Christiane Zschirnt
Bücher Alles, was man lesen muss
Unser Wissen veraltet angeblich immer schneller - für die meisten...
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Christiane Zschirnt
Bücher Alles, was man lesen muss
Unser Wissen veraltet angeblich immer schneller - für die meisten Menschen eine beunruhigende Vorstellung. Andererseits basiert unsere westliche Kultur auf einer überschaubaren Anzahl von Büchern, die unser Denken geprägt haben. Christiane Zschirnt hat solche Werke zusammengestellt und kommentiert, in der sicheren Überzeugung: "Wer alles über Marketing, Astrophysik, Gen-Mais oder Webdesign weiß, weiß noch nichts über die Ursprünge der Demokratie und des Kapitalismus, über den Liebesbegriff oder die Erfindung der Zivilisation." ISBN 3-8218-1679-1 Eichborn AG, Frankfurt am Main, Februar 2002 Umschlaggestaltung: Christina Hucke Umschlagfotografie: © Corbis
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
für Katrin und Tina
Inhalt Vorwort ....................................................................................... 1 Einleitung .................................................................................. 14 Werke, die die Welt beschreiben................................................ 18 Die Bibel (800 v. Chr. - 100 n. Chr.)...........................................19 Homer Odyssee (700 v. Chr.).....................................................23 Dante Alighieri Die Göttliche Komödie (1308-1321) ...................28 Miguel de Cervantes Don Quixote (1605 und 1615) ....................33 Johann Wolfgang Goethe Faust (Erster Teil: 1808, Zweiter Teil: 1832) ........................................................................................38 Honore de Balzac Die Menschliche Komödie (1829-1850) ..........44 Herman Melville Moby Dick oder Der Weiße Wal (1851) ...........48 James Joyce Ulysses (1922) .......................................................51 Liebe .......................................................................................... 60 Gottfried von Straßburg Tristan (ca. 1210) ..................................63 William Shakespeare Romeo und Julia (ca. 1595)........................67 Choderlos de Laclos Gefährliche Liebschaften (1782) .................70 Jean-Jacques Rousseau Julie oder Die neue Heloise (1761) ..........75 Jane Austen Stolz und Vorurteil (1813) .......................................79 Stendhal Rot und Schwarz (1830) ...............................................83 Goethe Die Wahlverwandtschaften (1809) ..................................86 Gustave Flaubert Madame Bovary (1857) ...................................89 Lev Tolstoi Anna Karenina (1875-1877) .....................................93 Theodor Fontane Effi Briest (1894/95)........................................97 Vladimir Nabokov Lolita (1955) ................................................98 Politik .......................................................................................101 Niccolo Machiavelli Der Fürst (1513)....................................... 103 Thomas Hobbes Leviathan (1651) ............................................ 107 John Locke Zweite Abhandlung über die Regierung (1689) ....... 111
Jean-Jacques Rousseau Der Gesellschaftsvertrag (1762) ............ 116 Alexis de Tocqueville Über die Demokratie in Amerika (1835 und 1840) ...................................................................................... 120 Karl Marx und Friedrich Engels Das Manifest der Kommunistischen Partei (1848)................................................ 125 John Stuart Mill Über die Freiheit (1859) .................................. 127 Sex............................................................................................132 Giovanni Boccaccio Das Dekameron (1349-1353) ..................... 135 Francois Villon Balladen (um 1456) ......................................... 137 Denis Diderot Die indiskreten Kleinode (1748) ......................... 139 John Cleland Fanny Hill, Memoiren eines Freudenmädchens (1749) .............................................................................................. 141 Giacomo Girolamo Casanova Erinnerungen (um 1790 - 1798) ... 143 Marquis de Sade Justine, oder Das Unglück der Tugend (1791) .. 145 D. H. Lawrence Lady Chatterley (1928) .................................... 148 Wirtschaft .................................................................................151 Max Weber Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1905) ................................................................ 154 Daniel Defoe Robinson Crusoe (1719) ...................................... 159 Adam Smith Der Wohlstand der Nationen (1776) ...................... 164 Karl Marx Das Kapital (1867) .................................................. 168 Bertolt Brecht Die Dreigroschenoper (1928) ............................. 172 John Maynard Keynes Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes (1936) ................................................... 175 Carl Barks Donald Duck (1943-1967) ....................................... 178 Frederic Beigbeder Neununddreißigneunzig (2000) ................... 180 Frauen......................................................................................183 Mary Wollstonecraft Eine Verteidigung der Rechte der Frau (1792) .............................................................................................. 189 Virginia Woolf Ein Zimmer für sich allein (1929) ..................... 193 Simone de Beauvoir Das andere Geschlecht (1949) ................... 196 Germaine Greer Der weibliche Eunuch (1970) .......................... 199
