Der Gerichtsmediziner hat Morlar für tot erklärt. Aber der letzte Lebensfunke ist noch nicht erloschen. Mit einer ungla...
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Der Gerichtsmediziner hat Morlar für tot erklärt. Aber der letzte Lebensfunke ist noch nicht erloschen. Mit einer unglaublichen Willensstärke klammerte sich Morlar verzweifelt an den schwachen Lebensfunken. Inspektor Cherry vom Scotland Yard, der mit der Aufklärung des ungewöhnlichen Fast-Mordfalles betraut worden ist, beschäftigt sich auf unkonventionelle Weise mit der Vergangenheit dieses Mannes – und erfährt erstaunliche, besorgniserregende Einzelheiten. So schildert ein Psychologe Morlar als »den gefährlichsten Mann der Welt«, womit er durchaus recht haben könnte, denn Morlar scheint über Kräfte zu verfügen, die ihn in den Augen aller anderen zu einem Übermenschen mit unheimlichen Fähigkeiten machen.
Peter van Greenaway hat vier Bücher geschrieben, BRUDER DER GORGONEN ist sein fünfter und erster Science-Fiction-Roman. Es ist die atemberaubende Geschichte eines Mannes, dessen Willenskraft ausreicht, ein Großraumverkehrsflugzeug zum Absturz zu zwingen.
In der Reihe der Ullstein Bücher: Science-Fiction-Stories Band 1 bis Band 42 Science-Fiction-Romane Poul Anderson: Feind aus dem All (2990) Die fremden Sterne (3047) Fredric Brown: Sternfieber (2925) Samuel R. Delaney: Sklaven der Flamme (2828) Cyril Judd: Die Rebellion des Schützen Cade (2839) Murray Leinster: Die Irrfahrten der »Spindrift« (2917) Im Reich der Giganten (2937) C. C. MacApp: Söldner einer toten Welt (2968) Larry Maddock: Gefangener in Raum und Zeit (2857) Andre Norton: Geheimnis des Dschungel-Planeten (3013) H. Beam Piper: Null-ABC (2888) Eric Frank Russell: Planet der Verbannten (2849) Gedanken-Vampire (2906) Der Stich der Wespe (2965) So gut wie tot (3007) Vergangenheit mal 2 (3055) James H. Schmitz: Dämonenbrut (3022) Das Psi-Spiel (3061) Richard S. Shaver: Zauberbann der Venus (2944) Bart Somers: Zeitbombe Galaxis (2872) Welten am Abgrund (2893) L. Sprague de Camp: Vorgriff auf die Vergangenheit (2931) Der Turm von Zanid (2952) Der Raub von Zeï (2977) Die Rettung von Zeï (3000) Thalia – Gefangene des Olymp (3038) Jeff Sutton: Die tausend Augen des Krado 1 (2812) Sprungbrett ins Weltall (2865) Wilson Tucker: Die letzten der Unsterblichen (2959) Die Unheilbaren (2981) Geheimwaffe Mensch (3030) Manly W. Wellman: Insel der Tyrannen (2876) Invasion von der Eiswelt (2898) Robert Moore Williams: Zukunft in falschen Händen (2882)
Ullstein Buch Nr. 3090 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der englischen Originalausgabe: THE MEDUSA TOUCH Übersetzung von Hannelore Lenzner
Umschlagillustration: Dell Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1973 by Peter van Greenaway Übersetzung © 1974 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1974 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03090 4
Peter van Greenaway
Bruder der Gorgonen SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Das, was man sich vorstellen kann, ist das, was möglich ist. PARMENIDES Die Wirklichkeit ist der harte Kern des Mythos. P. V. G.
Napoleon lag dicht neben dem Körper. Ein aus Bronze gegossener Napoleon, mit eingetrocknetem Blut überzogen. Seine kaiserliche Majestät würde zur genauen Untersuchung in das Labor gebracht und danach in einem Plastikbeutel versiegelt werden ... der Gipfel an Würdelosigkeit. »Er hat sich nicht einmal zu wehren versucht.« Inspektor Cherry starrte auf das, was einmal das Gesicht gewesen war, mit Abscheu und fast vorwurfsvoll, als wollte er dem Opfer zum Vorwurf machen, daß es seinen Angreifer nicht zurückzuhalten vermocht hatte. Napoleon würde ihm nichts verraten. Keine Fingerabdrücke, sagte Jackson. Jackson mußte es wissen. Er konnte Fingerabdrücke riechen, und das auf mehrere Meter Entfernung. Einige wollten sogar wissen, daß er Fingerabdrücke von der Oberfläche eines Teichs abheben konnte. Sergeant Duff sah Cherry zu, wie er nachdenklich vor dem Angesicht des Todes verharrte. Auf Mord reagierte sein Chef etwas seltsam. Das war jedesmal so. Als wäre er, Cherry, persönlich beleidigt worden. Duff sagte daher nichts und beobachtete nur. Der Mörder hatte Handschuhe getragen. Eine Art von Dünkel. Warum auch nicht? Sie lebten im Zeitalter des Dünkel, der Titel und Etiketten. Und wer wagte es schon, einen Napoleon ohne Handschuhe anzufassen? Cherry vergaß seine zufälligen Gedanken, wäh-
rend er sich unwillkürlich hinabbeugte; er sah nicht auf, sondern durch den Rest von Morlar, wobei er sich wünschte, daß dieser sich wenigstens einige Zentimeter aufrichten möge, und lang genug, um ein Geheimnis zu verraten. Aber wo war der Mund? »Ein oder zwei solche Schläge hätten gereicht ... das ist Wahnsinn in sechs Akten.« »Und mit den zwei Füßen des Bronze-Napoleons«, bemerkte Duff. Als wollte er sagen: Was anderes erwartet? »Ein stumpfes Instrument mit scharfer Beobachtungsgabe ... ich frage mich, ob diese Symbolik etwas bedeutet.« »Nicht, wenn es sauber ist. Jackson bezweifelt –« »Jackson hat recht. Es wird sich als sauber erweisen. Sehen Sie sich nur einmal die Eingangstür an. Der Mann dürfte vor Wut gekocht haben, hat dann aber ganz kaltblütig gehandelt. Der Mörder hat nur deshalb eine Spur von Blut hinterlassen, weil er seine Finger hinter den Türknauf gelegt und die Tür so geöffnet hat – er war zu vorsichtig.« »Alles deutet auf Vorsatz hin, Sir.« »Oder auch nur auf ein Übermaß an Vorsicht – was eine Panikreaktion sein kann.« Aber er dachte dabei: Es liegt etwas Bösartiges im bleichen Weiß zerschmetterter Knochen, eingefaßt in Rot.
»Das sieht mehr nach einem Ausradieren aus. Ich habe das Gefühl, daß unser Unbekannter, hätte er einen Radiergummi von entsprechender Größe gehabt, um Mr. Morlar schmerzlos aus dieser Welt radieren zu können, er diesen auch benützt hätte. Aber das ist vielleicht nur so ein Gefühl.« »Ich würde mir ein bißchen albern vorkommen, wenn ich nach einem übergroßen Radierer suchen müßte. Ich meine, er könnte ja inzwischen nach Hackney Wick oder so gesprungen sein.« Albernheiten brachten den Chef manchmal wieder auf den Boden. Cherry lachte nicht, also wechselte Duff zu professionelleren Dingen über. »Der Arzt schätzt nicht mehr als zwei Stunden. Ist wohl richtig – er ist noch nicht steif.« Auf einem kleinen Tisch vor ihnen stand ein Transistorradio, aus dem leise Musik rieselte. Cherry hörte auf die Musik, wurde sich erst jetzt dessen bewußt, daß sie seit einer halben Stunde an diesem Mordfall arbeiteten, und das vor dem Hintergrund von Trauermusik. Nichts berühren, bis man sicher ist. Nichts berühren, bis man zu Ende gedacht hat. Die Vorschriften. Also? »War dieses Gerät eingeschaltet, als sie ihn gefunden haben?« »Ja. Heute sitzt jeder vor dem Fernseher oder hat wenigstens das Radio an.«
Natürlich. Das hatte er fast vergessen. Seltsame Dinge geschahen – anderswo. Wie um ihn daran zu erinnern, verstummte die Gedenkmusik, und der Ansager zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, während sie eigentlich an andere Dinge zu denken hatten. »Wir kehren jetzt zum Raumfahrtzentrum in Houston zurück, um das Neueste von Achilles 6 zu hören. Lester Marquand berichtet.« »Und das Neueste ist die Bestätigung von früheren Berichten, nach denen Achilles 6 unerklärlicherweise die vorgesehene Umlaufbahn verfehlt hat, in Richtung auf die Mondoberfläche stürzt und jetzt eine Stunde und fünf Minuten nach der planmäßigen Zeit noch immer nicht von der erdabgewandten Mondseite zurückgekehrt ist. Unter den Wissenschaftlern und Technikern hier hat sich an diesem Abend eine düstere Stimmung verbreitet, die sich bis zur Verzweiflung steigert. Sie können die Frage: ›Was ist falsch gelaufen?‹ nicht beantworten, da kein Teil der Ausrüstung, kein Telemeter, kein Computer des fehlerhaften Funktionierens überführt werden konnten ... Eines ist sicher: Die drei Astronauten, Fergusson, Hennis und Drake, werden nicht zur Erde zurückkehren. Der Präsident der ...« »Stellen Sie das Ding ab!« Duff durchquerte den Raum und schaltete ab. »Einer ist genug«, erklärte Cherry.
»Was denn, Sir?« »Ein Toter! Wir können das Rätsel von denen da oben nicht auch noch lösen.« Duff wandte sich um und war nur wenig überrascht, daß sich in Cherrys Ausdruck seine eigenen Gefühle spiegelten. Die besorgte Miene eines Mannes, der nicht weiß, was er mit neuen und erschreckenden Situationen anfangen soll, die in einem Ausmaß zunehmen, das über das Verständnis eines vernunftbegabten Wesens hinausgeht. »Mordfälle werden immer wissenschaftlicher, immer intellektueller, Sergeant. Ich meine, ob es sich da oben wohl auch um einen Mordfall handelt?« Er polierte seine gehaßten Brillengläser in der schwachen Hoffnung, daß sie ihm helfen könnten, endlich wieder klar zu sehen. Er suchte nicht nur die Lösung für diesen Fall – sondern den Grund, warum alles auf einmal geschah. Er deutete auf die blutige Masse, die einmal Morlar gewesen war. »Es geschehen seltsame Dinge. Sehen Sie sich all diese Bücher an – ein Mann wird inmitten einer Bibliothek zum Tode befördert. Er ist intelligent. Also hat man seinen Geist getötet. ›Ich werde ihm den Schädel einschlagen!‹ – diese uralte Drohung. Warum? Weil es jemandem nicht gefällt, was er denkt?« Der Chef war wieder einmal in Umlaufbahn. Duff
starrte das Ding auf dem Teppich an, verstand nicht, worauf er hinauswollte, und gab deshalb einen Gemeinplatz von sich: »Die Welt fällt auseinander, Sir.« »Da könnten Sie recht haben.« »Jedenfalls – dieser Fall sollte Sie glücklich machen.« Duff deutete auf die Bücherregale, die den größten Teil der Wandfläche einnahmen. »Ich meine, Sie mögen doch Bücher.« Das war so unbestreitbar wie die freudige Erregung, die er beim ersten Betreten des Raumes verspürt hatte. Sorgfältig steckte er ein paar Teppichfasern in eine Cellophantüte. Bücher. Ja. Und das leichte Schuldgefühl, während er seinen Blick über die dicht nebeneinander in den Regalen stehenden Bücher hatte schweifen lassen, bevor er sich dem Leichnam zuwandte. »Ich mag Bücher dort, wo sie hingehören, Duff. In Büchereien oder Räumen wie diesem, solange sie keine Leiche umgeben.« »Dieser Kerl hat sie geschrieben.« »Wie?« »Ein Romanschreiber – das erste Mal, daß so einer zu einem Fall für uns wird.« In Duffs Vorstellung ließen sich Schriftsteller nicht ermorden, sondern schrieben zumeist Bücher über das unrühmliche En-
de anderer Leute. Wer würde es nicht vorziehen, gefährlich zu leben – auf dem Papier? Es wurde Zeit, mit der Routine zu beginnen. »Sie sagten, daß der Mann von nebenan den Nachtportier gerufen hat?« »Stimmt.« »Dann nehmen wir uns den Portier zuerst vor.« Nicht, daß er viel hätte hinzufügen können. »Mr. Pennington kam herunter und sagte, daß Mr. Morlars Tür weit offen stünde und ob ich da nichts unternehmen wolle. Also kam ich hier herauf und ... und fand ihn ...« »Sie haben nichts berührt?« »Nein, Sir – nichts außer dem Radio.« Cherry starrte über den Kopf des Portiers hinweg. »Das Radio?« »Ich – ich habe es angedreht, um mehr über dieses Weltraumdrama zu erfahren. Es wurde gerade spannend. Schrecklich, daß so etwas passieren mußte, Sir.« Cherry ließ den Portier zu seinen Pflichten zurückkehren. Pennington von nebenan erwies sich als kaum interessanter. Er würde bald eine Glatze haben, war mager, geschäftig und machte den Eindruck eines Mannes, der etwas verloren hatte, sich aber noch nicht sicher war, ob er danach suchen sollte. Sein wäßriger Blick schien den Inspektor zu umfließen.
»Sie haben Mr. Morlar gekannt?« Die Frage schien Pennington zu überraschen, sogar zu beunruhigen. »Gekannt? Nein, das könnte man nicht sagen. Wir waren Nachbarn, das ist alles.« »Dann wissen Sie also nicht, ob er Besucher hatte, die regelmäßig kamen?« »Ich kümmere mich nicht um anderer Leute Angelegenheiten.« Mit einem Anflug von Stolz. »Sonst irgendwas?« Pennington zuckte mit den Schultern. »Er war ruhig – er blieb für sich selbst auß –« Cherry sah zu, wie blutlose Lippen den Rest des Wortes formten, aber keinen Laut mehr hervorbrachten. »Ja, Mr. Pennington?« »Nichts.« Cherry entschied sich, im Augenblick nicht weiterzubohren. »Sie haben ihn ›ruhig‹ genannt, obwohl Sie ihn eigentlich kaum bemerkt haben.« »Das ist richtig.« »Nicht einmal so sehr, wie er Sie bemerken mußte?« Pennington sah unsicher drein. »Wie meinen Sie das?« »Ich kann Ihr Fernsehgerät von hier aus deutlich hören – Sie nicht?« »Doch.«
»Also müßten Sie auch jedes laute Geräusch aus diesem Raum hören.« »Nicht, wenn das Fernsehen eingeschaltet ist – Sie verstehen, diese Weltraumtragödie – und ich wollte die Zehn-Uhr-Nachrichten nicht verpassen.« Cherry sah zu Duff hinüber. »Wie haben Sie es dann überhaupt entdeckt?« »Ich habe die Milchflaschen etwa eine Stunde später 'rausgestellt.« »Das ist alles für den Augenblick.« Pennington zögerte eine Sekunde lang, sah auf den Körper Morlars hinunter und schlurfte dann in seinen Pantoffeln davon. »Das Fernsehen wird noch das Ende jeder Verbrechensaufklärung sein, Duff.« »Wie das, Sir?« »Es gibt niemanden mehr, der noch etwas hört.« Er ging durch den Raum, stieß die Tür zum Bad auf. Was er sah, ließ ein Grinsen auf seinem Gesicht erscheinen. »Morlar hatte die richtige Idee – sein Apparat steht im Klo.« Aber Duff beschäftigte sich noch immer damit, daß niemand mehr etwas hörte. »Nichts«, erklärte Cherry, »das nicht elektronisch erzeugt wird. Alle Ohren sind auf eine einzige Frequenz eingestellt, und jeder nächtliche Lärm wird gehört als ›Softly, Softly‹ oder ›Late Night Hang-up‹.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Sir – und das ist eine Tatsache.« »Da liegt unser Problem. Dieser Mann hat Literatur gemacht.« Etwas davon lag auf Morlars Schreibtisch. Eine Seite, die rechts oben eine Nummer trug. Zwei-fünffünf. Er las sie noch einmal durch, und diesmal sorgfältig ... ... wie eine elektrische Entladung, ein Wechselstrom, das Negative ewig andauernd, das Positive flüchtig. Auf was läuft das Leben hinaus denn auf nichts, gefolgt von etwas? Der Mensch durchläuft eine Folge von Mutterleibern, wird zuletzt nicht geboren, sondern bewegt sich weiter. Der Schoß nicht mehr als der Warteraum eines Reisenden – nein – keine Geburt, sondern ein Fortschreiten von einer abgelegenen Pension zum nächsten Motel – »siste viator!« auf den Lippen eines Liebenden, und was ist das, was wir neun Monate später haben? Versteh das mal. Der Mensch! Auf der Durchreise. Gottgleich also, legt eine Verkleidung nach der anderen an. Solche Gedanken bewegten sich durch Lamberts Bewußtsein, als er durch die Lichtjahre hinab auf seine Schöpfung sah. Zu schade, daß er sich selbst nur
im Splitter eines zerbrochenen Spiegels erspähen konnte. Ah! Sich selbst als ein stumpfes Instrument erkennen mit scharfer Wahrnehmung. In diesem Augenblick erstarb schmerzvoll das Gefühl der absoluten Erhabenheit. Obwohl er vielleicht ein Amateur-Gott werden konnte, seine Rolle aus Liebe spielend, vermochte Lambert doch niemals professionellen Status erreichen. Er sah mit Fassung auf den Körper und wußte dabei, daß die Hand eines professionellen Gottes niemals zittern würde. Kriminalinspektor Cherry wandte sich um, damit er den Autor besser betrachten konnte, dessen Leiche nahe der gegenüberliegenden Wand ausgestreckt lag. »Meine prophetische Seele«, murmelte er. »Das könnte fast die Ankündigung eines Selbstmords sein.« »Selbstmord!« Damit konnte Duff erst recht nichts anfangen. »Schade, daß wir das Ende dieser Geschichte niemals werden erfahren können.« »Ich glaube, ich unterhalte mich noch ein bißchen mit dem Portier. Vielleicht weiß er etwas von Besuchern.« Cherry stimmte zu, wie ein geistesabwesender Pro-
fessor vielleicht die Existenz von Äpfeln auf Birnbäumen zugeben mochte. Er war weit mehr an dem Schreibtisch interessiert. Flach wie ein Altar und mit einem grünen Lederüberzug. Sauber und ordentlich; alles so, wie der Schreibtisch eines Autors auszusehen hatte, nahm Cherry an. Vielleicht ein bißchen zu ordentlich. Die Stöße mit Schreibpapier waren methodisch arrangiert, der Stoß mit den fertigen Seiten lag ganz links. Ganz rechts waren drei weitere Schreibstifte abgelegt. Im Hintergrund dominierten Wörterbücher und Lexika wie Gründungsbausteine – und ein Tagebuch war mathematisch genau in der linken oberen Ecke plaziert. Er nahm es auf und blätterte durch die Seiten bis zum letzten Eintrag. Solschenizyn und Co. sind noch eine Menge Antworten schuldig. Sie malen die Schrecken ihrer bourgeois-sowjetischen Existenz in byzantinischen Farben und verhökern ihre Ikonen dort, wo sie ihnen den größten Preis an falsch plazierter Sympathie einbringen. Sie schreiben von »Wirklichkeit« und nennen es Erniedrigung, erflehen bekümmert den Applaus des Systems, das sie ausgebrütet hat, indem sie »Freiheit« rufen.
Intellektuelle. Männer, die von stinkendem Fisch lamentieren und dabei wissen, daß die Fädenzieher im Westen das mit Freude hören und sagen werden: »Hallo, ihr Pöbel in den Fabriken, ihr Strolche, die ihr zum Stempeln geht, ihr Heimatlosen, die ihr durch die Gnade der Demokratie auf unseren goldenen Wegen geht, ihr ratenzahlenden Klitschenkäufer – lest Solschenizyn und Co. und glaubt, ihr seid glücklich.« So leisten gewisse sowjetische Intellektuelle in ihrer Welt – zu blöd, um zu sehen, daß Freiheit der universelle Mythos ist – die Wahrheit das erste Opfer des universellen Todeswunsches – die halbe Arbeit für diese philisterhafte Propagandamaschine. Sie sehnen sich nach der »westlichen« Freiheit, um ihre »Wahrheit« aufs Papier bringen zu können. Sie sollen sie haben. Und sie werden sehen, wie weit sie das bringt. Die »Wirklichkeit«, gegen die sie kämpfen, ist Sibirien. Sollen sie sich in einer westlichen »Demokratie« versuchen, und wenn die Schleier von ihren Augen fallen, dann werden sie entdecken, daß unser Sibirien nicht weniger kalt, nicht weniger abtötend für die Sinne, nicht weniger frostig für die Seele ist. Bei allen Heiligen, das war wirklich interessant. Cherry lehnte sich zurück und versuchte, sich ein Bild von
dem Menschen hinter dem Autor zu machen. Starke Überzeugungen, Verachtung für das intellektuelle und alles oberflächliche Denken, politisch; ein Kommunist? Bringt auch nicht weiter. Er erinnerte sich an die Zeit, als er selbst ein Tagebuch hielt. Er hatte eine Menge am Dienstag geschrieben, was ihn bereits am Mittwoch auf die Palme gebracht hätte. John Morlar ... der Name ließ etwas klingeln, aber nur einmal. Er hatte nichts von ihm gelesen, da er an moderner Literatur nicht allzu interessiert war. Trotzdem, Morlar ... der Name hatte eine Art von Nische in seinem Gedächtnis besetzt. Cherry wandte sich wieder dem unvollendeten Manuskript zu und las erneut den letzten Absatz. Schlußfolgerung: Ein Mord war begangen worden, und der Mörder hatte seine Tat aus übermenschlichen Gesichtspunkten heraus für gerechtfertigt befunden. Eine blassere Version von »Schuld und Sühne«? Ah – das konnte ganz interessant sein. Aber »S und S« konnte nie wieder geschrieben werden. Jedenfalls, die Literatur hatte zu warten. Möglicher Informationen wegen wandte er seine Aufmerksamkeit dem Tagebuch zu und bemerkte soeben den Namen »Zonfeld«, der in langen Abständen und isoliert immer wieder auftauchte, als Duff hereinkam. Er ging auf Zehenspitzen, um einen möglichen Tag-
traum seines Chefs nicht unvermittelt zu unterbrechen. Erst viel später bemerkte Cherry, daß er ganze fünfzehn Minuten in Duffs gleichmütiger Gegenwart verbracht hatte, ohne ihn zu bemerken. »Wegen der Besucher, Sir.« »Ja?« Cherry fuhr fort, auf den Namen Zonfeld zu starren. »Die schlichte Antwort ist, daß er keine hatte.« »Er hatte einen in dieser Nacht.« »Jedenfalls keine, die bemerkt wurden. Der Portier meint, daß man da nie sicher sein kann.« »Wie das?« »Zwei Eingänge – den Haupteingang zur Collier Street und einen zur Fine Street.« »... und der nie vor elf Uhr geschlossen wird.« »So ungefähr.« Cherry ging die Buchreihen durch und fand mühelos, was er suchte. Alle sieben Romane von Morlar stachen deutlich heraus in den orangefarbenen Schutzumschlägen eines wohlbekannten Verlagshauses. »Schon von ihm gehört, Sergeant?« »Könnte ich nicht sagen.« Cherry ging den Text auf der Umschlagklappe von Morlars Erstling durch, der 1959 erschienen war. »Das Krematorium.« Kurze Angaben über den Autor. John Morlar wurde 1921 in London geboren und so
weiter. Kaum mehr als Stichworte. Der Verlagstext begeisterte sich für die Werke Morlars, die noch zu erwarten waren. Aber was den Inspektor am meisten interessierte, das war Morlar, eine Fotografie, die wenigstens einen schwachen Eindruck davon gab, wie er einmal ausgesehen hatte. Alles war besser als dieses unförmige Gebilde, das man nicht mehr als Gesicht ansehen konnte ... »Ist der Wagen unterwegs?« »Sollte jede Minute hier sein.« Duff hatte einen kleinen Schrank geöffnet und untersuchte Morlars Trinkgewohnheiten. Offensichtlich Brandy. Cherry starrte auf eine Aufnahme von Paßfotogröße auf der Rückseite des Buchumschlags ... eine schlechte Reproduktion – verschwommen. Ein ausdrucksvoller Mann so um die dreißig, mehr angedeutet denn gezeigt, dunkles Haar und ... Augen – außergewöhnlich leuchtende Augen. Die Gesichtszüge verleiteten zu keinem zweiten Blick, aber selbst auf einer so armseligen Fotografie waren diese Augen von einer unglaublichen Intensivität ... »Sehen Sie sich das mal an.« Duff trat neben ihn, und die beiden Männer verharrten in einer längeren Betrachtung des Bildes, das den Ermordeten zeigte, wie er vor langer Zeit ausgesehen haben mochte – bis es geschah. Als Duff eben einen Kommentar von sich geben wollte.
Etwas wie ein Seufzen, ein schmerzvolles Ausstoßen von Luft, gerade noch hörbar in dem jetzt stillen Raum. Cherry und Duff sahen sich gegenseitig an, teilten sich stumm ihren beiderseitigen Unglauben mit, bis Cherry schließlich den ersten Schritt unternahm und auf die Gestalt zuging, die mit dem Gesicht nach oben auf dem Boden ausgestreckt lag. Er kniete an ihrer Seite und wartete. Duff näherte sich von der anderen Seite. Weil sie nichts anderes tun konnten, warteten sie. Ein Lebenszeichen – oder Signale des Todes. Aber der Augenblick dauerte nicht an. Die Uhr irgendwo hinter ihnen tickte einen präzisen Kontrapunkt zu ihrer Spannung. Und sie warteten noch immer. Bis sie beide darüber zu spekulieren begannen, wie leicht man sich täuschen kann. Bis sich die Vorräte ihres Mutes erschöpften. Es zehrt an den Nerven, in eine unförmige Masse mit herausragenden Knochen zu starren und darauf zu warten, daß sie vielleicht zu lächeln beginnt und »Guten Abend« wünscht. Sie atmeten kaum, verhielten sich so reglos, daß sie sich nur wenig von dem unterschieden, was Morlar war. Duff begann zu schwitzen und wollte etwas über eine Täuschung sagen, als sie das Geräusch erneut hörten, und die geringfügige Bewegung des Kopfes ließ sie beide zusammenzucken.
»Mein Gott.« Leise, wie um den Toten nicht aus seinem Schlaf zu wecken. Und »Das kann ich nicht glauben!« von Duff. Wie um seinen Unglauben zu entschuldigen, fügte er hinzu: »Der Arzt sagte, er wäre –« Aber das kann passieren. Cherry wußte, daß es das Dilemma eines jeden Arztes war; der Tod spielt manchmal das Spiel eines Narren, macht eine lange Nase auf sein eigenes Ebenbild, um die Lebenden in schmerzerfüllter Spannung erstarren zu lassen. Duff – nur zu froh, entkommen zu können – eilte zur Eingangstür und wies den gelangweilten Polizeibeamten an, einen Notarztwagen kommen zu lassen und das nächste Krankenhaus zu verständigen. Weitere drei Minuten vergingen. Zwei Männer kamen mit einer Bahre und beendeten das erschrekkende Schauspiel mit behutsamen Bewegungen. Vorsichtig trugen sie Morlar davon. Duff und sein Unglauben folgten dem kleinen Wunder. Zunächst würde Cherry niemand anders bei Morlars verbliebenem Leben zurücklassen. Wenn so etwas wie Worte aus dem, was einmal der Mund gewesen war, entfliehen sollten, dann war Duff der Mann, um sie zu hören. Eine verlorene Hoffnung.
»Doktor Zonfeld wird Sie jetzt empfangen, Inspektor.« Die Empfangsdame lächelte ein HochzeitskuchenLächeln, während er an ihr vorbeiging. Er dachte dabei an Morlar und die Nachrichten, die er an diesem Morgen aus dem St. Mary's erhalten hatte. Morlar, bewaffnet mit den wirkungsvollsten Waffen, die die moderne Medizin kannte, führte seinen Kampf in einer Intensivpflegestation weiter. Ob er um sein Leben oder dagegen kämpfte, hatten sie allerdings nicht gesagt. Zonfeld schwamm mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Ich habe von Ihnen gehört, Inspektor. Es ist mir ein großes Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Die Spur eines Akzents, wie um jedermanns Vorstellung von einem Psychiater zu bestätigen. »Bitte.« Cherry fühlte sich freundlich in Richtung eines Sessels bewegt. Entweder nahm Zonfeld an, daß er es mit einem neuen Patienten zu tun hatte, oder er konnte seine Berufsgewohnheiten einfach nicht so leicht abschütteln. Cherry kämpfte gegen die einlullende Bequemlichkeit des Sessels und dachte an Morlar, der eine andere Art von Kampf durchzustehen hatte.
»Es geht um einen Ihrer Patienten, Doktor.« Er legte eine Pause ein und wartete auf eine Reaktion. Zonfeld nickte höflich. Nichts weiter. »John Morlar.« »Ach ja! Der Schriftsteller. Ja – ich kenne ihn.« Cherry beobachtete den silbernen Stift in Zonfelds Hand. Zonfeld spielte mit ihm – eine Gewohnheit. »Er wurde in der letzten Nacht in seiner Wohnung gefunden.« Wieder wartete er. Und diesmal funktionierte sein kleiner psychologischer Trick zu seiner eigenen Überraschung. »Tot?« Cherry zeigte ein Fast-Lächeln. »Nein, aber es hat ihn ziemlich schwer erwischt.« Zonfeld sah auf die Zeitung, die vor ihm auf dem Tisch lag. Große Schlagzeilen berichteten schreiend vom Tod auf dem Mond. Auf der Erde war seither offenbar nicht viel geschehen. Der Psychiater, der eben etwas sagen wollte, änderte seine Absicht. Der Stift in seiner Hand tanzte auf und nieder. »Ich fand Ihren Namen in seinem Tagebuch. Es schien mir offensichtlich –« Cherry brach ab und zuckte mit den Schultern. »Und Sie dachten, daß ich Ihnen Feinde Morlars
benennen könnte? Tut mir ja leid, Inspektor, wenn ich Sie enttäuschen muß, aber nach meinem besten Wissen hatte er keine – jedenfalls keine, von denen ich annehmen würde, daß sie ihn töten wollten.« »Ich bin nicht sicher, daß ihn irgend jemand töten wollte – noch nicht.« »Oder glauben Sie vielleicht, daß er das Opfer eines wirklich gewordenen Verfolgungswahns wurde?« Eine Frage mit der Absicht, abzulenken oder zu verärgern. »Ich glaube noch gar nichts, Doktor. Ich möchte mehr über ihn wissen, und deshalb komme ich zu Ihnen. Ich nehme an, daß er bei Ihnen in Behandlung war?« Zonfeld nickte, aber mit Bedacht. Jede seiner Regungen schien von einer sorgfältigen Kalkulation oder möglichen Konsequenzen auszugehen. »Er war ein gefährlicher Mann.« Eine bloße Feststellung, die dem Charakter dieses Raums und Zonfeld selbst widersprach. »War gefährlich?« »Der gefährlichste Mann der Welt.« Eine Feststellung, die alles oder nichts bedeuten konnte. Worauf wollte Zonfeld hinaus? Cherry sagte nichts, um nicht die Wirkung zu stören, die Zonfeld erreichen wollte. »Das dachte er jedenfalls.« »Eine Selbsttäuschung also – deshalb kam er zu Ihnen?«
Zonfeld nickte. Er hatte einen verhältnismäßig großen Kopf, eine hagere Figur, tadellose Kleidung. Seine grauen Augen sahen weit über Cherry hinaus, schienen die nächste Biegung eines nahen Weges zu suchen. Einer seiner Mundwinkel zuckte sichtbar. Wieviel von der geistigen Deformation eines Patienten übertrug sich auf den Mann, der ihn behandelte? Seine Nervosität verschwand – wenn es sie jemals gegeben hatte – und er sprach mit mehr Sicherheit weiter. »Ich erwarte in einer halben Stunde einen Patienten, Inspektor. Wenn Sie mir präzise sagen, was Sie über Morlar wissen wollen, dann werde ich mich bemühen, Ihnen zufriedenstellende Auskünfte zu geben.« »Morlar hatte keine Feinde – sind Sie dessen ganz sicher?« »Keine lebenden Feinde, von denen ich weiß. Man kann natürlich niemals sicher sein. Er hatte auch keine Freunde – wie er selber zugab.« Jede Antwort Zonfelds war präzise, jedes Wort saß genau dort, wo es eine Funktion hatte. Keine lebenden Feinde. Cherry wurde fast niedergedrückt vom Gewicht der Fragen, die aus diesen drei Wörtern hervorgingen. »Familienangehörige?« »Keine, die ihm etwas bedeuteten.«
»Er kümmerte sich nur um sich selbst?« »Er war – sich selbst genug.« »Dann werde ich kaum eine andere Quelle finden, aus der ich mehr über ihn erfahren kann.« »Sein Verleger?« Ein wenig zu vorschnell. »Das werde ich überprüfen. Alles kann von Hilfe sein. Aber« – er versuchte, bedeutungsvoll dreinzuschauen – »jemand, der die Innenwelt eines Mannes erfahren hat, kennt zumindest die Hälfte des Weges zum Wissen –« »Ich glaube nicht, daß das daraus folgt, Inspektor. Ein Mann kann von einem völlig Fremden angegriffen werden. So etwas kommt vor – das muß ich Ihnen nicht sagen.« »Schriftstellern geschieht das jedenfalls selten. Der einzige Fall, an den ich mich erinnern kann, geschah 1897.« »Oh?« Zonfeld ließ sein Interesse spüren. »Jules Verne. Sein Neffe schoß auf ihn. Lähmte ihn für sein weiteres Leben. Ohne ein Motiv.« »Woher wissen Sie das?« Cherry ging nicht darauf ein, da er sich nicht über die in der Frage enthaltene Implikation ärgern wollte: Von einem Polizisten wurde erwartet, daß er das umfangreiche Wissen eines Psychiaters schlicht voraussetzte. Ein angesehener Psychiater aber konnte die Augenbrauen heben, wenn ein Polizeibeamter ...
»Da waren zwei Gläser, eines enthielt Brandy, das andere Scotch. Es ist wohl anzunehmen, daß man einem zufälligen Angreifer keine Drinks anbietet.« »Vielleicht.« Cherry starrte fasziniert auf Zonfelds silbernen Schreibstift, so daß ihm sein Gesichtsausdruck entging. »Nun, Doktor?« »Hm? Entschuldigung.« »Die Umstände, unter denen Sie Morlar zuerst begegneten.« »Lassen Sie mich mal überlegen ... es muß Anfang Januar dieses Jahres gewesen sein.« »Vor sechs Monaten.« »Es dürfte etwa der siebte Januar gewesen sein. Das Wetter war kalt, und es sah nach Schnee aus. Er war bis zu den Ohren in einem rot und grau gestreiften Schal eingewickelt, und sein langer, dunkler Umhang umhüllte ihn wie eine Decke. Es war natürlich warm hier drin, aber er behielt seine Sachen die ganze Zeit an – das war vielleicht eine halbe Stunde oder etwas mehr. Sie verstehen, bei einer ersten Konsultation kann man die Zeit nicht begrenzen – der Patient hat bei dieser Gelegenheit mehr zu sagen, als er später aus freien Stücken von sich gibt. Er machte – einen unmittelbaren Eindruck auf mich, und das hatte vor allem mit seinen Augen zu tun. Man kann mehr oder weniger alles über einen
Menschen aus ihnen erfahren – sie spiegeln eine Art Zusammenfassung all dessen, was er wahrnimmt und erfährt.« Cherry ließ Zonfeld reden. Er war froh, endlich eine erschöpfende Antwort zu bekommen, und er war sich ziemlich sicher, daß Zonfelds Darstellung der Wahrheit entsprach. »Wenn ich sage, daß von seinen Augen eine unglaubliche Stärke, ja Macht ausgingen, dann ist das noch schwach formuliert. Seine übrige Erscheinung kann man vernachlässigen. Ein schmales Gesicht, etwas eckig, dunkle Haare, die an den Schläfen schon leicht zu ergrauen begannen. Aber für mich spielten nur die Augen eine Rolle – nicht nur wegen ihrer ... suggestiven Kraft, da war noch mehr – ein zweifacher Ausdruck von Dominanz – Sieg. Dazu muß ich einiges erklären: Fast ausnahmslos alle, die meine berufsmäßige Hilfe suchen, sind vom Leben geschlagen worden. Es hat sie gemeistert entsprechend ihrer inneren Unordnung. Diese Botschaft tragen sie offen vor sich her – ein ausweichendes, gejagtes Erscheinen, das wir wieder von ihnen nehmen sollen. Bei Morlar konnte ich nichts dergleichen beobachten. Da war nur eine Mischung aus Arroganz und Triumph, aber in einem so umwerfenden Ausmaß, daß ich das, was ich selbst erfahren habe, nur als ei-
nen leichteren Schock beschreiben kann. Ja ... das ist gar nicht so ungewöhnlich bei Menschen mit schweren geistigen Störungen, bei Paranoiden, die in einem System von Selbsttäuschungen gefangen sind, und ich war versucht, Schlußfolgerungen auf der Basis gar nicht vorhandener Grundlagen zu ziehen. Er muß meine Verunsicherung bemerkt haben, denn er lächelte auf eine fast wissende Weise, ohne seine Augen von mir abzuwenden. Ich fragte mich, was ich für einen Mann tun konnte, der so offensichtlich von sich selbst besessen war.« Zonfelds Stimme sank etwas tiefer, langsam und zögernd, als zöge ihn sein Gedächtnis auf unbeleuchtete Pfade hinab, die nie wieder zu betreten er sich geschworen hatte. »Wenn ich damals gewußt hätte, was ich heute weiß, dann hätte ich Morlar gewiß meine Dienste verweigert. Aber es kam so, Inspektor, daß ich einen Dialog der Unwirklichkeit begann, etwa so, als würde ein Schaf mit einem Wolf über die Aussichten ewig andauernden Lebens diskutieren ...« »Nun ja, Ihr Brief –« Etwas unwirsch, um über die eigene Unsicherheit hinwegzukommen. Es irritierte ihn etwas, daß der Mann, der seine Hilfe zu brauchen schien, einen so gleichmütigen Eindruck machte. »Haben Sie ihm einen Sinn entnehmen können?«
Die Frage überraschte Zonfeld. »Einen Sinn? Aber natürlich, in bewundernswerter Weise sogar. Von einem Mann, der von seiner Feder lebt, erwarte ich freilich auch, daß er eine klare Darstellung geben kann.« »Dann haben Sie meine Erlaubnis, ihn an eine der besseren amerikanischen Universitäten zu verkaufen – wenn Sie es können.« Zonfeld lächelte. Aber es war sichtlich nicht Morlars Absicht gewesen, das Gespräch mit einer amüsanten Äußerung zu erleichtern. »Ich meine das ganz ernst. Eines Tages werden meine Briefe eine lukrative Investition darstellen.« »Ihres Rufes wegen?« »Was kümmert mich mein Ruf – nein – weil sie selten sind – und es gibt noch andere Gründe ...« Zonfeld wollte schon nach ihnen fragen, unterließ das dann aber. Verborgene Bedeutungen würden sich später noch aufklären. Zunächst mußte eine Grundlage geschaffen werden. »Nun sagen Sie schon, was Sie daraus entnommen haben. Ich meine, an Tatsachen. Bei all den wissenschaftlichen Bezeichnungen hinter Ihrem Namen sollte ich länger brauchen, um Sie als Tölpel zu durchschauen.« Zonfeld wußte, daß er herausgefordert wurde, und das nicht nur beruflich. Das gefiel ihm nicht sonderlich, aber er vermochte sich damit zu beruhigen, daß
er sich sagen konnte, daß Morlar ganz offensichtlich seiner Hilfe bedurfte. Im Augenblick jedenfalls mußte er das Spiel nach Morlars Regeln spielen. »Ich habe so etwas festgestellt wie einen gebremsten ... Aufruhr, eine Spannung.« Morlar verwahrte sich stirnrunzelnd gegen Zonfelds Wortwahl. »Ich sprach von Dringlichkeit.« Zonfeld nahm den vor ihm liegenden Brief auf. »Natürlich.« Entschuldigend. Er begann zu lesen: »Au fond bin ich davon überzeugt, daß der Zustand meines Geistes in Ordnung ist. Zugleich spüre ich das Bedürfnis, mich einer Bürde von Geheimnissen zu entledigen –« »Da haben Sie es«, sagte Morlar. »Ein Bedürfnis, eine Dringlichkeit, nicht eine Spannung, Doktor. Ich befinde mich in keinem Aufruhr – der Angestellte, der um seine Beförderungsaussichten bangt, Stenotypistinnen, die vor einer Abtreibung stehen – sie stehen unter der Art von Spannung, die sie in Ihre Praxis treibt.« Zonfeld sah keinen Grund, darüber zu argumentieren. »Ich habe irgendwo gelesen, daß Sie einmal als Anwalt tätig waren.« »Das ist schon eine Reihe von Jahren her.« Morlar machte deutlich, daß es eine Tatsache ohne Konsequenzen war. »Nun?« »Unsere Verbindung sollte also keine Schrecken für Sie enthalten.«
»Für mich? Ich verstehe nicht.« »Ich sehe keine großen Unterschiede zwischen den Beziehungen Anwalt/Klient und Psychiater/Patient.« »Wirklich? Vernachlässigen Sie dabei nicht das Ausmaß gegenseitiger Verstimmungen?« »Wieso das?« »Jede Beziehung verlangt Unterordnung von einer Seite.« »Oder von der anderen.« Zonfeld entschied, daß es Zeit war, einige Fragen zu stellen, aber zu seiner eigenen Überraschung suchte er vergebens nach einem passenden Beginn. So etwas war ihm noch nie passiert. Und noch nie war ihm die Behandlungsführung so vollkommen aus den Händen genommen worden. »Nun, Doktor« – kurz angebunden – »ich möchte Ihre Zeit nicht vergeuden. Ich entsinne mich, daß man einen Klienten immer dazu drängte, am Anfang zu beginnen. Also ... John Frederick Morlar. Geboren 1921. Familienhintergrund: Pseudo-Mittelklasse. Ausbildung in verschiedensten Richtungen. Diente seinem Land im Zweiten Weltkrieg, wurde aber nicht persönlich verantwortlich gehalten für seinen glorreichen Ausgang.« »Universität – vor oder nach dem Krieg?« »Danach. Eine läuternde Erfahrung. Die meisten von uns waren junge Killer, die in alte Männer ver-
wandelt worden waren. Irgendwo in unseren Zwanzigern oder auch später. Einzelgänger und Eigenbrötler – wir versuchten verzweifelt, das Leben nach der Zeit von Tod und Zerstörung zu lernen. Mit den Kleidern der Demobilisierung und langen Narben – eine komische Pantomime.« »Die Sie bis zum Schluß spielten?« »Und darüber hinaus – was war sonst zu tun? Lincoln's Inn, neue Studien, dann zum Gericht und acht Jahre harte Arbeit als Verteidiger.« »Wie empfinden Sie heute gegenüber dieser Zeit Ihres Lebens?« »Empfinden?« Morlar sah sich um in dem ruhigen Raum mit den freundlich fließenden Farben und starrte dann – oder grimassierte – in Richtung auf den anderen Mann. »Wußten Sie, daß man zweiundsiebzig verschiedene Prozesse braucht, um endgültig anerkannt zu werden?« fragte er. Zonfeld beugte sich nach vorn, in Bewegung gesetzt durch das erste greifbare Anzeichen, daß etwas mit Morlar nicht stimmte. Er war auf seine Frage gar nicht eingegangen, sondern ... »Nein«, sagte er, wobei er größtes Interesse zeigte. »Nein – das wußte ich nicht. Wie interessant.« Ein perfektes Beispiel für ein zusammenhangloses Denken, für das, was man Gedankenblockade be-
zeichnete. Ein klassisches Beispiel der Schizophrenie. Jetzt beginnen wir der Sache schon näherzukommen. Aber warum sah Morlar so überrascht aus? »Interessant? Tatsächlich? Ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt stimmt.« Er lächelte über Zonfelds Verblüffung. »Ich möchte nicht, daß Sie mich für schizoid halten, Doktor. Ich verstehe den Prozeß der Gedankenblockade, und ein Schizophrener ist vermutlich nicht in der Lage, sein Leiden zu verstehen.« »Es gibt noch viele andere Symptome.« Er verschluckte einige Silben und sprach mit etwas mehr mitteleuropäischer Betonung, die er sonst nur bei einer gelegentlichen Patientin so sehr ausspielte. Einige von ihnen hatten einfach nicht das Gefühl, den Gegenwert ihres Geldes zu bekommen, wenn er seine Herkunft nicht deutlich vor sich hertrug. »Mein Seelendoktor kommt aus Wien« – das wog schwerer als ein halbes Dutzend teurer Kunstbände, die achtlos auf dem Kaffeetisch der Gastgeberin herumlagen. »Ich versuche Ihnen zu zeigen«, erklärte Morlar, »daß Ihre Frage ein non sequitur war, und Sie wissen gut genug, daß auch non sequiturs symptomatisch für eine auseinanderfallende Persönlichkeit sind.« Zonfeld sagte nichts. »Ich empfinde nichts gegenüber dieser Zeit meines Lebens – warum sollte ich? Es ist vorbei und aus. Empfindungen gegenüber der Vergangenheit sind
zwangsläufig unehrliche Reaktionen. Wir vergessen zu viel, und das Bild wird unvollständig. Auch keine Empfindungen gegenüber der Justiz – dem Land der Hoffnung und der obsiegenden Gerechtigkeit. Ich habe als Anwalt versagt. Zwangsläufig. Es war nur eine entsetzliche Zeitverschwendung.« Morlar versank in seinem Sessel und schien Zonfeld aus seinen Gedanken zu entlassen. Der angesehene Psychiater wartete geduldig, fand dabei sogar Zeit, an Gabrielle zu denken, seine so schöne junge Frau, die in ständiger Furcht vor den dahinziehenden Jahren lebte, die von unvergleichlichen Zitadellen träumte, die durch die ständige Einwirkung von Wind und Regen zerfielen. Hatte sie die Brandyflasche gefunden, die er sorgfältig versteckt hatte? Es war ein Spiel, ein entzükkendes und erschreckendes kleines Spiel, das sie schon ein Jahr oder länger spielten. Aber jetzt häuften sich die Zeichen einer tödlichen Ernsthaftigkeit ... sie saß stundenlang so völlig in sich zurückgezogen da wie dieser Fremde vor ihm, eingehüllt in eine ausweglose Dunkelheit. Er beugte sich über ihr Bild vor seinem geistigen Auge zu und sagte in Apfelstrudel-Tönen: »Und so entschieden Sie sich –« »Es war nicht meine Entscheidung! Das müssen Sie verstehen. Nicht meine! Es wurde – entschieden. Ich
begann zu schreiben. Zuerst ein ausführliches Tagebuch. Charakterskizzen der Leute um mich herum – Angestellte, Verteidiger, kleine Diebe, Zeugen und so weiter –« »Sie führen Ihr Tagebuch noch immer?« »Es wird zur Gewohnheit. Wo anders kann man ungefährlich Vitriol Vergießen?« »Dann könnte es von einigem Wert sein –« »Für Sie – oder für mich? Warum sollte ich die halbe Arbeit für Sie tun? Nein, Doktor, meine Tagebücher bleiben zwischen mir und meinem anderen Selbst ... im Licht des Tages gesehen, könnten sie – gefährlich wirken. Gehen wir weiter. Ich habe Artikel für juristische Zeitschriften geschrieben, aber das lief nicht so gut, also ging ich zu imaginären Dingen über – erste Kurzgeschichtenversuche – erste Akte von Stücken, die London im Sturm nehmen sollten. Zunächst spielte ich den Autor, dann wurde ich es schließlich.« Zonfelds professionelles Interesse nahm zu. Eine gescheiterte Karriere, dann ein neuer Anfang ... das führte ihn vielleicht zu Morlars wirklichen Problemen. »Und die Wirklichkeit«, sanft überredend, »ist unerträglich geworden?« »Schriftsteller – Müllabfuhrmann – Bordellinhaber – was ich tue, ist uninteressant! Was ich durch Erfahrung entdecke – was ich durch den Prozeß der Erfah-
rung werde ... für jeden anderen Menschen – das könnte – unerträglich sein.« Dennoch spürte er das Bedürfnis, sich einer Bürde von Geheimnissen zu entledigen. Zonfeld prägte sich den scheinbaren Widerspruch ein, bevor er fragte: »Haben Sie eine Vorstellung von dem, was Sie jetzt sind?« »O ja ... ja, ich habe sogar mehr als eine Vorstellung ...« Er hielt inne, suchte offenbar nach den richtigen Worten, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. »Ich bin der Mann, der gelernt hat, Unheil heraufzubeschwören.« »Fahren Sie fort, Mr. Morlar.« »Ich konzentrierte mich also auf das Schreiben, war finanziell unabhängig, konnte gelegentlich aufkommenden Reisewünschen nachgehen – und zurückkehren, um in vergleichsweiser Zurückgezogenheit zu schreiben.« »Rauchen Sie?« Die Frage gefiel Morlar sichtlich nicht. »Warum?« »Auch das ist ein Faktor.« »Nichts dergleichen! Es ist völlig bedeutungslos, und indem Sie es aufbringen, zwingen Sie einen, die Gedanken bis zur Schrittgeschwindigkeit zu verlangsamen.« »Glauben Sie mir, ich bin Ihnen vielleicht sogar voraus.«
»Ich bezweifle es. Ich rauche tatsächlich wie zehntausend Schlote. Aber ich wußte, wenn ich in Ihrer Gegenwart ad nauseum rauchte, dann würden Sie sogleich feststellen: ›Achtung! Ein Faktor!‹ Ich werde Ihnen sagen, warum ich rauche, wenn es Sie so sehr interessiert. Ich genieße es nicht nur, es regt mich nicht nur an, vor allem aber lasse ich mir mein Recht, mich selber umzubringen, nicht von einer Regierung beeinträchtigen, die sehr wählerisch ist in ihrer Sorge um meine Gesundheit. Warum keine Aufkleber auf jedem Wagen und jedem Laster? ›Autofahren kann Ihre Gesundheit gefährden!‹« Zonfeld sagte nur: »Ihr Berufswechsel war offenbar zu Ihrem eigenen besten.« »Zum eigenen besten?« »Sie haben Erfolg.« »Nein!« Entschieden. »Ich habe einmal eine hervorragende Rezension Ihrer Bücher –« »Sie müssen mich mit jemand anderem verwechseln – einem anderen Patienten? Was Rezensionen angeht – würde es Sie befriedigen, wenn ein Krankenhausportier an den Daily Mirror schriebe und Ihren letzten brillanten Versuch in der Gehirnchirurgie bejubelte?« Zonfeld ignorierte die Frage. »Sie finden Befriedigung in der schöpferischen Arbeit?«
»Möglich.« »Und so kommen wir – wohin eigentlich?« »Zum Kern der Sache. Wieviel kann die geistige Gesundheit eines Mannes in camera ertragen?« »Ihr Brief –« »Besagte, was offensichtlich ist. Mein Verstand funktioniert gut genug, um zu wissen, wie nahe ich dem Wahnsinn bereits bin.« »Sind Sie sicher, daß ich Ihnen helfen kann?« »Warum sonst wäre ich hier?« »Das war alles, Inspektor. Mehr oder weniger.« Erste Konsultationen, erklärte Zonfeld weiter, blieben immer etwas vage und allgemein, ein Spiel zweier Geister, das Scharmützeln zwischen konventionellen Truppen und Guerillaeinheiten glich. »Hat er einen weiteren Termin vereinbart?« »Ja – für die Woche darauf. Und wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen, ich erwarte jeden Augenblick einen Patienten.« Cherry lächelte unverbindlich, als sie die Tür erreichten. »Bis zum nächstenmal, Doktor.« Zonfeld sah den Inspektor mißbilligend an, so als hätte er ihn vor der Eingangstür von einer Selbsttäuschung geheilt, ihn aber kurz darauf durch den Lieferanteneingang wieder hereinschlüpfen sehen.
