sie schließlich dreimal so lang war wie zu der Zeit, als sie Bronwyn kennengelernt hatte. Während sie sich streckte, wurde sie auch dicker, zuerst an einigen Stellen, dann auch an den übrigen, bis sie zuletzt so groß war wie der alte Mann. Dann hüllte sie sich ganz in Nebel ein, und als sich der Nebel verdichtete, sah Bronwyn, dass die Schlange in Wirklichkeit ein großer, bärtiger Mann und der Nebel seine Robe war. Er trat aus dem Korb heraus und strau chelte, weil sich sein rechter Fuß schon geformt hatte, bevor er ihn richtig befreit hatte. »Verflucht!« rief er. »Also wirklich, Onkel, wir müssen uns einen größeren magischen Korb für diesen Zau bertrick besorgen.« »Wird gemacht«, versprach der alte Mann. »Aber du weißt ja, wie die Unkosten an mir zehren, und magische Körbe sind un wahrscheinlich im Preis raufgegangen seit der letzten Dürreperi ode, bei der das beste Schilfrohr verdorrt ist…« »Ich weiß, ich weiß«, erwiderte Mirza, der Schlangen-Neffe, der sich dann tief vor Bronwyn verbeugte und dabei eine handverdre hende, fingerschwenkende Bewegung mit seiner rechten Hand vollführte, die von der Stirn, über die Brust bis zur Taille reichte, als er seinen Bückling machte. »Ehrwürdige Dame, die Firma Mukbar, Maschkent & Mirza – Magische Artikel GmbH heißt Sie 206
ganz herzlich im Namen des Profits willkommen. Wir haben Sie schon seit langem erwartet!« Prinz Leofrig ließ sich in seinem Bad einweichen und überlegte sich noch einmal die Überlegungen, die er sich zu seinen Überle gungen hinsichtlich Dürrheims Umsturzplan gemacht hatte. Es kam ihm so abstoßend vor, dazu Monster zu benutzen. Dies hatte der alte F’win nun wirklich nicht verdient. »Aber Hoheit, wie wollen Sie denn sonst Ihr Ziel erreichen?«, hatte ihn der Herzog gefragt. »Die Armee ist auf seiner Seite und ist es im übrigen schon immer gewesen. Nur wenn Sie sie vor die vollendete Tatsache der Machtübernahme stellen, wird Sie dies davor bewahren, selber beseitigt zu werden, bevor Sie eine Mög lichkeit hatten, wieder Ordnung in das Chaos zu bringen, das Ihr Bruder in diesem Königreich angerichtet hat.« Natürlich hatte der Mann Recht. Sogar bei seinem idiotischen Plan, die Sklaven zu befreien, würde ihn die Armee unterstützen, die er in der Eroberung der ›Sechs‹ angeführt hatte. Jeder erinner te sich noch an den Eroberungsfeldzug. Woran keiner mehr dach te, war, welche Rolle Leofrig und Leofric, der arme Leofric ge spielt hatten, welche natürlich die größere und viel wichtigere Rolle gewesen war. Während Seine Amtierende Majestät, was das Plündern und Vergewaltigen anbetraf, seinem Ruf treu geblieben war, hatte Leofrig von seinem Vater gelernt, wie man das Land regierte. Schon damals hatte sich der gesundheitliche Zustand ihres Vaters immer mehr verschlechtert, und Fric, der arme Fric, hatte sich bereits aufgeopfert, hatte bereits die heldenhafteste Rolle in der heraufdämmernden neuen Sozialordnung gespielt und sich ins selbsterwählte Exil begeben. Aber als Leofwin mit seiner Braut zurückkehrte – Leofrig war zu sehr damit beschäftigt, die eigentliche Macht zu sein, die hinter dem Thron stand und Fric war es völlig schnuppe –, hatte er ihren gemeinsamen Anteil an den Siegen vergessen, und zwar vollstän dig. Er war nur noch darauf aus, aus den sieben Nationen eine einzige zu machen, die ganz nach seiner Pfeife tanzen musste. 207
Also waren vielleicht Monster doch kein solch extremes Mittel. Jedoch wünschte Leofrig, dass sie nicht durch sein Bad in den Palast eindringen würden. Obwohl der Herzog versprochen hatte, dass es nicht viele sein würden, wollte Leofrig doch schließlich und endlich überhaupt keine Monster oder Klammheimliche durch sein Bad in den Palast hineinlassen. Aber es ging nicht anders. Leofwin hatte darauf bestanden, dass das Schloss ohne einen Keller oder ein Verlies gebaut wurde und dass die Türen nicht geöffnet werden konnten, ohne die Wachen sofort in Alarmbereit schaft zu versetzen, die natürlich auf Leofwins Seite waren. We nigstens konnten die Wachen keine Verstärkung herbeischaffen – Großes Band, Herzog Dürrheims bintnarangianisches Haustier, das Tausendschöns Aufenthalt im Schloss so verschönt hatte und der Herrschaft, die Leofwin gerade noch zustande brachte, einen Schein von Heiligkeit und Leistungsfähigkeit verlieh, würde für die äußere Sicherheit des Schlosses sorgen, es war also kein so schlechter Plan! Und es gab noch einen anderen Lichtblick in der ganzen Ge schichte, abgesehen davon, dass er zum Kaiser gekrönt würde und sehen würde, wie Tausendschön zur Kaiserin gekrönt wurde. Dürkheim hatte versprochen, dass Tausendschöns Mutter und Schwester von den Ungeheuern kein Schaden zugefügt würde, aber dass sie von ihnen weit weggebracht würden, so dass sich Leofrig Belburgas gemeine Froschwitze nicht mehr anhören musste. Und wenn er erst einmal Kaiser war, dann konnte er sich vom Herzog auch ein neues Bad bauen lassen. Bei dem Gedanken spielte ein leicht grünliches Lächeln um seinen Mund, und er läutete nach dem Sklaven, der ihn abtrocknen und einölen musste. »Ich bin viel zu gut erzogen, als dass ich mich gewöhnlich in die Angelegenheiten anderer einmische«, versicherte ihnen Anastasia. »Aber in diesem Fall, da meine Schützlinge mit Docho, dem Söldner, und der Anarchie von Miragenia in unmittelbare Berüh rung gekommen sind, finde ich, dass ich meine eigenen Erfahrun gen mit dem Kerl und dem Land mit euch teilen muss.« 208
Karola zögerte nicht, sich die Geschichte der Schwänin anzuhö ren, denn sie konnte eigentlich auch nicht mehr schlimmer als schon der ganze Tag sein. »Nur zu«, sagte sie daher. »Erzähl uns, wie du zu deinem Fluch gekommen bist. Vielleicht bekomme ich jetzt dann auch einen. Bei der Großen Mutter, Flüche scheinen ja in letzter Zeit wirklich in Mode gekommen zu sein!« »Genau genommen ist es gar kein Fluch«, klärte sie die Schwä nin mit würdevoller Stimme auf, »sondern ein erblicher Schutz zauber. Weißt du, die Frauen in meiner Familie waren schon immer die schönsten und begehrenswertesten aller Königreiche hier. Deswegen haben sich auch die Könige der Unbebaubaren Länder ihre Königinnen schon immer in meinem Heimatland ausgesucht. Da wir so schön sind, werden wir aber natürlich auch leicht zum Gegenstand der Lüste und unehrenhaften Absichten von so manchem Mann. Meine Ur-Ur-Ur-Urgroßmutter mit Namen Aractisha, die ge nauso schön war wie wir alle und dabei auch noch sehr gescheit und gelehrt, war sehr unduldsam gegenüber den Schwächen der Männer. Sie fragten immer, ob sie sie nicht von irgendwoher kannten, was natürlich der Fall war, da sie ja damals Königin war. Da der König öfters geschäftlich unterwegs war und die Königin ihre Bewunderer manchmal als erschreckend aggressiv empfand, besonders wenn ihr Gatte weg war, erfand sie einen Zaubertrank, mit dessen Hilfe sie sich in einen Schwan verwandeln konnte. Als Schwan würde sie von den lüsternen Männern nicht nur nicht mehr belästigt werden, sondern sie konnte ihnen auch entfliehen, wann sie wollte. Es begab sich aber, dass der König ihretwegen in die Schlacht ziehen musste – einer seiner feurigsten Barone war ihm außer Kontrolle geraten, und Seine Majestät musste nun mit Gewalt eine Korrektur seines Benehmens vornehmen. Die Königin, die zu jener Zeit gerade guter Hoffnung war, erwartete mit großer Unge duld die Rückkehr ihres Herrn. Aber der aufsässige Baron war ein verräterischer Kerl. Statt bei seinem Heer zu bleiben, teilte er seine Streitkräfte. Einen Teil ließ 209
er zurück, um den König in Schach zu halten, und mit dem ande ren belagerte er das Königsschloss.« »Schlauer Kerl!«, sagte Jack, rieb sich die Hände und lehnte sich mit erwartungsvoll glänzenden Augen nach vorn. »Ein Dreckskerl«, sagte Anastasia und schüttelte verächtlich den Kopf. »Er drohte damit, die Siedlung vor der Schlossmauer in Brand zu setzen und die Bauern umzubringen, wenn sich die Königin nicht in seine Gewalt begeben würde. Wie es der Zufall wollte, mangelte es dem Königreich gerade in diesem Jahr an Bauern. Schuld daran waren vorausgegangene Kriege, eine Hun gersnot und die Attacken einer Grippe mit tödlichem Ausgang, und außerdem war die Königin natürlich viel zu gütig, um zuzu lassen, dass ihre Untertanen ihretwegen litten. Aber sie war natür lich auch viel zu verwöhnt, als dass sie sich von einem fanatischen Entführer hätte entführen lassen – und dann musste sie natürlich auch an das Kind denken. So beschloss sie also, ihre Zauberessenz auszuprobieren, verwandelte sich in einen Schwan und flog von der Spitze des Bergfrieds herunter an die Seite ihres Gatten. Es begab sich aber, dass sich die königlichen Bogenschützen ausgerechnet die Schwänin als Ziel aussuchten und ihr eine tödli che Wunde beibrachten, die sie ihre Tochter verfrüht austragen ließ. Danach verschied sie auf eine anmutige Weise – zu Füßen ihres Herrn. Bei ihrem letzten Atemzug verwandelte sie sich wieder in die schöne Frau zurück, die sie gewesen war, und der König erkannte sie nun. In seinem tiefen Schmerz gewann er die Schlacht und zog nach Hause, wo er seinen Gegner erschlug und die Bogenschützen in beiden Heeren hinrichten ließ. Meines Wissens rührt von diesem Ereignis auch unsere Unfähigkeit her, Bogenschützen für unser Heer auszubilden.« »Hat sie eigentlich dem Mädchen die Zauberessenz vermacht?«, fragte Karola, »denn wenn du noch ein bisschen davon hättest, könnte ich es von Großmutter genau analysieren lassen und … – « »Du dummes Mädchen, natürlich hat sie ihr die Essenz nicht mehr geben können! Hab ich dir nicht gerade gesagt, dass sie tot war? 210
Das Kind wuchs heran und heiratete außerhalb der königlichen Familie, und sie hatte viele Kinder, aber davon waren nur zwei Mädchen. Eines davon verbrachte ein sehr glückliches Leben, aber das zweite, Gwendolyn die Prächtige, kam ungefähr in die gleiche Lage wie ihre Großmutter. Unter dem Druck von potenti ellen Entführern verwandelte sie sich ebenfalls in einen Schwan, aber bei ihr erfolgte dies ganz instinktiv, ohne die Hilfe der Es senz. Im Gegensatz zu ihrer Großmutter trug sie keinen Schaden davon und heiratete den Mann, den sie wirklich liebte noch in ihrer Schwanengestalt. Als sie dann glücklich miteinander verhei ratet waren und sie sich sozusagen sicher unter seinem Fittich befand, verwandelte sie sich wieder in ihre wahre Gestalt zurück, und sie lebten danach glücklich und zufrieden bis an ihr Lebens ende.« »Und das gleiche ist dir widerfahren?«, fragte Karola und mach te es sich am Schwimmbassin bequem. »Das gleiche nur ohne das ›Und sie lebten glücklich und zufrieden …‹ meine ich. Ich schät ze, dass wir noch nicht so weit gediehen sind!« »Nicht ganz das gleiche«, erwiderte Anastasia. »In meiner Ge neration scheint der Zauber sehr viel eifriger und auf eine dreiste Art besitzergreifend geworden zu sein. Er hat nicht mal gewartet, bis wir in wirklicher Gefahr waren, als er den Wandel vorgenom men hat. Man könnte sagen, dass wir im einen Moment noch unser Haar gekämmt haben und im nächsten – hopp – sind wir schon durch die Luft geflogen. Ich könnte allerdings nicht be haupten, dass ich zur Zeit der Verwandlung sehr vernünftig ge dacht habe. Unser Vater hatte dafür gesorgt, dass wir von unserer inneren Unruhe abgelenkt waren, in unserem Bewusstsein hatte er die Vorstellung von der Ekelhaftigkeit und Brutalität meines beharr lichsten Verehrers aufgebaut. Ich meinerseits war nun ganz außer mir, dass ich diese unpassende Person heiraten müsste, und meine jüngeren Schwestern fürchteten sich davor, dass ich ihn zurück weisen und er sich statt dessen eine von ihnen aussuchen würde. Wenn ich’s mir jetzt noch einmal überlege, so scheint es meinem 211
Vater vor allem darum gegangen zu sein, dass er sich auf diese Weise um die Mitgift für seine sieben Töchter drücken konnte, die er ohnehin lieber bei sich zu Hause behielt, wo sie ihm seine Pantoffeln bringen und Halma mit ihm spielen konnten. Den Zauber schien er vergessen zu haben, vielleicht wusste er aber auch gar nichts davon. Er stammte nicht aus dem alten Kö nigsgeschlecht und wusste kaum Bescheid über die Familie mei ner Mutter. Bis kurz nach meinem sechzehnten Geburtstag hatte ich genauso wenig gewusst wie er, dann hat mir meine Mutter – in den letzten Zügen liegend – alles erzählt, auch sie das Opfer einer romantischen und tödlichen, wenn auch nicht sichtbaren Krank heit. Vater machte mir das Herz schwer mit der Furcht vor diesem Kerl, und ich übertrug dieses Gefühl auf meine Schwestern, zu sammen mit dem, was ich von meiner Mutter erfahren hatte. Als mein Verehrer schließlich vor unserem Tor stand, beobachteten wir ihn alle von den Zinnen aus. Er trug eine Rüstung, was gar keine so schlechte Idee war, wenn man die Gemütsverfassung meines Vaters zu jener Zeit in Betracht zog, und als er sein Visier öffnete, waren wir Mädchen alle so überreizt, dass wir es nicht mehr länger ertragen konnten: Die meisten Mädchen wären unter ähnlichen Umständen in Ohnmacht gefallen – aber wir flogen davon!« »Alle?« fragte Jack. »Wir haben immer alles zusammen getan«, erwiderte Anastasia. »Aber nun werdet ihr mich fragen – und dies ist auch die Stelle, an der sich dieser ruchlose Söldner ins Bild stiehlt –, warum die sieben Prinzessinnen nicht so lange gewartet haben, bis der uner wünschte Prinz wieder fort war, und dann zu ihrem Vater und ihrer natürlichen Gestalt zurückgekehrt sind? Ich will euch sagen, warum, weil sich unter den Soldaten, die der Prinz mitgebracht hatte, auch Docho, der Bintnarangianer, befand.« Die Schwänin machte eine Pause und sagte, indem sie jedes ein zelne Wort betonte: »Er ist nicht, was er zu sein scheint. Er konnte uns mühelos folgen, obwohl er nur auf einem Pferd ritt und wir 212
hingegen flogen. Ich brauche euch nicht zu erklären, was das bedeutet und welchem Herrn er auch jetzt zu dienen vorgibt, so dürft ihr mir glauben, dass die Magie genauso wenig seinen Grundsätzen widerspricht wie der Krieg. Während wir schliefen, hat er ein Netz über uns geworfen und uns durch einen weiteren Zaubertrick dazu gezwungen, ihn über die Sandwüste zur Anar chie von Miragenia zu bringen, wo alle Kaufleute und Magier und Zaubertricks für Geld zu haben sind. Dort hat er uns an einen Makler weiterverkauft, der uns dann wiederum mit dem zusätzli chen Fluch, dass wir Lasttiere bleiben würden, an einen Zauberer verkaufte, der uns dann später bei einer Wette an den Hexenmei ster Grau verloren hat. Wenn ich nur gewusst hätte, dass Bron wyns Fluch aus Miragenia kommt, dann hätte ich darauf bestan den, dass sie ihre Suche aufgibt.« »Warum?«, fragte Jack. »Nur weil du eine schlechte Erfahrung mit ihnen gemacht hast …« »Ich will mich nicht darüber auslassen«, sagte die Schwänin hochmütig, »aber ich kann dir versichern, dass in jedem Handel, der zwischen einem miragenischen Kaufmann und einem orts fremden Handelspartner abgeschlossen wird, der miragenische Kaufmann derjenige sein wird, der den Profit macht.« Jack, der zwischen der Sorge um Bronwyn, der Unruhe wegen des Herzogs und des Geschmacks des Breis oder vielmehr seiner absoluten Fadheit hin und her gerissen war, brachte beim Abend essen kaum einen Bissen hinunter. Aber er war nicht der einzige, dem es so erging. Karola nahm sich einen Löffel voll Brei, schau te ihn an und ließ ihn wieder in die Schüssel zurückkleckern. Keiner der beiden nahm an der Unterhaltung teil, die um sie her um geführt wurde und die sich hauptsächlich auf die Jagd bezog, die die kaiserlichen Wildhüter für den kommenden Morgen anbe raumt hatten. Jack war beinahe erleichtert, als er auf sein Zimmer gehen konn te, obwohl er zum Schlafen noch keine Lust hatte. Wenn er doch nur noch etwas anderes hätte tun können als warten! Wenn er 213
doch nur etwas Verlockendes zum Essen gehabt hätte, während er wartete! Etwas gab es natürlich für einen Zigeuner immer zu tun, wenn er bei reichen Leuten im Haus war, und zwar bestand dies darin, herauszufinden, wie er sich am besten einen Teil ihres Reichtums unter den Nagel reißen konnte. Da ihn Herzog Docho bezüglich der Lage der Schatzkammer angelogen hatte, entschied sich Jack dafür, dass nun ein günstiger Zeitpunkt wäre, um herauszufinden, wo sie sich wirklich befand. Er würde aber auch noch andere Räume im Schloss auskundschaf ten, von denen er wusste, dass dort Reichtümer zu holen waren. Diese goldenen Teller, von denen Leofwins Hofgesellschaft ihre entsetzlichen Mahlzeiten aß, würden ihm in Argonien eine schöne Stange Geldes bringen. Wenn er sich dann noch in die Zimmer der Edelleute stehlen konnte, die betrunken ins Bett gestolpert waren, konnte er sie vielleicht auch noch um einen Teil ihrer juwelenbesetzten Kleider erleichtern, obwohl es wahrscheinlich nicht sinnvoll war, heute Nacht schon etwas mitzunehmen. Nein, das wäre sicherlich falsch, denn wo sollte er seine Beute verstek ken? Er wusste ja wirklich nicht, wie lange er noch gezwungen wäre, mit Karola an diesem düsteren Ort auf Bronwyns Rückkehr zu warten. Aber ein Mann konnte etwas lernen, während er warte te. Als die Sperrstunde geblasen worden war und die üblichen Ge räusche im Schloss verstummten, trat Jack auf den Gang hinaus. Von den beiden Seiten der langen Eingangshalle salutierten sich die Flammen der Fackeln gegenseitig, und ihre Schatten standen hinter ihnen Wache. Die Frostingdungianer waren offenbar wirk lich wie die kleinen Kinder, die sich vor dem Dunkel fürchteten und die ganze Nacht über die Lichter in der Eingangshalle bren nen ließen? Und warum eigentlich nicht? Mit seinen sichtbaren und unsichtbaren Bestien war Frostingdung ein ganz vorzüglicher Ort, um solche Ängste zu fördern. Die Lichter würden gewiss dem Zigeuner, der zu Gast war, das Herumspionieren erleichtern, obwohl er sich im Bedarfsfall ihretwegen wahrscheinlich schlech 214
ter verstecken konnte. Er war nicht so einfältig zu glauben, dass alle oder der größte Teil der Leute im Schloss, ihm und seinen Freunden gegenüber freundlich gesinnt war. Absolut nicht. Er schlich sich sogar schnell wieder ins Zimmer zurück und nahm Bronwyns Schild, bevor er sich wieder hinausstahl – es würde ihn zumindest beruhigen, wenn er den Schild dabeihatte. Sicher wür de er ihn beschützen, wie er Bronwyn beschützt hatte, und auch wenn dies nicht der Fall war, würde er ein vorzügliches Tablett abgeben, wenn er sich bei einer Überprüfung der Küche einen halbwegs essbaren Imbiss klauen konnte. Er ging unbehelligt den Korridor entlang, dabei empfand er ein vages Unbehagen, er hatte das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun, weshalb er sich dann auch beim Gehen hinter seinem Schild ver schanzte. Vielleicht war die Neuheit der Situation an seiner Ner vosität schuld, die Tatsache, dass er seine Erkundung im hellen Licht der Fackeln durchführte. Er würde also auf jeden Fall zuerst in die Küche gehen, denn wenn ihn jemand dort erwischen würde, dann hatte er wenigstens einen guten Grund, um draußen zu sein. Die Küche war am anderen Ende des großen Saals. Im Unter schied zu den Gängen war der große Saal nur mit drei Fackeln und einer Kerze, die beinahe erloschen war, beleuchtet. Aber das Licht genügte Jack, um erkennen zu können, dass sein Plan ge scheitert war, bevor er ihn überhaupt erst richtig hatte anpacken können. Er war nicht allein im Saal. Karola war plötzlich hellwach, sie war ganz munter und lauschte. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu, und sie hatte das Gefühl, dass ihr die Haare zu Berge standen. Sie zitterten wie die Fühler eines Käfers oder die Barthaare einer Katze, die die Ursache der Gefahr zu wittern versuchten, die sie aufgeweckt hatte. Denn sie war überzeugt davon, dass Gefahr im Verzug war. Im Schlaf hatte sie nämlich einen unterdrückten Schrei gehört und geträumt, dass er von einem Fuchs herrührte, aber als sie dann die Augen aufriss und angespannt im Bett liegenblieb und wartete, klang nicht ein mal mehr die leiseste Spur des Schreis in ihrem Bewusstsein oder in der Luft nach. Sie versuchte, sich zum Entspannen zu zwingen. 215
Aber während sie auf ihrem Bett nur so dalag, war es ihr, als ob sie jetzt gleich zerplatzen würde vor Anstrengung. Deshalb sprang sie aus dem Bett, verschränkte die Arme, um sich zu wärmen, und fing an auf dem kalten Steinboden herumzutrippeln, als sie nach ihrem Hemd griff. Das war, als sie den zweiten Laut hörte, ein leises Kratzen, ein schwaches Surren. Sie rannte zur Tür, riss sie auf und schaute den Gang entlang. Ein Wisch von etwas verschwand gerade am Ende der heller leuchteten Eingangshalle um die Ecke, ein paar Türen von ihrem Zimmer entfernt. Der Wisch verschwand in der Richtung von Anastasias Brunnen. Die andere Biegung führte zum großen Saal, und nun hörte sie auch wirklich Geräusche, die von dort kamen. Sie hatte keine besonders große Lust, der Sache nachzugehen, aber sie wollte auch nicht unbedingt in ihrem Bett ermordet wer den. Wahrscheinlich wäre es am besten, wenn sie Jack aufwecken würde. Dann würden sie sich wenigstens miteinander in die Nes seln setzen. Dort draußen kam es ihr merkwürdig und unheimlich vor. Vielleicht sollten unheimliche Gefühle einer Hexe eigentlich nichts ausmachen, aber sie war eben immer noch ein kleines Mädchen, und außerdem konnte natürlich jeder Angst haben, sogar Papa und Mama. Sie ging mit hochgezogenen Schultern zu Jacks Zimmer hin über, zuerst geradeaus und dann bog sie nach links ab. Es ging ihr durch den Sinn, dass sie viel lieber Bronwyn dabeigehabt hätte mit ihrem Schwert und Schild und dem großen Brocken von einem Körper, der einen beschützte, aber jetzt musste sie sich eben mit Jack begnügen. Sie machte noch zwei Schritte nach vorn, die sie nicht so weit vorwärts brachten, wie sie erhofft hatte. In Wirklichkeit hatte sie sich überhaupt nicht bewegt. Es war, als ob sie jemand an ihrem Gewand gepackt hätte und zurückzöge. Sie machte noch zwei weitere Schritte und stand immer noch an derselben Stelle. Es muss ein Traum sein, dachte sie. Also gut, dann träume ich auch meinen Weg zurück ins Bett. Ohne Anstrengung kehrte sie um und betrat wieder ihr Zimmer, nach der Helligkeit im Gang sah sie 216
sich plötzlich einer mit Leben erfüllten Dunkelheit gegenüber. Ihr Bett war unwahrscheinlich weit in die Schatten zurückgezogen und schien nur auf sie zu warten, eine Falle mit einem Köder. Sie war sich nun sicher, dass alles, was sich draußen auf den Gängen abgespielt hatte, kein Traum gewesen war. Gesetz gegen Magie oder Ungesetzlichkeit gegen Magie, die Halle dort draußen war verhext. Sie öffnete die Tür wieder und trat auf den Gang, dieses Mal versuchte sie, in die andere Richtung zu gehen. Sie ging zehn Schritte, ohne sich von der Schwelle ihres Zimmers gerührt zu haben, was sie so wütend machte, dass sie herumhüpfte und noch einmal versuchte, zu Jacks Zimmer hinüberzurennen. Aber sie hatte wieder kein Glück. Es war ihr zum Schreien zumute, aber der Schrei blieb ihr im Hals stecken, und sie fing statt dessen an, leise zu fluchen, dazu benutzte sie eine Lästerung, nach der ihr ihre Mama den Mund ausgespült hätte. Sie stand fröstelnd da, nicht so sehr wegen der Kälte, sondern weil sie nicht wusste, was sie tun sollte. Sie hasste es, einfach zu diesem Bett zurückgetrieben zu werden, und nur die Große Mutter wusste, was für schleimige, kriechende und nach ihr greifende Kreaturen dort auf sie warteten, um sie auf grausame Weise zu töten, indem sie zum Beispiel ihre Augen ausquetschten und sie in Stücke hauten oder – aber hör doch auf damit, sagte sie zu sich selber. Du machst es ja damit nur noch schlimmer. Aber die ekel erregenden Geschöpfe, die ihren Körper auf eine schmerzhafte und entsetzliche Art verstümmelten, fuhren fort, vor ihren Augen aufzublitzen, und sie konnte sich deswegen auch nicht dazu über winden, wieder zu diesem schattenverhüllten Bett in ihrem Zim mer zurückzukehren, aber andererseits konnte sie auch nicht gut die ganze Nacht hierbleiben. Sie versuchte noch einmal zu schrei en, aber dieses Mal war es kein Fluch oder ein richtiger Schrei, sondern nur ein halb erstickter Hilferuf: »Jack? Jack? Hörst du mich?« Aber sie bekam keine Antwort. Sie erinnerte sich vage daran, dass Tausendschön Rostie bei ih rer Ankunft erzählt hatte, dass sie den Flügel des Schlosses so 217
ziemlich für sich haben würden, weil nur noch zwei weitere Gäste dort untergebracht waren. Rosties Zimmer befand sich zwischen ihrem eigenen und Jacks, und es war schon ein bisschen merk würdig, dass Rostie den Lärm nicht gehört hatte und herausge kommen war, um der Sache nachzugehen. Karola hatte sie nicht wecken wollen, weil Erwachsene über die Art von Gefühlen, die Karola im Augenblick hatte, nur die Nase zu rümpfen pflegten, aber als sie sich Rosties zähnebleckenden Gesichtsausdruck wie der vergegenwärtigte, mit dem diese in die Öffnung hinabgeblickt hatte, in der es von Klammheimlichen wimmelte, fand sie, dass die Dame doch keine so schlechte Verbündete wäre. Aber als sie Rosties Namen rief, bekam sie ebenfalls keine Antwort Nun, vielleicht hatte ihr Rufen die Kraft, die sie zurückhielt, davon überzeugt, dass sie aufgegeben hatte. Sie versuchte noch einmal, zu Jacks Zimmer hinüberzulaufen, und fluchte wieder entsetzlich, als sie sich nicht vom Fleck rührte. Das Fluchen tat ihr so gut, dass sie es wiederholte. Dieses Mal war es nicht ganz so lästerlich. »Verdammt, verdammt, zweifach verdammt, dreifach verdammt. Verdammt!« Es war eine Art von synkopiertem Reim, den sie ein paar Mal wiederholte, dann ließ sie die Worte weg und summte ihn. Der Reim hatte einen galoppierenden Rhythmus. Sie summte weiter und versuchte noch einmal, über die Schwelle ihres Zimmers hinauszugelangen, dabei hüpfte sie, als ob sie ein Pferd wäre und tat so, als ob sie galoppieren würde. Aber sie war immer noch an ihrer Tür. Verdammt und zugenäht! Das wäre doch gelacht, wenn ihre Magie nicht genauso stark wäre wie dieser alberne Zauber! Wenn sie es fertig brachte, eine Seeschlan ge und ein vollgetakeltes Schiff im Meer herumtanzen zu lassen, dann musste sie doch auch an diesem lumpigen, unrechtmäßigen Zauber vorbeitanzen können. Aber sie versuchte es wieder, ohne Erfolg zu haben, dann brach sie ab und hielt den Atem an, um ihn dann so herauszupusten, dass es wie das Schnauben des Pferdes klang, das sie nachmachte. Noch einmal, dachte sie, und dann gebe ich es auf. Ich glaube, dann gehe ich wieder in mein Zimmer zurück und lasse mich ermorden. 218
Als sie dreimal ihren Fluch summte, hielt sie die Augen dabei geschlossen und galoppierte summenderweise davon. Etwas raschelte wieder am anderen Ende des Ganges, und sie meinte, ein Gequake gehört zu haben. Sofort riss sie die Augen wieder auf. Aber es rührte sich nichts am anderen Ende des Ganges, nur dass es ungefähr um eine Elle näher gerückt war. »Sieh da, du! Weiß deine Mutter, dass du hier draußen bist, Jun ge?« Graf Gilles Kilgilles richtete sich halb auf, um zu fragen. Mit seinem ganzen Gewicht lehnte er sich auf den Ellbogen, den er in einer Weinlache auf den Tisch gestützt hatte. Jack hatte ihn bei einem Nickerchen überrascht, und von der rechten Wange, mit der er beim Schlafen in der Lache gelegen hatte, tropfte es durchsich tig rosafarben herunter. Der Herr Graf schien mindestens ebenso voll zu sein wie in der Nacht zuvor. »Ich bezweifle sehr, dass sie davon weiß, weil sie sich viele Meilen von hier über dem Meer befindet. Aber ich kann Ihnen versichern, dass sie es gutheißen würde.« »Ach wirklich? Na, dann ist ja alles in Ordnung. Freut mich, das zu hören.« Er zog seinen Ellbogen noch ein bisschen näher zu sich heran und richtete sich noch weiter auf, schüttelte den Kopf und wischte sich den Wein von seiner Wange. »Aber Herr Graf, warum sind Sie zu so später Stunde noch hier?«, fragte Jack. »Mitternachtsimbiss«, antwortete der Mann, drehte seinen um gestürzten Weinbecher wieder um und führte ihn zu den Lippen. Er zog ihn aber gleich wieder zurück und stierte ihn angewidert an, bevor er ihn dann wieder umdrehte. »Furchtbar schlechter Wein, heutzutage, hält überhaupt nicht vor!« An der Tür, durch die Jack hereingekommen war, hörten sie ein leises Getrappel. »Große Ratten, wenn man bedenkt, dass das Schloss neu ist«, bemerkte Jack gesprächig und ließ sich vorsichtig neben dem verrückten Baron auf der Bank nieder. 219
»Wirklich sehr groß«, sagte Kilgilles mit einer ironischen Stimme, die absolut vernünftig klang. »So groß wie ein Mensch, würde ich sagen.« »Sie vermuten hier an des Kaisers Hof Menschen, die etwas Bö ses im Schilde führen?«, fragte Jack so jungenhaft-unschuldig wie nur irgend möglich. Kilgilles nickte zustimmend. »Aber Sie sind doch ein wichtiger Vasall des Königs, warum gehen Sie dann der Sache eigentlich nicht nach?« Graf Kilgilles lächelte nachsichtig. »Wenn ein Mensch allen Verbrechen nachforschen würde, die in diesem Lande geschehen, dann hätte er keine Zeit mehr zum Essen – was natürlich heutzu tage gar kein so großer Verlust mehr wäre –, zum Schlafen und zum Trinken.« »Wenn wir schon beim Essen sind«, sagte Jack, »wissen Sie zufällig, wo das Obst gelagert wird?« Aber bevor der Mann seine Frage beantworten konnte, hörte er vom Gang her ein leises Sch Sch-Gewisper, und er verspürte plötzlich große Lust aufzusprin gen und das Geräusch nachzuahmen. Aber es brach unvermittelt ab. »Haben Sie das gehört?«, fragte Jack. Kilgilles drehte seinen Kopf absichtlich in die andere Richtung und fragte: »Was gehört?« Das Geräusch war wieder zu hören, mindestens sechs Takte lang. »Das!«, flüsterte Jack und drückte dabei Bronwyns Schild fester an sich. »Junge, ich höre nichts und lass dir’s gesagt sein, du hast auch nichts gehört! Ich bin hier, damit mich Leofwin anhört und ich ihm helfe, dieses entzauberte Reich in einen Ort zu verwandeln, der für uns alle wenigstens bewohnbar wird. Ich kann dies nicht alles aufs Spiel setzen, indem ich in Palastintrigen verwickelt werde oder irgendwelche Geräusche in der Nacht höre!« »Aber Großer Herr, wenn diese Geräusche doch nicht statthaft sind, ist es dann nicht Ihre Pflicht, dass Sie ihnen befehlen, das sein zu lassen?« Hilfsbereit streckte er ihm den Schild entgegen. »Ich habe den zauberbrechenden Schild der Prinzessin Bronwyn 220
bei mir. Wenn wir ihn vor uns hinhalten, können uns, glaube ich, keine unrechtmäßigen Hexenzauber mehr etwas anhaben.« »Du hast eine blühende Phantasie, mein Junge. Es ist genauso albern, sich im Palast des Kaisers von Großfrostingdung vor Hexerei zu fürchten wie vor einer Seeschlange, die dich von einem Baum herunter angreift.« Das Sch-Sch-Geräusch kam immer näher. Das Dröhnen in Jacks Ohren nahm mit seinem Näherkommen zu, und weit weg hörte er ein Stöhnen und ein schwaches Gequake. Zu seiner Verwunderung sprang dann Gilles auf und schrie mit einer Stimme, die älter und tiefer als seine eigene klang: »Du Feigling! Ich sollte dich verstoßen!« Kilgilles setzte sich wieder und sagte mit seiner eigenen Stim me, begleitet von einem tiefen Seufzer: »Oh, wie ich wünschte, dass du dies tun würdest!« Dann sprang er wieder auf und befahl mit einer Festigkeit in der Stimme, die keinen Raum für Wider spruch zuließ: »Dir sind Machtbefugnisse als Verbündeter ange boten worden. Gehe jetzt den Ursachen der Störung nach oder ich werde beim Kopf deiner Mutter schwören, dass du nach dem morgigen Sonnenuntergang nicht mehr schlafen und nichts mehr essen wirst!« Nachdem die Stimme wieder ihre Strenge und der Körper seine Drahtigkeit verloren hatte, senkte Kilgilles devot den Kopf vor Jack, streckte die Hand aus, um den Schild in Empfang zu nehmen und sagte: »Sieht ganz so aus, als ob ich dir zu Diensten wäre!« »Alles was Sie sagen, Verrückter Herr!«, sagte Jack, der dabei gegen seinen Willen die Augen verdrehte. Sie schlichen vorsichtig den Saal entlang bis zu dem Punkt, wo sich der Korridor, der zu den Gästezimmern, und der Gang, der zur Eingangshalle mit dem Brunnen führte, kreuzten. Gilles schien wirklich sehr tapfer zu sein, wenn man ihn erst einmal zum Handeln angetrieben hatte. Er schritt beherzt voran, den Schild trug er vor sich her, und Jack blieb hinter ihm und hielt sich an
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seinem Hemdzipfel fest, um ja nicht außerhalb des Bannkreises von Bronwyns Schild zu geraten. Sie blieben stehen und überblickten die drei Räume. Jack stellte mit Erleichterung fest, dass der dunkelste Teil schon hinter ihnen lag, und ein Stein fiel ihm vom Herzen, als der Graf in ein völlig normales Gelächter ausbrach. Als der junge Herr in die Richtung des Korridors zu den Gästezimmern deutete, äugte auch Jack hinter dem Mann hervor, um zu sehen, was diesen amüsierte. »Was ist denn dabei so lustig?«, fragte Karola, die wie ein Dä mon aussah mit ihren weitaufgerissenen braunen Augen, die sie anstierten, den Haarflechten, die sich gerade auflösten, und dem geliehenen Nachthemd, das ihr viel zu groß war und sich um ihre Beine wickelte. Auf ihrer Stirn hatten sich Schweißtropfen gebil det, und sie keuchte, als ob sie gerade eine weite Strecke gerannt wäre, aber sie machte keine Anstalten, näher an sie heranzukom men. »Nichts, gnädiges Fräulein, nur dass wir eben froh sind, dass wir Sie hier antreffen, statt …« Er ging auf sie zu und – mutig wie er war –, wagte es nun auch Jack, hinter seinem Rücken hervorzu kommen, und blieb wie angewurzelt stehen, ohne dass er auch nur noch einen weiteren Schritt hätte machen können. »He!«, rief er. »Ich wollte euch gerade noch davor warnen hierherzukommen«, sagte Karola. »Nun sind wir alle Gefangene. Dieser Gang muss verhext sein, ich habe nämlich schon versucht, hier herauszutan zen.« »Unsinn«, sagte Gilles und schritt beherzt voran. »Da, nimm meine Hand, ihr seid nur verängstigt.« »Bitte, nehmen Sie mich auch bei der Hand, Großer Herr«, sagte nun Jack, »dann können wir alle weggehen. Sehen Sie denn nicht, dass dieser Raum verhext ist, wie Karola schon gesagt hat. Aber Prinzessin Bronwyns Schild beschützt Sie.« »Geben Sie mir doch mal den Schild und sehen Sie selbst«, schlug ihm Karola vor. 222
Gilles gab ihr den Schild und trat einen Augenblick lang auf der Stelle, bis er ihn sich dann wieder holte. »Merkwürdig. Nun, ich glaube, wir müssen mit vorgehaltenem Schild im Gänsemarsch gehen und uns dabei berühren, wie der Kerl mit der Gans und all den Kindern hinter sich, von dem mir Tieny Fittrum erzählt hat. Aber wisst ihr, ich kann immer noch nicht verstehen, wie sich hier ein Zauber einschleichen konnte, wo doch das ganze Schloss mit Eisenbändern armiert ist und …« Dieses Mal war das Geräusch nicht mehr gedämpft. Anastasia kreischte und trompetete, und ihr entsetztes Flügelschlagen drang an ihr Ohr und die qualvollen Schreie der Schwänin, die ihnen nun mit ihrer menschlichen Stimme zurief: »So helft mir doch! Sie ermorden mich!« Etwas unbeholfen hielten sich die drei aneinander fest und stürmten voran – ein zerlumptes, aber geschlossenes Trio. Die Geschlossenheit machte sie, trotz des Schildes, verletzbar, ein Nachteil, den sie erst erkannten, als Anastasia noch einmal war nend quakte. Sie saß auf dem höchsten Punkt des Brunnens und schlug mit den Flügeln wütend um sich. Stachlige Kreaturen mit Schlangen armen umgaben das Becken, und im Wasser brodelten die Un sichtbaren. »Jack! Karola! Macht, dass ihr fortkommt, meine Freunde! Sie haben Madame Rostie geholt, und ich bin so gut wie erledigt! Rettet euch! Die Tür! Die Tür!« Ganz plötzlich wurde sie von unsichtbaren Gestalten verdeckt. Jack versuchte, ihrem Rat zu folgen, dabei vergaß er vollständig den Fluch des Gästekorridors und warf sich herum. Keine Magie stand mehr zwischen ihm und der Freiheit, nur noch die mit Eisen verriegelte Tür. Er mühte sich mit dem Schloss ab und hörte dabei, wie Karola schrie und Gilles fluchte, und mit den Augen im Hinterkopf, die jeder Zigeuner hatte, der es wert war, von den Vertretern des Gesetzes verfolgt zu werden, sah er, wie sich die Ungeheuer nun von Anastasia abwandten, um sich auf seine Freunde zu stürzen. Das Schloss gab nach, und er zog die Tür mit einem Ruck auf, so dass er dann der Länge nach in den Schnee 223
fiel. Bevor er sich wieder aufrappeln konnte, stürzte sich ein Tier auf ihn, das wie ein Bär aussah, aber statt der Vordertatzen eine Krebsschere, eine fürchterliche Räude und noch ein Merkmal von einem Eber hatte. Zu allem hin war er auch noch mit Schuppen und einer Löwenmähne ausgestattet. »Willkommen in der Anarchie von Miragenia«, sagte die ehema lige Schlange mit einem Grinsen, in dem sich die vollste Zufrie denheit darüber ausdrückte, dass sie Bronwyn an der Nase herumgeführt hatte. Die Schlange war nun ein großer, dunkler Mann mit einer Hakennase und Hasenaugen. Als Schlange war er sehr viel hübscher gewesen. »So ist es schon besser«, sagte Bronwyn. »Sagen Sie mal, schicken Sie jedem Ihrer Besucher eine so hübsche Begleiterin?« »Verzeihen Sie bitte und mögen Sie ewig leben«, sagte der Mann mit dem Korb. »Darf ich Ihnen jetzt ganz offen meine Meinung sagen?« »Natürlich nicht!«, erwiderte Bronwyn. Aber der Mann wusste Bescheid über ihren Fluch, was auch nicht anders zu erwarten war, da er, wie Bronwyn in der Zwischenzeit ziemlich sicher wusste, einer der Männer war, die dafür verantwortlich waren. »Danke«, sagte er. »Sie sollen denn wissen, dass wir Ihnen, auch wenn Sie nicht von so edler Herkunft, hohem Wuchs und atemberaubender Schönheit wären, einen Begleiter geschickt hätten, um Sie hierherzubegleiten. Denn nicht nur wir haben Sie mit einem Fluch versehen, sondern Sie haben uns gleichermaßen mit einem versehen.« »Ich?«, fragte Bronwyn, die entzückt war von der Idee, dass sie jemand anderen verflucht haben sollte. »Nun ja, es stimmt, ich habe diese geheimen Kräfte …« Mirza, der Schlangenmann, verneigte sich wieder und ergriff das Wort: »Ehrwürdige Dame, mein Onkel meinte eigentlich nur, dass Sie für uns einen Fluch darstellen, insofern als Sie eine unzu friedene Kundin sind …« 224