Alice Schwarzer Der kleine Unterschied (1975) ........................ 201 Zivilisation................................................................................203 Baldassare Castiglione Das Buch vom Hofmann (1508-1516) .... 207 Robert Burton Die Anatomie der Melancholie (1621) ................ 212 Moliere Komödien (1659-1673) ............................................... 216 Jean-Jacques Rousseau Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste (1750) .................................................................... 220 Denis Diderot Rameaus Neffe (1761/1762) ............................... 225 Thomas Mann Buddenbrooks (1901) ........................................ 228 Theodor W. Adorno und Max Horkheimer Dialektik der Aufklärung (1947) ..................................................................................... 232 Norbert Elias Über den Prozeß der Zivilisation (1939) ............... 235 Psyche .......................................................................................240 Michel de Montaigne Essais (1580-1588) ................................. 242 Laurence Sterne Tristram Shandy (1759-1767) .......................... 244 Robert Louis Stevenson Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde (1886) ............................................................................ 248 Sigmund Freud Die Traumdeutung (1900) ................................ 251 Marcel Proust Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913-1927) .............................................................................................. 255 Shakespeare ..............................................................................261 Das Leben............................................................................... 263 Die Stücke .............................................................................. 266 Moderne ...................................................................................278 Virginia Woolf Mrs. Dalloway (1924) ...................................... 283 T. S. Eliot Das wüste Land (1922) ............................................ 287 Thomas Mann Der Zauberberg (1924) ...................................... 290 Franz Kafka Der Prozeß (1925) ................................................ 295 Alfred Döblin Berlin Alexanderplatz (1929) .............................. 299 Robert Musil Der Mann ohne Eigenschaften (1930-1932) .......... 302 Samuel Beckett Warten auf Godot (1952) ................................. 305
Trivialklassiker.........................................................................308 Kultbücher...............................................................................322 Utopie: Cyberworld ..................................................................335 Thomas More: Utopia (1516); Francis Bacon: Neu-Atlantis (1627); Tommaso Campanella: Sonnenstaat (1623) ............................... 339 H.G. Wells Die Zeitmaschine (1895) ........................................ 343 Aldous Huxley Schöne neue Welt (1932) .................................. 346 George Orwell 1984 (1949)...................................................... 350 Stanislaw Lern Solaris (1961) .................................................. 352 William Gibson Neuromancer (1984) ....................................... 354 Schulklassiker...........................................................................357 Gotthold Ephraim Lessing Emilia Galotti (1772) Nathan der Weise (1779) ..................................................................................... 360 Friedrich Schiller Die Räuber (1782) Kabale und Liebe (1784) Wilhelm Teil (1804) ................................................................ 365 Heinrich von Kleist Der zerbrochne Krug (1803-06) Michael Kohlhaas (1808) ...................................................................... 371 Joseph von Eichendorff Aus dem Leben eines Taugenichts (1826) .............................................................................................. 377 Georg Büchner Dantons Tod (1835) ......................................... 380 Heinrich Heine Deutschland. Ein Wintermärchen (1844) ........... 383 Kinder......................................................................................386 Jean-Jacques Rousseau Emile oder Von der Erziehung (1762) .... 390 Charles Dickens Oliver Twist (1838) ........................................ 395 Lewis Carroll Alice im Wunderland (1865) ............................... 399 Mark Twain Huckleberry Finn (1884) ....................................... 403 Astrid Lindgren Pippi Langstrumpf (1945) ................................ 406 Joanne K. Rowling Harry Potter (1997 ff.)................................ 408 Dank .........................................................................................410
VORWORT Shakespeare oder Berti Karsunke? Angenommen, Shakespeare wäre durch einen göttlichen Ratschluss wiedergeboren worden und Sie träfen ihn im Bahnhofsrestaurant von Hannover und er zwinkerte Ihnen zu und verwickelte Sie in ein faszinierendes Gespräch, würden Sie da nach ein paar Höflichkeitsfloskeln sich erheben und sagen: »Entschuldigen Sie, Mr. Shakespeare, Ihre Ansichten über den Hamlet sind sicher äußerst erhellend, aber ich muss leider gehen«? Shakespeare würde Sie mit eiserner Hand auf Ihren Sitz zurückdrücken und fragen: »Was haben Sie vor, das wichtiger wäre als ein Gespräch mit mir, dem Autor unsterblicher Werke, der nächst Gott am meisten geschaffen hat?« Und Sie würden antworten: »Ach, nichts Besonderes. Ich treffe mich mit Berti Karsunke und den anderen zum Stammtisch.« Nun, dies ist ein freies Land, und jedem steht es frei, sich von Shakespeare schnell zu verabschieden, um sich mit Berti Karsunke zu treffen. Nichts gegen Berti Karsunke. Auch er kann faszinierend sein. Tatsächlich würde man ihn auch bei Shakespeare schon finden. Er trägt zwar nicht den Namen »Berti Karsunke«, sondern »Andreas Bleichenwang«, aber es ist definitiv der gleiche Mann. Doch was würden Sie sagen, wenn auch Sie selbst sich in Shakespeare wiedertreffen würden, wenn Ihre Freundin in Ihnen Zettel, den verzauberten Weber, wiedererkannte, der sich „am Morgen danach“ in einen Esel zurückverwandelt hat? Würde das nicht Ihr Interesse wecken? Aber auch in diesem Fall werden viele der Gesellschaft von Berti Karsunke der von Shakespeare den Vorzug geben. Sie persönlich nicht, aber wir wissen durch eingehende statistische Erhebungen über Theaterbesuche und Bücherkäufe, dass eine große Mehrheit Berti Karsunke aus Oberhausen den Vorzug vor Willy Shakespeare aus Stratford gibt. Wem will man es verübeln, wenn er einem Menü von Bocuse eine Portion Pommes mit Majo an der Frittenbude vorzieht? Niemand wird bestraft, wenn er nicht in das Gespräch der Zivilisation eintritt. Es ist ein alter Rechtsgrundsatz: „Wer sich durch -1-
eine Tat unabsichtlich selber schädigt - etwa eine Mutter, die aus Versehen ihr eigenes Kind überfährt - wird nicht noch zusätzlich bestraft. Und so darf sich jeder aus der Kultur verabschieden, ohne dafür belangt zu werden. Denn er selbst trägt ja den Schaden. Er findet sich in der Lage eines Mannes, der mitten in einem von Lachsalven geschütte ltem Publikum einer Komödie zusieht und die Pointen nicht versteht. Er bewegt sich m seiner eigenen Kultur wie ein Ausländer. Er versteht ihre Sprache nicht, er ist wie einer, der sein Erbe ausgeschlagen hat. Damit hat er darauf verzic htet, die erhabensten Gedanken und die berauschendste Poesie kennenzulernen. Er hat freiwillig auf das höchste Glücksgefühl verzichtet, das es gibt nämlich Gottes Schöpfungsgedanken zu lesen.