»Was kann ich Ihnen sonst noch sagen?« »Ich möchte Ihre Termine nicht durcheinanderbringen. Können Sie vielleicht heute abend eine Stunde für mich erübrigen –« »Wozu?« Zonfeld schien echt überrascht zu sein. »Wenn Sie mir mehr über alle weiteren Sitzungen mit Morlar berichten, dann könnten wir vielleicht auf etwas stoßen, was zu seinem Angreifer führt.« »Nun gut.« Etwas hastig. »Aber ich verstehe nicht, was für einen Sinn – sein Verleger könnte Ihnen da wohl eher helfen. Sie verstanden sich recht gut, glaube ich.« »Auch das werde ich nicht unversucht lassen«, murmelte Cherry und ging. Sein Fahrer ließ ihn ein paar Minuten nachdenken, bevor er fragte: »Wohin, Sir?« Cherry schlug das Krankenhaus vor und kehrte zu seinem Problem zurück. Eine einzelgängerische, melancholische Verfassung, geistig gestört, egomanisch oder monomanisch? Er erlaubte sich das Vergnügen, den Unterschied zu untersuchen. Die Romane – ihr Wert, um den wirklichen Morlar zu erkennen. Die Tagebücher – schon bessere Aussichten. Zonfeld, Spannungen, Morlar, Leben und Tod. Er sah gedankenlos hinaus und sah die Schrift auf
Werbeplakaten der Tagespresse: Die letzten Worte der Astronauten. Cherry erinnerte sich an Duffs Kommentar: »Die Welt fällt auseinander.« Aber was hatte das mit einem anscheinend sinnlosen Verbrechen zu tun? Die beiden Katastrophen waren völlig unähnlich – ohne jeden Zusammenhang. Weshalb sah er dann eine Verbindung zwischen ihnen? Etwas, was Zonfeld gesagt hatte. Er stieg aus dem Wagen und eilte auf den Krankenhauseingang zu. Geistig gestört – was sonst konnte ein armer Teufel sein, der von sich behauptete, Unheil heraufbeschwören zu können? Robbins hatte inzwischen Duff abgelöst, der von seiner Nachtwache lediglich zu berichten hatte, daß sein linker Fuß zweimal eingeschlafen war. »Ich nehme kaum an, daß Ihr Bericht mehr enthält«, mutmaßte Cherry. »Nein, Sir – und ich wäre selber überrascht, wenn es nicht so wäre. So einen Anblick habe ich außerhalb einer Leichenhalle noch nie erlebt.« Die Worte enthielten eine tiefere Bedeutung. Morlar hatte kein Recht, hier zu sein. Ein Körper ohne Aussicht auf Überleben; ein Leben, das mit teuren Mitteln erhalten wurde, während weit aussichtsreichere Fälle auf der Warteliste standen. Cherry sah stirnrunzelnd auf die Gestalt unter dem
Zelt aus Polyäthylen. Irgendwie trug der durchsichtige Kunststoff dazu bei, einem dieses ganze Schauspiel unter die Haut gehen zu lassen. »Ich weiß, was Sie denken.« Die beiden Männer wandten sich um und sahen sich Johnson gegenüber, einem Chefchirurgen, der sie mit einem fast sezierenden Blick betrachtete. Cherry kannte ihn recht gut. »Zeitverschwendung. Das ist es.« Starker schottischer Akzent. »Zeitverschwendung für alle. Auch für Ihre Männer. Wie soll er noch etwas sagen können, wenn sein Kiefer aus den Angeln hängt?« »Wie lange, Mr. Johnson?« »Wer kann das sagen? Drei Minuten – drei Tage – beobachten Sie mal diesen Finger da.« Sie beobachteten ihn. Es brauchte Zeit – eine lange Zeit – aber schließlich bewegte er sich – den Bruchteil eines Zentimeters. »Da – das ist ein kleines Wunder, wenn Sie so wollen.« Cherry wurde es fast schlecht. Robbins wirkte blasser als sonst. Dieser Finger hatte kein Recht, sich zu bewegen, als lebte er völlig unabhängig von einem Gesicht, das nicht länger existierte. Es ließ an eine grausame Parodie von Galvanis Experimenten mit Fröschen denken. Aber es brachte ihn auf eine entscheidende Frage.
»Das Gehirn?« »Der größte Teil davon funktioniert, als wäre nichts geschehen.« »Warum stirbt er nicht einfach!« Es drückte mehr Entsetzen aus, als Robbins beabsichtigte. »Das läßt sich leicht sagen, junger Mann. Seltsame Dinge geschehen – das gibt es immer. Gerade wenn man annimmt, daß man das letzte Geheimnis des Lebens im Griff hat, rinnt es einem zwischen den Fingern davon. Ich habe einmal von einem Mann gehört, der in einen Behälter mit geschmolzenem Glas gestürzt ist. Sie holten ihn heraus, und er machte ein Testament zugunsten seiner Frau, compos mentis, wenn Sie so wollen. Dann starb er. Aber ich muß zugeben, daß der hier sich bereits für das ›GuinnessBuch der Rekorde‹ qualifiziert hat.« Der Chirurg starrte gedankenverloren auf die lebende Fußnote der Medizingeschichte. »Es ist alles im Gehirn«, murmelte er. »Jemals seine Romane gelesen, Mr. Johnson?« »Romane? Mir hat niemand gesagt, daß er ein Romanschreiber war. In seinen Aufnahmepapieren steht Journalist. Nein, ich habe seine Romane natürlich nicht gelesen. Blödsinnige Frage, Inspektor. Ich weiß besseres anzufangen mit meiner Zeit.« Und wie um es zu beweisen, verließ er augenblicklich den Raum. Cherry entließ Robbins von der weiteren Bettwa-
che, gab ihm ein paar kleinere Aufträge und ließ ihn Duff ausrichten, daß er ebenfalls nicht mehr ins Krankenhaus zu kommen brauchte. Duff haßte die Atmosphäre von Krankenhäusern, und da er dem Sergeanten selten genug eine Freude machen konnte, war Cherry ganz mit sich selbst zufrieden während der kurzen Fahrt zum Verlag Moulton's, der sich irgendwo hinter Covent Garden befand. »Kommen Sie herein, Inspektor. Setzen Sie sich, wenn Sie etwas finden können, was diesen Zweck erfüllt – nein, nicht den – nur drei Beine – den habe ich für Jungautoren, die glauben, mit ihrem ersten Roman Tolstoi in die Tasche gesteckt zu haben.« Townely war in seinen Vierzigern, hatte eine erschreckende Menge von blonden Haaren und ziemlich lebhafte Züge, die nichts von der intellektuellen Blässe hatten, die manche Buchlektoren bevorzugten. Seine langen Glieder wirkten so unsicher an seinem Körper aufgehängt wie die Buchregale an der Wand hinter ihm. »Welchen Stuhl hatten Sie für John Morlar reserviert, Mr. Townely?« »Er saß nie in meiner Gegenwart – vermutlich entsprach keiner der Stühle seinen Ansprüchen. Ich habe von dieser Sache gelesen. Gerade eben. Ich meine die sechs Zeilen – und die Astronauten bekamen den Rest.«
»Ist das eine Kritik?« »Aber ja!« »Warum?« »Warum? Weil ein Autor soviel wert ist wie tausend Astronauten.« »Warum?« bohrte Cherry. »Zum Teufel nochmal«, explodierte Townely, »wenn Sie ein Astronaut wären und sich irgendwann in der Zukunft in einer Basis auf dem Mond oder dem Mars einzurichten hätten, dann brauchten Sie doch sicher ein Buch, um sich die Zeit zu vertreiben? Also, wie kann ich Ihnen helfen?« Vielleicht konnte er überhaupt nicht helfen, und das wäre zu bedauern. »Ich habe den Eindruck, daß Morlar ein geheimnisvoller Mann war. Vermutlich täusche ich mich da.« Townely dachte darüber nach, was drei scharfe Linien in seiner Stirn bewiesen. »Ja – in einer Hinsicht. In anderer Hinsicht, nein. Ich meine, die meisten Autoren kultivieren ein je ne sais quoi – das kompensiert ihre gewisse Obskurität. Ich weiß, daß das widersprüchlich klingt, aber das Geheimnisvolle läßt sich nicht so leicht definieren.« »Aber die meisten guten Autoren treten schon aus dem Dunkel heraus?« »Sie meinen die Protégés der besseren Zeitungen?
Sie sind nicht unbedingt die Creme – sie erfreuen sich meist nur einige Zeit ihrer Bekanntheit und versinken dann in der Vergessenheit oder in der Kulturabteilung der BBC, was ungefähr dasselbe ist, und wo sie auch hingehören.« »Aber Morlar nicht – zum Beispiel?« »Nein.« Und diese schlichte Verneinung, entschied Cherry, war der beste Nachruf, den sich Morlar erhoffen konnte, wenn die Zeit kam. »Wird er sterben?« Es schien keinen Grund zu geben, der Frage auszuweichen. »Ja – sehr wahrscheinlich. Wenn er am Leben bleibt, dann bezweifle ich jedenfalls, daß er jemals wieder schreiben wird.« »Das erleichtert mich.« »Wie?« »Verstehen Sie mich nicht falsch. Morlar war ein brillanter Autor. Einige seiner Sachen werden die Zeit überdauern ...« »Ich muß ihn doch noch lesen.« »Eine faszinierende Lektüre. ›Konnte es nicht aus der Hand legen‹, wie die Rezensenten über seine früheren Bücher zu urteilen pflegten. Gut für den Verkauf jedenfalls. Einige Leute scheinen anzunehmen, daß etwas, was man nicht aus der Hand legen kann, mit pornographischem Yoga zu tun hat.« »Aber?« »Aber Morlar hatte eine zu direkte Einstellung ge-
genüber dem Sex, um daraus einen Medizinerball für Intellektuelle zu machen.« »Die Rezensenten pflegten nette Dinge über ihn zu sagen?« »Bis zu seinem vierten Buch. Dann ignorierten sie ihn.« »Warum?« Townely zuckte mit den Schultern, eine wenig überzeugende Geste. »Ein anderes Thema – das nicht akzeptiert werden konnte, nehme ich an.« »Was für ein Thema?« »Zerfall und Niedergang, Desintegration, Dekadenz – das Böse ... die Macht, die es ausübt, um all diese Faktoren ins Spiel zu bringen.« »Und niemand interessierte sich dafür?« »Ja ... und nein.« Entweder wich Townely aus, oder er kultivierte das Bemühen eines Redakteurs, die genau richtigen Worte zu finden, um eine präzise Bedeutung zu verschleiern. »Können Sie mir ein Beispiel geben?« »Sein viertes Buch. Es hatte mit einem Aufkommen des Nazismus zu tun, aber nicht in Deutschland. Die Hauptfigur, ein Mann, der Erinnerungsstücke aus der nationalsozialistischen Zeit sammelt. Natürlich sehr reich. Er erwirbt Hitlers zweitbeste Uniform – seine
Briefe – einen Spiegel, vor dem der Führer seine ersten Reden gehalten haben soll – Sachen aus Nürnberg – der offene Mercedes. Eine unglaubliche Sammlung. Die Sachen verändern ihn, verstehen Sie? Er probiert die Uniform an, übt vor diesem Spiegel Reden in schlechtem Deutsch, die Objekte nehmen Besitz von dem Subjekt. Mehr zufällig sammelt er eine Gruppe von Enthusiasten um sich; einen Verkäufer, den dicken Gauner, den hinkenden Mann mit dem Totenkopfgesicht und so weiter. Er bildet eine Partei, läßt Protestierer entfernen, gewinnt die Unterstützung einflußreicher Industrieller. Der ganze Geschichtsablauf neu konstruiert, um das Trauma Englands zu erfüllen. Sie wissen, nach Versailles – Hitler, nach dem britischen Weltreich – Hitler. Es hört sich weithergeholt an, aber Morlar machte es so überzeugend, daß seine dämonische Vision wie ein Tatsachenbericht wirkte.« »Was geschah damit?« Townely fuhr mit einer Hand durch seine Haare. Die verzweifelte Geste eines Mannes, der sich wünschte, eine Antwort zu wissen. »Niemand nahm Kenntnis davon. Es wurden ein paar tausend Exemplare verkauft, aber niemand wollte etwas davon wissen.« »Das ergibt doch keinen Sinn, oder?«
Townely bewegte eine Tasse kalten Kaffees von der einen Seite des Tisches zur anderen. »Nein – das natürlich nicht. Die Wahrheit ist, Morlar wußte zuviel über das, was unter Steinen vor sich geht, hinter der Holzverkleidung, unter den Teppichen in den Korridoren der Macht. Gott allein weiß, wie er so viel entdecken konnte, aber er tat es, und er benützte es. Seine letzten vier Romane waren nicht nur Thriller, Inspektor – sie waren erschreckend.« So sehr Cherry nach Übertreibungen in Townelys Lobpreisung suchte, er fand statt dessen die Einführung eines völlig neuen Elements. Vielleicht hatte sich die Fahrt zum Covent Garden wirklich gelohnt. »Sie sprachen vom Bösen – hat es Morlar beeinflußt?« »Sicherlich nicht. Ich sagte Ihnen – er verstand die Macht des Bösen, wußte seine Quelle zu finden, wie ein Wünschelrutengänger Wasser findet.« Cherry war nur teilweise überzeugt. »Wir haben bis jetzt nicht wirklich über Morlar geredet.« Townely wich aus. »Sie sollten seine Bücher lesen – die letzten drei –« »Mich interessiert Ihr Eindruck«, und provozierend: »Ich habe gehört, daß er seelisch unausgeglichen war.« »Haben Sie das?« Townelys Kaffeetasse wanderte
wieder von einer Tischseite zur anderen. Cherry nahm an, daß seine Überraschung echt war. »Das hätte ich nie gedacht. Mein Gott – nein – ich glaube, daß Sie da eine falsche Auskunft erhalten haben.« »Keine Anzeichen einer Geistesstörung?« »Wenn ich sage ›keine‹, was bedeutet das? Ich glaube nicht, daß wirklich unausgeglichene Leute ›Anzeichen‹ vor sich hertragen. Seine Ansichten waren natürlich etwas überspitzt, aber sie waren überzeugend.« »Hatte Morlar übrigens eine irgendwie auffallende Erscheinung?« »Ja ... und nein.« Cherry fluchte lautlos vor sich hin. »Er hatte die intensivsten Augen, die ich je gesehen habe – fast hypnotisch. Man sah sie am besten nur durch getöntes Glas oder so. Zwillingssiegel der absoluten Autorität. Es macht natürlich Schwierigkeiten, wenn man die visuelle Faszination von verbalen Äußerungen zu trennen versucht – vom einen beeinflußt, muß man zwangsläufig auch das andere akzeptieren.« »Eine gespaltene Persönlichkeit?« »Das ist noch so eine Phrase! Morlar zog sich auch nicht aus dieser Welt zurück. Er war ein Teil von ihr. Er war sich seiner Umwelt sehr stark bewußt – das ist der entscheidende Punkt, Inspektor. In einem Roman spricht er von ›dieser gesegneten Sphäre‹ – die Welt
war für ihn ein geometrischer Ausdruck der Perfektion – und er sah das Leben in dieser Sphäre als Privileg – und das größte Verbrechen war, in seinem Buch, ein Mißbrauch dieses Privilegs.« Poesie war ja ganz schön, aber Cherry hatte mit prosaischeren Dingen zu tun. »Und dennoch hat jemand«, sagte er, »versucht, ihn zu töten. Hatte er Vorurteile gegen gewisse Leute – das gesellschaftliche System – Sie wissen schon, was ich meine.« »Mein teurer Inspektor, wie können Sie in dieser Welt engagiert sein und nicht tief empfinden gegenüber Unrecht – Ungleichheit – Ungerechtigkeiten – Sie wissen schon, was ich meine?« Bitter und sarkastisch. »Was er schrieb, mußte also zwangsläufig Leute verletzen?« »Natürlich.« »Hochgestellte Leute?« »Möglich.« »Ich verstehe. Ich entnehme all dem, daß Sie ihn recht gut gekannt haben.« »Absolut nicht – oder vielleicht ja ... und nein.« Cherrys Kiefer mahlten, aber er sagte nichts. »Ich meine das so – der Morlar, den ich kannte, das war der, den ich las. Der andere kam gelegentlich herein, um sich über Änderungen beim Redigieren zu
beschweren, I-Punkte zu setzen, obskure Passagen zu verdeutlichen. Morlar Nummer zwei konnte man außerhalb der geschäftlichen Verbindung kaum kennenlernen.« »Sie meinen, er diskutierte lediglich über Details.« »So ungefähr. Nur einmal war es anders, soweit ich mich entsinnen kann. Wir besprachen einen Punkt – oh, ich glaube, es ging um seinen fünften Roman. Skeleton Keys. Das war vor vielleicht drei Jahren ...« »Mir gefiel Ihr satirisches Stück über den Lordkanzler – meiner Meinung nach verdient er das, was er bekommt – wie Sie selbst sagen, ist es egal, ob ein Possenreißer oder ein Pavian die Glocke läutet. Aber ich bin etwas betroffen von Colbys Bezeichnung Gottes als Blasphemiker. Diese Passage ›Es ist Gott, der sich dem Gericht der Allgemeinheit stellen sollte. Dieser Vorbote des Bösen, das in den Außenbezirken der universellen Bewußtheit lauert, verdient es, von einer Jury seiner Opfer verurteilt zu werden: den Ungeliebten, den geistig und körperlich hoffnungslos Deformierten, den Verzweifelten‹ und so weiter ...« Morlar rückte unruhig hin und her und wich Townelys unausgesprochenen Vorwürfen aus, indem er durch das Fenster hinaus auf die Rückwand der St. Pauls Kathedrale starrte. »Ich lasse mich nicht für Colby verantwortlich ma-
chen. Er spricht für sich selbst, oder sein Charakter wird zweideutig.« »Aber ist Subtilität nicht eine bessere Waffe gegen überholte Anschauungen?« »Sie glauben, es ist zu stark und deshalb ›naiv‹?« Morlars Ausdruck hatte ein Ausmaß des Diabolischen, entfesselt nach einer Ewigkeit bei Wasser und Brot. »Subtilität erzeugte Obskurität, Townely. Zu viele Leute lassen ihre Zweifel in unsichtbarer Tinte ausfließen! Ich schreibe mit Worten des Feuers, und zur Hölle, wenn ich mich dabei selbst verliere. Gott! Wie scharf sollte unser Spott sein, wenn er einen so ausgesprochenen Feigling betrifft! Der Lordkanzler der Anglikanischen Kirche ist ein religiöser Mann, weil er genau weiß, wie er mit Gott umgehen kann, oder vielmehr der Vorstellung von Gott. Colbys Verzweiflung gibt ihm das Recht, sich so zu äußern, wie er es tut. Wie sonst kann er einen Beweis von der Existenz des himmlischen Nichtwesens verlangen, als durch diese Herausforderung, indem er es dazu reizt, Blitze zu schleudern gegen die Anmaßung eines Menschen!« »Dann handelt dieses Buch, in einem wirklichen Sinne, von Gott.« »Sie haben den entscheidenden Punkt übersehen. Es geht um Colbys Überzeugung, daß Gott nichtexistent ist.«
»Ihre Leser werden das nicht so sehen.« »Um so besser. Wenn sie darauf bestehen, in ihrem eigenen Saft gekocht zu werden, dann bin ich gern bereit, das Feuer zu entzünden.« »Ich hatte erkannt, worauf es ihm ankam, und beließ es dabei.« »War ihr Einwand trotzdem richtig?« »Damals nicht. Nicht bevor Gott und Jesus Christ Superstar in Mode kamen, soll heißen, kommerziell auszubeutende Werte wurden. Wenn ein Autor heute in ihre göttlichen Gesichter spuckt, dann würde das ›religiöse‹ Element für sein Werk das bedeuten, was mit Lady Chatterly oder Ulysses versucht wurde.« Cherry fragte sich, was von all dem bedeutsam sein konnte für das, was von Morlar irgendwo im St. Margaret's übriggeblieben war. Nichts ist bedeutungslos, wie Zonfeld vielleicht feststellen würde, aber wo war der bedeutsame Fakt, um zu erklären, warum ein Mann auf so grausame Weise an den Rand des Grabes gebracht wurde? »Vielleicht kann ich ihnen einen Vorschlag machen, Inspektor, und danach könnten Sie mir vorschlagen, daß ich zu meinen eigenen Geschäften zurückkehre.« »Fahren Sie fort.« »Nun, wie ich es sehe, war Morlar fast pathologisch in bezug auf das Leben, wie es gelebt wird – und das
wurde zunehmend ausgeprägter etwa seit seinem vierten Roman. Ich wette darauf, daß Sie nicht viel weiter zurückzugehen brauchen, um so etwas zu finden wie eine – traumatische Erfahrung, die seinen Standpunkt ziemlich radikal geändert hat –« »Wieso sollte ich daraus entnehmen, warum ihn jemand zu töten versuchte?« »Das ist ganz einfach, Inspektor. Wenn die Erfahrung groß genug ist, dann kann sie die ganze Auffassung und Zielsetzung verändern, man könnte dabei sogar verwundbar werden ... also finden Sie heraus, was diese Erfahrung war, und Sie sind vielleicht auf halbem Weg zu Ihrem Ziel.« Interessant. Der Unterschied zwischen Zonfelds Mikroskop und Townelys Teleskop. Darauf lief es mehr oder weniger hinaus. »Übrigens, da ist noch etwas anderes in bezug auf Morlar, was Sie interessieren könnte. Ich habe immer gedacht, das ist etwas, was nicht in sein Bild paßt. Sehen Sie einmal aus diesem Fenster, bevor Sie gehen.« Cherry suchte sich einen Weg zwischen Zeitschriftenstapeln und Aktenbergen hindurch, bis er neben Townely stand. Weit unter ihnen war eine kleine Gartenanlage, ein neu angelegter Kirchhof, der zum westlichen Eingang von St. Pauls führte. Bescheiden angelegt, vorwiegend Rasenfläche, ein paar Sträucher und Rosen und ein oder zwei Wege mit gelegentli-
chen Holzbänken; ideal für sonnenhungrige Büroangestellte, ein Platz, um in aller Ruhe Sandwiches zu verzehren, entfernt vom Getriebe der Welt, die doch nur wenige Meter entfernt war. Cherry besah sich die Szenerie ein paar Augenblikke lang. »Nun?« »Morlar stand vor etwa vier Jahren hier – und sah aus diesem Fenster, wie Sie es eben tun. Wir hatten unsere Angelegenheiten mehr oder weniger gesprochen, und er murmelte etwas davon, bald gehen zu wollen. Er sah hinunter, schien stutzig zu werden und sagte: ›Das ist ja unglaublich!‹ Er war so sehr mit dem beschäftigt, was er gesehen hatte, daß er fast völlig vergaß, sich zu verabschieden. Morlar hatte schon immer etwas für gewisse Nebensächlichkeiten des Lebens übrig, so daß mich das nicht weiter verwunderte. Er ging, und ich blieb am Fenster stehen, sah hinunter. Tatsächlich fand er bald seinen Weg in die Gartenanlage und ging zu einer Figur, die ich für einen Penner hielt; gewöhnlich halten sich ein oder zwei von diesen Brüdern dort unten auf. Und ob Sie's glauben oder nicht, er verbrachte jede Minute der folgenden drei Stunden mit diesem Typ – er war noch immer dort, als ich um sechs ging.« Cherry versuchte verzweifelt, darin irgendeine Bedeutung zu sehen. »Ist das noch einmal geschehen?«
»Nicht daß ich wüßte.« »Hat er es Ihnen gegenüber erwähnt, als er das nächste Mal bei Ihnen war?« »Nein.« »Können Sie sich an diesen Typ erinnern – wären Sie in der Lage, ihn zu beschreiben?« »Eigentlich nicht – ich bin etwas kurzsichtig.« Bestens, bestens. Cherry zog tief Luft ein, um seine Geduld zu bewahren. Morlar sprach vor vier Jahren mit einem schlichten Penner, und aus diesem Stückchen Information hätte Sherlock Holmes zweifellos die Farbe der Socken deduziert, die die beiden Männer getragen hatten. Unglücklicherweise war Cherry nicht Holmes. »Ich nahm an«, sagte Townely entschuldigend, »daß Sie an allen ungewöhnlichen Umständen interessiert wären. So heißt es jedenfalls in den meisten der Detektivgeschichten, die wir veröffentlichen.« Zurück im Yard, konnte er Morlar für eine Weile vergessen. Er hatte noch immer mit einigen losen Enden des Clayton-Falls zu tun. Bis Duff Morlars Namen erwähnte, als er am späteren Nachmittag mit einer Abendzeitung erschien. »Er lebt noch immer, wie?« »Bis vor einer Stunde war er jedenfalls noch am Leben.« »Verdammter Bastard!«
Cherry überflog die Zeitung. Das meiste hatte mit den Astronauten zu tun. Er dachte über die Tatsache nach, daß Morlar nur sechs Zeilen bekommen hatte. Aber man mußte schließlich auch berücksichtigen, daß er nicht tot war, was die Astronauten, die JumboJet-Passagiere, die Besatzung des U-Boots und all die anderen waren. Duff warf einen flüchtigen Blick auf die Rückseite der Zeitung. »Inzwischen ist noch einer gestorben.« Cherry rechnete. »Das macht siebenhundertundsechsundvierzig.« Bei diesem Zahlenspiel waren alle dabei. Die ganze Nation beschäftigte sich mit der Katastrophe. Eine Tragödie, bereits eine Woche alt, war trotz dieses Unglücks hinter dem Mond noch immer Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Ein U-Boot versinkt nicht jeden Tag, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen. Ein Jumbo-Jet stürzt nicht jeden Tag auf den Centre Point in London, ein Bürogebäude mit mehr als dreißig Stockwerken bricht nicht jeden Tag zusammen, ein Flugzeug schlägt nicht alle vierundzwanzig Stunden in ein vollbesetztes Kino ein. Und doch sah es fast so aus. Über sechshundert Schwerverletzte, zumeist Fußgänger; Leute in Kneipen; ein Mann, der Abendzeitungen verkaufte. Und noch immer fanden sie Leichen. Die Todesrate
wuchs mit jedem Tag. Es war eine Katastrophe, die sich weigerte, mit Anstand zu sterben. Wie Morlar. Eine andere Art von Überleben ... Sieben ... vier ... sechs ... »Sagen wir besser gleich vier sieben.« Cherry sagte eine Zeitlang nichts mehr und erkundigte sich dann: »Wie geht's voran, Duff?« »Wir nehmen uns die Hausbewohner vor.« »Noch immer?« »Es ist ein großer Block – da wohnen mehr als fünfhundert Leute. Kamen ein oder zwei Leute dabei heraus, die nicht das sind, was auf ihren Türschildern steht.« »Ja?« »Bringt aber nichts für uns. Keine Verbindungen zu Morlar.« »Hat Robbins die Tagebücher gebracht?« »Alle, die er finden konnte. Sie sind da drüben.« Auf dem Tisch neben der Tür. Ein Stapel von Notizbüchern jeder Größe, Farbe und Umfangs. Morlar war sichtlich nicht um Einheitlichkeit bemüht gewesen. Tagebuchhalter taten das selten. »Wo anders kann man ungefährlich Vitriol vergießen?« hatte Morlar gesagt. Was, wie jeder Schuljunge weiß, gefährlich ist. Cherry nahm die Tagebücher mit nach Hause, um
sie in Ruhe durchgehen zu können. Er verbrachte mehr als drei Stunden mit dem jüngsten Tagebuch, dessen oft rätselhafte Bemerkungen ihm aber kaum weiterhalfen. Vor allem fiel ihm eine kurze und zusammenhanglose Notiz auf, die nur lautete: »Kein Zeichen von L.« Auch Zonfelds Namen erschien drei oder viermal, Erinnerungen an, vermutete Cherry, Verabredungen mit dem Psychiater. Der zweiten Erwähnung Zonfelds folgte ein kurzer Kommentar zur ersten Sitzung. »Zonfeld und seine Confrères sind kaum mehr der objektiven Handhabung von Verhaltensmustern fähig, als Priester sich um die Rettung ihrer Herde kümmern können, ohne zuerst um ihr eigenes Wohl bemüht zu sein. Wenn ein Mann bereit ist, um anderer Willen in die Hölle einzudringen, dann vertritt er eine Religion von größerer Stärke und größerem Wert als die zwiespältige christliche Ethik. Und wenn ein Mann gewillt ist, seinen eigenen Kopf zu verlieren, um das Geheimnis der geistigen Gesundheit zu entdecken, dann ist noch Hoffnung für eine unausgeglichene Welt. Die arrogante Gewißheit des Psychiaters, daß er den Schlüssel zu einer Existenz im Gleichgewicht in seiner Hand hält, entspricht der Überzeugung des Gottesmannes, daß er über den Schlüssel zu einem lohnenden Leben nach dem Tode verfügt, und muß
daher in gleicher Weise verdächtig sein. Dieser Punkt muß klar erkannt und unterstrichen werden: Es liegt im persönlichen Interesse des Psychiaters, zu bestätigen, daß das Leben aus einer geordneten Folge von Ereignissen von der Krippe bis zum Grab zu bestehen hat, daß kein Ereignis risikolos aus seiner angenommenen natürlichen Ordnung gerissen werden kann, um den dringendsten Bedürfnissen eines einzelnen zu dienen. Das ist eine Negation der Freiheit. Damit wird ein ritualisiertes Leben anstelle der nicht mehr gültigen rituellen Messe eingesetzt. So fällt Zonfeld über sich selbst, um meinen Glauben zu verkleinern. Das Hindernis ist zu groß für seine begrenzten Methoden. Aber in einem Augenblick der Schwäche habe ich mich selbst dazu verleiten lassen, zusammen mit einem Fremden auf meinen eigenen Spuren zurückzugehen. Es könnte hilfreich sein, um den ganzen Verlauf meines Lebens aus einer schärferen Sicht zu sehen. Ich könnte entdecken, wann – und wie ... aber wie soll ich Zonfeld mehr beweisen, als er mir unbedingt beweisen möchte? Wenn er nur wüßte.« Zonfeld öffnete Cherry am folgenden Abend selbst die Tür. »Ich nehme an, daß er noch immer lebt.«
»Ja, Doktor. Er lebt noch immer.« Sie ließen sich in seinem weiten Behandlungsraum nieder. »Inzwischen werden Sie ein wenig mehr über Mr. Morlar in Erfahrung gebracht haben?« »Vor allem seine Tagebücher erweisen sich als recht informativ.« »Tatsächlich?« »Vielmehr, sie wären es, wenn ich den Schlüssel zu ihnen hätte.« »Er hat sie chiffriert?« »Das nicht gerade. Ich habe allerdings erst das jüngste Tagebuch durchgelesen, und vielleicht werden frühere Einträge die späteren erklären. Zum Beispiel bezieht er sich auf einen Unbekannten, den er nur L. nennt. Sagt Ihnen das irgend etwas?« »L ... nein, sagt mir nichts.« »›Kein Zeichen von L.‹ Es kam mir so authentisch vor, aber bevor ich ein Dutzend eng geschriebene Tagebücher durchgelesen habe –« »Wirklich, Inspektor«, Zonfelds Einwurf schien echten Enthusiasmus zu enthalten, »das könnte von größter Bedeutung sein.« »Vielleicht – wenn L. identifiziert werden könnte.« »Ein Erpresser wäre nicht so leicht zu identifizieren.« Cherry wußte kaum, warum er lächelte. »Das wer-
den wir sehen.« Er ahnte, welche Frage als nächste kommen würde. »Hat er – andere Namen erwähnt?« Aha. »Ein paar. Ihren zum Beispiel.« Er spürte, wie Zonfeld mit seiner Neugier kämpfte. »Morlar kam, wie es vereinbart worden war?« »Nein. Er rief an, um den zweiten Termin abzusagen, und ich sah ihn erst sechs Wochen später wieder.« »Ich verstehe. Und welchen Eindruck hatten Sie bei dieser Gelegenheit von ihm?« »Den gleichen. Nicht weniger gestört, aber vielleicht etwas belebter. Seine Intensität war außerordentlich – und erschöpfend ...« »Nun, Mr. Morlar – wie geht es Ihnen?« »Status quo ante. Und wie steht es mit Ihnen? Sind Sie überrascht, daß Sie mein Gesicht noch einmal zu sehen bekommen?« »Ihre Reaktion ist sehr typisch. Die neue Erfahrung, zwanglos reden zu können, erleichtert in einem solchen Ausmaß, daß viele sich schon nach einer einzigen Sitzung geheilt glauben.« Morlars Lächeln ging in einen fast bösartigen Ausdruck über. »Sie versuchen noch immer, mich mit anderen Leuten gleichzusetzen. Das geht nicht. Ich
anerkenne Ihr Recht, mit jeder Ihrer Äußerungen Ihre Unentbehrlichkeit unter Beweis zu stellen, aber erwarten Sie nicht, daß ich darauf eingehe. Ihre bewußte Absicht war: ›Soll er es ausschwitzen, und er wird zurückkommen, um zu beichten.‹ Aber nehmen Sie nur mal an, daß es meine bewußte Absicht war, es Sie ausschwitzen zu lassen.« »Enthüllungen beeindrucken mich nicht mehr.« Zonfeld zog seinen Notizblock näher an sich heran, verstärkte den Griff seiner Hand um den silbernen Stift. »Ich würde gern etwas über Ihre Kindheit erfahren, Mr. Morlar.« »Kindheit? Ich dachte, Sie gehörten zu den fortgeschritteneren Ausübenden Ihres seltenen Berufs.« Er ließ nicht zu, daß ihn Zonfeld unterbrach. »Ich bin nur wenig daran interessiert, erwachsene Krisensituationen auf kindliches Bettnässen zurückzuführen.« »Eine einfache Übersicht über Ihre frühen Jahre, Mr. Morlar. Können wir es uns leisten, eine mögliche Verbindung mit späteren Problemen völlig außer acht zu lassen?« Morlar gestikulierte unwillig. »Ich habe diese Reise bereits unternommen – wer hat das nicht? Das Bewußtsein wird zu einem Museum, vollgestopft mit Ausstellungsstücken – und wir schleppen uns selbst mit schmerzenden Füßen durch alles hindurch und
begaffen Ereignisse jeder Form und Größe und Bedeutsamkeit. Ereignisse ... Ich ziehe es vor, sie als Zwischenfälle zu benennen. Sie erinnern sich, wie es während des Kriegs war?« »Ja – ich erinnere mich.« Gestalt-Erinnerung – von den Toten und den Sterbenden – dem Rauch aus den Kaminen – gestreiften Uniformen – Davidsternen – und eben dieser Stift, den er in seiner Hand hielt. Der Talisman, den er vor Hakenkreuzen gerettet hatte, die sich als Menschen maskiert hatten, den er mit einer fast teuflischen Geschicklichkeit vor ihnen verborgen hatte, und zusammen, Mensch und Stift, hatten sie überlebt und waren fast miteinander zu einer Sache verschmolzen. Zonfeld nahm Morlars Worte kaum wahr. »Wenn eine Bombe fiel und eine Anzahl von Zivilisten tötete, dann war es ein Zwischenfall. Ein blutbedeckter Euphemismus, ein schönes sauberes Wort – es gefällt mir.« »Erzählen Sie mir ... von diesen Zwischenfällen.« »Meine Kindheit.« Zwei Worte, die den langen Marsch dieses oder jenes Menschen definieren. »Eine ›Tante‹ oder ›Gouvernante‹, sie war meine erste bewußte Erkenntnis, daß etwas grundlegend falsch war mit dieser Welt, mit der ich nichts anzufangen wußte. Sie war noch ein relativ billiges Status-
symbol zu dieser Zeit: achtzig im Jahr, und man fand immer genügend für sie zu tun, abgesehen davon, daß sie sich um mich zu kümmern hatte. Sie starb an den Masern, als ich fünf war – ist das von Bedeutung?« »Für Ihre Gouvernante – zweifellos.« »Sie war ein Geschenk zu meinem ersten Geburtstag, da meine Mutter zu faul und unfähig war, sich selbst um mich zu kümmern. Sie infizierte sich genau zum richtigen Zeitpunkt, als meine Eltern sich zu fragen begannen, wie lange sie es sich noch leisten konnten, sie zu beschäftigen.« »Ein Berufsrisiko.« »Oh? Glauben Sie? Und wie sieht das Berufsrisiko eines Psychiaters aus?« »Mitgefühl – Mr. Morlar.« Dann, mit einem berechneten Ausdruck der Verachtung: »War das einer Ihrer ›Zwischenfälle‹?« »Obiter dictum so weit. Sie war eine irische Hexe, von Priestern besessen, vom Rosenkranzbeten zermartert, und hatte ein verzweifeltes Bedürfnis nach dem Zuspruch der Verdammten. Nacht für Nacht erfüllte sie die Welt um mich herum mit Einblicken in eine blutrote Hölle, nach der sie bereits auf Erden verlangte, die sie aber unter den Augen von Maria, der Mutter Gottes, nicht zu erfahren wagte. Glauben Sie mir, sie konnte sich nicht einmal im Dunkeln aus-
ziehen, weil sie sich dessen gewiß war, daß die Madonna auch dann jede ihrer Bewegungen zu verfolgen vermochte. Was konnte sie mir nicht alles über den Teufel einflüstern und all seine Untaten, bis ich bereit war, in tödlicher Furcht zu schreien – doch wie konnte ich meinen gleichgültigen Eltern erklären, daß sie mir Angst machte und daß sie Bridget wegschicken sollten? Ich mußte es ertragen! Wissen die Leute eigentlich, wieviel die Kinder zu ertragen haben? Selbst diejenigen, die ihre Abkömmlinge mit Freundlichkeit töten, wären überrascht, wenn sie erfahren könnten, wie stoisch Kinder zu sterben vermögen. Bis zu einer Nacht, als ich durch den Siedepunkt der Masern schwitzte, und ich mir wünschte, daß Bridget im Höllenfeuer verbrannte, wie ich darin zu verbrennen glaubte. Ich betete zu dem Teufel, den sie so sehr zu fürchten schien. ›Lieber Luzifer – laß sie im Feuer verbrennen, so wie du mich verbrennst.‹ Dann, verstehen Sie, hatte ich das Gefühl, daß ich es ertragen konnte; aber ich wußte nicht, konnte nicht wissen, daß ich im Fieber redete, nach meiner Befreiung schrie, bis sie so besorgt wurde, daß sie von ihren Faseleien über Jesus ablassen mußte, der mich als Sonnenstrahl zu sich holen wolle, und zu meinen Eltern rannte, die die ganze Geschichte verzweifelt zu ignorieren versuchten.