Sein Onkel gab ihm eine Ohrfeige, die er ganz allgemein in die Richtung der tieferen Bandagenwülste von seines Neffen Kopf putz abzielte. »Dummkopf! Es ist nicht deine Aufgabe, unserem Gast das zu erklären, was ich sage. Hast du ein so kurzes Ge dächtnis, dass du schon ganz vergessen hast, dass nicht sie die Kundin ist? Sie ist vielmehr …« Er machte eine Pause, während der er an seinem schütteren Bart zupfte, weil er nicht wusste, wie er sich ausdrücken sollte. Dann spreizte er die Hände nach außen – es war eine Geste, mit der er Bronwyn darum ersuchte, sich ins Unvermeidliche zu schicken, und fügte hinzu: »Mein liebes Fräu lein, Sie sind gewissermaßen mangelhafte Ware, die man zurück geschickt hat. Wir hier, bei Mukbar, Maschkent & Mirza – Magi sche Artikel GmbH sind stolz auf unseren althergebrachten guten Ruf, und die einwandfreie Qualität unserer Arbeit wird selbstver ständlich garantiert. Nur so war es uns überhaupt möglich, unsere Tätigkeit fünfzehn Jahrhunderte lang erfolgreich auszuüben. Wenn Sie es vorgezogen hätten, zu einem dieser gaunerhaften Lieferanten von miserabler Ware zu gehen, die es unglücklicher weise in dieser, unserer ehrwürdigen Anarchie ebenfalls gibt, dann wären wir untröstlich gewesen, denn wir wollten Ihnen bei Ihrem Problem ganz persönlich zu Diensten sein und dergestalt für unser Produkt geradestehen. Deswegen hat Mirza seine alter native Gestalt angenommen und dich auf diese Weise mit einer Begleiterin versehen, die dich bezaubert und dir die Zeit vertrie ben hat, während sie dich sicher an diesen unehrenhaften Händ lern vorbeigeleitete, die wertloses Zeug verkaufen.« »Verstehen Sie nun, gnädiges Fräulein?«, fragte Mirza. »Voll und ganz«, erwiderte Bronwyn. »Ich nehme an, dass Sie mich nun zurückschicken werden, damit ich eine neue Ausrüstung bekomme oder wie auch immer man mit fehlerhafter Ware verfah ren mag? Vielleicht können Sie mich auch für einen Wechselbalg austauschen und meine Eltern würden nicht mal den Unterschied merken.« »Ihre Hoheit belieben zu scherzen«, sagte der alte Mann. »Wie Sie selbst sehr wohl wissen, ist dieser unbedeutende Fluch ihr 225
einziger Makel. Ein alter Kunde hat ihn vor Jahren meinem unfä higen Neffen abgekauft. Der Fehler liegt nicht bei Ihnen, sondern ist im Fluch selber begründet. Als ihn dieser Dummkopf geschaf fen hatte, vergaß er, dem Zauber die genauen Angaben bei zugeben, wie man ihn wieder aufheben konnte. Wie jeder, der sich auf Kartenspielertricks versteht, weiß, ist dieser Gegenzauber in der Struktur des Hauptzaubers bereits enthalten. Die Mehrzahl der magischen Artikel kann man nur dreimal benutzen, das gleiche gilt für die Dienste eines guten Dämons. Andere Zauber kehren durch einen Kuss zurück oder beim Schlag der Geisterstunde oder während der Dunkelheit oder bei Vollmond. Es ist wichtig, dass man diese Klauseln hat«, sagte der alte Mann und blickte dabei ostentativ zu Mirza hinüber, der alles versuchte, um beschämt dreinzusehen. »Sonst wird die Kraft auf unabsehbare Zeit hinaus durch veraltete Zauber vermindert. Für die Produzenten von Ma gie ist das Auslassen der Formel ein Verbrechen und ein schwerer kommerzieller Fehler, der die Langlebigkeit und Dauerhaftigkeit des Zaubers erheblich herabsetzt. Sie müssen verstehen, wir sind ein reelles Unternehmen, das mit sauberen kommerziellen Metho den arbeitet, sonst würden wir das vor Ihnen gar nicht zugeben.« »Freut mich zu hören«, sagte sie trocken, was ihr überhaupt nicht schwerfiel, weil sie so durstig war, dass sich ihre Zunge wie ein Kissen anfühlte, das mit Stroh gefüllt war. »Natürlich sind wir bereit, alles in unseren Kräften Stehende zu tun, um die Sache wieder zu bereinigen«, sagte Mirza. »Bitte, bemühen Sie sich nicht«, sagte sie, obwohl sie sie eigent lich furchtbar gerne gefragt hätte, was sie eigentlich meinten. »Wir sind bereit, alles in unseren Kräften Stehende zu tun.« Was mochten sie bloß damit meinen? Konnten sie den Fluch, wenn sie ihn zunächst nicht richtig gemacht hatten, wieder zurücknehmen und reparieren? Aber irgendwie ging das aus Mirzas Ton nicht hervor. Was dann? Vielleicht wäre sie am Ende wieder genauso schlau wie am Anfang und hätte die Gefahren der Wüste und die Blasen, die durch die Siebenmeilenstiefel verursacht wurden, nur auf sich genommen, um wieder als Lügnerin nach Hause zu ge 226
hen? Das konnten sie ihr doch nicht antun! Nein, das durfte ein fach nicht wahr sein. Sie wollte ihnen die Fragen stellen, die ihr auf der Zunge brannten, aber sie hatten sie zu gründlich verflucht. »Macht euch um mich keine Gedanken«, sagte sie tapfer, »ihr braucht euch meinetwegen zu nichts verpflichtet zu fühlen, und macht euch keine Sorgen wegen eures Rufs, ich würde nie etwas sagen!« Sie würde es natürlich doch tun, aber keiner würde ihr glauben – sie wusste, dass sie der Versuchung nicht widerstehen konnte, den Leuten etwas vom jonglierenden Affen, der sprechenden Schlange und den missgestalteten Dromedaren zu erzählen, aber sie wusste auch schon im vorhinein, dass sie jeder wegen dieser unglaub würdigen Geschichten auslachen würde. Sie würde nicht einmal mit Jack und Karola darüber sprechen, so dass sie nie erfahren würden, wie Miragenia wirklich war, mit seinem Staub und der unerträglichen Hitze, seinen Wohlgerüchen und seinen Essensge rüchen. Sie würde ihnen auch nicht sagen, wie sich dort alle Ge räusche miteinander vermischten, bis sie einem nur noch in den Ohren dröhnten, und wie vor den Augen alle Farben zu einem Farbfleck verschwammen, bis einem der Hals anschwoll an der Wurzel der Zunge und einen heißen und säuerlichen Geschmack zurückließ, und sie würde ihnen vor allem nichts über den für Miragenia so bezeichnenden Zauber sagen, bei dem die Welt anfing herumzuwirbeln, und der Boden emporstieg, um … »Fang sie doch auf, du Sohn einer Eselin!« schrie der Onkel und machte einen Satz nach vorn, als Bronwyn zu Boden stürzte. »Sie würde mich sicherlich zerquetschen, wenn ich das versu chen würde«, wandte der Neffe ein, der auch tatsächlich zu spät kam, denn die Prinzessin lag bereits friedlich zu ihren Füßen, als ob sie in ihrem Bett schlafen würde. »Bewusstlose Riesinnen auf der Schwelle sind dem Geschäft abträglich«, sagte der Onkel. »Sollte sie sterben, dann wäre dies ein möglicher Ausweg aus unserem Dilemma«, meinte Mirza ungerührt. Natürlich wäre ihm 227
nicht im Traum eingefallen, dem Mädchen etwas zuleide zu tun, aber wenn sie geruht hätte, auf eine natürliche Weise in ein vor nehmes Nicht-Vorhandensein hinüberzuwechseln, statt ihnen weitere Schwierigkeiten zu bereiten, dann hätten alle davon profi tiert. Andererseits war sie natürlich ein nettes Mädchen, das ein mal zu einer Frau heranreifen würde, um deren Besitz man seinen ganzen Harem versetzen würde. Die ganze Nacht über hatten sie beobachten können, wie heiß der Sand war, der hinter ihr aufge wirbelt wurde, als sie ihnen im Schlaf entgegenmarschierte – sogar im Schlaf –, und davon ganz abgesehen waren ihre Lügen ganz entzückend und unterhaltsam. Wenn sie nicht geheilt wer den konnte, sollte sie sich vielleicht überlegen, ob sie nicht lieber Händlerin werden sollte? In ihrer derzeitigen Verfassung hätte sie sich ganz vorzüglich dazu geeignet. »Ist es nicht merkwürdig«, fragte er seinen Onkel, »dass ein Mädchen aus vornehmem Geschlecht ohne Begleitung und für die Schlacht ausgerüstet so weit reist? Ist dies in ihrem Lande Brauch?« Onkel Maschkent schüttelte den Kopf und ging vom einen Ende des Mädchens zum anderen, als ob er sich überlegte, wie er sie hochheben sollte, ohne sich einen Bruch zuzuziehen. »Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass sie so reist, um sich vor denen zu schützen, die ihr möglicherweise nach dem Leben trachten, nur weil sie verflucht ist, und wahrscheinlich auch deswegen, weil sie aus einem alten Kriegergeschlecht stammt. Wie hat sie sich da mals gegenüber den Einheimischen genannt, als wir sie zum ersten Mal bei ihrer Landung in Suleskeria beobachtet haben? Wind...« »Walkie«, sagte Mirza. »Sie sagte, sie sei Walkie die Kriegerin. Aber dies war nicht der Name, den ich dem Kobold mitgegeben habe, als ich ihn in die Zauberschachtel hineingehext habe.« »Da gab es noch ein paar wichtige Dinge, die du vergessen hast, dem Kobold mitzugeben. Bei dir wundert einen ja gar nichts, wenn du dich nicht einmal mehr an den richtigen Namen der Prinzessin Bronwyn Eberesch erinnern kannst, nachdem du wahr 228
scheinlich deinen Beitrag zu dem geleistet hast, was schließlich ihr Ruin sein wird, wie kannst du es dann von deinem Schützling erwarten? Walkie ist offensichtlich eine Verkleinerungsform, ein Spitzname. Und nun hör endlich auf, mich mit deiner Unwissen heit zur Raserei zu bringen. Hilf mir lieber, die Prinzessin auf den Webteppich zu legen, damit wir sie endlich aus dieser Sonnenhit ze herausnehmen!« »Ja«, stimmte ihm Mirza seufzend zu, als er Bronwyn auf die Seite zog, während Onkel Maschkent den Teppich so weit unter ihren schlaffen Körper schob wie nur irgend möglich. Da man bewusstlose Damen gewöhnlich auf diese Weise in Teppichen verfrachtete, musste Mirza auch sein Gehirn nicht besonders anstrengen, als er seinem Onkel dabei half, nur wegen der Größe der Dame war es ein bisschen schwieriger als sonst, sie auf den Teppich hinaufzuhieven. »Ja, ich fürchte, es ist viel zu heiß für unsere kleine Walkie. Vielleicht möchte unser Goldschatz ein Stück Kuchen mit Sesam-Samen und eine Portion Fruchteis an unserem Teich …« Sein Onkel ließ die Füße des Mädchens los und sah ihn erstaunt an. »Was hast du gesagt, Unfähiger?« »Ich habe mich nur zu der heutigen Hitze geäußert und gemeint, dass vielleicht Erfrischungen …« »Nein, du hast ›heiß‹, ›Wind‹ und ›Samen‹ gesagt. – Sehr be deutungsvolle Worte – sehr gewaltig. Ach ja, es heißt ja, dass die wahre Weisheit aus dem Munde der Einfältigen stammt, und nun glaube ich es auch selbst, obwohl mir auch bewusst ist, dass wir die Prinzessin nur aus einem rein spekulativen Grund etwas länger besänftigt haben, als es sonst bei uns üblich ist. Sie ist die Richti ge! Sie ist endlich gekommen! Unser Profit ist uns sicher!« »Was …?« fragte Mirza verblüfft, aber sein Onkel bedeutete ihm ungeduldig, den Teppich am Kopfende zu packen und glatt zuziehen, was er auch tat. Dann trugen sie den Teppich mit dem ohnmächtigen Mädchen in den Laden hinein, wo er einige Kup fertöpfe umstieß und einen Stoffballen mit Material für die Mäntel der Dunkelheit abwickelte. Mirza, der voranging, öffnete die Tür 229
zur Wohnung seines Onkels. Von dem dämmrigen, überfüllten Laden gelangten sie nun in einen Hof, der voller Vögel und Blu men war und in dem sich ein klarer, stiller Teich befand mit Was ser, das die Farbe von feinsten Türkisen hatte. Mit einer Ehrerbie tung, die er sonst nur für Geld übrig hatte, gebot Onkel Maschkent dem Teppich, sich mit seiner Last auf dem Boden niederzulassen. Dann sah er seinen Neffen mit einem zufriedenen Lächeln an und fragte ihn: »Hör mal, Dummkopf, sagen dir diese Worte denn wirklich nichts? ›Wenn die heißen Winde des Krieges über die Wüste fegen und die Samenkörner der Entzauberung fortblasen, dann wird in Maschkents Zelt der Wohlstand einkehren. ‹« »Onkel, du hast wieder ein Orakel benutzt!«, schimpfte Mirza mit dem alten Mann und drohte ihm über die ohnmächtige Bron wyn hinweg mit dem Finger. »Du weißt doch, dass dies ein Ver fahren ist, bei dem nur sie Profit machen und nicht wir.« »Nicht in diesem Fall, mein Junge«, erwiderte Maschkent und schlug gebieterisch die Hände zusammen. Ein Handlanger kam angerannt und verbeugte sich mit der vorgeschriebenen Unterwür figkeit – genauer gesagt, eine Unterwürfigkeit, die zehn Goldstük ke im Jahr wert war. Für fünfzehn konnte man einen Handlanger bekommen, der einen richtigen Kniefall bei jeder Bewegung machte, aber Maschkent betrachtete dies als Geldverschwendung. »Belebe die Dame wieder und unterhalte sie dann!« »Sie unterhalten, großer Herr? Woran – äh – hat sie denn Freu de?« »Wie soll ich das wissen? Wir haben uns jetzt erst kennenge lernt. Aber sie ist eine berühmte Persönlichkeit. Zeig ihr meine Nachtigallen, zeig ihr den – zeig ihr den Teich. Ja, genau. Lass sie sich ein Bild vom Teich aussuchen und setz es auf ihre Rechnung. Vielleicht erfahren wir auf diese Weise ihren Preis.« »Ihren Preis?«, fragte Mirza erstaunt. »Aber Onkel, hast du nicht gerade gesagt, dass wir ihr ein Heilmittel geben müssen? Was soll nun plötzlich dieses Gerede vom ›Preis‹ ?« 230
»Komm jetzt«, sagte Maschkent zu seinem Neffen und lächelte dabei geheimnisvoll in seinen Bart hinein.
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IX
»Schön, dass ihr gekommen seid«, sagte Docho Dürrheim, als die drei neuen Gefangenen ziemlich unsanft in der Höhle unter Prinz Leofrigs privater Badewanne abgeladen wurden. »Wahrscheinlich wundert ihr euch darüber, warum ich euch alle hierherkommen ließ …« »Bitte ersparen Sie uns die rhetorischen Floskeln, Herzog«, sag te Rostie. Sie saß – offensichtlich unversehrt – mit dem Rücken gegen eine Wand gelehnt, hinter der sich ein Fluss befinden muss te und von der Wasser herabtropfte. »Ja, ich habe mich sehr gewundert, Euer Gnaden«, gab Jack auf richtig zu. Er musste sich ständig über etwas wundern, wie zum Beispiel darüber, dass man in vermeintlich monstersicheren Schlössern mitten in der Nacht von Monstern angegriffen wurde. »Das dachte ich mir nämlich. Ich habe euch herbringen lassen, um euch ein einzigartiges Geschäftsangebot zu machen.« Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und versuchte, auf dem aufgeweichten Boden der Höhle auf und ab zu gehen. Zwei Fak keln, die in dem rissigen Glimmergestein steckten, warfen ihr Licht auf ein kleines Rinnsal, das von der einen Wand herabfloss. Es wurde gespeist von den Wasserfällen, die – was ihre Größe anbetraf – vom Bächlein bis zum Strom reichten und über die Wände hinabeilten wie Leute, die zu einer Versammlung hasteten. Herzog Dürrheim blickte so finster drein, wie es der Situation angemessen war; durch die Beleuchtung von unten sah sein Ge sicht viel länger aus, so dass seine gewölbte Stirn einen Schatten auf die Augen warf, die, abgesehen von einem gelegentlichen Aufblitzen eines reflektierten Lichtstrahls, nicht zu sehen waren. Die Monster hielten sich in respektvoller Entfernung von den Fackeln und murrten und fauchten sich während Dochos Anspra che feindselig an. Eigenartigerweise schienen sie vor ihm Angst zu haben.
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»Ein günstiges Geschäftsangebot? Ist das etwa der neue Deck name, unter dem man andere unrechtmäßig gefangen nehmen kann, Euer Gnaden?«, fragte Graf Kilgilles. Man hatte ihm zwar sein Schwert abgenommen, aber Jack bemerkte, dass der Graf den Schild immer noch hatte, der jetzt an seinem Schienbein lehnte, aber zu tief in den Schatten versteckt war, als dass jemand hätte erkennen können, um was es sich handelte. »Ihr Suleskerianer müsst doch immer gleich voreilige Schlüsse ziehen«, fuhr ihn der Herzog an. »Ich wollte das eigentlich erst ganz am Schluss mit euch besprechen. Schließlich habt ihr euch ja dafür entschieden, eure Zimmer zu verlassen und im Schloss herumzuwandern, trotz des Abschreckungszaubers, mit dem ich die Gänge und die Eingänge zu den Schlafzimmern kontrollieren wollte, um Störfälle zu verhindern. Wie habt ihr es eigentlich geschafft, meinen Bann zu umgehen?« Karola gab sich große Mühe, nicht auf den Schild zu blicken, den sie offenbar auch bemerkt hatte. »Ich habe den Bann mit einem meiner eigenen Zauber gebrochen. Wir haben Geräusche gehört und …« »Hmmm. Das nächste Mal muss ich daran denken, auch den Mantel des Schweigens mitzubringen. Danke, gnädiges Fräulein, du hast mir bereits bewiesen, dass mein Instinkt, dich unangetastet zu lassen, richtig war, obwohl die Freifrau Belburga gegenteiliger Meinung war.« »Mutter!«, fauchte Rostie. »Also steckt sie wieder hinter all dem!« »Nein, nein, gnädige Frau, weit gefehlt! Das ist zwar, was sie meint, dass sie nämlich dahintersteckt, aber was sie meint, ist ohnehin belanglos. Sie ist nur ein ganz kleiner Teil im Plan wie Sie, gnädige Frau, und wie Prinz Leofrig. Sehen Sie, nach einer langen und erfolgreichen Laufbahn als Söldner im Dienst ver schiedener Herren bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich meine Perlen vor die Säue werfe, wenn ich für andere arbeite. Ich habe also beschlossen auszusteigen und meine Talente so zu nutzen, dass sie meinem eigenen Unternehmen zugute kommen. 233
Schließlich bin ich ja der Enkel eines miragenischen Djinns und bilde mir wahrscheinlich nicht nur ein, dass ich die typisch mira genische Geschäftstüchtigkeit und Befähigung zum Herrschen von ihm geerbt habe.« »Haben Sie etwa von dort auch den Zauber her?«, fragte Mada me Himbeere. »Ich meine, von Miragenia?« »Ursprünglich, ja. Im Verlauf meiner Dienste für die frosting dungianischen Prinzen hat man mir dann allerdings eine Arbeit auferlegt, die mich bedauerlicherweise von meinen miragenischen Geschäftsverbindungen entfremdet hat, aber glücklicherweise verfüge ich noch über einen bescheidenen Warenvorrat, den ich im Handel mit diesem bemerkenswerten Land vor dem Auseinan dergehen unserer Interessen erworben habe. Aber nun genug von mir. Sicher seid ihr schon gespannt darauf, welche Rolle in die sem bahnbrechenden Projekt euch zuteil wird.« »Ja, wir bitten Sie inständigst darum«, erwiderte Madame Him beere, »wir – verzeihen Sie mir den Ausdruck –, aber wir verzeh ren uns förmlich danach!« »Aber Sie haben doch von mir nichts zu befürchten, mein Schatz!«, sagte der Herzog lächelnd. »Es wird Ihnen nichts ge schehen, es sei denn, Sie erweisen sich als unvernünftig, und ich bin überzeugt davon, dass Sie – als Belburgas Tochter – viel zu klug dazu sind! Natürlich könnt ihr eure Arbeit erst beginnen, wenn die Vorbereitungen getroffen worden sind. Wenn Leofwin am Leben und an der Macht bleibt, kann ich es mir nicht leisten, dass ihr vor ihm auspackt und mich verratet – was ihr natürlich tun würdet. Ich an eurer Stelle würde nämlich das gleiche tun. Aber morgen in der Nacht – nein, ich glaube, es ist schon heute!« Er faltete vergnügt die Hände. »Das ist ja schon so bald! Also, wie gesagt, heute Nacht, wenn meine Diener den König und seine Jagdgesellschaft vor den Toren des Schlosses umgebracht haben, werde ich Leofrig auf den Thron heben mit mir als seinem Haupt berater – wenigstens vorläufig. Dann wird es in unserem beider seitigen Interesse sein, wenn wir in Zukunft zusammenarbeiten.
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Bis zu diesem Zeitpunkt, fürchte ich, seid ihr nicht wirklich Ge fangene, sondern unter Arrest.« »Riskierst du nicht eine ganze Menge, wenn du uns dies alles im vorhinein verrätst?«, fragte Graf Kilgilles. »Was wäre denn, wenn wir durchbrennen würden und deinen Plan Leofwin unterbreite ten?« »In ein oder zwei Stunden wird dies unmöglich sein, da Leof win, seine persönliche Leibgarde und die Wildhüter dann zu einer fröhlichen Jagd weit außerhalb der Grenzen dieses Palastes aus schwärmen werden. Warum solltet ihr auch den Wunsch haben, mich zu verraten? Ihr drei«, sagte er und deutete dabei auf Jack, Rostie und Karola, »seid als Argonier nicht unmittelbar in unsere politischen Auseinandersetzungen verwickelt. Während ich ver stehen kann, dass Sie, gnädige Frau«, sagte er und nickte Rostie zu, »persönliche Gefühle mit der Kaiserin verbinden, kann ich Ihnen aber versichern, dass sowohl Sie wie auch Ihre Mutter nichts zu befürchten haben, außer, dass die Kaiserin durch die entzückende Prinzessin Esmeralda Tausendschön ersetzt wird. Ich glaube, dass sich für euch persönlich durch den Umsturz kaum etwas ändern wird. Was dich anbetrifft, Graf Kilgilles, so hättest du, wenn die Gerüchte über dich wahr sind, und ich wüsste nicht, warum sie das nicht sein sollten, allen Grund, um Leofwin zu verachten und müsstest eigentlich wünschen, mir dabei zu helfen, ein neues Regime einzusetzen und mit Hilfe deiner ausländischen Kollegen dafür sorgen, dass auch innerhalb unserer Grenzen die Magie wieder einen Aufschwung nehmen kann.« »Mit Verlaub, Ihro Eleganz«, sagte Jack ehrerbietig, »aber unter uns Männern von Welt müsste ich natürlich auch wissen, was dabei herausspringt, wenn ich Ihnen helfe?« »Ich wusste ja, dass du mich verstehen würdest und dass ich auf dich zählen könnte, mein Junge, vom ersten Augenblick an, als ich dich dabei überrascht habe, wie du vor dem Badezimmer auf der Lauer gelegen bist. Deine Artgenossen sind für ihren Scharf sinn bekannt. Wusstest du eigentlich schon, dass einige Leute
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meinen, dass die Zigeuner nur ein Nomadenstamm der Miragenier sind?« »Ich fühle mich außerordentlich geschmeichelt«, sagte Jack und zupfte bescheiden an seiner Stirnlocke. »Aber ich hätte doch gerne etwas über die Entlohnung erfahren.« »Natürlich werdet ihr alle irgendwelche Titel bekommen«, er widerte der Herzog, »und Ländereien – und was die Damen anbe trifft, so wird dafür gesorgt werden, dass sie eine gute Partie machen. Überdies werdet ihr die optimalsten Bedingungen zur Ausübung der jeweiligen Versionen des Zauberhandwerks vorfin den, so dass ihr Neuerungen einführt, die sich besonders gut für das frostingdungianische Imperium eignen.« »Ich wäre gerne ein Graf«, sagte Jack. »Das ist nämlich mein Lieblingstitel.« »Abgemacht«, sagte der Herzog. »Sobald du ihn dir verdient hast. Nun, dann denke ich doch, dass wir uns einig sind? Meine Verbündeten hier werden euch Gesellschaft leisten. Tut mir leid, dass ich euch kein Licht gewähren kann, aber wie ihr seht, mögen sie es nicht, und ihr versteht schon, bis ich Leofwin besiegt habe …« »Völlig«, erwiderte Madame Himbeere. »Ich habe noch eine Frage«, sagte Karola mit verkniffenen Lip pen. »Die Prinzessin Anastasia – was habt ihr mit ihr gemacht?« »Die Prinzessin – ach so, du meinst den Schwan. Ich habe gar nichts mit ihr gemacht, aber ich glaube, dass man sie in der Zwi schenzeit wahrscheinlich aufgehängt hat, damit ihr Fleisch seinen Geschmack bis zum Festbankett, das übermorgen anlässlich des Sieges stattfinden wird, voll entfaltet. Ich habe den Monsterbraten langsam satt, ihr nicht auch?« Bronwyn kam langsam wieder zu Bewusstsein, ein Bewusstsein voll silbernen Geklingels und einer kühlenden Feuchtigkeit an ihrer Stirn und über ihren Augen; ein Bewusstsein, geschwängert von den balsamischen Düften der Blumen und ein Bewusstsein 236
schließlich, in dem ihr eine kühle und köstlich süß schmeckende Flüssigkeit in den Mund tropfte. Sie richtete sich auf, und das seidene Handtuch, das in einen hellen Wein getunkt worden war, glitt von ihrer Stirn, aber wurde von einem großen, dunkelhäuti gen Mann mit pechschwarzen Augen, einer Glatze und goldenen Ohrringen geschickt wieder aufgefangen. Er hatte nur scharlach rote Pluderhosen an, die unten im Nebel endeten, das Schuhwerk, das die meisten Miragenier zu bevorzugen schienen, die Bronwyn bis jetzt gesehen hatte. Nachdem er das Handtuch aufgefangen hatte, verbeugte er sich dreimal und sagte: »Ah, fürwahr ein gro ßes Geschäft, Sie wieder geheilt zu sehen, erhabene Dame! Will kommen in der schäbigen und von Hunden verkackten Hütte meines Herrn!« Er deutete dabei auf die üppigen Gärten, die plätschernden Brunnen mit wohlriechendem, vielfarbigem Was ser, die leuchtenden Pfauen, die umherstolzierten und vor sich hin meckerten, auf die Mosaike auf den Wegen und entlang den Wän den, deren komplizierte Muster aus blauen, grauen und grünen Kacheln in den verschiedensten Farbtönen bestanden, die von goldenem Flechtwerk durchbrochen waren. »Hätten Sie vielleicht Lust, einen faden Bissen vom Tisch meines Herrn zu kosten?« »Ich weiß nicht, ob ich noch einen Bissen hinunterbringen wür de«, sagte Bronwyn, der es bei dem bloßen Gedanken wieder das Wasser im ausgetrockneten Mund zusammenzog. »Aber, wetten dass?« »Aha! Sie weisen minderwertige Ware zurück! Ein ganz vor züglicher Charakterzug bei einer im Ausland geborenen Dame!« Er klatschte in die Hand, und vier wunderschöne Mädchen, die so leicht geschürzt waren, dass die Meerjungfern daneben beinahe prüde erschienen, kamen aus dem Haus herausgetrippelt. Auf den Händen trugen sie seidene Kissen, Tabletts mit gezuckerten Früchten und Kuchen und einen Krug mit einer pastellfarbenen Flüssigkeit, nach dem Bronwyn sofort griff. Ungefähr zwei Herz schläge lang überlegte sie sich, ob sie ihre Chancen verspielte, aus der Stadt wieder herauszukommen, wenn sie hier etwas aß. Sie hatte von Leuten gehört, die ihre Elfenverwandten im eigenen 237
Land oder in der Unterwelt, wo auch immer das war, besuchten und nicht zurückkehren konnten, nachdem sie einmal etwas zu essen angenommen hatten. Als sie die saftigen Häppchen ansah und ihren köstlichen Geruch einatmete, kam sie zu dem Schluss, dass es ihr nichts ausmachte. Wenn sie jemand daran hindern würde, dann würde sie sich den Weg nach draußen erkämpfen. Im Nu hatte sie vier Servierplatten leergegessen, sank dann befriedigt in die Kissen zurück und ließ den Blick gen Himmel schweifen, während ihr zwei der Dienerinnen kühle Luft zufächelten. »Dies ist ja wirklich ein erbärmlicher Schuppen, nicht wahr?«, fragte sie den Djinn-Diener. »Ich verstehe wirklich nicht, wie du’s hier aushältst – was ist denn das?«, fragte sie und deutete auf eine Kreatur, die über ihnen elegant durch die Luft flog. »Wie sieht es denn Ihrer Meinung nach aus, Hochwohlgebore ne?«, fragte der Diener. »Das könnte ich ganz gewiss nicht sagen«, erwiderte sie hoch mütig. Es war offensichtlich der schönste Hengst, den sie jemals gesehen hatte. Er war so golden wie die Sonne und wurde von zwei gefiederten Schwingen getragen, von denen jede ein biss chen länger war als der Körper des Tieres. »Ich möchte Sie ja wirklich nicht beleidigen, aber das Geschöpf ist in seiner gegenwärtigen Gestalt ein fliegendes Pferd, das einer Rasse entstammt, die es nur in unserer gesegneten Anarchie gibt, die ein Born großer Wunder und großen Profits für viele unserer Bewohner ist, meinen Herrn mit eingeschlossen. Wenn Ihnen aber ein anderes Tier lieber wäre, kann ich veranlassen, dass …« »Lass es gut sein«, sagte Bronwyn schnell. »Aber Sie müssen mich etwas tun lassen, das Ihnen Spaß macht – mein Herr hat mir befohlen, Sie zu unterhalten. Wie wär’s denn mit dem Teich?« »Ich brauche kein Bad«, sagte Bronwyn. Obwohl sie wirklich eines gebraucht hätte, und so blickte sie nur sehnsüchtig nach dem klaren Wasser und hoffte, dass er auf seinem Angebot beharren würde. Wenn ihr zehn von diesen Mädchen jeweils ein Reserve 238
gewand leihen würden, dann könnte sie mit den verschiedenen Teilen vielleicht eine Veränderung ihrer äußeren Erscheinung vornehmen, ohne aus dem Rahmen zu fallen. »Sie verstehen mich falsch, Verehrteste. Der Teich vermag Ih nen in lebensechten Farben und Stereoton jede x-beliebige Person in der Zeit zu zeigen, in der sie sie sehen wollen. In diesem Teich haben Sie meine Herren kommen sehen. Für eine sehr kleine Summe können Sie dieses Wunder mit eigenen Augen erleben, und selbst wenn Sie das Doppelte bezahlen müssten, wäre es immer noch sehr preiswert.« Sie wollte ihm sagen, dass sie sich das Wunder wahrscheinlich auch dann nicht hätte leisten können, wenn es so gut wie nichts gekostet hätte, aber ihr Fluch erlaubte ihr nicht, so ehrlich zu sein, was ihr ebenso recht war. Sie blickte sehnsüchtig zum Teich hinüber. Es wäre wirklich ganz phantastisch, wenn sie erfahren würde, wie es ihrem Vater im Krieg erging. Wahrscheinlich hatte er die Ablemarlonier bereits nach Hause geschickt, damit sie sich von ihrer Niederlage wieder erholen konnten. Aber sie hätte gerne die Entscheidungsschlacht gesehen, auch wenn sie nicht wirklich daran teilnehmen und ihrem Vater zeigen konnte, was für eine unerschrockene Kämpferin sie war. Wenn der Krieg schon ge wonnen war, dann brauchte sie die Frostingdungianer schon nicht mehr anzuwerben, was Bronwyn wirklich begrüßt hätte, weil sie keinem von ihnen traute. Aber ihre wehmütigen Überlegungen hatten bereits die Magie des Teiches in Gang gesetzt, und als sich die spiegelnde Fläche zuerst kräuselte und dann wieder beruhigte, begann sich ein Bild aufzubauen. Sie warf einen schuldbewussten Blick zum Diener hinüber, aber er nickte ihr zu, indem er wohlwollend lächelte und dem Teich mit erhobenem Finger drohte. »Sie können der Sache unbesorgt frönen, liebes Fräulein«, sagte er, »mein Herr hat eine besondere Abmachung getroffen, ein noch nie dagewesenes Einführungsan gebot für die Waren seiner Firma. Ihre Kreditwürdigkeit muss ja ganz vorzüglich sein.« 239
Sie brauchte keinen weiteren Ansporn mehr. Von dem Lärm, der aus dem Teich aufstieg, und den Lichtblitzen, die über seine Oberfläche schossen, wusste Bronwyn, bevor sie überhaupt erst richtig hinsah, dass der Krieg noch nicht vorbei war. Wie schön, dass sie sowohl hören wie auch sehen konnte, was dort passierte. Zweifellos würde einer der Krieger bald sagen: »Wenn wir jetzt doch nur die Prinzessin Bronwyn hier hätten, dann wäre der Kampf gewonnen!« Aber weder ihr Vater noch irgendeiner der Krieger, die von den argonischen Streitkräften noch übrig waren, sprachen über sie. Sie kämpften nicht einmal mehr. Statt dessen schienen sie sich dazu entschlossen zu haben, bei einem Gewitter schwimmen zu gehen. Ihr Vater klammerte sich an einen Holzstamm, der sich völlig unberechenbar in den tosen den Fluten auf und ab bewegte. Des Königs Augen waren blutun terlaufen, über sein Gesicht ergoss sich das Wasser in Strömen, sein Haar und der Bart klebten am Schädel. Die gesunde Gesichts farbe, die er sonst immer hatte, war einer Leichenblässe gewichen. Seine Brust hob und senkte sich, als er sich krümmte und mit den Füßen kickte, um das kleine Stück Holz, an dem er hing, zur Steuerbordseite des Schiffes hinzulenken. Dort kämpfte ein Gene ral, den Bronwyn sofort erkannte, ohne Erfolg gegen die Wellen. Um ihn herum versuchten andere Männer auf behelfsmäßigen Flößen sich und ihre ertrinkenden Kameraden zu retten. Ihr Vater hörte auf zu strampeln, richtete sein Gesicht himmelwärts und brüllte etwas hinauf. Zuerst dachte sie, dass er von etwas gepackt worden wäre, aber als er dann wieder weiterstrampelte, kam sie zu dem Schluss, dass er irgendwelche Befehle gebrüllt haben musste. Sie konnte ihn wegen der Donnerschläge nicht verstehen, die jenseits des Teichs explodierten und die jedes Mal eine Bildstö rung hervorriefen. Nach jedem Donnerschlag zuckte ein Blitz über den Himmel, der immer aus der gleichen Richtung kam und die schwarzen Fluten und brodelnden Wolken ausleuchtete. Als wieder einmal ein Blitz die Szene erhellte, sah sie die Overstolz, ein prächtiges Schlachtschiff, das ihre Mutter noch getauft hatte, kurz bevor es 240
vom Stapel lief. Im Feuerschein des Blitzes konnte Bronwyn das Schiff für einen Augenblick in seiner ganzen Pracht sehen, und sie fragte sich, warum bei einem solch entsetzlichen Unwetter nicht die Segel eingeholt worden waren. Dann schlug der Blitz plötzlich in den Hauptmast ein und verwandelte das Hauptsegel im Nu in ein Feuersegel. Nach wenigen Sekunden versank das Schiff im Meer. Bronwyn war schon so weit, dass sie beinahe in den Teich ge sprungen wäre, um zu helfen, als drei Lichtstreifen auf der dem Quell der Blitze entgegengesetzten Seite des Teichs auftauchten und die Königlich Argonische Luftwaffe mit den Drachen Grimmut, Griselda und Grippledize in Sicht kamen. Als sie auf den Schauplatz des ungleichen Kampfes herabstießen, wogten die Schuppen an ihren Panzern wie kleine Banner. Plötzlich erloschen ihre Flammen, und Bronwyn hätte beinahe laut aufgeschrieen, aber der nächste Blitzstrahl zeigte, dass die Drachen unversehrt waren und dass sie freiwillig aufgehört hatten zu brennen, damit sie ihre Landsleute aus dem Wasser herausfischen konnten, ohne sie dabei zu verbrennen. Der große Grimmut mit seinen riesigen Krallen packte ihren Vater um die Mitte, und als er ihn hochhiev te, sah Bronwyn, was unter ihnen lag. Zuerst dachte sie, dass der Teich nicht richtig funktionierte und ihr zwei Bilder auf einmal zeigte. Auf der rechten Seite erblickte Bronwyn den Ort der Zerstörung, den sie schon kannte – den Untergang der argonischen Flotte und seiner gesamten Streitkräf te, Sturmwolken, Blitze, Ertrunkene und Männer, die am Ertrin ken waren und dann – eine kleine Insel, um die herum sich die Vernichtung hauptsächlich abgespielt hatte und auf die nun ein paar der schiffbrüchigen Männer zusteuerten. Aber auf der rechten Seite erblickte Bronwyn eine glitzernde Wasseroberfläche, die kaum getrübt war durch den Aufruhr, der gleich daneben stattfand und dessen geballte Wut sich in entgegengesetzter Richtung zu entladen schien. Auf dieser Seite des Bildes schien eine strahlende Sonne auf die ablemarlonische Flotte herunter. Bronwyns Vater mühte sich verzweifelt, Grimmut etwas zuzurufen, worauf der 241
Drache dann wieder seine Flamme betätigte und über den Bug eines Flaggschiffs hinwegjagte. Er kam dabei dem feindlichen Schiff so nahe wie er es wagte, trotzdem blieb er außer Reichwei te. Offensichtlich wollte es Grimmut verhindern, dass die königli che Fracht, die er in den Klauen hielt, beschädigt wurde, auch wenn er dem Befehl seines Herrn gehorchen musste. Aber sein Flug über das Schiff zeigte Bronwyn den Ursprung des unge wöhnlichen Wetters, das in der Region zu herrschen schien. Unter den Männern, die am Bug des Flaggschiffs standen, befand sich auch einer, der enge rote Hosen, bordeauxfarbene Stiefel und ein Hemd anhatte, dessen Farben von Gold bis Rose reichten. Es war mit goldfarbenen Blitzen und silberfarbenen Sturmwolken gemustert. Die Feder an seiner engsitzenden roten Kappe war goldgelb. Insgesamt hätte die Figur einen lächerlichen Eindruck auf einen gemacht, weil der Mann viel zu alt war für diese Art von jugendlichem Putz, wenn nicht der Ring mit dem enteneigroßen Rubin an seinem Finger gewesen wäre, den er nun ganz bewusst auf Grimmut und den König richtete. Ein Blitz schoss aus dem Ring hervor, der den aufsteigenden Grimmut um ein Haar getrof fen hätte und der dann auf der stürmischen Seite des Teichs zi schend ins Wasser einschlug. Ein stattlicher Mann mit einem goldenen Ring auf den dunklen Locken klopfte dem buntgekleideten Zauberer auf die Schulter. Als ob dieser auf etwas hätte stolz sein können, ausgerechnet er, der an dem Wetter herumpfuschte, das die Große Mutter Ihren Kindern in weiser Voraussicht geschickt hatte! Was war, wenn nun die Gletscher schmolzen oder die Bergpässe zu früh verei sten? Keiner in ganz Argonien hätte auch nur die geringste Chan ce! Das Wetter zu beeinflussen, war einer der miesesten Tricks, die ein Zauberer anwenden konnte, um einen Krieg zu gewinnen. Ihr Vater hätte das nie getan, auch wenn es in Argonien einen Zauberer gegeben hätte, der Wettermacher war. Es war unnatür lich und gefährlich, an etwas herumzupfuschen, das wie das Wet ter allen gehörte. 242
Der Zauberer schleuderte noch einen Blitz nach Grimmut. In seinem Licht sah sie Prinzessin Griselda und Grippeldize, die zurückgekehrt waren, um weitere Schiffbrüchige zu holen. Grimmut revanchierte sich, indem er mit seinem flammenden Odem zurückblies und dann in Richtung Insel abbog. Bevor Bronwyn sehen konnte, ob die Flamme des Drachen ihr Ziel getroffen hatte oder nicht, platschte ein anderes Geschoss in den Teich, dieses Mal mehr von oben als von drinnen, das das Bild in tausend Wasserringe zerlegte und als brauner Klumpen auf dem Grund des Teiches ankam. Bronwyn blickte nach oben, wo sie zwanzig der fliegenden Pferde in luftigem Galopp den Teich überqueren sah. Neben sich hörte sie, wie der Djinn, vermutlich in seiner Muttersprache, fluchte und den Mädchen befahl, den Teich zu reinigen. »Ich bitte Sie um Entschuldigung, Ehrenwerteste, aber solche Schweinereien sind die Folge davon, wenn man sich fliegendes Vieh hält.« Aber Bronwyn hörte ihm gar nicht zu. Das Bild im Teich war doch sicher nur ein Trick. Es war falsch. Es konnte doch nicht wahr sein, dass ihr Vater verlor – er war der beste Krieger der Welt und der schönste, tapferste, stärkste und klügste König! Gegen solch einen vorzüglichen Mann konnte doch nicht einer aufkommen, der so tief gesunken war, dass er Wettermagie be nutzte. Wie würde sich denn der Palast mit diesem dunkelgelock ten König auf dem Thron ausnehmen, der dann ihres Vaters Stelle einnehmen würde und seinen Schild dorthin tun würde, wo eigent lich der der Ebereschs hingehörte? Würde er dann auch nächtli cherweise auf und ab gehen und durch die Gänge des Schlosses patrouillieren wie ihr Vater, würden dann auch seine Schritte auf den Pflastersteinen zu hören sein und in den stillen Korridoren widerhallen wie bei ihrem Vater, wenn er über ein schwieriges Problem nachdenken musste? Manchmal gesellte sich Bronwyn in so einem Fall zu ihrem Vater. Sie hatte dann auch nie das Gefühl, dass sie etwas sagen musste, und er sprach dann auch nur sehr selten mit ihr, aber sie wusste, dass er froh war, dass sie bei ihm 243
war. Was war, wenn sie wieder zurückkehrte und sich herausstell te, dass es gar kein Zuhause mehr für sie gab – dass ihr Vater mit allen seinen Soldaten und sogar den Drachen umgekommen war? Würde dann der Palast noch stehen und Königinstadt selber oder hätten sie alles in Schutt und Asche verwandelt? Sicherlich waren doch nicht einmal die Ablemarlonier so brutal, dass sie ihre Mut ter und das neugeborene Kind töteten – Tante Gretchen würde sie schon daran hindern. Aber vielleicht hatten sie Tante Gretchen auch schon umgebracht, aber – nein, an Tante Gretchen würden sie nie vorbeikommen. Oder doch? Bronwyn wandte ihren Blick wieder den Pferden zu, die über sie hinwegflogen und wünschte sich leidenschaftlich, dass sie eines davon besäße, um damit nach Hause und in die Schlacht reiten zu können. Bevor sie sich ein bestimmtes aussuchen konnte, begannen sich die Pferde, die den äußersten Südrand des Hofes überflogen, aufzubäumen und ga loppierten dorthin zurück, woher sie gekommen waren. »Tölpel! Dummköpfe!« Es war eine vertraute Stimme, die Bronwyn kreischen hörte. »Glaubt ja nicht, dass ihr mich aufhal ten könnt. Nach dem, was ich heute alles durchgemacht habe, seid ihr wirklich nichts weiter als ein paar überdimensionale Rossmuk ken!« Anastasia schlug mit ihren Flügeln nach den Pferden, als ob sie wirklich nur lästige Fliegen wären und begann dann, wie ein Habicht über dem Hof zu kreisen. Bronwyn sprang auf und fuch telte wie eine Wilde in der Luft herum, so dass sie der Vogel dann schließlich auch entdeckte. Anastasia schrie auf: »Bronwyn, was, in des drei Teufels Namen, tust denn du dort unten? Seit gestern Abend bin ich kreuz und quer über dieser trostlosen Sandwüste herumgeflogen, um nach dir zu suchen. Du bist einfach die einzi ge, die noch ein bisschen gesunden Menschenverstand hat. Du musst sofort wieder umkehren und mir helfen, die anderen zu befreien!« Die Schwänin stieß herab und landete elegant im Teich. Masch kents Diener zogen sich diskret zurück.