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Hamlet und das Gespenst der Bildung Der amerikanische Soziologe Harold Garfinkel hat sich dafür interessiert, was passiert, wenn Menschen nicht dieselben Grundannahmen über die Realität teilen. So wies er seine Studenten an, im Verkehr mit ihren Freunden und Verwandten die unbefragten Konsensunterstellungen aufzukündigen, etwa indem sie gegenüber ihren Eltern so taten, als seien sie ihnen völlig fremd und als sähen sie sie zum ersten Mal. Die Reaktion der Betroffenen war so, dass sie nur noch mit Rückgriff auf pathologische Befunde beschrieben werden können: Mit ändern Worten, sie rasteten aus. Das zeigt, dass unser Realitätsgefühl darauf beruht, dass wir die Welt mit anderen teilen. Dass unser Gefühl für die Solidität der Welt und unsere eigene Identität zerbricht, wenn wir nicht die Grundannahmen über die Welt gemeinsam haben. Wer seine Eltern nicht mehr erkennt, verliert mit seinem Gedächtnis auch seine Identität. Er kann sich mit anderen nicht mehr darüber verständigen, wer er ist. Das gilt auch für das kulturelle Gedächtnis. Wer darauf verzichtet, verliert seine Identität. Er scheidet freiwillig aus einer Erbengemeinschaft aus. Dann lässt er Shakespeare im Bahnhofsrestaurant von Hannover zurück und begibt sich zu Berti Karsunke und den Jungs. Aber was macht Shakespeares Hamlet so bedeutend? Warum müssen wir ihn kennen? Antwort: Weil er viele Rätselfragen unserer Kultur in eine Form bringt und sie dadurch überhaupt erst behandelbar macht. Etwa: Welches sind die Nachwirkungen großer Verbrechen? Kann man die Vergangenheit abhängen? Was passiert, wenn man auf die Vergangenheit fixiert bleibt? Warum hat sich Deutschland mit Hamlet identifiziert? Was macht ihn zum Prototyp des romantischen Menschen und zum ersten Intellektuellen? Wie erklärt man sich diese erste große Darstellung eines modernen Lebensekels? Was bedeutet der Einbruch der Zeitenwende? Schauen wir näher hin: Um Mitternacht, zwischen dem Tag, der gerade vergeht, und dem, der heraufdämmert, zerreißt der Vorhang der Zeit, und der Prinz erblickt den Geist seines Vaters. Dieser behauptet, er komme aus dem Fegefeuer. Nun hat Hamlet aber in -3-
Wittenberg studiert, der Hochburg der Protestanten. Und die hatten das Fegefeuer abgeschafft. Erst damit waren die Toten endgültig tot. Im Fegefeuer lebten sie nämlich in einem Parallelpräsens mit den Lebenden weiter, und man konnte durch Fürbitten und Seelenmessen mit ihnen in Kontakt bleiben. Doch mit der Abschaffung des Fegefeuers wurden sie abgehängt und trieben den Fluss des Vergessens hinunter ins Dunkle. Das ließen sie sich nicht gefallen: Sie erschie nen wieder, als Geister. Damit lehrt uns der Hamlet: Eine kulturelle Ordnung, die plötzlich beseitigt wird, wird immer gespenstisch. Das ist in Deutschland mit der Bildung geschehen. Sie hat im Dritten Reich den Geist aufgegeben, und 1968 hat man ihr den Totenschein ausgestellt. Seitdem geht sie um als Gespenst, ein deutscher Widergänger. Bildung ist nämlich eigentlich eine spezifisch deutsche Zivilisationsidee. In den westlichen Ländern kennt man das emphatische Konzept der Bildung nicht. Stattdessen wurde bei Hofe und in den Hauptstädten im 17. Jahrhundert eine Verhaltenskultur herangebildet, die von einer urban-aristokratisch guten Gesellschaft getragen wurde. Dabei ging es um die Verbindung von Geselligkeit und Bildung. Sie fand ihren Ausdruck im Ideal des Gentleman und des gentil homme, einer Figur, die durch Weitläufigkeit, Klugheit, gewinnende Manieren, Witz, Esprit und Informiertheit die Geselligkeit zum Vergnügen machte. Manieren und Stil - das fasste man mit dem Begriff der »maniera«, der »manners«, zusammen. Bildung wurde mit sozialer Kultur verschmolzen. Anders in Deutschland. Hier versank das Land im Dreißigjährigen Krieg und dann im Provinzialismus. Eine hauptstädtische Gesellschaft gab es nicht, die dem Rest als Vorbild hätte dienen können. Bis heute hat sich der Widerwille der Provinz gegen die urbane Bühne einer Hauptstadt gehalten. Diese Lücke der nicht vorhandenen Verhaltenskultur wurde dann ab dem 18. Jahrhundert in Deutschland durch »Bildung« als zentraler Zivilisationsidee ersetzt. Aber Bildung war die Fortsetzung der protestantischen Weltfrömmigkeit mit anderen Mitteln. Als persönliche Heilserwartung war sie nur Persönlichkeitskultur. Sie wurde als eine Form der Innerlichkeit stilisiert, die sich von der Vulgarität der wirklichen Kommunikation fernhielt. Kommunikation war ihr zu oberflächlich. Und in den -4-
Formen, die ihr die französische Etikette gegeben hatte, wurde sie als eine Art Selbstverfälschung abgelehnt. »Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist«, sagte Goethe. Bildung fand keinen Sitz im wirklichen Leben. Deshalb erlag sie im Dritten Reich einem Kollaps, der sie lähmte. Mit diesem Zusammenbruch hat man 1968 das Todesurteil der Bildung begründet, bevor man sie exekutierte. Ihr Körper wurde entsorgt, indem man ihn im Säurebad der Kritik auflöste. Von da an ging sie um als Gespenst. In der Hand die erloschene Öllampe enttäuschter Heilserwartungen, hat sie die Gestalt einer negativen Theologie der Bilderverbote angenommen: Du sollst nach Auschwitz kein Gedicht schreiben; Du sollst keine kulinarischen Geschichten erzählen; Du sollst nicht personalisieren; Du sollst Dich nicht amüsieren; Du sollst Dich nicht an der Kultur erfreuen ... Das hat die Bildung zu einem Gräberfeld der Formen gemacht, die verboten sind durch Streit von Untoten und Wiedergängern. Und schließlich ist Deutschland zu einem Land ohne Geschichte, ohne Bildung, ohne Sprache und ohne Identität geworden.