Am nächsten Tag blieb sie im Bett, und überraschenderweise starb sie. Sie war keinen einzigen Tag krank in ihrem Leben, bis sie in Berührung mit dem jungen Herrn John kam. Nun – im zarten Alter von fünf ist man nicht in der Lage, logisch zu schlußfolgern, und Sie würden auch sicher annehmen, daß es da nicht viel zu schlußfolgern gab, wie?« »Hat es etwas für Sie bedeutet?« »Damals nicht. Was hätte es auch bedeuten sollen? Am einen Tag war sie da – am nächsten Tag nicht mehr. Man konnte wirklich nicht erwarten, daß ich mir die Hände reiben und ausrufen würde: ›Das Böse ist vernichtet.‹« »Dann hatte es keine Bedeutung.« »Das war nur das erste Kapitel. Vergessen Sie es erst einmal. Später werden Sie es vielleicht für richtig halten, sich daran zu erinnern. In den nächsten paar Jahren konnte ich Bridgets Tod jedenfalls einige Male bereuen. Ganz einfach deshalb, weil ich es nun direkt mit meiner Mutter zu tun hatte. Wir konnten uns keine zweite Perle leisten, und Mrs. Morlar wurde dazu erniedrigt, sich selbst um mich zu kümmern. Diese Tätigkeit widersprach ihrer angeborenen Würde, und ich entdeckte sehr schnell, was das für mich bedeutete.« »Ihr Vater?« warf Zonfeld ein. »Knet in den warmen Händen einer kaltherzigen
Frau. Sie heiratete einen schneidigen Major und glaubte, damit das große Los gezogen zu haben. Hört sich an wie das Wortgeklimper eines zeitgenössischen Satirikers, wie?« »So ungefähr.« »Er war nicht durch einen Zufall der Geburt, sondern des Todes zum Rang eines Offiziers gekommen, nämlich durch den Prozeß der Elimination; es gab einfach nicht genug junge Söhne des Landes, so daß schließlich auch er an die Reihe kam. Nach dem Krieg bemühte sich ein jeder, aus der Armee entlassen zu werden. Er aber kämpfte, um dabei zu bleiben. Schließlich tat er sich mit einem anderen Ex-Offizier zusammen, um ein Import-Export-Geschäft zu betreiben, damals wie heute die letzte Zuflucht für Leute seiner Art. Das klappte zunächst so gut, daß der Major die Importseite dadurch erweitern konnte, daß er ein Revuemädchen aus der zweiten Reihe heiratete. Die Wahrheit ist, daß sich Mr. und Mrs. Morlar gegenseitig zum Narren hielten. Das ist das Rezept für eine erfolgreiche Ehe; zwei Parteien machen einen ernsthaften Fehler, und weil sie das nach außen hin niemals zugeben könnten, dazu sind sie zu blöd, halten sie es bis zum Ende miteinander aus. Es ist schwierig, sich ein tyrannischeres Wesen vorzustellen als ein zweitrangiges Revuemädchen, das weiß, daß es ein Star hätte sein können. Sie heira-
tet – was? Einen Gentleman und einen Offizier mit Medaillen und einem Zahnbürsten-Schnurrbart. Sie sieht sich bereits als eine wirklich feine Dame – dann findet sie heraus, daß Medaillen ihren Glanz verlieren und Barthaare ausfallen. Mehr bleibt ihr nicht. Arme Mutter – diese Hexe. Ich könnte Mitgefühl empfinden für ihre falsche Spezies, wenn ich nicht wüßte, wie tief sich dieser Krebs frißt – das kranke Verlangen, mehr zu sein, als man ist. Die Wirkung, die es auf diejenigen hat, die das Unglück haben, ihre Nächsten zu sein ... Ich erinnere mich an diesen Ferientag ...« »Henry!« Major Morlar wandte sich schon beim ersten Anruf herum, als hätte er soeben erst wahrgenommen, daß ein höherer Offizier vor ihm stand. Der Junge wußte, daß sein Vater verärgert war. Sie stand oben an der Treppe und rief hinunter, um den Eindruck zu erzeugen, daß sie es war, die wartete. Bloße Taktik in der großen Strategie, Henry Morlar kleinzukriegen. Meistens funktionierte es; nur gelegentlich vergaß er, die Lady gewinnen zu lassen, und ließ Erinnerungen aufkommen an die Sprache eines alten Droschkenkutschers, dem ein Omnibus in den Weg kam. Sein Mund öffnete sich zu einer häßlichen Öffnung,
aber er sah den Ausdruck des ernst dreinblickenden Jungen neben sich. Ein paar Augenblicke sah es aus, als versuchte er sich an ihn zu erinnern. Sein Sohn – ach ja – nun ... er störte natürlich – sehr. Diese Augen, so sehr wie die seiner Mutter; und wie oft hatte er ihre Augen schon verwünscht. Er schloß seinen Mund, lächelte fast besänftigend, aber der Junge wich seinem Blick aus. »Wir sind hier, meine Liebe!« rief er, laut und ohne jeden vernehmbaren Groll. Um so boshafter waren die Untertöne in dem Befehl an seinen einzigen Sohn und Erben: »Deine linke Socke ist verdrückt! Rück sie gerade, wenn du es nicht vorziehst, wie ein Straßenbengel auszusehen!« Der Junge beugte sich mechanisch hinab und zog an seiner Socke, und wie auf ein Stichwort erschien auch bereits die göttliche Delysia. »Nun, sind wir soweit? Hast du die Reisedecke in den Wagen getan, Henry? Ich kann die Fahrt nicht genießen, wenn meine Füße kalt sind – haben wir alles dabei?« Sie tastete über ihre kunstvoll aufgesteckten Haare, rückte ihren Clochemerle-Hut noch einmal zurecht und kramte in ihrer Handtasche herum. Während sich der Junge wunderte, wie aus einem verschlissenen Tischtuch eine Reisedecke werden konnte.
»Henry, bitte doch Mrs. Whistler, sich mit unserem Essenspaket zu beeilen.« Der Major murmelte etwas davon, daß Mrs. Whistlers Haushälterin eben dabei war, die Sandwiches zu richten, aber sie hörte sich noch immer selber sagen: ›Henry, bitte doch –‹ Es war das ›doch‹, das ihre Äußerung aus dem Allgemeinen und dem Bürgerlichen heraushob und in die Boudoirs der Lady Caravelle eindringen ließ, die von ihrem Butler James stets zu verlangen pflegte: ›Fragen Sie doch bitte seine Lordschaft, ob er mir die Gunst einiger Augenblicke seiner kostbaren Zeit zukommen lassen kann ...‹ In der Tat, das war noch einen Hieb wert. »Wie unangenehm – sie hätte sich auch beeilen können, um rechtzeitig fertig zu werden! Sie wußte doch, daß wir früh aufbrechen wollten, und jetzt sind wir hier und lassen uns all den wunderbaren Sonnenschein entgehen.« Aber er fehlt uns gar nicht – nein – nein! Mein Schädel brummt in der brütenden Hitze, und die blendenden Nebel vor meinen Augen lassen mich kaum etwas sehen. Gedanken verwandelten sich in Aktion, als der Junge einen Stein wegkickte, der unnatürlich langsam über die leere Straße auf einen Rinnstein zurollte. Der Stein fiel in die Tiefe eines Gullys und versank mit einem plumpsenden Geräusch im Wasser.
»Ich nehme an, du hältst so etwas für sehr geschickt.« Und sein Vater sagte: »Schuhe wachsen nicht auf Gummibäumen, mein Junge. Mach sie kaputt, und du kannst mit durchlöcherten Hausschlappen zur Schule gehen.« Er fügte beinahe hinzu, daß zu seiner Zeit sogar einige Jungen barfuß in die Schule kamen, aber vorher fiel ihm noch ein, daß er selbst einer von ihnen gewesen war. Der Zwischenfall mit dem Stein hatte sie beide irgendwie aus der Fassung gebracht. Irgendwie – weil sie beide nicht wußten, daß er das getan hatte. »Du kannst dich zur Abwechslung einmal nützlich machen. Lauf nach oben und hole meinen Sonnenschirm. Ich wußte ja, daß ich etwas vergessen hatte, aber niemand war in der Lage, mich daran zu erinnern. Nun lauf schon – was stehst du noch hier 'rum?« »Ja, Mutter.« Der Junge eilte aus der Reichweite ihrer zänkischen und streitsüchtigen Sphäre, zurück in die Dunkelheit, an den in Schwarz eingefaßten Medaillen vorbei, dem Schirmständer aus Bambus, der großen Topfpflanze mit schmutziggrauen Blättern und dem tyrannischen Messinggong. Er versuchte verzweifelt an den Seetang zu denken, so nah und so fern, während er sich tiefer in das erstickende Elend quälte, das mit verdrückten Socken und vergessenen Sonnenschirmen zu tun hatte.
»Oh, mein Gott ...« Sie sah der kleinen Figur nach, die in der Düsternis der Pension verschwand, und sie dachte, wie sehr er seinem Vater gleicht ... »Ich weiß gar nicht, wie wir zu diesem Träumer gekommen sind. Ich hätte ja noch gar nichts dagegen, daß er Dinge sieht, aber er gafft alles an wie so ein Blödian mit diesen Fischaugen und dem halb offenen Mund.« Major Morlar schloß hastig seinen eigenen Mund, bevor er wieder etwas zu sagen wagte. Aber er wußte, daß es zu spät war; und sie lächelte ebenso wissend wie ungemütlich. »Du bist zu hart mit ihm, Ethel. Er ist einfach etwas –« er schaffte es gerade noch, dieses schlüpfrige Wort aus der gestrigen Post herauszubringen – »etwas introvertiert.« Nicht daß er auch nur eine Silbe davon glaubte, aber das Wort war zu elegant, um vergeudet zu werden. Sie war überhaupt nicht beeindruckt. »Versuche nur nicht, mich mit unverständlichen Wörtern zu verwirren, Henry Morlar. Er ist ein geborener Idiot – und was wichtiger ist, ich weiß, von wem er das hat, und das ist eine Tatsache, die sich aus der Vererbungslehre begründet!« Der Major dachte an einen besonders schlechten Tag, damals im Jahr '17, und an die tödliche Gegenwart von Schlangen ...
Währenddessen betrat der junge Morlar zögernd das Zimmer, in dem sich der Sonnenschirm befand. Ein Mief aus Pomade, Rosenwasser und diversen Duftstoffen schlug ihm entgegen. Der Sonnenschirm war lediglich eine billige Pappausführung, nicht mehr als eine schon leicht eingerissene Imitation. Auf einen plötzlichen Impuls hin ging er bis zum Fenster, von wo aus er auf zwei Figuren hinabsehen konnte ... billige Imitationen von Eltern. Die Sonne fiel in seine Augen, und die Nebel waren in ein dunkles Rot übergegangen, aber er konnte durch sie hindurchsehen, und während er ihre Ungeduld beobachtete, spürte der Junge ein ganz merkwürdiges Gefühl, eine Art von Pulsieren ganz oben in seinem Kopf; nicht unangenehm, aber ein bißchen komisch. Als verwandelten sich seine Gedanken in einen prickelnden Fluß von Energie, bevor sie formuliert werden konnten. Oder so versuchte es jedenfalls Morlar Zonfeld zu erklären. »Aber ich erinnere mich an eines, Zonfeld – der einzige Gedanke, der durch die Barriere brach. ›Ich werde nie wieder deinen Sonnenschirm holen müssen.‹ War das nicht wirklich seltsam?« Zonfeld antwortete nicht sofort, da er damit beschäftigt war, Morlars genaue Worte zu notieren.
Aber ja, es war seltsam: Wenn er diesen Gedanken wirklich vor vierzig Jahren gedacht hatte. Er setzte vorsichtig an: »Sie hatten keine Vorstellung davon, was Sie damit meinten?« »Die Worte gingen mir an diesem Tag nach, und auch noch viele Tage später.« Zonfeld bemerkte das absichtliche Ausweichen. »Vielleicht dienten sie dazu, Ihre Aufmerksamkeit von sehr starken Gefühlen abzulenken – vielleicht Haß?« »Ich verstehe nicht.« »Haß auf Ihre Eltern«, erklärte Zonfeld. »Ist es das, was Sie annehmen, daß Sie es empfunden haben?« »Was ich annehme ... habe ich das nicht erklärt? Ich hatte ihnen gegenüber überhaupt keine Gefühle. Ich könnte vielleicht von Verachtung reden, aber es sind keine Gefühle enthalten in negativen Einstellungen gegenüber einer Beziehung.« »Gleichgültigkeit?« »Es ist eine Krankheit. Was ich definiere, ist der Tod im Leben.« Zonfeld forschte nach besonderen physischen Symptomen, aber Morlar bestand darauf, daß da nichts gewesen war: Masern, aber keine heftigen Kopfschmerzen, angestoßene Knie, aber keine epileptischen Symptome ... nur die blendende Sonne, ein roter Nebel, der sich zwischen seine Sicht und seine
Gedanken legte, und dieses seltsame Pulsieren in einem abgewandten Teil seines Bewußtseins. Morlar fuhr fort: »Mein Vater besaß eine kleine kastenförmige Vorrichtung auf Rädern, deren Hersteller aber darauf bestanden, daß es sich um ein Familienauto handle. Diese massenproduzierenden Leute haben dabei vermutlich an Kaninchen gedacht. Mrs. Morlar hatte angewiesen, es im Interesse öffentlicher Auftritte aus dem niedergehenden Geschäft zu retten. Selbst damals galt es in einem solchen Maße als sozial herabsetzend, kein Auto zu besitzen, als ließe man sich ohne Sarg beerdigen. Ich hasse die verdammten Dinger noch immer – nicht für das, was sie sind – sondern für das, was sie den Leichtgläubigen bedeuten.« »Und was bedeuten sie Ihnen?« erkundigte sich Zonfeld. Morlar ließ keine Zweifel. »Auswürfe aus dem After der Technologie. Henry Ford hatte recht. Die Geschichte ist nur leeres Geschwätz, aber seine Produkte helfen, sie in Durchfall zu verwandeln. Die Geschichte fährt mit hundert Stundenkilometern in den nächsten Sumpf. Das Bewußtsein formend wie eine Zwangsjacke auf vier Rädern – o ja – es verlangt die feinsten Qualitäten von seinen Lakaien – Toleranz, Liebe für die anderen Raser, eine zärtliche Besorgtheit für Kinder und wahre Demut gegenüber dem Um-
weltministerium. Ja – das Auto erzieht eine wunderbare Bürgerschaft, die sich nach einer letzten Fahrt in die große Katastrophe verzehrt. Ich will Ihnen etwas sagen, Zonfeld. Wenn ich vom Tod auf den Straßen lese, von Auffahrunfällen im Nebel, von Autos, die sich um Lampenpfosten wikkeln oder auf Verkehrsinsellampen spießen, von, Betrunkenen, die schreien, während sich das Lenkrad in ihre Brust bohrt, dann freue ich mich. Der Tod von Autofahrern ist für mich ein Grund zum Feiern.« Zonfeld hätte überwältigt oder entsetzt sein können über die in Morlar aufkommende Bösartigkeit, aber die Regeln des Spiels ließen das nicht zu. Er konnte seine Frage mit nicht mehr als akademischem Interesse stellen. »Unschuld – Schuld – machen Sie da keinen Unterschied?« »Ein anderes Mal, Zonfeld, werde ich Sie zum Thema von Schuld und Unschuld herausfordern – und ich werde Ihre Argumente in Fetzen zerreißen ...« Morlar hielt inne, sah auf das Gemälde von Magritte, das an der Wand hinter Zonfeld hing, befand sich aber in Wirklichkeit bereits ganz woanders. »Wir fuhren zu einem ziemlich vergessenen Flekken an der Küste von North Kent. Reculver. Wenig mehr als eine Kirche auf einer Felsenspitze, die zum Meer hinaus deutete. Zwei Türme schlossen sich an
die Westfront an. Eine Fassade, die alles sagte, was man über die Kirche von England zu wissen braucht. Im übrigen sind meine Erinnerungen an diesen Tag ziemlich nebelhaft. Es war zu kühl, sagte meine Mutter, zu heiß, dachte mein Vater, zu einsam und abgelegen, beschwerte sie sich, und so weiter. Im übrigen durchweichte Salat-Sandwiches und ihre Nörgeleien und ihre Befehle ...« »John! Geh nicht so nah an den Felsenrand, blöder kleiner – Henry, so sag doch etwas, um Gottes willen.« »Er beobachtet nur die Schiffe, meine Liebe. Laß ihm doch auch mal eine kleine Freude.« »Du wagst es, dich auf seine Seite und gegen mich zu stellen?« Er dachte, ich bin auf meiner Seite. Der kleine John wird sich um sich selbst kümmern müssen. Ich habe genug damit zu tun, mich um die Moneten zu kümmern – »Hast du mich gehört!« Natürlich hatte er gehört. Ach, zur Hölle – was war das für eine Welt – die von einer Hexe regiert wurde. »Ja. Er hat halt seinen Spaß.« Sie erbleichte vor Wut. »Er wird genug Zeit haben für sein Vergnügen, wenn dieses ganze Zeug weggepackt ist – muß ich
denn immer alles selbst machen? Es macht mich krank, daß ...« Es gab jede Menge von Dingen, die sie krank zu machen schienen, vor allem das Kind, das in kurzen Hosen vor den Picknick-Überresten stand. Er starrte auf die Kirchenruine und wünschte sich, er könnte sich gleich einem Geist auflösen und durch den zugemauerten Eingang schweben, um sich meilenweit durch die schönste Kirche zu bewegen, die er jemals gesehen hatte. Er bewegte selbst dann keinen Muskel, als die einem Strohhut ähnliche Maske zu brüllen begann – »Mach endlich deinen Mund zu, du Blödian!« Morlar senior sah sich vorsichtig um, um die plötzliche Stille zu erforschen, die seinem Schrei folgte. Der Junge stand ihm in der Sicht, ohne auf irgend etwas anderes zu achten als die Szenerie in der Ferne. Er lächelte, diese schwache Grimasse, die er so oft geübt hatte für Colonel Masons Witze in der Offiziersmesse. Aber es war verschwendet. Der Junge sah nur über seinen Kopf hinweg, und er hatte Witz genug, um diesen stummen Kommentar zu verstehen. »Da hast du es!« quäkte die triumphierende Stimme hinter ihm. »Komm und hilf mir, diese Sachen wegzuräumen, John! Hörst du mich?« »Ja – ich hörte sie. Aber ich hatte mich nicht damit vergnügt, auf die Schiffe zu starren ... da waren gar
keine. Ich vergnügte mich überhaupt nicht – so hatte ich nichts, um mich von meinen Gedanken abzulenken. Ich wandte mich um –« Zonfeld hörte auf, sich Notizen zu machen. Selbst der silberne Stift blieb unbewegt. »Was dachten Sie in genau diesem Augenblick – können Sie sich daran erinnern?« »Erinnern?« »Sie erwähnten Ihre Gedanken.« »Tatsächlich?« Zonfeld erhaschte einen Schimmer des Zurückweichens in Morlars Augen. »Was ist damit, Doktor?« »Es könnte von einiger Bedeutung sein.« Geduldig. Morlar betrachtete seine Hände und lächelte über das, was er zwischen den Linien zu lesen vermochte, blieb aber ruhig. Zonfelds sechster Sinn spürte so etwas wie das Fallen eines Vorhangs. Dann: »Nein, ich kann mich nicht an meine Gedanken erinnern.« Zonfeld nickte auf Morlars »Soll ich weitermachen?«, aber er wußte, daß da etwas gewesen war, was er vielleicht nie würde enträtseln können. Diese Augen ... Versunken in der Betrachtung der Kirche auf der Felsenspitze. »Der Wagen war hinter uns und zur linken Seite der Kirche geparkt. Ich nahm den Picknickkorb und
verstaute ihn im hinteren Teil. Weil es mir plötzlich einfiel, setzte ich mich auf den Fahrersitz und genoß eine Zeitlang die Aussicht. Ich erinnere mich an die unerträgliche Hitze, den Benzingestank. Die Zeit verlor alle Bedeutung, während ich sah ... und sah ... Wenig später spazierten sie zum Felsenrand, um mit einem letzten Blick Abschied vom Meer zu nehmen. Sie gingen Arm in Arm, verbunden durch Haß. Aber das war unwichtig. Ich wollte diesen Ort nicht verlassen – noch nicht. Ich bin nicht einmal sicher, ob er es wollte. Sie hatte darauf bestanden, zum Zwecke ihrer gewohnten Nachmittagsruhe zurückzukehren, die sie bitter nötig hatte, wie sie nie müde wurde, mich zu erinnern, durch die Nachwirkungen einer verdammt schwierigen Kindgeburt ...« Zonfeld schloß seine Augen und schwieg, während er sich die beschriebene Szene intensiv vorzustellen versuchte. »Pappfiguren, die diesen unglaublichen Himmel wie einen billigen Theatereffekt erscheinen ließen ... und dann – ich sah den Wagen – beobachtete, wie er langsam abwärts rollte, direkt auf sie zu ... sah, wie er allmählich schneller wurde, lautlos wie ein Hai, der durch die Tiefen schnellte ... ich sah, wie sie sich umwandten und ihm entgegenstarrten ... die Häßlichkeit der Münder, aufgerissen von der Furcht. Und dann war plötzlich nichts mehr da, was die Aussicht störte
– keine Eltern – kein Auto – und vor allem kein kindliches Elend mehr, dem ich entgegensah. Nur der schrille Schrei von einem Ex-Revuemädchen, ein letzter unerhörter Schrei an die Zeit, die flehentliche Bitte, alles zurückzudrehen und etwas anderes zu versuchen. Dann war auch das vergangen, und es gab nichts mehr, was die beglückende Stille störte.« Obwohl Zonfeld die Tragödie vorausgesehen hatte, störte es ihn, daß es eine so ganz unerwartete Form angenommen hatte. »Wo genau standen Sie, als der Wagen –?« »Ich weiß, was Sie denken! Aber Sie täuschen sich. Ich war einige Meter davon entfernt – nicht in Reichweite des Wagens ... er hat sich von selbst in Bewegung gesetzt – ein Fehler an der Handbremse – so etwas kommt vor.« »Ja, das kommt vor«, stimmte Zonfeld zu, aber er sagte das mehr, um sich selbst zu überzeugen. Cherry betrachtete Zonfeld, wie er in Gedanken auf Morlar starrte, versuchte die Spur einer Ahnung in dem abwesenden Ausdruck des Psychiaters zu entdecken. »Er beäugte mich, Inspektor, mit dem hintersinnigen Interesse einer Boa constrictor. Der Blick eines Reptils ... Natürlich wußte ich, daß er mir nichts gesagt hatte, was nicht auf eine rationale Weise erklärt
werden konnte. Wenn ich einer rein häuslichen Tragödie Bedeutung beimaß, so bezog sich das nur auf seine Sicht von dieser Bedeutung. Und dennoch spürte ich, daß da noch etwas mehr war ... Es tut mir leid, daß ich Ihre Zeit verschwendet habe, Inspektor.« Cherry sah ihn ehrlich überrascht an. »Wie kommen Sie denn darauf?« »Nun –« »Glauben Sie mir, Doktor, Sie haben mir sehr viel geholfen – und ich möchte auf jeden Fall noch den Rest der Morlar-Geschichte erfahren.« Er studierte und bewunderte Zonfelds Freiheit von jedem sichtbaren Gefühlsausdruck. »Glauben Sie wirklich, daß Ihnen eine Fortsetzungsgeschichte seines Lebens bei Ihren weiteren Nachforschungen dienlich sein kann?« »Glauben Sie, daß das nicht so ist?« Sie vereinbarten ein zweites Treffen für den nächsten Abend. Und Cherry nahm dankbar das Angebot des Psychiaters an, ein Tonband mitzunehmen, das eine Aufzeichnung der dritten Sitzung mit Morlar enthielt. Es war, wie er sagte, die einzige. Cherry kehrte mit unruhigen Gedanken nach Hause zurück. Er konnte Morlar kaum dafür verantwortlich machen, daß er sich zu sterben weigerte, was logischerweise die Notwendigkeit einer Mörderjagd
heraufbeschwören müßte. Formal war es ja noch nicht so weit – oder? Er langte nach dem Telefon und wählte eine Nummer. »Sein Zustand hat sich nicht verändert, Inspektor. Puls ungewöhnlich langsam – EEG ungewöhnlich hoch – ja, wir haben Ihre Nummer – ja, natürlich – gute Nacht.« Er wollte nicht sterben – der gefährlichste Mann der Welt. Für den er sich selbst hielt. Nein! Von dem Zonfeld annahm, daß er sich selbst dafür hielt. Was er von Zonfeld über Morlar zu erfahren vermochte, war nur so etwas wie ein Schattenbild, ein flacher Abdruck, ohne jede Räumlichkeit. Eine ganz andere Perspektive vermittelten dagegen Morlars Tagebücher. Cherry trank den letzten Rest seines kalten schwarzen Kaffees, um für die Lektüre der folgenden Stunden gewappnet zu sein. Heute Treffen mit L. Sie starten um 13.00 Uhr. Wir werden ja sehen. Ich habe heute ein Interview mit einem von ihnen gehört. »Ich bin einfach ein Mensch, der einen Job ausübt, und einen der größten, die es jemals gab.« Und noch mehr von diesem ekelhaften Gewäsch.
Erdbeben in Persien. Nicht weit von den großen Ölvorräten des Roten Meers. Es wird noch weitere geben. Diese Narren begreifen noch immer nicht, daß die Erdkruste ganz schön um sich schlagen wird, wenn man Mengen konzentrierter Vorräte aus der Tiefe holt. Oder vielleicht sind sie doch dabei, es zu schlucken. Warum sonst schicken sie einen Industrieseismologen in das betroffene Gebiet? Die Unschuld würde nur einen Kranz senden. Die Veränderungen im Nordseebett sind nur eine Frage der Zeit. Ich schätze, daß die ersten Erhebungen nördlich und westlich sein werden – im Bereich Islands. Vogelflügel sind mit Öl verklebt, das Leben wird von Zyanidabfällen und anderen chemischen Exkrementen gefährdet, die überall im Lande achtlos herumgeworfen werden. Hände fliegen hoch vor Entsetzen – und kommen wieder herunter. Die Köpfe der Kinder werden vergiftet mit den Vorzügen des zivilisierten Lebens. Ergebnis: Kinder tanzen mit dem Tod auf den Straßen, Kinder spielen mit Drogen, Kinder, vom Erleben der Gewalt konditioniert, werden der Ausübung von Gewalt beschuldigt – Kinder. Hände fliegen vor Entsetzen hoch und kommen wieder herunter in ihre Taschen, wo sie nach einem Groschen für die Rettet-die-Kinder-Stiftung kramen.
Soziologen faseln, leidet, liebe Kinder – und dann kommt zu uns. Wann werden diese Narren endlich begreifen? Die Kinder werden gezwungen, die zweifelhaften Voraussetzungen im Schulraum Fernsehen zu akzeptieren, wie früher jeder Dorftölpel die Kanzellügen der Priester schlucken mußte. Das junge Bewußtsein macht keinen Unterschied zwischen den Unehrlichkeiten einer Schulfunksendung, einer ToryVersammlung und den »erwachsenen« Fantasien, die aus der Box populi entfleuchen. Heute kein Zeichen von L. Vielleicht hat er es mit der Angst zu tun bekommen. Früher oder später müssen sie zwangsläufig darauf kommen, daß er geredet hat. So sehr ich auch die Tatsachen mit imaginärer Literatur verkleide, durch die sie sich gründlich durcharbeiten müssen, um zwei und zwei zusammenzählen zu können. Man muß sich fragen, was geschieht mit dem Mann, der zuviel weiß – und es sagt? Gerry Manders strebt mal wieder nach oben. Er spielt den hemdsärmligen Demagogen mit dem Flair eines verbannten Mönches. Ein radikal linker Politiker, Gott steh uns bei. Ein Volkstribun ist eine Sache, aber wo ist die linke Seite eines Korkenziehers? Sie scheinen sich wegen der Risse in der Westfront zu sorgen. Dahinter steckt mehr. Wir werden ja sehen.
Zonfeld. Es wird mir ein Vergnügen sein, ihm meine Sache zu beweisen, und wenn ihn das dazu bringen sollte, an die Decke zu springen. Drei von hundert Seiten. Ein Auszug aus den bittersten Kommentaren über eine unerklärliche Welt, von einem Mann, der melancholisch und vielleicht verrückt geworden war durch eine sich verstärkende Bewußtheit von den Feindseligkeiten des Lebens. Und dennoch ertappte sich Cherry dabei, häufig in weitgehender Zustimmung zu nicken. Wenn man von dem extravaganten Stil einmal absah, so verbargen sich doch zumindest Körner der Wahrheit in Morlars Ausführungen über Kinder und das Fernsehproblem. Seine Theorie, daß die Erdbebenkatastrophe mit der Ölgewinnung zusammenhing, schien zumindest plausibel, wenn von der Industrie beauftragte Seismologen mit der Sache zu tun hatten. Der erwähnte Start bezog sich offenbar auf die AchillesMondflüge. Es hatte schon zwei gegeben in diesem Jahr, aber da es sich fast um den letzten Eintrag handelte, mußte die Mission gemeint sein, die vor kurzem zu einer Katastrophe geführt hatte. Die »Risse in der Westfront« nährten seine Gedanken, aber es war nicht genug für eine komplette Mahlzeit. Der Bezug auf L. berührte ihn besonders, aber er
glaubte nicht an einen Fall von Erpressung, wie es Zonfeld nahegelegt hatte. Wie immer sich Cherry diese Worte besah, sie ergaben einfach keinen Sinn. Wer waren »sie«? Gehörten sie zu einer Organisation? Ein politischer Fall? Aber damit war er auch bereits am Ende seiner Spekulationen angekommen. Ihm fehlte vor allem etwas, was wirklich greifbar war. Er spannte Zonfelds Tonband in das Gerät, ließ es anlaufen und zündete sich noch schnell eine Zigarette an, während der Psychiater das Gespräch begann. »Ich frage mich, Mr. Morlar, ob es zu Ihrem eigenen besten ist, wenn Sie mich so unregelmäßig aufsuchen.« »Oh?« »Seit unserer letzten Sitzung ist schon ungefähr ein Monat vergangen.« »Behandeln Sie nach einem Zeitplan?« »Nein, aber es sollten keine zu großen Pausen entstehen. Ein gewisses Ausmaß an Kontinuität ist erforderlich, wenn ich in irgendeiner Weise von Hilfe sein soll.« »Ihr Desinteresse berührt mich. Einen Augenblick lang hatte ich gedacht, daß Sie es vielleicht vor Neugier nicht aushalten konnten.« »Ich sagte Ihnen – ich habe schon so viel gehört –« »Ach ja ... sicher. Dann möchte ich Sie nur bitten,
meine Unpünktlichkeit zu entschuldigen. Ich arbeite hart an etwas, was fast alle Stunden meines Wachseins in Anspruch nimmt.« »Sie betrachten Ihre persönlichen Probleme als zweitrangig?« »Vielleicht sind sie Teil meiner Arbeit.« »Das glaube ich kaum – oder Sie wären nicht hier.« »Belügen Sie sich nicht selbst, Zonfeld. Ich bin hier, um Ihnen etwas zu beweisen – und nicht umgekehrt.« »Ich weiß, was Sie mir unbedingt beweisen wollen – aber bis ich alle Tatsachen kenne –« »Können Sie nicht überzeugt sein, wie?« »Kann es keine Heilung geben, Mr. Morlar. Sie müssen verstehen, daß ich keine Urteile ausspreche, jetzt und auch später nicht. Möchten Sie aber, daß ich Schlußfolgerungen ziehe aus dem, was ich bis jetzt erfahren habe?« »Jede Beobachtung über das Verhalten eines anderen ist eine Art von Urteil – das läßt sich nicht vermeiden, Zonfeld. Aber unser kleines Geplänkel ist eigentlich unwichtig ... was folgt, resultiert ganz offensichtlich aus dem, was vorausgegangen war. Es mußte jemand gefunden werden, der die Verantwortung für den Waisen übernahm. Ich hörte zum erstenmal, daß mein Vater eine Schwester gehabt hatte. Sie hatte sich ganz gut durchgeschlagen und einen Geschäftsmann in Birmingham geheiratet, der kurz darauf
starb und ihr eine Ladenkette hinterließ. Da sie nicht wußte, was sie mit ihr anfangen sollte, verkaufte sie sie und kaufte sich eines der besten Tudor-Häuser im Lande Shakespeares – nicht weit von Shottery. Sie war damals vielleicht vierzig – eine dürre und trockene Parodie auf Eva, ein schäbiger Scherz des allerhöchsten Witzboldes ... und doch war da etwas mehr an ihr. Muß gewesen sein, denn sie war wohl so ziemlich das einzige Wesen, das ich beinahe liebte. Mir ist nie klargeworden, warum sie mich eigentlich aufnahm – es hatte so gut wir keine wirkliche Verbindung zwischen dem Major und ihr gegeben. Vielleicht suchte sie eine Antwort auf ihre eigene Einsamkeit. Das Haus war der wahrgewordene Traum eines Kindes. Man ging ins Bett, indem man durch das Gebälk einer alten Galeere kletterte; von der großen Treppenflucht aus schmeckte man das Meer. Die Wände waren mit dunklem altem Holz verkleidet, die Decke ebenfalls – jeder Raum hatte einen großen offenen Kamin. Meine neue Schule war nur zehn Meilen entfernt, eine nicht sehr gute Internatsschule des dritten Rangs und eigentlich schon reif zum Zumachen, als ich auf sie überwechselte. Tante Carrie bestand zum Glück darauf, daß ich nur wochentags dort lebte und an den Wochenenden nach Hause kam.«
»Bezahlte sie für Ihre Erziehung?« »Nein, der Major hatte sich ziemlich hoch versichert. Das Geld ging in Verwahrung, und meine Tante konnte es für mich verwenden. Die nächsten paar Monate verliefen eigentlich recht angenehm. Bridget, Vater, Mutter und die Picknickkörbe verloren sich ebenso aus meiner Sicht wie die Schnurstücke, abgebrochenen Taschenmesser und verdrückten ausländischen Briefmarken, ohne die die Taschen eines kleinen Jungen nicht vollständig wären. Für fast sechs Jahre mußte ich die zweifelhaften Vergnügen einer bürgerlichen Erziehung ertragen. Ich glaube, ohne die Wochenenden in Tante Carries Haus hätte ich kaum überlebt. Man kennt das ja: Julius Caesar war ein fähiger Mann, aber ein Schurke, weniger ermordet denn abgewählt. ›Und vergeßt nie, daß ihr Kanonenfutter seid, dazu bestimmt, den blutroten Flecken in euren Atlassen zu dienen.‹ Jahre, in denen ich sehr viel mitgemacht habe ... ich glaube, jeder Schuljunge hat seine bête noire: einen rabenschwarzen Schulmeister, nichts als ein Ekel ... Copley kam während meines letzten Jahres in St. Thomas Swinecoats an. Copley war schwul. Er lehrte Geschichte mit einem feinen Gespür für völlige Sinnlosigkeit: Wir mußten einen ewigen Kalender auf einer langen Papierrolle anfertigen, auf dem wir ein Datum nach dem anderen eintragen
mußten, von 55 v. Chr. bis zum Wiener Kongreß – er kam nie bis Waterloo ... Es war an einem Donnerstag – 1936, nehme ich an. Ein Novembernachmittag – der Winter begann bereits zu knurren und zeigte seine Zähne. Im Unterrichtsraum war fast noch weniger Wärme. Die dunkle Wandtäfelung vertiefte noch unsere gemeinsame Schwermut, während wir Copley zusahen, der affektiert auf und ab ging wie ein gefangener Pudel. Blonde Haare fielen zu beiden Seiten eines Mittelscheitels herab, und nicht unähnlich der Karikatur einer alten Krähe zog Copley gezierte Pirouetten durch den Raum und musterte seine gefangene Zuhörerschaft. Die meisten hatten ihre Augen auf ihn gerichtet – es gab nichts anderes, worauf man sie richten konnte. Aber wessen Profil war auf das einzige kleine Fenster gerichtet? Das war natürlich niemand anders als Morlar. Die blassen Lippen zogen sich zusammen und schmollten in einer zugleich männlichen und weiblichen Weise. Morlar! Zeit für eine Abrechnung mit ihm. ›Sehr schön‹, schnappte er mit seiner schrillen Fistelstimme, ›wir haben uns nun bis zum November 1095 durchgearbeitet, als das Konzil von Clermont die Christenheit verpflichtete, das Heilige Land zu verteidigen. Welcher von euch Vorkämpfern des
Glaubens, die Ihr dem Höheren verpflichtet seid, ist bereit, die acht großen Kreuzzüge zu benennen?‹ Eine merkliche Unruhe verbreitete sich. Copleys Blick ging über mögliche Opfer hinweg und stürzte sich dann mit der Zielsicherheit eines Falken auf das ausgewählte Opfer. ›Parsons! Da dein Vorname Walter ist und dein Vater ein anerkannter Finanzexperte, wird es dich vielleicht interessieren, einen Beitrag –‹ Ein paar Kicherer wurden laut; damals nannte das noch niemand unterdrückte Hysterie, verursacht durch Furcht – Copley war berüchtigt für seine ausgefeilten Techniken zum Zwecke psychischer Folterung. ›Jawohl, Sir – das heißt –‹ Unordentlich – der Binder hing schief – die Haare fielen ihm fast über die Augen – ein Ausdruck der Verlorenheit und Hoffnungslosigkeit. ›Jawohl, Sir – das heißt –‹ ›Das heißt, du hast mehrere Tage gehabt, um eine Antwort vorzubereiten, Parsons. Das heißt, ich habe dir einen Hinweis gegeben – was erwartest du mehr?‹ ›Jawohl, Sir – äh – Erster Kreuzzug 1096, geführt von Walter dem Mittellosen – äh ...‹ ›Ach, um Gottes willen, setz dich wieder, du machst mich noch krank mit deinen Stammeleien – Meacham, erleuchte uns, bevor ich all meine Geduld verliere.‹
›Selbstverständlich, Sir. Peter, der Einsiedler und Gottschalk, ein deutscher Mönch, waren unter den ersten, die einen Kreuzzug versuchten, aber sie scheiterten, da sie sich nicht genügend organisiert hatten. Der erste große Kreuzzug von 1096 kann in vier Abschnitte unterteilt werden.‹ Während Meacham selbstzufrieden sein auswendiggelerntes Zeug herunterspulte, beobachtete ich Copley, der seinen Liebling mit dem Ausdruck eines Päderasten beäugte, gefangen zwischen den Mühlsteinen des Verlangens und non possumus ... zumindest – noch nicht. Um meinen Abscheu zu verbergen, starrte ich aus dem Fenster – und wartete, bis ich an der Reihe sein würde. ›... und Gottfried von Bouillon wurde am 23. Juli 1099 zum König gewählt.‹ ›Großartig, Meacham – hervorragend.‹ ›Danke, Sir.‹ Eine Stimme, die vom Öl der Geschmeicheltheit nur so triefte. ›Tatsachen im Gedächtnis behalten, merkt euch das alle für euer Leben! Ihr werdet nie weit kommen, wenn ihr keine Tatsachen, Daten und Einzelheiten an euren Fingerspitzen kleben habt. Meacham hat euch ein Beispiel gesetzt, und nun wollen wir doch mal sehen, wie ihr daran vorbeikommt, den Zweiten Kreuzzug zu vermasseln ... Morlar?‹
Ich gab vor, ihn nicht zu hören. ›Morlar!‹ ›Sir!‹ ›Dürfen wir annehmen, daß du wenigstens körperlich unter uns weilst, wenn schon dein Geist andere Wege geht?‹ ›'woll, Sir!‹ ›Jawohl, Sir! Und was soll das nun heißen?‹ ›Daß Ihre Annahme zutrifft, Sir.‹ Jemand stieß mich von hinten an – eine Warnung, daß ich zu weit gegangen war. Aber das war mir egal; ich war reif für eine Konfrontation mit einem Mann, der uns mit seinem krankmachenden Sadismus schon fast ein Jahr lang das Leben zur Hölle gemacht hatte. Die anderen Lehrer waren nur wenig besser, aber man konnte wenigstens ein schwaches Verständnis für sie aufbringen und damit auch Mitgefühl für ihr enges kleines Leben, das sie aus mageren Gehältern bezogen, für ihren schlechten Tabak, für die Abfallhaufen ihres Wissens – abgetragene Hosen und Jakken, deren Ellbogenstücke kurz vor der völligen Auflösung standen; aber selbst wenn sie ihre Bitterkeit auf uns abluden, sie waren wenigstens Männer. Copley ließ die Pause lang genug werden, um eine möglichst große Wirkung zu erzielen. ›Versuchst du etwa, dich lustig zu machen, Morlar?‹
›Nein, Sir.‹ Und das stimmte, denn mir war es tödlich ernst. ›Dann will ich in meiner Großzügigkeit annehmen, daß du aus dem Fenster gestarrt hast, um dich an die dir bekannten Tatsachen über den Zweiten Kreuzzug zu erinnern.‹ ›Nein, Sir. Ich habe dem Gärtner zugesehen, wie er die Blätter zusammenfegte.‹ Meine Mitschüler schnappten hörbar nach Luft. Als Copley seine Stimme wiederfand, klang sie so fern und verquetscht wie das Quieken einer Ratte. ›Was hast du gesagt?‹ ›Tut mir leid, Sir – ich wußte nicht, daß Sie mich gefragt –‹ ›Gefragt! Was gefragt!‹ ›Ludwig der siebte von Frankreich und Kaiser Konrad begannen 1146 den Zweiten Kreuzzug und griffen 1149 Damaskus an. Die göttliche Vorsehung ließ Saladin, wie Sie wissen, 1137 Jerusalem einnehmen, obwohl ich da das Gefühl habe, daß er seinen Sieg besser hätte konsolidieren sollen, was immerhin eine Menge Blutvergießen und sechs weitere, äußerst langweilige und zeitverschwendende Kreuzzüge hätte ersparen können.‹ Das Gelächter wollte nicht mehr aufhören, aber ich wußte etwas über Pyrrhussiege. Dieser würde mich mehr kosten, als ich mir leisten konnte.