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Bronwyn wusste nicht, wie sie der Schwänin beibringen sollte, dass sie im Teich Bilder von der Schlacht gesehen hatte oder dass sie sofort wieder nach Hause zurückkehren mussten, auch wenn sie den Fluch dabei behielt. Anastasia würde ohnehin nicht gehört haben, was sie sagte, denn sie trompetete unablässig, bevor sie unten ankam. »Komm jetzt, wir müssen deinen Kameraden sofort zu Hilfe eilen! Es kommt auf jede Minute an! Ich bin selber nur mit knapper Not einem ganzen Heer von Ungeheuern entkommen und nur, weil dieser tapfere kleine Zigeunerjunge die Tür geöffnet hat und dadurch meine Peiniger von mir abgelenkt hat. Aber auf diese Weise hat er sich natürlich selber in Lebensgefahr gebracht!« »Aber …« »Keine Wenn und Aber, mein liebes Kind. Habe ich dir nicht gesagt, dass die Lage ernst ist? Madame Rostie war die erste, die sie geschnappt haben und nun sind ihr Karola, Jack und dieser gutaussehende Irre gefolgt. Alle sind weggeschafft worden und ich bin in großer Sorge um ihre Sicherheit. Natürlich kam ich letzten Endes deinetwegen hierher«, sagte die Schwänin und warf Bronwyn dabei einen missbilligenden Blick aus ihren Knopfaugen zu. »Ich bin durch Schneegestöber geflogen und habe mehr Mon ster besiegt, als recht und billig ist, um an diesen Ort zu gelangen, wo ich zuerst in Knechtschaft geraten bin und den ich nie wieder sehen wollte. Diese Strapazen habe ich aber deswegen auf mich genommen, um dich zu erreichen, Bronwyn. Ich finde wirklich, dass du ein bisschen mehr Interesse und Enthusiasmus an den Tag legen solltest!« Der Djinn-Diener kam jetzt hinter einem Bogen hervor und verbeugte sich wieder dreimal vor Bronwyn. »Ärgert Sie das Tier, Euer Hochwohlgeboren? Soll ich es braten lassen?« »Untersteh dich!«, zischte Anastasia. »Bronwyn, wie ich sehe, bist du nun Betrügern, Lügnern und Profitmachern zum Opfer gefallen. Ich muss dich dringend darum ersuchen, mit mir zurück zufliegen. Wenn du nicht willst, muss ich allein zurückfliegen und versuchen, den Kaiser um Hilfe zu bitten, obwohl dies bedeuten
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würde, dass er mich dann als ein verzaubertes Geschöpf entlarven würde.« Bronwyn warf noch einen sehnsüchtigen Blick nach den Pfer den, seufzte tief, zog dann ihre Siebenmeilenstiefel an, die von einer der Dienerinnen auf Hochglanz poliert worden waren und ging zur Tür. Schließlich hatte es keinen Zweck, zu versuchen, ohne die anderen nach Hause zurückzukehren, auch wenn es nicht ihre Pflicht war, als Repräsentantin ihrer Regierung die Unterta nen zu schützen, was natürlich wieder einmal überhaupt nicht stimmte! Während sie sich überlegte, mit welchen Worten sie ihre zukünftigen Heldentaten anpreisen wollte, wie sie zum Beispiel ihren Vater auf eigene Faust befreien und Argonien vor dem Untergang retten wollte, wurde ihr plötzlich schmerzlich bewusst, dass sie überhaupt nichts allein und ohne fremde Hilfe fertigbrin gen würde, was von Bedeutung war. Sie war so verwirrt, dass sie die besonderen Eigenschaften der Siebenmeilenstiefel ganz vergaß. Sie bekam die Tür überhaupt nicht mehr mit, sondern durchmaß mit einem einzigen Schritt den Hof und sechseinhalb Meilen Wüste, bevor sich Anastasia über haupt erst in die Lüfte erheben konnte. »So warte doch!«, rief die Schwänin beinahe unisono mit Maschkent und Mirza, die ihr noch irgendeinen Zauber andrehen wollten. Aber alles, was die Kaufleute noch von ihr sahen, war ihr Schat ten, und sie fühlten nur noch den Wind, der durch ihr Vorbeirau schen und das des großen, schwarzen Vogels in ihrem Schlepptau entstanden war. Mirza wrang die Hände und sagte verzweifelt: »Sie ist weg!« Der Djinn schwebte durch den Laden und auf die Straße hinaus, wo er die erforderliche Anzahl von Verbeugungen vor Maschkent absolvierte, der ihn wütend anfuhr: »Du Idiot! Schlechter Kauf! Du hättest für ihre Unterhaltung sorgen sollen und hast ihr einfach erlaubt zu verschwinden, obwohl sie immer noch eine unzufriede ne und zu nichts verpflichtete Kundin ist. Ich habe dir doch aus drücklich gesagt, dass sie etwas Besonderes ist!« Aber als der ältere Mann die Hand erhob, um dem Djinn einen Schlag auf 246
seinen kahlen, schwarzen Schädel zu versetzen, wich der Diener zurück und drohte seinem Arbeitgeber mit einem beringten Fin ger. »Für eine Ohrfeige müssen Sie draufzahlen, o Herr!« Der geizi ge Maschkent zog seine Hand wieder zurück, und der Djinn fuhr mit einem breiten Grinsen, bei dem er seine kräftigen weißen Zähne zeigte, fort: »Ich möchte Ihnen die erfolgreiche Ausführung meines Auftrags melden, Meister. Ich weiß nun, wonach sich die vornehme Dame sehnt und womit man sie kaufen kann.« Und als er Maschkent seine Worte näher erklärte, ging dessen Verstim mung in Freude über. »Beeile dich, Neffe!«, sagte er zu Mirza, als ihm der Djinn alles enthüllt hatte, was er über Bronwyns geheimste Wünsche wusste und dafür auch eine großzügige Sondervergütung bekommen hatte. »Wir müssen nun nur noch ein paar Vorbereitungen treffen, um dieses Geschäft profitabel zum Abschluss zu bringen!« Anastasia flatterte wütend auf Bronwyn zu, während die Prinzes sin ihre magischen Zehen in den Sand grub und wartete. »Wie bitte?«, sagte Bronwyn, wobei sie offensichtlich bemüht war, ihre Ungeduld nicht allzu offen zu zeigen. »Vielleicht habe ich mich auch getäuscht, aber ich dachte, wir wären in Eile!« »Das sind wir auch, meine liebe Bronwyn, aber du kannst kaum von mir erwarten, dass ich in derselben Zeit, die du brauchst, um einen einzigen Schritt zu tun, ganze sieben Meilen fliege! Ich fürchte, du musst ohne mich weitergehen, und selbst dann kann es uns noch passieren, dass wir zu spät kommen. Ich habe nämlich zufällig gehört, wie der Söldner seinen Kreaturen irgendwelche Anweisungen gegeben hat, die sich auf eine Gemeinheit bezogen, die er für heute Nacht geplant hat. Obwohl ich den kürzesten Weg geflogen bin, habe ich doch beinahe die ganze Nacht und noch die Hälfte des heutigen Tages dazu gebraucht, um zu dir zu kom men.«
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Bronwyn, die ihr nur halb zuhörte, zuckte mit der Achsel. »Ich habe nicht annähernd so lange dazu gebraucht.« »Nein?«, fragte die Schwänin und fügte – einer plötzlichen Ein gebung folgend – hinzu: »Oder meinst du damit wieder einmal ›Ja‹? Wie bist du denn gegangen? Ach, vergiss es. Ich sehe schon, du bist außerstande, es mir zu erklären. Aber, da ich so sehr viel langsamer fliege als du mit deinen Stiefeln vorankommst – und du trotzdem dieselbe Zeit dazu gebraucht hast, um nach Miragenia zu kommen, muss ich daraus schließen, dass du einen anderen Weg gegangen bist. Wenn du mich tragen würdest, könnte ich dir vielleicht den Weg zeigen …« Die Vorstellung, dass sie einen Schwan tragen sollte, der unge fähr halb so groß war wie sie, riss Bronwyn aus ihrer Geistesab wesenheit und sie sagte ganz trocken: »Kein Problem. Du kannst dich dann auf meinen ausgestreckten Zeigefinger setzen wie ein Wellensittich. « »Nun, ich weiß, was du meinst, aber ich brauche ja nicht unbe dingt auf deinem Rücken zu reiten, sondern es genügt schon, wenn ich dich berühre, damit die magische Kraft uns beiden zugute kommt. So sehr ich es hasse, wieder mit jemandem zu sammengespannt zu sein, könnten wir aber vielleicht doch – der Not gehorchend – eine Art Geschirr aus den Schnürriemen deines Leibchens zusammenschustern.« Hastig band Bronwyn die ledernen Schnürriemen auf, die ihr Gewand über der Brust fest zusammenhielten und band das eine Ende um ihr Handgelenk und das andere um Anastasias Hals. Das Gewand ließ sie lose herabhängen. Beherzt machte Bronwyn dann einen Schritt voran, aber als sie ein Würgen hinter sich hörte, machte sie den Schritt schnell wieder rückgängig, um eine Ana stasia zu befreien, die sie beinahe erdrosselt hätte. »Vielleicht sollten wir auch um meine Beine etwas binden«, schlug die Schwänin vor, als sie wieder zu Atem gekommen war. Aber selbst dann hing Anastasia noch so weit zurück, dass ihr die Riemen immer noch tief ins Fleisch einschnitten. 248
»Also – wie wir doch jetzt schon Zeit gewinnen!«, brummte Bronwyn. »Ich weiß!«, sagte Anastasia. »Und für den Tod unserer Freunde werden wir den Kopf hinhalten müssen. Wart mal! Unsere Köpfe! O Bronwyn, ich hab’s, ich bitte dich, bleib noch einen Moment lang stehen!« Und bevor sie Bronwyn noch etwas fragen konnte, was sie aus der Fassung brachte, war Anastasia schon hochgeflogen und hatte ihre mit Schwimmhäuten versehenen Füße schon in Bronwyns dichtem Haarschopf festgekrallt. »Aua«, schrie die Prinzessin und reckte den Hals, »du bist ja so leicht wie eine Feder!« »Warte! Nur Mut«, sagte die Schwänin und begann mit ihren Flügeln auf eine Weise zu schlagen, die sowohl ihr Gewicht ver ringerte wie auch die Hitze des Tages milderte. »Also, wenn du dich jetzt ein bisschen nach rechts wendest, wirst du, glaube ich, feststellen können, dass es eine Abkürzung über die Wüste gibt.« Bronwyn setzte sich wieder in Bewegung und dieses Mal fanden sie beide ihre Reisebedingungen erträglich. Anastasias Flügel erzeugten einen solchen Wind, dass Bronwyn schließlich feststel len konnte, dass sie mit doppelter Geschwindigkeit fortbewegt wurden. Es war wie bei einem Schiff, das die Segel gehisst hatte. Eine geraume Zeit, nachdem Herzog Dürrheim gegangen war, die Erinnerung an das Licht der Fackeln erloschen und die Geräusche von Leofrigs Badewanne verstummt waren und sie statt dessen nur noch das Pochen ihres Herzens hörten, sagte oder tat niemand etwas in der Höhle. Sie fühlten nur den eisigen Schweiß der Wand, der langsam den Rücken ihres Hemds zu durchweichen begann und hörten nur ab und zu ein Husten, das gedämpfte Mur ren und Knurren der Monster, das Wispern der Quelle und das eintönige Tropfen auf der einen Seite der Höhle, das von einem rhythmischen Getröpfel auf der anderen heimlich beantwortet wurde. Und dann ganz plötzlich: ein erboster Seufzer. 249
»Also wirklich!«, sagte Madame Himbeere mit einer Stimme, die so ausdrucksvoll war, dass sie Karola förmlich mit den Augen rollen sah: »Was für ein ausgemachter Esel dieser Mann doch ist!« »Ich weiß nicht so recht«, erwiderte Kilgilles. »Möglicherweise ist das, was er sagt, gar nicht so falsch und vielleicht wirkt sich sein Staatsstreich wirklich nur zum Besten aus. Es könnte ja alles schlimmer aussehen. Wenigstens will er uns nichts Böses!« »Jetzt mal ganz im Ernst. Sie können uns doch wirklich nicht dazu raten, dass wir mit seinen idiotischen Plänen einverstanden sind und als bloße Schachfiguren für ihn im Regierungsumsturz agieren?« »Wie mir scheint, sind uns derzeit die Hände gebunden. Nun, sei’s drum, aber ich kann einfach nicht verstehen, weshalb Sie solch einen Zirkus machen. Ich muss schon sagen, dass mich Ihr naives Beharren auf dem Status quo ziemlich enttäuscht. Ich habe Sie nämlich für eine viel vernünftigere Frau gehalten. Schließlich sind wir hier ja nicht in Argonien, und ich finde, dass es Ihnen eigentlich egal sein könnte, welcher Herrscher auf dem frosting dungianischen Thron sitzt.« »Es kann mir wirklich nicht gleichgültig sein, denn wenn Sie Dürrheim mit der Intelligenz zugehört hätten, die Sie bei mir in Frage stellen, dann hätten Sie auch herausgehört, dass er vorhat, uns hierzubehalten, damit wir ihm helfen. Ganz davon abgesehen, sollten wir auch das Bündnis im Auge behalten. Argonien braucht schließlich Hilfe …« »Und wahrscheinlich wird es sie von Herzog Dürrheim genauso sicher bekommen wie von Leofwin. Dürrheim ist Berufssoldat. Er liebt den Krieg und das, was dabei herausspringt. Wenn euer König ihm den Profit garantieren kann, dann ist euer Bündnis nicht in Gefahr. Und wenn Sie tatsächlich meinen, dass euch Leofwin nur wegen seiner unendlichen Güte helfen wird, dann solltet ihr, glaube ich, die Sache noch einmal überdenken. Mein Vater, Baron Kilgilles …« Er machte eine Pause und seine Stim me nahm plötzlich einen sehr viel raueren und tieferen Klang an, 250
um ihn zu unterbrechen. »Er war der Vergewaltiger deiner Mutter, Kleiner. Kilgilles war nur der Vergewaltiger deiner Mutter, ich bin dein wirklicher Vater!« Seine Stimme nahm wieder ihren ursprünglichen Tonfall an, aber er machte sich nicht die Mühe, seinem alter Ego zu antwor ten. »Als ich geboren wurde, war mein Vater schon in Leofwins Dienst und er blieb es auch bis zu seinem Lebensende, ich aber muss sagen, dass mir während der ganzen Zeit Leofwins Grau samkeit, sein Mangel an Voraussicht, da er nämlich nur zerstörte, was er eigentlich erobern wollte und auslöschte, was er nicht kontrollieren konnte, bewusst war, ebenso wie die grausame Unterdrückung der Stammbevölkerung in den sechs Staaten, die er sich unterworfen hat. Bis jetzt war Dürrheim einer seiner Vasal len gewesen und ich bin zum einen wirklich froh darüber gewe sen, dass er die weniger heldenmütigen Taten um Leofwins willen und nicht aus eigenem Antrieb vollbracht hat. Der Mann ist intel ligent, versteht etwas von seinem Geschäft und kennt den Wert einer gesunden Wirtschaft. Zugegeben, er ist nicht besonders liebenswert, aber schließlich braucht man einen Herrscher auch nicht zu mögen, um ihm dienen zu können, und wenigstens gibt Herzog Dürrheim das Vorhandensein von Magie zu und ist bereit, sich der Magie zu bedienen, um den Ruf des Landes wiederherzu stellen.« Je mehr ihn seine Beweisführung erregte, desto lauter war allmählich seine Stimme geworden. Aber mit ihm wurde auch das Geknurre und Gefauche hinter ihm lauter. »Pst«, sagte Madame Himbeere. »Sie ärgern damit nur die Mon ster!« Als sich sowohl Graf Gilles wie auch die Monster wieder beruhigt hatten, fuhr sie in einer Stimme fort, die weniger als ein Flüstern war. »Haben Sie sich eigentlich schon mal überlegt, dass Dürrheim möglicherweise beschließen könnte, dass unsere und seine Magie nur durch ihn selber und durch niemand sonst legitimiert wird. Mächtige Männer pflegen in dieser Beziehung ziemlich arrogant zu sein. Wenigstens gelten Leofwins Vorschriften für alle, obwohl Sie, als sein berufsmäßiger Diener, auf den er sich zu verlassen 251
scheint, es vorgezogen haben, diese Vorschriften außer acht zu lassen.« Karola hörte, wie Graf Kilgilles Anstalten machte zu widersprechen, aber Madame Himbeere fuhr unbeirrt fort: »Auch kann ich sehr gut verstehen, dass Sie in Ihrer Lage zynisch ge worden sind, aber ich kann Ihren Zynismus einfach nicht teilen. Ich habe meine eigenen Gründe zu glauben, dass Leofwin einen Sinneswandel durchgemacht hat, der ganz aufrichtig war und auch wirklich die Lebensbedingungen in diesem Land verbessern will. Sehen Sie, ich weiß nun zufällig, warum er, wie es einige seiner Landsleute so scharfsinnig auszudrücken pflegen, seit seiner Rückkehr von Argonien ›weicher‹ geworden ist. Ich wäre nämlich damals bei dem Ereignis beinahe dabei gewesen, das ihn so ver ändert hat.« »Wirklich? Gnädige Frau, Sie setzen mich in Erstaunen!« Kil gilles versuchte offensichtlich, nicht erstaunt zu klingen, was ihm aber nicht richtig gelang. »Ich hätte schon sehr viel früher darüber gesprochen, aber die Sache ist mit einer Art Staatsgeheimnis verbunden. Da ich jedoch annehme, dass das Geheimnis nur das betrifft, was dann später passierte – und nicht das Kapitel, bei dem Leofwin eine Rolle gespielt hat –, begehe ich nun vielleicht doch keinen Verrat, wenn ich dies jetzt erzähle. Als Leofwin beim Kampf an einem Ort schwer verwundet wurde, der sich in der Nähe des Dorfes befin det, in dem ich aufgewachsen bin, wurde er durch eine Behand lung mit gesegnetem Einhornwasser geheilt, das offenbar die Eigenschaft hat – was man bei später behandelten Fällen heraus fand –, aber nun bin ich schon gefährlich nahe an das herange kommen, worüber ich nichts sagen darf – das, wie gesagt, die Eigenschaft hat, dass es (sagen wir mal) seelische Wunden und Krankheiten genauso heilt wie die körperlichen.« Karola, die ihnen mit großem persönlichem Interesse zugehört hatte, meldete sich nun zu Wort. »Das stimmt! Meine Mutter hat mir auch erzählt, dass sie mit einem Einhorn befreundet ist, das sie von Zeit zu Zeit trifft. Es wacht über unseren Fluss oder lässt es einen aus seiner Familie tun. Wenn Leofwin mit Hilfe von 252
Mondscheins Wasser geheilt wurde, dann behaupte ich, dass dieses Einhorn schwer in Ordnung ist, und ich wünschte, wenn ihr Erwachsenen schon so clever seid, dann solltet ihr euch überlegen, wie wir aus diesem entsetzlichen Loch hier rauskommen, um ihm zu helfen.« »Ein Plan«, fügte Jack hinzu, dessen Stimme vor Kälte zitterte, »der auch für hilflose Kinder sicher ist und der trotzdem für den Erfolg garantiert.« »Du verlangst ja fast überhaupt nichts, he?«, fragte Madame Himbeere, und da sie sich so anhörte, als ob sie belustigt wäre, dachte Karola, dass sie jetzt dann gleich etwas sagen würde, wie: ›Aber zufällig hab ich solch einen Plan‹. Stattdessen sagte sie aber: »Tut mir leid, dass ich euch enttäuschen muss, aber ich bin nie zuvor gegen meinen Willen irgendwo festgehalten worden, deswegen habe ich mich in diesem Fall mehr auf Ihre und auf Karolas Erfahrung verlassen. Ich kann vielleicht einen kleinen Beitrag dazu leisten, aber im Augenblick bin ich furchtbar müde, sowohl durch unsere Unterhaltung als auch durch den Mangel an Schlaf. Da wir im Moment in einer unmöglichen Situation sind, kann ich nur vorschlagen, dass wir so lange ausharren, bis uns unser Gastgeber wenigstens von einem Teil unserer Gegner be freit haben und dass wir bis dahin unsere Kräfte durch Schlaf wiederherstellen.« Sie demonstrierte es sofort, indem sie sich weigerte, noch ein einziges Wort zu sagen. Ihr Plan war, wenn auch nicht unmittelbar hilfreich, so doch leicht zu befolgen, und Karola verbrachte endlos lange Stunden damit, trotz der Geräusche, die von den Monstern herrührten und die ihr sonst Alpträume verursacht hätten, aber jetzt war sie einfach zu müde, um zu träumen. Plötzlich wurde sie durch ein Licht geweckt, daraufhin hörte sie das Scharren und Schlurfen von Pfoten. Ein Geruch wie von Wild stieg ihr in die Nase. Sie setzte sich auf und wusste überhaupt nicht mehr, wo sie war. Sie war ganz steif und ihre Glieder schmerzten entsetzlich, weil sie sich zu einer festen Kugel zu sammengerollt hatte. Ihre Hände und Füße waren ganz gefühllos. 253
Das Licht kam von oben, wo Herzog Dürrheim mit einer Fackel an der Öffnung kniete und die Bestien in der Höhle zu sich her aufwinkte, die dann auch eine Leiter hinaufzusteigen begannen. Seinen Gefangenen drohte er wohlgelaunt mit den Fingern. Er zog das Licht zurück, als sich das erste der Ungeheuer dem Loch näherte. Als der letzte Gabelschwanz und stachelgespickte Buckel über dem Rand des Loches verschwunden war, hörte man ein kurzes Stöhnen und ein Getrappel, das jetzt von oben kam. Dann erschien Dürrheim wieder in der Öffnung, um die Leiter wieder heraufzuziehen. Als er begann, die Badewanne über die Öffnung zu schieben, sprang Jack auf und rief: »Euer Gnaden, so warten Sie doch! Wenn Sie gegen den Kaiser in den Kampf ziehen wollen, brauchen sie dann nicht auch unsere Hilfe neben der dieser unverlässlichen Tiere?« »Ich glaube nicht, junger Graf«, erwiderte Dürrheim lachend. Er war in der überschwänglichen Laune eines Hundes, der weiß, dass er irgendwo im Wald einen Knochen vergraben hat. »Aber ich kann mich voraussichtlich schon auf die Deckung von meinen eigenen Leuten verlassen. Wie die Dinge liegen, habe ich aller dings nicht genügend Personal. Du wirst also später noch genug Gelegenheit haben, um deinen Eifer unter Beweis zu stellen. Inzwischen werdet ihr auch nicht so ganz allein sein, ich habe euch ein paar Gefährten dagelassen, obwohl ihr sie wahrscheinlich nicht sehen könnt.« Als er dies gesagt hatte, schob er mit einer schwungvollen Bewegung die Badewanne wieder über die Öff nung und löschte auf diese Weise wieder das Licht. »W-wo sind sie?«, fragte Jack, der sich wieder hinsetzte und wie von der Tarantel gestochen zurückfuhr. Karola tastete im Dunkeln nach ihm und rutschte zu ihm hin über, offensichtlich um ihn zu beruhigen, aber auch deswegen, weil sie die Hitze seines Körpers dazu benutzen konnte, um sich zu wärmen. »Kopf hoch, Jack«, sagte sie, »ich werde schon mit ein paar Klammheimlichen fertig, wenn sie aufmüpfig werden. Außerdem haben wir ja den Schild. An dem kommen sie auch nicht vorbei. Wenn wir doch nur ein Licht hätten …« 254
»Aber das haben wir doch!«, sagte er, kramte in seinen Taschen und zog dann mit einem leichten Klickgeräusch etwas daraus hervor. »Zunder und Feuerstein…« »Ja, wer sagt’s denn!«, rief Madame Himbeere. »Ist es nicht toll, was so ein Schläfchen bei Kindern alles bewirken kann! Ich hab’s ja gewusst, dass ihr euch was überlegen würdet!« »Aber das haben wir doch eigentlich nicht«, sagte Karola. »Wir können zwar wenn nötig die Klammheimlichen kontrollieren, aber von hier unten haben wir keine Fluchtmöglichkeit.« »Wirklich nicht? Dann frage ich mich aber, warum sich Dürr heim die Mühe macht, uns bewachen zu lassen, wenn wir ohnehin nicht entkommen könnten?« »Ist das denn wirklich eine Wache?«, fragte Graf Kilgilles. »Ich habe eher den Eindruck gewonnen, dass er seine Ersatztruppen hier unten stationiert, bis er sie – und uns – braucht.« »Vielleicht, aber dieser kleine Bach könnte uns vielleicht aus der Höhle herausführen. Würdet ihr nicht sagen, dass es wenig stens einen Versuch wert wäre? Kommt jetzt, Karola – sei ein braves Mädchen und versuch’s mal!« Karola wünschte, dass Rostie sie nun, da sie doch ihr Bestes versuchte, um sie alle aus sehr erwachsenen Gefahren zu erretten, nicht wie ein kleines Kind behandeln würde. Sie begann also, eine Tanzweise zu pfeifen, musste aber gleich wieder aufhören. Da sie nicht genau wusste, wo die Klammheimlichen waren, konnte sie sich auch nicht auf sie konzentrieren, so dass die Tanzweise alle in Mitleidenschaft zog außer ihr selbst. Ihre Kameraden rutschten und glitten auf dem nassen Boden hin und her. Als sie wieder aufhörte, fühlte sie, wie sich die Klammheimlichen um sie zu sammenzogen und sie von allen Seiten bedrohten. Offenbar woll ten sie nicht nur nicht tanzen, sondern sie wollten es auch nicht dulden, dass ihre Schützlinge so wild in der Höhle herumhopsten. »Das wird ja nie was«, jammerte sie. »Warte«, sagte Jack, »verrückter Graf, Sie haben den Schild, der uns vor Karolas Magie beschützen wird.« Alle krabbelten ver 255
zweifelt in der Dunkelheit herum und als das Gekrabbel dann schließlich wieder aufhörte, sagte Jack: »Jetzt wären wir soweit, Karola!« »Gut, aber wenn ich wieder anfange, könntest du dann bitte dei nen Zunder anzünden?« »Ich habe auch noch einen Kerzenstummel dabei. Ich wollte nämlich gerade einen Erkundigungsgang machen«, erwiderte er. »Ist ja prima. Zünde es an, sobald ich loslege.« Sie fing wieder an zu pfeifen und nachdem man einige Augen blicke lang immer wieder den Feuerstein am Zunder kratzen gehört hatte und dazu Jacks tiefempfundene Flüche, fing der Zunder Feuer und Jack zündete die Kerze an. Das Kerzenlicht war zwar nur sehr schwach, aber es machte den Gefangenen Mut, dass sie nun endlich wieder etwas sehen konnten. Karola watschelte mit einwärts gekehrten Fußspitzen vorwärts, wie sie es zu tun pflegte, wenn sie vorsichtig übers Eis ging. Aber trotzdem rutsch te sie aus und kam mit einem Ruck zum Stehen, bei dem ihr bei nahe Hören und Sehen verging. Durch die Anstrengung wurde zum Teil die Kälte vertrieben, die ihr das Gefühl vermittelte, als ob man ihr einen langen Eiszapfen durch die Wirbelsäule ge rammt hätte. Als sie sich nun vor ihren Freunden aufgestellt hatte, mit ihrem warmen Atem im Rücken, konnte sie immer noch kaum sehen, wohin sie eigentlich pfiff. Aber die Unsichtbaren versteck ten sich nicht vor ihr, vielmehr war es so, dass sie Karolas Blicke abwehrten, so als ob sie immer gerade im Begriff wären, sich in etwas unerträglich Hässliches oder erschreckend Grausames zu verwandeln, dass sie gar nicht mehr hinsehen konnte, wenn der Wechsel stattfand. Einen großen Teil ihrer Energie, den sie eigent lich zur Ausübung ihrer Magie gebraucht hätte, verwendete sie darauf, vor einer Berührung zurückzuschrecken, die zwar nicht zustande kam, aber doch bedrohlich nahe war. Die Vorstellung, dass sie nicht wusste, was passieren würde, wenn sie die unsicht baren Wesen tatsächlich berührten, ängstigte sie umso mehr. Was stellten denn die Klammheimlichen mit ihren Opfern an, nachdem sie sie verschwinden ließen. Folterten sie sie etwa? Keiner hatte 256
ihnen etwas darüber gesagt. Als sie pfiff, begann der kleine Teil der Höhle, den Jacks Kerze erleuchtete, zu verschwimmen und zu beben, aber nicht willkürlich, wie im Widerschein einer Flamme, sondern im Rhythmus mit der Musik, die sie erzeugte. »Jetzt hab ich euch«, sagte sie und machte eine Pause, weil sie wusste, dass sie die Musik noch einige Minuten lang in ihrem Bann halten würde, nachdem sie aufgehört hatte zu pfeifen. Das war so, weil es sich bei den Unsichtbaren um lebende Gegenstän de handelte. Tassen, Steine und andere Gegenstände, die sich nicht von selbst bewegen konnten, hörten auch auf, sich zu bewe gen, wenn sie aufhörte zu pfeifen, aber bei den lebenden Gegen ständen hielt sich der Zauber etwas länger. Plötzlich hörte Karola ein Geraschel hinter sich und Rostie, die ihr zuflüsterte: »Kümmert euch nicht um mich, sondern sorgt nur dafür, dass sie abgelenkt sind!« Als sie dies gesagt hatte, stürzte sie aus dem Umkreis des Lichtes hinaus, wobei ihr Gewand mit blasser Leuchtkraft schimmerte. Karola, die befürchtete, dass der Zauber gerade dann zu wirken aufhörte, wenn Rostie ihr Ziel erreichte, vermied es hinzusehen, bis sie dann einen Schrei hörte und gar nicht mehr anders konnte, als den Kopf herumzudrehen. Karola konnte Rostie nicht mehr richtig erkennen, weil sie von der Dunkelheit halb verschlungen war. Sie zuckte zusammen und begann wieder zu pfeifen. Graf Gilles und Jack gingen voran, aber eine schlanke Hand, die aus dem Nichts kam, winkte sie wieder zurück. Plötzlich hörten sie ein lautes Rauschen, das sich anhörte wie die Luft, die aus den großen seidenen Ballonen entwich, die Karolas Eltern an den Feiertagen aufbliesen, und Rostie tauchte mit gefletschten Zähnen und leicht auseinanderklaffenden Kiefern wieder auf. Als sie mit der Hand hinaufgriff, zog sie an etwas Unsichtba rem, das in der Lücke zwischen ihrer oberen und unteren Zahnrei he hing. »Na, bitte!«, sagte sie und ihre Lippen entspannten sich wieder. Es sah so aus, als ob sie gerade einen Fleischbrocken zwischen den Zähnen herausgeholt hätte. »Ich war nie besonders scharf darauf, an Schlachten teilzunehmen, wenn ich nicht die 257
passenden Kleider anhatte. Aus diesem Muster von einem Klammheimlichen werde ich im Handumdrehen ein paar Tarnan züge für uns anfertigen und dann wollen wir doch mal sehen, ob wir nicht auf demselben Weg hier rauskommen, wie die Verbün deten des Herzogs reingekommen sind.« Sie mussten ganz dicht am Flussufer entlanggehen, um sich nicht zu verirren oder falsch abzubiegen, aber selbst dann war sich keiner so ganz sicher, ob sich der Wasserlauf nicht irgendwo verzweigen würde. Jacks Zunder ging immer wieder aus, weil er nichts dabeihatte, um ein richtiges Feuer zu unterhalten. Auch fiel die Höhle nun steil ab und der Bach mündete gelegentlich in einen Wasserfall, der feine Tropfen über den felsigen Höhlenboden versprühte und das Vorankommen noch zusätzlich erschwerte. Karola hätte am liebsten den Weg zwischen die Beine genommen, aber anstatt zu rennen, konnte sie sich praktisch nur kriechend fortbewegen und musste in ständiger Sorge sein, dass ihr etwas auf den Kopf fiel oder dass sie etwas von hinten packte. Nach Karolas Schätzung mussten sie ungefähr unter der Außenmauer sein, als Jack plötzlich ins Wasser floh und verschwand – ein Bein ragte noch heraus, von dem sie nur deswegen wussten, dass es noch mit Leben erfüllt war, weil es wild um sich schlug und dabei auch Graf Kilgilles empfindlich traf, der die Geistesge genwart besessen hatte, danach zu greifen. Diese unbeholfene Rettungsaktion genügte, damit das Ungeheuer, das Jack nach dessen späterer Aussage ursprünglich gepackt haben sollte, auch wieder losließ. Er wäre dabei beinahe ertrunken, aber schließlich drehte er sich doch mit Kilgilles’ Hilfe und einer Menge guter Ratschläge von den anderen wieder auf die richtige Seite und torkelte auf den Boden der Höhle zurück. Er hatte keinen Schaden genommen, aber die Kerze war ausgegangen und die Schachtel mit dem Zunder war hoffnungslos durchweicht. Später hörten sie dann etwas über sich hinwegjagen, einen dumpfen Aufschlag und das Getrappel von Füßen, aber erst als sie um die nächste, stark abfallende Kurve bogen, sahen sie das schwache Licht, das durch Eisenstäbe in die Höhle drang und die 258
fledermausartigen Kreaturen mit den speerförmigen Rüsseln, die in der Luft schwebten. Karola schätzte ihre Zahl auf zweihundert. »Flieger«, flüsterte Jack. »Sie töten dich durch einen unerträgli chen Juckreiz.« »Nicht, wenn sie hier drinnen sind und wir dort draußen«, be lehrte ihn Madame Himbeere. Im Licht, das von außen herein drang, gingen sie schnurstracks zum Eisentor und sahen hinaus – draußen erblickten sie den weitläufigen Schlossgraben mit den roten Windungen des Großen Bandes. »Und nun?«, fragte Karola kläglich. Aber bevor ihr jemand antworten konnte, hörten sie von sehr weit hinten in der Höhle ein erstes unverkennbares Kratzgeräusch, das davon herrührte, dass jetzt wieder die Badewanne vom Ein gang weggerückt wurde. Jack wollte gerade wieder auf dem Weg zurückrennen, den sie gekommen waren, als ihn Madame Himbeere aber am Arm packte und sagte: »Bevor wir zurückkehren, müssen wir noch ein paar Vorbereitungen treffen. Ich habe aus der Essenz des Klammheim lichen magische Tarnanzüge für uns angefertigt. Jeder muss eines dieser unsichtbaren Kügelchen nehmen und hinunterschlucken.« Als sie dies sagte, hielt sie ihnen kleine Luftstückchen hin. Jack nahm seines, steckte es sich in den Mund und verschwand. Ma dame Himbeere machte es ebenso, aber Gilles nahm die Pille mit keiner sichtbaren – oder vielmehr unsichtbaren – Wirkung. »Geben Sie mir den Schild«, sagte Karola und zog daran. »Das ist es nämlich, was Sie aufhält.« Er vertrödelte keine Zeit mit Fragen, sondern glaubte ihr aufs Wort und händigte ihr den Schild aus, was zur Folge hatte, dass auch er von der Bildfläche ver schwand. Karola befestigte den Schild am Handgelenk und stürzte davon. Sie fühlte sich plötzlich furchtbar allein, obwohl sie weiter oben immer noch die Schritte ihrer Freunde hören konnte. Sie steckte ihr Kügelchen in ihren Medizinbeutel, denn sie stand Rosties Zauber etwas skeptisch gegenüber und wollte vor allem nicht 259
Gefahr laufen, unsichtbar zu bleiben. Wenn es jedoch zum äußer sten käme, würde natürlich auch sie das Kügelchen einnehmen, aber vorläufig hielt sie es erst einmal für das Beste, auf die schüt zende Kraft des Schildes und auf die Beweglichkeit ihrer beiden Beine zu vertrauen und wie ein geölter Blitz den glitschigen, abschüssigen Weg wieder hinaufzurennen. Obwohl der Raum unter der Öffnung leer war, als sie dort nach einem wilden Spurt und mit etlichen Schürfungen ankam, fiel von oben immer noch Licht in die Höhle. Die Leiter war wieder he runtergelassen worden und an ihrem oberen Ende drückte sich eine untersetzte Gestalt herum, die im Licht der Fackel grünlich war –Karola erkannte, dass es Leofrig war. Als er sie sah, quakte er siegesbewusst: »Aha! Da bist du ja, mein grrk – Mädchen! Wo sind denn die anderen?« Aber bevor sie antworten konnte, schien er sich aus eigenem Antrieb in die Höhle hinunterzustürzen und wirbelte an ihr vorbei in den Fluss.