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Leitideen zur Bücherauswahl Wer die Freude an kulturellen Höchstleistungen und den Genuss an den Wonnen der Erkenntnis wiedergewinnen will, muss dieses Gespenst bannen. Genau dies geschieht in diesem Buch. Christiane Zschirnt holt die Bücher aus dem Halbdunkel der Altarräume heraus, wo die weihrauchgeschwängerte Luft und das Gemurmel der Priester die Sinne betäuben; sie wischt alles zeremonielle Brimborium hinweg und befreit sie vom akademischen Imponierstil; und dann schließt sie ein Bündnis mit dem normalen Leser, dem, was die Engländer den »common reader« nennen, der sich unter den klassischen Werken umsehen möchte, um entscheiden zu können, was er lesen will; der zurückfinden möchte zu den Hauptstraßen und Verbindungswegen der Kultur, ohne schikaniert zu werden, und der sich erfreuen möchte an den gelungenen Formen der Kultur. Liest man das Inhaltsverzeichnis und sieht man die Kategorien, mit denen die Verfasserin ihre Handbibliothek ordnet, durch, ist man zunächst verblüfft: Da stehen neben den Klassikern des politischen Denkens solche Rubriken wie »Schulklassiker«, »Shakespeare«, »Kinderbücher«, »Utopie: Cyberworld«. Welche Ordnung steht hinter diesem Arrangement? Man fühlt sich dabei an Borges Chinesisches Lexikon erinnert, wo man unter dem Stichwort »Tiere« unter anderem folgende Eintragungen findet: »Hausschweine«, »Tiere, die dem Kaiser gehören«, »essbare Tiere« und »Tiere, die mit einem Kamelhaarpinsel gemalt sind«. Doch die quer zueinander liegenden Kategorien bezeugen, dass die Verfasserin der Versuchung widerstanden hat, sich von einem Zwang zur falschen Systematik leiten zu lassen, um dann eine flächendeckende Inventarisierung der Klassiker aller möglichen Fachgebiete vorzunehmen. Ihr einiges Kriterium ist das, was heute als »klassisch« gilt; was gewissermaßen Kultstatus hat. Denn jede Zeit hat ihre eigenen Klassiker. Insofern ist dieses Netzwerk quer zueinander stehender Kategorien auch ein Röntgenbild unserer Kultur. Dabei zeichnen sich zwei Leitideen ab, die dieses Netzwerk organisieren: Das 'ne ist die Idee der Zivilisation selbst, eingebettet in -6-
die Theorie der modernen Gesellschaft. Unter diesem Sternzeichen stehen die Klassiker der Politik, der Gesellschaftstheorie und der Wirtschaftswissenschaften. Und da das zivilisatorische Niveau eine Gesellschaft immer an dem Einfluss abgelesen werden kann, den Frauen ausüben, finden wir auch die wichtigen Werke aus der Geschlechterdebatte Die andere Leitidee ist schwerer zu fassen: Es geht um Bereiche, deren Phantastik sie selbst in größere Nähe zur Literatur rückt, und die deshalb schon fast als Poesie in Erscheinung treten. So etwa die Liebe. Sie ist eine Cousine der Literatur. Sie wird durch Literatur verbreitet und in der Literatur erlernt. Oder die Psyche als seelischer Innenraum. Sie wird zusammen mit dem Gefühl erst in der Literatur erfunden. Vorher gab es nur den Körper und die unsterbliche Seele. Kurzum, es geht hier um die Sphären der Verzauberung, der Phantastik und der Konstruktion einer eigenen Welt. In diesen Bereich gehören die Rubriken »Kinder«, »Utopie: Cyberworld« und »Schulklassiker« als früheste Lektüreerfahrung und Kultbücher und Trivialklassiker, die die Jugend ganzer Generationen prägten, sowie Sex und die Bücher, die man mit einer Hand las. Daran sieht man: Die Literatur kompensiert die Teilung des gesellschaftlichen Moleküls in »privat« und »öffentlich« und wird zu einem Paradox - nämlich zur öffentlichen Kommunikation über Privates. Deshalb ist Literatur ständig mit Grenzüberschreitungen beschäftigt. In ihr geht es um Tabus, um Enthüllungen und Geheimnisse, Verbrechen, Mysterien und Rätsel. Und Literatur verführt zum Miterleben. Sie ist - wie die Liebe - eine Form der Intimität. Und sie ist die einzige Form der Kommunikation, in der man die Welt aus der Perspektive und mit dem Bewusstsein einer anderen Figur erlebt. Auch darin ist sie wie die Liebe, dass sie ein Intimverhältnis zwischen Figur und Leser begründet. Das erfolgt auf eine solche Weise, dass der Leser die Figur einmal von außen und einmal von innen erlebt. Er nimmt also teil an ihren Beobachtungen und kann diese wieder von außen beobachten. Literatur ermöglicht also, was sonst unmöglich ist: an Erfahrungen teilzunehmen und sie zugleich zu beobachten. Literatur ist also die große Gefühlserzieherin. Über sie lernen wir andere Menschen und uns selber beobachten. Wir lernen Psychologie. Wir sehen, wie es in anderen aussieht, obwohl ihr Inneres sonst -7-
verschlossen ist. Wir lernen Mitgefühl. Natürlich ist es da kein Wunder, dass Frauen mehr Literatur lesen als Männer. Darüber hinaus bietet die Literatur etwas, das auch Männer interessiert und das man nirgends sonst lernt: Sie macht bekannt mit Ereignisfolgen, die nicht linear verlaufen und nicht berechenbar sind. Also Konflikte, Hexenjagden, Skandale, sich selbst erfüllende Prophezeiungen, Krisen, Wandlungen, kurzum, Verläufe, die man nicht wiedererkennen würde, würde man sie nicht aus der Literatur kennen. Diese Plots markieren bestimmte Schicksalsfiguren, zusammengehörige Verlaufsprogramme, für die dann die Namen als Kürzel stehen: Ödipus für die bekannte Familienkonstellation, Hamlet für das Problem des Intellektuellen, Don Quixote für das Schic ksal des Weltverbesserers, Faust für die Maßlosigkeit der Wissenschaft, Don Juan für den Verführer etc. Über diese Muster erfährt man nur etwas in der Literatur. Und einem von ihnen entstammt auch das Konzept der Bildung selbst: dem Roman. Am Anfang begeht der Held Fehler aus Unkenntnis oder auf Grund von Vorurteilen. Die negativen Folgen zwingen ihn auf den Weg der Selbstkorrektur. Dadurch ändert er sich, bis er schließlich im Rückblick seine Fehler als notwendige Voraussetzung seiner Selbstkorrektur versteht und diesen Zusammenhang als Vorgeschichte seiner Selbsterkenntnis begreift. Bildung ist demnach das Verständnis der eigenen Geschichte als Grundlage der eigenen Identität. Die Bildungsbiographie wird zum Lebensraum und der Roman zur Form, in der sich ein Leben zum Zusammenhang schließt. Und er gewinnt seine Form in der Konfrontation zwischen Individuum und Welt.