›Ruhe!‹ Das ließ das Gelächter erstummen. ›Morlar! Steh auf, wenn du mit mir redest ... nun – willst du mich absichtlich zum Narren halten?‹ Die Tatsache, daß ich nicht gleich antwortete, was ihm etwas Zeit zum Nachdenken ließ, verdoppelte sichtlich die Möglichkeit eines Schlaganfalls. ›Du sollst mir antworten!‹ ›Ich bin sicher, daß man sich nur selbst zum Narren machen kann, Sir.‹ Haß – was es aus dem Ausdruck eines Menschen machen kann. ›Wirklich ... schön – schön. Wie interessant. Es sieht so aus, als hätten wir die Spezies des Philosophen in unserer Mitte – sieh mich an, wenn ich mit dir rede!‹ Er sah zum Fenster, als der Wind die ersten Stöße des Regens gegen die Scheiben schlug. ›Du hast also zum Fenster hinausgesehen, während der Gärtner die Blätter zusammenfegte. Dann werde ich dir helfen, Morlar, deiner philosophischen Neigung auch weiter nachzugehen. Du wirst jetzt hinuntergehen und eintausendzweihundertundeinundneunzig Blätter aufsammeln, eine Zahl, die, wie du sicher weißt, dem Datum des achten und letzten zeitverschwendenden Kreuzzugs entspricht. Du wirst sie in meinen Arbeitsraum bringen, und wir werden sie zusammen zählen: Und wenn ich nur ein Blatt zuviel oder zu wenig finde, dann werde ich
dich verprügeln, daß du es für den Rest deines verpfuschten Lebens nicht mehr vergißt.‹ Es war eine besondere Herabsetzung. Bestandteil eines Systems, das in seine Opfer die Gewißheit hineinprügelte, daß es selbst dann, wenn sie selbst Autorität erlangen konnten, immer eine höhere Autorität gab, der sie sich unterordnen oder die Konsequenzen erdulden mußten. Offene Grausamkeit in diesen Schulen – sie ist eingebaut in die Befehlsstruktur von unten bis zur Spitze – man wächst mit ihr auf, lebt und stirbt mit ihr. Übertreibung? Denken Sie an den Jungen, der von seinen Internatsmitschülern über einem Feuer langsam zu Tode geröstet wurde. Die Eltern beschwerten sich nicht – das tun sie selten. Es gehört sich nicht, und außerdem verstehen und akzeptieren sie die Befehlsstruktur. Ich habe später zufällig gehört, daß einer der Täter Selbstmord begangen hat, weil er nicht in die nächste Klasse versetzt wurde.« »Aber Sie konnten sich durch genaues Zählen vor dem Verprügeltwerden retten.« Zonfeld. »Ach – wenn das Leben nur eine Frage des genauen Zählens wäre ... man braucht eine ausgeglichene Gesellschaft, um akzeptieren zu können, daß zwei und zwei vier ergibt ... Die Copleys dieser Welt sind zu gestört, um es einem so einfach zu machen. Ich kannte Copley und wußte, daß ich verloren hatte.
Das rauhe Wetter, der Regen peitschte in mein Gesicht, durchnäßte mich und raubte mir die Sicht. Die Boshaftigkeit des menschlichen Temperaments, die Häme, der Hohn ... auch das nahm mir die Sicht. Irgendwie schaffte ich es doch, ging in manischer Arbeitswut ganze Haufen von durchnäßten Blättern durch. Einmal sah ich zum Haus hoch und nahm Copley wahr, der am Fenster stand – mich beobachtete. Ich zählte bis zur genauen Zahl, zählte alles dreimal. Gott allein weiß, wieviele Stunden später – die Abendgebete waren längst vorbei – ich den Sack zu seinem Arbeitsraum hinauftrug. Er war schwer, ich war müde und durchnäßt, aber am schmerzlichsten war das Bewußtsein, daß doch alles umsonst gewesen war. ›Das geht nicht, Morlar – diese Blätter sind feucht. Ich kann damit doch nicht meinen Teppich ruinieren. Geh wieder und trockne sie.‹ Ich konnte meinen Ohren nicht glauben. Halb elf – mindestens drei oder vier Stunden – ich wartete darauf, daß er es sich anders überlegen würde. Aber er sagte nichts, sondern lächelte nur mit diesem leichten Verziehen der Lippen, das femininen Triumph ausdrückte. Aber ganz plötzlich verschwand das Lächeln. Er sah mich fast ängstlich an, und ich erinnere mich, wie er mit einer Hand in sein Gesicht fuhr. Eine merkwürdige, unerklärliche Geste.
›Was starrst du mich so an?‹ Weniger eine Frage – eher ein Ausruf. Ich nehme an, daß ich ihn weiter angestarrt habe. Ebenso unvermittelt schrie er: ›Verschwinde!‹« »Können Sie sich erinnern, was Sie in diesem Augenblick dachten?« »Erinnern? Nein ... ich erinnere mich nicht. Ist es wichtig?« »Sie starrten ihn an. Etwas in Ihrem Ausdruck machte ihn unsicher. Wie man jemanden ansieht, das ist das gleiche, wie man über ihn denkt –« »Nicht unbedingt – das Bewußtsein kann völlig leer sein – oder sich mit etwas ganz anderem beschäftigen –« »Nun – was geschah dann?« »Ich gehorchte natürlich. Suchte meinen Weg in das unterirdische Rattenlabyrinth von alten Kellern. In einem von ihnen befand sich ein riesiger alter Dampfheizkessel. Da waren auch große Mengen von Kohlen, Holz und gebündelten alten Zeitungen. Ich machte das Licht an und stieg in die Wärme hinab, fragte mich, wie so viel davon hier unten bleiben konnte, während es oben so kalt war. Ich hatte mir bereits eine Erkältung geholt, denn ich entsinne mich, daß ich trotz der behaglichen Wärme heftig zitterte. Tom, der Gartenarbeiter, hatte ein Feuer für die
Nacht gemacht. Ich öffnete den Abzug, so weit es ging, und warf etwas Holz hinein. Dann warf ich den Sack mit den Blättern in das weit offene Maul des Dampfkessels; und verließ den Keller. Während der Nacht brannte der größte Teil der Schule ab. Dreiundzwanzig Jungen und ein Lehrer kamen dabei im Feuer ums Leben.« »Copley?« »Natürlich!« »Wieso ›natürlich‹?« »Es waren seine Blätter. Wenn er mich nicht gezwungen hätte, sie zu sammeln, dann wäre diese ganze Sache nie passiert.« Es folgte eine Pause des Schweigens, während der Cherry seine Augen wieder öffnete. Aber er sah nur das hastig geformte Bild eines Psychiaters vor sich, der verzweifelt nach Worten sucht, bis ... »Mr. Morlar, ein Sack mit feuchten Blättern trocknet und beginnt zu brennen. Wie ist es möglich –?« »Das ist schon möglich. Ich ließ die Kesselklappe offen – das ergab genug Luftzug, um den Vorgang zu beschleunigen.« »War es Ihre Absicht – die Schule niederzubrennen?« »Was hat meine Absicht damit zu tun! Ich war krank – fiebrig. Wie kann ich in einem solchen Zu-
stand meine Gedanken zusammenhalten – oder mich gar später daran erinnern?« »Aber Sie entkamen?« »Ich war einer von vielen, die dem Feuer entkamen.« »Haben Sie sich verantwortlich gefühlt für diese Tragödie?« »Natürlich nicht. Ich sagte Ihnen bereits – er war selbst dafür verantwortlich.« »Sie waren der letzte, der ihn lebend sah?« »Nein – Meacham sah ihn zuletzt.« »Woher wissen Sie das?« »Sein Körper wurde in Copleys Bett gefunden – neben dem Copleys.« »Und wie lautete die offizielle Version?« »Tod durch Ersticken in den meisten Fällen – verursacht durch einen schadhaften Heizkessel.« »... Mr. Morlar, was wollen Sie mir damit sagen? Daß Sie tatsächlich an der Sache schuld waren, daß Sie wußten, was Sie taten?« »Ich gebe Ihnen nur die Tatsachen wieder, wie ich mich an sie erinnern kann.« »Aber Sie müssen doch einsehen –« Zonfeld brach ab. Cherry entging nicht der Unterton der Verzweiflung in seiner Stimme. Dann, mit den langsamen Formulierungen eines Mannes, der damit beschäftigt ist, seinem anderen
Selbst etwas zu erklären, was er selbst nicht begreift: »Sie hatten teil an zwei Unglücksfällen. Wie ich es verstehe, entstand bei beiden Fällen eine Lücke in Ihren Gedanken; der Ablauf der Gedanken wurde aufgehoben in den Augenblicken der Krise.« »Scheint so, ja.« Wieder eine Pause, beendet von Morlar: »Sie sind auf dem besten Wege, das Problem zu begreifen, Doktor.« »Ich – kann gut verstehen, daß Sie sehr betroffen waren von diesen Zwischenfällen –« »In der Tat! Sie wählen Ihre Worte mit einer solchen Sorgfalt, als hätten Sie den Mund voller Glassplitter. Zweifellos sind Sie darauf aus, diese ›Zwischenfälle‹ zu bloßen Reliquien meiner Kindheit zu erklären, die mit etwas Hokus-Pokus weggescheucht werden können, Es zu Es, Ego zu Ego – der Mensch, der im Zeichen Freuds geboren ist, hat für sein Leben nichts anderes als eine Hölle auf Erden zu erwarten. Zu einer anderen Zeit wäre mir mein nichtexistentes Gewissen vielleicht durch einen Priester geläutert worden, wie? Wieviele Ablaßzahlungen, um sich von den Erinnerungen an all diese Todesfälle und den zerstörten Picknickkorb zu befreien?« »Wenn Sie die Frage von Schuld und Unschuld stellen, dann müssen Sie sich an die Justiz wenden – das Urteil Ihrer Mitmenschen bemühen.«
»Sie verstehen noch immer nicht. Ich bin dabei, einen Geist aus der Tiefe zu ziehen – Zentimeter um schmerzlichen Zentimeter. Wie zum Teufel wollen Sie ihn austreiben, wenn Sie sich nicht beweisen lassen, daß er tatsächlich existiert!« »Wenn das alles wahr ist, was Sie mir gesagt haben –« »Wenn das, was Sie bis jetzt erfahren haben, schon alles wäre – glauben Sie wirklich, daß ich dann hier wäre? Es scheint doch, als hätte ich mir nichts vorzuwerfen – ich brachte den Wagen nicht zum Rollen – noch legte ich vorsätzlich Feuer an die Alma Mater –« »Und deshalb?« »Aha! Und deshalb, Doktor, muß es da etwas ganz anderes geben.« »Morlar ist soeben gegangen. Je nach der einzelnen Bedeutung zeichne ich unsere Sitzungen mehr oder weniger auf, als aide-mémoire. Ich füge diese Anmerkung hinzu, um mir selbst zu bestätigen, daß ich nie zuvor mit einem so komplexen Charakter zu tun hatte. Vor allem beeindruckt mich sein Glaube an die Einzigartigkeit seiner Erfahrungen. Erklärungen sind vieldeutig oder negativ. Entweder beschwört der Katastrophen herauf, oder der Wagen rollt zufällig über seine Eltern hinweg. In ähnlicher Weise lehnt er die Verantwortung für eine größere Tragödie ab, doch
man spürt, daß seine Ablehnung mehr vorgetäuscht denn real ist. Er redet von einem Geist, als ob ein solches Phänomen zu erschaffen wäre, wie man einen Cocktail mixt, indem man die verschiedensten Zwischenfälle als Bestandteile nimmt und sie sorgfältig verrührt. Im Augenblick kann ich nicht mehr tun, als ihm zu folgen, wohin er mich führt ... aber es ist eine Dunkelheit, die mir völlig unvertraut ist.« Sie wechselten ein paar Worte mit dem Portier, bevor sie den Lift bis zur achten Etage nahmen, um dann einen scheinbar endlosen Korridor entlangzugehen. Numerierte Türen in mathematisch genauen Abständen. Die Wände kremfarben, die Teppiche erdbraun. Der Gestank alter Rezepte hing in der Luft. Duffs Beobachtung entsprach dem, was Cherry dachte. »Die letzte Zwischenstation auf der Reise ins Leichenhaus. Ich verstehe nicht, wie Leute hier drin leben können.« »Auch eine Art zu leben. Für Leute wie Morlar bringt es das größte Ausmaß an Abgeschlossenheit.« »Zu teuer erkauft«, murmelte Duff. Der Inspektor wußte, was er meinte. Appartement 380. Während sie auf eine Antwort auf ihr wiederholtes
Klopfen warteten, ging die Tür gegenüber einen Spalt weit auf und ließ zwei blaßblaue Augen sichtbar werden, die sie aufmerksam musterten. Sie verschwanden wieder, und dann ging Penningtons Tür einen Spalt weit auf. »Ja?« »Inspektor Cherry. Wir kennen uns schon, Mr. Pennington.« Die Tür ging zu, und sie hörten das Rasseln einer Kette. Sie wurde wieder geöffnet, und sie traten ein, mußten warten, bis Pennington die Tür wieder geschlossen und mit der Kette gesichert hatte. Er lächelte entschuldigend. »Man kann nicht vorsichtig genug sein in diesen Tagen.« Cherry nickte mit ernster Miene. »Äh – folgen Sie mir, Inspektor. Hier verbringe ich die meiste Zeit – man hat eine schöne Aussicht auf die Gartenanlage – der Jumbo-Jet flog immer direkt über diesen Wohnblock hinweg – ich habe schon lange gesagt, daß das einmal schiefgehen mußte.« Der Inspektor hörte zu und sah sich in dem Raum mit den nachgemachten Biedermeier-Möbeln um. Über dem riesigen Fernsehapparat flog eine Schar von Gänsen quer über die Wand auf eine Glasvitrine zu, die mit zweifelhaften objets d'art vollgestopft war. Mit den Augen eines Schätzbeamten sah er das ganze Zeug, aufeinandergestapelt und mit Anhängern ver-
sehen, auf eine ferne Versteigerung warten, bei der es genug einbringen mochte, um für eine schäbige Beerdigung zu zahlen. Pennington selbst. Er sah krank und lebensunfähig aus, und schon gar nicht so, als könnte er selbst Leben nehmen. Eine Armesünder-Haltung verbarg sich zwischen den tiefen Linien der Unzufriedenheit. Nein, er hatte Morlar nicht umgebracht, aber er war von der Sorte derer, die offen aussprachen, daß sie diesen oder jenen unter die Erde wünschten. Vielleicht lohnte es sich, herauszufinden, warum. »Nur ein paar Fragen, Mr. Pennington.« Pennington legte die Zeitung beiseite, die er offenbar vor ihrem Eintreten zu lesen begonnen hatte. »Wir dürfen wohl annehmen, daß Sie Mr. Morlar nicht besonders mochten?« »Ach, der – ich hasse Mr. Morlar.« Eine interessante Feststellung. Jemand anders hätte gesagt: »Ich habe Morlar gehaßt.« Jemanden zu hassen, während man ihm noch immer den »Mister« gewährte, das schien auf die Mentalität einer Krämerseele zu deuten. »Sie leben von der Rente, Mr. Pennington? Waren Sie Ladeninhaben?« »Ja – ich handelte mit Tapeten.« »Man hat gewöhnlich gute Gründe für so ausgeprägte Gefühle – wie Haß.«
Pennington kaute auf seiner Lippe herum, während er zu der Zeitung hinübersah. »Ich habe ihn nicht umgebracht.« Cherry sah ebenfalls zu der Zeitung hin. Die Schlagzeile war ebenso einfach wie genial: Sieben vier sieben. Noch ein Opfer des Jumbo-Absturzes war in dieser Nacht gestorben. Es hätte Cherry nur wenig verwundert, wenn die Ziffern sich plötzlich bewegt und die magische Zahl 750 erreicht hätten. »Nein, das hätten wir auch nie angenommen.« Zum einen, hätte er hinzufügen können, weil er noch immer lebt. Zum anderen, er will noch immer nicht sterben. Warum wollte Morlar noch nicht sterben? Diese Frage war um so vieles faszinierender als ein Wortwechsel mit Pennington. »Andererseits, Mr. Pennington – alles, was wir über Morlar erfahren, könnte uns auf die Spur dessen bringen, der ihn zu töten versuchte.« »Er hätte es verdient, ohne Strafe davonzukommen.« Die Seele, dieser feingewobene Teppich aus unzerbrechlichem Glas ... Cherry hörte, wie es sich mit bösartigen Erschütterungen in Splitter auflöste. »Ich könnte Ihnen vielleicht zustimmen, wenn ich mehr wüßte.« »Da sollten Sie nicht mich fragen, Inspektor. Ich
hatte keinen Draht zu ihm. Eigentlich gab es niemanden, der ihn kannte.« »Das ergibt doch keinen Sinn, was Sie sagen, Mr. Pennington.« Der etwas schärfere Ton von jemandem, der keine Zeit zu verlieren hat. »Haben Sie jemals seine Augen gesehen?« Schon wieder! Cherry atmete tief ein und warf Duff einen schnellen Blick zu. »Man kann einen Mann doch nicht für seine körperlichen Besonderheiten verantwortlich machen.« »Ob Sie's glauben oder nicht. Es gibt Leute, die haben Dämonen in sich. Der Bischof hat das gesagt – sie übernehmen die Welt – und darum kämpft die Religion zurück – das haben sie auch im BBC gesagt, und die müssen es wissen. Wenn sie sie nicht austreiben, dann ist das Ende der Christenheit gekommen.« Cherry legte die Stirn in Falten, erschauerte fast, als wäre der Zeitgeist über sein Grab gepilgert. Ein Ausschnitt aus Morlars Tagebuch fiel ihm ein. »Was ich in meinem letzten Buch vorhergesagt habe, ist eingetreten. Die Kirche von England gräbt die Dämonologie wieder aus in einem letzten verzweifelten Versuch, die Gleichgültigen zurückzuschrecken in frommen Gehorsam. Wenn der Schäfer nicht länger mit einem Schäferhund überzeugen kann, dann terrorisiert er mit einem Werwolf.« Es hatte funktioniert. Mit dem Mann nebenan.
Der Mann nebenan, der gegen Zähne und Nägel kämpfte – falsche Zähne und Sargnägel – um sein Festhalten an den Dogmen des Mittelalters zu beweisen. »Ich bin selbst nicht besonders religiös, aber er war besessen, wenn es jemals jemand war. Dieser Bischof sagte, daß es viele von ihnen gibt – es lief einem kalt den Rücken hinunter, wenn man ihn nur ansah. Und ich sag's Ihnen geradeheraus, Inspektor, meine Grace würde noch leben, wenn er nicht gewesen wäre.« »Hat er sie etwa umgebracht?« »Na ja – nein. Nicht so, wie wenn man eine Pistole nimmt und abdrückt – oder so etwas. Aber es gibt mehr als eine Methode, um eine Katze zu töten.« Duff betrachtete mit sichtbarer Abscheu die Fruchtschale auf dem Tisch. »Fahren Sie fort, Mr. Pennington.« »Wir stritten uns wie jedes andere glückliche Paar. Ich bestreite nicht, daß Grace schwierig sein konnte, wie eben alle Frauen – aber sie war auch nicht schlimmer als die meisten. War nicht leicht für sie nach meiner Krankheit – die Ärzte sagten, ich wäre ein Rätsel – wir mußten das Geschäft verkaufen, und das bedeutete, daß ich ihr zu Hause den ganzen Tag im Weg war.« Er nahm die Zeitung auf. Die Zahl war noch immer die gleiche.
»Es war alles wegen dem Fisch, müssen Sie wissen.« »Fisch?« »Ich brachte an diesem schicksalhaften Tag ein paar Fische für das Abendessen mit, und sie behauptete, daß sie schlecht seien. Was sie nicht waren – es waren selten schöne Fische.« »Was für eine Sorte?« Duff versuchte die Geschichte in Gang zu halten; er hätte alles getan, um seine Gedanken von den Plastikbananen, -äpfeln und orangen in der Fruchtschale abzulenken. »Sorte? Kann ich mich nicht erinnern. Scholle, glaube ich.« »Ich glaube, ich sollte Sie daran erinnern, Sir – Sie haben um sechs eine Verabredung mit Dr. Zonfeld.« »Danke, Sergeant. Machen Sie weiter, Mr. Pennington.« »Nun – das ging den ganzen Nachmittag so weiter und bis in die Johnny-Lumpkin-Show hinein. Ich entsinne mich, besonders verärgert gewesen zu sein, weil ich die Johnny-Lumpkin-Show immer gern sehe. Aber sie hörte nicht von den Fischen auf, die angeblich schlecht wären.« »Sie stritten sich, während eine Fernseh-Show lief?« »Aber ja.« Pennington schien an Cherrys Intelligenz zu zweifeln. »Es ist ganz normal, daß man da seinen Fernseher aufdreht, denn dann hört niemand,
was ihn nichts angeht, oder? Nun – es wurde jedenfalls immer schlimmer. Ich weiß jetzt, daß Grace unter ihren Nerven litt, und außerdem schluckte sie zuviele Pillen. Ich glaube nicht, daß sie ihr halfen, und sie hatte auch nicht mehr das gleiche Vertrauen in den neuen Arzt, nachdem der andere Selbstmord begangen hatte. Jedenfalls, so gegen acht Uhr hatte die Auseinandersetzung ihren Höhepunkt erreicht. Ich werde nie vergessen, was sie mich da alles genannt hat. Und dann fing sie damit an, daß sie das nicht länger aushalten könne, daß sie endgültig genug hätte. Und das mit ihrer schrillsten, sich überschlagenden Stimme. Ich kann Ihnen gar nicht beschreiben, wie mir zumute war und wie ich dastand, als sie das Fenster aufriß – dieses hier – und schrie: ›Ich bin jetzt soweit, mit allem Schluß zu machen!‹ Sie kletterte tatsächlich auf den Fenstersims, wo jetzt die Vase mit den Blumen steht. Ich lasse sie dort stehen, als Erinnerung. Und während ich dastand und mich fragte, was ich tun sollte, hörte ich ihn von nebenan, Morlar, als er wie verrückt schrie: ›Also, in Gottes Namen, dann spring doch endlich und gönn uns allen einen Feiertag‹ – so was in der Art. Ich traute meinen Ohren nicht. Aber sie tat es – noch bevor ich mich bewegen konnte, war sie gesprungen und – und das war es.« Cherry unterdrückte sein unerklärliches Verlangen, zu kichern. Eine Geschichte von stinkendem Fisch.
Sie hatte die Untertöne einer schwarzen Komödie, so vorhersagbar, so völlig sinnlos. Aber Pennington trug noch immer die Maske der Trauer. »Und Sie glauben, daß er dafür verantwortlich war?« Er mußte schließlich etwas sagen. »Dieser Mann ist böse. Sie brauchen nur in seine Augen zu blicken, um das zu begreifen. Es wundert mich kein bißchen, daß ihn jemand umzubringen versucht hat.« »Sie haben Ihr Recht auf eine eigene Meinung, Mr. Pennington. Aber wir wollen doch versuchen, es einmal etwas anders zu sehen.« Pennington glättete seine längst nicht mehr vorhandenen Haare und schien sich überhaupt nicht über den Vorschlag zu freuen. Er konnte es nicht mehr anders sehen, da Grace von ihm gegangen war. »Was, würden Sie sagen, braucht ein Schriftsteller am meisten für seine Arbeit?« »Ein Schreibgerät und Tinte, nehme ich an.« »Und seinen Frieden und manchmal Ruhe. Diese Wände sind nicht gerade einen Meter dick. Glauben Sie, daß er seine Ruhe hatte, wenn Sie und Ihre Frau sich dauernd beim aufgedrehten Fernseher stritten?« »Nun –« »Hat er sich jemals bei Ihnen über den Lärm beschwert?« »Einmal.«
»Haben Sie es zurückgewiesen?« »Natürlich. Es ging ihn schließlich nichts an.« »Er reagierte also einfach auf eine unerträgliche Situation – etwas zu stark vielleicht, aber durchaus verständlich.« Es fiel Cherry leichter als vermutet, Morlar zu verteidigen. »Und schließlich – es gibt eine Menge davon.« »Eine Menge von was?« »Lärm. Und weil ein Mann Augen hat, Mr. Pennington, die Ihnen nicht gefallen, heißt das noch lange nicht, daß er von Dämonen besessen ist. Er will vielleicht nur – Ruhe und Frieden.« Es blieb nicht mehr viel zu sagen. Sie waren beide bestrebt, aus dieser dumpfen Atmosphäre zu entkommen, in der ein Mann alt wurde mit Brotresten, einem gelegentlichen Stück Schinken und einer Handvoll von Vorurteilen vom Bischof Soundso und dem ehrbaren Verbandsvorsitzenden Soundso ... »Da ist ein Geschmack in der Luft, den ich nicht mag, Duff.« Cherry erwähnte es, als sie im Lift nach unten schwebten. »Ist mir nicht aufgefallen, Sir.« Schließlich war jetzt Juli. »Ich meine, es passieren eine Menge unerklärlicher Dinge, die Leute in einer seltsamen Weise beeinflussen, und Männer wie Bischof Slurry und der Dekan helfen auch nicht viel mit ihren düsteren Andeutungen.«
»Niemand nimmt den Bischof ernst. Wie damals, als er geschworen hat, daß er den Teufel unter seinem Bett entdeckt hätte. Jeder wußte, daß es seine verkleidete Haushälterin war.« »Es gibt eine Menge von Penningtons in dieser Welt – in diesem Land. Ich konnte den Marterpfahl und die Folterbank in seinen Augen sehen. Es ist nicht mehr weit bis dahin.« Morlars Anwalt: »Wir sahen uns einmal im Jahr, wenn überhaupt. Es ging gewöhnlich um die Verträge – seine Bücher, Sie wissen schon. Er hatte keinen Agenten. Was für ein Mensch? Nun – es ist schwierig, jemanden wie Morlar zu beschreiben. Furchtbar zurückgezogen, ohne die Verbindung mit der Welt verloren zu haben. Er kam immer direkt zur Sache – seine juristische Vorbildung machte sich da bemerkbar – ließ nur wenig Raum für andere Gesprächsthemen. Und ich konnte einen autoritären Zug an ihm feststellen, obwohl er eigentlich antiautoritär eingestellt war – das ist nicht ungewöhnlich. An seiner Erscheinung gab es nichts Ungewöhnliches, außer vielleicht ... seine Augen, sie waren recht auffallend. Es ist vielleicht ein stumpfes Klischee, aber sie waren fesselnd, fast zwanghaft. Ja, er hat kurz als Anwalt gearbeitet – das ist eine
alte Geschichte inzwischen. Sie sollten vielleicht mal Quinton aufsuchen – King's Beach Walk. Sie kannten sich damals ganz gut, gemeinsame Referendarzeit und so. Quinton ist inzwischen Richter, aber das sollte ihn nicht daran hindern, sich an Morlar zu erinnern. Armer Kerl – ein viel zu frühes Ende. Ach ja, natürlich, es ist noch nicht so weit. Kämpft verzweifelt um sein Leben. Seltsam, Verzweiflung ist etwas, was ich bei Morlar nie vermutet hätte.« Ein Anruf ergab, daß Richter Quinton nicht in der Stadt war und nicht vor morgen zurückerwartet wurde. »Wer bitte, soll ich sagen, hat angerufen?« Nutzlose Versuche. Cherry wußte es, und Duff spürte es in dem Schweigen, während sie den Yard betraten und mit dem Aufzug zu ihrem Büro hinauffuhren. Wo sie eine Notiz vom Kommissar-Stellvertreter vorfanden. »Kommen Sie bitte in mein Büro, sobald Sie zurückkehren.« Es schien an Cherrys unmittelbarem Vorgesetzten vorbeigegangen zu sein. Dazu war nichts weiter zu sagen. Ein sechster Sinn warnte sie beide: Dieser Zettel bedeutete mehr als einen Routinegang nach oben, »um den Alten informiert zu halten«. Es hatte mit Morlar zu tun. Mehr, als Cherry hätte vermuten können.
»Setzen Sie sich, Cherry.« Die ganze Aufmerksamkeit des Vize-Kommissars schien auf die Papiere auf dem Schreibtisch vor ihm gerichtet zu sein. »Morlar lebt noch immer?« Cherry dachte, während er mit Ja antwortete, noch ein Mann hinter einem Schreibtisch. Er gehörte eigentlich nicht dorthin – er war ein Mann des Handelns, aber er fragte sich auch, warum Sir John noch immer nicht aufsah. »Geht alles in Ordnung? Keine Schwierigkeiten?« »In der Morlar-Geschichte, Sir?« »Was sonst?« »Es geht so gut, wie man es erwarten kann.« Sein Chef sah jetzt endlich in seine Richtung. »Sie haben also Schwierigkeiten?« Cherry sah verwundert und ablehnend drein, machte auch nicht den Versuch, seine Gedanken zu verbergen. Wann, zum Teufel, gab es keine Schwierigkeiten? Der Vize-Kommissar hatte sich noch nie so undeutlich ausgedrückt. »Er wird sterben, nehme ich an.« »Die Frage ist nur noch wann, Sir.« »Ihr Bericht – glauben Sie, daß Sie in der Sache richtig verfahren?« Das war es also, schloß Cherry fälschlicherweise: Unzufriedenheit mit seinem Vorgehen in diesem Fall.
Das Tragische war, daß diese Frage auch seine eigenen geheimen Zweifel zu wecken begann. »Ja, das glaube ich.« »Dieser Zonfeld – ist er verläßlich?« »Er ist dazu ausgebildet worden, genau und gründlich zu beobachten.« »Sie geben in Ihrem Bericht selbst zu, daß vieles von dem, was er Ihnen sagt, nutzlos sein könnte.« »Viel ist noch nicht alles, Sir.« »Wer sagt das?« »Ich.« Das Lächeln Sir Johns signalisierte so etwas wie Nachsicht. »Machen Sie es, wie Sie es für richtig halten. Aber sagen Sie mir, was Sie von dieser Geschichte eigentlich halten.« Cherrys Gedanken beschäftigten sich mit dem Stapel von Büchern in orangefarbenen Schutzumschlägen auf einem kleinen Tisch unter dem Fenster. Morlars Bücher, hier ziemlich fehl am Platz. »Das alles gehört in ein Buch, Sir.« Bevor er sich korrigieren und eine rationalere Antwort geben konnte, ließ ihn die Reaktion des Vize-Kommissars in erstauntes Schweigen fallen: ein langsames Nicken, das so etwas wie gedankliches Einverständnis signalisierte. Untypisch. »Ja ... nun ... Ich sage es Ihnen am besten gleich. Wir sind da auf etwas gestoßen, was wir vermutlich
beide nicht verstehen werden – ich habe zumindest eine vage Vorstellung, aber –« Cherrys Verwunderung steigerte sich. Wann hatte der Vize-Kommissar jemals eine eigene Feststellung mit »zumindest« relativiert? »Sie wollen die Tagebücher haben, Cherry.« »Sie wollen –« »Nun kommen Sie schon, Mann – ich muß es Ihnen doch wohl nicht buchstabieren! Sie wissen verdammt genau, wer ›sie‹ sind, und was ich mit den ›Tagebüchern‹ meine.« Dieser Ausbruch zeigte an, daß es tiefere Unruhen gab, von denen vielleicht noch mehr zu erwarten war. »Ich sehe nicht, welchen Nutzen sie aus Morlars Tagebüchern ziehen könnten.« »Sie brauchen uns keine Gründe dafür anzugeben.« Cherry wartete. Für den Augenblick wollte er nicht mehr als das sagen, was notwendig war. Aber die Innenflächen seiner Hände begannen zu schwitzen. »Die Subversiven, die Umstürzler, Cherry. Sie wissen oder wissen vielleicht auch nicht, daß sie jetzt als eine größere Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung gehalten werden als Kriminelle.« Diese Tatsache war der Aufmerksamkeit des Inspektors nicht entgangen. Noch immer sagte er nichts. »Wußten Sie, daß sie eine Akte über ihn führen?«
Cherry schüttelte den Kopf. Wie sollte er das auch wissen? »Soweit ich das beurteilen kann, sind sie auf dem neuesten Stand – sie wissen von seinen Konsultationen bei Zonfeld. Sie werden Zonfeld befragen, wenn sie so weit sind.« Dieser Ärger, wenn man entdeckt, daß man Konkurrenten hat. Dieser Ärger, wenn man entdeckt, was für Konkurrenten. Zum Teufel, das war zuviel, den Gestank der Politik in die übelriechende Umgebung des Verbrechens einzubringen; aber hatten nicht alle Zeichen in eine Richtung gedeutet, die auf einem gewöhnlichen Kompaß nicht zu finden war? »Wie haben sie das mit den Tagebüchern herausgefunden, Sir?« »Wie finden sie überhaupt etwas heraus? Wenn wir nur die Hälfte ihrer Methoden benützten –« Er brach ab und zuckte mit den Schultern. Cherry hörte sich selbst, wie er einwandte: »Aber er ist ein Autor.« »Was hat das damit zu tun! Solschenizyn ist auch ein Autor.« »Er ist außerdem Russe.« »Und Sie sind außerdem blutig naiv!« Eine Pause, um die Stimme wieder auszugleichen, und dann: »Ich mag das ebensowenig wie Sie, aber wenn wir uns jetzt nicht gewissen Tatsachen stellen, dann werden
wir später überhaupt nicht mehr wissen, was wir mit ihnen anfangen sollen. Wie ich es verstehe, schrieb Morlar ziemlich folgenlose Bücher – bis zu seinem vierten Roman. Dann begann er Sachen mit einem ziemlichen politischen Beigeschmack zu schreiben. Sein Tatsachenmaterial war beunruhigend – und diente unbestreitbar dazu, seine Angriffe auf all das zu verstärken, was er für die Bestandteile einer dekadenten Zivilisation hielt. Das ist heutzutage subversiv – die herrschenden Mächte können das Land nicht führen, wenn Leute wie Morlar ihre Nase in jede ihrer Unternehmungen hängen. Selbst die BBC war aufgebracht – sie mochte natürlich nicht die Kritik, die bewies, daß sie sich auf eine subtile Weise in das vergoldete Mikrofon verwandelte, das keine Regierung entbehren kann – sie kochten in aller Eile eine ihrer pseudo-intellektuellen Serien zusammen, ›Der Untergang des englischen Romans‹. Es sollte offenbar eine Art von Gegenangriff sein.« Cherry wies darauf hin, daß es keine eigentliche Zensur gab. »Keine eigentliche – genau. Die braucht man auch nicht. Wir sind schließlich nicht so blöd, so von der Freiheit zu reden, wie wir es tun, und dann den Leuten zu sagen, daß sie nicht schreiben können, was sie wollen.« Sir John legte eine Pause ein, genau lang genug, um
die Worte das ausdrücken zu lassen, was nicht deutlicher gesagt werden konnte. »Also kauft man sich, was es nicht geben darf. Das ist der älteste Trick in diesem Spiel. Morlar war nicht sehr weit bekannt aus dem einfachen Grund, weil seine Bücher niemals verkauft wurden – nicht an das allgemeine Publikum.« »Aber die Rezensenten?« »Die Rezensenten brauchen Butter, um sie aufs Brot zu schmieren.« Kurz und knapp. Warum Zeit verschwenden für das Offensichtliche? Aber Cherry verstand nun endlich, warum er so wenig über Morlar wußte. Irgendwie hatte es Morlar nie gegeben – in Buchform. »Was uns zu den großen Schmerzen unserer geheimen Freunde zurückbringt«, fuhr der Vize-Kommissar fort. »Wie kam Morlar zu so genauen Informationen über das innere Räderwerk der Demokratie, über Dinge, die keiner von uns wissen sollte? Das ist der Grund, warum sie so scharf auf seine Tagebücher sind, um die Tiefe des radikalen intellektuellen Bewußtseins auszuloten, wie es einer von ihnen formuliert hat.« »Aber Morlar ist weder ein Radikaler noch ein Intellektueller.« »Wieso sind Sie dessen so sicher?« »Wenn ich sagen würde, daß er ein Apostel der Negation ohne Anarchie ist, ergäbe das einen Sinn?« »Nein.«
»Dann werde ich Ihnen die Tatsachen geben, wie er sie meines Erachtens sieht. Er ist gegen die Politiker – den ganzen Haufen. Er haßt die Kirche – in allen Spielarten. Er verachtet die Arbeiter, weil sie die blinden Schöpfer ihres eigenen Unglücks sind. Nach Morlar hätte jeder Narr die Schwierigkeiten vorhersehen können, die den Bergleuten, Werftarbeitern und Eisenbahnern gemacht wurden. Sie hielten es einfach nicht für nötig, über die Lohntüte der nächsten Woche hinauszusehen. Er haßt das Bürgertum, weil es im Wesen faschistisch ist. Der Rest der Gesellschaft ist nicht einmal der Erwähnung wert.« »Was mag er dann überhaupt?« »Seltsam genug, aber es gibt schon einige Dinge, für die er eine Vorliebe hat. Er kann die Schmutzschleuder mit einem Satz entlassen und drei Seiten mit seinen Gedanken über einen blauen Aprilhimmel füllen.« Sir John lehnte sich zurück und besah sich die Pfeife in seiner Hand. Ein nutzloses Artefakt. Er rauchte sie nie, aber sie war immer da. Wie Zonfelds silberner Stift, etwas, an dem man sich festhalten konnte. Vielleicht versuchte er sich Morlars blauen Himmel vorzustellen, der drei Seiten wert war in einer Welt, in der die Zeit mehr zählte als alles andere. »Und was schließen Sie aus all dem?« »Ich glaube, er beklagt das Verschwinden einer bestimmten Art von Menschen. Die Art, die weniger
Zeit damit verbrachte, die Vorzüge von Deodorants zu vergleichen, die weniger Energie aufwandte, um sich in einem potentiellen Schrotthaufen auf vier Rädern neurotisch zu fahren, die niemals die Segnungen eines elektronischen Kastens in einer Zimmerecke kannte, die nie von der Gnade eines kommerziellen Systems abhängig war, das Konsumenten in Idioten mit spottbilligen Instinkten verwandelt – die Art des Menschen, der Spekulation und Ausbeutung erkennt, wenn sie auf ihn zukommen, und der um seines Selbstrespekts willen die Straße überquert.« Schweigen, während der Vize-Kommissar die Zusammenfassung verdaute. »Sie scheinen diese Tagebücher ziemlich gründlich gelesen zu haben.« »Unmöglich, Sir. Es sind fünfzehn Stück – je zweihundert Seiten in kleiner und enger Schrift. Zwei Wochen ununterbrochener Beschäftigung damit könnten gerade reichen.« »Aber von dem her, was Sie kennen, läßt sich sagen, daß er kein Subversiver ist?« »Ja.« »Nun, ich muß Ihnen da etwas anderes sagen, Cherry. Er ist das gefährlichste Muster an Unzufriedenheit, mit dem diese Leute zu tun haben.« »Er ist nicht der Typ, der sich organisieren würde, Sir.«
»Verdammte Organisationen! Glauben Sie, das wüßten die nicht auch? Es ist Ihr individualistischer Einzelgänger, unberechenbar, weit von all den schikken intellektuellen Cliquen entfernt, der den größten Schaden anzurichten in der Lage ist. Morlar ist das noch immer lebende Beispiel eines Mannes, der für sich selbst denkt. Ich meine, er benützt seine graue Materie ohne Bezug auf die graue Materie anderer Leute. Er widersteht dem Druck der Meinungsumfrageergebnisse und der Massenmedien, und das ist Häresie, mein Freund, oder Sie kennen sich nicht aus in der Zeit, in der Sie leben.« Aber Cherry kannte sie gut genug, um zu wissen, daß er jetzt auf Morlars Seite stand. Er sah noch einmal auf den Stapel der orangefarbenen Bücher. »Das ist interessant. Sein Anwalt sagte, er hätte Schwierigkeiten gehabt, Exemplare zu bekommen. Aber würde der Verlag nicht bemerken, was geschieht?« »Ich werde Ihnen ein billiges Geheimnis verkaufen, Inspektor. Es gibt eine gewisse Firma – Namen lassen wir mal aus dem Spiel –, die mit denen ganz oben zusammenarbeitet, indem sie Großbestellungen aufgibt. Die Verlage beliefern sie, und schon bald sind sie auf hundert Exemplare herunter. Auf dem Papier verkauft er sich, scheint ganz gut zu laufen ... aber das meiste davon geht in einen Heizkessel, und niemand erfährt mehr darüber.«
Ärger, Frustration: Cherry spürte eine Bitterkeit, und nicht nur Morlars, sondern ebenso seiner selbst willen. »Ich frage mich, ob er es wußte.« »Besteht kein Grund zur Annahme, daß er von gestern war.« Schlecht für Morlar. »Die Frage ist, was unternehmen wir jetzt?« Er lächelte grimmig über Cherrys sichtliches und grenzenloses Erstaunen. Ja – ich frage Sie – glauben Sie vielleicht, meine Position flüstert mir immer die richtigen Antworten ein – glauben Sie vielleicht, Gott flüstert in mein Ohr, weil ich seine Zehn Gebote befolge? Das Lächeln sagte alles. »Kann ich Sie etwas fragen, Sir?« Ein kurzes Nicken, das besagte, daß es zumindest eine wichtige Frage zu sein hatte. »Verschwende ich meine Zeit, indem ich nach dem Mann suche, der Morlar angegriffen hat?« Der Vize-Kommissar zog hörbar den Atem ein. Eine gute Frage. »Das ist nicht ihre Art, die Dinge zu erledigen – noch nicht.« »Und wir werden den Fall nicht an sie übergeben?« »Es ist noch immer ein Kriminalfall.« »Was wollen sie dann –?« »Sie wollen zunächst nur die Tagebücher.« »... ich verstehe!« Cherry fühlte sich wie ein Blin-
der, der nach einer Straßenüberführung suchte. »Und – werden wir mit ihnen teilen?« Er blieb ausdruckslos, eine stumme Form des Vorwurfs. »Ich weiß, was Sie denken, Cherry, aber Sie täuschen sich. Das ist nach wie vor Ihr Fall. Alles, was mit Morlar zu tun hat, liegt in Ihrer Hand. Auch die Tagebücher. Wenn sie wichtig für Ihre Nachforschungen sind, dann können sie spurlos verschwinden und in der Themse untergehen. Was sonst hätten Sie von mir erwartet!« Keine Frage, sondern eine nachdrückliche Feststellung: Schätzen Sie mich ja nicht falsch ein. »Ich benötige diese Tagebücher.« »In Ordnung. Die anderen können sie haben, wenn Sie mit ihnen fertig sind.« »Nachdem wir Mikrofilme von ihnen angefertigt haben, Sir?« »Natürlich.« Cherry saß wieder Zonfeld gegenüber, in der entspannten Atmosphäre des Raums, der ihm bereits vertraut geworden war. Zonfeld wirkte alles andere als entspannt. »Beunruhigt sie etwas, Dr. Zonfeld?« Er lächelte unverbindlich. »Wir haben alle unsere Probleme, Inspektor.«
Cherry nickte langsam, während er sich an Duffs Report erinnerte. Zonfeld, Karl Friedrich. Geboren Salzburg 1911. Abschluß in der medizinischen Fakultät 1936. SeniorSekundärarzt 1937. Konzentrationslager 1939. Entlassen 1945. England 1946. Britische Staatsbürgerschaft. Abschluß in Neurochirurgie. Später spezialisiert in Psychiatrie. Heiratete früheres Fotomodell, Hilda Verreker, 1964. Das war vielleicht der Kern von Zonfelds Problemen. Nach dreißig pflegten Modelle, ähnlich wie Athleten, ihre Proportionen zu verlieren. »Morlar?« erkundigte sich Zonfeld. »Lebt noch immer.« Zonfeld atmete tief ein und begann: »Er kam ein paar Wochen später wieder und zerstörte damit noch einmal meine Überzeugung, daß ich ihn zum letztenmal gesehen hatte. Inzwischen war es mir gelungen, an seine Romane zu kommen –« »War das schwierig?« »Sehr. Im Endeffekt mußte ich drei von ihnen direkt bei seinem Verleger anfordern.« »Ich verstehe.« Cherry dachte an den Stoß von Büchern auf einem Tisch irgendwo im Scotland Yard. »Sie gaben Ihnen einen allgemeinen Eindruck von – was?« »Routine – er wußte mit Worten umzugehen.«
»Um Ideen zu vermitteln?« »Ziemlich überraschende Ideen. Seine Ansichten über das Leben sind recht ungewöhnlich.« »Sie sprachen also mit ihm über seine Bücher.« »Ja, aber er ging nur sehr zögernd auf dieses Thema ein.« »Ich habe in der Zwischenzeit Ihre Romane gelesen, Mr. Morlar.« »Nun? Sie sind verdammt gut, wie?« »Ja – sie sind wirklich sehr gut. Kraftvoll.« »Und was haben Sie dabei über mich herausgefunden?« »Herausgefunden?« »Nun kommen Sie schon, Sie werden mich doch nicht glauben machen wollen, daß Sie sie nur gelesen haben pour passer le temps!« Zonfeld zögerte kurz, bevor er sich entschied, sich zunächst einmal mit einer Halbwahrheit zu behelfen. »Sie müssen wissen, daß ich fast gar nichts über Sie herausgefunden habe.« »Ja – ganz richtig – man sollte etwas immer nur als das lesen, als das es geschrieben wurde. Der gute Autor hat nur teil an dem Vorgang, hat nichts zu tun mit der Entwicklung, mit dem Inhalt.« »Ich glaube aber, in irgendeiner Weise wird sich ein Autor doch immer in seinem Werk wiederfinden.«
»Wenn sie Der grüne Feind gelesen haben – das war mein erster – dann könnten Sie mich vielleicht in Leutnant Pickering wiedererkannt haben. Er haßte die Armee, und die Armee haßte ihn.« »War das nur eine oberflächliche Ähnlichkeit?« »Natürlich – und der Zwischenfall, mit dem die Handlung abschließt – das hat fast nichts mehr mit der wirklichen Geschichte zu tun, das kann ich Ihnen versichern.« »Zwischenfall?« »Ein Teil meiner Geschichte.« Zonfeld glaubte zu wissen, worauf Morlar hinaus wollte. »Das wird nicht gehen, Mr. Morlar. Sie wollen eine Art von Verhaltensmuster bestätigt wissen, das auf gewissen Erfahrungen aus Ihrer Vergangenheit basiert. Das kann ich ja verstehen, aber im Krieg ist ohnehin für jeden Beteiligten die Welt aus den Angeln. Wo ist die ›Normalität‹ im Geschäft des Tötens und Bombens?« »Dem kann ich nicht zustimmen. Der Krieg ist die einzige Wahrheit, durch die Menschen leben und sterben. Die Ironie besteht dabei nur darin, daß sie sich dieser Tatsache nicht bewußt sind. Warum warfen unsere primitiven Vorfahren Steine auf ihre Feinde, wenn nicht aus der ökonomischen Notwendigkeit heraus, die Reichtümer der Natur unter eine begrenzte Anzahl von Menschen aufzuteilen?