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X Bronwyn verfehlte die Hauptstadt von Großfrostingdung zuerst. Sie schoss dreimal über ihr Ziel hinaus und musste jedes Mal wieder einen Schritt zurück, bis sie dann so geistesgegenwärtig war und beschloss, in einem Winkel zurückzustolpern, nur einen halben Schritt zu machen und den zweiten Fuß gleichzeitig mit dem ersten niederzusetzen. Diese Verfahrensweise brachte sie aus dem Gleichgewicht, so dass sie schließlich in den Schlosshof hineinrollte. Anastasia hatte sich nach dem ersten Fehltritt der Prinzessin von dieser getrennt und war die letzten sieben Meilen zum Palast geflogen. Nun flatterte sie aufgeregt über der Prinzes sin und zischte: »Um der Großen Mutter willen, Hoheit, so ziehen Sie doch endlich diese verfluchten Stiefel aus!« Bronwyn gehorchte ihr mit dem größten Vergnügen. Sie saß gerade in der Mitte des Hofes und zerrte an ihren Stiefeln, als sie etwas am Fuß packte. Sie fluchte zuerst, aber dann hörte sie eine Stimme, die beinahe wie die von Jack klang und die nun sagte: »Ach, meine Prinzessin, ich wusste doch, dass du zurückkehren würdest, um uns zu retten!« »Müsste mir einfallen!«, fauchte sie zurück und sah sich verge bens nach ihm um. Sie war schon ganz wütend vor lauter Enttäu schung, dass sie am liebsten ihr Schwert genommen und in der Luft herumgeschwungen hätte, und zwar dort, wo es dies am nötigsten brauchte, dann wäre dieser Scheindisput auch überflüs sig geworden, der die Frechheit besaß, ihre Freunde mit einzubeziehen, und sie hätten dann ganz schnell wieder zum richtigen Krieg nach Hause zurückkehren können. »Die Stiefel, Junge – äh – wo auch immer du sein magst. Hilf deiner Herrin die Siebenmeilenstiefel ausziehen, dann werde ich sogleich diesem Land zu Hilfe eilen!« Bronwyn streckte die Füße von sich, obwohl sie auch jetzt weder Jack noch sonst jemand sah. Sie war dann angenehm überrascht, als ihr die Stiefel wie von einem starken Windsog von den Füßen gesaugt wurden. 261
»Ganz vorzüglich«, sagte Anastasia. »Junger Mann, ich nehme an, dass du eine vernünftige Erklärung dafür hast, warum du dich nicht persönlich zeigen willst.« »Es ist meine Klammheimlichenverkleidung«, sagte Jacks Stimme aus der Richtung von Bronwyns Füßen, die vor Schmer zen pochten. »Madame Himbeere hat sie angefertigt. Schlau, was?« Aber gerade in dem Augenblick kam Karola aus dem Schloss herausgestolpert und rannte auf sie zu. »Bronwyn, du bist wieder zurück! Der Großen Mutter sei gedankt! Ich habe schon versucht, mich im Palast nach Hilfe umzusehen, aber Dürrheim hat alle mit einem Schlafzauber verhext, so wie die aussehen. Wir müssen wohl die Zugbrücke selber herunterlassen.« »Das ist jetzt nicht wichtig«, sagte Bronwyn zu ihr, »warte, bis du …« Ein gurgelnder Schrei zerriss die nächtliche Stille. »Schon gut, aber wir müssen uns beeilen. Komm jetzt. Herzog Dürrheim und Leofrig haben den Kaiser und seine Männer vor den Toren des Palastes ausgeschlossen und die Monster auf sie gehetzt. Wer weiß, vielleicht sind wir ohnehin schon zu spät dran.« Bronwyn stand auf, steckte die Finger in die Ohren und schüttel te sie, damit das Knacken aufhörte, das von der Auf- und Abbe wegung der Stiefel herrührte. Als das Dröhnen in den Ohren verschwand, konnte sie den Schlachtlärm hören, der von den Zinnen herüberdrang. Die paar bewaffneten Männer, die sich auf dem Wall befanden und deren Umrisse sich von dem Nachthimmel abhoben, kehrten alle dem Hof den Rücken zu, und obwohl sie von dem Geschehen gebannt zu sein schienen, das sich im oder jenseits des Grabens ereignete, so schienen sie sich doch nicht am Kampf zu beteiligen oder besonders bestürzt über das zu sein, was sie sahen. Sie sahen eher so aus, als ob sie sich amüsierten. Eine Mischung aus Schmerzensschreien, Gebrüll und bestiali schem Gekreisch drang vom Graben herauf, das plötzlich unter 262
brochen wurde durch Leofwins wütende Stimme: »Verdammt noch mal, was für ein Grabenungeheuer bist du eigentlich, Großes Band? Schließlich bin ich immer noch der Kaiser! Und dies ist mein Palast! Und du müsstest mich eigentlich beschützen. Lass mich jetzt sofort hinein, ich befehle es dir!« Der Bandwurm antwortete ihm mit einem hohen Kreischen. Bronwyn zweifelte nicht daran, dass er wieder eine Vorschrift zitierte, die den Interessen des Kaisers zuwiderlief. »Die Zugbrücke, Karola!« Es war Rosties Stimme, die nun von den Zinnen herunterrief. »Lasst die Zugbrücke herunter. Die werden dort unten niedergemetzelt!« Karola streifte den Schild vom Arm, gab ihn Bronwyn und rann te davon; und Bronwyn, die immer noch herauszufinden versuch te, was hier eigentlich vorging, rappelte sich vollends hoch und rannte hinter Karola her. Aber Rosties Stimme hatten auch noch andere gehört, und eini ge der Soldaten rissen sich nun von der Mauer los und polterten die Treppe hinunter. Der Flaschenzug, mit dem man die Zugbrücke bediente, war neben dem Fallgitter. Karola warf sich darauf und tastete sich in der Dunkelheit zu den Griffen vor, mit denen die Mechanik in Gang gesetzt werden konnte. Die Tür zum Wachtturm wurde aufgestoßen und ein halbes Dut zend Männer mit gezückten Schwertern stürmte in den Hof. Bronwyn befand sich zwischen den Soldaten und ihrer Cousine. »Heute Nacht ist es schlecht bestellt um euer Glück, o Schurken«, sagte sie, »denn ihr seid Bronwyn der Mutigen über den Weg gelaufen. Macht euch darauf gefasst, von ihrer Hand zu sterben!« Und während sie dies sagte, ließ sie das Schwert durch die Luft sausen – und sie empfand zugleich einen Kitzel und einen Schock, als ihre Klinge der Reihe nach die Klingen der anderen berührte, als sie ihre sechs Feinde zur Mauer zurückschlug und der Stahl ihres Schwertes an dem der feindlichen Schwerter zu erklingen begann. 263
Als ihr Schwert jedoch das erste Mal in menschliches Fleisch eindrang und beinahe den Arm eines Mannes abgetrennt hätte, stellte sie fest, dass sie jetzt ihr Kampfgeschrei anstimmen musste, damit ihr nicht schlecht wurde und dass sie wegschauen musste, damit sie sein Blut nicht hochspritzen sah. Sie wusste nämlich, dass sie sehr schnell bei ihm auf dem Boden landen würde, wenn sie dieser morbiden Faszination nachgab. Sie versuchte, nicht daran zu denken, dass das, was sie ihrem Feind antat, auch ihr selber widerfahren könnte. Ein Mann, der rechts von ihr stand, stürzte sich mit einem abge brochenen Speer auf sie und stolperte, so dass er beinahe sich selber aufgespießt hätte. Er wurde von einem seiner Kameraden gerettet, der ebenfalls stolperte, beim Hinfallen den anderen an stieß und zur Seite schob. Zuerst dachte Bronwyn, dass sie einfach furchtbar ungeschickt waren, aber als sie alle zu stolpern und zu straucheln begannen, und sogar ihre Kameraden, die ihnen von den Zinnen herab zu Hilfe eilten, die Treppe heruntergepurzelt kamen und übereinander fielen, wusste sie, dass ihr ihre unsicht baren Verbündeten halfen. Karola kämpfte immer noch verzweifelt mit dem Flaschenzug. Bronwyn machte einen Satz über drei Wachen hinweg, die auf dem Boden durcheinander lagen, schob Karola zur Seite und nahm das Rad des Flaschenzugs selber in die Hand und riss es herum. Unter ihrem Gewicht gab es sogleich nach. Als Bronwyn wieder aufsah, fiel die Brücke bereits krachend vor ihr nieder und schlug einem Geschöpf, das wie ein zweiköpfiger Bär aussah und gerade einem von Leofwins Wildhütern das Gesicht zerfleischen wollte, das Gehirn ein. Von der Jagdgesellschaft war nur der Kaiser hoch zu Ross und sein Pferd lag nun blutend im Schnee. Die Ungeheuer taumelten nun ebenso wie die Menschen über die Zugbrücke. Sie hielten sich immer noch umklammert und kämpften, während sich der Bandwurm in immer höhere und entrüstetere Stellungen empor fauchte. Bronwyn griff den Schwarm von Biestern an, die Leof win umgaben. Diese ließen sofort von ihm ab und wandten sich 264
ihr zu. Als sie auf sie losging, hatte sie weniger Skrupel als bei ihren menschlichen Feinden, und sie beglückwünschte sich schon selber dazu, dass sie sich so schnell zu einer so abgebrühten Vete ranin entwickelt hatte. Dann köpfte aber Leofwin zwei Monster mit einem Schwerthieb, woraufhin sich Bronwyn ganz abrupt abwendete, um nach Kampfgegnern Ausschau zu halten, die nicht die Tendenz hatten, so grauenvoll zu bluten. Unsichtbare Bänder durchzogen das Gewühl, die die Bemühun gen auf beiden Seiten durchbrachen. Bronwyn achtete nicht dar auf, weil sie damit beschäftigt war, auf einen wolfsköpfigen, fünfbeinigen Eber einzuschlagen, der einen der Wildhüter ange fallen hatte. Aber sobald sie das Ungeheuer erschlagen hatte, verschwand auch der Mann, den es angegriffen hatte und nur noch der Arm mit dem Schwert war zu sehen, der ebenso erfolglos wie unabhängig vom übrigen Körper in der Luft herumschlug. Rosties körperlose Stimme rief: »Lass ihn los, Dämon!« Und etwas stieß einen hohlen Schrei aus, bevor der Mann wieder sichtbar wurde. Als das nächste Ungeheuer, das Bronwyn angriff, plötzlich vier Schritte zurück, dann vier Schritte vorwärts trottete und dreimal hintereinander seinen gegabelten Schwanz jagte und das Unge heuer neben ihr, eine Art Greif, sich verbeugte und die Bewegun gen wiederholte, fühlte Bronwyn, dass Karolas subtile Choreogra phie wieder am Werk war. Bald hörte auch sie die Melodie, die allerdings ihre wunden Füße nicht zu inspirieren vermochte. Offensichtlich lernte Karola allmählich zwischen dem musikali schen Geschmack der Menschen und dem der Ungeheuer zu unterscheiden, obwohl einige der koboldartigen Vasallen des Kaisers mit den Zehen zuckten, als sie hin und her rannten, um irgendwelchen Feinden den Garaus zu machen. Bronwyn wünschte nun fast, dass es Karola nicht gleich gelun gen wäre, die Situation unter Kontrolle zu bringen, aber unter diesen Umständen musste der Zweckdienlichkeit der Vorrang über dem militärischen Ruhm gegeben werden. Manchmal musste sogar eine geborene Heerführerin ihre Kriegslust bezähmen, wenn die gemeinsame Sache auf dem Spiel stand. Deswegen beneidete 265
sie Karola auch nicht um den vollen Einsatz ihrer furchteinflößen den Zauberkraft, der die Wende in der Schlacht mit unsportlicher Geschwindigkeit herbeiführte. Sie stieg über ein paar Körper der unterschiedlichsten Machart hinweg, um Leofwin wieder aufzu helfen, den man auf die Knie gezwungen hatte. Leofwin erschlug ein paar Monster mit eigener Hand. Die miss gestalteten Geschöpfe tanzten nicht nur, sondern sie kratzten, schnappten und stanken so erbärmlich, als ob sie schon mehrere Jahre tot gewesen wären. Karolas Zauber brachte es fertig, die Kreaturen so lange tanzen zu lassen, bis sie nicht mehr konnten und den Klingen der kaiserlichen Gefolgsleute, die nun reiche Ernte hielten, so ausgeliefert waren, dass sie Bronwyn beinahe leid taten. Karola hörte einen Moment lang auf zu pfeifen. Zwei der Mon ster, die entweder weniger empfänglich für die Musik waren oder mehr Angst hatten als die anderen, brachen aus und rannten wat schelnd über die Brücke zurück. Der lange, schmale Kopf des Großen Bands tauchte aus dem Graben auf und verschlang eines davon mit Haut und Haaren. Die schlanke Gestalt des Grabenun geheuers wurde nun durch einen unansehnlichen Wulst verunziert. Das andere galoppierte durch die verlassenen Straßen zwischen den blockigen, weiß verputzten und mit Eisen befestigten Häusern hindurch zum äußeren Tor. Soweit es Bronwyn beurteilen konnte, war die äußere Stadtmauer unbewacht und offensichtlich war auch das große Tor nicht verriegelt worden, denn die Kreatur warf sich dagegen und das Tor gab nach und entließ das Ungeheuer in die Nacht. »Vielleicht«, sagte Leofwin gedankenvoll und hielt inne, bevor er seine eiserne Klinge auf den massigen Nacken eines Geschöp fes niedersausen ließ, das so etwas Ähnliches wie ein Stier war. »Vielleicht sollten wir diese Wesen verschonen. Schließlich sind sie wertvolles Schlachtvieh. Die Männer, die sie hereinließen, sind eine andere …« Ein entsetzliches Geschöpf mit Fledermausflügeln stieß auf den Kaiser herab und stach mit seiner nadelförmigen Nase nach ihm, 266
aber seine guttrainierten Reflexe retteten ihn noch einmal, und er rollte sich auf die Seite, so dass der Flieger seinen Rüssel statt dessen in den Nacken des Ungeheuers bohrte. Bronwyn drehte sich auf dem Absatz herum und wehrte den nächsten gerade noch rechtzeitig mit ihrem Schild ab. Sie sah nach oben. Einen Augenblick lang war der Mond von einer schwarzen Wolke von Fliegern verhängt, die sich zerstreuten und Todesqua len über die Geschöpfe am Boden brachten, die ihnen ausgeliefert waren, denn sie stachen Menschen und Ungeheuer. Bronwyn musste zur Seite springen und sich verrenken, bis sie nur noch ein Wrack war, das krampfhaft ihren Schild vor sich hinhielt. Ein paar Männer rannten jetzt zum Wachtturm hinüber – andere stürzten zu Boden und kratzten sich so sehr, dass sie blutige Spuren im Schnee hinterließen. Karola veränderte ihre Weise und schrie ein Rückzugssignal, als sie zum Turm hinüberrannte. Die Ungeheuer, die nun wieder von dem vorangegangenen Tanzzauber befreit waren, flohen über die Zugbrücke zurück. Nur die Männer blieben zurück, und Bronwyn klemmte je einen Gefallenen unter die Arme, um sie dorthin zu schleifen, wo sie sicher waren. Sie kratzten und wanden sich aber so entsetzlich, dass sie sie unmöglich tragen konnte, also gab sie jedem von den beiden eine Ohrfeige. Daraufhin kamen sie sofort wieder zu sich und Bronwyn lieferte sie ab und kehrte dann wie der in den Hof zurück, um die nächsten zu holen. Leofwin trug ebenfalls Verwundete vom Schlachtfeld. Das Schreien, Jammern, Seufzen und Fluchen war so laut, dass sich Bronwyn fragte, ob der Schlafzauber wirklich genügte, um die Bewohner des Palastes an ihre Betten zu fesseln. Und warum hatten die Bewohner des Dorfes, das die Burg umgab, nicht ver sucht, ihrem Kaiser zu Hilfe zu eilen? Zweifellos wussten sie, wann sie besser die Finger von einer Sache ließen und empfanden Neugierde als einen Luxus, den sie sich nicht leisten konnten. Die Flieger formierten sich von neuem, löschten wieder den Mond aus und richteten dann ihre speerartigen Stachel auf Leof 267
win und Bronwyn. Bronwyn rief dem Kaiser etwas zu, der gerade die Faust erhoben hatte, um das Opfer bewusstlos zu schlagen, bevor er versuchte, es zu transportieren. Der Kaiser blickte bei ihrem Geschrei auf und dabei erwischte ihn der Ellbogen des Gefallenen am Kinn, so dass er rückwärts in den Schnee fiel. Die anderen, die aus eigenem Antrieb bis jetzt in der Luft ge schwebt waren, fielen nun wie Steine herunter, und Jack, Rostie und Gilles Kilgilles tauchten plötzlich auf und rannten, um dem gefallenen Leofwin zu helfen. Aber bevor sie ihn erreichten, flog etwas so schnell über sie hinweg, dass es ihnen die Haare in die Augen blies, und Leofwins o-beinige, grünliche Gestalt hüpfte neben seinen Bruder hin und machte Anstalten, ihn zum Turm hinüberzuziehen. Die Flieger fielen nun über sie her, einer traf Gilles, ein anderer erwischte den Froschmenschen an der Breitseite und versäumte es natürlich nicht, ihn unterwegs zu durchbohren. Bronwyn warf sich schützend über Jack und Leofwin, der Schild fungierte wie ein Dach, das sie alle vor den Angriffen der Flieger von oben schütz te. Bronwyn hätte am liebsten geweint, als sie Gilles’ Schreie und Leofrigs jämmerliches Quaken hörte. Aber sie konnte noch einmal widerstehen. Welche Art Krieger weinte denn schon mitten in der Schlacht? Ihre eigene Art, musste sie erkennen, als ihr die Tränen über die Wangen herabflossen und sie trotzdem ihr Möglichstes tat, um die ihr noch verbliebenen Freunde zu retten. Sie hatte keine Ahnung, wo Madame Himbeere steckte, bis sie einen Flie ger schreien hörte und einen Augenblick lang die Dame sah, die unter einer Zierbank kauerte und mit Hilfe ihrer spitzigen Zunge gerade auf eine sehr anmutige Weise eine Feder im Mund ver schwinden ließ. Aber auch wenn sie sich jetzt in einen Flieger verwandelte, so konnte Rostie nicht hoffen, den ganzen Schwarm zu besiegen. Die Flieger formierten sich wieder zu einem Angriff, aber als sie sich dieses Mal zerstreuten, fielen sie wie Bleiklumpen zu Boden und verbrannten während des Flugs, so dass sie zuletzt wie erlo schene Kohlen im Schnee herumlagen. 268
Ein brauner Klumpen fiel neben einen von ihnen und Bronwyn blickte erstaunt hinauf. Das Stück Himmel, das zuerst die Flieger eingenommen hatten, war nun von fliegenden Pferden besetzt. In kürzester Zeit wurden diese von Mirza, Maschkent und dem schwarzen Djinn mit den goldenen Ohrringen zu einem Lande platz im Hof getrieben. Bronwyn machte sich von Jack und dem Kaiser los, damit Leofwin aufstehen und seine Befreier begrüßen konnte. Mirza und Maschkent stiegen ab und machten ihre schwungvollen Verbeugungen, bei denen sie beredt mit den Hän den wedelten, aber sie galten nicht Leofwin, sondern Bronwyn. »Wird ja langsam Zeit, dass ihr kommt«, sagte sie nicht gerade undankbar. »Wir hoffen, dass sich unser Kommen für alle als profitabel er weisen wird«, erwiderte Maschkent. Bronwyn fühlte sich seltsam gestärkt durch die Schlacht, viel leicht war auch dies ein Charaktermerkmal, das sie von ihren Eisriesenvorfahren geerbt hatte. Sie war in ihrem ersten ernstzu nehmenden Kampf siegreich gewesen! Mit diesem Erfolg im Hintergrund schien nun alles für sie möglich zu sein. Nun folgte sie den Lehren ihres Vaters und tat genau das, was ein guter Krie ger seiner Meinung nach tun würde: Sie bezwang ihr brennendes Verlangen herauszufinden, was die Miragenier mit ihren fliegen den Pferden hier vorhatten und konzentrierte sich statt dessen darauf, das Schlachtfeld von Verwundeten zu räumen. Die Kämpfer, die dem normalen Angriff der Ungeheuer zum Opfer gefallen waren, wurden gewaschen und bandagiert, wäh rend Gilles, Leofrig und verschiedene andere mit Handschuhen versehen wurden, damit sie sich nicht die Haut vom Leib kratzten und über Nacht in Leofrigs berüchtigte Badewanne gesteckt, um sie in reizlinderndem Öl einzuweichen. Vier Männer waren von den Klammheimlichen angegriffen worden, zwei davon wurden vermisst. Der dritte konnte seinen linken Arm nicht mehr sehen, obwohl das sichtbare Ende gar nicht blutete und die Verbindungs stelle so glatt wie Glas war. Auch konnte er seinen Arm immer 269
noch fühlen. Der vierte hatte einen Punkt in der Mitte, durch den er hindurchsehen konnte, und er ließ nicht davon ab, finster dort hinunterzusehen. Das Auswechseln seines Hemdes trug sehr dazu bei, seine Lebensgeister wieder zu wecken, denn das neue Hemd verdeckte die transparente Wundstelle, an der das alte Hemd zusammen mit dem Fleisch und den Knochen des Mannes ganz einfach verschwunden war. Jeder versicherte ihm, dass er den Umständen entsprechend noch einmal gut davongekommen sei. Die Miragenier hatten Kissen und Teppiche um den Brunnen herum ausgebreitet und teilten Lebensmittel, Süßigkeiten und verschiedene Nektarsorten aus. Maschkent versicherte Leofwin, dass die Rechnung für diesen Service nach der Schlacht von der seinem Unternehmen angeschlossenen Abteilung für diplomati sche Beziehungen getragen würde, und dabei verbeugte er sich wieder vor Bronwyn. Widerstrebend ließ sich Bronwyn von Karola die Füße massie ren und salben. Zuerst hatte es Karola Spaß gemacht, bei den verwundeten Soldaten die Lazarettschwester zu spielen, aber nun war sie natürlich darauf erpicht, nichts von dem zu versäumen, was die exotischen Fremden zu sagen hatten, und war plötzlich zu dem Entschluss gekommen, dass Bronwyn ihre Pflege im Moment am nötigsten brauchte. Mirza verbeugte sich kriecherisch vor Leofwin, als sein Onkel mit aalglatter Stimme zu den Versammelten insgesamt, aber im besonderen zu Leofwin und Bronwyn sprach und dabei seine Blicke zwischen den beiden hin- und herwandern ließ: »Großer Kaiser, Ehrwürdige Dame, bitte vergeben Sie uns, dass wir uns in Ihre Angelegenheiten eingemischt haben. Aber als unser hochge schätzter Gast so überstürzt von uns aufgebrochen ist und uns keine Gelegenheit gegeben hat, das Geschäft richtig abzuwickeln, das wir schon miteinander begonnen hatten, waren wir natürlich am Boden zerstört. Als wir den Diener ausfragten, den wir der Prinzessin zur Verfügung gestellt hatten, sagte uns dieser, dass dieses arme Kind die Zerstörung von ihres Vaters Flotte und die
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Zersplitterung seiner Streitmächte im Meer durch Argonias Feinde mitansehen musste.« Karola nahm es den Atem, und Jack starrte die Fremden entgei stert an. Dann sah er zu Bronwyn hinüber, die traurig nickte, aber horchte wieder aufmerksam zu, als der Kaufmann fortfuhr: »Ach ja«, sagte der Kaufmann, wobei er die Hände verzweifelt wrang und den Blick hilflos nach oben richtete, »die Ablemarlo nier haben ihre Geheimwaffe auf die Argonier losgelassen – einen abtrünnigen Zauberer, der früher bei einem unserer Konkurrenten angestellt war, aber keinen Geschäftssinn hatte. Der wahllose Wechsel der klimatischen Bedingungen kann verheerenden Scha den anrichten und vermag die Quelle der Zauberkraft vollkommen zu korrumpieren, so dass keiner einen Profit damit erzielt. Unter diesen Umständen verstehen wir natürlich den vorzeitigen Auf bruch der Prinzessin. Die Liebe zu ihrem Vater spricht so sehr zu ihren Gunsten, dass wir nicht umhinkonnten, ihr unsere Hilfe anzubieten. Deswegen hielten wir es auch für angemessen, uns mit unserem Seniorpartner, Mukbar dem Prächtigen, zu beratschlagen. Möge sich sein Profit vermehren. Mit seiner Zustimmung hat unser Unternehmen ebenso eindeutig wie großzügig beschlossen, im Hinblick auf die verzweifelte Situation, die tapfere Natur der jungen Dame, die sich durch die für ihren Gastgeber vollbrachten Heldentaten bewiesen hat, sowie im Hinblick auf ihre vornehme Herkunft und ihre atemberaubende Schönheit …« »… und wohl auch im Hinblick auf den berechtigten Anspruch gegenüber Ihrer Firma?«, fragte Karola misstrauisch. Dabei tat sie so, als ob sie gar nicht gemerkt habe, dass sie Bronwyn mit dem nackten Fuß, der noch immer in ihrem Schoß ruhte, angestoßen habe. Bronwyn mochte sich von denen übers Ohr hauen lassen, ihr konnte so etwas nicht passieren. Die Nachricht vom Krieg war zwar entsetzlich, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass die Kaufleute davon profitieren wollten und dies nicht als Gelegenheit verstanden, um eine gute Tat zu vollbringen. Außerdem waren diese Leute, wenn auch entfernt, mit Herzog Dürrheim verwandt, 271
und sie traute ihnen nun einmal nicht. Vielleicht hatten sie Bron wyn sogar mit einem Teich hereingelegt, der Illusionen vortäusch te, statt die Realität zu zeigen, nur um sie zu beunruhigen, damit sie sie hernach umso besser betrügen konnten. Maschkent überging den Zwischenruf und kam um so schneller auf das zu sprechen, worauf es ihm eigentlich ankam. »Mir scheint, wir könnten handelseinig werden. Wie ihr gesehen habt, haben wir unsere vorzüglichen fliegenden Rösser hierhergebracht, eine Kreuzung zwischen dem goldenen Riesenadler und dem hornlosen Einhorn, es handelt sich um Geschöpfe mit phantasti schen Fähigkeiten, von denen die wunderbarsten wohl ihre Schnelligkeit und die Wildheit in der Schlacht sind.« Er wandte sich wieder Bronwyn zu: »Wir wollen Ihnen die Gelegenheit geben, sich von Ihrem Fluch vollständig zu lösen – Sie verstehen schon, keine halbe Sache, sondern eine hundertprozentige Heilung und den Gebrauch dieser unvergleichlichen Rösser, um diese Verbündeten hier Ihrem Vater zu Hilfe zu schicken. Wir stellen anheim, dass Sie all dies für eine unbedeutende Gegenleistung haben können, eine Gegenleistung, die Sie wahrscheinlich ohne weiteres erbringen könnten.« »Jetzt gleich?« Er nickte zustimmend. »O fein«, jammerte sie. »Ich habe jetzt eine Menge Zeit, um Botengänge auszuführen.« Sie wollte unbedingt diese Pferde, aber was würde es ihr nützen, wenn sie anderen Leuten einen Gefallen erwies und dadurch die Hilfe für ihren Vater aufschob? Leofwin legte ihr nachdrücklich die Hand auf den Arm und sag te: »Meine liebe Bronwyn, gräme dich nicht. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dir zu helfen.« Bronwyn warf ihm einen dankbaren Blick zu, obwohl sie natür lich gar nicht wusste, ob überhaupt und inwiefern er ihr helfen konnte.