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Kulturelle Identität und neue Kultur Das Handbuch enthält nur eine Liste westlicher Bücher. Nach dem Angriff auf die Symbole des Western Way of Life stellt sich die Frage nach der eigenen kulturellen Identität des Westens neu. Das schließt die Frage nach der Rolle der Religionen ein. Denn die Begegnung mit der Kultur des Islam konfrontiert uns mit Formen der religiösen Erfahrungen, die uns heute fremd erscheinen, die aber auch in dieser destruktiven Form zu unserer Kultur gehört haben. Damit konfrontiert uns diese Auseinandersetzung auch mit der eigenen Geschichte. Von Religion kann man sprechen, wenn man die Angst, die vom Unvertrauten, vom Bedrohlichen, vom Sinnwidrigen, vom Tod, vom Schmerz, vom Schrecken, vom Unvernünftigen, vom Paradoxen, vom Geheimnis, vom Unnennbaren ausgeht, durch die Teilung in Diesseits und Jenseits auffängt. Der Unterschied zwischen Diesseits und Jenseits wiederholt sich dann im Diesseits, wo er eine Grenze zwischen profanen und heiligen Zonen zieht. Der Werktag ist weltlich, aber der Sonntag ist heilig. Die Welt ist profan, aber das Innere der Kirche und die Zone des Altars sind heilig. Wo immer das Jenseits ins Diesseits eintritt, sei es in Formen von Wundern, Krisen, Schrecken, Rätseln, Paradoxien und Mysterien, entstehen religiöse Tabus und Rituale. Und da wir - gleichgültig in welcher Kultur immer mit Paradoxien, Krisen und Geheimnissen zu tun haben werden, werden wir auch mit Religion zu tun haben. Gegenwärtig tritt sie uns als destruktive Kraft entgegen, aus der sich die islamischen Gesellschaften in ihrer Abwehrschlacht gegen die Modernisierung bedienen Aber auch bei uns selbst erleben wir einen Kostümball des Religiösen. Neue Kulte topfen die Erfahrung des Unzugänglichen um, und es entstehen die Designerreligionen der New-Age-Bewegung, die Idolatrien der Politik und die Kulte der neuen Medien. Dabei hat das Internet die Attribute Gottes angenommen: In einer Welt, die zu groß war, um sie zu überschauen, behalf man sich mit einer religiösen Paradoxie: Man dachte sich Gott als allwissend. Das ließ die Welt als im Prinzip wißbar und überschaubar erscheinen. Zugleich verbot man, Gott zu sehen und abzubilden. So konnte man -9-
nicht wissen, was er wusste, aber man konnte mit ihm kommunizieren. In ihm waren alle Informationen gespeichert. Aber er selbst hatte keine Adresse. Sein Geist wehte, wo er wollte. Das alles hat das Internet übernommen. Statt mit Gott zu kommunizieren, geht man online. Die Priester vor der Bundeslade der Bildung haben einen neuen Mysterienkult gefunden.
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Kanon, Schrift und Lesekultur Geht es also um einen Bildungskanon wie zu Olims Zeiten? Ist das nicht eine überlebte Idee? Zieht nicht jeder Kanon willkürliche Grenzen? Würden sie nicht trennen, was nebeneinander liegt? Wer möchte so eine Grenze verantworten? Wer möchte die Partei des halbvollen Glases ergreifen, wenn die Partei des halbleeren Glases ihre Stimme erhebt? Nun, das alles sind Argumente demoralisierter Gemüter ohne Zutrauen in die strukturierende Kraft der Grenzziehung. Und zwar jeder Grenzziehung. Das Land der Bildung ist zwar eine Republik, aber gerade die Freiheit gedeiht nur dort, wo selbstgesetzte Regeln und Unterscheidungen gelten. Und die zentrale Unterscheidung einer solchen Auswahl ist die Differenz zwischen Wichtigem und Unwichtigem oder zwischen Kür und Pflicht. Orientiert sie sich daran, ist die Wirkung ähnlich wie die einer Steuerreform m der Wirtschaft. Wie dort die Begrenzung der Steuern die Steuereinnahmen durch Belebung der Wirtschaft erhöht, würde die Begrenzung der Lektüre auf zentrale Werke das Ausmaß der Lektüre über die Auswahl hinaus beleben, weil sie zeigt, wie man anfangen soll. Es bedarf nur der Grenzziehung, um ihre Überschreitung auszulösen. Denn es ist wichtig, dass man überhaupt anfängt und dass man liest. Warum? Unsere Kultur entstammt einer Medienrevolution. Sie erfolgte in zwei Schüben: als Erfindung der Schrift und als Erfindung des Buchdrucks. Durch Umwandlung von mündlicher in schriftliche Kommunikation wurde als Dimension erst fassbar, was dabei identisch blieb: der Sinn. Deshalb wurde Sinn direkt mit Schrift identifiziert und als Logos oder als »Heilige Schrift« gefasst. Mündliche Verständigung lebt vom selbstproduzierten Energiestrom der eigenen Dramaturgie. In ihr kommt es nicht auf Sachlichkeit an, sondern auf den Beziehungsaspekt und die emotionale Einfärbung. All dies wird in schriftlichen Texten durch die Konzentration auf ein Thema und durch die innere Kohärenz ersetzt. Erst Schrift hat die Sprache fixiert, kontrollierbar gemacht und am Regelsystem der Grammatik ausgerichtet. Der Tempounterschied zwischen mündlicher - 11 -
Rede und Schrift wird benutzt, um den Sinn zu strukturieren. Durch Linearisierung der Folge Subjekt, Prädikat, Objekt mit all ihren Zusätzen kann die logische Ordnung des Gedankens auf die Reihenfolge der Satzteile abgebildet werden. Dazu bedarf es der Abkoppelung von der Außenwelt und der Lenkung der Aufmerksamkeit nach innen. Kurzum, es bedarf der Fähigkeit zur Konzentration. In den letzten dreißig Jahren ist dieser Fähigkeit ein tödlicher Feind erwachsen: das Fernsehen, vor allem der Fernsehkonsum der Kinder, bevor sie lesen können. Bei ihm entspricht das Tempo der Bilder genau dem Stimulations bedarf des Hirns. Deshalb absorbiert das Fernsehen die Aufmerksamkeit. Es wirkt wie eine Droge. Fehlt der Nachschub an Stimulation, gibt es sofort Entzugserscheinungen. Entsprechend können sich die Kinder immer weniger konzentrieren. Sie halten die Tempodrosselung für Sinnbildungsprozesse nicht mehr aus. Sie begreifen Unterricht deshalb als eine Art von Unterhaltung, messen den Lehrer an Fernsehstars und zappen ihn weg, wenn er sie langweilt. Mit dem Fernsehen hat die mündliche Kommunikation wieder das Kommando übernommen. Wer seine Phantasiebedürfnisse nicht aus Büchern befriedigt, bevor er fernsieht, entwickelt keine