Die Zivilisation, Zonfeld, ist nur ein Gebilde, um unangenehme Wahrheiten zu verkleiden. Das Kind in Londonderry wirft nicht nur Steine auf Soldaten, weil es die Fantasien der Älteren nachlebt, sondern es nimmt damit grundlegende Wahrheiten auf ...« Zonfeld wollte eine weitere Unterhaltung über dieses Thema unbedingt vermeiden. »Dieser – Zwischenfall?« »Mein Leben verlief bis zu den Kriegsjahren ziemlich ereignislos. Tante Carrie schickte mich nach dieser ›Tragödie‹ auf eine andere Schule, die weniger weit weg war. Sie hatte noch immer einen wichtigen Einfluß auf mich, und ich nehme an, daß ich vieles, was ich bin, im Grunde ihr verdanke. Sie starb kurz vor dem Krieg – Anfang '39 – und ich erbte alles. Aber ohne sie war alles nicht mehr wie zuvor ... Ich war gerade alt genug, um den Anforderungen zu entsprechen. Zwei Jahre einfacher Dienst, bis sie entschieden, daß ich gutes Offiziersmaterial wäre, Gott weiß warum. Mit einer Art von Schnellkursus machten sie mich zum Unterleutnant – mehr, als ich wert war, und das höchste, was sie mir zunächst mal zutrauten.« »Sie waren nicht von den Kriegszielen überzeugt?« »Sie machen wohl Scherze. Was für einen verdammten Unterschied hätte das gemacht? Ich ertrug diese entsetzlichen Jahre, wie ich den schwulen Co-
pley ertragen hatte. Meine Einstellung – weder ein Gefolgsmann noch ein Führer zu sein ... es macht einem das Leben manchmal schwer. Bis '44 machte ich keine Kämpfe mit, als dann unser Regiment einen wirklich schmutzigen Job bekam, sozusagen als Kompensation dafür, daß wir noch nicht tot waren. Wir sollten die Japs zurückdrängen – von der Burmastraße fernhalten. Nicht, daß wir jemals den Grund dafür herausgefunden hätten. Aber es war jedenfalls das, wofür wir ausgebildet worden waren. Dann und wann bekamen wir den Befehl zu einem Ausflug in den Dschungel – wir sollten die Japs auslöschen, die wir etwa so deutlich sehen konnten wie Atome in einem Reaktor. Wir waren vierundzwanzig. Ich war wie gewohnt zweiter Offizier, Leutnant Peters war Nummer eins, und die moralische Unterstützung wurde gewährleistet von Sergeant Horrocks – einem schnauzbärtigen Kerl aus der alten Schule, rauhe Schale und empfindlicher Kern. Peters gehörte zu einer ganz anderen Sorte. Ein Junge von einer höheren Schule, der seinen Weg gemacht hatte, indem er überzeugend genug ›Jawohl, Sir‹ zu sagen wußte. Eine Menge von diesen Typen wurden Colonels, wenn sie überlebten ... Da waren wir also, suchten nach einem Haufen von
Söhnen Nippons, die vermutlich so verloren waren wie wir selbst. Wir machten Halt auf einer großen Lichtung; blödsinnig genug. Stellen Sie sich ein Dutzend Männer mitten auf dem Piccadilly Circus vor – und rund um sie herum dichter Verkehr, alle Fahrzeuge ausgestattet mit automatischen Waffen – Handgranaten. Aber Peters zog die Schau ab ... es ging mich ja eigentlich nichts an. Peters wirkte ziemlich unsicher ...« »Sergeant!« »Sir!« »Wir legen hier eine Rast von zehn Minuten ein. Die Männer sollen ihre Finger am Abzug behalten.« »Jawohl, Sir.« Der Sergeant salutierte, wandte sich um und bewegte sich lautlos zwischen den Männern, postierte Wachen an bestimmten Punkten im Umkreis der Lichtung. Eine sinnlose Übung, und er wußte es. Es vermittelte den Jungen höchstens ein falsches Gefühl der Sicherheit. Die meisten von ihnen hörten auf das Zetern der Affen; die Japs konnten diese verdammten Dinger perfekt imitieren. Peters bemühte sich, nicht auf die liegende Gestalt neben sich zu sehen. Ein Offizier hatte kein Recht, sich so gehen zu lassen, die Beine ausgestreckt, die Augen geschlossen.
»In Ordnung, Morlar – sagen Sie, was Sie zu sagen haben, damit wir es hinter uns haben.« Eine provozierende Pause. »Ich habe nichts zu sagen. Ich hatte nicht die Absicht, etwas zu sagen. Aber da Sie darauf bestehen – schön und gut – es ist aus mit uns.« »Und Sie freuen sich!« »Sie denken an einen Masochisten, der ein von Sadisten veranstaltetes Gartenfest stört. Aber wie Sie wollen – ich freue mich. Ich glaube nicht, daß wir es überleben werden.« Sie mußten sich in gedämpfter Lautstärke unterhalten; ein oder zwei Mannschaftsgrade waren in Hörweite. Haß zwischen Offizieren konnte so demoralisierend wirken wie ihre Furcht. »Ich mag Sie nicht, Morlar. Sie haben so eine komische Art an sich. Die anderen denken da ganz ähnlich – dieses merkwürdige Lächeln – als würden Sie annehmen, daß das alles ein einziger großer Witz ist, für Sie in Szene gesetzt –« »Sind Sie schon fertig?« »Es ist irgend etwas an Ihnen, etwas verdammt Ungewöhnliches.« »Vielleicht ein leichter Anflug von Malaria?« Peters' angespannter Ausdruck wechselte augenblicklich, aus deutlicher Abneigung wurde ein alarmierter Ausdruck; er starrte nervös in die dichte Ve-
getation, die erfüllt war von tödlichen Gefahren. Wenn Morlar krank wurde oder noch schlimmer, dann gab es niemanden mehr aus seiner eigenen Klasse, mit dem er sich unterhalten oder streiten konnte. Eine erschreckende Vorstellung – keine andere Gesellschaft als Bergleute und Hafenarbeiter im Zivilberuf. »Das meinen Sie doch nicht ernst?« Er bemühte sich, seine Furcht zu verbergen. »Ich meinte Sie ... wenn Sie sich nicht dafür entschieden hätten, mein Kartenlesen zu ignorieren, dann hätten wir uns jetzt noch nicht verlaufen. Das läßt erste Auswirkungen des Fiebers vermuten – bei Ihnen.« »Wagen Sie es nicht, mich zu kritisieren!« Die schrille Hysterie seiner Stimme entsprach sehr der Stimmung des Dschungels. »Und wenn es nicht Malaria ist«, fuhr Morlar fort, wobei er kaum die Lippen bewegte, »dann sind Sie ein vollkommener Idiot.« Ein weiteres verzweifeltes Mustern der Bäume, die Ringe um sie zogen. Eine ganz klare Botschaft ... die Situation war unhaltbar. Horrocks sah mit getarnter Besorgnis zu Peters herüber; er hatte schon drei Vorgesetzte erlebt, die denselben Weg gegangen waren. Es begann immer mit einem aufmerksamen Umsehen, und dann begannen sie zu sehen, nach was sie
suchten. Nur, es existierte gar nicht – nicht außerhalb einer Fantasie, die sich ihre eigenen Pfade suchte. Aber Peters war sich dessen sicher, daß er es mit zwei Feinden zugleich zu tun hatte. »Ich schwöre Ihnen, Morlar – wenn wir zurückkommen zu –« »Ihr Sinn für Humor verdient eine Erwähnung in den Frontberichten.« Peters schien ihn gar nicht zu hören, beobachtete vielmehr, wie Horrocks plötzlich in Bewegung geriet, in das Grün eindrang und aus ihren Augen verschwand. »Sie und die Japs! Wissen Sie, daß ich mir nicht so sicher bin, ob ich da die Japaner nicht vorziehe?« Es lief auf die Frage der Befähigung hinaus, und das wußten sie beide. Morlar war unendlich überlegen im Grundlagenwissen, vor allem aber in den Fertigkeiten, die für ein Überleben im Dschungel unerläßlich waren; und all das, was für Morlar dumpfe Routine war. Diese ganze Geschichte – lächerlich in der Tat – aber für Peters war es ein Spiel, das mit tödlichem Ernst gespielt werden mußte. Er konnte seinen Haß auf Morlar bis auf ihre erste gemeinsame Patrouille zurückverfolgen. Nur zu gut erinnerte er sich an Morlars Amusement, während sie diesen kleinen Männern mit den lustigen kleinen Gesichtern zusahen, wie sie eilig in Deckung rannten. »Erinnert mich
an einen Vorgarten in Surbiton – voll von Zwergen, die nach Schneewittchen suchen«, hatte er gemurmelt, während er das Feuer eröffnete. Horrocks stand unvermittelt vor ihnen, bevor noch etwas gesagt werden konnte. »Sir!« »Was ist?« »Aus dieser Richtung, Sir. Wenn sie hier sind, werden wir die Vögel singen hören.« Peters horchte angespannt, während Horrocks davoneilte, um die Männer zu alarmieren. Sein angespannter Ausdruck ging in grenzenloses Erstaunen über, als Morlar aufstand, seine Glieder streckte und dann in Richtung Dschungel davonspazierte. »Morlar! Was glauben Sie, wohin Sie gehen?« »Nach Hause – ich habe genug von diesem verdammten Krieg.« »Kommen Sie zurück, Sie Narr!« »Machen Sie nicht in die Hosen, Nummer eins!« »Morlar! So hören Sie doch!« Peters ließ jetzt jede Vorsicht fallen; er erzitterte in sichtbarer Panik, während er zusah, wie Morlar unbeeindruckt aus dem Theater des Krieges schlenderte. Ohne an seine Männer und die Nähe des Feindes zu denken, schrie er laut: »Morlar!« Horrocks lief zurück – aber leiser – er wußte, daß die völlige Auflösung jeder Kampfmoral drohte. Ei-
nige der jüngeren Burschen sahen nervös zu ihnen herüber – »Ich werde ihm nachgehen, Sir.« In zwei Minuten hatte Horrock Morlar eingeholt, der die gleiche Strecke zurückging, die sie gekommen waren. »Mr. Morlar, Sir!« Morlar wandte sich um, während die Vögel irgendwo über ihnen aufflogen und zu kreischen begannen. Beide Männer sahen unabsichtlich nach oben. Sie wußten beide, was das zu bedeuten hatte. Morlars Blick senkte sich herab auf den schlammüberzogenen und verschwitzten Sergeant, und für einen Augenblick löste sich die Härte seines Ausdrucks. »Horrocks ... was machen Sie hier?« »Mr. Peters Grüße, und wollen Sie bitte so freundlich sein, auf Ihren Posten zurückzukehren, Sir.« Wie ein Butler im Kampfanzug, überlegte Morlar. Er tat sein Bestes? Aber warum nicht den Pianisten erschießen, wenn er kein Mitleid für einen übrig hatte? »Meine besten Grüße an Mr. Peters, und sagen Sie ihm bitte, daß ich sehr wählerisch bin in bezug auf meine Gesellschaft, während ich sterbe, Krieg oder nicht Krieg.« Horrocks zögerte, stellte sein Kinn vor mit dem
Ausdruck eines Mannes, der einem Vorgesetzten gehorchte, zuvor aber selbst noch etwas zu sagen hatte. Doch diszipliniert, wie er war, sagte er nur: »Jawohl, Sir.« »Wiedersehen, Horrocks.« Der Sergeant sah verständnislos drein. »Wie bitte, Sir?« »Es war ein lausiger Krieg.« Die Dschungel Burmas hatten vermutlich schon Seltsameres gesehen, aber die Szene war unheimlich genug. Zwei Männer standen sich im Halbdunkel gegenüber, und die Sonne kam gerade soweit durch, daß der Veteran die Augen des Offiziers zu erkennen vermochte, die allein ihn schon hätten zurückzwingen können – Entsetzen und ein unvollständiges Erkennen dämmerte in ihm, ungefähr so, wie wenn ein Verurteilter in die Augen des Richters sieht und das Todesurteil in ihnen liest, bevor ein Wort zu vernehmen ist. »Warum, Mr. Morlar? Warum haben Sie sich von diesem Mann verabschiedet, diesem Sergeant?« »Warum? Weil ich wußte, daß ich überleben würde. Ich hatte für einen Sekundenbruchteil in die Zukunft gesehen. So was soll es geben. Ich habe es selbst erlebt. Zehn Sekunden später hörte ich den Kampfruf des Teufels persönlich.
Ich wartete fast eine halbe Stunde, bevor ich zu der Stelle zurückging. Japs überall – ich konnte sie hören, wie sie sich zu ihrem perfekten Überraschungscoup gratulierten. Ich war als einziger dem Schicksal entgangen, sofort erschossen zu werden ... wie ich vorhergesagt hatte, war der von Peters gewählte Platz zu klein gewesen. Man mußte seine Stellung weit auseinanderziehen in diesem Terrain, wenn man überleben wollte. Eine Ladung Handgranaten, konzentriertes Feuer aus Maschinengewehren – und schon war alles vorbei. Ich ging über das Schlachtfeld mit einem Gefühl der Erhebung, wissend, daß ich unverwundbar war, über ihnen allen stand. Dann machte ich mich ohne jede Eile auf den Weg zurück zur Basis – ich brauchte mich nicht mehr zu beeilen – ich war meiner sicheren Rückkehr sicher. Diese absolute Überzeugung war alle Nahrung, die ich benötigte, und meinen fast unfehlbaren Richtungssinn konnte selbst Peters nicht bestreiten. Drei Tage und Nächte allein in diesem Dschungel ... Die verdammten Narren gaben mir auch noch einen Orden.« »Im Augenblick interessiert mich vor allem, wie Sie sich das erklärt haben, Mr. Morlar.« Morlar erhob sich unvermittelt, durchquerte den Raum, um das Bild von Magritte genauer zu betrach-
ten – oder um seine Antwort zu überlegen. Er wandte sich um und zuckte mit den Schultern. »Ich habe eine königliche Wahl: außergewöhnliches Glück, ein Schutzengel, eine Geste der Vorsehung. Und es kommt manchmal vor, daß das Schicksal ein Leben verschont zu einem bestimmten Zweck ...« »Hatten Sie nicht etwa das Gefühl einer persönlichen Verantwortung?« »Für ihren Tod? Warum sollte ich? Ihre Fragen haben mehrere Ebenen, Zonfeld. Die meisten Leute stellen Fragen, die ich doppelbödig nenne – Sie sind da keine Ausnahme. Was Sie wirklich wissen wollen, ist vielmehr – hatte ich ein Mitgefühl für ihre Situation? Die Antwort ist: nein.« Zonfeld spürte, wie die Abneigung gegenüber seinem Gesprächspartner wuchs, und er kämpfte verzweifelt dagegen an. »Ich möchte eine Antwort auf eine einfache Frage – sie ist die wichtigste, Mr. Morlar ... als Sie von Peters weggingen – was dachten Sie da?« »Keine Ahnung.« »Aber Sie erinnern sich an alle Einzelheiten dieses Tages. Wie ist es möglich –?« »Ich weiß es nicht.« Eine überlegte Antwort. »Ihr Bewußtsein war völlig leer?« »Anzunehmen.«
»Es gab längere Perioden in meinem Leben, in denen sich nichts Bedeutsames ereignete«, fuhr Morlar fort. Wenn er es nicht vorzog, Ereignisse zu verschweigen, von denen er lieber nicht reden wollte, überlegte Zonfeld. Er hielt das aber für wenig wahrscheinlich. »Meine Studentenzeit verlief ohne jeden Zwischenfall oder Unfall. Ich machte meinen Abschluß und praktizierte in einer Anwaltskanzlei ... Das waren seelenzerstörende Jahre, Zonfeld. Wie das immer so ist, wenn sich ein Mann in eine Schablone pressen läßt, die seinen Proportionen nicht entspricht. Ich legte das, was von meinem jugendlichen Idealismus noch übrig war, zu Füßen der Justiz und sah zu, wie sie es in Stücke riß. Nach den ersten zwei oder drei Jahren hat man das gewisse Gefühl, man beherrscht den Jargon, übernimmt den ersten eigenen Fall bei einem Landgericht und nimmt fälschlicherweise an, ein gemachter Mann zu sein. Noch ein paar Jahre abstumpfender Routine, und dann wird man etwas nachdenklich, wenn man all die verstaubten Typen mittleren Alters sieht, die einen umgeben. Also hielt ich nach etwas Ausschau, um mich von dieser zur Schau getragenen Mittelmäßigkeit abzulenken, und kam dabei aufs Heiraten. Nachdem die schreckliche Zeremonie vorbei war – mit dem alptraumhaften Erlebnis eines einbeinigen
Pfarrers –, trat ich denn in alles überstrahlende Licht des Ehestands, mit Patricia in meinem Arm. Um es symbolisch auszudrücken: ich trug sie über die Schwelle, stolperte und stürzte. Ich hatte eine schlechte Entscheidung und eine noch schlechtere Wahl getroffen. Nach einer Nacht hätte es vorbei sein sollen, aber ich mußte die alte Routine auf mich nehmen und eine ehrbare Dirne aus ihr machen. Patricias Vater war ziemlich reich, und das hätte mich schon warnen sollen. Er hatte als Zigeuner in Transsylvanien begonnen. Seine Eltern waren nach irgendeinem lokalen Umsturz nach Deutschland gekommen, wo sie glücklich herumzogen, bis Hitler aufkam und Schluß machte mit dem Herumziehen. Man kann übrigens das Ausmaß des Faschismus in einem Land daran abmessen, wieviel Druck es auf die Zigeunerbevölkerung ausübt. Sie waren klug genug, um die Schrift an der Wand zu verstehen, sandten ihren einzigen und geliebten Sohn mit einigen tausend Pfund nach England, schlossen sich in ihrem Wohnwagen ein und legten Feuer. Sie waren vermutlich recht nette Leute. Was nicht für Rudolph gilt. Ich mag Zigeuner – ich mag ihre Konzeption von Freiheit –, aber unser Rudolph war der rotnäsige Bastard, wie er im Buche steht. Im Krieg brachte er es auf den Umwegen seiner
Kochkünste zum Oberstleutnant. Noch ein Colonel, wie Sie bemerken werden. Von da ins Immobiliengeschäft. Er verstand sonst nichts, aber er wußte, wie man Geld auf anderer Leute Kosten vermehren konnte. Seine Tochter aus einer Vorkriegsheirat schickte er auf die beste Schule im ganzen Land. Wenn jemals etwas Romanisches in Patricia Czerkoveny gewesen war, diese Erziehung nahm ihr auch die oberflächlichsten Spuren davon. Rudolph gab jeder ihrer Launen nach – erlaubte ihr sogar, mich zu heiraten. Ich glaube, das war das höchste, was er seinem mißratenen Balg gestatten konnte. Seine einzige Untat aber, die auch sie mißbilligte, bestand darin, daß er das Czerkoveny in Pickwick übersetzte. Möglicherweise hat sie mich nur geheiratet, weil sie es nicht mehr ertragen konnte, Patricia Pickwick zu heißen. Geldausgeben war die eine Begabung, die sie in all ihren Formen praktizierte. Ich hatte noch immer einiges aus Tante Carries Erbschaft übrig, so daß es keine allzu große Rolle spielte, daß ich mit der Juristerei noch nicht viel verdiente. Des Geldes wegen konnte sie sich nicht beklagen, also setzte sie ihren Hebel bei der Zeit an. Vier Jahre lang wurde ich fast ständig daran erinnert, daß ich in meinem Beruf keine größeren Erfolge zu verbuchen hatte. In endlosen Streitereien warf sie mir vor, meine
Zeit zu verschwenden und keinen Ehrgeiz zu haben. Sie sagte mir, daß ich nur die richtige Einstellung zu haben brauchte, dann würde mir ihr Vater mit ein paar beiläufigen Worten eine hohe Stellung im Justizapparat oder einen Parlamentssitz verschaffen. Ich erklärte ihr, daß ich nichts mit ihrem Vater zu schaffen haben wollte, auch wenn er Minister in seine Tasche stecken und sein Geld ihm alles erkaufen konnte – nur keine Immunität vor der Verachtung anständiger Leute. Sie war der Typ von Frau, die einen Mann als eine Investition ansieht, die sich möglichst schnell auszuzahlen hat. Und sie sah sich um ihre Rendite betrogen. Ihre Abneigung wuchs zu Haß, und nach dem, was mit dem Kind geschah, war mir das alles ziemlich gleichgültig.« »Sie haben bisher noch gar nichts von einem Kind gesagt.« Zonfeld schien dieser neuen Tatsache große Bedeutung zuzumessen. Es brachte einen Anschein von Normalität in Morlars Erzählung, die zumindest einer von ihnen dringend brauchte. Doch der Psychiater wurde wieder einmal enttäuscht. »Für sie hat das überhaupt nichts bedeutet ...« Eine vage, unbefriedigende Antwort. »Was genau –« »Sie hatte es von Anfang an nicht gewollt!« schrie Morlar, aber eher gequält als wütend, wie Zonfeld bemerkte.
»Und Sie – Mr. Morlar?« »Ja ... ja, ich habe ein Kind haben wollen – damals. Ich glaube, deshalb hat sie eine Abtreibung gewollt – und das mit allen Mitteln. Durch Zufall kam ich darauf, daß sie mit einer Klinik eine versteckte Abmachung getroffen hatte. Ich ging dorthin und holte sie mit Gewalt zurück. Ich werde diese Taxifahrt nach Hause mit dieser schreienden Hexe an meiner Seite nie vergessen. Von da an ließ ich sie keinen Augenblick mehr aus meinen Augen. Blieb sechs Monate lang den Gerichten fern. Und als es geboren wurde – hoffnungslos deformiert, kretinös – und sie sagten es ihr –, da lachte sie. Hörte nicht mehr auf zu lachen, als wäre das ein Triumph für sie. Das Kind starb ein paar Stunden später, muß wohl gespürt haben, daß ihm nichts anderes übrig blieb. Von da an gab sie sich schon gar keine Mühe mehr, ihre Verachtung und ihren Haß für mich zu verbergen, und selbst ihr ehrbarer Daddy ermutigte sie, anderswo Trost zu suchen. Ich aber kehrte zu Perücke und Talar zurück und wartete auf das Ende.« »Bevor Sie fortfahren, Mr. Morlar – es wäre vielleicht nützlich, mehr zu wissen darüber, wie die Geburt des Kindes – die Umstände seines Todes –« »Darüber brauchen wir nicht zu reden!« Heftig und entschieden. »Lassen Sie sich gesagt sein, Zonfeld –
dieser Zwischenfall – spielte keine Rolle – das Kind hat nichts mit dem zu tun, was ich Ihnen beweisen will!« »Ist das nicht vielleicht so etwas wie eine Schutzbehauptung?« »Ich sage Ihnen, daß es keine Bedeutung hat!« Mit einer solchen Entschiedenheit, daß Zonfeld zumindest vorläufig gezwungen war, sich dem Veto zu beugen. Ruhig, als ob nichts den Fluß seiner Erzählung unterbrochen hätte, fuhr Morlar fort. »Das Ende kam schnell – am letzten Tag eines Schwurgerichtsverfahrens im Bailey. Ein harter Tag, aber ich hatte das Gefühl, daß wir einigen Eindruck auf das Gericht gemacht hatten. Der Fall hätte eine Menge für meine Reputation bedeuten können ... ich hatte einen Punkt erreicht, wo ich wirklich das Gefühl hatte, nahe dran zu sein – aber die Dinge sollten sich ganz anders entwickeln. Teilweise vielleicht deshalb, weil sie einen ihrer ›Trostspender‹ in die Wohnung mitbrachte und ich mich durch die Anstrengungen des Tages ziemlich müde fühlte ...« Fünfzehn Jahre zuvor betrat Morlar seine Wohnung, legte den Mantel ab und stellte eine schwere Aktentasche auf einen Abstelltisch im Flur. Er hatte noch ge-
nug Arbeit vor sich, um sich bis in die späten Abendstunden damit zu beschäftigen. Er hörte Stimmen. Ihre und die vulgäre Imitation einer gepflegten, gedehnten Sprechweise. Männlich. Mußte ein Schauspieler sein. Er entschied sich, nicht wieder zu gehen, und stieß die Tür zum Wohnzimmer auf. Sie saßen beim offenen Kamin; Patricia in einem lilafarbenen Kleid aus Paris, und sie saß zu den gut beschuhten Füßen eines Herrn, von dem Morlar nicht mehr sehen konnte als einen kahlen Flecken, umrandet von glänzenden schwarzen Locken. »Oh, da bist du ja.« Ohne Gefühl, ohne Bewegung. Tatsächlich bewegte sich keiner von ihnen. Sie schienen ziemlich intensiv die gelben Narzissen zu studieren, oder sie versuchten sich an die Dialogzeilen für die nächste Szene zu erinnern. »Ja – hier bin ich. Was ist denn das?« Er deutete auf den kahlen Fleck. Sie kam auf ihre Füße, streichelte freundlich den Arm des Unbekannten und ging an Morlar vorbei in Richtung auf das Schlafzimmer, ohne daß sie ihn zu sehen schien. »Das ist Everard Parrish. Ich habe dir von ihm erzählt.« Sie sagte die Lüge, ohne ihr auch nur einen Unterton von Überzeugung zu geben. »Ich gehe heute abend aus«, fügte sie in einem Ton hinzu, mit dem
man sich vielleicht an eine kalte Tasse wenden könnte. Morlars überraschter Blick wanderte von dem ihm noch immer abgewandten Everard zu der Tür, die hinter ihr zuschlug. Sie würde ihn in normaler Lautstärke nicht mehr hören, daher entschied er sich dafür, zu schreien. »Parrish – ist das nicht dieser Schauspieler, der einmal Jesus gespielt hat – mit Hilfe einer Perücke? Der Filmregisseur oder so etwas wurde? Macht Filme für Missionsgesellschaften. Ehebruch wär doch wohl nicht auf seiner Linie, oder? Das hier muß ein anderer sein.« Das reichte, um den Unbekannten zu bewegen, sich ihm zuzuwenden; seine bleichen, poetischen Wangen überzog eine leichte Röte. Die Locken tanzten wie gutgeölte Federn. »Du gehst zu weit, mein Junge. Viel zu weit. Niemand hat jemals meine Integrität in Frage gestellt und ist damit davongekommen.« Zu seiner eigenen Überraschung fand Morlar das Ganze recht amüsant, während er zum Getränkeschrank hinüberging. Einen Brandy konnte er jetzt vertragen und sogar genießen. »Das ist die Schwierigkeit mit Pseudos wie Ihnen, Parrish – die nachgeäffte Kultiviertheit macht sie so verletzlich. Schauspieler sind die schlimmsten, sie
gehen von pseudonymen Persönlichkeiten aus, von denen aus sie die Quadratur eines Circulus vitiosus entwickeln und Pseudo-Pseudos werden. Da Sie einmal Jesus spielen durften, sehen sie sich jetzt als eine ziemlich göttliche Kreatur. Ich glaube, man kann mit besten Gewinnaussichten darauf wetten, daß jede neue religiöse Bewegung, die groß in Mode kommt, auf Ihre Mitwirkung in den vordersten Reihen zählen kann?« »Sie verdienen dieses Mädchen nicht.« Der verhaltene Ton eines Matinee-Idols, das weiß, wie es den Sturm der Teetassen zu erregen vermag. »Sie ist sechsundzwanzig, mein kleiner Jesus, und ich kann nicht einmal zugeben, daß sie jemals ein Mädchen war. Ein Mädchen zu sein – das hat mit Unschuld und Rosenknopsen zu tun und – worauf wollen Sie eigentlich hinaus?« »Sie könnte eine ziemliche Karriere beim Film machen. Patricia verfügt über großes Talent, aber ich nehme an, daß sie auch das nicht zu schätzen wissen.« »Was kam zuerst, das Küken oder das Ei?« »Ich weiß wirklich nicht, was Sie sagen wollen.« »Halten Sie mich doch nicht für einen Narren! Sie suchen nach jemandem, der Ihnen die nächste armselige Version des Evangeliums frei nach St. Parrish finanziert, und Sie würden Frank Sinatra die Maria Magdalena spielen lassen, wenn er sie mit dem Geld
dazu verlocken würde, das Patricias Vater zu spendieren vermag.« Parrish setzte ein schwaches Lächeln auf. »Sie haben einen lieblichen Sinn für Humor, mein Junge. Rührt wohl von einem gebrochenen Herzen. Ich vergebe Ihnen, was Ihnen zeigen mag, wozu wir Christen fähig sind.« »Ihr Christen solltet Gott danken, daß ihr den Teufel auf eurer Seite habt. Ohne ihn würdet ihr bei weitem nicht so weit kommen.« »Ich sage Ihnen, und das mit vollem Ernst, ich liebe Patricia.« Morlar täuschte Mitgefühl vor. »Mein armer Theophil, wissen Sie auch, was Sie da sagen?« »Ich habe vor, sie zu heiraten.« Der männliche, resonante Ton von einem, der Wat Tyler zu seiner Zeit in Technicolor gespielt hatte. »Sie wissen wirklich nicht, was Sie aussprechen – glauben Sie mir, wenn Sie wirklich einen neuen Anfang machen wollen, dann mit Wasser – und dann mit Limonade, gefolgt von Wodka, und danach werden Sie, mein verehrter Gottsucher, auch vor Blausäure nicht mehr zurückschrecken.« »Ach, um Gottes willen, ich meine es ernst!« »Das kann ich von mir ebenfalls sagen, aber um Ihretwillen.« »Ich liebe sie.«
»Sie lieben das Abbild von sich selbst, das sie liebt – das ist das Kainsmal aller Schauspieler, mein teurer Narr. Was Sie wirklich lieben, das sind die finanziellen Aussichten, mit denen sie Ihre billigen Ambitionen zu erfüllen verspricht.« Einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle Parrish seine vornehme Art aufgeben und um einer zweifelhaften Sache wegen zuschlagen; seine Lippen bebten, seine Hände ballten sich zu Fäusten zusammen ... aber es kam zu nichts. Er entspannte sich genügend, um ein zittriges Lächeln zu zeigen. »Ich kenne Sie, Morlar. Sie sind der Typ, der glaubt, daß die Wahrheit schön ist. Also muß sie verbreitet werden – die Welt braucht soviel davon, wie man ihr geben kann. Sie täuschen sich – die Wahrheit ist häßlich – also machen wir Filme, werden Katholiken, schließen uns der jeweils erfolgreichen Sache an – alles, um von der Häßlichkeit wegzukommen und das Leben schöner zu machen, weniger unerträglich.« »Das Motiv ist nicht so schlecht; aber Ihre Logik trägt nicht, Parrish. Die Wahrheit ist weder häßlich noch schön.« »Die Frage ist – was machen wir mit Patricia?« »Was tun? Ich habe nicht die geringste Absicht, etwas zu unternehmen.« »Sie scheinen mich nicht zu verstehen, Morlar. Wir wollen heiraten.«
»Waren Sie schon bei ihrem Vater?« »Ihr Vater hat nichts mit der Sache zu tun.« »Erwähnen Sie nicht Ihre religiösen Skrupel, wenn Sie sich mit ihm unterhalten – Sie könnten sonst als Erzbischof von Canterbury enden, und dann wäre es mit dem Glanz der Kinotage vorbei.« »Sind Sie bereit, sie gehen zu lassen?« »Sie kann gehen, wohin immer sie will. Ich habe keinerlei Einwand – im Gegenteil, ich werde mit Freuden ihre Fahrkarte bezahlen – erster Klasse.« Parrish erlaubte sich eine dramatische Pause. Morlar wartete geduldig. »Zum Scheidungsgericht?« Allegro ma non troppo. »Aber sicher. Es kostet nur acht Pence mit dem Bus –« »Um Himmels willen, Mann!« »Ich würde sogar selbst dort vorsprechen, wenn mich die Sache auch nur im geringsten interessieren würde.« Parrish konnte seine Verblüffung nicht mehr verbergen. Er war der Typ von Schauspieler, der in gewissen Stücken mit furchtbar vorhersagbaren Dialogen glänzte. Morlar hatte die Frechheit, den Dialog auf der Bühne zu schreiben, einen Dialog, den ein anständiges Publikum keine fünf Minuten tolerieren würde. »Sie – Sie scheinen nicht zu verstehen –«
»Sie sind so blöd, Parrish, wie es nur ein Schauspieler sein kann! Sie wollen meine Frau aus Ihren eigenen trüben Gründen heiraten, na schön! Ich stimme einer Scheidung in der schnellstmöglichen Zeit zu, was wollen Sie mehr?« »Ich – ich versuche ganz einfach –« Aber Patricias rechtzeitiges Wiederauftauchen rettete Parrish davor, völlig zu vermasseln, was eine der dramatischsten Szenen seines Lebens hätte werden können. »Ich bin soweit, Liebling.« Es war ein berechneter Auftritt. Sie trug einen zitronengelben Überwurfmantel aus dem Hause Cardin über dem malvenfarbenen Jackett, und ihr maquillage hatte das gewisse HelenaRubinstein-Strahlen, das bei jeder Frau Wunder bewirkte außer bei Helena Rubinstein. Parrish zwang sich ein würdigendes Lächeln auf, das Morlar an neun Tage alten Pudding erinnerte. Morlar begann die Sache Spaß zu machen. »Theater?« erkundigte er sich. »Ja – und danach treffen wir uns mit Teresa Lambton, sie hat in Everards letztem Film mitgespielt. Sie gibt eine Party, ich weiß also noch nicht, wann ich zurückkomme.« »Wie schön. Wie heißt das Stück?« »Verlorene Liebesmühe.« Morlar amüsierte sich darüber während seines
Wegs zurück zum Getränkeschrank. Parrish sah niedergeschlagener drein denn je. Sie blickte unsicher vom einen zum andern. »Ich verstehe nicht, was daran so witzig ist.« »Nun ... machen Sie weiter, Parrish ... übermitteln Sie ihr die frohe Botschaft.« Parrish sah sich hilfesuchend um, als suche er nach einem verlegten Manuskript. Zum Glück fiel ihm ein Fetzen aus dem Meisterwerk eines Satirikers ein. »Liebling, wir müssen der Welt nichts mehr vormachen – niemals mehr.« »Oh?« Sie verstand es nur zum Teil, aber ihre bescheidene Reaktion war alles, was er zum Weitermachen brauchte. »Ich habe es John offen dargelegt, und er hat sich furchtbar anständig verhalten. Er hat – nun, er ist bereit, dich gehen zu lassen.« Patricias Miene verdüsterte sich. Es war kein Platz für Mißverständnisse mehr übrig – sie konnte kaum mehr manövrieren. Ein seltener Moment der Unentschlossenheit kam und ging vorbei. »Das kann doch nicht dein Ernst sein.« Ärger, aufkommende Wut, weil er sie so formlos aufgegeben hatte, in einer Zeit, in der sie gerade Make-up auflegen und einen Mantel überwerfen konnte. Morlar mußte sich zwingen, sein Gesicht nicht zu verziehen; Lachen hätte den Witz ruiniert. Er
dachte, wie pathetisch sie beide dreinschauen, aber ihm wäre lieber gewesen, sie hätten sich mitsamt ihren Cole-Porter-Gefühlen aus dem Staub gemacht und ihm seinen Frieden gelassen. »Du! Du läßt mich gehen!« Morlar wandte sich von dem wutentbrannten Nichts ab – eine Bewegung, die soviel Verachtung ausdrückte, daß es ihrer gemeinsamen Feindseligkeit mindestens entsprach. Aber sie war noch nicht fertig, trat einen Schritt auf ihn zu und schrie besser als ein transsylvanisches Fischerweib: »Wer bist du, um mich wie einen Gegenstand zu behandeln! Du! Warum machst du das, warum!« Und die Antwort, um so giftiger, da sie wie eine kühle Feststellung gegeben wurde. »Weil ich es vorziehe, meine Fehler zu korrigieren, bevor ich sie vergesse.« »Du ... Bastard! Du gottverdammter Bastard! Daddy hatte recht – du bringst nichts als Kretins zustande!« Seine spontane Reaktion ließ sie noch einmal – zum letzten Mal – Gesicht an Gesicht stehen, und sie zuckte zurück bei der Entdeckung von etwas – erhob halb eine Hand, um das Undefinierbare abzuwehren, faßte sich dann wieder, starrte ihn aber noch immer an, als ob seine Augen weiterhin eine Botschaft übermittelten ...
»Komm, Everard, ich würde lieber sterben, als noch eine einzige unnötige Minute unter einem Dach mit ihm zu verbringen. Ich werde nie wieder zurückkommen – nie.« »Nein.« Morlars letztes Wort, aber so sanft gesprochen, daß sie nicht sicher sein konnte, daß er es überhaupt gesagt hatte. »Ich ging hinüber zum Schlafzimmerfenster, sah Parrish zu, wie er ihr in seinen knallroten Zweisitzer half – eines von diesen altmodischen Modellen, die noch immer gebaut werden. Reine Komödie – die Art und Weise, in der die Leute die entscheidenden Momente in ihren armseligen, unbedeutenden Leben handhaben. Ihr neuester Partner duckte sich über das Steuerrad – wie ein kleiner Junge auf seinem ersten Fahrrad. Sie wandte noch einmal den Kopf, weil sie offenbar erwartete, daß ich ihr nachsah. Während ich an Lots Weib dachte, zerfiel ihr sorgfältig aufgemachter Ausdruck in ein ganz gewöhnliches Muster aus Furcht und Haß. Einen Augenblick später raste er los, und sie verschwanden in einer Wolke von öligem, schwarzem Rauch, die die Straße hinabzog ... Erwartung – oder eine Suche nach Bestätigung dessen, was noch kommen sollte ... jedenfalls ging ich ziellos durch die Wohnung, füllte die Zeit aus –
nichts anderes. Spielte eine Platte, ohne sie wirklich zu hören, untersuchte die erschreckende Ansammlung von Kosmetika auf ihrem Schminktisch, bewunderte die handwerkliche Arbeit des Empire-Tisches, ohne ihn wirklich zu sehen. Ich hätte ein Händler sein können, der mit dem Ankauf zögerte, kein wirkliches Interesse hatte an jemandes Vergangenheit. Ich – schlug die Zeit tot. Fünfundsechzig Minuten später klingelte das Telefon. Eine Stimme voll von vorgetäuschtem Mitgefühl – ein Beamter einer Polizeiwache – informierte mich darüber, daß meine Frau und ein unidentifizierter männlicher Begleiter bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren – irgendwo jenseits von Kingston-on-Thames.« »Was hat der Tod Ihrer Frau für Sie bedeutet?« Eine abwehrende Geste. »Freiheit ohne viel Lärm und Getue. Ich glaube, daß diese Harpyen, die ihre Keuschheitsgürtel im Namen der Frauenbefreiung beflecken, bis zur völligen Selbstauflösung überrascht wären, wenn sie erfahren könnten, wie verzweifelt es die Männer danach verlangt, frei von weiblicher Tyrannei zu sein. Fehler auf beiden Seiten, ja, aber neun von zehn Ehemännern sterben vor ihren Frauen, die meisten von ihnen verschlissen von Streit und Rachsucht oder zu Tode erstickt durch eine Liebe, die eigentlich eine
umgedrehte Form von Haß ist. Es gibt keine Strafe, kein Gegengift für die Liebe, die tötet ... Das Leben geht weiter, Zonfeld. Am nächsten Tag hatte ich bei Gericht zu tun, mußte meinen Meister in den letzten Zügen eines Verfahrens unterstützen, das zu einem politischen Verfahren wurde, obwohl das Gericht es anders verlauten ließ. Sie erinnern sich vielleicht an den Fall. Ein junger Arbeiter mit ausgeprägt anarchistischen Überzeugungen, der eines versuchten Bombenanschlags auf die Bank von England beschuldigt wurde. Zucker und Natriumchlorid ... Nun, das klang ein bißchen blöd, selbst für ihre krude Denkart. Also fügten sie eine unbekannte Substanz hinzu, was der ganzen Sache den gewünschten finsteren Anstrich gab. Wir fanden nie heraus, was es eigentlich war. Neben der selbstgebastelten Bombe – die natürlich nicht einmal explodierte – gab es noch einen Brief, einen von vielen, den die Autoritäten über eine uninteressierte Zeitung erhalten haben wollten. Er stammte vorgeblich von einer Organisation, die sich Seething Squad nannte, eine Splittergruppe der Disgusted Division ... Die Botschaft: Wir werden mit dem Kraftwerk des Kapitalismus anfangen. Die Zukunft gehört der Anarchie. Hochachtungsvoll, Captain Blank von der S. S.
Schlecht geschrieben und mit entsetzlichen Rechtschreibfehlern. Es hätte von dem Unbekannten stammen können, der die Zettel für Jack the Ripper schrieb ... Kurz gesagt, man nahm unseren Helden fest und fand bei ihm, o Wunder über Wunder, Zucker und Unkrautvertilgungsmittel. Er gab zu, daß er Zucker im Tee mochte, daß sein Vater Unkrautvertilgungsmittel für seinen Garten benützte, und im übrigen wüßte er nichts von einer unbekannten Substanz. Eine wahrscheinliche Geschichte. Die Stadtpolizei, das muß man ihr zugute halten, wollte mit der ganzen Sache nichts zu tun haben. Die Geschichte stank – selbst Rushton wußte das, mein Chef und Meister. Er hatte die Zeugen der Anklage in Sachen Unkrautvertilgungsmittel ziemlich unglaubhaft gemacht, und ich hatte es mit dem sogenannten Handschriften-Experten auch nicht schwer. Jeder Narr weiß, daß man einen gefälschten Brief jedem unterschieben kann. Bill Loveless bestritt seine Schuld in jeder Hinsicht. Nie von einer Seething Squad gehört. Wer würde sich so einem Verein schon anschließen? Der Name sagte alles, da mußte man ja mit blutigem Ärger rechnen. So war es. Und er hatte den Kern der Sache getroffen. Kein Idealist, ob durchgedreht oder nicht, würde
sich mit so einem Verein ähnlich einer Pfadfindertruppe abgeben. Kein Agitator mit einigem Selbstrespekt würde so ein krudes Zeug schreiben und damit eine Sache in Mißkredit bringen, die hoffnungslos genug war. Und wer bringt Spuren von Unkrautvertilgungsmittel in seine Taschen, es sei denn, der Mond steht voll? So standen die Dinge mehr oder weniger, als unser Angestellter mit einer Nachricht in den Gerichtssaal stürzte. Mr. Rushton hatte einen seiner regelmäßigen Asthmaanfälle, und würde ich bitte so gut sein, die Verteidigung abzuschließen? Ich tat das gern. Wir hatten schon im wesentlichen ausgearbeitet, wie wir die Geschworenen angehen würden, so daß ich wußte, was ich für Loveless zu sagen hatte. Ich mochte den armen Teufel; traurige Augen, ein bißchen steif, er hatte getan, was er tun konnte, um eine andere Welt zu schaffen, gesund und menschlich – das sind seine Worte, nicht die meinen. Eine erfrischende Direktheit, die ihn abhob von all den Halbintellektuellen, Schauspielerinnen, Autoren, Bürgersöhnchen und so weiter, die eigentlich nur dann etwas wagen, wenn es darum geht, die Öffentlichkeit an ihre unstete Existenz zu erinnern. Er glaubte an diese bessere Welt, lange bevor die sogenannten Hippies kamen und sie herbeizurauchen
versuchten. Und alles, was er tat, waren Reden an der Straßenecke, um Passanten zu überzeugen, und außerdem schrieb er seine politischen Erkenntnisse in ein Notizbuch. Eine Art von wirkungsloser Pionier für ein Utopia, das es einmal wirklich geben sollte, der zuviel gesagt hatte, gehört worden war – und an den sich dann die falschen Leute erinnerten. War er nicht der Typ, um eine pathetische Geste zu machen? Keine besondere Erziehung, obwohl er lesen und schreiben konnte. Inartikuliert, obwohl er denken konnte. Hegte heftige Gefühle, die er nicht an anderen auslassen konnte ... Man nehme einen Reichstag, lege Feuer an ihn und hoffe, daß es nicht außer Kontrolle gerät, schnappe sich sodann den Mann, der es getan haben könnte, wenn man nicht selber zuerst dran gedacht hätte. Oh, Zonfeld, wenn sie wüßten, wie ihre Gehirne funktionieren ... wie teuflisch geschickt sie das Klima gewisser Meinungen zu erzeugen wissen. Ich aber mochte diesen verdörrten Samen des Idealismus, der keine Chance zum Austreiben hatte, was immer wir auch für ihn taten. Also hatte ich nun endlich einen Fall, für den zu kämpfen sich lohnte – aber wie? Gewiß nicht in der teilnahmslosen Art von Rushton, der es geschafft hatte, der Anklage gegenüber mehr zuzugeben, als nötig gewesen wäre.