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Maschkent fuhr fort. »Aber, aber, Prinzessin, seien Sie versi chert, dass wir die Dringlichkeit Ihres Auftrags über alles setzen, unsere Dinare sollen abnehmen, wenn dies nicht der Wahrheit entspricht, aber diese Aufgabe, von der wir sprechen, ist unter den gegebenen Umständen ebenfalls wichtig, obwohl sie geringfügig erscheinen mag.« »Warum handelt es sich eigentlich nur um dies eine?«, fragte Jack misstrauisch. »Und wenn sie wirklich so geringfügig ist, warum ist sie dann so dringend? Warum kann sie denn nicht später ausgeführt werden?« »Die Prinzessin kann sie auch später ausführen, wenn ihr die Eile wichtiger ist als die Möglichkeit, auch ihre Verbündeten mit den Zauberrossen auszustatten.« Maschkent verbeugte sich vor Leofwin und räusperte sich geziert in die vorgehaltene Faust. »Entweder sie vollbringt die Tat unverzüglich, oder wir können nur ihren ursprünglichen Begleitern Pferde zur Verfügung stellen. Wenn sie es aber vorziehen würde, unserem Verlangen erst später stattzugeben und immer noch in der Lage dazu ist, dann wären wir auch bereit, eine andere Zahlungsweise zu akzeptieren. « Mirza strahlte. »Ja, ein bisschen argonisches Grundeigentum wäre wirklich ein großer Gewinn für uns, sagen wir mal die Hälfte des Königreiches oder vielleicht Ihr Erstgeborenes … Dies zu versprechen, dürfte für Sie eine Kleinigkeit sein und würde uns dazu veranlassen, noch einmal zu überlegen, ob wir Ihnen die fliegenden Pferde überlassen sollten, allerdings würde dann der Fluch immer noch auf Ihnen lasten … obwohl, wenn Sie uns die Hälfte Ihres Königreichs und Ihr Erstgeborenes überlassen wür den, dann …« »Was wollt ihr von mir?«, fragte Bronwyn mit tonloser Stimme. »Ach, es ist nichts!«, erwiderte Maschkent und wehrte dabei mit seiner braunen Hand ab. »Es ist so unbedeutend, dass ich es kaum zu erwähnen wage.« »Eine Lappalie, wie mein Onkel schon erwähnt hat…«, mischte sich nun Mirza ein, der sich große Mühe gab, so auszusehen, als 273
ob es ihm peinlich wäre, sie um diesen unbedeutenden Dienst zu ersuchen. Jack flüsterte Karola hinter vorgehaltener Hand zu: »Es kommt mir so vor, als ob diese Kaufleute eine schlimmere Dosis von Bronwyns Fluch abbekommen hätten als sie selber!« Mirza fügte hinzu: »Wahr ist, dass wir nie so weit gereist wären, um so viel für eine so geringfügige Gegenleistung anzubieten, wenn nicht die dritte Konkubine meines Onkels schwanger wäre und Gelüste nach diesen Dingen hätte.« »Welche Dinge?«, fragte Bronwyn zähneknirschend. Mirzas Hände flatterten so hilflos in der Luft herum, als ob es gefangene Nachtfalter wären. »Oh – es handelt sich nur um eine einzige Sache – äh – hmmm – nämlich um einen Granatapfel.« »Ist das alles?«, fragte Bronwyn verwundert und zugleich er leichtert. »Was ist das eigentlich, ein Granatapfel?« »Es ist eigentlich nichts – eine Nachspeise, nach der es meinen verwöhnten Liebling gelüstet«, fügte Maschkent hinzu. »Eine kleine, rote, hartgewordene Frucht, die mit Samen gefüllt ist. Das ist alles. Nichts Gefährliches. Aber: denken Sie daran, was Sie dafür bekommen – dass Sie mit Ihren Verbündeten die Rösser benutzen können, und was damit zusammenhängt – die Sicherheit eures Königreiches, der Respekt Ihres Vaters und Ihrer Untertanen und Ihre Glaubwürdigkeit, die dadurch für immer und ewig wie derhergestellt sein wird, und als Sonderleistung gewähren wir Ihnen auch noch ohne zusätzliche Kosten die unumschränkte Benutzung des Zaubers, mit dem wir Sie vorübergehend von Ihrem Fluch befreit haben.« »Kommen in Ihrem Plan irgendwelche geheimnisvollen dunklen Fremden oder lange Gänge über Wasser vor?«, fragte Jack mit zusammengekniffenen Augen. »Was?« »Ich frage ja nur«, brummte Jack. Auch fiel ihm wieder ein, wie Dürrheim diese Männer beschrieben hatte. Die Behauptung des rebellischen Herzogs, dass sie die sesshaften Vorläufer der Zigeu 274
ner seien, erschien ihm nun sehr viel wahrscheinlicher, als er zuerst gedacht hatte. Wahrscheinlich hatten die Miragenier ihre eigenen Leute um Haus und Hof betrogen, was die Zigeuner natürlich in erster Linie zum Vagabundieren veranlasst hatte. »Ist dies ein Ratespiel oder erfahren wir vielleicht auch noch, wo diese alberne Frucht wächst«, fragte Karola, »damit Bronwyn die Frucht für Sie pflückt und wir Ihre kostbaren Pferde noch benützen können, um den Krieg zu gewinnen, bevor unsere Ver bündeten und Feinde vor Altersschwäche sterben?« »Man kann sie nicht einfach pflücken!«, entrüstete sich Mirza. »Ihr werdet euch natürlich denken können, dass es sich in Anbe tracht all der Anreize, die dafür geboten werden, um einen ganz besonderen Granatapfel handelt …« Leofwin, der sich während der letzten paar Minuten mit seinem obersten Wildhüter beraten hatte, wandte seine Aufmerksamkeit nun wieder Bronwyn und den Kaufleuten zu. »Was habt ihr ge sagt? Granatapfel?«, fragte er schrill, und seine Stimme klang so, als ob als ob er der Ansicht wäre, dass sie ›Drache‹ oder ›Orkan‹ statt einfach ›Granatapfel‹ gesagt hätten. »Was soll das eigent lich?« Die beiden Kaufleute sahen ihn mit geheimnisvollen, vielsagen den Blicken an, und Leofwins Augen wurden größer und größer, als er begriff, dann schüttelte er den Kopf, als ob er gelähmt wäre. »Ich muss schon sagen – ihr könnt doch nicht etwa den Granatap fel meinen. Also hört mal, das ist doch nichts für ein Kind. Ich gehe selber dorthin oder schicke einen meiner Gefolgsleute …« »Womöglich den Herzog von Dürrheim?«, fragte Mirza, der seine unterwürfig-joviale Maske abgelegt hatte und auch nicht mehr wie der kleine, wichtigtuerische Kaufmann klang, sondern ziemlich bitter und drohend: »Es würde keinen Profit abwerfen, wenn man Ihnen die Rösser überlassen würde, während Sie im Besitz des Granatapfels sind oder sein könnten!«
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»Ich weiß – äh – worauf du anspielst und gebe zu, dass dieses Geschäft ein unreeller Schachzug war. Ich bereue es wirklich und kann dir versichern …« »Wie Sie auch den Magiern und den Königen der Sechs versi chert haben, dass sie ein Fest zur Entspannung haben würden?«, fragte Maschkent. »Nein, Kaiserliche Hoheit, verzeihen Sie mir diese unvermeidbare – und darin werden Sie mir zustimmen –, begreifliche Verletzung Ihrer Gastfreundschaft, aber ich muss Ihnen sagen, dass Ihr Wort in Bezug auf diese Dinge für uns seinen Wert eingebüßt hat.« Madame Himbeere war die erste, die ihre Sprache wiederfand: »Und einmal ganz abgesehen davon, Hoheit, müssen Sie jetzt dann doch sicher ein Heer aufstellen, wenn Sie sich mit Argonien verbünden wollen?« »Wie gut, dass ich in eine Familie eingeheiratet habe, in der es so viele Frauen gibt, die mich an meine Pflichten erinnern!«, knurrte Leofwin. »Ja, ich muss ein Heer aufstellen und ich werde Eberesch auf jeden Fall helfen, mit oder ohne Zauberpferde. Ich mag nur nicht …« Aber Bronwyn wartete nicht ab, was er nicht mochte. Sie hatte ihren Entschluss schon gefasst – ihr Vater musste diese Pferde haben – und zwar alle, mit Leofwins Gefolgsleuten auf dem Rük ken. Sie sah Maschkent an und sagte entschlossen: »Ich würde nicht um alles in der Welt hinausziehen, um diese alte, verflixte Frucht …« »Um des Profits willen, gib ihr doch den verfluchten Zauber!«, rief Maschkent. Mirza suchte in der Tiefe seiner Ärmel herum und zog eine un scheinbare, kupferne Kette heraus, von der ein blaugrüner, in Leder gefasster Stein herunterhing. Mit einer seiner zeremoniösen Verbeugungen überreichte er sie Bronwyn. »Bitte übergeben Sie Ihren Schild Ihrem Herrn«, wies er sie an, als sie das Armband in der Hand hin und her wendete, »und befestigen Sie diesen Zauber
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an Ihrem Handgelenk. Es wird es Ihnen ermöglichen, endlich ohne die beschwerlichen Umwege die Wahrheit zu sagen.« Bronwyn tat, wie man sie geheißen hatte, aber wünschte, dass sie ihr etwas gegeben hätten, das ihr wahrscheinlich weniger im Weg gewesen wäre, so etwas wie die Sklavenarmbänder wäre sehr viel zweckmäßiger gewesen. Aber wenigstens hatte der Zauber die gewünschte Wirkung. »Liebe Kaufleute, jetzt sagt mir nur noch, wie ich dorthin gelan gen kann«, begann sie, aber bevor sie zu Ende reden konnte, geschah es, dass ihr Jack zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, ins Wort fiel. »Einen Moment mal«, sagte er und legte ihr dabei schützend die Hand auf den Arm, was sie sehr irritierte, dann wandte er sich an die Kaufleute und fragte sie streng: »Wo ist der Haken bei der Sache?« »Haken? Wer ist denn dieser verwahrloste Lakai, dass er zu mir von Haken sprechen kann? Gnädiges Fräulein, Sie sollten Ihren Speichellecker besser in Schach halten!« Leofwin machte den Eindruck, als ob er sprechen wollte, aber bevor er etwas sagen konnte, mischte sich Karola ins Gespräch ein: »Mensch, pass bloß auf, wen du hier einen Speichellecker nennst, du mieser Hausierer! Wohin Bronwyn geht, gehen auch wir hin. Auch wenn sie nicht viel von Magie versteht, so tu ich’s doch wenigstens. Ich kann ziemlich gute Noten in magischer Ethik vorweisen, wenigstens was die Theorie anbetrifft, und ich weiß genauso gut wie ihr, dass jeder Zauber seinen Preis hat, dass jedes Übel geheilt werden kann und dass in jedem Heilmittel ein Übel versteckt ist, weil es sonst nämlich nicht funktioniert. Es wäre also nur fair, wenn ihr uns sagen würdet, was es mit diesem Granatapfel auf sich hat und uns erklärt, warum wir ihn holen sollen, bevor sie geheilt werden kann, wenn ihr das Armband nun ohnehin ermöglicht, die Wahrheit zu sagen?« Maschkent spreizte seine Hände auf den Knien, um anzudeuten, dass er sich geschlagen gab. »Also gut, das Armband ermöglicht ihr nur, die ersten drei Minuten die Wahrheit zu sagen, dann hat es seine Kraft verloren. Ist das denn so schlimm? Immerhin kann sie 277
ihr Ehrenwort geben, während sie es anhat. Sobald sie sich die Frucht geholt hat, wird sie keinen Zauber mehr brauchen. Was den Granatapfel anbetrifft, so bin ich mir sicher, dass Seine Kai serliche Hoheit euch sehr viel besser über dessen Bedeutung aufklären kann. Schließlich war er derjenige gewesen, der seine Kräfte entfesselt hat. Wir wollen nur, dass er wieder zu uns nach Miragenia zurückkehrt, wegen …« und hier stimmte Mirza mit ein: »des Profits von allem.« Leofwin, der zuerst den Eindruck gemacht hatte, als ob er ziem lich erpicht darauf gewesen wäre zu sprechen, wurde unter den vorwurfsvollen Blicken der Kaufleute und den neugierigen Blik ken seiner Gäste ziemlich unruhig. Einen Augenblick lang war alles ganz still, bis auf Anastasias Geplätscher im Brunnenbecken. Die Schwänin versuchte, sich durch ihre eigenen Schwimmbewe gungen zu beruhigen. Leofwin räusperte sich und fing umständ lich an zu sprechen: »Ich war’s eigentlich gar nicht, der’s getan hat. In Wirklichkeit war es Fric’s Idee – Fric ist mein zweiter Bruder. Sie haben ihn nicht kennengelernt, Prinzessin, aber er ist’s, der den Granatapfel nun hat, und er ist auch derjenige, der als erster daran gedacht hat, das Bankett zu veranstalten. Ich war nicht mal selber dort. Ich war nur insofern daran beteiligt, als ich Dürrheim für seine Dienste entlohnen und hinterher die Aufräum arbeiten beaufsichtigen musste.« »Was denn aufräumen?«, zischte Anastasia unvermittelt und streckte den Kopf über den Rand des Beckens, so dass ihr Schna bel unmittelbar neben seinem Ohr war. Er sprang auf und sah sich fragend um, weil er wissen wollte, wer gesprochen hatte, dann schüttelte er den Kopf, als ob er ›Jetzt schlägt’s aber dreizehn‹ sagen wollte, bevor er dann fortfuhr: »Ich musste aufräumen, nachdem Fric den Granatapfel für die Schar lat... – Magier – die die sechs Länder um Frostingdung herum schon mit Hilfe ihres Hokuspokus und ihrer Schwarzen Kunst beherrscht haben, als ich noch ein kleiner Junge war. Als ich dann beschlossen hatte, diese Länder zu einem einzigen, starken Land unter einer kompetenten, zentralen Führung – nämlich meiner 278
eigenen – zu vereinen, obwohl mein Vater zu jener Zeit noch den Thron innehatte, wusste ich, dass ich als erstes etwas gegen die unrechtmäßigen Vorteile unternehmen musste, die die Könige der anderen sechs Länder über uns normale, ehrliche Frostingdungia ner hatten. Fric – der Drilling, den ihr noch nicht kennengelernt habt – sagte, dass er diese Kerle kennen würde«, wobei er mit dem Daumen auf die Miragenier deutete. »Diese hätten eine klei ne Pflanze, die sich für unser Vorhaben sehr gut eignete und der alte Docho, einer der Ihren, könnte sie zu einem akzeptablen Preis für uns erwerben.« Maschkent schnaubte so energisch, dass die Haare, die aus sei ner Nase herauswuchsen, wie Banner im Wind flatterten. »Glau ben Sie eigentlich wirklich, dass wir eine solche Tat für einen so niedrigen Preis vollbracht hätten. Ein Geschäft, bei dem wir auch noch dazu gezwungen gewesen wären, einem anderen Mann als Vasallen zu dienen. Der Mann, den Sie Dürrheim nennen, ist nur ein Ausgestoßener und ein schlechter Geschäftsmann noch dazu, ganz zu schweigen von seiner Sucht, anderen ihr Eigentum weg zunehmen. Er begeht seine Missetaten nicht, um Profit zu ma chen, sondern nur, um Schaden anzurichten.« Der Klang seiner Stimme und sein Gesichtsausdruck verrieten, dass er eine Person, die aus solch widernatürlichen Beweggründen heraus handelte, zu allem fähig hielt. »Wie schon gesagt«, fuhr Leofwin fort, indem er den Kaufmann hochmütig anfunkelte, »hat mir Fric weisgemacht, dass ich einen solchen Granatapfel haben musste. Nun, ich habe ihm schon ein bisschen geglaubt, andererseits war mir natürlich auch klar, dass ich in Wirklichkeit ein starkes Heer brauchte, also überließ ich Fric den schmutzigen Teil des Geschäfts. Darauf hat er sich näm lich schon immer gut verstanden. Er hielt also das Bankett für alle Magier, Könige, Wesire und die anderen Scharlatane ab und gab jedem von ihnen ein Stück Granatapfel zum Nachtisch. Danach waren sie wie Lämmer, die zum Schlachten bereit sind – er tötete sie an Ort und Stelle, während sie sich noch darüber wunderten, wo ihre Abrakadabras hingekommen waren. Ich habe dann mit 279
meinem Heer den Rest erledigt. Mit eisernen Schwertern und Armreifen kann man eine Menge erreichen, wenn man sich ein paar minderwertigere Schwarzkünstler unterwerfen will.« »Aber wenn der Granatapfel aufgegessen worden ist, wie soll ihn dann Bronwyn wieder zurückbekommen?«, fragte Karola. Maschkent erwiderte: »Natürlich handelt es sich um einen ande ren Granatapfel. Ein neuer Granatapfelbaum, der aus einem einzi gen Samen der ursprünglichen Frucht gewachsen ist – außerdem ist es auch so, dass nur alle einundzwanzig Jahre eine einzige Pflanze wächst.« »Und wie wollt ihr wissen, dass Fric nicht alle Samen vernichtet hat?«, fragte Leofwin herausfordernd. »Weil wir die Pflanze im Teich der Visionen gesehen haben, durch den die Prinzessin auch über das Schicksal ihres Vaters unterrichtet wurde. In diesem Teich können wir alles Gegenwärti ge und Vergangene sehen«, sagte Maschkent. »Hmmm«, sagte Karola. »Meine Großtante Sybil kann das auch, aber sie braucht dazu nur einen Kristall und nicht gleich einen ganzen Teich!« »Nun, es ist nicht gerade eine Magie mit Seltenheitswert«, erwi derte Maschkent bescheiden, »aber eine, die sehr nützlich ist. Mit ihrer Hilfe haben wir auch gesehen, dass sich der Granatapfel immer noch in dem Schloss befindet, das der Bruder des Kaisers bewohnt.« »Und wir wollen ihn zurückhaben«, sagte Mirza, »damit ihn der Bruder des Kaisers nicht eines Tages gegen Miragenia einsetzt. « »Wir müssen ihn wegen des Profits für alle haben«, wiederholte sein Onkel mit frömmelnder Stimme. »Trotz des ganzen Hokuspokus muss ich zugeben, dass es eine gute Idee ist, denn der alte Fric ist nicht mehr das, was er früher war, und ich wage zu behaupten, dass ein gefährlicher Leckerbis sen wie der Granatapfel in weniger unberechenbaren Händen sicherer wäre«, sagte Leofwin. »Allerdings sehe ich immer noch nicht ein, warum man die Frucht von Kindern holen lässt. Warum 280
geht ihr denn nicht selbst, wenn ihr mir nicht traut? Ich gebe euch mein Siegel, das ihr Fric vorzeigen könnt …« Die beiden Kaufleute sahen sich mit wachsender Unruhe an und Maschkent sagte schließlich: »Was, wir sollten unsere höchsten Werte aufs Spiel setzen, wenn diese junge Dame hier sich erst noch den Preis für unsere Zauberrösser verdienen muss. Das wäre nicht nur furchtbar kleinlich, sondern auch ganz einfach dumm von uns.« Von draußen drang nun ein hohes Wiehern an ihr Ohr, worauf die Kaufleute aufsprangen und in den Hof hinausrannten. Der schwarze Djinn wälzte sich im Schnee, seine Augen traten aus den Höhlen und seine Brust hob und senkte sich verzweifelt, als er versuchte, sich die Zangen von einer von Dürrheims Senya tias vom Hals zu reißen. Ein geflügelter Hengst flog über die Mauern und die Stadt hinweg. An seinem Rücken klammerten sich Dürrheim und Belburga fest. »Soviel zum Herzog und seiner Palastrevolte«, sagte Rostie trocken. »Ich hoffe nur, dass Mama keine Höhenangst hat!« Die Miragenier waren schließlich damit einverstanden, dass Bronwyn, Karola und Jack auf den fliegenden Pferden zu Leofrigs Herrschaftsgebiet reiten sollten, vorausgesetzt, dass sie an der Grenze von Westfrostingdung abstiegen, die Pferde wieder frei ließen und das letzte Stück Wegs bis zum Schloss zu Fuß gingen. Sobald die Kinder auf dem Weg zu Leofrig waren, wollte der Kaiser die Pferde dazu benutzen, um ein Heer zusammenzutrom meln. Nachdem sie Leofwin und die Kinder noch einmal davor gewarnt hatten, dass sie den Gebrauch ihres wertvollen Eigentums vom Teich der Visionen aus überwachen konnten, luden die Kauf leute ihren verletzten Diener auf, den sie in ihre Mitte nahmen und flogen davon. Bronwyn und ihre Kameraden hatten beim ersten Licht des Tages ihre Pferde bestiegen und waren bereit zum Abflug. Sie hatten nur das Allernotwendigste an Proviant mitgenommen, um dadurch 281
nicht die Abreise unnötig zu verzögern, aber die beiden Kaufleute hatten ihnen davon abgeraten, irgend etwas zu essen, das von Leofrics Tisch stammte. Jack und Karola ritten zusammen auf einem Pferd, während Bronwyn ihr eigenes Reittier hatte, und Anastasia konnte nebenher fliegen. Die Reise nahm beinahe den ganzen Tag in Anspruch und hatte die fröhliche Ferienstimmung eines Gewaltmarsches, daran war besonders Bronwyn schuld, die verbissen vorausflog, und Anasta sia, die ihre eigenen Kreise zog, um die Gegend besser auszu kundschaften, aber auch Karola machte ziemlich saure, pessimi stische Bemerkungen und nickte vielsagend dazu im Sattel. Kei ner hatte Zeit oder Lust gehabt zum Schlafen. Jack meinte daher, dass auch er sich sehr ernsthaft geben müsste und versuchte so gut er konnte, sich Sorgen zu machen. Sowohl sein Vater wie auch sein Großvater waren in König Brüllos Heer. Aber da sie Zigeuner waren, hatten sie schon oft in der Klemme gesessen, und Wasser hatte dabei auch nicht selten eine Rolle gespielt. Wenn sie an seiner Stelle wären, würden sie sich auch keine Sorgen machen, da sie ja doch nichts tun konnten – statt dessen würden sie den aufregenden Ritt auf dem Rücken eines prachtvollen Geschöpfs genießen. Noch nie war Jack so schnell so weit und auf solch einem schönen Tier geritten! Wenn er es schon nicht schaffen sollte, bei der Rückkehr zu seinem Volksstamm eines der Tiere mitzunehmen, dann könnte er wenigstens eines mit einem Zigeunerpferd kreuzen – das Fohlen, das dabei heraus kommen würde, wäre das Gold wert, das er brauchte, um seinen Männlichkeitstest zu bestehen. Langsam wurde ihm unangenehm bewusst, dass die Zeit immer knapper wurde. Wie traurig wäre es für ihn, wenn er zwar helfen würde, das Königreich zu retten, aber dafür ein ewiger Knabe bleiben würde! Am späten Nachmittag verschwand die Sonne und löste sich in einem Himmel von leerer und farbloser Eintönigkeit auf. Der Wald lichtete sich zusehends und bestand am Schluss nur noch aus ein paar vereinzelten Bäumen, die dann zu Büschen zusam 282
menschrumpften und schließlich ganz verschwanden in der grauen Weite des ausgetrockneten Ödlands. Anastasia richtete beim Fliegen den Kopf nach unten, mit ihren scharfen Augen suchte sie die leere Landschaft ab. Gerade als sich Jack davon überzeugt hatte, dass sie nur nach etwas Fressen such te, stürzte sie in einer schnellen, schwindelerregenden Spirale aus der Luft herab, als ob sie plötzlich zu schwer geworden wäre, um oben zu bleiben. Die Pferde folgten ihrem Beispiel, wobei sie aber etwas weniger jäh landeten als Anastasia. »Was ist los?«, fragte Karola die Schwänin, die fassungslos auf das graue Land starrte, das vor ihnen lag. »Es ist – es ist genauso eingetroffen, wie ich befürchtet habe. Das ist alles, was von meiner geliebten Heimat, dem Unpflügba ren Land übriggeblieben ist.« »Das kann doch gar nicht sein«, wandte Bronwyn ein. »Der Kaiser hat doch ausdrücklich gesagt, dass dies das Gebiet wäre, in dem wir Westfrostingdung finden würden!« »Trotzdem ist dies das Unpflügbare Land, unpflügbarer denn je, aber ich würde es überall wiedererkennen. Also musste unser Königreich das erste gewesen sein, das sich den Eroberern unter worfen hat, wenn Leofric seinen teuflischen Plan von hier aus durchgeführt hat. Mein armer Vater! Ich habe ja schon immer gewusst, dass die Unfähigkeit meiner Landsleute, Bogenschützen auszubilden, eines Tages unser Untergang sein würde.« »Nun, ganz gleich wo wir jetzt sind, so schlage ich doch vor, dass wir erst mal den Prinzen und das Schloss suchen, damit wir drinnen sind, bevor es Nacht wird und wieder die Klammheimli chen und Ungeheuer ausschwärmen.« Karola zitterte vor Angst. »Ich glaube, dass es so etwas Lebendiges wie Ungeheuer in die sem Land überhaupt nicht gibt«, sagte Jack und betrachtete traurig die Öde, die sie umgab. »Es gibt hier ja nicht einmal einen Ort, wo man etwas verstecken könnte.« Sie stiegen ab und gaben den Pferden einen Klaps aufs Hinterteil, damit sie wieder zu ihren Herren zurückkehrten, und gingen zu Fuß weiter. 283
Anastasia flog neben ihnen her über das Land, von dem die Wanderer zuerst gemeint hatten, dass es flach wäre, aber das ihnen schon sehr bald wie ein langer, ansteigender Abhang vor kam. »Wer könnte sich heute noch vorstellen, dass diese graue, verunkrautete Geröllhalde hier einmal ein Paradies des Treibsan des und ein Sumpf war, die Heimat von unzähligen Insekten schwärmen, ein Dorado für die Schlange und den trägen Alliga tor?«, jammerte die Schwänin. »O mein Königreich, was haben sie nur aus dir gemacht!« Was es auch sein mochte, es war nicht besonders angenehm. Der Marsch war entsetzlich. Kleine Steine bedeckten den Boden, die gerade noch groß genug waren, um das Gehen zu erschweren und die Füße aufzuschürfen. Am trägen Himmel begann sich nun etwas zusammenzubrauen, er entfesselte einen eisigkalten Wind, der durch die paar zähen Kräuter und das Geröll fegte und der wegen des fliegenden Staubs und der Kälte in den Augen der Reisenden brannte und erbarmungslos durch die eleganten Mäntel blies, die sie sich von Leofwin geliehen hatten. Als sie an einen tiefen, mit einer Schaumschicht bedeckten Teich kamen, der so aussah, als ob er schon vor dem frostingdun gianischen Krieg dort gewesen wäre, ließ sich Anastasia auf dem schwappenden Wasser nieder, das sich im Wind kräuselte und jedes Mal beim Zurückweichen einen unschönen, grünbraunen Ring um Anastasias geschmeidige Schwärze hinterließ. Da sie aber doch auch sehr heikel war, ließ sie ihre Flügel auf dem Rük ken gefaltet. »Ist dies alles, was von meinem schönen Fluss noch übrig ist?«, fragte sie leise und sagte dann zu ihren Freunden: »Hier floss einmal ein großer Fluss, der die Sümpfe mit Wasser versorgt hat. Kein Wunder, dass sie verschwunden sind!« »Es ist schon viele Jahre her, seitdem du deine Heimat zum letz ten Mal gesehen hast«, sagte Jack sanft. »Vielleicht ist dies gar nicht dein Heimatland.« »O doch – als uns Leofwin den Weg beschrieb, wusste ich, dass wir Kurs auf das einstmalige Reich meines Vaters nehmen wür den. Aber ich habe mir nicht träumen lassen, dass es so gründlich 284
zerstört worden ist. Ich wünschte nun, dass ich meinem Herzen gefolgt und in die andere Richtung geflohen wäre! Man kann es nicht in Worte fassen, wie diese Elenden mein Land verwüstet und geplündert haben.« Und ohne auf die anderen zu warten, dass sie sie wieder einholten, flog Anastasia davon. Aber nach dem Teich mussten sie nur noch ein paar Schritte gehen, bevor sie auf der Spitze eines Hügels anlangten. Auf der anderen Seite sahen sie einen Fußpfad genau an der Stelle herauf kommen, an der sie sich befanden. Auf den ersten Blick schien der Weg aus großen Steinen gemacht zu sein, die einmal weiß gewesen und nun verschmutzt waren. Durch den Schmutz beka men sie eine etwas blassere Grautönung als der Kies in ihrer Umgebung. Als Karola anhielt, um sich auszuruhen, ließ sie sich auf einem der Steine nieder, der runder war, als sie ursprünglich gedacht hatte. Da er nicht sehr bequem war, fasste sie mit den Fingern hinab, um ihn zurechtzurücken. Aber er rührte sich nicht von der Stelle. Sie hockte sich hin und versuchte den Stein mit den Fingern abzutasten, dabei rutschte ihr die Hand aus – unter den Felsbrocken, wie sie dachte –, aber als sie kräftig daran zog, entdeckte sie, dass sie die Finger durch die Augenhöhlen eines Totenschädels gesteckt hatte. Ein geräuschvolles Flügelrauschen kündigte Anastasias Rück kehr an. Eilends stieß Karola den Totenschädel wieder an seinen Platz zurück, denn schließlich konnte es sich ja um einen Ver wandten handeln. Die Schwänin hatte das Gebiet, das vor ihnen lag, ausgekund schaftet. »Ich muss gestehen, dass trotz meiner Trauer meine Neugierde allmählich immer mehr wächst«, sagte sie. »Der Hauptturm ist genau dort, obwohl er niedriger ist, als ich ihn in Erinnerung habe. Aber das übrige Schloss fehlt. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wohin es verschwunden ist.« Sie sahen bald mit eigenen Augen, was sie meinte und kamen auch dem Rätsel auf die Spur. Der Hauptturm war nach altherge brachtem Muster auf einem von Menschen aufgeworfenen Hügel gebaut und schien weniger unter katastrophalen Umwälzungen 285
gelitten zu haben, die dort offenbar stattgefunden hatten, als das übrige Schloss. Alles was von den Grundmauern noch übrig war, waren ein paar Mauerzacken und die Spitzen von ein paar Tür men. Da diese genauso erbarmungslos grau waren wie die übrige Landschaft, waren sie Anastasia zuerst entgangen, als sie darüber hinweg geflogen war. Ein breiter Graben, der aber keinen einzigen Tropfen Feuchtigkeit enthielt, markierte die Umgrenzungslinie der Burganlage. Die Straße mit den Totenschädeln führte direkt zur Tür des Hauptturms. »Der alte Bau ist ja wirklich heruntergekommen«, sagte Anasta sia, die auf eine rührende Weise versuchte, ihrer Stimme Leich tigkeit zu verleihen. Karola funkelte sie wütend an. Sie wünschte, dass das Geschöpf endlich mit seinen entnervenden Lamentatio nen aufhören würde und nicht immer wieder davon anfangen würde, wie schlimm es war, nach Hause zurückzukehren, wo alles in Schutt und Asche lag. Natürlich musste es für die Schwänin schwer sein, mit solchen Veränderungen fertig zu werden, aber sie sollte dabei ein bisschen mehr Rücksicht auf ihre Freunde nehmen und es in aller Stille tun. Karola wollte sich nun einmal nicht mehr mit dem Thema befassen, und sie wollte vor allem keine schlech ten Witze mehr darüber hören. Jack, der das Stocken in der Stimme der Schwänin hörte und Bronwyns plötzlich betroffenes und Karolas wütendes Gesicht sah, hatte plötzlich das Gefühl, dass Argonia gar nicht so fern war, wie er zuerst gedacht hatte. Obwohl er als Zigeuner kein festes Zuhause hatte, zu dem er zurückkehren konnte, hatte er doch eine plötzliche Vision von sich, wie er auf seinem fliegenden Pferd über das Land hinwegflog, in dem er geboren war und nach seinen Leuten suchte, sie aber nirgends fand – ihre Lagerfeuer für immer erloschen. Aber zu sich selbst gewandt, wiederholte er noch ein mal, dass er jetzt nichts dagegen tun könne. Als der männliche Beschützer dieser hilflosen Frauen war es vielmehr seine Pflicht, sich um ihr Wohlergehen und die bevorstehende Aufgabe Gedan ken zu machen. »Hoheit«, sagte er freundlich zu Anastasia, »viel leicht wäre es gut für Sie, wenn Sie zum Palast zurückkehrten …« 286
»Und wieder riskiere, von den Fliegern zu Tode gestochen zu werden?«, sagte die Schwänin hochnäsig. »Nein, danke!« »Aber sehen Sie sich doch nur an, was der Bruder des Kaisers mit Ihrem Palast gemacht hat! Ich möchte ja wirklich nicht wis sen, was er mit den ehemaligen Bewohnern anstellen würde, und in Ihrer derzeitigen Gestalt könnten Sie sich ja kaum wehren. Sie können weder Waffen bedienen noch sich in einem geschlossenen Raum geschickt bewegen und wir – es könnte sein, dass wir Ihnen nicht einmal mehr helfen könnten!« Einen Augenblick lang war sie ganz still, und dann sagte sie müde: »Ach ja, ich glaube, dass es jetzt wichtiger ist, dass ihr die unselige Frucht besorgt und dass ich euch dabei nicht im Weg bin. Ich werde im Teich auf euch warten, und wenn die Ungeheuer zu Lande oder in der Luft ihr Spiel mit mir treiben, dann wird großes Leid über sie kommen. Außerdem kann ich jederzeit untertau chen, sicherlich sind doch keine Lebewesen mehr in diesem Teich.« Sie machte Anstalten fortzufliegen, aber drehte sich dann doch noch einmal um und sagte: »Rupft mir eine Feder aus, bevor ich fortfliege, und wenn ihr mich braucht, könnt ihr die Feder verbrennen, dann komme ich sofort wieder.« Jack tat, was sie von ihm verlangt hatte, und dann flog sie da von. Bronwyn hatte ihr Schwert gezogen. Sie verwendete nun den Knauf dazu, gegen den oberen Teil der Tür zu hämmern, der schon zur Hälfte in der grauen, kiesigen Erde versunken war. Jack war allerdings noch nicht ganz gefasst auf soviel Betrieb samkeit und dabei auch noch so schnell. Nachdem er das Zeichen wider den Bösen Blick gemacht hatte, duckte er sich hinter Karola nieder. »Also ehrlich!«, sagte die Hexe vorwurfsvoll, als Bronwyns Klopfen keine Antwort zeitigte und die große Prinzessin mit einem verwirrten und hilflosen Gesichtsausdruck einen Schritt zurücktrat. Karola schritt mutig nach vorn und klopfte dreimal – auf eine raffinierte Weise. Beim dritten Schlag öffnete sich die Tür, die an quietschenden, eisernen Angeln hing und von denen eine abbrach, so dass die rissige Tür aus Eichenholz plötzlich 287
kippte und beinahe aus der Türfüllung heraus und krachend und polternd und in einem Schwall von modriger, unreiner Luft ins Turminnere gefallen wäre. Graue Staubwolken wurden aufgewir belt und die drei fingen fürchterlich zu niesen an. Als sie sich wieder gefangen hatten, fragte Jack: »Findet ihr nicht auch, dass wir hineingehen sollten?« »Ich wüsste nicht, was uns davon abhalten sollte. Schließlich scheint er ja seinen Besuchern nicht gerade ablehnend gegenüber zustehen, wenn er nicht einmal eine richtige Eingangstür hat«, bemerkte Karola beißend. »Vielleicht ist er auch nicht zu Hause …« »Das Ganze sieht wirklich sehr heimelig und bewohnt aus«, stimmte ihr Bronwyn zu, die ihr Armband bei Antritt der Reise abgelegt hatte, um sich seine Zauberkraft länger zu bewahren. Wieder fegte ein eisiger Windstoß über sie hinweg, der die er sten Schlossen eines Hagelsturms mit sich führte. Geduckt gingen sie in den Turm hinein und stolperten die eingefallene Treppe hinunter. Jack und Bronwyn machten sich an der Tür zu schaffen und schoben sie, soweit als möglich, wieder an ihren alten Platz zu rück. Im Innern war es dunkel und draußen hatte der Wind zu pfeifen angefangen, die Hagelkörner trommelten einen schnellen Zapfenstreich gegen die Mauern, ein langgezogenes, gequältes Bellen hallte durch das Gebäude wider. Es schien aus einem Raum zu kommen, der unter ihnen lag, und Jack hätte schwören mögen, dass die Schwingungen den Boden erzittern ließen. »Habt ihr das gehört?«, fragte Karola. »Was gehört?«, fragte Bronwyn durch entschlossen zusammen gebissene Zähne hindurch. »Ach das, das war doch nichts!« »Das war mindestens ein Werwolf«, winselte Jack. »Man hat uns in unser Verderben geschickt!« »Ach Quatsch!«, sagte Karola und schüttelte sich vor Angst. »Außerdem ist Eisen an der Tür, so dass wir vollkommen sicher
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sind. Hast du eigentlich noch diese neue Zunderbüchse, die wir aus Leofwins Küche mitgenommen haben?« »Aber natürlich!« »Dann versuch mal, eine Flamme anzuzünden und vielleicht findet Bronwyn eine Fackel. Irgendwo an der Wand müsste ei gentlich eine sein.« Bronwyn schlich sich zur Tür zurück, wobei sie sich mit den Händen an der Mauer entlangtastete. Schon nach den ersten bei den Schritten stieß sie ihr Schienbein an etwas Kantigem an. Dies hatte zur Folge, dass eine ganze Reihe von Gegenständen laut klappernd über den Boden rollten und polterten, über die sie stolperte und nachdem sie eine ganze Weile mit den Armen wild in der Luft herumgefuchtelt hatte, gewann sie ihr Gleichgewicht wieder. Aber während des Herumfuchtelns berührte sie mit den Fingerspitzen etwas, das sich wenigstens wie eine Fackel anfühlte, also griff sie danach und gab es Jack zum Anzünden, als sie wie der zum Stillstand gekommen war. Es erblühte mit einem Licht, das wenigstens für einen Augen blick sehr viel tröstlicher war als die Sonne, obwohl es entstellen de Schatten über die Gesichter der drei Freunde warf. Jack schnitt eine Grimasse und sagte »Oooh ha ha« mit einer komisch furchteinflößenden Stimme, aber stellte fest, dass er selber die meiste Angst hatte und durch sein Verhalten alles nur noch viel schlimmer machte, also hielt er lieber den Mund. Sobald sich jedoch seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hat ten, stieß er einen leisen Pfiff aus. Das Fackellicht, so schwach es auch war, funkelte von den Facetten von Tausenden von Juwelen zurück, die in unzählige Schatzgegenstände eingelassen waren, mit denen der Raum vollgestopft war. Allmählich konnte er die Umrisse von juwelenbesetzten Stühlen, Tischen, Schüsseln, Ki sten, Schränken, Kleidern, Waffen, Rüstung und vielen anderen Arten von Gegenständen unterscheiden, die hier wahllos durch einanderlagen.
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»Anastasia wäre sicher begeistert davon, wie man hier mit ihrem Familiensilber umgeht«, sagte Bronwyn in einem betont leichten Ton. »Alles sehr schlampig«, stimmte ihr Jack zu und machte Anstal ten, sich die Taschen mit den Schätzen vom nächstbesten Haufen vollzustopfen. »Ich will nur mal ein bisschen aufräumen.« Karola packte ihn, als er gerade die Hand ausstreckte. »Wenn der Bruder des Kaisers immer noch hier lebt, dann dürfte es uns wohl kaum gelingen, ihm den Granatapfel zu entlocken, wenn wir etwas von ihm klauen.« »Glaubst du denn wirklich, dass es jemand merken würde?«, fragte Jack, aber begann doch die Juwelen und Münzen mit mürri scher Miene und Stück für Stück wieder zurückzulegen. Er konnte sie sich ja immer noch holen, wenn der Granatapfel erst einmal sichergestellt war. Den Lärm, den die Juwelen machten, als sie wieder auf die Hau fen zurückwanderten, übertönte einen Augenblick lang die lang samen Schritte, die sich ihnen schwerfällig und Stufe um Stufe näherten. Jack erstarrte zu Eis, als er sie hörte. Die Schritte zögerten, als sie an einem ganz bestimmten Punkt anlangten, wie zum Beispiel einer Tür oder einem Treppenabsatz. Das schwere, rasselnde Atmen, das nun den Raum erfüllte, war lauter als das Prasseln des Hagels. Dann stapften die Schritte mit qualvoller Langsamkeit auf sie zu. Der Mann, der ihnen schließlich gegenüberstand, war kein biss chen gewaltig, höchstens gewaltig deprimierend, aber jedenfalls nicht die Sorte von Mensch, die man an einen Kaiserhof holen würde oder die man auch nur zu einem Hausfest einladen würde. Er ging gebückt, hatte einen mürrischen Gesichtsausdruck und sah entsetzlich ungesund aus. Seine Kleidung, die vielleicht einmal so vornehm gewesen war wie die Gewänder, die im Raum herumla gen, war zerrissen, mit Flecken übersät und so schmutzig, dass sie gar keine Farbe mehr hatte, sondern durch und durch grau war. Das matte Metallband mit den leeren Juwelenfassungen, mit dem 290
ein zerfetzter Ärmel besetzt war, hing auf einen von zahlreichen Rissen in einer übelriechenden, alten Kniehose herunter, die um seine dürren Beine schlotterte. Er hatte einen vergilbten Bart, der zum Teil in einem Tuch steckte, das er sich um den Kopf gebun den hatte. Seine wässrigen Augen blinzelten wiederholt ins Fak kellicht und er leckte sich die welken Lippen über dem eingefalle nen Zahnfleisch. »Blut von der Katz!«, fluchte diese Erscheinung mit gedämpfter Stimme. »Wer seid denn ihr? Ist mir zwar egal, aber keiner hat euch gebeten hierherzukommen. Ich werde die Hunde rufen.« »Nein, Herr, bitte tun Sie das nicht!«, bettelte Karola mit der ganzen unschuldigen Kleinmädchenhaftigkeit, die ihr zu Gebote stand. »Und warum nicht?«, fragte er, obwohl er sich nicht so anhörte, als ob er an einer Antwort interessiert wäre. »Weil«, sagte Jack, »weil wir vom Kaiser kommen …« »Ja«, sagte Bronwyn. »Wir sind hierhergeschickt worden, um bei Prinz Leofric zu übernachten. Wir sind von der Kaiserin Tausendschön-Stiftung für Waisenhilfe. Wir sind als die gutmü tigsten Waisen ausgewählt worden, um dem Prinzen als Mündel übergeben zu werden.« »Und habt ihr euch danach verhalten? Nennt ihr das vielleicht gutmütig, in der Dunkelheit herumzutoben und einen alten Mann zu ärgern? Ich wüsste nicht, wozu wir Waisen gebrauchen könn ten, ob gutmütig oder nicht, höchstens als Hundefutter. Jagdhunde werden lahm, wenn man ihnen nur Schlangen- und Rattenfleisch vorsetzt.« Allmählich dämmerte es Karola, dass dies kein besonders netter alter Mann sei, aber man musste es trotzdem versuchen. Also sagte sie: »Herr, bitte könnten wir Prinz Leofric sehen?« Der alte Mann breitete zuerst die Arme aus und ließ sie an den Seiten wieder herabsinken, dann kehrte er ihnen den Rücken zu, hob die Arme wieder und ließ sie wieder herabsinken. »Das ist
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alles, was von ihm noch übrig ist. Nun habt ihr ihn gesehen. Und jetzt aber raus mit euch!« Bronwyn richtete sich zu ihrer vollen königlichen Riesinnenge stalt auf. Sie hatte von Anfang an befürchtet, dass dieser Mann, trotz des verdächtigen Fehlens der Familienähnlichkeit, niemand anders war als Leofwins langvermisster Drillingsbruder und kein Diener. Wenn er ein Diener gewesen wäre, dann wäre er bestimmt schon längst am Strick der Bedienstetenglocke aufgeknüpft wor den, nach dem desperaten Zustand zu urteilen, in dem sich der Turm befand. Zu Jack und Karola aber sagte sie: »Wie kurzsichtig wir doch gewesen sind, meine Freunde, dass wir nicht gleich den Prinzen an seiner großzügigen Gastlichkeit erkannt haben, für die er im ganzen Kaiserreich berühmt ist. Wenn ich mich nicht irre, ist seine letzte Abendgesellschaft sogar in die Geschichte einge gangen!« »So, so«, sagte der alte Knacker, »das dürfte doch wohl klar sein! Marsch jetzt, raus mit euch! Wenn ihr nicht das gleiche Schicksal erleiden wollt!« »Aber draußen hagelt es doch …«, protestierte Karola, und sie waren jetzt alle ganz still, damit er die herabprasselnden Hagel körner und den Wind hören konnte und mit den Kindern Mitleid hätte. Statt dessen hatte er nur Mitleid mit sich selber. »Ich bin heute zu erschöpft, um mich mit euch Rangen rumzustreiten. Kommt mit, wenn’s unbedingt sein muss!« Als er dies gesagt hatte, führte er sie durch das Beutelabyrinth zu einem wuchtigen Tisch hin, wo bei- nahe so hoch wie im restlichen Raum schmutzige Gold- und Silberteller aufgeschichtet waren, an denen schimmlige Speisere ste klebten. Ohne ihn um Erlaubnis zu bitten, zündete Bronwyn mit ihrer Fackel vier weitere an, und sie empfand große Genug tuung, als sie sah, wie Leofric vor dem Licht zurückschreckte. Dann setzte sie sich zu Jack und Karola, die sich auf dem Boden niedergelassen hatten, mit einem aufgerollten Wandbehang als Rückenlehne.
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Leofric funkelte sie wütend an. »Ach ja, Kinder! Das ist einer meiner triftigsten Gründe, warum ich nicht zur Außenwelt zu rückgekehrt bin. Ihr seid noch genau das, was ihr schon immer wart: rotzig, gierig und laut.« Bronwyn wollte gerade wieder protestieren und sagen, dass es nicht ihre Nase sei, die lief, aber dann nahm sie doch Abstand davon und ließ ihn weiterschimpfen. »Ihr seid wahrscheinlich nur hierhergekommen, um mich auszu rauben, stimmt’s? Nun, ihr werdet hier wahrscheinlich gar nichts finden, was euch interessieren könnte. Nichts. Nur die Hunde und mich – und diesen Schrott.« »Aber das sind doch ganz hübsche Dinge«, sagte Karola entrü stet und rechtfertigte durch ihren begehrlichen Blick in vollem Umfang die Behauptung des Prinzen, der sie als gierig eingestuft hatte. »Bah! es gibt hier nicht einen Stuhl oder ein Bett, das für diese spröden Knochen eine Wohltat wäre oder in dem dieser schmer zende Kopf Ruhe fände. Kein Hemd hier und keine Hose ist leicht zu tragen oder würde richtig passen. Das meiste ist der Wirkung wegen. Man kann es nicht strapazieren, sonst wird es brüchig oder reißt. Absolut wertlos!« Als er dies gesagt hatte, spuckte er eine unbezahlbare Urne mit Einlegearbeit verächtlich an. »Sie haben gesagt, dass Sie Hunde hätten«, sagte Jack und ver suchte, das Gespräch auf ein unverfänglicheres Thema zu bringen. »Die sind sicher ein guter Umgang für Sie. Gehen Sie damit auch jagen?« Der Mann nieste mit solch lungenzerreißender Bitterkeit, dass er danach husten musste und wartete, bis er wieder zu Atem ge kommen war, um dann zu fragen: »Wo soll denn gejagt werden und was? Soll ich den Kräutern rund um den Turm herum nachja gen oder durch den Entzauberten Wald ziehen und etwas nachja gen, das mich dann wieder verfolgt und viel professioneller arbei tet, als ich es je von mir werde behaupten können. Wie hat es euch denn hierher verschlagen, ohne dass ihr gesehen hättet, dass es hier nichts, aber auch wirklich nichts zu jagen gibt? Alles einge trocknet, verwelkt, aufgegeben und verschwunden. Gib uns noch 293
ein Jahr oder vielleicht auch ein bisschen mehr, dann sind wir ebenfalls weg.« »Wenn es wirklich so schlimm ist, wie Sie sagen, warum blei ben Sie dann hier und kehren nicht an den Hof zurück?«, fragte Karola. »Was, zurück in diese Klapsmühle? Das wäre noch viel schlimmer. O ja, es war noch ganz lustig gewesen, als wir drei versucht haben herauszufinden, wer König werden könnte, ob wohl eigentlich nie in Frage stand, dass es Leofwin sein würde. Und ich könnte auch nicht gerade behaupten, dass ich ihn darum beneide. Wozu soll denn diese so genannte Macht gut sein, außer dass man den Leuten sagt, was sie tun sollen und ermüdende Kämpfe führen muss, damit sie auch wirklich das tun, was man ihnen befiehlt. Und wenn dies nicht der Fall ist, tötet man sie und sie tun’s erst recht nicht, also ist es doch ziemlich sinnlos. Ich wollte ein großer Schiedsmann werden, die Leitung des Gerichts wesens übernehmen. Das war die Übereinkunft zwischen mir und Leofwin, bevor ich die besagte Abendgesellschaft gegeben habe. Aber ich frage mich nun, wie sollte ein Mensch eine Karriere auf dem Rechtssektor machen, wenn er jeden Missetäter und potenti ellen Missetäter des ganzen Kontinents im Verlauf eines Abends beseitigt hat? Um es ganz offen zu sagen, ich vermisse diese Brüder, die ihre geballte Kraft im Raum hin- und herschleuderten und damit Tote wieder zum Leben erweckten, diese Art von Spek takel. War wenigstens unterhaltsam. Aber wir konnten es einfach nicht mit ansehen, dass sie etwas beherrschten, wovon wir nichts verstanden. Es ging einfach nicht. Wir mussten dem Spuk ein Ende bereiten, so dass uns niemand mehr überlegen war oder interessanter war als wir …« Er blinzelte wieder nach dem Trümmerfeld, das der Raum darstellte und spuckte dann wieder die glücklose Urne an. »Und es ist uns auch gelungen.« Einen Moment lang sagte keiner etwas, aber bald begann er sich wieder zu regen und sagte: »Ihr seid also hierhergekommen, um mich die ganze Nacht mit eurem kindischen Geschwätz wachzu halten, aber dann sagt mir doch wenigstens, warum ihr hier einge 294
drungen seid, oder ist es heutzutage üblich, dass Waisen pelzge fütterte Mäntel anhaben?« Bronwyn hatte wieder einmal eine ganz tolle Geschichte parat, aber Karola schaltete sich schnell dazwischen, weil sie zu dem Schluss gekommen war, dass Aufrichtigkeit die beste Methode war. »Wir sind wegen des Granatapfels gekommen. Ihr Bruder, der Kaiser, hat gesagt, dass wir ihn vielleicht bekommen könnten und dass Sie ihn uns geben würden.« »Was wollt ihr denn damit? Vielleicht eine Abendgesellschaft veranstalten?«, fragte er mit einem Lachen, das wie Hundegebell klang und wieder in einem entsetzlichen Keuchanfall endete. Bronwyn dachte gar nicht daran, ihr Armband wieder anzuzie hen und seine kostbare Kraft darauf zu verschwenden, dem alten Schurken etwas über den Krieg oder den Handel mit den Mirage niern zu erzählen, denn sie war überzeugt davon, dass wenn Leo fric herausbekam, wieviel von dem Granatapfel abhing, er sich nicht nur weigern würde, ihnen zu helfen, sondern wahrscheinlich irgend etwas ganz Mieses anstellen würde, das die Sache nur noch schlimmer machte. Flugs sagte sie daher: »Wir wollen den Gra natapfel nur meinetwegen, Herr. Weil ich dazu verflucht bin, die Wahrheit zu sagen, egal mit wem und worüber ich spreche. Man hat mir gesagt, dass ich, wenn zwei Wochen lang regelmäßig jeden Tag nur ein ganz kleines bisschen davon sehr sorgfältig in die Kopfhaut über dem Wahrheitszentrum des Gehirns einmassiert wird, von meiner schweren Bürde befreit werde.« Er biss nachdenklich auf seinen Lippen herum und sagte dann: »Hmmm, mir wäre es lieber gewesen, wenn ich von dir erfahren hätte, dass mein Bruder beabsichtigt, einen Obstgarten anzulegen, aber da dies offensichtlich nicht der Fall ist, ist deine Begründung wahrscheinlich so gut wie jede andere. Aber täuscht euch da nicht: Der Granatapfel und dieser Turm gehören mir und nicht F’win. Ich habe sie offen und ehrlich gestohlen. Eigentlich der Höhe punkt meiner Karriere. Das Gerümpel hier ist alles, was aus dieser Zeit noch übrig ist und was ich davon noch herzeigen kann. Ich möchte mir also verbeten haben, dass ihr damit herumhantiert, 295
viel Staub aufwirbelt und für nichts und wieder nichts einen Zir kus macht.« Als er vom Staub sprach, musste er wieder nach Atem ringen. Als der Anfall vorüber war, schien er gefasster zu sein als zuvor, obwohl seine Gesichtsfarbe von Graugelb in Käs weiß übergegangen war und seine Stimme viel zittriger war als vorher, so dass es nur noch ein durchtriebenes Flüstern war, mit dem er jetzt sagte: »Ich muss die Sache noch einmal überschlafen. Ihr kleinen Lauser könnt doch nicht so einfach bei einem alten Mann eindringen und ihm gleich soviel Dampf machen.« Dies schien nur recht und billig zu sein, besonders da seine Gä ste ihren Schlaf mindestens genauso nötig hatten. Auch konnten sie bei dem Sturm und in der Dunkelheit kaum etwas tun, wenig stens nicht gleich. Obwohl, wie Jack später zu sagen beliebte, wenn ihr Auftrag weniger eilig gewesen wäre und es draußen nicht gehagelt hätte, dann hätte er seine Taschen gerne wieder gefüllt und dem alten Knacker Lebwohl gesagt. Von Anfang an wäre er nämlich davon überzeugt gewesen, dass die Sache mit dem Granatapfel mehr zum Himmel stank als Karolas gesamte Wassernixenahnenreihe. Die Kinder machten also das beste daraus und verdrückten noch ein bisschen von dem mitgebrachten Brot und Käse, obwohl man sich in einer Umgebung, die so dreckig war und stank wie diese und wo es zu allem Übel hin auch noch eiskalt war, kaum noch an seinen Appetit erinnerte. Der Rauch von den Fackeln hing in der abgestandenen Luft und brannte ihnen in den Augen und reizte ihren Hals. Hagel prasselte aufs Dach herab, das Geräusch hallte an den Steinmauern wider und war so laut wie das Donnern einer Lawine. Der Wind stieß ohrenbetäubende Klagelaute aus und umkreiste den Turm wie ein hungriges Ungeheuer, das nach ei nem Eingang sucht. Der Prinz saß in seinem Sessel und ignorierte sie vollkommen, während er seinen Brei herunterschlürfte, der sicher kalt war, weil nur die Fackeln im Raum für Feuer sorgten. Karola, die dazu erzogen worden war, gegenüber den Leuten, die älter waren als sie oder im Rang über ihr standen, höflich zu sein, bot ihm von 296
ihrem Essen an. Er lehnte alles ab, indem er so tat, als ob es nicht vorhanden wäre, bis auf den Laib Brot, den er sich gleich ganz unter den Nagel riss, um damit seinen Brei auszulöffeln. Wie zu erwarten war, blieben Breireste in seinem Bart hängen: ein ziem lich unappetitlicher Anblick. Als er fertig war, schob er seinen Essnapf zu den anderen Schüsseln hinüber und schlief, in seinem Sessel zusammengesackt, sofort ein. Die Kinder machten es sich auf dem Fußboden so bequem wie nur irgend möglich, und das letzte, was Jack noch hörte, bevor er einschlief, war Bronwyn, die sagte: »Für ihn mag es ja angemes sen sein, vom Schlaf zu sprechen, aber was mich anbetrifft, so werde ich kein Auge zudrücken«, und es verging kaum ein Au genblick, bis man ihr kräftiges Schnarchen hören konnte.