festen Lesegewohnheiten. Für ihn bleibt das Lesen mühselig. Er koppelt sich schließlich von der Schriftkultur ab und sinkt zurück in eine schriftlose Bilderkultur. In den ersten Wehen vor der Geburt der Moderne nistete sich in Europa eine Kontroverse darüber ein, ob eher die klassischen antiken Autoren oder die als vorbildlich zu gelten hätten. Jonathan Swift hat eine parodistische Version dieser »Querelies des anciens et des modernes« verfasst, der er den Titel The Battle of the Books gab. Heute in Deutschland etwa so einen Kanon zu fordern, bedeutet eine neue Schlacht der Bücher auszulösen. Schließlich hatte man den alten Kanon nach 1968 nicht zur Abdankung gezwungen, um Platz für einen Nachfolger zu schaffen. Aber diese Haltung ist national borniert. Sie entstammt allein einer deutschen Erfahrung. Unsere westlichen Nachbarn haben ihren Kanon ja nicht abgeschafft - warum auch? Sie haben in Übereinstimmung mit den kulturellen Werten ihrer Tradition die Tyrannei vor 50 Jahren besiegt und die Zivilisation gerettet. Wenn wir mit ihnen in einem - 12 -
vereinigten Europa eine Verständigungsgemeinschaft bilden wollen, müssen wir uns ihre Traditionen zu eigen machen und unseren Kanon daran justieren. Auch dazu leistet dieses Buch seinen Beitrag. Sein größtes Verdienst aber liegt darin, dass es sich von dem Weihepathos der deutschen Bildungstradition abkehrt. Christiane Zschirnt demaskiert diesen Zinnober als schlechtes deutsches Erbe. Der Respekt vor den Autoren, den sie uns lehrt, kommt aus dem Verständnis und nicht aus der rituellen Verbeugung vor unverstandenen Götzen. Damit rückt sie die Werke aus dem Bannkreis des Snobismus heraus und macht die Bildung wahrhaftig demokratisch. Und das heißt: zugänglich für alle, die das möchten. Als die Nazis die Deutschen auf den Krieg vorbereiten wollten, begannen sie mit einem Massenmord an Büchern. Als die Amerikaner ihre Rekruten auf den Krieg vorbereiten wollten, schickten sie sie in die neu entwickelten »Great Book Courses«, die seitdem von den Colleges übernommen worden sind. Sie hatten sich bewährt und waren Bestandteil eines demokratischen Kanons geworden. Solch ein Kanon lehrt den Respekt vor der Zivilisation, und er erinnert sie an ihre Verletzlichkeit. Dietrich Schwanitz, Hamburg, Oktober 2001
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EINLEITUNG Ist Ihnen das auch schon einmal passiert? Sie gehen in ein dreigeschossiges Kaufhaus für Bücher, um sich mit neuer Lektüre zu versorgen. Gleich am Eingang locken verführerisch glänzende Bildbände mit signalroten Sonderpreis-Aufklebern. Dahinter: Bücher, soweit das Auge reicht. Schimmernde Umschläge auf 3000 Quadratmetern: Bestseller, Krimis und Fantasy, Kochen und Gärtnern, Schwangerschaft und Steuerrecht, Männer und Life-Style, die Geschichte Brasiliens und die Geschichte des Kaffeetrinkens ... Sie stöbern eine halbe Stunde und gehen dann, ohne ein Buch gefunden zu haben. An der Auswahl lag es wohl nicht. Dieser Buchladen ist nur ein verschwindend kleiner Teil unserer Mediengesellschaft, die uns mit Informationen nur so erschlägt. In dieser Landschaft spielen Bücher nicht mehr die einzige Rolle. Die Informationsflut, die wir bewältigen müssen, stammt aus Zeitungen und Zeitschriften, aus dem Radio und aus dem Fernsehen - ganz zu schweigen von der Überforderung menschlicher Aufnahmefähigkeit durch das Internet. Im Netz gibt es Daten jenseits der Grenzen von Raum und Zeit: alles ist immer und überall verfügbar. Es gibt, so scheint es, Wissen im Überfluss. Trendforscher und Soziologen sprechen von der „Informationsgesellschaft“ und der „Wissensgesellschaft“. Sie erklären, unser Wissen würde sich alle fünf Jahre verdoppeln. Allein diese Information lässt sich kaum noch begreifen. Während unser Wissen explodiert, wissen wir allmählich immer weniger, wie wir damit umgehen sollen. Wenn man früher die Schule verließ, war man - im Idealfall - mit dem kulturellen Wissen ausgestattet, das man benötigte, um für den Rest des Lebens gerüstet zu sein. Heute müssen die Schulen ein Wissen vermitteln, mit dem man sich auch dann noch zurechtfindet, wenn sich das Wissen verändert. Die Wissenslandschaft hat sich gewandelt. Als mein Großvater 1909 eingeschult wurde, zeigte man ihm einen Berg. Eigentlich war es kein richtiger Berg, denn er bestand aus vielen übereinander getürmten Giganten. Damals wusste mein Großvater noch nicht, wer diese Kolosse waren, aber später lernte er sie kennen: - 14 -
Homer, Dante, Shakespeare und Goethe waren darunter, aber noch viele andere. »Da muss du jetzt hinauf«, sagte sein Lehrer, »und wenn du oben angekommen bist, bist du ein Zwerg, der auf den Schultern von Riesen steht«. Die Bergbesteigung sah furchtbar mühsam aus, aber man erklärte meinem Großvater auch, von dort oben sei der Blick atemberaubend. Von dort könne man alles überblicken: die ganze Kultur und ihr ganzes Wissen. Überall erkannte man die Bibel, die Antike oder die Klassiker. Wenn Zitate auftauchten wusste man, woher sie stammten, und konnte sie zuordnen. Die ganze abendländische Kultur wurde als ein unendliches Netz von Verweisen und heimlichen Bezügen erkennbar. Alles ließ sich miteinander in Verbindung bringen. Mein Großvater begann nach oben zu kraxeln. Zur Orientierung gab man ihm eine Wanderkarte mit. Das war der Kanon - die Liste aller Bücher, die er lesen musste, um sicher auf dem Berggipfel anzukommen. Damit war er gut ausgerüstet, denn es waren darin alle geologischen Wissensschichten eingezeichnet, in denen seine Steigeisen sicheren Halt finden konnten. Am Ende der Schulzeit war er oben angekommen. Man beglückwünschte ihn und sagte ihm, er sei jetzt fertig und könne die Aussicht genießen. Vor zwei Wochen wurde meine Nichte, Anna, eingeschult. Ihre Lehrerin hat ihr keinen Berg gezeigt, sondern ein Meer. Zu Beginn des 21.Jahrhunderts ähnelt unser Wissen nicht mehr einem Berg, sondern einem Ozean: Der Horizont ist immer gleich weit entfernt, auf der spiegelglatten Oberfläche sieht alles gleich aus, und das einzige Geräusch, das man hört, ist Meeresrauschen. Wer heute ein unendliches Netz von Verweisen und heimlichen Bezügen entdecken will, hat dazu reichlich Gelegenheit, wenn er ins Internet geht. Nur lässt sich dort eben nicht mehr alles so miteinander in Verbindung bringen, dass man dabei noch die Übersicht behält. Auf den endlosen Weiten des Ozeans kann man leicht die Orientierung verlieren. Es sei denn, man hat einen Kompass. Damit können wir im Wissensmeer navigieren. Ich hoffe nicht, dass die Lehrerin Anna eine Wanderkarte mitgegeben hat! Aber das heißt noch lange nicht, dass wir es uns leisten können, all das kulturelle Wissen, das auf dieser Karte verzeichnet war, einfach über Bord zu werfen. Wir benötigen es dringend. Was früher dazu diente, den Überblick zu behalten, wird - 15 -