Es gibt Richter, die sich dem Schutz des Bestehenden, gerecht oder ungerecht, verpflichtet fühlen ... und irgendwo im Lande soll es einen ehrlichen Richter geben. Wir hatten es mit McKinley zu tun und wußten daher, daß wir es schwer haben würden. Einer dieser juristischen arrivistes, der glaubt, daß jeder mit einem Einkommen über zweitausend fehlgeleitet sein muß und Mitgefühl verdient – jeder mit weniger kann gehen und gehängt werden. Bevor ich mit meinem Plädoyer begann, sah ich von dem Angeklagten, Bill Loveless, zum Richter, der bereits seine Notizen für die Urteilsbegründung durchging, und zu den Geschworenen, die aufrecht und puppenhaft unbeweglich dasaßen, und ich dachte: Loveless, du armer Hund, welche Chance hast du schon, wenn selbst Demosthenes keine Worte mehr fand gegenüber diesen Kräften, die einen Menschen ausquetschen und zerbrechen. Ich rückte meine Perücke zurecht, zog an meiner Robe und wartete darauf, daß das Räuspern, Scharren und Hüsteln aufhören würde. Alles reine Pantomime, und ich war nahe daran, in Gelächter auszubrechen. Aus einer Entfernung von einer Million Meilen, so überlegte ich, mußte unser Gerichtssystem wie eine nette kleine Übung in Heuchelei aussehen; und schlimmer noch, es mußte unglaublich lächerlich wirken.
... noch bestreiten wir die Tatsachen, wie sie uns von der Anklage vorgelegt wurden ... Alles gutes, konventionelles Material, wie es auch Rushton gemacht hätte. Ich betonte, daß es keine Vorstrafen gab, gab die Tat ipso facto zu, plädierte aber für die Fehlgeleitetheit der Jugend, die die ernsthaften Konsequenzen einer Handlung nicht einzuschätzen wußte, und so weiter. Zwischen diesen rhetorischen Floskeln sah ich zu McKinley hinauf, und etwas in mir rastete ein. So kam es mir jedenfalls vor. Für einen bloßen Augenblick erschien über seinen Brillengläsern ein Ausdruck, der wortlos besagte: ›Komm schon, alter Junge, mache keine Mahlzeit mit sechs Gängen daraus. Du weißt es ebenso wie ich, die Sache steht längst fest – er ist ein junger politischer Aufrührer, der einen gewaltsamen Angriff auf die bestehende Ordnung der Dinge unternommen hat, der weit schlimmer ist als der berühmte Angriff auf Königin Viktorias Hosen – also kriegt er fünf, und wenn du noch länger quasselst, läuft es vielleicht auf sieben hinaus.‹ Die Argumente, die ich vorbereitet hatte, waren wie vom Wind zerblasen ... ich blickte starr auf den Richter, während ich fortfuhr. ›Uns wird gesagt, daß gewisse Tatsachen im nationalen Interesse nicht offengelegt werden können. Was ist denn dieses sogenannte nationale Interesse,
das einen Mann dazu zwingt, sich zu verteidigen, während eine Hand hinter seinem Rücken festgebunden ist? Ich bin sicher, daß der Angeklagte wünschen würde, daß ich Ihnen diese Warnung ausrichte, meine Herren Geschworenen: In den kommenden Jahren sollten Sie dieses sogenannte nationale Interesse sehr genau beobachten. Gehen Sie sicher, daß es nicht zu einem Losungswort für patriotische Schurken wird, die es als nicht mehr und nicht weniger als die Erhaltung der Macht mit allen Mitteln definieren! Oder Sie könnten eines Morgens aufwachen und herausfinden, daß Ihnen das sogenannte nationale Interesse die Freiheit geraubt hat, während Sie schliefen. Aber sehen wir uns noch einmal die sogenannte gefährliche Propaganda an, wie sie von der Anklagevertretung als Grusel-Beispiel aus Loveless' Gedankenwelt zitiert wurde. Sie erinnern sich vielleicht an dieses Beispiel aus seinem Zweipenny-Übungsheft: „Jetzt, da wir die Zulus in Afrika nicht mehr jagen können, werden wir einen Feind im Inneren erfinden müssen, und wir werden eine herrliche Zeit damit verbringen, sie in den wuchernden Dschungeln unserer Gesellschaft auszurotten.” Krud und absurd, wie mein erfahrener Freund
kommentierte. Das war es auch tatsächlich, nehme ich an, eine edle Rasse von Menschen zu dezimieren, um den von einer heiligen Kuh gehegten unheiligen Traum vom Weltreich zu erfüllen. Gefährlich in einem Atemzug – absurd im nächsten? Da muß man sich doch fragen: Wird dieser Mann angeklagt, um das konfuse Denken seiner Ankläger zu klären? Oder wird er angeklagt wegen seiner Ansichten, die so völlig abwegig nicht zu sein scheinen ...? Sie haben gehört, wie er selbst festgestellt hat: Wenn ich dieses System zerstören wollte, dann würde ich doch wohl etwas Grundlegenderes getan haben als das, was mir vorgeworfen wird, getan zu haben. Nun? Glauben Sie nicht auch, daß das so ist? Die Anklage zieht eine so erstaunliche Schlußfolgerung wie diese: Wenn Loveless so starke Gefühle gegenüber dem königlichen Kriegsmuseum hegte, dann muß man ihn entsprechend auch für die hier behandelte Affäre verantwortlich halten. Sehen wir also nochmal die Quelle an, auf die sich die Anklage bezieht – das Notizbuch von Mr. Loveless. Warum bringen sie Gruppen von Schulkindern dorthin, um diese ausgebleichten Reliquien des legalisierten Mordes zu bewundern? Seht euch an, das ist es, was Britannien großgemacht hat.
Es ist eine Art von Perversion. O nein, sagen sie. Es hat eine ausgesprochen erzieherische Bedeutung. Arschlöcher! Was ist so erzieherisch daran, daß man Kinder zwingt, uniformierten Mord in Aspik zu betrachten? Ich würde diesen blutigen Palast in die Luft jagen, wenn ich wüßte, wie. Und daraus schließt die Anklage, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt: Wenn er einen solchen Haß auf dieses Grabmal unserer blutigen militaristischen Vergangenheit hat ... wessen ist er dann nicht fähig? Ich werde es Ihnen sagen, meine Herren Geschworenen. Er ist nicht fähig, ein Ereignis zu schaffen, das gar nicht geschehen ist! Es gab keine Bombe! Es gab keine Drohung! Es gab keinen Brief! Es gab keine Verschwörung mit sogenannten anderen unbekannten Personen! Da war nichts – außer einer konzertierten Aktion durch die Unbekannten, um ein Gerippe des Zweifels, der Furcht, der Vorurteile zu schaffen ... ohne die es keine Entschuldigung für eine fortschreitende Lähmung der Demokratie geben könnte, eine Zunahme der Unterdrückung, reaktionäre Maßnahmen und Einschnitte in das Recht auf freie Meinungsäußerung. Eine Entwicklung, innig ersehnt von sogenannten anderen unbekannten Personen.‹ Die Reaktion war vorherzusehen. Die Reporter
wachten auf, die Geschworenen fielen fast in Ohnmacht, während mich der Richter nur mit kalter Wut anstarrte. Es war mir egal, ich hielt nicht einmal inne, um auf den naheliegenden Gedanken zu kommen, daß meine freimütigen Ergüsse das Unglück des jungen Loveless nur noch vergrößern konnten. Die Geschworenen müssen auf der Toilette beraten haben; sie waren schon nach zehn Minuten mit dem Urteilsspruch zurück, befanden Loveless in allen drei Punkten der Anklage für schuldig, und es bereitete Richter McKinley das größte Vergnügen, den Jungen zu jeweils drei Jahren für jeden Anklagepunkt zu verurteilen – hintereinander abzusitzen. Neun Jahre ... ich starrte McKinley an und sah nicht eine Leuchte des Gesetzes, sondern ein widerliches Tier, das es verdiente ... und mit blendender Deutlichkeit erkannte ich, daß er nicht weniger als den Tod verdient hatte. Ich begann all meine Energien in eine Richtung zu konzentrieren; fühlte mich im Griff einer innerlichen Erregung, murmelte Worte, an die ich mich nicht mehr erinnern kann, und starrte ihn an – und starrte. Sein Ausdruck wechselte von offensichtlicher und schadenfroher Selbstzufriedenheit zu einem wurmfarbenen Ausdruck des Begreifens und der Furcht. Das Gericht muß das verborgene Wirken rätselhafter
Phänomene gespürt haben, denn wie ich später erfuhr, herrschte mehr als die gewöhnliche Stille. Offenbar versuchte mich jemand in meinen Sitz zurückzuzwingen, aber ich blieb aufrecht, steif und unbeweglich vor Haß und durch die höchste Anstrengung, die nötig war, um diese verachtenswerte Krükke der Gesetzeswürde zum Tode zu verurteilen. Er verließ das Gericht, und ich sah ihn nie wieder. Kaum überraschend. Eine Stunde später wurde er in seinem Umkleideraum gefunden – tot – ganz plötzlich – eine Herzattacke ... der ärztlichen Untersuchung zufolge. Eigentlich unnötig zu sagen, daß es einen ziemlichen Aufruhr gab, und die Zeitungen machten ihr übliches Spiel mit den Höhepunkten eines Gerichtsdramas. Für mich bedeutete das, daß meine Karriere ein plötzliches Ende gefunden hatte. Man braucht da nicht mehr darüber zu sagen – ich zählte einfach nicht mehr. Es war aus. Aus. Und Loveless kam Jahre später mit sechs Pfund Handgeld und drei unter Bewährungsvoraussetzung erlassenen Jahren heraus – und erhängte sich. Das Gesetz ging seinen Weg, und ich ging meinen. Ich akzeptierte meine Befreiung, nahm sie hin. Ich begann ernsthaft zu schreiben, versuchte die Stücke zusammenzufügen – da waren noch ein oder zwei
Zwischenfälle, die ich nicht erwähnt habe, aber ich nehme an, daß sie am Tag des Jüngsten Gerichts noch hinreichend gewürdigt werden. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, daß diese Ereignisse, wenn man sie zusammensetzte, ein zusammenhängendes Bild ergeben mußten. Aber das war nicht der Fall, und das in einem Sinn, der mich beunruhigte. Ich schlußfolgerte daher, daß ich keine bewußte Rolle in dieser Aufeinanderfolge von Ereignissen gespielt hatte; oder ich hatte an ihnen teil, aber ohne einen Sinn, der mir zugänglich war. Diese Ungewißheit war das schlimmste. Um das Rätsel meiner selbst zu lösen, unternahm ich es sogar, zu einem Wahrsager zu gehen, so unsinnig und unmotiviert das sicher erscheint. Aber ein ungewisses Gefühl sagte mir, daß ich auf diese Weise mehr über mich und die seltsamen Kräfte meines Unbewußten erfahren könnte. Es war etwa ein Jahr nach dem Tod meiner Frau, als ich Mr. Atropos aufsuchte. Ich nahm eigentlich an, daß er Grieche wäre, aber seine Aussprache sprach dagegen. Er firmierte hinter einer schäbigen Adresse in Bayswater. Zwei Zimmer in einem baufälligen Haus. Ziemlich dunkel, verstaubt, düster. Selbst die Schatten schienen mit einer feinen Schicht von Staub überzogen zu sein. Mir kam es aber nicht so vor, als hätte
Atropos es nötig, damit einen gewissen Eindruck zu erwecken. Er bevorzugte es zweifellos, unter Bedingungen zu arbeiten, die seiner Art, die Welt zu sehen, entsprachen ...« »Kommen Sie herein, Mr. Morlar. Sie heißen doch Morlar, nicht? Mm ... mm – Sie haben es ohne Schwierigkeiten gefunden ... es ist ein bißchen schummrig hier, aber die meisten meiner Kunden ... hm ... sie scheinen so etwas zu erwarten – Atmosphäre, Sie verstehen – sie glauben, daß etwas fehlt, wenn die Vorhänge nicht zugezogen sind – mm ... wir sind den dunklen Zeitaltern näher, als wir zuzugeben pflegen – aber schließlich – ich muß ihnen bieten, was sie wollen –« »Wie mit der Margarine. Die Leute rühren sie nicht an, wenn sie nicht gefärbt ist.« Atropos kicherte zustimmend. »Genau – also kommen wir ihren Illusionen entgegen ... wie sind Sie eigentlich auf mich verfallen?« Morlar erwähnte eine Anzeige in einer Zeitung. »Ah ja – recht lohnend – mm ... es bringt schon ein bißchen Geschäft zustande, obwohl es manchmal seltsame Vielleicht-Kunden anzieht. Gestern kam zum Beispiel eine junge Frau mit einer Probe; sie wollte, daß ich ihre Schwangerschaft bestätige, das Geschlecht bestimme, das Geburtsdatum und Gott
weiß was noch alles von einem bloßen Teelöffel voll von ... mm ... nun, genügt Ihnen ein einfaches Ausder-Hand-Lesen oder –?« »Lesen Sie mir nur aus der Hand. Sagen Sie mir, was Sie sehen.« »Gewiß – zum besten meines mm ... einen Augenblick bitte.« Er fummelte herum und fand schließlich den Schalter einer verstellbaren Lampe. Eine plötzliche Lichtflut ergoß sich über einen schon ziemlich zerschlissenen Teppich und ließ den Raum in tieferen Schatten ertrinken. Atropos sah seinen Klienten zum erstenmal im grellen Lichtschein – und seine Miene verdüsterte sich. »Stimmt etwas nicht, Mr. Atropos?« »Ob etwas nicht stimmt? Nein – nein ... Ihre Hand bitte – die linke Hand.« Er ergriff die zu ihm ausgestreckte Hand, aber ein ungutes Gefühl schien seine berufsmäßige Neugier zu mäßigen, ließ seine eigene Hand sichtbar zögern. Augenblicke später: »Das – das ist unglaublich ... unglaublich ... es – ist unmöglich.« Der Wahrsager hob seinen Blick, seine Augen wanderten unstet durch den Raum, der seine Vertrautheit verloren hatte. Jetzt, da er ihrer so sehr bedurfte, ließen ihn die Schatten im Stich. Er suchte, diesmal in seinem Kopf, nach dem Schalter, der einen Hilferuf auslösen konnte. Morlar spürte, wie seine Hand kalt und klamm
wurde. Er wartete, bis Atropos fähig war, seinem Blick zu begegnen. Und als er in seine Augen sah, erblickte er die Furcht, die den Ausdruck eines lautlosen Schreis angenommen hatte. Keine Zeit mehr, um nach dem Grund zu fragen. »Ihre Hand!« Eine Folge von gemurmelten Lauten. Wieder senkte sich der Blick des Wahrsagers, fasziniert von etwas, das er sah oder zu sehen glaubte; was Morlar alles sehr beunruhigte, wie einen Patienten, der einem Spezialisten zusieht, der den Kopf schüttelt über gewisse Symptome ... »Also, was ist es, Mann! Sagen Sie es mir!« Die Augen kamen zum zweitenmal zur Oberfläche, aber sie ertranken bereits, während Atropos stammelte: »Ich – oh, mein Gott.« Und die Wogen der Furcht schlugen über seinem Kopf zusammen. »Das war vor ein paar Jahren, aber ich höre noch immer seinen Schrei, sehe noch immer diesen Krampf, der über sein Gesicht fegte, ausgelöst von einer Entdeckung, die allein der Teufel kennt. Ganz plötzlich lag der Tod auf dem kleinen Tisch zwischen uns. Eine schwierige Situation. Es gab eine Untersuchung; Fragen wurden gestellt, die vielleicht ziemlich überraschend klangen. Der Leichenbeschauer erinnerte mich an seinen Befund und beschrieb den au-
ßergewöhnlichen Ausdruck des Verstorbenen. Er fühlte sich zu fragen veranlaßt: ›Geschah irgend etwas, wie unbedeutend auch immer, während Sie mit Mr. Atropos zusammen waren, was diesen Ausdruck extremer Furcht erklären könnte?‹ ›Nichts dergleichen.‹« »Er stellte Herzversagen fest. Sie bedankten sich bei mir dafür, daß ich so überlegt gehandelt hatte, einen Krankenwagen gerufen hatte und so weiter, und damit war die Sache für mich glücklicherweise zu Ende.« »Sie haben es vermieden, die Wahrheit zu sagen«, warf ihm Zonfeld vor. »Was für eine Wahrheit? Was immer Atropos entdeckt hatte, er nahm es mit sich. Er sagte mir nichts.« »Selbst dann –« »Selbst wenn ich ihnen alles so berichtet hätte, wie ich es Ihnen berichtet habe, dann hätten sie auch nur feststellen können, daß er zu Tode geängstigt wurde! Und das war es auch tatsächlich, Zonfeld.« »Ein Mann starb, weil er eine Anormalität in den Linien Ihrer Hand entdeckte – wollen Sie das damit sagen?« »Sie können sich auch gern auf eine andere Möglichkeit festlegen.« Der Psychiater erlaubte sich eine gedehnte Pause, bevor er den Faden wieder aufnahm.
»Dieser Atropos. Selbst in dem Zusammenhang, in dem Sie alle diese Zwischenfälle sehen wollen, müssen Sie doch zugeben, daß sein Tod in eine andere Kategorie fällt?« »Ich hatte keinen Grund, mich darüber zu freuen, wenn Sie das meinen. Stellen Sie sich vor, wie ich mich gefühlt habe. Ich stand kurz vor einer großen Entdeckung über mich selbst, nur um sie mir einen Augenblick vor der Wahrheit wieder entreißen zu lassen. Ich habe es nicht gewagt, noch einen von seiner Gilde aufzusuchen. Und dann war mir schließlich auch klar, daß das gar nicht mehr notwendig war. Mein Verdacht war durch den Tod des Wahrsagers gefestigt worden.« »Verdacht?« »Daß etwas Unerklärliches in meiner Seele Platz gefunden hat, irgendwo in dieser psychologischen Struktur war der Dämon, der bewegende Geist, der meiner Existenz einen Sinn zu geben vermochte.« »Ich sah ihn nie wieder.« Cherry sah selten vollkommen geistlos drein. Aber diesmal fühlte er sich berechtigt, seine Überraschung für ganze fünf Sekunden sichtbar zu zeigen. »Sie sahen Morlar nie wieder?« »Er traf eine Verabredung, aber hielt sie nicht ein. Es gab keine Fortsetzung, keine weiteren Enthüllun-
gen, keine Therapie für ihn. Von dem Augenblick an, in dem er diesen Raum verließ, habe ich nichts mehr von ihm gehört.« »Aber – warum sagten Sie mir das nicht?« Die Frage hatte wenig Sinn, hatte mehr zu tun mit Frustration und Wut; eben in dem Augenblick, in dem er den ersten schwachen Umriß von Morlars Geheimnis zu erhaschen begann, als er sich mit einigen bösen Ahnungen einem Problem näherte, das in das Nirgendwo der Metaphysik gehörte, wurde der Rest der Vorstellung abgesagt. Verdammt! Morlar hatte kein Recht, das Zonfeld anzutun. Zonfeld hatte kein Recht, sich an ihm zu rächen ... und ich bleibe zurück mit – nichts. Die Schwester hatte ihnen nichts zu sagen, also warteten sie in dem kleinen Raum mit seinen technischen Wunderwerken, die noch immer kämpften, um den Einsatz gegen den Tod zu erhöhen. Cherry zwang sich, die schaurige Masse aus Fleisch und Knochen zu betrachten, und Duff sah mißbilligend drein wie einer, der einen schlechten Fernsehfilm zum zweitenmal sieht. »Mein Gott – es nimmt zu!« Der Inspektor wandte sich um und stieß auf Johnson, der mit größter Überraschung auf ein EEG-Gerät starrte, das mit dem Patienten verbunden war. Die
unerschütterliche Miene eines geübten Praktikers löste sich etwas durch das bloße Unvermögen, zu verstehen. »Ich weiß selbst nicht genau, warum ich Sie kommen ließ, Inspektor. Das macht keinen großen Unterschied, nehme ich an. Vielleicht wollte ich einfach jemand hier haben, der meinen Unglauben teilt. Wenn Sie ein Interesse an ungewöhnlichen Phänomenen haben, dann habe ich Ihre Zeit nicht verschwendet.« Damit war noch gar nichts erklärt. Kein dramatisches Ausstrecken der Hand, nur eine müde Geste des Chirurgen in Richtung der Maschine. Dann verstanden sie. Die Nadel zitterte, nicht heftig, sondern mit ständigen Schwingungen, die ein erschreckendes Aufwallen der Energien von tief innerhalb des Gehirns aufzeichneten, dessen gewundene Vorderlappen durch die Schädelfragmente sichtbar waren. Sie starrten auf das technologische Wunder, das die Nachricht von einem psycho-physiologischen Wunder übermittelte, und nicht einer von ihnen wollte glauben, was sich vor ihren Augen abspielte. »Es wird von Stunde zu Stunde stärker«, hauchte Johnson leise, als wollte er vermeiden, daß seine Furcht in Panik überging. »Im übrigen?« fragte Cherry. »Im übrigen ist er klinisch tot.«
»Es muß eine Erklärung dafür geben.« Johnson zwang seine Aufmerksamkeit lange genug weg, um nach einer solchen Ausschau zu halten. »Das Verlangen zu leben, eine übermenschliche Bestimmtheit, nicht zu sterben – denken Sie sich was besseres aus.« »Wozu?« »Vielleicht. Vielleicht hat er vergessen, das Gas unter einem Kochtopf auszudrehen, bevor er angegriffen wurde – wie soll ich das wissen? Ich – nahm einfach an, daß es Sie vielleicht interessieren würde.« Johnson verließ den Raum abrupt und ohne jedes Zeremoniell; die beiden anderen sahen keinen Grund zu bleiben. Aber da war eine Frage, die Cherry stellen mußte. Er drehte sie hin und her, besah sie von einer anderen Seite und stellte sie schließlich auf den Kopf, als er den davoneilenden Chirurgen soeben einholte. »Was wissen wir nicht über das Gehirn?« Eine Frage wie Spiegelglas, durchsichtig; Johnson stolperte fast in sie hinein. Er hob eine Braue, sah aber keinen Grund, Cherry in die Augen zu sehen. »Was wir nicht wissen, entspricht unserem Wissen über das einzige andere universelle Rätsel.« »Rätsel?« »Gott!« Und damit war er gegangen, überließ es ihnen, damit anzufangen, was sie konnten.
Sie verließen das Krankenhaus und gingen, ziemlich in Gedanken versunken, zu Cherrys Wohnung. Seit dem Tod seiner Frau waren ihre Beziehungen ein wenig enger geworden. Sie besuchten sich gelegentlich gegenseitig – sie wohnten nur ein paar Straßen auseinander. Wenn Cherry ausdrücklich um seine Gesellschaft bat, dann wußte Duff, daß ein Fall die innere Ruhe seines Chefs erheblich zu beeinträchtigen drohte. »Haben Sie Marjorie Bescheid gesagt?« »Sicher.« Cherry saß am Küchentisch und ging die Abendzeitung durch, während Duff mit einem Dosenöffner und einer Dose weißer Bohnen kämpfte. Eine Art von Konvention, die zu diesen Junggesellenabenden gehörte. Duff pflegte sich immer um das Kochen zu kümmern, obwohl keiner von ihnen hätte sagen können, warum. Duff behauptete zwar, der bessere Koch zu sein, aber Bohnen auf Toast mit Rührei erschöpfte so ziemlich sein Repertoire. Cherry fiel das nie auf, so daß seine Behauptung unwidersprochen blieb. »Ist noch einer auf der Sterbeliste.« »Stimmt«, sagte Duff. »Es kam eben über den Fernschreiber, als ich den Yard verließ; er starb in den letzten Stunden.« Er wandte sich wieder seiner diffizilen Aufgabe zu;
kleine Stücke von Eierschalen aus der Bratpfanne zu klauben. »Siebenhundertundneunundvierzig.« »In A 3 geht so ein Gerücht um. Der Verkehrsbeauftragte hat eine neue Verkehrsplanung rund um den Circus vor.« »Mich überrascht nur, daß er nicht schon vorher daran gedacht hat.« »Sie brauchen noch einen Monat, um St. Giles zu räumen, sagen sie. Es wird auch davon geredet, daß sie die untere Hälfte von Centre Point auch noch in die Luft sprengen wollen.« Cherry wußte, was gemeint war. Gebäude stürzten noch immer in sich zusammen in einer Art von verzögerten Reaktion, hervorgerufen durch den gewaltigen Aufprall des Düsenriesen. Er konnte sich noch immer an die ersten Bilder des Chaos erinnern, die sich aus den sich verziehenden Staubwolken schälten, an diesen obszönen Berg aus Schutt und verbogenem Stahl, an den unmöglichen Anblick eines gigantischen Flugzeughecks, eingegraben in das, was einmal ein Kino gewesen war, an das Erschrecken, vermengt mit Blut und Schweiß, auf den Gesichtern der Rettungsmannschaften, die zuviel fanden und zuwenig, das zu retten war. Wieviele Tage war das her, seit er dieses berstende Krachen gehört hatte, während er über die Westmin-
ster-Brücke nach Hause fuhr? Wie lange war das her, daß er gewendet und sich einen Weg zu dieser unvergeßlichen Szene gesucht hatte – der Staub hing noch immer über London und wollte sich nicht legen. Ein ganzes Gebiet – verwüstet. Und sie hatten ein Untersuchungskomitee eingesetzt. Die Scorpion versank ohne jede Spur. Eine Untersuchung. Der Concorde-Absturz. Eine Untersuchung. Das Unglück, bei dem zehn Wissenschaftler in Porton Down umkamen. Oder waren es elf? Eine Untersuchung. Die drei toten Astronauten da oben. Eine Untersuchung durch ein Senatskomitee. Die Welt wartete, fragte sich. Was kam als nächstes? Wo? Nutzlose Spekulationen für einen Mann, der seine eigenen Probleme hatte ... Nach dem Essen blieben sie in der Küche, tranken Kaffee und erlaubten sich den Luxus nicht überhastet gerauchter Zigaretten. Duff las die Zeitung; er wußte, daß man Zeit brauchte, um sich von der Ablenkung durch seine Umgebung zu lösen. »Die meisten Leute«, überlegte Cherry ein paar Minuten später, »die einen Haß auf Morlar haben könnten, sind tot – das ist wirklich merkwürdig.«
»Sie glauben noch immer, daß Zonfeld die Antwort hat?« »Ich habe Ihnen noch nicht alles gesagt. Aus dieser Ecke kommt nichts mehr. Zonfeld sagt, daß er Morlar nie wieder gesehen hat.« Das war es also. Der Tod einer Theorie, und Cherry vor der Klagemauer. Man geht einen breiten Gartenweg entlang und stößt auf eine Steinmauer, die nicht da sein sollte. Kein Kontakt mehr, und die Zeit verschwendet. Darüber brauchte man nichts mehr zu sagen. Duff fragte statt dessen: »Wo stehen wir jetzt also?« Cherry ignorierte die Frage. »Es wird Zeit, daß Sie erfahren, warum der Vize mich sehen wollte. Die Politischen sind an Morlar interessiert – sie wollen seine Tagebücher. Alle.« »Wenn es eine politische Arbeit ist –« »Morlar war unpolitisch – so gut kenne ich ihn, um das sagen zu können. Er war kein Subversiver, wie sie diesen Ausdruck verstehen ...« »Woran sind sie dann interessiert?« »Wie findet man eine undichte Stelle in der Gasleitung ohne ein Zündholz? Wie holt man einen faulen Apfel aus einem Faß, ohne die guten anzustoßen? Und wie kam er zu seinen Informationen? Aber ich bin ziemlich sicher, daß Morlar nur so viel zu wissen schien – er konnte es nicht wirklich wissen –«
»Was ist mit L?« »Er erklärt L in Tagebuch Nummer 8. Ein kleiner Dieb, den er einmal verteidigt hat – der vermutlich zu einem Informanten wurde. Robbins überprüft das –« »Die müssen einen guten Grund haben –« »Natürlich haben sie den! Er war gefährlich – lesen Sie mal seine letzten Bücher ... Morlar war fähig, ziemlich brillante Schlußfolgerungen zu ziehen über eine Menge von Dingen, von denen wir eigentlich nichts zu wissen haben. Wie zum Teufel wußte er, daß die Meinungsumfragen durch die Art ihrer Veröffentlichung den Ausgang der letzten Wahlen bestimmt haben? Das ist so ungefähr das, was sie in Bewegung gesetzt hat. Die einfache Antwort – er wußte es nicht. Aber er analysiert die Angelegenheit mit atemberaubender Logik, bis man einsieht, daß er rechthaben muß. Es steht alles schwarz auf Weiß da.« »Also doch ein Subversiver.« »Warum? Weil er die Wahrheit enthüllt? Er muß es getan haben, sonst wären sie nicht interessiert. Er hat als einziger – in Romanform – gezeigt, daß die Ausbeutung der Erdgasvorkommen unter der Nordsee zur größten Katastrophe führen muß, die England und Holland jemals erlebt haben. Das ist subversiv – das ist gegen das gesunde Gewinninteresse der großen Geldleute gerichtet –« »Also gut – er hat die Wirtschaft verraten.«
»Und das nationale Prestige.« »Ich verstehe noch immer nicht, warum sie dann seine Tagebücher wollen.« »Weil sie«, erklärte Cherry, »seine gedankliche Ebene erreichen müssen, soll heißen, sie brauchen den Schlüssel zu seinen Gedankenabläufen.« »Und was hätten sie davon?« Der Inspektor zögerte mit seiner Antwort, erkannte ganz plötzlich, daß er Morlar weit besser verstand, als er selber vermutet hätte. »Es gibt ihnen einen weiteren Vorteil über jene, die seine Theorien zu benutzen wissen – im Interesse der Subversion, des Umsturzes.« Cherry stand auf und sah etwas unschlüssig auf die Überreste der Mahlzeit. »Gehen wir ins Wohnzimmer.« »Ich nehme an, das heißt, wir fangen wieder von vorn an.« »Nein – wir fahren fort, nach dem Mann zu suchen, der Morlar umgebracht hat.« »Fast«, schränkte Duff ein. Cherry hielt an der Küchentür inne, starrte auf den drei Jahre alten Kalender, auf dem sie einen Ring um den 23. Oktober gemalt hatte – sein Geburtstag – eine furchtbare Erinnerung ... »Ihn wirklich umgebracht hat, Tom. Der Mann, der sein Gesicht zu Brei geschlagen hat, hat mehr als ge-
nug getan, um ihn zu töten. Der Unterschied ist jedenfalls ein theoretischer.« »Wir werden das Politbüro also ignorieren?« »Das ist das, was der Vize-Kommissar gesagt hat, glauben Sie's mir.« Cherry ging schon in den Arbeitsraum, während Duff den Abwasch erledigte. Danach gingen sie in aller Ruhe noch ungelesene Tagebücher Morlars durch, lasen sich Stücke daraus vor, sprachen darüber. Bis das Telefon klingelte. Der Inspektor nahm ab. Es war eigentlich kein Gespräch; nur ein paar gedämpfte Worte vom anderen Ende der Leitung ... Duff wunderte sich, warum der Inspektor so erfreut dreinsah, so plötzlich, also entwickelte sich schließlich doch noch alles so, wie er es erwartet hatte. »Aber sicher ... ja – zehn Minuten. Ich werde Sie erwarten.« Cherry legte den Hörer auf, schien mit sich selbst und der Welt zufrieden zu sein, sagte aber nichts. »Raten Sie mal, wer?« Gedehnt. Der Sergeant revanchierte sich. »Morlar.« »Zonfeld. Er kommt sofort hierher. Er muß viel stärker unter Druck sein, als ich dachte.« Duff grinste, erkannte klar, daß das die neue Entwicklung war, die Cherry den ganzen Abend schon erwartet hatte. Der Chef hatte ein Gespür für so etwas.
»Als ich Ihnen sagte, daß ich Morlar nie wieder sah – spielte ich mit der Wahrheit.« Ein vorsichtiges Geständnis. Cherry fragte sich, wie Zonfeld sein Verhalten rechtfertigen würde. »Sie müssen verstehen, wenn ich Ihnen an diesem Abend eine Lüge gesagt habe, dann deshalb, weil ich so vieles mehr wußte. Und dieses Wissen erschien mir so unfaßbar, so erschreckend, daß ich nicht glauben konnte, daß ein Mann, der bei Verstand ist, nicht an meinem Verstand zweifeln würde.« Zonfeld legte eine Pause ein, aber niemand fand sich bereit, die Stille auszufüllen. »Indem ich sagte, daß ich Morlar nie wieder sah, konnte ich mein Gewissen damit besänftigen, daß es ja zutraf, daß ich Morlar nie wieder sah – in meinem Behandlungsraum.« Eine vage Geste. »Aber Sie sind gewiß nicht der Mann, der sich von so etwas täuschen läßt.« »Wieso haben Sie es sich anders überlegt?« »Aus dem gleichen Grund, von dem ich irrtümlicherweise annahm, daß er Morlar zum erstenmal zu mir kommen ließ – schiere Unfähigkeit, mit einem Wissen fertigzuwerden, das einem über den Kopf wächst. Das kann als ein Bekenntnis persönlichen Versagens verstanden werden, aber ich kann nicht mehr mit dem leben, was ich im weiteren von Morlar erfahren habe; ich muß dieses Wissen mit jemandem
teilen. Es stört mich nicht länger, daß es unglaublich klingen muß, weil ich nicht mehr davon überzeugt bin, daß es unglaublich ist. Ich werde Ihnen seine Worte so genau wie möglich wiedergeben – Ihnen erklären, was geschah, aber nicht, um Ihnen bei Ihren Nachforschungen dienlich zu sein, Inspektor – ich habe kein Interesse an diesem Verfolgungsspiel, bei dem es um Morlars Angreifer geht. Es ist einfach so, daß ich mich meines Wissens entledigen muß. Die Konsequenzen sind zu schwer für –« Zonfeld brach ab und schien eine innere Debatte darüber zu führen, wie er es erklären sollte. Er entschied sich dafür, seinen Bericht für sich sprechen zu lassen. »Er hielt den nächsten Termin nicht ein, wie ich schon erwähnte. Drei – vielleicht vier Tage später – klingelte das Telefon bei mir zu Hause. Es war Morlar. Er sagte, daß ich sofort zu ihm kommen solle, daß es dringend sei. Ich hatte ein ungutes Gefühl, aber mir blieb nichts anderes übrig, als zu gehen ...« »Ich bin fast fünfzig, Zonfeld. Es hat so viele Jahre gedauert, bis ich hinter das Geheimnis kam, so daß mich nicht meine verstandesmäßige Verfassung verwundert, sondern die Tatsache, daß ich überhaupt noch einen Verstand habe. Ich habe alles getan – habe
meine Möglichkeiten ignoriert – sie sich selbst überlassen – zu anderen Zeiten habe ich sie einfach hingenommen – die meiste Zeit hatte ich keine Vorstellung von dem, was mit mir vorging. Aber jetzt, Zonfeld, weiß ich es.« Die vertraute Redeweise. Zonfeld hörte scheinbar teilnahmslos zu. »Ich habe sehr hart gearbeitet in verschiedene Richtungen – nicht viel Schlaf gehabt – aber das brauche ich kaum. Warum sich vor dem Tod fürchten, wenn man diese Rolle ohnehin spielen muß. Die Dinge begannen in Bewegung zu geraten, als ich Sie zum erstenmal aufsuchte – das heißt, wenn Ihre Vorstellung von Zeit der meinen entspricht. Diese Idioten von nebenan – sie haben mich fast zum Wahnsinn getrieben mit ihren ewigen Streitereien – ihrer würdelosen Art, alt zu werden – es macht einen krank, wie sich einige von ihnen verhalten – sie nehmen auf niemanden Rücksicht außer auf sich selbst – lassen den Fernseher plärren bei ihrem Gezänk. Ich habe mich beschwert, aber sie sind auch noch taub, diese Schwachköpfe, Zonfeld, sind es immer gewesen, sie hören nichts, aber sie verstehen es, Lärm zu machen. Ein umgekehrtes Verhältnis von geistiger Minderleistung zur Geräuschhinnahme, wie? Versuchen Sie mal, feingesponnene Dialoge zu
schreiben, während daneben Höhlenbewohner den größten Krach machen, dessen sie fähig sind. Eines Abends hatte ich genug. Gerade als ihr Streit den Höhepunkt erreichte, schrie ich mit aller Lautstärke: ›Um Himmels willen, halt's Maul oder spring schon aus dem Fenster, wenn du unbedingt willst!‹ Ich hatte schon mehrfach gehört, wie sie das angekündigt hatte. Plötzlich war völlige Stille.« »Und dann?« drängte Zonfeld. »Nichts. Das Zanken verebbte, und für eine Stunde oder so blieb es ruhig. Dann begann es wieder. Haßerfüllt, wie sie waren, konnten sie nicht voneinander ablassen. Am nächsten Abend begann es von neuem – der Fernseher brüllte und sie ebenfalls – ich konnte ihr Geschrei sogar teilweise verstehen – einfach kindisch – als ob man einen schlecht beerdigten Fernsehautor aus der Zeit der alten Familienserien wiederauferweckt hätte.« Morlar hielt inne und sah Zonfeld an, der sich noch immer fragen mußte, wie diese Geschichte enden würde. »Es ist wunderbar, seine Gedanken zu konzentrieren – sie auszurichten mit der Energie und der Genauigkeit eines Laserstrahls – wenn Sie erfassen können, was das bedeutet, Zonfeld. Ich weiß nicht, wie lange ich unter dem Bann die-
ses Wunders stand – zehn Minuten – zehn Jahre – oder überhaupt keine meßbare Zeit – das nächste, an das ich mich erinnern kann, war das Splittern von Glas und ein verzweifelter Schrei. Als ich aus meinem Fenster sah, lag Mrs. Pennington im Vorhof unten, endlich still. Sie sind ein Narr, Zonfeld. Ich gebe Ihnen die einmalige Gelegenheit, die Phänomene von phantastischen Ausmaßen zu untersuchen, und Sie murmeln nichts als konventionelle Phrasen, die jeder Idiot unter der Sonne kennt. Glauben Sie mir, so werden Sie mit dem Unbekannten nicht fertig.« »Diese Frau war in einer Verfassung, die nur noch zum Selbstmord führen konnte, wenn ihr niemand Hilfe zuteil werden ließ. Glauben Sie im Ernst, daß Ihre sogenannten Gedankenwellen sie zu einer Entscheidung verleiten konnten, die sie bereits getroffen hatte?« Morlars Hand führte eine abwehrende, verächtliche Geste aus. »Diese alte Hexe! Ich sage Ihnen, was geschah – in strikter Reihenfolge – sie war nur ein Prolog, ein zögerndes Experiment, ein Versuchskaninchen, an dem sich zu meiner Zufriedenheit eine Kraft erwies, über die ich absolute Kontrolle erlangt hatte. Sie sehen vor sich einen wahren Opsimathen, einen Mann, der erst spät im Leben lernt. Aber jetzt, da ich
es weiß, Zonfeld! Erinnern Sie sich daran, wie ich mich selbst gerühmt habe – als der Mann, der das Unheil heraufbeschwören kann – ich hatte mich getäuscht ... ich bin der Mann mit der Fähigkeit, Katastrophen zu schaffen.« Zonfeld wagte sich nicht zu bewegen, und er sagte auch nichts. »Sie werden mir wahrscheinlich nicht glauben, bevor ich Ihnen positiv beweise, daß die Evolution ein Gehirn hervorgebracht hat, das mit zerstörerischen Energien geladen ist, das die Barrieren von Zeit, Raum, Materie, des Schicksals selbst überspringen kann, und was wird Ihnen dann anderes übrig bleiben, als zu staunen?« »Mr. Morlar –« »Nein! Doktor Zonfeld ... mit Ihrer freundlichen Zustimmung werde ich zu Ende bringen, was ich zu sagen habe. Vor ein paar Tagen – geschah etwas, das eine niederschmetternde Wirkung auf die Moral dieses Landes hatte. Erinnern Sie sich an den Zwischenfall, über den die Leute noch immer jammern?« Zonfeld brauchte nicht lange zu überlegen – er mußte das Verschwinden der Scorpion meinen – aber das war eine Katastrophe, die nur die Amerikaner anging – da war noch die Concorde-Tragödie, aber was hatte das zu tun mit –?
»Es hat alles mit mir zu tun!« »Wieviele Jahre lang, Zonfeld, sind wir in eine Hinnahme dieser Monstrosität getrieben und geschwindelt worden, die ein schallschneller Segen für die Menschheit sein sollte? Sehen Sie sich die cleveren kleinen Schachfiguren an, die Linien auf ihren Reißbrettern ziehen – neue Häuser für die Obdachlosen? Neue Krankenhäuser für die Kranken? Neue Schulen, um Schluß zu machen mit der Bildungskatastrophe? Concorde! Weißbemäntelte Idioten kriechen wie Würmer durch das Gerippe eines Mastodons – überarbeitete Schätzung siebenhundert Millionen Pfund. Die Politiker räubern öffentliche Mittel, um sich ihre Weihnachtsbaumglorie zu erhalten – überarbeitete Schätzung eintausend Millionen Pfund. Dieser Alptraum, konstruiert, um die ausbalancierte Struktur der Atmosphäre in Fetzen zu reißen, und was werden sie nicht noch alles tun, Zonfeld, diese scheinheiligen Bastarde, um ihren schäbigen technologischen Fortschritt zu demonstrieren? Man füge einen Hauch königlicher Würde hinzu, und es schmeckt süßer. ›Eine sehr erfreuliche Erfahrung‹, zwitschert der königliche Mund, während die Leute nahe Heathrow langsam verrückt werden zu der Melodie der Dezibel, die ewig in ihren Ohren klingelt. Es war an der Zeit, meine Theorie einer praktischen Probe zu unterwerfen. Sie erinnern sich, wie das Ding
abhob mit einem Reklamerummel im Zeichen eines verzweifelten Hurrapatriotismus. ›England kann es bauen – und verkaufen.‹ Und ein jeder, der ein Niemand war, wünschte ihm einen guten Start. Während ich das Startzeremoniell verfolgte – sie übertrugen es im Rundfunk – konzentrierte ich jede Faser meines Körpers, jedes Neuron in meinem Gehirn auf ein Ziel – die völlige Zerstörung einer Obszönität. Die Stimme des Kommentators überschlug sich wie die eines Urinologen, der eine besonders seltene Probe bewundert: ›In einem Augenblick wie diesem fällt es einem schwer, nicht stolz darauf zu sein, zu einer Nation zu gehören, die Waterloo, den 5-Uhr-Tee, Dünkirchen und den britischen Fußballverband hervorbrachte. Sie sieht einfach großartig aus, wie sie da auf der Startbahn steht. Ich kann sie sehen – ja – Ihre Majestät geht soeben von Bord, nachdem sie allen, die mitfliegen werden, Glück gewünscht hat. Eine Königin verabschiedet sich von einer anderen ... und da ist der Premierminister ... man kann das schrille Heulen ihrer Maschinen hören – ein wunderbares Geräusch, das zu einem triumphierenden Röhren anwächst: Wir sind britisch! Langsam setzt sie sich in Bewegung, die Blicke von Millionen folgen ihr ... sie gewinnt an Geschwindigkeit, und der Lärm ist ... sie erhebt sich! Da fliegt ein Triumph der Techno... sie ... sie schwenkt herum –‹
Ich hörte zu, wagte aber nicht zu lächeln, denn ich zwang meine Gedanken zusammen; die Anstrengung war so intensiv, so erschöpfend, daß ich fast in meinem eigenen Schweiß ertrank ... Sie kennen den Rest. Die Concorde stieg bis knapp zweihundert Meter, sackte dann plötzlich ab und fing Feuer – eine ganze Treibstoffladung – siebenundneunzig Passagiere und die Besatzung – was von ihnen übrig blieb, hätte nicht einmal genug für den Nachtisch eines Kannibalen abgegeben. Und ich konnte mich entspannen.« Eine Wolke giftiger Ausdünstungen, in deren Mittelpunkt sich Morlar befand, wie ein Gnom, der Alpträume spann. Zonfeld konnte sich nur allmählich von dieser Vorstellung lösen und sich wieder auf seinen Patienten – war er das noch? – einstellen. »Ich möchte Ihnen trotzdem noch einmal nahelegen, daß ein beruhigendes Mittel Ihnen helfen könnte, die Dinge ganz anders zu sehen, rationaler.« »Zum Teufel mit Ihren Drogen! Sie, Zonfeld, haben teil am Drogenproblem, wußten Sie das? Sie und all die anderen schwarzbefrackten Quacksalber, Sie und die pharmazeutische Industrie und ihre sauberen Aktionäre, die wie Raubgeier nach ihren Dividenden hacken. Drogenproblem? Haben wir nichts mit zu tun – wir sind für ein hartes Durchgreifen der Polizei ...