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XI
»Sagt mal, was in aller Welt tut ihr denn da?« Leofrics aufge brachte Stimme knatterte wie ein Gewehr. Karola sprang wie von der Tarantel gestochen auf, leerte vor Schreck ein Kästchen mit Juwelen aus und stieß mit dem Kopf an den vorspringenden Fuß eines Thronsessels an. »W-w-wir haben u-u-uns nur ein bisschen umgesehen.« »Hab ich euch das denn schon erlaubt?« Sie tauschten veräng stigte, schuldbewusste Blicke untereinander aus und er grunzte zufrieden. »Also, ihr könnt nicht, bevor ich nicht mit euch zu Ende verhandelt habe. Ihr Rangen denkt immer, dass ihr alles für nichts bekommt!« »Aber der Kaiser hat doch gesagt …«, begann Karola entrüstet. »Und ich habe euch doch schon einmal gesagt, dass mich das nichts angeht. Aber wie dem auch sei, ich überlasse euch das verdammte Ding ja, wenn ihr’s finden könnt und wünsche euch viel Glück damit. Ich habe ohnehin keine Verwendung dafür, aber ich weiß nicht mehr genau, wo dieser verfluchte Granatapfel ist und beabsichtige auch nicht, meine kostbare Zeit daran zu ver schwenden, ihn zu suchen. Aber ich möchte auch nicht, dass ihr hier macht, was euch gerade einfällt und Staub aufwirbelt und diesen Höllenlärm für nichts und wieder nichts macht.« Er atmete fauchend aus mit dem winzigen bisschen Vitalität, das ihm seine Wut verlieh. Nachdem er noch eine Zeitlang vor sich hin gegran telt hatte, sah er sich gereizt im Raum um, in dem es nun heller war als zuvor, infolge des Hagels, der ein Loch im Dach noch größer gemacht hatte. Verstohlen guckte die matt scheinende Morgensonne dort durch. »Nun, denn wenn ihr unbedingt danach suchen müsst, dann sollt ihr’s eben in der Mutter Namen auch tun, aber ich möchte nicht, dass ihr hier alles in Unordnung bringt und irgendetwas zerbrecht. Und du, Mädchen«, sagte er und ließ einen Spuckeregen auf Karola niedergehen, die aber schnell zurückwich und dabei kostbare Handwerkskunst unter den Füßen zertrat, 298
»wenn du diesen Krempel hier wirklich so toll findest, könntest du ihn ja beim Vorübergehen aufräumen, das würde mich dann wenigstens teilweise für eure Unterbringung entschädigen. Au ßerdem«, sagte er und lächelte wieder sein zahnloses Lächeln, »würdet ihr auch gar nicht anders nach unten gelangen und sehen, was vom Schloss sonst noch übrig geblieben ist, wenn ihr nicht vorher aufräumt. Und ihr wisst schon, kein unnötiges Herumtrö deln. Ich bin euer Durcheinander hier langsam müde, ihr verflix ten Rangen. Spätestens bis zum Sonnenuntergang muss alles gesäubert und aufgeräumt sein, ob ihr nun die Frucht gefunden habt oder nicht, sonst fliegt ihr in hohem Bogen hinaus. Und nun, marsch an die Arbeit. Ich muss nach unten, den Garten jäten und die Hunde verprügeln, aber merkt euch, bei Sonnenuntergang.« Er schlurfte davon, seine Schritte entfernten sich rasch, als er hinter dem Haufen von juwelenübersätem Trödel die Treppe hinabstieg. »Sonnenuntergang!«, rief ihm Karola kläglich nach. »Wie soll ich bloß …« Aber da war er schon verschwunden und sie wandte sich entrüstet an die anderen. »Also, das ist ja wirklich die Höhe! Nachdem er wahrscheinlich sein ganzes Leben für diesen Verhau gebraucht hat, tadelt er uns dafür, und ich soll dafür sorgen, dass bis Sonnenuntergang alles ordentlich aufgeräumt ist!« »Aber sollten wir nicht dafür sorgen, dass wir den Granatapfel so schnell wie möglich in die Hand bekommen, damit wir dem König helfen können?«, fragte Jack besänftigend. »Ich für mein Teil beabsichtige wenigstens, diesen Haufen prompt abzutragen!« Als er dieses Mal seine Taschen füllte, hatte niemand etwas dage gen. Aber auch wenn alle drei ihre sämtlichen Taschen mit Kleinodi en vollgestopft hätten, hätte dies nicht ausgereicht, um die Berge mit den funkelnden Schätzen etwas kleiner erscheinen zu lassen. Im blassen Morgenlicht, das nun durch das Loch in der Decke drang, konnten sie sehen, dass wirklich bis in den kleinsten Win kel hinein alles im Raum beinahe bis zur Decke mit Reichtümern gefüllt war. Nur über den engsten der Gänge hatte man Zugang 299
zur Tür, und auch wenn sie die Gänge mit den Kleinodien füllten, würden diese nur für die oberste, dünnste Schicht der Haufen ausreichen, allerdings war es ihnen bis jetzt noch nicht gelungen, die Spitze der Berge zu erreichen. Wenn es noch etwas gab, wovon die Zigeuner genauso viel ver standen wie vom Reisen, von Tieren und vom Stehlen, dann war es, wie man irgendwelche Gegenstände wegräumte, aber schon nach einer flüchtigen Überprüfung der Lage erklärte Jack: »Es ist zwecklos. Ich sehe absolut keine Möglichkeit, wie wir es schaffen könnten. Meine liebe Prinzessin, ich glaube einfach, dass du ohne den Granatapfel auskommen musst!« »Wo ist Anastasias Feder?«, fragte sie. Er kramte in seinen Taschen herum und fand die Feder, die zwi schen einer Halskette aus Smaragden und einem mit Karneolen besetzten Goldgürtel steckte und völlig zerdrückt war. Bronwyn nahm sie ihm aus der Hand und bahnte sich ihren Weg zur Tür zurück. Sie zündeten die Feder noch im Innern an, damit der Wind den Funken nicht gleich wieder ausblies, den Jack aus dem Feuerstein geschlagen hatte, dann rannte sie damit vor die Tür hinaus. Ein dünner, fettiger Rauch stieg zu dem grauverhangenen Him mel auf. Als die Flamme den Federkiel bis zu Bronwyns Fingern herunter verzehrt hatte, stieß Anastasia zu ihnen herab. »Oh, ihr habt aber eure Aufgabe schnell erledigt«, sagte sie, »ich muss gestehen, dass ich froh darüber bin, denn so ein kleiner See ist nicht gerade der erstrebenswerteste Ort während eines Hagelsturms. Zu allem Übel hin beginnt er jetzt sogar vom Rand her einzufrieren. Wie gesagt, bin ich schon sehr froh darüber, wenn ich nicht noch eine Nacht dort draußen verbringen muss!« »Nun«, sagte Bronwyn verlegen, weil sie nicht so recht wusste, wie sie die Sache anpacken sollte. Karola kam ihr zu Hilfe und sagte: »Verführerische Anastasia, anscheinend hat der Prinz in eurem Stammschloss sehr schlampig drauflosgehaust. Er hat Unmengen von einfach ganz tollen Wert 300
gegenständen in diesem einen Raum angehäuft, die alle wild durcheinanderliegen und wir wissen überhaupt nicht, wie wir dort Ordnung schaffen sollen, aber wenn wir bis Sonnenuntergang nicht damit fertig sind, wird er uns hinauswerfen, ohne uns den Granatapfel gegeben zu haben. Er behauptet zwar, dass er gar nicht weiß, wo der ist, aber ich glaube, dass er uns damit nur eins auswischen will. Das hier ist wirklich ein hoffnungsloser Fall!« »Hmmm«, erwiderte die Schwänin nur und putzte ihr Gefieder, indem sie ihren schlanken, anmutigen Hals dabei ganz ruckartig bewegte, was soviel hieß, dass sie angestrengt über das nachdach te, was Karola gesagt hatte. »Vielleicht auch nicht!« »Aber du solltest dir das mal mit eigenen Augen ansehen!«, sag te Karola beharrlich. »Ich bezweifle ja nicht, dass dieser verdammte Kerl überhaupt keine haushälterischen Fähigkeiten hat, aber solange ihr meine Hoffnungstruhe aufstöbern könnt, ist eure Lage noch nicht hoff nungslos. Sie enthält nämlich das Außenmobiliar.« »Es ist«, sagte Karola, »aber eine ganze Menge.« »Mein liebes Kind, meine Hoffnungstruhe kann eine ganze Menge aufnehmen. Meine ganze Mitgift sollte darin Platz haben, inklusive Schloss, Stallungen, Kutscherhaus und die ganze andere Ausstaffierung.« »Oh«, sagte Karola, »du willst damit sagen, dass sie magisch war?« »Ist«, bestätigte ihr die Schwänin und bog dabei ihren Hals ma jestätisch. »Glaubst du wirklich, immer noch? Weißt du, diese Frucht hat doch den Leuten die ganze Magie ausgetrieben und – so wie’s hier aussieht, auch allem übrigen.« »Meine Hoffnungstruhe hatte allerdings nicht die Angewohn heit, Obst zu verschlingen«, sagte die Schwänin. »Ich bezweifle, dass sie mit dem verderblichen Zeug überhaupt in Berührung gekommen ist.«
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»Nun, dann müssen wir sie ja eigentlich nur noch aufstöbern, was mindestens ebenso einfach sein dürfte wie den Granatapfel finden!« »Das heißt wahrscheinlich, dass wir uns wieder an die Arbeit machen müssen«, sagte Jack mit bekümmerter Stimme und atmete noch ein paar Mal tief durch, um mit Hilfe der kalten, frischen Luft dem Erregerherd des Turms vorzubeugen. Bronwyn begann gehorsam, die auseinandergebrochene Tür wieder beiseite zu schieben, als Anastasia sagte: »Vielleicht könn te Karola auch ihre Zauberkraft dabei einsetzen.« »Wenn ein Riese mit einer Schaufel seine Kraft einsetzen wür de, wäre das wohl angebrachter«, meinte Jack dazu. »Wahrscheinlich, aber ich habe das Gefühl, dass meine Kiste, da sie ja eine Hoffnungstruhe ist, aus einer gewissen Kumpelhaftig keit heraus auf Magie reagiert, während sie sich vielleicht den weltlicheren Versuchen, sie aufzustöbern, widersetzt und unauf findbar bleibt.« Bronwyn blieb also an der Tür, um die Gegenstände ins Freie zu befördern, während Jack behende die Hügel erklomm und dabei das Gold mit den Füßen trat und Juwelen beiseite schob und Karola ein unbezahlbares Stück nach dem anderen hinunterreich te, damit diese es Bronwyn gab. Der Wind hatte aufgehört zu blasen und die Sonne wurde all mählich so warm, dass sie alle zu schwitzen anfingen. Anastasia hatte sich neben Bronwyn niedergelassen und machte gelegentlich Bemerkungen über die Herkunft des einen oder anderen Stücks und über dessen frühere Besitzer. Die Truhe befand sich natürlich nicht in der obersten Schicht, dagegen eine Laute aus seltenen Hölzern und zerrissenen Saiten, Wandteppiche aus Seide- und Goldfäden mit Löchern, die die Mäuse in das Gewebe genagt hatten, eine Wiege mit einem Flecken auf seiner Samtmatratze, ein Vermächtnis eines früheren Nutznießers und eine endlose Reihe von Schmuckkästchen, kleinen Thronsesseln und anderen leichten Nichtigkeiten. Bald wurden auch die Haufen im Freien so 302
hoch, dass sie eine oberste Schicht bildeten. Anastasia wandte sich wieder zum Gehen, als sie sah, wie die Schmuckschatulle ihrer Mutter aufsprang, deren Inhalt nun auf dem steinigen Boden umherrollte, darunter eine zerbrechliche Kristallkrone. »Hier habt ihr noch eine Feder«, sagte die Schwänin, bevor sie wegflog, »und ruft mich, wenn ihr mich wieder braucht. Ich kann es einfach nicht mehr mitansehen, dass die Reichtümer meines Königreiches wie x-beliebiges Diebesgut behandelt werden.« Als sie dies gesagt hatte, flog sie wieder zu ihrem Zufluchtsort zurück. Der Morgen schleppte sich endlos hin, und Bronwyn und Jack begannen verdrossen zu murren, als sie sich mit Schleppen, He ben, Ziehen und Stoßen abmühten und dabei in Kauf nehmen mussten, dass die Fassungen der Edelsteine Abdrücke auf ihrer Haut hinterließen und sie sich Spreißer von seltenen Hölzern in die Hände einzogen; aber Karola, die ganz zuversichtlich war, dass sie ihren Termin mit der Hilfe von Anastasias Kiste und ihrer eigenen Magie einhalten konnte, wollte sich jeden schönen Ge genstand näher besehen. Eine juwelenbesetzte Schatulle, die ihr als das Wundersamste erschien, das sie jemals gesehen hatte, verblasste im Vergleich mit einem goldenen Ordensgewand, das eine feine Filigranarbeit zierte, und dieses war wiederum nicht zu vergleichen mit einem geschnitzten Thron, der über und über mit Schmetterlingen verziert war, deren Augen aus Saphiren und emaillierte Flügel so lebensnah waren, dass Karola jeden Augen blick damit rechnete, sie wegfliegen zu sehen. Bronwyn funkelte Karola wütend an, als sich diese die Zeit nahm, die Halsketten und Armketten, die sie sich in großer Zahl um den Hals und an den Arm gehängt hatte, durch andere zu ersetzen. Aber Karola ließ die Prinzessin einfach links liegen. Wahrscheinlich verlangsamten die Juwelen tatsächlich ihr Tempo, da die Perlen und Ketten um ihren Hals ständig hängenblieben, wenn sie etwas in die Höhe hob und die Ringe und Armbänder ihr ins Fleisch schnitten, wenn sie etwas Schweres trug. Aber sie waren auch nicht viel lästiger als die großen Ausbuchtungen in Jacks Gewand, Jack, der nun aussah wie ein unförmiger Felsbrok 303
ken, was die Silhouette anbetraf; und schließlich nahm Karola die Unannehmlichkeiten gerne auf sich. Als Antwort auf Bronwyns zornigen Blick bewunderte sie die nächste Handvoll Nippes, die ihr Jack hinunterwarf, besonders ausgiebig. Ein Ring mit einem Stein von der Größe eines Gänseeis war darunter, und Karola steckte ihn zu den anderen drei Ringen, die dort bereits waren, an einen Finger. Dann spreizte sie die Hand, um zu sehen, wie er wirkte. »Um Himmels willen, Karola …« sagte Bronwyn, und Jack, der immer noch oben auf dem Haufen stand, sah missbilligend zu ihnen herab. »Also Karola, wenn dir schon die Juwelen wichtiger sind als der Granatapfel, dann hätte ich doch wenigstens gedacht, dass du dir was Hübsches aussuchst. Das ist doch wirklich nichts Geschei tes!« »Natürlich mache ich mir was aus dem Granatapfel«, sagte sie abwehrend und rieb den Ring an ihrem Rock ab, bevor sie wieder die Hand ausstreckte, um ihn noch einmal anzuschauen. »Aber ein Mensch kann nun eben mal nicht mehr als arbeiten. Jedenfalls glaube ich, dass die beiden miragenischen Kaufleute Bronwyn übers Ohr gehauen haben mit ihrem albernen Teich, nur damit wir nach ihrem Willen handeln. Es kann doch gar nicht sein, dass wir den Krieg verlieren! Nun, König Brüllo ist wahrscheinlich – ach du meine Güte. Doch hoffentlich nicht dabei!« Der Ring musste einem der Gäste gehört haben, die an Leofrics Abendgesellschaft teilgenommen hatte, denn es war ganz gewiss kein gewöhnliches Schmuckstück. Vielleicht begann er nun zu reagieren, weil er wieder am Finger einer wirklichen Zauberin steckte, dachte Karola oder vielleicht hatte auch das Reiben am Rock seine Kräfte aktiviert. Welches auch die Gründe sein moch ten, jedenfalls verschwand die Trübung und eine Vielzahl von Formen und Farben huschte über seine Facetten, aus denen sich winzigkleine, aber offensichtlich lebende Bilder herauskristalli sierten: Viele Menschen, die auf einer Insel inmitten einer toben den See dicht zusammengedrängt waren. Unter diesen ragte ein 304
völlig verdreckter, rothaariger Riese heraus, der über ein halb erloschenes Lagerfeuer gebeugt dasaß. Er war von einigen seiner Leutnants umgeben. Jack sprang leichtfüßig vom Haufen hinab und folgte Karolas Blick, die gebannt auf den Ring starrte. Sein bestürzter Ge sichtsausdruck ging schnell in einen der Erleichterung über. »Dort, zur Linken des Königs. Das ist mein Vater. Und der da, der aussieht wie ein großer grauer Bär, das ist mein Großvater. Sie sehen ja wirklich nicht so aus, als ob es ihnen besonders gut gin ge, aber wenigstens sind sie noch heil.« Der Anblick ihres eigenen Vaters überwältigte Bronwyn zu sehr, als dass sie sich dazu geäußert hätte, dass Jacks Großvater König Würdigmann dem Unwürdigen bestürzend ähnlich sah, den sie zuletzt am Bug des Flaggschiffes neben dem Wetterzauberer hatte stehen sehen. Sie hatte schon die Hand ausgestreckt, um den Ring zu berühren, zog sie aber wieder zurück, als sich Brüllo Eberesch, der ihnen den Rücken zugekehrt hatte, im Kristall sehr schnell erhob. Seine gespannte Haltung und die leichte Neigung seines Kopfes deuteten an, dass er etwas am Himmel beobachtete. Blitze zerrissen die schwarzen, brodelnden Wolken, die am Him mel standen. Nach kurzer Zeit flog ein gewaltiger, scharlachrot und golden leuchtender Drache im Tiefflug die Rückseite der Insel an, hinter der Gruppe von Männern, die um das Lagerfeuer herumstanden. Die Männer traten zur Seite und enthüllten zwei weitere Drachen, die sich aneinanderkauerten. Grimmut der große rote Drache, setzte zur Landung an und warf sich schützend über seine Gattin, die bereits über ihrem halbwüchsigen Drachenmäd chen, Grippeldize, kauerte. Der Drache hatte kaum den Himmel hinter sich gelassen, als auch schon ein Blitz auf einen der Männer niederfuhr, die am Rand der Insel herumstanden und ihn nieder streckte. Grimmut erhob sich noch einmal müde und holte mit seiner Flamme zum Vergeltungsschlag aus. Obwohl die Oberflä che des Steines zu klein war, um die Reichweite der Flamme zu zeigen, kam es Bronwyn so vor, als ob sie geringer gewesen wäre als sonst und als ob sie irgendwie blasser wäre. Als das Bild des 305
Drachenfeuers erlosch, folgte ihm die ganze Szene nach, und der Ring sah wieder aus wie zuvor mit seinem stumpfen, grauen Stein, der unpassenderweise in einer kunstvollen Laubsägearbeit gefasst war. »Bring’s zurück, Karola!«, sagte Jack. »Reib nochmals den Stein!« Sie versuchte es, aber der Ring blieb trübe. »Vielleicht hatte er auch nur die Kraft für ein einmaliges Sichten«, sagte sie und klopfte mit dem Fingernagel gegen den Edelstein – ein vergebli cher Versuch, ihn wieder zu beleben. »Wenn einem Tante Sybil einen magischen Spiegel gibt, dann kann man ihn wenigstens dreimal verwenden. Wahrscheinlich ist der Ring schon zweimal benutzt worden. Wird am besten sein, wenn ich ihn mit nach Hause nehme, damit …« Sie hatte gerade sagen wollen, dass sie ihn mit nach Hause nehmen würde, damit ihn ihre Tante Sybil wieder aufladen konnte, aber da war es ihr plötzlich, als ob sie einer der Blitze aus dem Ring getroffen hätte und es war ihr plötz lich klar, dass die Szene, die sie gerade gesehen hatten, die Fort setzung von Bronwyns Vision war – Bronwyns wahrer Vision, denn zwei Zauberspiegel, die zwei verschiedenen Leuten unwahre Visionen über miteinander verknüpfte Geschehnisse zeigten, waren praktisch unmöglich. Wenn es ihnen aber nicht gelang, den Granatapfel zu finden – aber warum sollte man gleich schwarzse hen? Einer hier musste ja schließlich ein bisschen frischen Mut beweisen. Sie nahm also ihren Aufputz wieder herunter und sagte zu Bronwyn: »Du dummer Schatz, warum hast du uns das eigent lich nicht gleich gesagt?« »Nun, ich g-glaube, dass ich euch w-wohl schonen wollte!«, stotterte Bronwyn gereizt. Dummer Schatz, also ehrlich! Warum hörte einem Karola auch nicht zu, wenn man etwas zu ihr sagte! »Weißt du, das war gar nicht so gut. Wir haben hier nämlich eine wichtige Aufgabe zu bewältigen. Würdet ihr beide nun so freundlich sein und mir ein bisschen aus dem Weg gehen. Viel leicht gelingt es mir einen Pfad anzulegen, der genügt, um diese Hoffnungstruhe von Anastasia endlich zutage zu fördern.« 306
Obwohl es Bronwyn immer noch zu langsam vorkam, hatten die drei es doch bald fertiggebracht, eine ganz beachtliche Menge nach draußen zu schaffen, obwohl es stimmte, dass der Haufen im Innern des Turmes immer noch größer war. Karola summte vor sich hin, und zwar benutzte sie jeweils nur ein Thema, um Gänge durch die edelsteinübersäten Haufen zu bilden, wie eine Mutter vom Land mit einem einzigen Finger das Haar ihres Kindes teilt, um darin nach Läusen zu suchen. Zuerst bewegten sich die Wertgegenstände nur sehr langsam, aber als die Melodie immer schneller wurde, stimmten auch die Schätze ihr Tempo darauf ab. Das Licht war nun so schwach und von Schat ten durchsetzt, dass sie trotz des zusätzlichen Raumes, den sie sich durch die morgendliche Arbeit geschaffen hatten, kaum noch etwas sehen konnte. Nun schien die beste Zeit gekommen, um nach der Truhe zu rufen. Ein Hochzeitsmarsch schien sich dafür am besten zu eig nen, also begann Karola einen solchen zu summen. Zuerst bekam sie keine Antwort, aber dann hörte sie aus einer entfernten Ecke ein schwaches Klappern. Es kam aus der unmittelbaren Nachbar schaft des aufgerollten Endes eines Wandteppichs, der unter den Vorhängen eines aufgerichteten Himmelbettes halb verborgen war. Karola erhob die Stimme, und eine kleine Kiste, die nicht viel größer war als Bronwyns Schild, polterte hinter dem Wand teppich hervor. Karola seufzte teils vor Erleichterung und teils vor Müdigkeit, denn auch wenn sie sich anfänglich beim Ausräumen nicht zu sehr verausgabt hatte, so hatte sie nun das Gefühl, dass sie wirklich ein übriges getan hatte, um das Versäumte nachzuho len, als sie erst einmal ihre Magie benutzte. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals soviel Energie zur Ausübung ihres Talents ge braucht zu haben! Mit geschwellter Brust ging sie zu der Truhe hinüber und entriegelte den Deckel. Die Truhe war leer bis auf ein paar winzige Möbel, die aber für die Einrichtung eines Puppen hauses viel zu klein gewesen wären. Aber das musste es sein, denn ihr Summen würde nichts anderes herbeigelockt haben. Um sich zu vergewissern, summte sie den Wandteppich an, der sich 307
daraufhin entrollte, einen Zipfel in die Truhe schob, ganz schnell auf die Größe eines Taschentuchs und zuletzt auf die eines Lochs im Netz der feinsten Spitze zusammenschrumpfte. »Ich hab sie!«, rief sie ihren Freunden durch das ganze Gerüm pel zu und trug die Kiste zur Tür, während sie die anderen Gegen stände aufrief. Vom größten angefangen bis zum kleinsten erho ben sie sich alle in die Luft und bewegten sich im Menuett- oder Ländlerrhythmus durchs Zimmer und verschwanden schließlich in der unergründlichen Tiefe im Innern der kleinen Hoffnungskiste. Den ganzen Nachmittag über summte Karola und füllte die Tru he. Zuerst schauten Bronwyn und Jack verwundert zu, aber dann wurde es ihnen doch langweilig und sie knobelten um echte Edel steine und überließen Karola ihrer Arbeit. Als sie alles in die Hoffnungstruhe gezaubert hatte, was sie nicht zur Zimmereinrichtung brauchte und ein ganzes Bataillon von samtenen Poliertüchern – Überbleibsel von Gewändern, die nicht mehr zu retten waren – tatkräftig über die zurückgebliebenen Einrichtungsgegenstände hinwegfegte, neigte sich der Tag schon seinem Ende zu. Müde betrachtete sie das Ergebnis ihrer Bemühungen. Ein schwanenförmiges Bett mit vier Pfosten füllte eine Ecke aus, ein Wandteppich, in dem relativ wenig Löcher von Mäusen gewesen waren, hing an der Wand und Leofrics abgewetzter Thron und drei der bequemeren Stühle umgaben den frisch abgestaubten Tisch. Die Teller und Platten mit den Speiseresten hatte Karola nicht abgewaschen, sondern in die Hoffnungstruhe verbannt und sie durch frisch gespülte von den Stapeln ersetzt, die sie in einem Schrank gegenüber dem Tisch untergebracht hatte. Der Raum war mit genügend Truhen, Stühlen, Schilden und Rüstungsteilen ausgestattet, um ihm den prächtigen Anstrich zu geben, der Leo frics Rang entsprach. Wenn sich aber der Granatapfel in einem der Gegenstände befand, die sie umgestellt hatte, dann musste sie ihn wohl übersehen haben. Bronwyn sah ihren besorgten Blick und klopfte sie tröstend auf die Schulter, offensichtlich hatte sie ihr die Entgleisung vom 308
Vormittag vollkommen verziehen, denn Karola hatte sich in Wirk lichkeit Sorgen gemacht, nur war sie sich eben des Ernstes der Lage nicht bewusst gewesen. »Reg dich nicht auf, Kusine. Wenn der Prinz sieht, was für ein Werk der Zerstörung du hier voll bracht hast, wird er dir den Granatapfel sofort aushändigen und uns wieder nach Argonien zurückschicken, nachdem er uns sei nen Segen erteilt hat.« Jack schnaubte verächtlich. »Sehr viel eher wird uns der Prinz vorwerfen, dass wir die Gegenstände gestohlen hätten, die er nicht sehen kann«, sagte er mit einem Anflug von verletzter Ehre, die für einen, dessen Taschen soviel heißes Diebesgut füllten, nicht ganz angemessen waren. »So ein Quatsch«, sagte Karola, die vor Erschöpfung in einen Stuhl sank, »ich werde ihm ganz einfach sagen, dass ich sie in der Truhe gelagert habe, was ja auch stimmt.« Als sich Leofric wenig später wieder aus den Tiefen seines Turmes ausbuddelte, schien er kaum eine Veränderung zu bemer ken. Er war damit beschäftigt, seine Hand zu verarzten. Als er sich gnädigst herabließ, etwas zu bemerken, sagte er nur: »Hmmm, ich hätte schwören mögen, dass hier einmal mehr Ge rümpel war!« »Ach was, Herr!«, sagte Bronwyn lächelnd, »an das Zimmer musste nur noch eine ordnungsliebende Frau Hand anlegen!« »Ach, wirklich?«, fragte Leofric und streckte ihr seine zerfetzte und blutige Hand anklagend entgegen. »Ich bin gerade mit einer Frau in Berührung gekommen – und zwar auch hier. Die Hündin hat mir beinahe die Hand abgebissen. Ich kann dir sagen, dass ich’s ihr mit meinem Stiefel heimgezahlt habe. Mit ein bisschen mehr als einer zärtlichen Berührung hab ich ihr die Mühe vergol ten, ja wirklich! Nutzloses Tier. Nur weil ich einen ihrer Welpen die Treppe hinuntergestoßen habe, wo er hingehört. Was meint denn die, wozu so ein Herr gut ist?«
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»Offensichtlich nicht dazu, dass er ihre Jungen die Treppe hin unterstößt«, erwiderte Jack, wobei seine Augen vor Entrüstung funkelten, was aber nicht den Hunden galt. »Die verdammten Hunde wissen nicht, wo sie hingehören«, murmelte Leofric, aber er schien seine Verärgerung zu genießen, denn seine Augen leuchteten auf eine für ihn bezeichnende trübe Art und während der ganzen Zeit, die er brauchte, um seinen Brei zuzubereiten und zu verzehren, hörte er nicht auf, vor sich hin zu meckern. Es fiel ihm nicht einmal auf, dass ihm auch diese Arbeit durch Karolas Bemühungen leichter gemacht worden war. Als er fertig war, schaute er anklagend auf seine Hand herab und fragte sie mit einer Miene, die er offensichtlich für sehr durchtrie ben hielt: »Nun, habt ihr den ach so hochgeschätzten Granatapfel nun endlich gefunden?« Bronwyn wollte gerade sagen, dass dies der Fall sei, aber dass sie wegen der gesunden und belebenden Atmosphäre und wegen seiner anregenden Gesellschaft im Turm geblieben wären, aber besann sich dann doch eines Besseren. Sie konnte ihm ja viel Lügen auftischen und ihn trotzdem davon überzeugen, dass sie nur die Wahrheit sagen konnte, aber so einen Hammer würde er ihr nicht durchgehen lassen. Jack und Karola schüttelten den Kopf. Auch das letzte bisschen Hoffnung, das sie gehegt hatten, dass ihnen nämlich der alte Schurke den Granatapfel ganz einfach als Lohn für die erwiesenen Dienste geben würde, wurde durch das Kichern zunichte gemacht, mit dem er ihre vergeblichen Bemü hungen quittierte. »Nun, dann braucht ihr vielleicht eine Unterstützung«, sagte er mit honigsüßer Stimme. »Du, junger Mann, scheinst ja ein Tier liebhaber zu sein. Vielleicht könntest du dir die Hilfe meiner Jagdhunde sichern, die eure Jagdbeute aufstöbern könnten, wie? Die Hunde sind wahrscheinlich froh, wenn sie die Chance be kommen, weil sie jahrelang nur nach Ungeziefer gejagt haben. Außerdem«, fügte er in einem etwas raueren Ton hinzu, »müsst 310
ihr an ihnen vorbei, um die zweite Etage durchzustöbern. Ver standen? Nun, das hätten wir dann also geregelt. Vor dem Abend essen werde ich noch ein kurzes Nickerchen machen, also sorgt dafür, dass ihr mich nicht durch eure Schreie aufweckt, wenn ihr mit meinen Jagdhunden Bekanntschaft schließt. Und du Junge?« »Ja, alter Mann?«, brachte Jack gerade noch heraus, obwohl er mit makabrer Faszination auf die Knochensplitter und Sehnen starrte, die aus dem ausgefransten Riss in Leofrics Hand heraus ragten. »Ich wünsche dir viel Vergnügen dabei, wenn du dich bei deiner Suche nach dem Granatapfel durch die Hundescheiße graben musst. Scheint mir die Art von Arbeit zu sein, die zu dir passen könnte.« Nachdem er dies gesagt hatte, ließ der edle Prinz das Kinn auf die Brust herabsinken und schlief – boshaft vor sich hinlächelnd – ein. Das Licht des Tages verblasste und es wurde zusehends kälter. Unterdessen war auch ein bisschen Schnee durch das Loch in der Decke gefallen, aber zweifellos war jetzt wieder eine Besprechung mit Anastasia fällig. Sie gingen also zusammen wieder ins Freie, und Bronwyn zündete mit ihrer Fackel die Schwanfeder an. Nach kurzer Zeit hörten sie wieder die Flügel der Schwänin, die den Wind abwehrten und kurze Zeit später war Anastasia wieder bei ihnen. Die Schwänin plusterte ihr Gefieder auf und zupfte energisch daran, während sie die Schneeflocken von sich abschüttelte. Die Kinder zogen ihre neuen Mäntel enger um sich und schmiegten sich der Kälte wegen aneinander. »Nun«, fragte die Schwänin, »wie ist’s euch ergangen? Hat euch meine Hoffnungstruhe etwas genützt?« »O Prinzessin, das hat sie«, erwiderte Jack, »aber eben nicht genug, da wir den Granatapfel nicht gefunden haben. Nun werden sowohl der König als auch wir verloren sein, wenn Sie uns nicht einen Tipp geben können, wie wir es am besten anstellen, dass wir
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nicht von den Jagdhunden dieses Kobolds aufgefressen werden, wenn wir dort unten nach der verfluchten Frucht suchen müssen.« Anastasia putzte sich einen Moment lang das Gefieder. »Unten –jetzt lasst mich mal scharf überlegen –, ach ja, das wäre das oberste Geschoß des Anbaus der Anbauten des Hauptturms, die nun bekanntlich versunken sind, so dass sie ein Obergeschoß, beziehungsweise ein oberstes unterirdisches Geschoß bilden.« »Das heißt, dass noch ein Geschoß darunter ist?« fragte Jack, dessen Hoffnungen ebenfalls immer tiefer sanken. Wenn er also die Hunde überlebt hatte, würde er noch eine weitere Dimension von des Prinzen tadelnswerter Haushaltsführung meistern müssen. Wie entsetzlich! Vielleicht könnte man die Hunde dazu bringen, dass sie ihn relativ schmerzlos und auf einmal hinunterschluckten! »Ja, wenn es noch nicht zerstört ist«, sagte Anastasia in Beant wortung seiner Frage. »Früher waren die Stallungen einmal west lich vom Hauptturm, im mittleren Hof gewesen und die Hunde zwinger waren auf der anderen Seite gewesen. Was für ein entar teter Spitzbube dieser Mensch doch sein muss, wenn er die Hunde dort unterbringt, wo sich einst die Schlafzimmer befunden ha ben!«, sagte Anastasia entrüstet. »Stallungen? Zwinger? Ich frage mich, was aus all den Tieren geworden ist?«, fragte Karola. »Wahrscheinlich sind sie an Überernährung eingegangen«, machte ihr Bronwyn weis. »Wohl kaum unter der Herrschaft von unserem fürstlichen Geizkragen«, bemerkte Jack. »Aber das hat mich auf etwas ge bracht. Wenn wir den Hunden etwas zu fressen geben, wissen sie, dass wir’s gut mit ihnen meinen und…« »Und was meinst du wohl, sollen wir ihnen zum Fraß hinwer fen?«, fragte Karola. »Brot und Käse«, sagte Bronwyn kläglich. »Jagdhunde mögen Brot und Käse sehr gern, und vor allem auch Zwiebeln.« »Nein, Bronwyn«, sagte Jack finster. »Hunde fressen keine Zwiebeln, nur Fleisch und Knochen.« 312
»Das ist kein Problem, das kann ich euch leicht besorgen«, sagte Anastasia lässig. »Wirklich? Wo und wie?« Die drei Kinder spitzten die Ohren. »Ich fliege ganz einfach in den Wald und sammle das ein, was von den Plünderungen der Ungeheuer übriggeblieben ist. Ich glaube, sie fressen sich jetzt gegenseitig auf.« »Nun«, sagte Karola. »Ungeheuer geben zwar nicht das wohl schmeckendste Fleisch ab, das ich jemals gegessen habe, aber zweifellos bedeutet es gegenüber Ratten- und Schlangenfleisch einen Fortschritt.« »Kann mir einer von euch ein Gewand mit Taschen geben oder etwas anderes, um meine Fundsachen einzupacken, damit ich sie bequem transportieren kann?« »Dafür werden wohl Bronwyn und Karola sorgen müssen«, sag te Jack. »Ich kann mein Gewand leider nicht hergeben, weil meine Taschen voll sind.« »Es wird auch besser sein, wenn du’s dabei belässt«, stimmte ihm Bronwyn zu. »Die Jagdhunde brauchen wahrscheinlich die Steine, die du mit dir herumträgst als zusätzliches Raufutter, wenn sie dich in zwei Bissen runterschlingen. Und ich werde dich dann auch nicht beschützen!« »Ach, Bronwyn!« Kurze Zeit später kam Anastasia mit ihrem blutigen Bündel zu rück, und Jack verteilte die Knochen über seine verschiedenen Taschen, wobei er so wenig Schmuckgegenstände als möglich entfernte. Nachdem es sich von der Schwänin verabschiedet hatte, marschierte das Trio, das absichtlich laut auftrat, an Leofric vor bei. Das einzige Zeichen, mit dem der alte Mann zu verstehen gab, dass er etwas gemerkt hatte, war, dass er die eine Augen braue hochzog und wie im Schlaf murmelte: »Eine Menge Tier liebhaber, die wir in letzter Zeit hier haben.« Bronwyn ging den anderen voraus, ihren Schild hielt sie schüt zend vor sich und unter dem Mantel hatte sie das Schwert gezo gen. 313
Jack hielt die Fackel in der einen Hand und einen Knochen in der anderen und versuchte sich wieder jeden Trick ins Gedächtnis zu rufen, den er beim Abrichten von Tieren gelernt hatte und auch die panelfischen Ausdrücke, die ihm Madame Himbeere beige bracht hatte. Karola trottete hinter ihm her, rieb sich die Augen vor Müdig keit und schlurfte ein bisschen. Jack befürchtete, dass sie dieses Mal mit ihr nicht rechnen konnten, wenn sie vielleicht auch den Hunden das Tanzen beibringen mussten, denn sie schien voll kommen erschöpft zu sein. Sie stiegen immer weiter hinab, bis die Treppen schließlich in einen Tunnel einmündeten, der behelfsmäßig durch Pfosten abge stützt wurde, die man aus kleinen Bäumen angefertigt hatte, ohne die Rinde zu entfernen. Das Gekläff und Gejaule fing schon an, bevor sie zur Hälfte durch den Korridor waren, der nur für Trolle gemacht zu sein schien. Jack fragte sich, ob ihn Leofric gebaut hatte oder ob ihn die Hunde ganz einfach ausgegraben hatten. Jedenfalls konnte er nicht ein Teil des ursprünglichen Baus sein. Aber er behielt seine Überlegungen für sich. Bronwyn, die vor ihm her marschierte, war gespannt wie die Sehne eines Bogens. Jack dachte wieder einmal, was für einen großartigen Schild doch ihre hochaufgeschossene Gestalt abgab. Vielleicht war es nicht allzu rühmlich für ihn, hinter seiner Auserwählten herzugehen, aber schließlich musste ja auch jemand die Fackel halten, nicht wahr? Gekläff, Gejaule, Bellen und Knurren erfüllte den Tunnel, und den drei Freunden klangen die Ohren von dem Höllenlärm. Dann hörten sie das Klicken der Krallen auf dem Steinboden, klick, klick, klick und klick – ein massenhaftes Klicken, das immer schneller wurde, je mehr es an Lautstärke zunahm; die Hunde bäumten sich auf, setzten sich in Bewegung, um sie schließlich anzugreifen. Bronwyns Schwert, das nun unverhüllt war, zitterte im Fackel licht, das aber ebenfalls zitterte. »L-liebes Hundi?« waren die
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Worte, mit denen sie das erste funkelnde, rote Augenpaar begrüß te, das auf sie losstürzte. »RRRRR-RIP!« knurrte der Hund zurück, was, wenn Jack sein Panelfisch noch richtig im Kopf hatte und es richtig interpretierte, beschönigend ausgedrückt soviel hieß wie: »Hör auf, mich so gönnerhaft zu behandeln!« und auch: »Du kannst dich jetzt darauf gefasst machen zu sterben wie das zweibeinige Insekt, das du in Wirklichkeit bist!« oder so ähnlich. »Wir – wir sind Freunde«, sagte Jack auf Panelfisch und warf ihnen eilends den ersten Knochen zu. Er diente dazu, sie vor dem unmittelbaren Untergang zu retten und wurde buchstäblich zu einem Zankapfel für das Rudel, das sich augenfunkelnd, mit den Schatten im Rücken und zähnefletschend zusammengerottet hatte, um seine Solidarität zu bezeugen, die darauf abzielte, sie mit Haut und Haar aufzufressen. »So wie wir die besten Freunde des Menschen sind«, knurrte der Leitrüde mit einem Stück von dem Knochen im Maul, das er den anderen abgejagt hatte. »Die Menschen – hah! Die aber keine besten Freunde verdienen!« »Das ist nicht so ganz gerecht«, wandte Jack ein – aber er ging dabei sehr diplomatisch vor. Sogar sehr diplomatisch. »Jeder braucht seine Freunde. Die Prinzessin hier und die Hexe sind zum Beispiel meine Freundinnen und du hast dein …« Er unterbrach sich eilends, um ihnen noch einen Knochen hinzuwerfen und fügte dann hinzu: »und du hast dein Rudel. Schließlich haben wir euch ja auch Geschenke mitgebracht.« »Geschenke? Nein! Du hast harte Gegenstände nach uns gewor fen! Du willst doch nicht etwa behaupten, dass du gewusst hast, dass sie wohlschmeckend sind, oder?« »Aber natürlich«, sagte Jack und versuchte sich den Anschein zu geben, als ob er sich nach der Freundschaft des Hundes sehnte, den er mit großen, schmachtenden Augen ansah. »Ich mag näm lich Knochen auch sehr gern, aber diese wollte ich mit euch teilen, weil …« 315
»Wau! Wau! Grr-wau!« Ein kleines, pelzbedecktes Geschoß sauste an dem Leitrüden vorbei und schlug seine winzigen Zähne in Jacks Hosenbein, an dem er übermütig zu zerren begann. Dem kleinen Welpen folgten bald drei weitere nach, die alle ungefähr gleich groß waren und grimmig kläfften und knurrten und mit großer Inbrunst an seinen Hosenbeinen herumzuknabbern began nen. Jack holte tief Luft und ging vorsichtig in die Knie. Er wollte die Welpen wegziehen und sie streicheln, damit sie sanfter ge stimmt wurden, denn er befürchtete, dass sich ihre unschuldige Aggressivität auf die anderen ansteckend auswirken könnte. Bronwyn ließ ihre Blicke zwischen Jack und den kleinen Hun den hin und her schweifen, das Schwert hielt sie zum Schlag bereit, aber er schüttelte beinahe unmerklich den Kopf. Hinter dem Leitrüden schlich sich nun eine Hündin zähnefletschend hervor und knurrte wütend: »Ich werde ihm die Kehle aufreißen!« Der Anführer, der ihren Anspruch akzeptierte, trat zurück. Einer der Welpen, der immer noch glücklich vor sich hin kläffte, sprang von Jack zu der Hündin, strich ein paar Mal schwanzwe delnd um sie herum und rannte dann wieder übermütig zu Jacks Füßen zurück. Vorsichtig zog Jack noch ein paar Knochen aus seinen Taschen und ließ sie zu Boden gleiten. Die Welpen mach ten sich darüber her. Dann nahm Jack einen weiteren Knochen und hielt ihn der Hün din hin: »Für dich, meine Schönste«, sagte er schmeichlerisch. Sie reckte den Kopf vor und schnupperte. »Was ist denn das?« »Ein Knochen.« »Das sind ganz prima Knochen, Mama!«, kläfften die Welpen. »Und er riecht auch gut – nicht wie der andere!« »Aber natürlich bin ich nicht wie der andere, kleines Hünd chen«, sagte Jack in seinem liebenswürdigsten und berückendsten Ton und dabei hielt er die Fackel so, dass die Hündin sein süßes, gutriechendes und jungenhaftes Gesicht besser sehen konnte. »Ich mag Tiere und ich habe sogar einen Großvater, der einmal ein Bär war.« 316
»Früher haben wir auch einmal Bären gejagt«, knurrte die Hün din, aber sie schlich sich doch ein bisschen näher an Jack heran. Die anderen winselten unschlüssig oder wenigstens die, die keinen Knochen abbekommen hatten. »Vor langer Zeit hat mir eine Hündin, die zur gleichen Zeit wie ich Junge geworfen hat, von ihrer Mutter erzählt, die mit zahmen Männern gejagt hat, die ganz anders gewesen sein mussten als der, der meinem Jungen etwas zuleide getan hat. Bist du eigentlich zahm, Junge?« Jack wollte gerade etwas zusammenstottern und dadurch die Antwort hinauszögern, eine passende Ausflucht zu suchen. Was meinte sie eigentlich damit, ob er zahm war? Tiere waren wild oder zahm, gut oder schlecht und sie konnten dressiert werden oder sie waren dumm. Die Kategorien konnten aber doch nicht auf die Menschen angewandt werden und gewiss nicht auf ihn. Aber ihre Eckzähne, die so groß waren wie die Hauer eines Wild schweins, glänzten in der Dunkelheit, so dass er schnell antworte te: »Das bin ich!« »Dann komm hierher, Junge. Bring mir den Knochen, den du in der Hand hältst. Ja, bring ihn hierher.« Da Jack zögerte, winselte sie einschmeichelnd. »Jetzt komm schon, ich werde dich doch nicht beißen – das heißt, noch nicht. Lass mich an deiner Hand herumschnuppern, damit ich erkennen kann, wie du riechst. So ist’s recht. Jetzt streck sie aus!« Sie schnupperte, winselte wieder und wedelte ermutigend mit ihrem borstigen Schwanz. »Du bist wirklich ein ganz ganz guter Junge. Du kannst mich nun auf den Rücken klopfen und mir den Knochen geben!« Jack hatte sich allerdings nicht vorgestellt, dass er mit den Jagd hunden auf eine so seltsame Weise Freundschaft schließen würde, aber immerhin war es doch eine Möglichkeit. Nach kürzester Zeit fragte die Hündin, der ihr Knochen offensichtlich geschmeckt hatte: »Sag mal, hast du eigentlich noch mehr davon?« »Uh – ja. Und – und draußen gibt es noch mehr davon, nur ver rat mir das eine –, sind wir jetzt eigentlich Freunde?« Er bebte und schwitzte, trotz der Kälte im Tunnel.