uns jetzt dabei helfen, die Orientierung nicht zu verlieren. Dazu muss aber das, was einmal zur Bergbesteigung diente, hochseetauglich gemacht werden. Das geht nicht einfach über Nacht. Es gibt Wissen im Überfluss - und Wissensdefizite. Diese Kombination wird gewöhnlich unter den Ausdruck „Expertenwissen“ behandelt - oder als „Fachidiotentum“ beklagt. Die Klage darüber ist ungerechtfertigt, denn wir leben in einer Gesellschaft, die Spezialkenntnisse erforderlich macht. Es ist deshalb nicht verwerflich, ein Spezialist zu sein. Das Problem ist jedoch, dass es nicht ausreicht. Spezialwissen ist kein kulturelles Wissen. Man kann damit die eigene Kultur nicht verstehen. Wer alles über Marketing, Astrophysik, GenMais oder Webdesign weiß, weiß noch nichts über die Ursprünge der Demokratie und des Kapitalismus, über den Liebesbegriff oder die Erfindung der Zivilisation. Ich habe dieses Buch für alle geschrieben, die sich auf dem Ozean zurechtfinden wollen. Es ist ein Buch über Texte, die Spuren in der westlichen Kultur hinterlassen haben. Sie enthalten das kulturelle Wissen der westlichen Welt: es sind Romane, Dramen, Epen, theoretische Abhandlungen und Aufsätze. Die Auswahl beschränkt sich auf Bücher der europäischen Tradition. Das hat zwei Gründe. Zum einen hat es keinen Sinn, ins Uferlose zu geraten, wenn man die Orientierung verloren hat. Zum anderen muss man die westliche Welt verstehen, wenn man die moderne Welt verstehen will. Die Welt, in der wir leben, ist durch europäische Erfindungen und Entwicklungen geprägt. Manche davon sind einfach unschlagbar. So entstammt zum Beispie l die Idee der Menschenrechte der europäischen Aufklärung. Zum europäischen Erbe an die globalisierte Welt gehört aber auch ihr unbesiegbares und oft unmenschliches Wirtschaftssystem, der Kapitalismus. Mit der Auswahl der Bücher, die ich getroffen habe, begründe ich keinen neuen Kanon. Das wäre schon allein deshalb unmöglich gewesen, weil die Kanonisierung ein komplizierter Vorgang des Auswählens und Weglassens ist, an dem die ganze Kultur beteiligt ist, und in den die ästhetischen, sozialen, politischen und religiösen Überzeugungen einer Gesellschaft hineinspielen. Ich wollte aber auch keine Liste schreiben, die im Jahr 800 v. Chr. beginnt und im Jahr 2000 n. Chr. endet. Niemand kann sich unter einer so langen - 16 -
Zeitspanne etwas vorstellen - schon gar nicht, wenn er oder sie schon Schwierigkeiten haben muss, sich in der eigenen Gegenwart zurechtzufinden. Die Welt, in der wir leben, begegnet uns nicht zeitlich sortiert. Wir haben es mit Wirtschaft zu tun und mit Politik, ärgern uns über Zivilisationszwänge, verlieben uns, erziehen Kinder, lesen Bücher, sehen fern und gehen ins Kino. Während wir damit beschäftigt sind, all diese Dinge unter einen Hut zu bringen, kommt uns das alles ziemlich unübersichtlich vor. Tatsächlich bewegen wir uns aber ständig im Rahmen bestimmter Strukturen. Wenn man sie wiedererkennen kann, weiß man immer, wo man sich gerade befindet. Diese Strukturen unseres Alltags habe ich in dieses Buch übernommen. Ich habe die Bücher daher nicht chronologisch, sondern thematisch geordnet. So weisen bereits die Kapitelüberschriften wie Leuchttürme den Weg. Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe steht deshalb nicht unter 1719, sondern unter „Wirtschaft. Und Tolstojs Anna Karenina begegnen wir dort, wo wir sie vermuten würden: im Kapitel „Liebe“. Die Auswahl der Bücher geschah auch im Hinblick auf die Komplexität der modernen Gesellschaft. Ich wollte - innerhalb des einmal gezogenen Horizontes - möglichst viel in den Blick nehmen. Deshalb steht der Klassiker des Kanons, Homer, neben der Ikone der Popkultur, Donald Duck, und deshalb interessiert die Erfindung der Pille in den sechziger Jahren genauso wie die Erfindung des Kapitalismus im 16. Jahrhundert. Die Entscheidung zugunsten eines breiten Spektrums hat eine Schattenseite: im Detail musste ich vieles weglassen. Aber jede Auswahl kommt nur dadurch zustande, dass man etwas ausklammert. Das fiel mir in keinem Fall leicht. Denn Literatur ist niemals „nur“ kulturelles Wissen. Mit jedem Buch, das man liest, verbinden sich persönliche Erfahrungen. Sie sind jedoch der Teil einer Welt, die jeder für sich selbst entdecken muss. Keine Zusammenfassung kann die Schönheit der Sprache Prousts, den Humor Jane Austens, einen Leserausch oder das Abenteuer der Begegnung mit einer epochemachenden Idee ersetzten. Dieses Buch soll Sie mit dem Kompass ausstatten, den Sie benötigen, wenn Sie sich aufs Meer hinaus wagen, um eigene Entdeckungen zu machen. - 17 -
WERKE, DIE DIE WELT BESCHREIBEN