Beruhigendes Mittel! Das ganze verdammte Land steht unter Beruhigungsmitteln, Librium, Valium, Fernsehshows, Meinungsumfragen, die To Twenty, Methahexadrin, Dr. med. Gordon Pillbox, Ihr freundlicher Hausarzt, der hilft, die Nation zu betäuben. England steht bis zu den Pupillen unter Drogen, ohne es zu wissen.« »Wenn alles und jedermann so unmöglich ist, warum kamen Sie dann überhaupt zu mir?« Nicht so sehr eine Frage, sondern ein Schrei der Verzweiflung. Doch Morlar hatte kein Mitleid. »Machen Sie sich nichts vor, Zonfeld. Ich habe nicht nach Therapien oder Erklärungen verlangt, nicht nach einer Zurückführung zu meinem alter ego. Ich brauchte vielmehr so etwas wie einen Berg, gegen den ich meine Stimme schleudern konnte, um mit dem Echo bestätigt zu bekommen, daß ich tatsächlich die Macht und die Herrlichkeit erlangt habe ...« Zonfeld bewegte sich vorsichtig, mußte sich selbst davon überzeugen, daß ihn seine Füße noch bis zur Tür tragen würden. Er fühlte sich ausgelaugt, geschwächt von den Anwürfen des artikulierten Wahnsinns. Ein Sinn war nur noch im sofortigen Aufbruch zu sehen. »... kann nichts für Sie tun, Mr. Morlar.« »Sie haben mein Mitgefühl –« »Ich kann nichts für Sie tun!«
»Sie bleiben hier, Zonfeld, bis ich zu Ihrer vollen Zufriedenheit bewiesen habe, daß ich kein Kind des Wahnsinns bin!« Morlars Haltung und seine blitzenden Augen waren ein einziger Angriff und Zonfeld vermochte dem nichts entgegenzusetzen. Während er noch immer darauf achtete, daß ihm Zonfeld nicht entkam, legte Morlar den Kopf schräg, wie einer, der nach etwas horcht. »Hören Sie das, Zonfeld?« Er hatte plötzlich eine Art an sich, als wäre er völlig in sich selbst versunken ... Zonfeld sah um sich, als verfolge er die Fußspuren von Morlars Geist. Sein angespannter Ausdruck verlieh dem Schweigen, das Cherry nicht zu unterbrechen wagte, eine besondere Dimension. »Mein Instinkt warnte mich davor, in Morlars Gegenwart zu verbleiben – etwas anderes konnte mich nicht mehr warnen, nachdem der Verstand sich angesichts des Unverstehbaren geschlagen gegeben hatte. Aber ich blieb. Schicksalhafte Neugier. Der siebenundzwanzigste. Ein Datum, das wir nicht so leicht vergessen werden, wie, Inspektor?« Worauf es keine Antwort gab. Sie erinnerten sich, aber sie sahen keine Verbindung mit Morlar – jedenfalls verlangte die Vernunft die Todesstrafe für den einen unmöglichen Gedanken, den Cherry hegte.
»Ich konnte das Flugzeug ziemlich deutlich hören, aber das erschien mir belanglos. Halluzinative Wahrnehmungen schienen mir sein Verhalten zu bestimmen – da waren keine anderen Geräusche – nur der zunehmende Lärm, während das Flugzeug an Höhe gewann. Morlar war zum Fenster hinübergegangen. Von meinem Standort aus konnte ich ihn im Profil sehen, wie er in den Nachthimmel hinaufstarrte. Seine – innere Spannung wuchs sichtbar an, als stünde er im Mittelpunkt der Erde unter dem Druck von unmeßbaren Kräften. Schweiß troff von ihm, als würde der Teufel getauft. Das Getöse wurde lauter, mein Atem ging schwer. Ich ging näher an ihn heran, fasziniert von der monströsen Geburt eines pervertierten Wunders. Durch meine überhitzte Vorstellungskraft sah ich eine ganze Kavalkade von Augen, die zurückwich in die Unendlichkeit. Ich rief: ›Morlar‹! Ich war verängstigt durch das Gefühl, grenzenlos allein zu sein in diesem Raum. Aber er war – anderswo, und ich war tatsächlich allein. Das Flugzeug war über uns hinweggeflogen, das Ticken der Uhr wurde wieder hörbar, aber ich horchte noch immer, beobachtete noch immer den Schweiß, der in gleichmütige Augen troff.
Eben in dem Augenblick, als ich es nicht mehr länger hätte ertragen können, hörte ich die Explosion. Fast augenblicklich entspannte er sich und kam langsam auf mich zu, ein entferntes Lächeln auf den Lippen ...« »Zwei Vögel mit einem Stein, Zonfeld. Einer von diesen verdammten Jumbo-Jets ist gegen ein Symbol von der hochstrebenden Arroganz des Menschen geprallt – Centre Point ...« »Ich glaubte, ohne zu glauben. Sah, ohne zu sehen. Hörte, ohne zu hören. Zu wissen, daß die Wahrheit falsch ist, selbst wenn sie einem ins Gesicht starrt, Inspektor, das läßt einen die wirkliche Bedeutung der Hölle erkennen, das hält einen gefangen in einem Raum, in dem das Licht von der Dunkelheit getrennt ist. Wie versteinert sah ich ihm zu, wie er fast unbeschwert durch den Raum ging, zu dem Kofferradio auf einem Tisch neben der Liege. Er schaltete es an und wartete. Ein Quartett von Schubert: Der Tod und das Mädchen. Eine plötzliche Unterbrechung durch eine Sonderansage. Zwei Minuten Stille, dann ein Ansager, der sich verzweifelt bemühte, seine Erregung zu verbergen. ›Wir erhalten soeben die Nachricht, daß eine
Maschine der B.O.A.C. inmitten von London abgestürzt ist. Erste unbestätigte Berichte besagen, daß Centre Point, eines der bekanntesten Wahrzeichen Londons, zerstört worden ist, aber –‹ Er schaltete das Radio wieder aus. ›Glauben Sie mir jetzt?‹ fragte er. Was war da noch zu sagen? Ich ging.« Zonfeld schien seinem Bericht noch etwas hinzufügen zu wollen, aber es kam nichts. Statt dessen verabschiedete er sich nach einem kurzen Wortwechsel und ließ die beiden Männer vom Yard in einem Sog der Ungewißheit zurück. »Und was sollen wir daraus nun machen, Sir?« Duff hatte sich nicht nur die ganze Zeit über pflichtbewußt im Hintergrund gehalten, sondern es außerdem vergessen, das Bier zu holen. Der Abend drohte zu viel für ihn zu werden. »Zonfeld verheimlicht noch immer etwas.« »Ich sehe aber nicht, was für einen Unterschied da eine Einzelheit mehr oder weniger machen könnte.« »Um Morlars Wahnsinn zu beweisen?« Cherry ließ die Frage ein paar Augenblicke stehen. »Nein – ich glaube nicht. Aber dann – wenn jemand Morlar umzubringen versuchte, weil Morlar verrückt war –« »Oder gefährlich.« »Oder beides.« Cherry sah zu dem Glas auf dem Beistelltisch. »Er hat seinen Drink nicht angerührt.«
Duff versuchte es noch einmal. »Also verbirgt Zonfeld etwas. Was zum Beispiel?« Cherry schien leicht überrascht. »Zonfeld? Nun – ganz einfach – den Grund, warum er Morlar umzubringen versuchte.« Duffs feierlicher Ernst war fast beeindruckend. »Das war wohl eine Schnellschuß-Idee?« »Die Art, wie Zonfeld eine Schicht nach der anderen von Morlar blättert, das ist seine Methode, ein Geständnis zu machen. Ein Akt des Wahnsinns, von ihm selbst begangen, zwingt Zonfeld, wieder denselben Pfad zurückzugehen, auf dem er sich Morlar näherte.« »Auf Ihr Verlangen hin«, stellte Duff fest. »Ich gebe ihm die Möglichkeit, es sich selbst zu erklären, so gut er es kann.« »Theorie, Sir?« »Ja ... Theorie.« »Motiv, Sir?« »Eine unheilvolle Tat, um größeres Unheil zu verhindern.« »Das nur in Morlars Kopf existiert«, schränkte Duff ein. »Wirklich?« Diesmal mußte Duff seine Überraschung zeigen. »Sagen Sie bloß, daß Sie das alles glauben?« Cherry wollte etwas entgegnen, wechselte aber die Spur seiner Gedanken und ging etwas anders vor.
»Was war denn Ihre Reaktion auf ›das alles‹?« »Die Scorpion – Concorde – und all das? Nun ja – ich meine, das klingt einfach zu blöd – wie kann ein Mann durch – ich meine, wenn ein Mann das alles verursachen könnte, wozu wäre er dann nicht fähig?« Am nächsten Morgen erstattete Cherry dem VizeKommissar Bericht. Sir John steckte die Pfeife zwischen seine Zähne, um ein Lächeln zu unterdrücken. »Morlar ist also bereits hinter der Biegung verschwunden, und Zonfeld ist nur eine halbe Länge hinter ihm. Und wo sind Sie?« »Auf dem dritten Platz, Sir.« »Sie sind ein gutes Pferd, Cherry. Aber ich frage mich, ob Sie nicht in die verkehrte Richtung galoppieren.« »Das läßt sich erst sagen, wenn das Rennen gelaufen ist. Das ist es aber noch nicht.« »Wie meinen Sie das?« »Wenn Zonfeld Morlar angriff, dann war das eine Art von Präventivschlag. Eine mikrokosmische Situation – ein Zustand der immer stärker angeheizten Aggression entstand zwischen ihnen – Zonfeld reagierte zunächst nicht, aber Morlar erhöhte den Druck immer weiter, eskalierte die Krise bis zu einem Punkt, wo Zonfeld in Selbstverteidigung reagieren mußte. So sieht es jedenfalls aus.«
»Selbstverteidigung gegen was?« »Drohendes Unheil, bevorstehende Katastrophen. Da ist die Scorpion-Sache – unerklärt. Da ist die Concorde – niemand weiß, warum sie abgestürzt ist. Ein Jumbo-Jet prallt gegen Centre Point. Warum? Unerklärlich? Aber Morlar weiß es – er sagt es Zonfeld – und Zonfeld berichtet es mir. Stellen Sie sich vor, ich wäre an Morlars Stelle. Ich vollbringe das Undenkbare, ich lasse Katastrophen entstehen – und mein Zuhörer geht hinaus, scheinbar nicht überzeugt. Was würde ich dann wohl tun?« Der Vize-Kommissar nickte, sicherlich mehr interessiert, als er zugeben wollte. »Ich würde ein noch überraschenderes ›Experiment‹ in Szene setzen, da ich weiß, daß ich seine Neugier, wenn nicht seinen Glauben gewonnen habe. Würde eine so furchtbare Katastrophe schaffen, daß Zonfeld gezwungen ist, heftig zu reagieren.« Cherry, auf eine direkte Zurückweisung gefaßt, war um so mehr überrascht, als Sir John ernsthaft auf seine These einging. »Sie meinen, er würde Zonfeld anrufen und sagen: ›Ich habe diesmal etwas wirklich Großes vor. Kommen Sie 'rüber und sehen Sie zu, wie ich es mache.‹ Also begibt sich Zonfeld, halb von dessen übermenschlichen Kräften überzeugt, zu Morlars Wohnung und macht ihn fertig, nur damit er sicher sein
kann, daß dieser seine Ankündigung nicht wahrmacht? Das bringt nichts, Cherry, wenn Sie eine solche Kette von Ereignissen konstruieren, dann geben Sie damit nur zu, daß Sie so verrückt sind wie die beiden. Sie haben nur Zonfelds Wort, daß alles so geschehen ist, wie er es Ihnen wiedergegeben hat. Ich glaube, daß Zonfeld irgendwo entlang einer ziemlich verschlungenen Schnur den Verstand verloren und sich seine eigene fantastische Geschichte zurechtgebastelt hat.« »Das erklärt nicht die Eintragungen in Morlars Tagebuch, Sir. Eine bezieht sich auf die Concorde – eine andere auf Atom-U-Boote – denken Sie an die Scorpion – und da ist auch noch eine gehässige Auslassung gegen Centre Point.« Sir John zuckte mit den Schultern. »Es gibt Tausende von Leuten, die Tagebücher führen – und denen es Spaß macht, blödsinnige Kommentare über Dinge niederzuschreiben, die ja in aller Munde sind.« »Nicht, bevor etwas geschieht mit diesen Dingen – die in aller Munde sind.« Der Vize-Kommissar nahm sich die Zeit, um das zu verdauen. Es mußte eine Antwort geben, die Schluß machte mit dieser absurden Theorie. »Sagten Sie nicht, daß seine Tagebücher nicht mit dem jeweiligen Datum versehen waren?«
»In zwei Fällen fanden wir Bezüge auf Ereignisse, von denen wir wissen, daß sie vor den Katastrophen stattfanden.« »Sie meinen, er plante sie – im voraus?« »Er hatte sie im Sinn.« Die Pfeife im Munde Sir Johns knirrschte hörbar. »Mein Gott, Cherry, Sie bringen mich noch dazu, diese halbgare Theorie zu glauben. Nehmen wir nur mal an, Sie hätten recht. Würde das erklären, warum unsere Kollegen so sehr an Morlar interessiert sind?« Cherry schüttelte den Kopf. »Der Witz ist, sie haben keine Ahnung von Morlars anderem Selbst. Für sie ist er nur ein Mann mit Ideen, die gefährlich genug sind, wenn –« Der Vize-Kommissar spürte Cherrys Zögern. »Fahren Sie fort – sagen Sie, was Sie sagen wollten.« »Wenn die Zeiten gegen Männer mit Ideen sind – die gegen die bestehende Ordnung der Dinge gerichtet sind.« »Nun ja – das andere Selbst?« »Man könnte sagen, ein Mann der Taten, Sir. Seine Gedanken erzeugen Energie, wie ein Dynamo, nichts stört diesen Prozeß. In diesem Augenblick befindet er sich in einem Zustand, der dem Tod gleichkommt, aber sein Gehirn funktioniert wie ein Kraftwerk. Daran müssen wir uns erinnern, wenn wir die Unmöglichkeiten abwägen.
Es ist, als wäre die Stärke der Gedanken, die er in sein Werk einbringt, nicht genug. Sein Gehirn ist wie ein Kessel, der überkocht mit der Kraft intensiven Spekulierens, der Handlungen braucht als Ventil.« »Eine Art Töten auf die Entfernung?« »Wissen Sie etwas über Telekinese, Sir?« »Ja – das ist die Wirkung, die eintritt, wenn man zu viele alte Filme auf der Mattscheibe ansieht.« »Grob definiert, ist es die Wirkung intensiver geistiger Aktivität, konzentriert auf ein entferntes Objekt, das in Bewegung gesetzt oder abgebremst wird. Die Russen nehmen das sehr ernst. Gavarov, ihr führender Forscher, gibt an, daß eine Person in der Lage war, einen mehrere Meter entfernten Stuhl deutlich zu bewegen.« Cherrys Begeisterung traf auf einen Blick, dessen Absicht es war, ihn aus der Fassung zu bringen. »Sie lesen viel, Inspektor?« »Ich – ja, das tue ich, Sir.« »Ich frage mich, ob Sie nicht manchmal zuviel lesen?« Cherry suchte Richter Quinton auf, der nach Bekunden von Morlars Anwalt mit Morlar zusammen studiert hatte. Doch auch Quinton konnte nichts Wesentliches zu dem Bild hinzufügen, das Cherry bereits gewonnen hatte. Er verabschiedete sich, dann ging er gedankenverloren durch North Gate in das
lebhafte Treiben der Fleet Street. Er war so mit sich selbst beschäftigt, daß er versehentlich gegen einen Mann stieß, der nach einem entfernten Taxi winkte. »Mann, um Gottes willen, passen Sie lieber auf, wohin Sie gehen!« Cherry entschuldigte sich und dachte über Gereiztheit nach – als ein neurotisches Gegenstück der Furcht. Es gab eine Menge davon um ihn herum. Er befand sich unter der Ludgate-Brücke, bevor ihm klar wurde, daß er in die falsche Richtung ging. Cherry fuhr selten, wenn er gehen konnte, und ging niemals in Richtung Osten, wenn er nach Westen wollte. Doch jetzt war es ihm egal, daß er ohne Sinn und Ziel dahinging. War es Zufall, daß er den Vorplatz vor St. Pauls' erreichte? Er erinnerte sich an den kurzen Ausflug des Romanciers in die kleine Gartenanlage hinter St. Paul's. Was ihn wiederum an einen Absatz in einem von Morlars Tagebüchern erinnerte, den er in einer späten Stunde entdeckt hatte. Und den er dem VizeKommissar gegenüber nicht erwähnt hatte. »Heute außergewöhnliche Begegnung mit L. Es muß elf Jahre her sein, seit ich ihn verteidigt habe, erfolgreich, wie ich hinzufügen muß – wegen nicht mehr als einem kleinen Diebstahl. Er saß in dem kleinen öffentlichen Park hinter St.
Paul's, und gegen meine Gewohnheiten sprach ich ihn an. Eine recht vorteilhafte Begegnung. Er berichtete mir, aus einer sentimentalen Dankbarkeit heraus, vermutlich, unglaubliche Einzelheiten in bezug auf die Methoden der politischen Polizei in diesem Land; eine Organisation, die ihn als Boten und allgemeinen Zuträger in ihre Reihen aufgenommen hatte. Und zwar nach einem späteren, ähnlichen Vergehen, das er mit sechs Monaten abgebüßt hatte. Er erklärte, daß man nicht wenige kleine Straftäter für diesen Zweck einsetzte, da sonst das Netz der Überwachung weniger extensiv wäre. Ich nahm mit großem Interesse zur Kenntnis, daß Werkschutz- und andere Sicherheitsorganisationen in enger und geheimer Zusammenarbeit mit der politischen Polizei arbeiten, und daß Pläne bestehen, im Fall von Bürgerunruhen beide Organisationen koordiniert einzusetzen. Das läßt viele der beängstigenden Entwicklungen besser verstehen, die sich vor unserer Nase abspielen, und die eine bedrohliche Ähnlichkeit mit Ereignissen im Vorkriegsdeutschland haben. L sagte mir zu, mich weiter auf dem laufenden zu halten, bestand aber auf aufwendigen Vorsichtsmaßnahmen, weil er ihr Überprüfungssystem fürchtet. Er war ziemlich ärmlich gekleidet, wirkte fast wie ein Penner. Sein neuester Auftrag – auf radikale Um-
stürzler achten, die gegen das Covent GardenSanierungsprogramm agitieren. Ich erfuhr auch von ihm, daß Gebäude absichtlich niedergebrannt werden, um dann anstelle eines Wohnhauses einen neuen Büroblock errichten zu können, ohne daß es zu Unruhen kommt. Das ist ihnen offenbar 5000 Pfund und die Garantie, nicht verhaftet und angeklagt zu werden, wert. Sie nennen es Operation Blindes Auge.« Warum hatte er das dem Chef gegenüber nicht erwähnt? Während er einen guten Grund dafür auf dem anderen balancierte, bemerkte Cherry, daß er soeben ein großes Plakat las, das an einem Gestell in der Säulenhalle festgemacht war. Es besagte, daß die Spendensammlung für die lange schon überfällige Restaurierung des Mauerwerks der St.-Paul's ihr Ziel erreicht und also die nötige Summe eingebracht hatte. Um das gebührend zu würdigen, sollte am nächsten Tag ein Dankgottesdienst abgehalten werden. Er hatte natürlich davon gehört. Es war eine dieser großen öffentlichen Protzereien; all die großen Lichter des Landes würden erscheinen, und der Bürgermeister veranstaltete ein Bankett im Rathaus. Die Vorbereitungen waren ziemlich hektisch. Blumen wurden über den ganzen Platz verstreut. Da waren Männer, die bereits unabsehbare Strecken von
Kabel verlegten für die morgige Fernsehübertragung. Ein Aufnahmeleiter und seine Assistenten brabbelten durch die Gegend, als gehe es um Kameraeinstellungen für die großen Thriller Mord im Dom. Eine frenetische Szene, die den Anspruch auf Frieden und Ruhe, der von dieser Umgebung ausging, völlig ignorierte. Cherry sah einen schwarzgewandeten Kirchendiener, der sich die Entweihung zweifelnd besah und sich zu überlegen schien, ob er seine Empörung dem Dekan mitteilen sollte. Cherry ging zu ihm hin, soll heißen, kämpfte sich über die Kabel hinweg und lächelte dem kleinen Mann, der seine Aufgabe so ernst nahm, freundlich zu. Hocherfreut, sich jemand anvertrauen zu können, nickte er Cherry zu und wies mit dem Kopf auf das Durcheinander. »Was für ein Treiben!« »Es dient einem guten Zweck.« »Ah – ja – nun, ich nehme an, drei Millionen kommen nicht jeden Tag ins Haus.« »Eine Menge Geld.« »Nicht genug.« Cherry entschied sich für die Annahme, daß der Kirchendiener von Natur aus Pessimist war. Bevor er äußern konnte, daß man nicht so habgierig sein sollte, begann der Schwarze schon zu erklären, warum drei Millionen nicht genug waren.
»In der Westfront zeigen sich Risse. Das Mauerwerk wölbt sich schon sichtbar nach außen. Wenn es nachgibt, verstehen Sie – dann fällt alles zusammen.« Selbst ein Pessimist konnte für eine so positive Reaktion nur dankbar sein. Cherrys Ausdruck ähnelte zusehends einer Teetasse, die jetzt eigentlich fällig war. »Sie sehen ein bißchen arg bleich aus, entschuldigen Sie, wenn ich das bemerke, aber –« »Sagen Sie das noch einmal!« Ein ausgesprochener Befehl, der eine sofortige Antwort verlangte. »Ich sagte: ›In der Westfront zeigen sich Risse. Wenn sie anfängt –‹« Plötzlich bemerkte er, daß niemand mehr neben ihm stand. Der bebrillte, gebildet wirkende Herr war nirgends mehr zu sehen. »Muß wohl angenommen haben, daß die Wand gleich einstürzt und ihn unter sich begräbt«, murmelte er, und sein Lächeln verwandelte sich in eine Grimasse, als er zusehen mußte, wie noch eine Batterie von Flutlichtlampen angeschleppt wurde. Irgendwie kehrte Cherry in den Strom der Passanten zurück. Irgendwie riß er sich los von den paar Worten, die ihm ein verrückt gewordenes Schicksal in den Weg geworfen hatte. Zwischen St. Paul's und dem Yard verloren sich seine letzten Zweifel; er mußte hinnehmen, daß das,
was an ihre Stelle trat, zu erschreckend war, um in bloßen Worten ausgedrückt zu werden. Während er sich durch überbevölkerte Straßen der Innenstadt kämpfte, überquerte er einen Rubikon, der durch den Hades floß. Wie konnte man, wenn man einmal das Unmögliche akzeptiert hatte, seinen Glauben weitergeben an jene, die ein ureigenes Interesse daran haben, nur das zu verstehen, was den Gesetzen der Natur und eines geradlinig funktionierenden Verstandes entspricht? Es sah fast nach Ironie aus, daß er, der einst Zonfeld nach den Gesetzen des Möglichen beurteilt hatte, sich jetzt den Urteilen anderer und dazu ihrem Spott stellen mußte. Keine Wahl. Morlar hatte nicht übertrieben. Morlar hatte die ganze Wahrheit gesagt, die jede Erfindung übertrifft. Morlar lag im Sterben, aber zugleich lebte er unzweifelhaft weiter für einen letzten tödlichen Zweck. Und der Zweck hatte zu tun mit einer rätselhaften Eintragung in einem Tagebuch, die wie zufällig von einem unbedeutenden kleinen Kirchendiener zitiert worden war. Selbst jetzt konnte sich Cherry noch nicht zugeben, was es war, was geschehen mußte. Mußte, nicht konnte; dieses mußte besagte, welche Entfernung er in so kurzer Zeit zurückgelegt hatte.
Die nüchterne Atmosphäre des Scotland Yard kühlte seine Sinne wieder etwas ab. Er mußte wie ein guter und tüchtiger Polizeibeamter denken, frei von fiebrigen Phantasmen, wenn er mit Aussicht auf Erfolg versuchen wollte, die Katastrophe abzuwenden. Zuerst Zonfeld, um sich die schlimmsten Befürchtungen bestätigen zu lassen. In seinem Büro angekommen, rief er bei Zonfeld an. Seine Sekretärin erklärte, daß der Meister alle Verabredungen mit Patienten abgesagt hätte. Auf Cherrys Drängen hin stellte sie zu Zonfeld durch, der ihm erklärte, daß er ihn sofort sehen wolle. »Können Sie kommen, Inspektor?« »Ich bin schon auf dem Weg.« Bevor das der Fall war, hielt ihn noch Duff auf. »Die Sache mit L, Sir. Wir hatten da keine Schwierigkeiten. Robbins ist die Falliste aus Morlars Zeit als Verteidiger durchgegangen. L steht für Lorimer. Morlar verteidigte ihn vor elf Jahren wegen einer Diebstahlsanklage. Erfolgreich. Wir haben L's Laufbahn weiterverfolgt. Nur zwei weitere Verurteilungen, und seither fällt er völlig aus dem Bild – abgesehen von einem Strafmandat wegen Falschparkens und einer Vermißtenmeldung seiner Frau.« »Wie?« »Seine Frau hat vor etwa sechs Monaten sein spurloses Verschwinden gemeldet.«
Cherry stöhnte. Wieder fiel ihm eine Stelle aus Morlars Tagebüchern ein: »Was geschieht mit dem Mann, der zuviel weiß?« »Kommen Sie mit. Wir fahren zu Zonfeld. Sofort.« Unterwegs weihte er den ungläubigen Sergeanten in das ein, was ihm inzwischen widerfahren war. Duff fühlte sich ziemlich ungemütlich in diesem Raum, der Neurosen geradezu hervorzubringen schien, von denen er nie gehört hatte. Er wünschte, Zonfeld würde sich ihnen zuwenden, ihre Existenz zugeben, jedenfalls aufhören, durch dieses Fenster ins Freie zu starren, das mit einem verheißungsvollen grünen Licht erfüllt war, als befänden sich dahinter Meerestiefen, erschreckend und friedensspendend zugleich. »Als Sie mich anriefen – hatte ich andere Vorstellungen ... wissen Sie, warum ich es mir anders überlegt habe – warum ich Sie bat, zu kommen?« »Um mir zu sagen, daß Sie Morlar umzubringen versucht haben.« Cherry sah keinen Grund, es nicht direkt zur Sprache zu bringen. Zonfeld fuhr herum, konnte seine plötzliche Erregung nicht verbergen. »Morlar! Sie verurteilen mich bereits! Nun gut! Glauben Sie, daß ich stolz darauf bin, weil ich versagt habe?« »Verurteilen – vom Anbeginn der Welt an kann
man dem Verurteilen nicht entkommen. Wenn ich damals diesen politischen Emporkömmling in Deutschland getötet hätte, dann hätte die Welt noch immer geschrien: ›Verurteilt ihn!‹ Ich – ich habe versucht, der Welt einen Gefallen zu tun, Inspektor. Ich weiß jetzt, daß mir das nicht gelungen ist.« Worauf auch Cherry keine zufriedenstellende Antwort finden konnte. »Sergeant Duff wird Ihre Aussage aufnehmen, wann immer Sie dazu bereit sind, Doktor.« »Und sie wird ihren Weg ins Gericht finden, vorgelesen werden, und man wird ausführlich darüber beratschlagen. Aber bis dahin wird es zu spät sein. Niemand wird sich noch dafür interessieren. Ich werde versagt haben. Weil ich zum einen alles wußte – zum anderen aber – nichts gesehen habe.« »Würde es Sie überraschen, wenn ich Ihnen sagte, daß wir nicht so sehr ein Geständnis als eine Offenlegung der Tatsachen erwarten?« »Das läuft doch sicher auf ein und dasselbe hinaus?« »Nein – glauben Sie mir. Ich mußte nicht auf Ihre Einladung warten.« »Ich verstehe ... schön, Inspektor. Lassen Sie mich zunächst eines klarstellen – ich hätte unter allen anderen Umständen mein Schweigen bewahrt. Was
sollte es mich kümmern, daß Morlar Zentimeter um Zentimeter stirbt? Aber ich kann nicht mehr mit diesem Wissen leben – und was schlimmer ist – ich kann nicht mit ihm sterben. Die Frage stellt sich natürlich, warum Sie mir noch irgend etwas glauben sollten, da ich Sie bereits zweimal getäuscht habe.« »Warum sollte ich annehmen, daß Sie Morlar ohne jeden Grund umzubringen versuchten?« Zonfeld starrte zuerst auf Cherry, dann auf den Sergeanten, der mit dem Notizbuch in der Hand wartete, dabei aber nicht den Psychiater, sondern Cherry beobachtete. »Der Krisenpunkt, Inspektor. Ich beobachtete in mir selbst, was ich so oft bei meinen Patienten beobachtet habe, diesen Augenblick der Wahrheit. Ich erreichte diesen Augenblick bei meiner letzten Begegnung mit Morlar.« »Was geschah in dieser Nacht, Doktor Zonfeld?« »Ich muß mit dem beginnen, was zwei Nächte zuvor geschah. Er rief meine Privatnummer an ... ›Zonfeld ... ja?‹ ›Sie sind noch immer nicht überzeugt?‹ Seine Stimme, gespannt wie ein Bogen. Ich wollte sagen, daß wir nichts mehr besprechen können, was für uns beide von Interesse wäre. ›Doch, wir können, Zonfeld. Hören Sie zu – dieses
Weltraumgeschoß nähert sich dem Mond – in zwei Tagen geht es in Umlaufbahn. Sie haben mein Wort darauf, daß es nicht zurückkehren wird, Zonfeld. Kann ich Ihnen einen noch stärkeren Beweis anbieten?‹ Ich warf den Hörer auf die Gabel, aus Furcht vor seinem Wahnsinn, aus Angst vor der Wahrheit. Diese Behauptung, daß er der Zerstörung auf jede Entfernung fähig war, mußte zurückgewiesen werden. Das war einfach eine Frage der Selbsterhaltung. Sie wissen, was geschah. Von Anfang an hielt die ganze Welt den Atem an, als deutlich wurde, daß die drei Männer in höchster Gefahr schwebten. Die Leute in der Kontrollstelle waren außer sich; alle Steuersysteme funktionierten normal. Sie konnten sich die Folge von Mißgeschicken nicht erklären, die zu der Katastrophe – und zu völliger Stille führten. Ich verfolgte es mit, wie das alle taten, teilte mit Millionen diese furchtbare Dichotomie von Erwartung und Verzweiflung, die der menschlichen Rasse eigen ist. Furchtbar, weil wir nie um mehr als eine Haaresbreite von der Hoffnung auf das Unglück entfernt sind – oder von der verachtenswerten Enttäuschung, wenn das Unternehmen doch gelingt. Es wurde unerträglich. Sie wissen es ja. Die Menschheit hat einen Sinn für das Makabre. Statt ihnen den Tod in würdiger Stille zu gestatten, müssen
wir den Stunden schmerzlicher Diskussion und Analyse zuhören – ihnen auch noch zuhören, wie sie Hymnen singen, während sie langsam sterben. Wir alle sind an dem Spiel beteiligt ... Aber während ich zusah und hörte, wurde ich den Gedanken nicht los – das war kein unerklärlicher Unfall, das war das Werk eines Menschen, der seine Kräfte der Vernichtung gegen dieses ganze Unternehmen mobilisierte. Ich wußte, daß ich allein diese Antwort in den Händen hielt. Ich hielt nicht an, um zu überlegen, daß Morlar damit unwiderruflich meinen Unglauben zerstört hatte. Ich hielt nicht an, um zu denken. Ich raste durch verlassene Straßen, als ob ein Todeswunsch an meiner Seite säße. Niemand war zu sehen. Selbst die Polizei schien mehr damit beschäftigt zu sein, diesen Verkehrsunfall im Weltraum zu verfolgen. Der Portier in seinem Glaskasten sah nicht einmal auf, als ich in die Vorhalle des Appartementblocks trat. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf ein Kofferradio konzentriert, und ich erreichte ungesehen den Aufzug, der mich in den achten Stock brachte – Korridore – der erste links – dann rechts – bis ich bebend vor Morlars Tür stand, mir nun endlich dessen bewußt war, was ich vorhatte. Aber nicht deshalb bebte ich, sondern weil ich nicht
umhin konnte, ihm noch einmal gegenüberzutreten. Ich sah in ihm einen Dämon in Menschengestalt. ›Ich wußte, daß Sie kommen würden, Zonfeld. Keine Wahl gehabt, wie? Machen Sie schnell, Mann – hören Sie ihnen zu. Sie machen es mir leichter – aber ich darf meine Konzentration nicht verlieren – Tag und Nacht, Zonfeld – absolute Kontrolle über ihr Schicksal –‹ Das Radio plärrte. Ich konnte die dringlichen Anweisungen der Kontrollstelle ganz deutlich hören, deren Leute alles versuchten, um die Astronauten aus einer Umlaufbahn herauszuhalten, die zu einem Sturz auf die Mondoberfläche führen mußte. ›Wir sind bis auf zehn Meilen 'runter, Geoff – kein Schub mehr – ich halte meinen Finger auf dem Knopf, aber wie du sagst, da ist kein Saft mehr drin!‹ Noch zwei zusammenhanglose Wörter, alles andere wurde von atmosphärischen Störungen unhörbar gemacht – dann völliges Schweigen. Ein Sprecher erklärte: ›Wir haben die Funkverbindung verloren. Sie sind jetzt hinter der erdabgewandten Seite des Mondes. Wir können nur warten und hoffen, daß sie zurückkehren werden.‹ Morlars Grimasse besagte etwas ganz anderes. ›Da könnt ihr bis in die ferne Ewigkeit warten. In zwei Minuten wird das seismische Aufzeichnungsgerät das Echo eines ungewöhnlich heftigen Mondbe-
bens aufzeichnen. Das wird das Aufschlagen von Achilles 6 auf der Mondoberfläche sein.‹ Es dauerte vielleicht nicht mehr als zwei Minuten, bis der Sprecher den Epilog zu einer Tragödie verlas: ›Es wird angenommen, daß Achilles 6 auf der erdabgewandten Seite des Mondes aufgeschlagen ist. Die Astronauten Fergusson, Hennis und Drake müssen augenblicklich den Tod gefunden haben. Wir bitten alle, die uns zuhören, für diese Männer zu beten, die –‹ Morlar ging zum Radio und schaltete es aus. ›Beten! Beten für diese Idioten!‹ Hören Sie mir zu – ›Sie! Hören Sie mir zu! Da gibt es nicht einen von diesen Idioten, der sich in den letzten zehn Jahren vor den Fernseher gehockt hat, der sich nicht insgeheim diesen Tag herbeigewünscht hat – dieses Unglück – dieses Abführmittel für Köpfe, die unaufhörlich mit Müll vollgestopft werden.‹ Sie sind unmenschlich. ›Weil es mir nicht egal ist, wenn irgendwo auf der Erde Kinder verhungern, während ein paar Fettsäcke in einem Hundert-Millionen-Dollar-Sarg Kapriolen schlagen!‹ Was wird in Ihrer pervertierten Philosophie aus der Unschuld – in dem Flugzeug, das auf Centre Point abgestürzt ist, befanden sich fünfundzwanzig Kinder!
Morlars Augen spien Feuer. ›Unschuldige. Durch wen ließ der Vater von Christus Massaker an Unschuldigen organisieren, um seine niederträchtige Moral zu beweisen?‹ Unschuldige! ›Die Kinder, die aufwachsen, um Kommandanten von Konzentrationslagern, Söldner, Bomberpiloten, Atomforscher, Spezialisten für bakteriologische Kriegsführung, sadistische Polizisten, ApartheidAnhänger, Führer, Gauleiter, Inquisitoren, Terroristen, Napalmhersteller, Pentagon-Paranoide zu werden – sie alle waren einmal Kinder! Unschuldige! Auf unseren Straßen bringen jedes Jahr fünftausend Fahrer ihre Mitbürger um. Sie waren einmal Kinder – unschuldig! Glauben Sie mir, Zonfeld, mehr von Ihren Unschuldigen werden leiden müssen, bevor diese Welt ihre geistige Gesundheit – ihre ureigenen Träume – ihre vorchristliche Unschuld wiedergewinnt. Ihre Art von Selbsttäuschung hilft da überhaupt nichts, Doktor. Sie beweisen damit nur, wie sehr die Menschheit außer Kontrolle geraten ist. Und man muß einen weiten Weg zurückgehen, vor die Katastrophe von Christi Geburt, um so etwas wie einen Ausgleich zu finden: den Zorn Gottes. Nun – es gab genug Zorn, aber wo war Gott? Jetzt reden sie von Gott, ohne sich an den Zorn zu erinnern. Weil das bedeuten würde, das lange Gesicht von Jedermann in
den Schlamm zu drücken, diesen netten sauberen Ausdruck von Selbstzufriedenheit zu beschmutzen. Aber ich habe einen Weg gefunden, Zonfeld, um Gottes schmutzige Arbeit für ihn zu tun. In ein paar Tagen werden sich die, die sich für die Größten halten, in einem ihrer geheiligten Tempel versammeln, um für gespendetes Geld zu danken. Drei Millionen, um ein baufälliges Wrack zu erhalten. Die St. Pauls-Kathedrale. Das große Haus, in dem sich Stammesführer versammeln und ihre heilige Kuh ansingen, wenn ein langweiliger Monarch einen Abschnitt seiner langweiligen Herrschaft hinter sich gebracht hat, oder weil ein alter Krieger alle Frömmigkeit braucht, über die er verfügen kann, um seinen aufgedunsenen Körper von vergossenem Blut und eingebrannten Irrtümern reinzuwaschen. Glauben Sie mir, Zonfeld, wenn Armut und Krankheit in der Welt sinnlos wüten, dann müssen diese Parasiten kommen und zu einem allmächtigen Nichts blöken, wie schön es ist, drei Millionen zu haben, die man für diesen Wochenendbungalow ausgeben kann. In genau dem Augenblick, in dem zweitausend von diesen ausgezeichneten Christen sich zum Gebet niederknien werden, wird das ganze Gebäude über ihren ahnungslosen Köpfen zusammenbrechen, und
indem so viel an aufwendigem Pomp hinweggefegt wird, wird dieses Land vielleicht doch noch einen neuen Anfang machen können.‹ Er sprach nicht mit der hysterischen Kraft des Wahnsinns, sondern so ruhig, wie ich mit Ihnen zu sprechen glaube, Inspektor. Dieser Verzicht auf Rhetorik bewies nur, wie vollständig seine Kontrolle über diese Katastrophen hervorrufende Kraft war. Er hatte mir bis dahin den Rücken zugewandt. Jetzt drehte er sich wieder um und wandte sich mir zu, zögerte, als ob er meine Gedanken gelesen und die Entscheidung begriffen hätte, die ich in genau diesem Augenblick gefällt hatte. Er lächelte – ich hielt es jedenfalls für ein Lächeln – und hielt mir den Drink hin, den ich bis jetzt nicht angerührt hatte. Ich schüttelte nur den Kopf, wagte nicht zu sprechen. Er zuckte mit den Schultern und stellte beide Gläser wieder auf den Tisch zurück. ›Zu offensichtlich, daß Sie meine Worte ablehnen, Zonfeld. Sie sind, wenn alles gesagt und getan ist, immer noch der gleiche; ein Mann, der Zweiflern zeigt, wie man am besten auf einem Misthaufen leben kann. Sie wissen, daß es stinkt, aber sie überreden sie, daß das nicht der Fall sei, und nennen diese Ihre Anstrengungen – Psychiatrie. Wie fühlt man sich als Teil dieser verfaulten Einrichtung, Hand in Handschuh mit den Autoritäten,
indem man armen Teufeln hilft, sich mit der sie umgebenden Hölle auf Erden zu versöhnen?‹ Morlar! ›Umgeben von allem Bösen, werden sie ausgerechnet zu Ihnen getrieben, um Hilfe zu finden. Zonfeld, meine Schwester stirbt am Krebs, und ich weiß, daß sie sie als Versuchskaninchen benützen – Einbildung, mein Junge. Doktor, sie öffnen meine Post, zapfen mein Telefon an – Verfolgungskomplex, alter Knabe. Doktor, ich sterbe an langsamer Vergiftung durch Autoabgase – Einbildung, meine liebe Frau. Doktor, jemand versucht mich zu vergiften, ich habe Fässer von Zyanidabfällen gefunden, als ich durch den Wald bei meinem Angelrevier ging – Einbildung, verehrter Herr. Doktor, sie halten mich absichtlich Tag und Nacht wach, Maschinen heulen zu jeder Stunde über meinem Kopf – Selbsttäuschung, glauben Sie mir. Doktor, meine Haut ist schwarz, und ich glaube, ich bin anders als alle anderen Leute um mich herum – Einbildung, mein Freund. Doktor, wenn ich hinter dem Steuerrad sitze, dann habe ich ein verrücktes Verlangen, zu töten – Einbildung! Zonfeld – der Mann, der es den Leuten beibringt, das Hinterteil des Fortschritts zu küssen! Aber Doktor – wenn jemand wirklich die Fäulnis zerstören will, geschaffen von wenigen zur ewigen Pein der vielen – dann wagen Sie Ihrer eigenen verfaulten Seele nur „Einbildung” zuzuflüstern.‹
... und dann drehte ich durch, griff ihn an, nicht nur, weil ich ihn verabscheute, sondern weil ich tief in meinem Inneren vermutete, daß er vielleicht recht haben könnte. Sie verstehen, ich konnte das nicht ertragen. Ich war wie rasend. Wie anders sollte ich das beschreiben, was in meinem Kopf vor sich ging? Ich schlug mit einer Statue auf ihn ein – einem bronzenen Napoleon. Symbolische Bedeutung? Nun ... ich konnte mit Symbolen nichts mehr anfangen – sondern nur mit der schwersten und handlichsten Waffe, die ich in diesem Augenblick ergreifen konnte. Etwas brach aus mir heraus, was lange aufgestaut worden war. Ich sah andere Gesichter in dem seinen: Braunhemden, SS-Kommandeure, Lagerwachen ... und ich hörte nicht mehr auf, zuzuschlagen. Das ist alles, Inspektor.« Es klang so endgültig wie das Zuschlagen einer Zellentür hinter den Hoffnungen eines Verurteilten. Alles – oder der Anfang vom Ende. Duff hatte seinen sorgfältig einstudierten, nichtssagenden Ausdruck aufgesetzt. Von seinem Gesicht war nicht die Spur einer Ansicht über Zonfelds Geständnis abzulesen. Von da war keine Hilfe zu erwarten. Zonfeld erkannte Cherrys Problem und formulierte bereitwillig die Frage, die es ans Tageslicht bringen würde. »Was wollen Sie unternehmen, Inspektor?«
»In welcher Sache, Doktor?« »St. Paul's. Es wird geschehen. Wenn ich Sie nicht überzeugt habe –« Zonfeld brach ab, da er die Konsequenzen vor sich sah. Cherry befand, daß es Zeit war, Duff einen Teil der Bürde tragen zu lassen. »Die Frage ist, ob man andere überzeugen kann. Würden Sie da nicht zustimmen, Sergeant?« Duff räusperte sich, senkte den Blick auf sein Notizbuch wie einer, der eben nur seine Arbeit macht und dieselbe zufriedenstellend erfüllt hat. »Könnte ein Fall sein von: Ich glaube Ihnen, aber tausend andere werden das nicht tun.« »Verstehen Sie, Doktor?« Zonfeld hatte es vollkommen verstanden, oder jedenfalls gut genug, um seine Resignation zu verstärken. »Dann brauchen Sie mehr Zeit, als Sie haben. Morlar wird seine Sache vollenden können, weil er selbst eine Unmöglichkeit ist.« »Die einfache Tatsache, daß er noch immer lebt, beweist, daß das Unmögliche möglich und deshalb auch zu greifen ist.« Eine gewagte Situation kann es erforderlich machen, zu würfeln. Cherry entschied sich gegen Zonfelds sofortige Festnahme, obwohl sein Geständnis dafür ausgereicht hätte. Im Augenblick konnte er nützlicher für ihn sein, wenn er sich in Freiheit befand.