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»O ja, denn ich weiß, dass die Menschen ganz treu sein können, wenn man ihnen erst einmal beigebracht hat, dass sie einen akzep tieren. « »Werdet ihr uns dann helfen? Wir suchen nämlich einen ganz bestimmten Granatapfel.« Aber offenbar kannte die Hündin das Wort nicht, denn sie spitz te verständnislos die Ohren und winselte, worauf die anderen ihre Ohren unsicher schüttelten, die roten Zungen aus dem Maul he raushängen ließen und ihre roten Augen beim Zuhören zu Schlit zen zusammendrückten. »Es ist eine Frucht«, erklärte Jack. »Es kann sein, dass sie in diesem Geschoß hier vergraben ist. Glaubt ihr, dass ihr herum schnuppern könntet und eure Pfoten, die unseren schwachen, weichen Händen so sehr überlegen sind, dazu benutzen könntet, nach diesem Ding zu jagen? Wir würden euch natürlich unsere Treue beweisen, indem wir noch mehr Knochen anschleppen.« Die Hündin knurrte, winselte und kläffte kurz hintereinander. »Erzähl uns mehr über diesen Granatapfel und wir werden es versuchen. Aber denk daran, mehr Knochen! Die Knochen, die wir soeben verspeist haben, waren ja ein guter Anfang, aber sol che mit etwas Fleisch dran wären natürlich besser.« Jack nickte und beschrieb den Granatapfel so, wie er es aus der Erzählung des Kaufmanns wusste. Die Hunde schwärmten nach allen Richtungen aus. Bronwyn grinste ihn im Fackellicht an, seufzte und sank erleich tert in die Hocke, denn der Boden war mit den Exkrementen der Hunde über und über bedeckt. Karola war sich dessen jedoch überhaupt nicht mehr bewusst. An irgendeinem Punkt der Ver handlungen hatte sie sich mit einem alten, grauschnäuzigen Hund angefreundet, und die beiden erschöpften Kreaturen waren – die politischen Schwierigkeiten zwischen den verschiedenen Arten missachtend – ganz einfach nebeneinander niedergesunken und schliefen nun ganz fest: Der Hund hatte seinen Kopf in Karolas
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Schoß gelegt und ihr Kopf ruhte auf seinem weichen, pelzbedeck ten Rücken. »Sie sind ganz anders, als man denkt«, sagte Jack, als er Anastasia von den Hunden erzählte. »Sie sind stolz und schlau und – nun, diese eine Hündin hat mich sogar an meine Großmutter, Königin Xenobia erinnert. Sie ließ die anderen den ganzen Keller umgra ben und sie haben in allen Spalten und Ritzen nachgesehen, aber haben keine Frucht gefunden. Und der alte Geizkragen will uns immer noch nicht sagen, wo der Granatapfel ist, sondern besteht darauf, dass wir in seinem Garten für ihn arbeiten. Aber wir brau chen jetzt noch einmal Knochen, und zwar, wie die Hündin meint, mit Fleisch dran. Ich habe mir schon überlegt, ob ich nicht die Tierdressur aufgeben und statt dessen lernen sollte, Tarock zu spielen.« »Nun, ich hätte doch gedacht, dass es dir Spaß macht, zur Ab wechslung mal ein bisschen im Garten zu arbeiten, obwohl ich zugeben muss«, und dabei ließ sie ihre Blicke zu dem bleiernen Morgenhimmel, dem schneebedeckten Unkraut und den Felsen schweifen, die das Schloss umgaben, »dass es ein bisschen spät im Jahr ist, um jetzt noch mit Gartenbaumaßnahmen zu begin nen.« »Aber Leofrics Garten ist nicht im Freien. Er ist im Geschoß unter dem Hundezwinger. Er war nicht besonders erfreut, als er beim Frühstück gesehen hat, dass wir immer noch wohlauf sind. Wenn ich jetzt allerdings keine Knochen bekomme, die ich den Hunden mitnehmen kann, dann wird er weniger enttäuscht sein. Bronwyn hat sich darauf eingestellt, dass sie allein im Garten arbeitet, bis ich wieder zurück bin.« Bronwyn nickte ernst. »Es ist zwar nicht so, dass wir eine Un menge Zeit hätten, aber es langweilt mich, in diesem Luxuspalast untätig herumzuhängen.« Anastasia hätte beinahe noch gefragt, was Karola zu tun gedach te, während ihre sozial höhergestellte Kusine wie ein Pferd arbei 319
tete, aber Karola lehnte nur unentschlossen und teilnahmslos im Türrahmen. Seltsam, diese Kinder von niedrigem Stande schienen wenig Durchhaltekraft zu besitzen. Als die Schwänin Jack nur ansah, wusste sie bereits, dass sie ihn auf ihrem Rücken zum Wald tragen musste. Nicht nur fehlte seine gewohnte Großspurigkeit – die Vorstellung, ein Hund unter Hunden zu sein, war wahrschein lich für ihn nicht besonders reizvoll –, sondern er schien wie Karola ganz einfach erschöpft zu sein. Nur Bronwyn war sich selber treu geblieben, auch wenn es eine ungeduldige und unstete Version ihrer selbst war. Die Prinzessin der Unpflügbaren Länder konnte sich sehr gut vorstellen, was für eine Zumutung es für sie sein musste, dass sie diese unsinnigen Spielchen mit dem bösartigen Irren spielen musste, der die Auf sicht über den Turm führte, während ihre Familie und ihr König reich gerade vom Feind angegriffen wurden und dass sie von ihm daran gehindert wurde, ihnen zu helfen. Bis jetzt hatte sie sich ja sehr beherrscht und den bösartigen, alten Kerl nicht einfach auf gespießt, was nicht nur sehr ehrenhaft, sondern auch sehr weise war, da ihr Peiniger auch der Bruder und Vasall ihres neuen Ver bünde- ten war. Anastasias Meinung nach konnte es daher nichts schaden, wenn man Bronwyn in ihrer Vorsicht noch einmal be stärkte, falls nämlich die junge, ungestüme Schwertkämpferin versucht sein sollte, noch einmal ihre Meinung zu ändern. »Meine liebe Bronwyn, ich würde dir gerne einen guten Rat ge ben«, sagte die Schwänin, als sie und Jack die Vorbereitungen zum Abflug trafen. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich weiß, was ich zu tun habe und alles unter Kontrolle habe«, erwiderte Bronwyn, deren Stim me jedoch etwas verzagt und ziemlich flehentlich klang. »Aber leg nur los, wenn es dir gut tut!« »Gut, das werde ich dann auch tun, und merke dir, dass ich dies nicht sage, um deine Gefühle zu verletzen, sondern um dir zu helfen.« Bronwyn nickte. Anastasia fuhrt fort, wobei sie sich aber abquälte, die richtigen Worte zu finden, denn sie wollte nicht direkt von der Möglichkeit sprechen, dass Bronwyn mit dem 320
Schwert auf Leofric losging, und zwar nicht so sehr deswegen, weil sie Bronwyn schonen wollte, sondern um sie nicht auf schlechte Gedanken zu bringen. »Du bist – hmmm – sehr oft ein bisschen zu schnell dabei, dein Schwert zu gebrauchen, meine Liebe, und ich glaube, das wäre in diesem Fall wie auch in ande ren – sagen wir mal – Staatsaffären – ein großer Fehler. Denk immer daran, dass viele der Könige und Magier, die von diesem Schurken dort drinnen ermordet wurden, auch einmal große Schwertkämpfer waren, und wie du gesehen hast, haben sie nicht gesiegt. Mir scheint, dass diese Männer noch unter uns weilen würden, wenn die Zauberkraft der Frucht durch Schwerthiebe zu überwinden wäre. Und um auch noch einmal auf dein letztes Duell zurückzukommen, du musst immer daran denken, dass sich eine Dame aus vornehmem Hause in einer vorgegebenen Situation so benimmt, wie es ihrer gesellschaftlichen Stellung entspricht. Ich würde meinen, dass es in jeder Art von Garten klüger ist, wenn man die Dinge an der Wurzel packt, statt blindlings darauf einzudreschen.« Bronwyn tat alles, um ihrer gesellschaftlichen Stellung gerecht zu werden, als sie an Leofric vorbeischritt, der in seinem Sessel saß und ihr mit den Blicken folgte – eine wachsame Eidechse auf ihrem Felsen. Sie stapfte die Treppe hinunter und ging gebückt den Tunnel entlang, den wartenden Hunden hielt sie die Hand hin, damit sie daran schnuppern konnten. Als Versöhnungsgeschenk gab sie ihnen zwei Knochen, die Jack schlauerweise für diesen Zweck zurückbehalten hatte. In der einen Hand hielt sie eine frische Fackel, Schild und Schwert waren an ihrem Gürtel befe stigt. Sobald sie an dem Hundeempfangskomitee vorbei war, trat sie aus dem Tunnel in den weiten Korridor des zweiten Geschos ses, platschend bahnte sie sich ihren Weg durch den stinkenden Bodenbelag, an den Räumen vorbei, die einmal luxuriöse Schlaf zimmer gewesen waren und hier und da immer noch Fetzen von samtenen Bettvorhängen und Gardinen an den leeren, mit Erde aufgefüllten Fenstern aufwiesen. In regelmäßigen Abständen waren die Halter für die Fackeln angebracht, in vielen steckten noch Fackeln, die dem Gang, trotz seines heruntergekommenen 321
Zustandes, den Anschein von Alltäglichkeit gaben, als ob jetzt dann gleich Diener auftauchen würden, die die Fackeln anzünde ten, den Dreck wegräumten und die Hunde hinauswarfen. Ein dunkler Spalt in der Südmauer zeigte an, wo die Treppe an fing, die hinunterführte. Bronwyn bemerkte, dass auf der Stein treppe hinter dem Treppenabsatz kein Hundedreck mehr lag und wunderte sich darüber. Sie wünschte, dass sie wie Jack die Hun desprache beherrschte, dann könnte sie sich bei den Hunden da nach erkundigen, aber wahrscheinlich würde sie in der Hunde sprache genauso viel lügen wie in ihrer Muttersprache. Unkraut rankte sich an der Treppe empor, ihr entgegen. Es ver fing sich in ihren Stiefelabsätzen und legte sich um ihre Knöchel. Als sie ihre Fackel ein bisschen höher hielt, sah sie, dass überall wie in einem Urwald Schlinggewächse wucherten. Sie hörte etwas rauschen und der Geruch von Wasser stieg ihr in die Nase. Sie hoffte inbrünstig, dass Anastasias Schlangen, Alligatoren und Insekten nicht zusammen mit dem Schloss in die Tiefe gesunken waren. Sie wollte hier wirklich keinem Alligator begegnen oder in Treibsand hineingeraten, obwohl nur die Große Mutter wusste, dass sie bei solch einer Gelegenheit auch ohne weiteres einen Judenstrick finden würde, an dem sie sich wieder herausziehen konnte. Der Schein ihrer Fackel fiel auf eine Wand, und sie sah, dass auch hier noch die Fackeln an Ort und Stelle waren. Durchs Un kraut bahnte sie sich einen Weg zur Wand und zündete die Fak keln der Reihe nach an, dabei hoffte sie inbrünstig, dass sie den Ort nicht in Brand stecken würde und das Schloss, die Hunde und sich selbst dabei einäschern würde. Bei den verbesserten Licht verhältnissen sah sie, dass sich die Schlinggewächse nicht nur um die verfaulenden Möbel, die sonst einen großen Festsaal ge schmückt hätten, rankten, sondern sogar durch sie hindurchwuch sen. Das Rauschen und Geplapper wurde immer lauter und der Ge ruch von Wasser immer stärker, als sie an der Wand entlangging und das Unkraut auszureißen versuchte, das aber kurz nachdem 322
sie sich ihren Weg gebahnt hatte, doppelt so schnell und dicht wieder nachzuwachsen schien. Sie rutschte aus und als sie die Pflanzen für einen kurzen Moment beiseite räumte, sah sie, dass an den Wänden Schlamm emporgetrieben worden war, und der Grund dafür war auch bald ersichtlich, als sie nämlich herausfand, dass sie an einem schnell dahinplätschernden Fluss stand, der grob gesprochen in süd-südwestlicher Richtung durch den großen Saal rauschte, der nach der hohen Decke, den riesigen eisernen Lam pen und den reichverzierten Säulen nach zu urteilen, einst ein Ballsaal gewesen sein musste. Wenn der Granatapfel also dort gelegen hatte, wo sich jetzt das Flussbett befand, dann hatte sie wohl kein Glück, aber wenigstens verstand sie jetzt, woher der Schmutz kam. Der Fluss musste ihn herbeigeschafft haben, als er durch die Mauern gedrungen war. Alle Keller und Verliese waren mittlerweile zweifellos über schwemmt, was allerdings ein Segen war. Bronwyn überlegte sich im stillen, dass sie wirklich keine Lust dazu hatte, sich in einem Spukschloss wie diesem auch noch den Kerker anzusehen. Da sie nicht weiterkonnte, versuchte sie zu der Treppe zurück zugehen. Es war ihr nämlich beinahe so, als ob sie auf der anderen Seite noch eine Tür gesehen hätte. Aber das Kraut, das sie auf dem Hinweg mit dem Messer abgeschnitten hatte, war viel dich ter und kräftiger nachgewachsen, und als sie nun das Schwert dagegen erhob, wuchs auch die Pflanze in die Höhe, um Bron wyns Waffe zu packen. Sie klammerte sich fest und zog, aber die Reben wickelten sich um ihre Füße, so dass sie stolperte, dann wanden sie sich um ihr Handgelenk. Sie hörte auf zu hacken und sofort schlafften die Pflanzen wieder ab. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, aber da sie in die sem Urwald nicht für den Rest ihres Lebens oder das, was ihr davon noch blieb, gefangen sein wollte, begann sie wieder drauf loszuhacken und wurde prompt wieder umklammert. Dieses Mal wurde sie von panischem Schrecken gepackt und hackte und schlug wild um sich, bis sie die Reben wie in einem Kokon ein gewickelt hatten, außer der Hüfte, die durch den Ebereschen 323
Schild geschützt wurde. Bronwyn weinte und fluchte gleichzeitig vor Wut, weil sie sich nicht mehr bewegen konnte. Aber sobald sie die Reben bewegungsunfähig gemacht hatten und sie auch gar nicht mehr versuchte, ihr Schwert zu schwingen, wichen sie wie der zurück. Diese wuchernden Pflanzen waren nicht grün, sondern hatten eine blasse Pilzfarbe und stachlige braune Blätter, als ob sie be reits tot wären, ein Umstand, der natürlich durch ihre gelegentli che Kraftmeierei widerlegt wurde. Das mussten also die Pflanzen sein, aus denen der Brei gemacht wurde. Wenn dies der Fall war, dann musste ja die Ernte eine ziemlich nervenaufreibende Ange legenheit sein. Wie schafften es die Frostingdungianer, die Früch te einer Pflanze zu pflücken, die zurückschlug – aber dies war natürlich der springende Punkt. Je mehr sie ernteten, desto schnel ler wuchs die Pflanze, so kam es auch, dass die Frostingdungianer so viel Brei und so wenig von allem anderen hatten. Bronwyn blickte mit neuerwachtem Interesse auf das Schling gewächs. Welche Art von Pflanze war nun dies? Was auch immer, sie musste sie unter Kontrolle bringen, wenn sie wieder zur Ober fläche zurückgelangen wollte, ganz zu schweigen von dem Gra natapfel, den sie ja schließlich finden wollte. Gewöhn dir ab, immer gleich draufloszuschlagen und versuch statt dessen, die Dinge an der Wurzel zu packen, hatte Anastasia gesagt. Nun gut. Der erste Teil des Rats hatte sich als sinnvoll erwiesen, vielleicht war es auch der zweite. Nachdem Bronwyn ihr Schwert wieder in die Scheide gesteckt hatte, benützte sie ihre freie Hand dazu, um behutsam an der Pflanze zu ziehen. Zuerst umklammerte sie Bronwyns Handge lenk, aber als sie spürte, dass ihr die Prinzessin keine Gewalt antat, wurde sie wieder ganz schlaff, so dass Bronwyn weiter daran zog. Sie wollte das Gewächs überraschen, indem sie sich nacheinander an alle Wurzeln herantastete und sie zum Schluss mit einem schnellen und barmherzigen Ruck herauszog. Sie war davon überzeugt, dass die Pflanze nichts spüren würde, aber sie
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wusste überhaupt nicht, wie die anderen Gewächse reagieren würden, denn sie schienen alle sehr teilnahmsvoll zu sein. Bald begann sie zu ahnen, womit dies zusammenhing. Sie muss ten entweder sehr große Pflanzen sein oder sie waren alle irgend wie miteinander verbunden, denn sooft sie einem Strang bis zum Boden nachging und das teilnahmslose Ende über die Schulter zurückwarf, als sie sich an der Rebe entlangtastete, so stieß sie doch nie auf eine Wurzel. Solange sie ihrer Arbeit mit einer ge wissen Gleichgültigkeit nachging und nicht an der Pflanze zerrte, verhielt sie sich wie ein ganz normales Gewächs, aber sobald sie unruhig wurde und sich zu beeilen versuchte, schlang es sich wieder fest um sie. Irgendwie erinnerte sie die Situation an ihren Fluch. Je mehr sie von den Leuten geliebt werden wollte, desto verbissener versuchte sie, irgendetwas zu ihnen zu sagen und desto abwegiger wurden ihre Lügen, so dass sie ihren Humor, den Tonfall ihrer Stimme und die feinen Umschreibungen dessen, was man eigentlich mein te, überhaupt nicht mehr nutzen konnte. Umso verzweifelter sie versuchte, sich den anderen mitzuteilen, desto verwirrter wurde ihre Sprache, die ihr dann dieselben Tricks spielte wie die alberne Rebe. Ob wohl Karola genauso fühlte, wenn sie sich so verzwei felt bemühte, den anderen zu gefallen und sich dabei dann genau so kriecherisch wie Leofrig benahm? Und wie stand es mit Jack, der immer furchtbar lächerlich war, wenn er den anderen zeigen wollte, wie tapfer und männlich er war? Ach, Unsinn! Die waren doch normal und hatten keinen Fluch, den sie mit sich herum schleppen mussten. Und vor allem mussten sie auch nicht mit einem Schlingge wächs kämpfen, das sich überall an einem festklammerte. Immer wieder das gleiche Ritual: Sich bücken, sich über das Gewächs beugen und ziehen. Zuviel Anstrengung und es schloss einen wie in einem Schraubstock ein. Zuwenig Anstrengung und man kam überhaupt nicht weiter. Und wozu sollte das alles gut sein? Eine Frucht, die allem seinen Zauber nahm und es gewöhnlich, lang weilig und eintönig machte. Der bloße Gedanke daran ermüdete 325
sie schon. Aber die anderen hatten ihren Beitrag schon geleistet, und sie hatte nun nur noch den Kampf mit diesem einzigartigen Gewächs zu bestehen und … Es war gewiss einzigartig! Sie konnte überhaupt kein Wurzelsy stem finden, so eifrig sie auch der Sache nachging, und die Pflan ze in dem Teil des Ballsaals, der sich über der Erde befand und auf ihrer Seite des Flusses war, im großen Gang und weiter bis zur Küche nach allen Richtungen hin absuchte. Und wenn nun der Teil der Pflanze, der in den Fluss hineinwuchs, auf diese Weise das Schloss verließ, unterirdisch weiterwuchs und schließlich mit dem Fluss zusammen wieder an die Oberfläche trat, wo sich dann ihre Ranken wieder über das ganze Land ausbreiten würden? Angesichts ihrer derzeitigen Zähigkeit schien das nicht unmöglich zu sein. Bronwyn erinnerte sich auch daran, dass ja der klebrige Brei überall in Frostingdung gegessen wurde. Hmmm … Zuletzt ließ sie sich erschöpft neben einem Kamin am Ende der Küche nieder, den sie beinahe nicht gesehen hätte. Sie war drauf und dran aufzugeben und hatte sich damit abgefunden, dass sie sterben würde. Das verdammte Gewächs war eben allmächtig. Auf eine vernünftige Art und Weise war ihm offenbar nicht bei zukommen. Ihr Rücken war schon ganz krumm vom dauernden Hinunterbeugen und ihr Arm war so gebogen wie eine Nudel, weil sie damit die Fackel hatte hochhalten müssen. Wenn sie jemals wieder nach oben gelangte, würde sie immer einer wütenden Katze gleichen, und wer wollte schon etwas mit einer hochaufge schossenen Lügnerin zu tun haben, die zu allem Übel hin auch noch wie eine wütende Katze aussah? Sie seufzte. Jack und Karola würden sie wahrscheinlich nicht einmal vermissen. Sie würden sich in Frostingdung eine neue Existenz aufbauen, nachdem die Feinde über Argonia hergefallen waren und ihre Eltern umgebracht hatten. Aber vielleicht würden sie sie auch nicht in zu schlechter Erinnerung behalten, sondern als eine Freundin, die sie in Sicherheit gebracht hatte, damit sie nicht mit den anderen zugrunde gingen. Sie fühlte sich dabei so edel, dass sie zu weinen anfing und zugleich so frustriert, dass sie 326
wütend auf einen Büschel von der Pflanze einschlug, der rechts von ihrem Sitzplatz lag und vergaß dabei ganz, dass die Pflanze in einer solchen Situation angriff. Aber dieses Mal war dies nicht der Fall. Das Gewächs zog sich zurück, zerriss und begann zu welken und ging ein. Gut. Dann hatte sie wenigstens etwas, das ihr beim Sterben Gesellschaft leistete. Aber während sie neugierig auf das Ende der Rebe schaute, an dem sie gerissen hatte und das sich in der Nähe des Bodens be fand, begannen neue Triebe zu sprießen. Bronwyn wollte aber nicht, dass es der Pflanze so einfach gelang, wieder zu voller Größe emporzuwachsen. Sie zog und zerrte so fest daran wie zuvor, und sie erzielte ungefähr das gleiche Resultat damit wie im anderen Raum, als sie eine ähnliche Taktik angewandt hatte, wenn es auch hier vielleicht nicht ganz so spektakulär war. Die Pflanze war fest in der Erde verankert und gab überhaupt nicht nach. Verschlagen wie sie war, zog Bronwyn wieder ihr Schwert und benutzte es als Spaten. Da das Gewächs nicht unmittelbar gestört war, leistete es auch keinen Widerstand oder wuchs schneller als zuvor, obwohl Bronwyn durch ihre erste Reaktion bewirkt hatte, dass ihr die Schößlinge schon bis zur Taille emporgewachsen waren. Schließlich legte sie das Wurzelgeflecht frei, aber anstatt daran zu ziehen, tastete sie sich mit der Hand so lange vor, bis sie auf etwas stieß, das sich wie eine Knolle anfühlte. Als sie die Knolle richtig im Griff hatte, zog sie alles, die Knolle, die Wurzeln und die frischen Triebe heraus. Sie hatte es ja kaum mehr zu hoffen gewagt – aber die Knolle war wirklich rund und rot, und das ganze Wurzelsystem wuchs aus einem winzigen Fruchtknoten am oberen Ende der Frucht heraus. Bronwyn brach den Granatapfel ab und sah, wie die Trie be abstarben. Dann steckte sie die Zauberfrucht ein und pfiff ein Motiv aus der Marschmelodie, die Karola einst dazu benutzt hatte, um sie zu verhexen und stapfte schweren Schrittes durch den Kot und Schlamm zurück.