»Ich möchte, daß Sie zu Johnson gehen – ihm alles sagen, was Sie wissen, und beobachten, wie er reagiert.« »Zu welchem Zweck?« »Wenn wir andere überreden wollen, dann brauchen wir alle Autorität, die wir kriegen können.« »Aber Johnson würde niemals –« »Noch würden Sie – noch würde ich! Wie wollen Sie wissen, was andere glauben werden, bevor wir es überhaupt versucht haben? Sagen Sie ihm alles und weisen Sie auf die Verbindung mit dem hin, was seine Meßinstrumente über Morlar besagen. Er sucht verzweifelt nach einer Erklärung, und die können Sie ihm geben.« »Sie nehmen mich nicht fest?« »Es ist eine Frage der Prioritäten, Doktor.« »Ja ...« »Das heißt aber, ein ziemliches Risiko einzugehen«, war Duffs erste Reaktion, nachdem die Tür hinter ihnen zuging. Cherry gab es zu, indem er nichts sagte. Unprofessionelles Verhalten war eine andere Art, es auszudrücken. Der Vize-Kommissar würde es so oder ähnlich nennen, und Cherry würde darauf antworten müssen. Das Leben konnte verdammt schwer sein. Er holte Sir John aus einer Besprechung mit dem Lei-
ter vom Yard heraus, nachdem er die Vorzimmerdame förmlich umgerannt hatte. Der Vize-Kommissar wandte sich dem Störer mit bedrohlicher Miene zu. »Dafür sollten Sie einen wirklich guten Grund haben, Inspektor.« Er verfiel in ein augenblickliches Schweigen, wartete ostentativ darauf, daß Cherry beginnen würde. Cherry, der nichts zu sagen hatte, nickte Duff zu, der sich räusperte und entsprechend betonungslos das Geständnis Zonfelds vorlas. Was Sir John dazu brachte, sein Gewicht bis zur vorderen Kante seines Stuhls zu verlagern und seinen beiden Untergebenen abwechselnd Blicke äußersten Unglaubens zu schenken. »Er hatte keine Wahl, wie er es sah«, sagte Cherry. Sir John sah erleichtert drein. »Dann ist ja alles vorbei, Inspektor. Ich gratuliere Ihnen. Muß zugeben, daß ich meine Zweifel über Ihre Vorgehensweise hatte, aber –« »Es ist noch nicht alles vorbei, Sir« – und das war, wie Cherry wußte, das erste Mal, daß ein unbedeutender Inspektor es wagte, den Alten inmitten eines Satzes zu unterbrechen. Ein Aufschrei ist eine billige Reaktion im Vergleich. Es ist nicht so bedrohlich wie ein suchender Blick, der nach schwachen Stellen Ausschau hält, in die Blitze geschleudert werden können. Duff, der schon ahnte, was kommen würde, sah ängstlich und dann völlig
entsetzt drein, als Cherry fortfuhr: »Ich habe Grund zur Annahme, daß Morlar all das ist, was er zu sein behauptet.« Der Vize-Kommissar suchte weiter und gab es schließlich auf. »Und ich darf annehmen, daß Sie dafür einen sehr guten Grund haben.« Kalt wie ein Paar Handschellen. »Alles, was in letzter Zeit geschehen ist, kommt auch in Morlars Romanen vor. Vor zwei Jahren schrieb er eine Geschichte mit einer Nebenhandlung, in der Hunderte bei einem Jumbo-Jet-Absturz ums Leben kamen. Letztes Jahr stellte er die Entwicklung und das Scheitern eines Überschallflugzeugs in den Mittelpunkt eines Romans. Vor fünf Jahren deutete er das Verschwinden eines Atom-U-Boots an. Zwei Jahre später sein erster Science-Fiction-Titel, in dem drei Männer auf dem Mond sterben – es steht alles in seinen Büchern –« Der Vize-Kommissar wich sichtbar vor dieser Beweisfülle zurück. »Sie haben alle seine Bücher gelesen?« »Ich mußte es ja.« »Und was war das Thema seiner neuesten – literarischen Arbeit?« »Der Tod eines Romanciers, der seinen Psychiater davon überzeugte, daß er in der Lage war, Zerstörungen zu bewirken durch eine Art von Telekinese.«
Dem Mann hinter dem Schreibtisch gefiel ganz offensichtlich nichts von dem, was er hörte. Aber Cherry war noch nicht am Ende. »Meine Informationen besagen, daß die politische Polizei darüber nicht weniger gut Bescheid weiß. Die Stärke eines Buchs allein hat sie dazu gebracht, seine Post zu kontrollieren und sein Telefon zu überwachen. Sie haben sogar einen Mann namens Lorimer auf ihn angesetzt, aber das mißlang ihnen. Lorimer hatte noch immer einen Funken von Dankbarkeit in sich.« Sir John sah ziemlich verärgert drein. Was Cherry ihm erklärte, hörte sich sehr nach Geheimmaterial an; er hörte es aber zum erstenmal. »Woher wissen Sie das?« »Ich verbringe nicht all meine Zeit nur mit Lesen, Sir.« Da er menschlich war, bereitete es ihm ein gewisses Vergnügen, sich zu revanchieren. Was ihm der Vize, menschlich wie er war, nicht übelnahm. »Aber sie suchen nach einer Verbindung mit einer Organisation. Sie sagen, es gibt keine – also verschwenden sie ihre Zeit.« Diese Vorstellung schien ihm ebenfalls ein gewisses Vergnügen zu bereiten. »Es läuft auf das hinaus, was ich schon einmal gesagt habe. Sie beschäftigen sich mit einem Mann, den sie für einen Verbreiter von Ideen halten. Wir haben es mit einem zu tun, der Ideen ausführt – aber darauf kämen sie nicht in tausend Jahren.«
»Sie sagen, daß Morlar eine Art von Rächer der Zerstörung ist, gefährlich in einer Weise, die niemand für möglich halten könnte, der seine Sinne beisammen hat.« Der Vize sprach betont langsam, wie um Mißverständnisse zu vermeiden. »So ungefähr, Sir.« »Aber dann wäre unser Problem doch gar nicht mehr akut. Morlar ist so gut wie tot. Zonfeld hat seiner erstaunlichen Begabung ein Ende gesetzt, indem er das Leben aus ihm herausgehämmert hat – und das müßte man sogar eine gute Sache nennen – wenn man bereit ist, eine so ungeheuerliche Voraussetzung zu akzeptieren.« »Wir müssen sie akzeptieren, Sir.« Sir John ließ erkennen, wie sehr er das verabscheute. »Dann sollten Sie mir besser erklären, warum.« Cherry sah wieder hilfesuchend zu Duff, aber das verschaffte ihm wiederum keine Erleichterung. In der Gegenwart eines Großen hielt sich Duff dicht an der Wand, erlaubte es sich nicht, durch irgendeine Meinungsäußerung hervorzutreten. Von diesem Mann, den er so gut zu kennen geglaubt hatte, konnte Cherry keine Unterstützung erwarten. »Morlar ist nicht tot, um damit anzufangen. Er kämpft mit übermenschlicher Anstrengung um sein Leben. Er hat in dem Bewußtsein gelebt, daß er die Macht hat, Berge zu bewegen, eine Kathedrale zum
Einsturz zu bringen. Morlar lebt noch immer. Und auch seine Besessenheit. Er sagte, er würde es tun ... ich glaube, daß er das auch tun wird.« Keiner von ihnen konnte etwas von der Anstrengung wissen, die es ihn gekostet hatte, seinen Glauben an eine solche absurde Möglichkeit in Worte zu fassen. Der Vize-Kommissar ließ sich keine Gefühlsregung anmerken, als er sich nach einem langen Schweigen nach vorn beugte und fragte: »Wie?« »Ich habe Ihnen schon etwas von Gavarovs Experimenten in bezug auf Telekinese erzählt. Er ist besonders stolz auf eine Versuchsperson, einen Fabrikarbeiter aus Kiew. Dieser Mann kann aus fast zwanzig Meter Entfernung ein Glas zerspringen lassen. Mit dieser Art von Trick brauchte er nie einen Drink selber zu bezahlen – nur daß es kein Trick war. Gavarov fand heraus, daß er ganz einfach seine Gedanken konzentrierte – das heißt, seinen Ausstoß an geistiger Energie – das Außergewöhnliche daran ist, daß es aufgenommen und gemessen werden kann – die elektrische Ladung ist so geringfügig, daß man sie vernachlässigen kann. Andererseits ist es wie ein Laserstrahl – unsichtbar, durchdringt materielle Hindernisse, zerstört.« »Sprechen Sie weiter.« »Dieser Arbeiter – er hat nur ein Auge, das andere verlor er als kleiner Junge während eines Bombenangriffs – kann ein sich langsam bewegendes Fahrzeug
zum Halten bringen. Keine physikalische Erklärung – der Fahrer legt keine Bremse an, macht überhaupt nichts. Und er kann den Wagen nicht wieder in Bewegung setzen, bevor Gorliakin nicht das Testgebiet verläßt. Man brauchte den Wagen gar nicht erst zu untersuchen – aber sie tun es – und jedesmal erweist sich die Mechanik als vollkommen in Ordnung. Dennoch hält er an. Das ist ungefähr das, was telekinetische Energie vollbringen kann.« Der Vize-Kommissar tat sein bestes, um das zu verstehen, und es war ihm schon fast gelungen, als ihm ein naheliegender Gedanke dazwischenkam. »Aber St. Paul's.« »Zonfeld glaubt, daß Morlar auch das kann.« »Und was glauben Sie?!« »Ich weiß, daß er es kann.« Wenn er in Zonfelds Fußstapfen getreten war und in seiner Beschäftigung mit dem Morlar-Phänomen sogar über diesen hinausging, so sollten sie ruhig ihre Besorgnis über seinen geistigen Zustand aussprechen. Das konnte einem Mann egal sein, der eine Gewißheit gewonnen hatte, obwohl alles dagegensprach. »Warum St. Paul's? Warum eine Kathedrale?« »Der Reiz größerer und besserer Ziele, gegen die er seine zerstörende Kraft einsetzen kann. Ich weiß nicht besser als Zonfeld, was in Morlar vor sich geht. Aber ich kenne die Eintragung in seinem Tagebuch, die be-
sagt, daß sich in der Westfront Risse zeigen werden. Und genau das geschieht.« Zum erstenmal wandte sich Sir John Sergeant Duff zu, als suche er nach Unterstützung durch einen objektiven Beobachter. »Sie hatten einiges mit dieser Geschichte zu tun, Sergeant. Was halten Sie davon?« Duff vermied es, Cherry in die Augen zu sehen, und flehte innerlich um eine göttliche Eingebung seiner Worte, die freilich ausblieb. »Ich glaube nichts davon, Sir. Aber ich denke, daß ein Polizeibeamter seine Pflicht verletzen würde, wenn er es bei bloßem Unglauben bewenden lassen würde.« Cherry atmete auf, und der Vize-Kommissar nahm die fast salomonische Weisheit mit sichtlicher Befriedigung hin. »Danke, Sergeant.« Und zu Cherry: »Was schlagen Sie vor?« »Die Kathedrale muß morgen geschlossen werden – oder noch früher. So einfach ist das.« »Einfach!« Es war fast ein Lächeln wert. »Die werden St. Paul's nicht zumachen, bloß weil wir das sagen. Und morgen schon gar nicht.« »Das hängt vermutlich vom Dekan der Kathedrale ab. Wir müssen ihn überreden – die ganze Sache noch einmal aufrollen –« »Ich kann Ihnen sagen, was er entgegnen wird. ›Die Kathedrale steht unter göttlichem Schutz, In-
spektor. Wir fürchten nicht den bösen Einfluß eines einzelnen Mannes, sondern höchstens Schwerlastwagen, die mit voller Geschwindigkeit in das Mauerwerk hineinrasen.‹« »Die Kirche – und insbesondere der Dekan – fürchten den Einfluß des Bösen, oder was sie dafür halten, vielleicht mehr, als Sie annehmen, Sir.« »Wirklich? Nun – Sie wissen offenbar mehr von diesen Dingen als ich.« Die Pfeife steckte wieder zwischen den Zähnen. Cherry und Duff waren vergessen, während sich Sir John die Folgen der Unterbrechung einer so hochzeremoniellen Angelegenheit ausmalte – vorausgesetzt, daß das überhaupt zu erreichen war. »Nun gut, Cherry.« Gedehnt. »Gehen Sie und reden Sie mit dem Dekan – sagen Sie ihm, daß Sie mit meiner Zustimmung gekommen sind.« »Das reicht nicht, Sir.« Duff hob seine Augenbrauen: das einzige, was er zu bewegen wagte. Da er keine Kugel hatte, um sie zu zerbeißen, versuchte es der Vize mit seiner Pfeife. »Oh?« Mehr brachte er nicht heraus. »Ein gewöhnlicher Inspektor kann nicht hoffen, den gleichen Eindruck zu machen wie ein VizeKommissar. Ihre Gegenwart würde unterstreichen, wie ernst wir die Gefahr einschätzen.«
Das war keine Schmeichelei, sondern schlichter und gesunder Menschenverstand. Sir John nahm hin, daß Cherry recht hatte, und gab es auch zu – mit Vorsicht: »Sie wollen mich dabei haben. In Ordnung, Cherry. Aber wenn morgen nichts geschieht –« Der VizeKommissar hielt inne, da ihm erst jetzt die Bedeutung dessen klar wurde, was er sagte. »Daran kann überhaupt nicht gedacht werden!« wiederholte der Dekan mit allem Nachdruck, der ihm zur Verfügung stand. »Die Vorbereitungen wurden schon vor Monaten getroffen. Ihre Majestät und andere Mitglieder der königlichen Familie können nicht einfach ausgeladen werden, weil ein Verrückter etwas androht, was er niemals verwirklichen kann. Meine Herren, wenn Sie eine Vorstellung davon hätten, wie schwierig es ist, so viele Hunderte der hervorragendsten Persönlichkeiten Englands zusammenzubringen –« Der Vize-Kommissar nickte Cherry zu und übermittelte damit lautlos: »Ich hab's Ihnen ja gesagt.« Cherry faßte es auf als: »Also, versuchen Sie schon Ihr Glück.« »Wir haben Grund zur Annahme, daß es keine leere Drohung ist, Sir.« Der Dekan war offensichtlich nicht gewillt, sich auf
eine längere Diskussion einzulassen. »Ich versichere Ihnen, daß nichts zu befürchten ist, Inspektor. Das hat ein baupolizeilicher Gutachter festgestellt – ein Zusammenbruch des Bauwerks ist völlig unwahrscheinlich – in der Spanne unserer Lebenszeit keinesfalls zu erwarten.« »Wie lange dauert eine Lebenszeit, Sir?« Der Dekan ging nicht darauf ein. »Wenn ich es richtig verstehe, dann soll eine abnorme geistige Verfassung schuld an einer Kette von Katastrophen – und Sie messen dem menschlichen Geist ganz offensichtlich weit größere Fähigkeiten zu, als irgend jemand in den vergangenen zweitausend Jahren zu behaupten gewagt hat – und wenn sich dieser Morlar in einem so katastrophalen körperlichen Zustand befindet, wie soll da seine geistige Aktivität noch zunehmen können, statt zu verschwinden, da sie nicht mehr durch normale körperliche Funktionen unterstützt wird?« Diese entscheidende Frage war offenbar an den Vize-Kommissar adressiert, der sie an Cherry weitergab. »Das ist nicht zu beantworten, da die Vernunft nicht weiterhilft, wenn man den einem Bewußtsein zugrundeliegenden Konstruktionsplan zu lesen versucht. Es ist nicht möglich, weil es keinen gibt. Die Wissenschaft kann keinen ›Grund‹ angeben,
warum Morlars Bewußtsein noch immer funktionieren sollte – und das mehr denn je. Sie kann das ebensowenig, wie sie ein technologisches Versagen an Bord eines Raumkörpers zu erklären vermag. Und das teilweise deshalb, weil sie sich weigert, den Zusammenhang zu sehen.« »Interessant, Inspektor; aber hypothetisch; und das ist also auch die Gefahr, vor der wir uns schützen sollen. Eine Kathedrale fällt nicht in sich zusammen, weil ein monomanischer Kirchenfeind ihren Zusammenbruch vorhersagt.« »Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Sir?« Der Dekan konnte das kaum verweigern. »Was würde es für Ihren Glauben bedeuten, wenn morgen um diese Zeit zweitausend Opfer unter einem Trümmerberg begraben lägen?« Der Kleriker betrachtete Cherry so lange, wie er brauchte, um sich diese furchtbare Möglichkeit bildhaft vorzustellen. Dann ging er zum Fenster hinüber und sah hinaus. »Wenn eine solche Sache möglich wäre, dann würde ich meine Niederlage und die Überlegenheit des Bösen zugeben müssen. Aber ich werde auch Ihnen allen, insbesondere aber Ihnen, Inspektor, beweisen, daß dieser Mann ein wahrhaftiges Werkzeug Satans ist; ich werde Ihnen vorführen, daß die Kirche ihre Widersacher besiegen
kann, in welch bizarrer Form die Bedrohung auch immer erscheint. Ich werde die Zeremonie der Teufelsaustreibung über diesen Mann persönlich ausführen.« Cherry versuchte Worte zu finden, fand aber keine; der Vize kam zu seiner Hilfe. »Und was wird das nützen?« Die Frage hatte nicht den geringsten Beiklang von Rhetorik. Er wollte es einfach wissen. »Nützen? Es wird reinigen, Sir John. Es wird reinigen und Frieden bringen diesem Geist, der in gewaltsamer Opposition zur Liebe Christi steht, es wird ihn für alle Zeiten vom teuflischen Einfluß befreien.« Was eine diabolische Art von Freiheit sein mochte, überlegte Duff. »Und wenn es das nicht bewirkt?« fragte Cherry. »Eine Teufelsaustreibung nach dem christlichen Ritus hat noch nie ihre Wirkung verfehlt.« Sir John hatte genug gehört; er erhob sich aus seinem Sessel und stützte sich auf den schweren Mahagonitisch. »Wann beabsichtigen Sie dieses Experiment durchzuführen?« »Heute abend.« »Haben wir alles getan, was wir tun konnten, Sir?« »Sie meinen, ob wir die Dinge nicht bis zur Regierungsebene verfolgen sollten? Ich würde das gar nicht gern versuchen. Nehmen wir nur mal an, daß er
Zeit fände – ich meine den Innenminister – und ich müßte ihm erklären, warum wir annehmen, daß morgen die St. Paul's-Kathedrale einstürzen wird. ›Nein, sie wird nicht einstürzen‹, wird er vermutlich sagen, ›ich werde selbst dort sein und darauf achten, daß das nicht geschieht.‹ Wie soll man einem so beschäftigten Mann erklären, was wir selbst kaum zu glauben vermögen?« Er brach ab und ersetzte alles weitere durch ausdrucksvolle Gesten. Warum Worte verschwenden? »Der Dekan –« »Der Dekan! Der glaubt kein Wort von der ganzen Geschichte, aber er wird so tun, als ob – ich sage Ihnen, Cherry, er wird dafür sorgen, daß heute abend genug Reporter und Fotografen vor dem Krankenhaus lauern, und er wird seine Besessenheits-Schau mit allem Ernst durchziehen. Diese Sache paßt ihm genau in den Kram. Das ist Elixier für die Leute, die die Zeit bis ins Mittelalter zurückdrehen wollen.« »Das ist 1984, verkleidet als 1498! Aber wir dürfen es nicht geschehen lassen.« »Die Teufelsaustreibungs-Zeremonie?« »Das hängt von der Krankenhausverwaltung ab. Ich meinte die Katastrophe.« Der Vize-Kommissar hatte getan, was er konnte. Ein Treffen mit dem Innenminister, um eine Angelegen-
heit von äußerster Dringlichkeit zu besprechen. Völlig unmöglich. Der Minister war in Richtung Norden unterwegs, um in Newcastle eine Rede zu halten – würde erst am nächsten Tag nach London zurückkehren ... es ergäbe sich vielleicht eine Gelegenheit unmittelbar nach dem morgigen Dankgottesdienst – wenn Sie noch einmal anrufen wollen ... Das Land wurde durch eine kurze Rundfunk- und Fernsehmeldung aus seiner Lethargie gerissen: der Dekan von St. Paul's, kein geringerer, würde eine Zeremonie der Teufelsaustreibung über den Romancier John Morlar abhalten. Nach einer Erklärung des Dekans hatte Morlar die siebte Stufe der Besessenheit durch teuflische Mächte erreicht, und bei der Gefahr, in der er schwebte, wurde es zur Pflicht eines Christen, stellvertretend für ihn mit dem Teufel zu ringen. Halb England blieb in dieser Nacht auf unter dem falschen Eindruck, daß zwei neue Champions in einer Boxmeisterschaftsübertragung auftreten würden. Die Presse tat mit entsprechenden Schlagzeilen das ihre. Schließlich würde kein hochgestellter Kirchenvertreter einen Blitzkrieg gegen den Teufel erklären, wenn er nicht das Gefühl hätte, daß sich aus der Sache etwas machen ließe. Der Name Morlar wurde nur nebenbei erwähnt. Hexerei und Teufelskult hingen in der Luft. Die etwas gedankenvolleren unter den Fleet Street-
Redakteuren warfen noch einen Blick in ihre Archive, um vielleicht etwas über Morlar herauszufinden. Als seine offizielle schwarze Limousine im Krankenhausvorhof zum Halten kam, konnte der Dekan hocherfreut feststellen, daß mehr Reporter und Kameraleute gegenwärtig waren als Krankenschwestern, Ärzte, herumspazierende Patienten und Besucher. Sie umringten den angesehenen Teufelsaustreiber, und nur mit Hilfe seines Chauffeurs und einem halben Dutzend Sanitäter konnte er überhaupt in das Gebäude gelangen. Cherry war schon kurze Zeit vorher gekommen und unterhielt sich noch mit Johnson, dem Chirurgen. Sie sprachen zunächst über Zonfelds Selbstmord – nachdem sich Zonfeld einmal das angesehen hatte, was von seinem Opfer übrig war, hatte er all die Ungewißheit nicht mehr ertragen können. Und das weitere den noch Lebenden überlassen. Die Dinge entwickelten sich weiter und strebten ihrem Höhepunkt zu. »Ich frage mich einfach, ob es Morlar gegenüber fair ist. Er haßte alles, wofür diese Männer in Schwarz stehen.« Johnson lächelte in einer Weise, in der jemand anders vielleicht auf den Geschmack angesäuerter Milch reagieren würde. »Sie scheinen auf Morlars Seite zu stehen?«
»Es ist einfach obszön, magische Formeln über etwas zu murmeln, was praktisch schon eine Leiche ist.« »Sie sind eine merkwürdige Spezies von Polizist, Cherry. Der Dekan ist hier, weil Sie davon überzeugt sind, daß unser gesichtsloser Freund eine ganze verdammte Kathedrale niederreißen kann. Wollen Sie eigentlich, daß er sie niederreißt, oder wollen Sie das nicht?« »Fasziniert Sie das nicht – die bloße entfernte Möglichkeit –?« Johnson suchte behutsam nach der Antwort irgendwo in seinem Bewußtsein. »Hm – das nehme ich schon an. Vielleicht lasse ich deshalb diesen singenden Gottesanbeter vor Morlars Körper zelebrieren.« Cherry runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht.« »Ganz einfach, Inspektor. Nicht nur die, die ans Übernatürliche glauben, können sich auf das Spiel ›Zahl gewinnt, Wappen verliert‹ einlassen. Wenn die Kathedrale morgen nicht in sich zusammenfällt, dann wird jedermann sagen: ›Wer war bloß so verrückt, anzunehmen, daß so etwas passieren könnte?‹ Und wenn es geschieht, dann können wir alle unsere Zungen herausstrecken und rufen: ›Ätsch – du hast den Teufel kein kleines bißchen aufgehalten, dein Zauber nützt ja gar nichts‹ – und er wird tatsächlich nichts nützen, Cherry! Und ich werde Ihnen sagen, warum.
Das Gehirn wurde von etwas entworfen, was weit größer ist als jeder Gott, den ein verkalktes Hirn zu erfassen vermöchte. Und das ist die äußerste Feststellung, mit der ich so etwas wie einem Glauben näherkommen kann.« Er verließ abrupt den Raum, um dem Dekan entgegenzugehen. Die Zeremonie war kurz, wurde selbstbewußt durchgeführt und war wirkungsvoll in einer Weise, die niemand hätte vorhersehen können. Johnson bestand auf seinem Recht, dabei zu sein. Eine Schwester hatte mit dem EEG zu tun. Eine andere hantierte an dem Schlauch für intravenöse Ernährung, der ins Innere des Kunststoffzeltes führte. Cherry hielt sich im Hintergrund, dachte an Supermarktauslagen und in Folie verpackte Fleischstücke, schloß seine Augen. Die leisen Beschwörungen brachten ihn auch nicht von diesen unangenehmen Gedanken ab. Diese Worte, die über Morlar ausgegossen wurden, hatten zweifellos die Macht, jeden Teufel auszutreiben, wenn ein Teufel auch nur den geringsten Geschmack gehabt hatte. »... und so flehe ich Dich an, bringe Frieden und die überirdische Freude der Erlösung über Deine gequälte Schöpfung.«
Keine Bewegung, nicht das geringste Zeichen des Erkennens. Cherry sah zu dem Chirurgen hin, aber dessen Aufmerksamkeit war nur auf die Apparatur gewandt, die noch immer aufnahm, was in Morlars Gehirn vor sich ging. Springende Muster, die sich in Serien wiederholten. Während der Kleriker weiterhin das ungewisse Böse in Morlar beschwor, verschwand jede Farbe aus Johnsons Gesichtszügen, und die diensthabende Schwester sah aus, als wollte sie vor einem Phänomen zurückweichen, wenn sie es nur könnte. Zugleich zuckten diese Schwingungen vom einen Gipfel zum nächsten, als würden sie von Anfällen hilflosen Gelächters getrieben. Johnson riß sich nicht einmal zusammen, als er Cherry ansah. Die Zeit beherrschter Reaktionen war vorbei. Noch ein Wechsel seines Ausdrucks. Der Inspektor folgte dem ungläubigen Blick Johnsons: Morlars rechte Hand krampfte sich immer wieder ruckartig zusammen. Eine unausweichliche Schlußfolgerung entzog sich ihm, und er war dankbar dafür. Der Dekan lächelte verstehend, gratulierte sich selbst zu einer belohnten Anstrengung. Die Bewegung von Morlars Hand war zweifellos der letzte verzweifelte Impuls, der von einer teuflischen Gegenwart ausging.
»Er braucht einen Schreibstift«, murmelte Johnson. Das schien ein merkwürdiges Verlangen von einem Mann, für den zunächst nichts wichtiger sein konnte als – zu leben. »Und eine Schreibunterlage«, fügte Johnson hinzu. Eine solche wurde herangeschafft, und die Krankenschwester steuerte einen Kugelschreiber bei. Johnson plazierte den Schreibblock in Reichweite der Hand, in die er den Stift legte; er ignorierte die verärgerten Blicke des Dekans, dem diese Unterbrechung gar nicht gefiel. Niemand entging es, wie krampfhaft Morlars Finger nach dem Stift griffen, ihn Johnson fast aus der Hand rissen, um ihn dann eisern zu umklammern. Die Schweißbäche auf Johnsons Stirn verrieten, wie ihm zumute war. Die Arbeit des Dekans war getan. Der Dekan machte sich zum Gehen bereit. Er hatte keine Zweifel, wo eine Sache begann und wo sie endete. Der Teufel war vor ihm zurückgewichen, und der Kathedrale würde nichts geschehen, wenn ihr überhaupt etwas hätte geschehen können. Was er bezweifelte. Johnson ignorierte, daß der Teufelsaustreiber sich zum Gehen anschickte, und winkte Cherry zu sich. »Dieser Narr« – hörbar – »glaubt, daß er es ihm gegeben hat. Aber nur der Stift und das Papier, Inspektor, haben Morlar wieder beruhigt – das Empfinden eines vertrauten Gegenstands.«
»Aber seine zunehmende Gehirnaktivität – warum?« »Widerstand. Nein ... es ist etwas anderes, und ich will nicht vorgeben, zu verstehen, was es bedeutet. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich das überhaupt will.« Die Verkehrsumleitung ließ ein paar Straßenkreuze der Stille und des Friedens ungeschoren, genug für eine Insel, auf der die Kathedrale ruhte, wie ein bewegter großer Steinblock, Ruhe und Unbeschwertheit vortäuschend. Für einen Beobachter schien sie über den Possen der Zwerge zu brüten, die sich weit unten versammelten, um ihre wundervolle Größe und Stärke zu bewundern. Die großen Türen standen offen wie ein ewiges Gähnen der Langeweile. Mehr Touristen als gewöhnlich; sie waren sich dessen bewußt, daß ganz in ihrer Nähe eine dieser Gelegenheiten stattfinden sollte, »von der Art, die wir Briten so gut beherrschen«. Als Cherry und Duff ankamen, fanden sie den Vize-Kommissar auf einer der Sitzbänke des weiten Vorplatzes der Kathedrale vor. »Setzen Sie sich hierher«, sagte er. Sie kamen seiner Aufforderung nach. »Ich habe alles getan, was ich tun konnte«, begann er dann. »Kam nicht viel dabei heraus. Meine Schuld. Ich wußte einfach nicht, wo ich anfangen sollte. Das
ist eine ganz neue Erfahrung, Cherry, zwei Seelen in der eigenen Brust zu haben. Die eine sagt: ›Das ist einfach lächerlich‹, die andere sagt: ›Mach dir das mal nicht so leicht!‹ Unentschiedenheit – ja – das ist eine ganz neue Erfahrung.« »Die Feier findet also statt, Sir?« »Keine Autorität, sie zu verhindern. Niemand hat sie – außer dem Dekan. Was immer hier geschehen wird, wir befinden uns auf geweihtem Boden.« Seine letzten Worte wurden von den Schlägen der Kathedralenuhr erschlagen. Zehn Uhr. Noch eine Stunde. Die ersten Wagen begannen exklusive Anzüge aus teuersten Stoffen und Gartenpartyhüte, Krokodilhandtaschen, Orden und Uniformen bis zu den höchsten Rängen zu entladen; gepflegte Langweiler mit blasierten Mienen hielten lange genug inne, um nach der nächsten Kamera Ausschau zu halten, bevor sie wie auf einem Laufsteg zum Westportal wandelten. Ein Fernsehkommentator redete ununterbrochen in ein Mikrofon; sonst geschah nicht viel. »Ich denke an die Leute in den Läden und Büros in diesem Bürokomplex gegenüber«, sagte Cherry. »Daran denke ich auch.« Zehn Uhr und acht Minuten. Die Besucher kamen jetzt in einem ständigen Strom.
»Es gibt nur noch eines, was wir tun können, Sir.« Duff und der Vize-Kommissar richteten ihre hoffenden Augen auf Cherry, bedrängten ihn, mit der perfekten Lösung herauszurücken. »Was es auch kostet – ich werde es kaufen.« Verzweifelt. »Wir geben eine Bombendrohung durch. Sie können das ganze Gebäude in fünfzehn Minuten räumen.« Es blieb ihnen keine Zeit mehr, mit dem Problem zu ringen, das Pro und Kontra abzuwägen, nach ethisch begründeten Einwänden zu suchen. Aber eine unvollkommene Lösung ist auch eine Lösung. »Gehen wir – Sie geben den Anruf durch. Ich werde Leute abkommandieren, um das Gebiet zu räumen!« Und jeder Aufruf zum Handeln ist besser als keiner. Sir John war wieder in seinem Element, wie ein Fisch im Wasser. Der Inspektor würde später darauf bestehen, daß seine Botschaft den Dekan erreicht habe. Erreicht haben mußte. Denn vor dem Untersuchungsausschuß erklärte er später in allen Einzelheiten, wie ein aufgeregter Sekretär in der Kathedrale seinen Anruf entgegengenommen und versichert habe, sofort den Dekan zu verständigen. Unglücklicherweise konnte nie-
mand Cherrys Feststellung bestätigen oder ihr widersprechen. Eine Tatsache konnte jedenfalls nicht bestritten werden; um zehn Uhr dreißig, fünf Minuten nach Cherrys Anruf, kamen noch immer Besucher an, und niemand wurde zurückgewiesen. Als Cherry befragt wurde, warum der Dekan so unverantwortlich hätte handeln sollen, die Drohung zu ignorieren, gab er zurück, daß das offenbar eine Frage des Glaubens sei. Was niemanden zufriedenstellte. Hatte der Inspektor Grund zur Annahme, daß der Dekan einen Schwindel vermutete und, nachdem er die Möglichkeit mit seinen confrères besprochen hatte, die schicksalhafte Entscheidung traf, die Veranstaltung fortzusetzen? Cherry fühlte sich nicht in der Lage, über das zu spekulieren, was innerhalb der Kathedrale geschehen war. Es fiel ihm jedenfalls leichter, über die Ereignisse außerhalb zu sprechen. Die Menschenmenge war dichter geworden und unwillig, sogar rebellisch, als die Polizei sie und die verwirrten Büroangestellten in eine sichere Entfernung zurückzudrängen begannen. Aber bis dahin hatten bereits mehr als siebenhundert Besucher ihren Platz im Kirchenschiff gefunden. Der Vize-Kommissar, Duff und der Bezirkshaupt-
inspektor der Stadtpolizei warteten mit verschieden abgestufter Besorgnis auf das, was geschehen würde. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf das Westportal gerichtet. Die Welle des bessergestellten Teils der Menschheit mußte bald umkehren und über die Stufen herausgespült werden. Skeptisch wie er war, sah Duff unentwegt auf die Uhr. Der Inspektor kehrte zu dem Trio zurück, das sich genau südwestlich der Kathedrale befand. »Nun?« »Ich habe die Nachricht durchgegeben, Sir.« »Sagt er die Feier ab?« Ungeduldig. »Wir müssen eigentlich annehmen, daß er das tun wird.« Der Bezirkshauptinspektor sah etwas überrascht drein und etwas unwillig, weil alles über seinen Kopf hinweg zu gehen schien. »Wenn es eine echte Drohung ist, dann müssen sie absagen«, erlaubte er sich zu bemerken. Sir John reduzierte ihn auf seine wirkliche Größe, indem er ihn mit einem Blick bedachte, der »Wer hat denn Sie gebeten, sich einzumischen?« besagte. Laut fügte er hinzu: »Es gibt keine echte Drohung! Eine Drohung ist eine Drohung. Was haben Sie wegen der Angehörigen der königlichen Familie unternommen?«
»Darum haben wir uns bereits gekümmert, Sir.« Der Vize-Kommissar knurrte, um nicht merken zu lassen, wie ihm wirklich zumute war. Wenn das alles wegen nichts war, dann war er erledigt. Er konnte tief fallen in seinem Alter – wenn nichts geschah. Was noch schlimmer war, er hatte seine Pfeife im Büro gelassen. Sie beobachteten während eines kritischen Zeitraums von zehn Minuten. Noch immer kamen Besucher an. Keine Anzeichen eines massenhaften Auszugs aus der Kathedrale. Die Hoftrompeter verteilten sich auf den Stufen zum Portal, bereit, ihre Fanfaren zur königlichen Ankunft erklingen zu lassen. Drei von den vier Männern, die mitten zwischen der St. Pauls-Kathedrale und den immer zahlreicher werdenden Menschenmassen standen, sahen nachdenklich bis bestürzt drein; ein leichtes Zusammenziehen der Augenbrauen, das die ganzen zehn Minuten andauerte, in denen die Wahrheit dämmerte; nichts wurde unternommen. Nichts! Weitere zweihundertundsiebzig hervorragende Persönlichkeiten hatten sich ihren Weg durch den Schutzkordon gebahnt. Die Polizeikräfte, verwirrt von der Wendung der Ereignisse, unternahmen nichts, um sie daran zu hindern. Hier und da kam Gereiztheit auf. Das Ereignis lud sich mit der falschen Art von Emotionen auf.
Niemand hörte, wie sich Steinschutt zwischen den Mauern löste. Gleichgültigkeit. Ein neuer Riß wurde sichtbar, schwach wie eine neugeborene Schicksalslinie. Niemand bemerkte es. Die Gleichgültigkeit gähnte. Wen kümmert es? Um zehn Uhr fünfundvierzig hatten schätzungsweise neunhundertdreiundsechzig Besucher ihren Platz im Innern der Kathedrale eingenommen. Hunderte mehr kämpften sich durch die Menge, Erregung und Unmut kamen auf, und die ersten Opfer dieses Schwarzen Mittwochs waren Ruhe und Ordnung. Ungläubige Mienen gingen in einen Ausdruck des Entsetzens über, als ein jeder der vier schweigenden Männer die verschiedenen Anzeichen ausmachte, die ihnen allen Grund gaben, alarmiert zu sein. »Cherry«, unterdrückt und qualvoll. Der Hilferuf eines verbissenen Polizisten, der einst nur das geglaubt hatte, was er vor seiner Nase sah. Aber mit diesem einen Wort gab er zu erkennen, daß er nun doch noch an das Unmögliche zu glauben gelernt hatte. »Gehen Sie hinein und holen Sie die Leute 'raus. Klettern Sie auf die Kanzel – benützen Sie das Mikrofon. Aber sie müssen alle vor elf draußen sein!« Der letzte Satz wurde ausgelöscht von einem häßli-
chen krachenden Geräusch; kurz, scharf, fast so laut wie ein Überschallknall. Ein Kind aus der Menge schrie: »Mutti, das Kreuz bewegt sich – es bewegt sich!« Die Worte trugen so etwas wie einen Fetzen von infantilem Surrealismus in diese plötzliche Stille. Einige der Besucher, die die Stufen hinaufgingen, zögerten, starrten in den stillen blauen Himmel, zuckten mit den Schultern und setzten ihren Weg fort. In der Ferne schwoll das häßliche Heulen einer Polizeisirene an, wie ein Grabgesang auf die unaussprechlichen Dinge, die noch kommen würden. Das zweite Geräusch hatte eine solche Schärfe, daß die jetzt unnatürlich stillen Zuschauer den Atem anhielten. Ein Geräusch wie das Zerreißen von Wellpappe, unendlich verstärkt ... das sichtbare Erzittern der großen Kugel, die das Kreuz trug, auf das die meisten Blicke gerichtet waren. Cherry hörte das und noch mehr, als er die oberste Stufe erreichte und sich seinen Weg durch die Gruppen von Neuankömmlingen bahnte. Er sah durch einen Irrgarten von Furcht und beherrschter Verzweiflung, ihre überraschten Gesichter huschten an ihm vorbei, während er ihnen zurief, zurückzugehen. Oder den fernen Morlar anrief, Gnade zu haben, was auf das gleiche hinauslief. Die Uhr fing an, zur vollen Stunde zu schlagen.
Eins ... Er wandte sich noch einmal um, spürte, wie der Boden unter seinen Füßen erbebte, und schrie mit aller Lautstärke: »Um Gottes willen, lauft! Lauft um euer Leben!« Zwei ... Sie verstanden sofort. Drei ... So verschreckt von seiner gellend hinausgeschrienen Überzeugung, so plötzlich bewußt der Erschütterungen ... Vier ... des grabsteingroßen Stücks von Mauerwerk, das sich über ihren Köpfen löste ... Fünf ... herabfiel und augenblicklich einen unglücklichen Trompeter zum Tod beförderte ... Sechs ... daß blinde Panik die gute Erziehung, Armeedisziplin, steife Oberlippen und massenmediale Neugier ablöste ... Sieben ... und, wie angespornt von Cherrys apokalyptischem Schrei, wandten sie sich um und flohen wie Lemminge, die es sich doch noch anders überlegt hatten. Acht ... Aber Cherry, zu seinem immerwährenden Bedau-
ern, rannte weiter, durch die Portale hindurch, an leuchtendem Blumenschmuck vorbei, über den roten Teppich, der auf den Hochaltar zuführte. Er begann der versammelten Gemeinde zuzurufen, die bereits in Bewegung und Aufruhr geriet ... Neun ... schrie, bis seine Stimme unterging im Anblick und in den Geräuschen eines wahrhaft erschreckenden Schauspiels ... Zehn ... als die Südfront zusammenbrach und nach außen nachgab mit der Präzision einer Zeitlupenaufnahme. Elf. Ein Verrückter schrie ein einziges sinnloses Wort: »Telekinese!« Er schrie es wieder und wieder, während die Domkuppel zerbarst und herabregnete; der Chor, die Kleriker und die Gemeinde befanden sich am Ende des Kirchenschiffs wie in einer Falle, waren bereits tot, bevor Cherry das Portal im Gedränge anderer Überlebender wieder erreichte. Ein Riß in den Stufen schien sich erweitern zu wollen, begierig, auch die zu verschlingen, die dem Tod dennoch entkommen wollten. Sie liefen, stolperten und entfernten sich in jeder möglichen Weise vom Schauplatz des Blutbads, während sich die schrillen Schreie des Gemetzels mit dem Bersten und Krachen des Mauerwerks mischten.
Cherry lief und lief um sein Leben, als die Westfront, durch den Zusammenbruch der großen Kuppel erschüttert, sich langsam und stetig nach außen zu wölben begann, dabei den nordwestlichen Turm mit sich zog. Dessen Fall noch zwei Meilen entfernt über dem Verkehrslärm zu hören war. Es war, als würde nie wieder Stille sein. Eine schwere graue Staubwolke schwebte freundlich über den Ruinen und gab nur allmählich einen Blick auf die Folgen des Geschehens frei. Und der große Gott Pan lief triumphierend durch die Straßen. Aus dem Chaos kam eine klare, erkennbare Stimme. »Inspektor!« Das mußte Duffs Hand sein, die ihn packte und mit sich zog. Er spürte mehr die Verwundeten und die anderen, die auf der Straße lagen, als daß er sie sah. Er murmelte und murmelte nur immer wieder: »Morlar!« Wenig später schälte sich der Vize-Kommissar aus den Nebeln. »Sir John – wir müssen zurück zum Krankenhaus und herausfinden, ob – wir müssen sicher sein, daß er tot ist.« Sie verschwendeten ihre Zeit, indem sie nach ihrem Wagen suchten. Er war so vom Steinhagel getroffen
worden, daß er kaum mehr wie ein Fahrzeug aussah. Sie nahmen sich einen kleinen Streifenwagen und ließen sich durch einen chaotischen Verkehr befördern, der fast völlig zum Erliegen gekommen war. Im Krankenhaus fragten sie nach Johnson und eilten in die Intensivpflegestation. Johnson war bereits dort, von einer aufgeregten Schwester gerufen. »Ist es wirklich wahr?« fragte er. Eine unvertraute Stimme, wie die eines kleinen Kindes, das nach dem Sinn der Dunkelheit fragt. Cherry nickte. »Gott im Himmel ...« »Er lebt noch immer!« Sir John starrte, ebenso wie Johnson, auf Morlars Hand. Angetrieben von Faszination, Horror, Neugier – oder vielleicht von etwas ganz anderem – bewegten sie sich auf die Gestalt im Kunststoffzelt zu, nicht vorsichtig, aber mit einer Art von Ehrfurcht. Morlar, dessen Finger noch immer den Kugelschreiber umklammerten, zerrte mit sinnloser Heftigkeit an dem Schreibblock, der in seiner Reichweite belassen worden war. Die Hand versuchte verzweifelt zu sprechen. Johnson faßte genug Mut, um die Hand auszustrecken und den Schreibblock so gut wie möglich festzuhalten. Und die Anwesenden, für die das Unmögliche be-
reits Wirklichkeit geworden war, durften Zeugen sein, wie Morlar seine beiden letzten Wörter schrieb. Sie waren sauber, lesbar und besagten etwas; und sie waren der Anfang einer ganz neuen Geschichte. Nur zwei Wörter. Holy ... Loch ... In persecutione extrema ... Acht Jahrhunderte sind seit der Zeit des Malachias vergangen, dem heiligen Erzbischof von Armagh, der jeden Papst bis zum Ende des Papsttums vorhersagte, was Anno Domini 2000 sein wird, so ungefähr jedenfalls (Friede sei mit Nostradamus). Außerdem sagte er das Unglück von Holy Loch in Schottland voraus, wo sich eine US-Basis für Unterseeboote mit Nuklearbewaffnung befindet. »Holy Loch wird verschwinden ohne jede Spur, zusammen mit dem benachbarten Haus mit sechs Kaminen«, prophezeite er. »Aber es gibt keine Häuser mit sechs Kaminen bei Holy Loch«, sagten sie. »Heute noch nicht«, antwortete St. Malachias.