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XII
»Du lügst!« war alles, was Leofric herausbrachte, als er sich mit der Frucht, den drei entschlossenen Kindern und einem Rudel Hunde konfrontiert sah, die ihn zwar verächtlich betrachteten, aber sich sehr zusammennahmen. »Ich habe ja keinen Ton gesagt!« Bronwyn wies den Vorwurf entrüstet zurück. »Das braucht sie auch gar nicht«, sagte Karola. »Du hast uns nämlich versprochen, dass wir die Frucht haben könnten, wenn wir sie finden, und Bronwyn hat sie nun wirklich gefunden. Au ßerdem haben wir all die notwendigen Arbeiten vorgenommen, die du in diesem bedauernswerten Schloss schon seit zig Jahren unterlassen hast, und wir haben uns mit deinen Hunden ange freundet. Hör also auf zu schniefen und putz dir die Nase! Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie abstoßend das bei einem erwachsenen Mann aussieht und einem Prinzen noch dazu!« »Also jetzt hör mir mal gut zu, Mädchen …« begann Leofric höhnisch, aber brach dann plötzlich ab, denn er hatte ja nun kei nen Grund mehr, um sie zu verhöhnen. Die Hunde knurrten ihn an und fingen an zu bellen, so dass er vor ihnen zurückwich und sich auf die Treppe zu bewegte. Plötzlich schnappte die Hündin nach ihm und er floh die Treppe hinunter, und zwar schlurfte er so schnell, wie es keiner von ihnen für möglich gehalten hätte. Inzwischen schilderte Bronwyn ganz kurz, wie sie die Frucht und das gefährliche Breigewächs bezwungen hatte, und schaffte es mit den dementsprechenden Gesten und unter Zuhilfenahme ihres Zaubers an den strategischen Punkten, ihnen mitzuteilen, was sie über die besonderen Eigenschaften des Granatapfels he rausgefunden hatte. Das Sprechen fiel ihr schwer, durch ihren Kampf schien sie seltsam entkräftet zu sein und zuletzt zog sie die rote Frucht ganz einfach aus der Tasche, damit sich ihre Freunde selbst davon überzeugen konnten. Am Granatapfel hatten sich oben schon wieder neue Triebe gebildet. Aus irgendeinem uner 328
findlichen Grund entmutigte das Bronwyn jetzt mehr als im Keller unten und sie war den Tränen nahe, als sie sagte: »Wie ihr selbst sehen könnt, ist es trotz allem ein ziemlich aussichtsloser Kampf. Ich weiß auch nicht, wie ich mir jemals einbilden konnte, eine Kriegerin zu sein. Obwohl das jetzt auch nichts mehr aus macht, weil wir uns ohnehin nicht mehr rechtzeitig mit Leofwin verbinden können, um Vater zu helfen und …« Karola, die aufmerksam zugehört hatte, schüttelte den Kopf und sagte: »Ach so läuft das! Jetzt hört euch das nur mal an! Jetzt lügt sie nicht nur, sondern sieht auch noch schwarz!« Eilends sprang sie auf und rannte zum Schwanenbett, aus dem sie die Hoffnungs truhe hervorholte. »Los jetzt, ihr beiden, wir wollen das jetzt ins Freie transportieren, damit Bronwyn ihren Granatapfel hineintun kann. Jetzt beeilt euch doch ein bisschen, man würde es ja wirk lich nicht für möglich halten, wie gefährlich so eine Zauberfrucht für jemanden werden kann, der schon verzaubert ist, aber Bron wyn ist der schlagende Beweis dafür.« Jack schaute Bronwyn an und zuckte ratlos mit der Achsel, worauf die Prinzessin ebenfalls achselzuckend und mit einem Gang hinter ihr herlatschte, der ihres Gastgebers würdig gewesen wäre. Sobald sie im Freien waren, leerte Karola unverzüglich die Tru he aus und sprang zurück, als die unzähligen Schatzgegenstände aus der Truhe herausquollen und sich über die frostbedeckte Heide verteilten. »Was glaubst du eigentlich, was du da tust?«, fragte Anastasia, die schon den ganzen Morgen über auf dem Turmdach ausgeharrt hatte, um zu hören, was Bronwyn erreicht hatte. »Zuerst sammelt ihr meine Besitztümer ein und nun werft ihr sie wieder weg, als ob sie Trödel wären!« »Tut mir leid, verführerische Anastasia, aber ich glaube, dass uns nur noch deine Wunschtruhe vor dieser verfluchten Frucht beschützen kann. Gib sie schon her, Bronwyn!« Bronwyn seufzte lebensmüde und ließ den sprießenden Granat apfel in den Kasten fallen. In dem Augenblick, als sie das Holz berührten, rollten sich die farblosen, neuen Keime zusammen, als 329
ob sie verbrannt wären, und obgleich die Frucht durch ihr Vermö gen, Zauber zu brechen, davor bewahrt wurde zu schrumpfen, welkte das Kraut, auch als Karola den Deckel schloss und verrie gelte. »So wird man sie wenigstens bedenkenlos transportieren können«, sagte sie und reichte Bronwyn das Kästchen zurück. Bronwyn war schon wieder drauf und dran zu sagen, dass sämt liche Schutzmaßnahmen zwecklos seien und dass die Hoffnungstruhe keine Chance gegen die Entzauberung hätte, aber dann hatte sie natürlich auch die Ranken welken sehen, und ihr war plötzlich so, als ob es ihr schon viel besser ginge. »Für dich mag das ja alles schön und gut sein, meine Liebe«, sagte Anastasia, die immer noch aufgeregt mit den Flügeln schlug, »aber schließlich ist dies mein Zuhause. Ich könnte den Gedan ken, dass meine Schätze im Freien vor sich hinfaulen nicht ertra gen.« »Aber das sind doch nur materielle Dinge«, sagte Karola spöt tisch, »aber nun gut!« Und mit einer Reihe von schrillen Pfeiftö nen ließ sie alles wieder in den Turm zurückrauschen, so dass der letzte Stuhl beinahe Leofric das Bein gebrochen hätte, als er zur Tür herausgestolpert kam und neben ihnen auf die Knie sank. »Bitte hört …«, schrie er. »Aber du hast uns doch versprochen«, fing Karola an, die ihn an sein Versprechen erinnern wollte, dass er sie anstandslos fortzie hen lassen wollte. »Ich habe mir einmal geschworen, dass mich keiner mehr zum Glauben zurückbringen würde, aber ihr Kinder habt das fertig gebracht«, sagte er, schnäuzte sich die Nase an Karolas Rocksaum und sah unterwürfig zu ihr auf. Im Tageslicht war er auch nicht schöner als sonst, aber die Ähnlichkeit mit Leofwin kam ihrer Meinung nach besser heraus. Das Gesicht, obwohl es so hässlich war wie das eines Klammheimlichen, der plötzlich sichtbar ge macht wird, war nicht mehr so faltig und so rot, wie es ihr wegen der Schatten im Turm erschienen war. »Auch wenn ihr mich hereingelegt habt, auch wenn nichts von dem, was ich hier sehe, 330
wirklich ist, möchte ich lieber die Rolle eines Trottels spielen, als so weiterzumachen wie bisher.« Karola war skeptisch, aber die Hündin schnupperte am Hintern ihres einstigen Herrn und obwohl sie ihre Ohren anlegte, so we delte sie doch unsicher mit dem Schwanz. »Ich kann mich zwar auch täuschen, aber der alte Mann versucht offenbar, neue Tricks zu lernen.« »Das bezweifle ich aber«, sagte Jack mit ernster Stimme, »er ist nämlich ein grausamer Mensch, denn er wusste ja die ganze Zeit über, wo der Granatapfel war. Auf der Suche danach hat er uns zu schwierigen und gefährlichen Aufgaben gezwungen und gehofft, dass wir dabei zugrunde gingen.« »O nein, das habe ich nicht getan«, schrie Leofric. »Außer den Hunden war nichts, was ich von euch verlangt habe, wirklich gefährlich gewesen – es war eben nur so, dass ich meiner selbst so entsetzlich müde war und euch so lange um mich behalten wollte, wie ich konnte …« Tränen begannen ihm nun über die zerfurchten Wangen und in den ungepflegten Bart zu rollen. »Und ihr wart euch eurer selbst so sicher, ich wollte nur einmal bei anderen miterleben, wie schwer es ist, das zu bekommen, was man will und dann nachher erkennen zu müssen, dass es den Preis nicht wert ist, den man dafür bezahlt hat, wie das bei mir der Fall war. Von Jahr zu Jahr wurde ich erschöpfter und entmutigter, und ich wollte wohl auch nicht mehr den Turm verlassen, weil ich Angst davor hatte, dass man meine Gesellschaft meiden oder mich er morden würde. Denn alle diese Magier und Könige, die ich hinge richtet habe, hatten eine ausgedehnte Verwandtschaft. Ich habe selber dafür gesorgt, dass aus mir ein alter Mann geworden ist, weil ich mich deswegen so sehr gegrämt habe. Ich weiß gar nicht, ob F’win mich noch um sich haben will, aber vielleicht käme es auf einen Versuch an, ihn einmal danach zu fragen.« Leofric war nicht der einzige, der sich verändert hatte. Sobald er ausgeredet hatte, wurde er durch ein gewaltiges Beben umgewor fen, das die Erde erzittern ließ. 331
»Lauft, was das Zeug hält!«, schrie Anastasia. »Lauft alle zum nahe gelegenen Wald!« Da niemandem etwas Besseres einfiel, rannten sie auch wirklich und schafften es gerade noch, denn plötzlich spaltete sich die Erde und die Schlossmauern tauchten wie magische Pilze daraus empor. Vielleicht hatten es die Schlinggewächse niedergehalten oder vielleicht war es ursprüng lich durch einen Zauber über dem Moor in der Schwebe gehalten worden, der nun durch das Entfernen des Granatapfels wieder zu wirken begann – jedenfalls stieg das Gebäude wieder empor. Schlammbedeckt, ein bisschen baufällig, aber doch noch größten teils intakt, ragte es nun vor den staunenden Menschen auf, mit den Zinnen und den vielen Türmchen. Und was noch viel seltsa mer war: Der Fluss war seinem unterirdischen Gefängnis entflo hen und füllte wieder sein altes Bett, so dass sich die Jagdhunde, der Prinz, die Schwänin und die Kinder an den Ufern eines Schlossgrabens wiederfanden. Als sie sich gerade an die Verände rungen gewöhnt hatten und dachten, dass sich nun alles wieder beruhigen müsse, ließen sich sechs riesige schwarze Schwäne auf dem nagelneuen Schlossgraben nieder. Die Hunde fingen an zu bellen, aber Anastasia rief begeistert: »Sie sind zurückgekehrt! Alle meine Schwestern sind zu ihrem ursprünglichen Nest heimgekehrt!« Nachdem sie dies gesagt hatte, hüpfte sie ebenfalls ins Wasser und glitt zu den sechs Schwänen hinüber, um mit ihnen zu sprechen. Nach einer kurzen Unterredung kamen alle sieben zum Ufer zurückgeschwommen, die sechs schwammen in einer fächerartigen Formation hinter ihrer älteren Schwester her, die sagte: »Abigail, Agata, Amelia, Alastraina, Aschling und Ailis, diese Dame dort ist eine Kollegin von uns, es ist die Prinzessin Bronwyn von Argonia. Alle, außer dem älteren Barbaren dort, der so große Schande über unser Ge schlecht gebracht hat, indem er nämlich unser Schloss herunter kommen ließ, gehören zum Gefolge der Prinzessin.« Die Schwäne trompeteten und quasselten und flochten ein paar Wörter aus der Sprache der Menschen mit ein, an die sie sich noch erinnerten – denn sie hatten sich nun schon so lange in der Spra 332
che der Schwäne unterhalten, dass sie die menschliche Sprache beinahe ganz vergessen hatten. Während sie untereinander schwatzten, war am Himmel wieder Flügelschlagen zu hören, und die Gruppe am Ufer sah, wie Graf Gilles Kilgilles und Rostie Himbeere auf zwei prächtigen Pferden und drei weiteren, die sie zwischen sich führten, zu ihnen herabsegelten. »Leofwin ist mit dem Heer vorausgeflogen«, berichtete ihnen Rostie atemlos, zog ihr leuchtendes Haar aus dem Kragen ihres Mantels und warf es mit einer ungeduldigen Geste wieder in den Nacken zurück. »Als die Miragenier in ihrem Teich gesehen hatten, dass ihr den Granatapfel errungen habt, übersandten sie uns die Botschaft, dass der Krieg in Argonia schlechter denn je für uns stünde und dass Leofwin und sein Heer König Brüllo sofort zu Hilfe eilen sollten. Graf Gilles und mich haben sie zuerst hier vorbeigeschickt, damit wir euch abholen. Hier wären wir also! Aber bitte, beeilt euch!« Bronwyn nickte ungeduldig, während sie sich auf eines der drei zusätzlichen Pferde setzte. Leofric bat flehentlich darum, dass man ihn ehrenvoll an der Seite seines Bruders kämpfen lasse, womit die anderen einver standen waren, solange er die richtige Windrichtung wählte. Ana stasia erklärte sich sogar dazu bereit, Jack auf ihrem Rücken zu transportieren, damit der Prinz auf einem der geflügelten Pferde reiten konnte. Ihre Schwestern versprachen, vor Anbruch der Dunkelheit im Wald Knochen und Fleisch zu sammeln, damit die Jagdhunde etwas zu fressen hatten. Zwischen der von Ungeheuern heimgesuchten Küste von Fro stingdung und dem Golf der Kobolde hielten sie nur einmal an, und das war weit draußen im Meer. Karola zog plötzlich die Zügel an. Gehorsam glitt ihr Reittier über die Oberfläche der weiten grünen See dahin, während sie die Pfeife hervorzog, die ihr Lore lei gegeben hatte und eine der Lockweisen trillerte, die ihr die Sirene beigebracht hatte. Obgleich die anderen Reiter zu sehr darauf bedacht waren, ihr Ziel zu erreichen, als dass sie Karolas Zurückbleiben bemerkt 333
hätten und ohne sie weiterflogen, fiel es Bronwyn sofort auf. Sie hielt ihr Pferd ebenfalls an und kreiste über Karola. Kurze Zeit danach wurden sie beide durch den Anblick von Ollie belohnt, der sich durch die Wogen wälzte und dem mindestens fünfzig Wale und eine ganze Herde von Seehunden folgten. Auch trieb an der Seite des Zugs wohl der eine oder andere Delphin seine Späßchen. Aber Lorelei und Cordelia waren die ersten, die ankamen. »Nun Liebes, hast du genug von den Landbewohnern?«, fragte Lorelei. »Nein, ich – äh …«, begann Karola. Sie hatte nach diesen We sen gerufen, die sie einst so sehr bewundert hatte, weil sie sie um Hilfe bitten wollte, aber beim Anblick ihrer schönen, fremdartigen Gesichter versetzte ihr die Erinnerung an ihre Gleichgültigkeit gegenüber einem Menschenleben einen solchen Schlag, und ihr war plötzlich, als ob sie von einem ihrer muskulösen Fisch schwänze getroffen worden wäre. »Wir haben eine schöne Klatschgeschichte, die ihr vielleicht gerne hören würdet«, rief ihnen Bronwyn wohlgemut zu, als ob sie ihre alten Kumpel wären. »Meine Kusine ist sich wirklich ziemlich niederträchtig vorgekommen, seit sie euch um jenes Schiff gebracht hat …« »Sie hat auch allen Grund dazu!«, sagte Cordelia mit einem ste chenden Blick aus ihren grauen Augen, der ihrer einstigen Schüle rin galt. »Sie dachte, dass ihr vielleicht Lust hättet, einen Kollegen ken nenzulernen.« »Einen Kollegen? Was, noch eine Sirene in diesen Gewässern?« Die Meerjungfern tauschten entrüstete Blicke miteinander, die verhießen, dass man dem Eindringling Unannehmlichkeiten berei ten würde. Dagegen grinsten sich Bronwyn und Karola nur kurz und ver stohlen an, dann fuhr Bronwyn fort: »Nein – keine Sirene. Ob ihr mir’s nun glauben wollt oder nicht: ein Zauberer, der über das Wetter auf dem Meer gebietet wie eine Sirene. Nun, er hat offen 334
bar Schiffe versenkt und ist durch den Golf der Kobolde abgehau en. Dort soll er angeblich in einem Monat mehr Schaden angerich tet haben als du in deinem ganzen Leben, Lorelei.« »Ja, wirklich?«, fragte Lorelei schnippisch und schlug dabei mit ihrem Schwanz so energisch aufs Wasser ein, dass eine Fontäne mit Gischt aufstieg, die so hoch war wie ein Schiffsmast. »Du kannst dich darauf verlassen, dass wir nach dem Rechten sehen werden! Wie wär’s, wenn du uns mit zu diesem Betrüger mit dem gespaltenen Schwanz nimmst? Dann werden wir schon sehen, wie gut er eigentlich ist.« »Ja, das werden wir«, stimmte ihr Cordelia zu. »Meine lieben Freunde«, sagte Karola strahlend. »Ich wusste ja schon immer, dass wir auf euch zählen können!« Weder die fliegenden Pferde noch Leofwins Heer – vielmehr seine in der Luft befindliche Kavallerie – waren in der Lage ge wesen, die Schranke der Blitze zu durchbrechen, mit denen der ablemarlonische Zauberer König Brüllos Zufluchtsort auf der Insel abgeschottet hatte. Die Pferde und ihre Reiter hielten sich in sicherer Entfernung und beobachteten die erschöpften Männer und Drachen, um die sich die Schiffe immer dichter zusammenzogen, die dageblieben waren, um ihnen zuzusetzen. Größtenteils waren aber die feindlichen Schiffe nach Königinstadt weitergesegelt, und Leofwin war schon drauf und dran, seinen Truppen den Befehl zu geben, ebenfalls dorthin zu fliegen, um die argonische Hauptstadt zu verteidigen und die schiffbrüchige Armee ihrem Schicksal zu überlassen. Aber bevor er den Befehl geben konnte, schlossen sich fünf wei tere Pferde und ein Schwan stillschweigend seinem Heer an. Unter ihnen im Meer aber spielte sich eine unglaubliche Szene ab. Zuerst wurde die gesamte Flotte und die Insel mit allem, was sich darauf befand, in einen dichten, weißen Nebel gehüllt, durch den die Blitzstrahlen nicht mehr dringen konnten. Dann drehte sich mit einer tödlichen Sanftmut, die langsam und willkürlich schien, 335
aber in Wirklichkeit unheimlich schnell war, bei einem Schiff nach dem anderen der Bug nach innen und sie trieben auf die Insel zu, wo sie zerschellten. Alle Schiffe, außer dem, auf dem sich der Zauberer befand und das von den anderen isoliert wurde. Eine Schlange legte sich mit ihren Windungen um das Schiff. Sie fing an zu drücken, worauf das Spantenwerk, die Segel und alles ande re in formloses Treibgut zerfiel. Die Blitze erloschen und das Meer brodelte wegen des lustvollen Treibens der Sirenen und der anderen Geschöpfe, die zwischen den Trümmern der Schiffe Jagd machten. Als sich der magische Nebel wieder lichtete, nahm die geflügel te Kavallerie auf Leofwins Befehl hin Kurs auf die Insel und sammelte die Überlebenden ein. Die drei Drachen hoben ihr leuchtendes Haupt und wollten die rösten, die an dem, was sie für einen neuerlichen Angriff hielten, schuld waren, aber sie sanken wieder zurück, die Erschöpfung hatte sie besiegt. Ein graubärtiger Mann mit spitzigen Ohren ließ sich mit Freuden auf Rosties Pferd heraufziehen, worauf die beiden dann den Drachen erzählten, was passiert war, so dass die Rettungsaktion ungestört ihren Verlauf nehmen konnte. Verwundert umarmte König Brüllo seine Tochter, bevor er auf Karolas Ross Platz nahm und seine Nichte nach vorne schob. Bronwyns Pferd atmete erleichtert auf. Es war sich nämlich si cher, dass es unter der Last des hünenhaften Königs und seiner übergroßen Tochter zusammengebrochen wäre. Sie flogen so schnell sie konnten zur Hauptstadt weiter, aber sie waren noch eine knappe Meile von Königinstadt entfernt, als Bronwyn ihren Vater stöhnen hörte, und sie folgte seinem Blick nach unten, wo sie die Hafendocks und die Straßen der Stadt vor sich sahen. Nur ein einziges Schiff, von dessen Mast eine Flagge mit einem Totenschädel und gekreuzten Knochen wehte, versuch te noch, den Angriff von sechs ablemarlonischen Schiffen abzu wehren, die meisten hatten schon angelegt und es wimmelte von feindlichen Soldaten, die nun in den Straßen der Hauptstadt aus schwärmten. Die Bewohner schienen die Stadt klugerweise eva 336
kuiert zu haben, denn die landenden Truppen trafen auf keinen Widerstand. Wenigstens so lange nicht, bis die Vorhut die Mauern des Kö nigspalastes erreicht hatte. Dort hatte ihre Tante Gretchen Grau alle Zauberer, Höflinge, Palastwachen, mitsamt der Köchin und den Kammerzofen versammelt, um die Bewohner zu verteidigen, die hinter den Stadtmauern eng zusammengepfercht und mit ihren Spindeln, Schaufeln, Hirtenstäben und was sie sonst noch an häuslichen Schutzmitteln zusammenklauben konnten, bewaffnet waren. Der erste Angriff auf die Mauern erfolgte ungefähr zu derselben Zeit, als die schnellen fliegenden Pferde darüber hinwegflogen. Karolas Pferd wurde sofort von ihrer Last befreit, als der König und seine Nichte auf die Mauer heruntersprangen. Der erste able marlonische Matrose, der die Mauer an einer der Belagerungslei tern hinaufkletterte, starb von der Hand König Brüllos, der diesel be Leiter hinunterkletterte. Karola pfiff, wie sie noch nie zuvor gepfiffen hatte, obwohl sie bei Tagesbeginn schon gedacht hatte, dass ihr die ganze Musik abhanden gekommen wäre. Ihre Mutter grinste sie einen Augen blick lang verwundert an, um dann aber gleich wieder ihre Ab wehrtätigkeit fortzusetzen und den Feind mit Töpfen, Pfannen, Tonwaren und Pflastersteinen und allerlei anderen Haushaltsarti keln zu bombardieren, die sie gerade auftreiben konnte. Auch entfachte sie bei den Feinden kleine Feuer, die aussahen, als ob sie von selbst entstanden wären. Vom Plunder gebeugt und mit Hilfe von Gretchens und Karolas Magie erweckten die Angreifer den Anschein, als ob sie ein Ern tedankfest feiern würden, indem sie koboldhaft und scheinbar planlos um kleine Lagerfeuer herumhüpften, während ihnen Ge schosse in großer Zahl, die um einiges größer waren als Konfetti, um die Ohren sausten und geflügelte Pferde über ihnen am Him mel ihre gewagten Flugübungen machten. So sehr es auch Karola genoss zuzusehen, so hoffte sie doch, dass das Gemetzel bald vorüber wäre, weil ihre Lippen vor Mü 337
digkeit zitterten. Plötzlich spürte sie ein Paar kräftige Hände auf den Schultern und hörte hinter sich einen volltönenden Tenor, der ihre Melodie übernahm. Karola beugte den Kopf zurück, so dass ihres Vaters Bart an ihrem Scheitel entlangstrich. Am Ende des Liedsatzes küsste er sie auf die Stirn, bevor er seine Anstrengun gen wieder verdoppelte, um sie mit seiner Stimme zu unterstützen. Bronwyn kämpfte Rücken an Rücken mit ihrem Vater. Sie ent deckte, dass sie jedes Mal im entscheidenden Moment die Augen schließen musste, wenn sie fühlte, dass sie mit dem Schwert je manden aufschlitzte. Es war ja wohl wirklich nicht sehr fair, mit Leuten zu kämpfen, die tanzten. Als sie sich wieder einem Ablemarlonier gegenübersah, der mit Händen und Füßen ausschlug und dabei sein Schwert schwang, wollte sie es ihm wieder mit einem ihrer blinden Hiebe heimzah len, aber der Mann duckte sich, und als sie merkte, dass sie ihn nicht getroffen hatte, öffnete sie die Augen, um sich zu verteidi gen. Sie hätte ihn auf der Stelle erschlagen können, denn er stierte über ihren Kopf hinweg auf die Mauer, vor der Jacks Großvater und Vater kämpften. »Was tut eigentlich der Unwürdige auf eurer Seite, Mädel?«, fragte der Ablemarlonier und deutete auf Jacks Großvater. »Er hätte doch auf des Zauberers Schiff bleiben sollen, um den großen Kerl hinter dir in Schach zu halten, während wir die Stadt für ihn plündern. Jetzt seht euch nur das an, Jungs, der König hat sein Mäntelchen nach dem Wind gehängt!« Die wütende Stimme des Mannes übertönte Karolas Gesang und den ihres Vaters, so dass einen Augenblick lang die Kampfhand lungen stockten, in dem sich alle Blicke auf den Zigeuner mit dem Lockenkopf richteten. »Warum sind Sie denn nicht auf dem Schiff des Zauberers, wohin Sie eigentlich gehören, Majestät?«, fragte der Soldat. Der Zigeuner antwortete ihm mit einem breiten Grinsen, das unter den gegebenen Umständen erstaunlich gutmütig war. »Mein lieber Landsmann«, sagte er, »ich fürchte, dass mein Bruder, 338
König Würdigmann, genannt ›der Unwürdige‹ auf diesem Schiff war und dass er nun tot ist.« »Versuchen Sie jetzt bloß nicht, uns hereinzulegen! Wenn Sie nicht der König sind, sind Sie …« »Vielleicht sein älterer, wenn nicht sogar sein Zwillingsbru der?«, brüllte der Zigeuner zurück. »Ja, genau! Und ich werde diese unselige Schlacht hier, und zwar jetzt gleich beenden, wenn ihr alle damit einverstanden seid und wenn mein Freund Brüllo endlich aufhören würde, euch zu verdreschen!« Karola und Colin hatten aufgehört zu singen, und Gretchen hatte aufgehört, sie mit dem königlich-argonischen Hausrat zu bewer fen. Im Moment wäre dies allerdings gar nicht nötig gewesen, denn die Schlacht war schon in dem Augenblick zu Ende gewe sen, als das Auge des Ablemarloniers erschreckt an dem Zigeuner haftengeblieben war, der für die Argonier kämpfte. »Was wollen Sie eigentlich damit sagen?«, fragte der Soldat, dem seine Kameraden murrend zustimmten. »Ich will damit sagen, dass ich euer rechtmäßiger König bin, du Büffel! Ich bin David H. Würdigmann, der seit langem vermisste Kronprinz von Ablemarle, der älteste Sohn von König Würdig mann dem Würdigen und sein rechtmäßiger Erbe. Wagt es je mand, meinen Anspruch in Frage zu stellen?« »Schauen Sie mich doch nicht so vorwurfsvoll an!«, sagte der Soldat. »Führen Sie uns nur erst aus diesem bekloppten Land raus, dann verspreche ich Ihnen hoch und heilig, dass ich eigenhändig das Samtkissen auf Ihren Thronsessel knallen werde!« Die ablemarlonischen Edelleute waren zum größten Teil auf dem Schiff gewesen, das sich die Meerjungfern und Ollie unter den Nagel gerissen hatten, und es wurde allgemein angenommen, dass sie im Meer umgekommen waren. Diejenigen, die übrig geblieben waren, fügten sich schnell dem allgemeinen Verlangen ihrer Soldaten und schwenkten ihre weißen Taschentücher zum Zeichen, dass sie einen Waffenstillstand herbeiführen wollten.
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Um Mitternacht wurde ein Vertrag unterzeichnet, der den Frie den zwischen den drei Ländern garantierte, für das vom Unglück schwer betroffene Frostingdung eine Abfindung vorsah, bestehend aus Lebensmitteln und magischer Entwicklungshilfe durch das Ausland, die den Frostingdungianern helfen sollte, besser durch den Winter und die Zeit der Aussaat im Frühling zu kommen. Dann sah der Vertrag auch eine Allianz zwischen Argonien und Ablemarle vor. Ablemarle sollte in Zukunft von König David H. Würdigmann regiert und die Thronfolge seinem Sohn Davie und dessen Sohn Jacopo garantiert werden. Auch wurden dem Zigeu nerstamm, der allgemein bekannt war als ›die Xenobien‹, da ihre Königin Xenobia jetzt auch Königin von Ablemarle war, ein internationales Reiserecht eingeräumt, ohne zeitliche Beschrän kung. Als der Vertrag dann schließlich unterzeichnet war und man die Toten und Verwundeten auf beiden Seiten der Obhut von argoni schen Heilern anvertraut hatte, die über ganz bestimmte, geheim gehaltene Arzneimittel verfügten und dafür bekannt waren, dass sie eine relativ große Anzahl ihrer Patienten heilten, wandte sich Gretchen Grau mit ihrem Herdhexentalent wieder den alltäglichen Aufgaben zu. Nachdem sie ihre Töpfe und Pfannen wiedergewon nen hatte und die Rekruten der Schlossmiliz dazu bewogen hatte, wieder an ihre alten Arbeitsplätze zurückzukehren, wo sie Dienstmädchen, Servierer(innen), Köche oder Küchenpersonal waren, stellte sie ein großes Siegesfest auf die Beine, indem sie alles dazu benutzte, was in der königlichen Speisekammer noch übriggeblieben war. Auch ihr Gatte Colin hatte sich von den politischen Überredungsweisen ab- – und dafür den Festgesängen zugewandt. Das Fest bereitete allen großes Vergnügen, besonders den Soldaten aus Frostingdung, die kaum mehr wussten, wie man kaute, weil sie sich beinahe nur noch von dem Breimampf ernährt hatten. Als Gretchen während des Fests dann einmal den Saal verließ, folgte ihr König Brüllo nach und kehrte mit Königin Bernsteinwein auf dem Arm wieder zurück. Die Königin wieder 340
um trug Bronwyns winzige Zwillingsbrüder, die genauso rothaa rig waren wie ihre Schwester und jetzt schrieen, was das Zeug hielt. Bronwyn stürmte freudestrahlend durch den Saal, um die Babys zu bewundern und ihre Mutter in die Arme zu schließen, als plötzlich die Eingangstür aufging und Maschkent und Mirza auf einem fliegenden Teppich hereinschwebten, was die Gäste natürlich sehr beeindruckte. Mirza verbeugte sich vor Bronwyn und rollte den Teppich auf, die übrigen Anwesenden ließ er links liegen. »Seid mir gegrüßt, Hochwohlgeborene. Ich hoffe, dass auch Sie der Meinung sind, dass Sie reelle Ware für Ihren Kredit bekommen haben.« Bron wyn nickte zustimmend und streifte sich das Zauberarmband über. »Dann darf ich mir wohl auch die Freiheit herausnehmen anzu nehmen, dass Sie bereit sind, Ihre Rechnung zu begleichen?« Im Saal wurde es plötzlich ganz still. König Brüllo schritt zu Bronwyn hinüber und stellte sich neben sie hin. Seine Anwesen heit schüchterte die Kaufleute ein. Jack, Karola und Anastasia verließen ebenfalls ihre Plätze am Tisch, um sich zu ihrer Freun din zu gesellen. »Also Bronwyn, vielleicht kannst du mir jetzt mal sagen, wer diese Gauner sind und was es mit dieser Rechnung auf sich hat?« »Das muss ich selber erledigen, Vater«, sagte sie und wandte sich den Kaufleuten zu. »Eure Rösser haben meinem Land wirk lich den Sieg gebracht«, sagte sie, »oh – o ihr Glücklichen, möge euer Profit zunehmen!« »Gut, gut«, sagte Maschkent und rieb sich die Hände. »Und wir wissen, dass Sie den Granatapfel haben. Wenn Sie so freundlich wären und ihn uns aushändigen würden, dann würden wir Ihnen einen kleinen Bissen davon gewähren, der Sie von Ihrem Fluch erlösen würde. Da dies eine so festliche Gelegenheit ist, würden wir uns gerne mit ein paar Tänzerinnen daran beteiligen, die Ihnen aber keine zusätzlichen Kosten verursachen werden – und nicht nur das, sondern wir erlauben auch euren Verbündeten«, sagte der Kaufmann und verbeugte sich vor Leofwin, der den Gruß mit einem leichten Schwenken seines Dolches erwiderte, auf den er 341
sich gerade ein Stück Fleisch aufgespießt hatte. Dagegen schaute Maschkent Leofric, der aber seinem Blick auswich, nur finster an. Nach einer Pause fügte der Kaufmann hinzu: »dass sie auf unse ren schnellen und schönen Reittieren nach Hause zurückkehren können.« Jack reichte Bronwyn, die an der Festtafel neben ihm gesessen hatte, die Hoffnungstruhe. Sie drückte sie fest an sich und erwi derte: »Wirklich ein sehr großzügiges Angebot, aber in der Zwi schenzeit habe ich mich an meinen Fluch gewöhnt, weil ich gese hen habe, dass so viele andere von einem ähnlichen Übel befallen sind und ihr Zustand vielleicht noch sehr viel kritischer ist. Auch habe ich herausgefunden, dass ich gegenüber meinen guten Freunden gar nicht die Kraft habe, mich zu verstellen, sondern dass mich diese im Grunde ihres Herzens immer richtig verstehen. Weil ich gesehen habe, was die Frucht unter den Bewohnern von Frostingdung angerichtet hat, möchte ich mich auch in Zukunft lieber mit meiner Phantasie herumschlagen, als ganz auf sie ver zichten. Wenn meine Familie findet, dass ich es wegen des Flu ches nicht wert bin, das Land zu regieren, nun, dann kann ich auch nichts machen.« »Jetzt handeln Sie aber sehr unvernünftig, Prinzessin«, sagte Mirza besänftigend, »nur ein kleiner Bissen und dann können Sie uns den Apfel geben!« »Ich – ich denke nicht«, antwortete Bronwyn so ruhig als mög lich, allerdings wurde der Versuch, besonders würdig auszusehen, dadurch unterhöhlt, dass ihr Kinn plötzlich zu zittern anfing, als sie an den Untergang von Frostingdung dachte und das Gefühl der Verlorenheit und Trauer, das sie während der kurzen Zeit beschli chen hatte, in der sie die Frucht in der Hand hielt, bevor sie dann in die Hoffnungstruhe eingeschlossen wurde. »Verzeiht mir, aber ich würde es als höchst – äh – unklug empfinden, wenn ich die Frucht einer privaten Interessengemeinschaft anvertrauen würde. Eigentlich ist es auch viel zu gefährlich, dass die Frucht weiterexi stiert. Euer Land ist ein Musterbeispiel für Magie, aber was wird geschehen, wenn der Granatapfel innerhalb eurer Grenzen – 342
hmmm –wieder missbraucht wird?« Ohne einen Namen zu nen nen, wollte sie den Kaufleuten durch die Blume sagen, dass sie befürchtete, dass diese die Anarchie von Miragenia in ein Firmen konglomerat unter der Führung ihres Unternehmens verwandeln wollten. »Nein, ich glaube, Sie werden mir beipflichten, dass es das Beste ist, wenn wir diese unselige Frucht in die tiefste Spalte des größten, kältesten Gletschers in der Welt werfen, der ja glück licherweise nicht weit weg ist.« Offensichtlich stimmte ihr Maschkent nicht zu, denn er griff begierig nach dem Kästchen. Aber Bronwyn wich ihm aus, rannte zur Tür und dem geflügelten Pferd, das draußen angebunden war. Mirza schnippte mit dem Finger, worauf sich das Pferd ungestüm aufbäumte und die Zähne fletschte. »Prinzessin!«, schrie Jack, »komm hierher!« Der Zigeuner hatte bereits auf Anastasias Rücken Platz genommen, und bevor die Kaufleute ihr Gleichgewicht wiedergewonnen hatten und von ihrer Magie Gebrauch machen konnten, warf Bronwyn Jack das Kästchen hinauf, der es behende auffing. Anastasia mähte die Kaufleute nieder, als sie durch die Türen und in die Nacht hinaus flog. Die Kaufleute, die ein lautes Geschrei erhoben, dass man sie berauben würde, rannten zu den geflügelten Pferden, aber das schrille Pfeifen, das von Karola stammte, schlug ihnen die Türen vor der Nase zu, und als dann eine andere Pfeifmelodie die Luft erfüllte, verspürten sie plötzlich ein großes Verlangen in sich, zu tanzen. Einige Augenblicke lang wirbelten sie im Kreis herum und beugten sich, bis Karola das Gefühl hatte, dass Jack und Anastasia den nötigen Vorsprung hatten, und die beiden Kaufleute mit einem hämischen Grinsen wieder losließ. Als sie wieder zu Atem gekommen waren, tobten und schrieen sie herum, bis ihnen König Brüllo, der sich – wenn auch mit Mühe – an das Ersuchen seiner Tochter hielt, die Angelegenheit auf ihre Weise regeln zu dürfen, finstere Blicke zuwarf. Und da sie ja schließlich Ge schäftsleute mit einer praktischen Veranlagung waren, ließen sie sich mit einer herzhaften Mahlzeit über ihren Verlust hinwegtrö 343
sten, und bald feilschten sie mit Kaiser Leofwin um den Preis für eine magische Winterernte, die der Hungersnot in Frostingdung einen Riegel vorschieben sollte. Im Gespräch ging es auch um die verfahrenstechnischen Maßnahmen, mit deren Hilfe die ehemali gen Sklaven wieder ins gesellschaftliche Leben eingegliedert werden sollten, nachdem man erst einmal ihre Sklavenarmbänder entfernt hatte. Als das Dessert serviert wurde, ging die Tür wieder auf und her ein trat Jack, der den Eindruck machte, als ob er halb erfroren sei. Dem miragenischen Ehrenmann beliebte es noch einmal, den Beleidigten zu spielen. »Und wie wollen Sie eigentlich die Pferde bezahlen, Sie undankbare Frau?«, zischelte Maschkent Bronwyn ins Ohr. Er hoffte, dass er so leise gesprochen hatte, dass ihn König Brüllo nicht hörte. »Ich – was ihr verlangt«, sagte sie. Ihr Elend wurde nur dadurch etwas erträglicher, dass ihr ihre Mutter die Hand unter dem Tisch drückte und ihr Karola besänftigend auf die Schulter klopfte. »Solange es mir gehört und ich’s euch geben kann. Ihr müsst verstehen, dass ich natürlich nicht den Besitz meines Vaters aufs Spiel setzen kann.« »Also fällt das Königreich flach«, sagte Mirza. »In diesem Falle müssen Sie uns Ihr Erstgeborenes geben«, er klärte Maschkent. Ein Laut des Erschreckens lief durch den Saal, und dieses Mal hatte der König wirklich gehört, was gesprochen wurde, und er und die Königin wollten gerade aufbegehren, als sich der Kaufmann an die Versammelten wandte und rief: »Hört mich an, o ihr Festgäste! Die Erbin von Argonia hat bei ihren Geschäften mit uns in der Form von sehr nützlichen fliegenden Pferden profitiert, die das Königreich ihres Vaters vor dem Unter gang retteten. Aber wie ihr selbst gesehen habt, verweigert sie uns den bescheidenen Preis, den wir in unserem ursprünglichen Ko stenvoranschlag von ihr gefordert haben, und nun, da wir recht mäßigerweise eine andere Entschädigung von ihr verlangen und sie selbst sogar damit einverstanden ist, dass wir ihr unseren Preis nennen, versucht uns ihre Familie mit Gewalt um unseren Profit 344
zu bringen! Wir fragen uns, wo bleibt da eigentlich die vielgeprie sene Ehre? Wie kann jemand Geschäfte abschließen oder Verträge unterzeichnen mit …« Bronwyn schauderte zwar zurück, aber sah doch so aus, als ob sie sich in ihr Schicksal fügen würde, als sich alle – und darunter sogar ihr eigener Vater – wieder hinsetzten. Sie hatte ihnen ja auch wirklich versprochen, was sie von ihr verlangten; und sie hatten ja auch schon erwähnt, dass sie ihr Erstgeborenes von ihr verlangen würden, obwohl sie ja noch keines hatte und vielleicht auch keines haben würde. Sie war gerade dabei, sich eine Antwort auszudenken, die es jedem klarmachen würde, dass die Angehöri gen des argonischen Königshauses die Ehre über alles setzten, sogar über die Familienbande, aber sie musste erkennen, dass es jetzt genauso schwer war die richtigen Worte zu finden wie da mals, als sie zu erklären versucht hatte, wie sie den Granatapfel gefunden hatte. Jack sah Bronwyns gequälten Gesichtsausdruck und ihr stum mes, mutlosen Nicken. Er konnte es nicht zulassen, dass sie diese glatten, erfahrenen Händler derart einschüchterten. Sie mochte ja seinetwegen eine richtige Prinzessin und auch eine gute Kämpfe rin sein, aber vom Geschäft verstand sie genauso wenig wie er vom höfischen Protokoll. Er unterbrach die Kaufleute auf eine sehr gewandte Art und Weise, wobei die Wirksamkeit seiner schmeichlerischen Zigeuner- und Rosstäuscherstimme kaum durch das Geräusch seiner immer noch klappernden Zähne ge mindert wurde: »Ich habe gedacht, dass ihr Kaufleute und keine Betrüger wärt, o Wohlhabende. Die Prinzessin hat eure Pferde nur ausgeliehen und sie euch in gutem Zustand wiedergegeben. Wie könnt ihr dann von der Prinzessin verlangen, dass sie euch ihr ungeborenes Kind als Gegenleistung für ein paar Pferde gibt, die nur gemietet waren?« »Also gut.« Nach Jacks Rede erhoben die anderen Gäste ein großes Gebrüll als Zeichen ihrer Anerkennung, so dass Maschkent großmütig mit der Hand abwinkte und sagte: »Schließlich sind wir ja keine Ungeheuer. Wir bei Mukbar, Maschkent Mirza, Magische 345
Artikel GmbH haben auch Mütter und Kinder. Deswegen werden wir das Kind nur bestimmte Zeit leihen.« »Gut, fünf Jahre«, sagte Jack. »Fünfzig«, entgegnete ihm Maschkent. »Die Prinzessin sollte sich an ihrem Sprössling erfreuen können, wenn er noch ein Kind ist«, begehrte Jack auf. »Unser Pfand soll Erwachsenenarbeit leisten, wir wollen nicht nur den Appetit eines Kindes befriedigen, ohne etwas als Gegen leistung dafür zu bekommen«, gab ihm Mirza zu verstehen. »Dreißig«, sagte Maschkent bestimmt. »Fünfzehn; und ich betrachte das als das äußerste Angebot, das gerade noch an einer Kriegserklärung vorbeigeht«, sagte Jack bestimmt und verschränkte dabei die vor Kälte schlotternden Arme über der Brust. Allerdings vermied er dabei tunlichst, König Brüllo anzusehen. »Fünfundzwanzig«, erwiderte Maschkent, indem er Jacks Geste nachahmte. »Zwanzig«, sagte Jack. »Abgemacht.« Als die Miragenier schließlich mit ihren Pferden und den fro stingdungianischen Verbündeten abzogen, hatte Bronwyn das Gefühl, dass sie endlich wieder frei atmen konnte, außer dass ihr Vater jetzt natürlich furchtbar wütend war. Mit funkelnden Augen blickte er auf Jack herab und brummte: »Du nimmst dir ja ganz schön viel raus, Junge, dass du dich unterstehst, um die Zukunft meines Enkelkindes zu feilschen!« »Ich bitte Sie um Verzeihung, Großer König«, erwiderte Jack, der jedoch kein bisschen eingeschüchtert war, und verbeugte sich. Er hatte sich nun in drei Mäntel eingewickelt und man hatte ihm eine Tasse mit Glühwein in die Hand gedrückt. »Ich wollte ja nur …« »Jetzt sei doch nicht gleich böse auf Jack«, rief Bronwyn dazwi schen. »Ich hätte ihnen doch alles gegeben, was sie von mir ver 346
langten. Immerhin hat doch Jack verhindert, dass ich gleich das Handtuch geworfen habe, und außerdem hat er für uns alle eine ganze Menge Zeit herausgeschunden.« »Es war nicht sein Job, dies zu tun«, sagte der König mit finste rer Miene. »Finden Sie wirklich, o König?«, fragte eine schwarz gekleidete große Dame, in deren schwarzem Haar sich silberne Strähnen majestätisch wellten. »Wenn ich mich nicht irre, ist Jack nach dem neuen Vertrag, den Sie gerade unterzeichnet haben, der rechtmäßige Erbe des ablemarlonischen Thrones, so wie Bronwyn die Erbin Eures Thrones ist. Die beiden haben niemand in ihrer Altersgruppe, der ihnen ebenbürtig wäre. Gewiss ist es nicht aus der Welt, dass eine Angelegenheit, die die Zukunft von Bronwyns Kind betrifft, eines Tages auch …« »Ich weiß, worauf Sie hinauswollen«, gestand ihr der König zu, aber er schien noch nicht zu wissen, ob er die Vorstellung mochte oder nicht. »Ihren Namen habe ich allerdings nicht mitgekriegt.« »Ich bin die Prinzessin Anastasia Ilonia Vasilia Gwendolyn Martha Nesselzunge, die früher einmal ein Schwan war und jetzt die rechtmäßige Erbin der Unpflügbaren Länder ist, die derzeit als Westfrostingdung bekannt sind, aber darüber können wir uns auch noch später unterhalten, weil ich noch viel zu sehr meine erst kürzlich erfolgte Befreiung von dem langjährigen Zauberbann genieße, als dass ich mich jetzt schon wieder über Politik unter halten möchte.« »Aber wie?«, fragte Bronwyn. »Wie kommt es, dass du dich plötzlich wieder verwandelt hast?« »Ich nehme an, dass es ganz ähnlich wie bei dir war, meine Lie be. Ich würde sagen, dass sie die Berührung mit dem Granatapfel bewirkt hat, obwohl der Zauber vielleicht schon in dem Augen blick schwächer wurde, als ich wieder zu Hause war. Aber wie dem auch sei, hier bin ich und dort bist du und nach all den Sche rereien bin ich wirklich sehr froh, dass wir auch ein bisschen persönlichen Nutzen aus der Angelegenheit ziehen konnten.« 347
»Ist dies wirklich der Fall?«, fragte Bronwyn und schaute auf ihre Füße herunter, als ob der Nutzen in Form von neuen Schuhen sichtbar würde. »Aber natürlich! Sag mal, Bronwyn, ist dir eigentlich noch gar nicht aufgefallen, dass dein Dreiminutenzauber schon längst aufgebraucht ist und du immer noch die Wahrheit zu sagen scheinst? Also ich für mein Teil bin ziemlich fest davon über zeugt, dass du von deinem Fluch befreit bist.« Bronwyn musste nicht lange überlegen, bis sie ihrer ehedem gefiederten Freundin zustimmte. Aber sie konnte wirklich nicht verstehen, dass sie so etwas Wichtiges die ganze Zeit übersehen hatte. Wie konnte das passieren? War es der Einfluss des Granat apfels oder hatte sich vielleicht ihr Fluch ohne Gegenfluch mit der Zeit abgenutzt, wie es die Kaufleute schon angedeutet hatten? Sie musste aber zuerst noch etwas ausprobieren. Sie nahm das Zau berarmband ab, das vielleicht doch mehr magische Kraft enthielt, als seine Erzeuger gedacht hatten, und schloss ihren aufgesperrten Mund wenigstens für so lange, um anschließend mit so etwas wie einer Überzeugung sagen zu können: »Was mich anbetrifft Ho heit, so haben Sie, glaube ich, recht.« Und indem sie sich Jack zuwandte, sagte sie: »Bevor du nach Ablemarle gehst, wollte ich dir nur noch einmal sagen, dass ich – trotz allem, was Vater dazu sagen wird – und er wird doch ›Ja‹ sagen, nicht wahr, Vater – niemand anderen heiraten werde als dich; und du wirst mir ganz furchtbar fehlen und ich weiß noch nicht, wie ich es durchstehen werde, ohne dass ich mit dir darüber sprechen kann.« »Meine Prinzessin«, sagte Jack und verbeugte sich vor ihr mit einer Würde, die seiner neuen Stellung entsprach. Er küsste ihr die Hand, wobei er bewundernd zu ihr aufblickte und sagte: »Ich möchte lieber von dir angelogen, als von einer anderen mit den größten Wahrheiten verwöhnt werden. Aber was dieses Gelübde anbetrifft, das du gerade abgelegt hast, so werde ich dich natürlich beim Wort nehmen.« »Das ist ja schön und gut für euch beide«, sagte Karola mit trau riger Stimme, »ihr seid ja nun beide Königliche Hoheiten, und 348
wenn ihr verlobt seid, so werdet ihr euch ohnehin öfters sehen. Aber für diejenigen unter uns, denen nicht einmal ein fliegendes Pferd geblieben ist, das sie für all ihre Mühe herzeigen könnten, ist Ablemarle schon sehr weit weg – und ihr werdet mir auch sehr fehlen.« »Und du mir auch«, sagte Jack, der das eine Bein so verlagerte, dass er nun zwischen den beiden Mädchen kniete und mit seiner freien Hand Karolas Hand erhaschen konnte. »Aber traure noch nicht zu schnell über unseren Abschied, meine Freundin. Lass erst mal die Schmuggelsaison im Frühling kommen, in der es nämlich leicht passieren könnte, dass ich – Krone hin oder her – an deine Tür klopfe und dir deine eigenen Wertsachen wieder andrehe.«
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