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Die Bibel (800 v. Chr. - 100 n. Chr.) Am Anfang schuf Gott das Licht und die Finsternis. Das war der erste Tag. Am zweiten Tag trennte er den Himmel von den Wassern. Am dritten Tag schuf er das Meer und die Erde und ließ die Pflanzen wachsen. Am vierten Tag schuf er die Sterne und die Sonne und den Mond. Am fünften Tag bevölkerte er das Meer mit Fischen und den Himmel mit Vögeln, und am sechsten Tag belebte er die Erde mit den Tieren und dem Menschen. Da war die Schöpfung vollendet, und Gott ruhte am siebten Tag. - Die Bibel wurde nicht in sechs Tagen gemacht. Sie ist das Werk aus rund 1000 Jahren Überlieferung, Verschriftlichung und Auswahl vieler unterschiedlicher Texte. Wir sind so sehr gewohnt, uns unter der Bibel ein einheitliches Buch, wenn nicht gar das eine Buch, vorzustellen, dass es schwer fällt, sich klar zu machen, dass die Bibel im Grunde eine Bibliothek ist. Sie besteht aus „Büchern“. Diese einzelnen Bücher waren zwischen 800 v. Chr. und 100 n. Chr. in drei Sprachen verfasst worden: in aramäisch, hebräisch und griechisch. Sie stammten von unterschiedlichsten „Autoren“ - von hochgebildeten Männer mit Macht und Ansehen genauso wie von einfachen Männern aus dem Volk, von Königen und Ziegenhirten. Erst zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert n. Chr. wurden diese Bücher von den Autoritäten der frühen Kirche zu einer verbindlichen Sammlung zusammengestellt. Man trennte dabei (über einen längeren Zeitraum) bewährte Schriften von solchen, gegen die Bedenken bestanden. So entstand der „biblische Kanon“ (griech.: Maßstab, Richtschnur): die verbindliche Zusammenstellung der Heiligen Schrift“. Bis heute blie b dies der nicht veränderbare Bestand von Texten, in denen sich nach der Lehre des Christentums das Wort Gottes offenbart. Die Bibel war (und ist es für viele noch heute) ein unerschöpfliches Universalwerk: sie enthält den gesamten Wissensvorrat des Christentums. Jahrhundertelang konnte man die Bibel in allen möglichen Lebenslagen zu Rate ziehen und sicher sein, eine Antwort zu bekommen: sei es zu Geschichte, Alltag oder den großen Fragen des Glaubens. Deshalb war die Bibel jahrhundertelang ein Buch, das die ganze Welt enthielt. - 19 -
Ihre sehr lange Entstehungszeit, die Beteiligung mehrerer Kulturen und Sprachen und die Mischung der Autoren machen die Bibel zu einem Buch mit unendlich vielen Facetten: Da gibt es die atemberaubende Schöpfungsgeschichte, in der Gott das Universum aus dem Nichts schafft (übrigens zweimal hintereinander, denn dem ersten Schöpfungsbericht folgt in Genesis 2.4 noch ein zweiter, der aus einer anderen, älteren Quelle stammt). Dann liest man, dass eine Frau alles Elend über die Menschheit brachte, als sie vom Baum der Erkenntnis aß. Damit lud sie Sünde auf alle Menschen, die zur Strafe dafür sterblich wurden. Aber ein Gutes hatte die Sache: die Menschen mussten nicht länger in Unwissenheit verharren. Statt den ganzen Tag Obst im Garten Eden zu essen, konnten sie jetzt ein so großartiges Werk wie die Bibel in Angriff nehmen! Die Schöpfungsgeschichte enthält wunderbare Bilder, die jeder kennt, der in der christlichen Tradition aufgewachsen ist: das Paradies, die Schlange, die Arche Noah, den Turm von Babel. Die Texte der Bibel haben alle Stilhöhen zu bieten: es gibt die schnörkellose Sprache der Bücher der Könige, aber auch die herrliche Poesie der Liebeslyrik des Hohelied Salomos. Es gibt die ganz weltlich klingende Serailgeschichte des Buchs Esther oder die ehrfurchtgebietende Erzählung vom gottesfürchtigen Hiob, der Gegenstand einer Wette zwischen Gott und Teufel wurde. Es gibt den intelle ktuellen Höhenflug des Johannes-Evangeliums (es beginnt mit den Worten: »Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort«) und Johannes' rätselhafte Vision vom Ende der Welt: die Apokalypse. Die Bibel besteht aus dem Alten Testament, das die Geschichte eines Volkes (Israel) erzählt, und dem Neuen Testament, das die Geschichte eines Mannes (Jesus) erzählt. Das Alte Testament ist nicht nur der umfangreichste Teil der christlichen Bibel, sondern zugleich auch die Heilige Schrift des Judentums. Nach der Schöpfungsgeschichte und dem Anfang der Welt folgt im Alten Testament die Geschichte des Ursprungs des Volkes Israel. Gott schließt ein Bündnis mit Abraham und ernennt ihn damit zum Stammvater eines auserwählten Volkes. Zum Zeichen dieses Bundes sollen von nun an alle männlichen Nachkommen beschnitten werden. Abrahams Enkel Jakob zeugt zwölf Söhne, aus denen die zwölf - 20 -
Stämme des Volkes Israel hervorgehen. Das Alte Testament berichtet von der Geschichte dieses Volkes und ihren ständigen Verhandlungen mit ihrem Gott: von der Wanderung kreuz und quer durch die Gebiete des vorderen Orients zwischen Euphrat und Nil, von der Versklavung in Ägypten, von der Verkündung der zehn Gebote, die Moses auf dem Berg Sinai entgegennimmt, und von Gottes allmählicher Offenbarung durch Wunder, Träume und Naturphänomene sowie durch Israels eigene Geschichte. Während die Begebenheiten des Alten Testaments einen Zeitraum von mehr als eineinhalb Jahrtausenden umspannen, beschränken sich die Ereignisse des Neuen Testaments auf den vergleichsweise kurzen Zeitraum von 100 Jahren. Das Neues Testament beschreibt die Geburt, vor allem das Sterben und die Nachwirkungen des Lebens Jesu. Kern des Neuen Testaments sind die ersten vier Bücher: die vier Evangelien (»guten Nachrichten«), als deren Verfasser vier Jünger Jesu gelten: Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Der umfangreic hste Teil des Neuen Testaments sind die 22 »Briefe«. Das sind Lehrtexte, die für die frühen christlichen Gemeinden verfasst wurden und die neben der christlichen Lehre auch Anweisungen für den Alltag enthalten. Die meisten dieser Briefe stammen von Paulus, dem ersten Missionar des Christentums. Paulus hieß ursprünglich Saul und war Jude. Er hatte sich an der Verfolgung der Christen beteiligt. Doch nach einem einschneidenden Erlebnis, bei dem ihm Jesus erschienen war, hatte er sich taufen lassen und nannte sich von nun an Paulus. Er wurde zum bedeutendsten Verkünder des Christentums und war der erste christliche Theologe. Im ersten Jahrhundert n. Chr. reiste er kreuz und quer durch die Länder des östlichen Mittelmeers bis nach Italien und gründete überall christliche Gemeinden. Der Name der „Bibel“ stammt von griech. biblia »Bücher«, das ist der Plural von biblon »Buch«, der sich wiederum vom Namen der phönizischen Stadt Byblos ableitet, aus der das Schreibmaterial der Antike stammt: das aus der gleic hnamigen Schilfpflanze hergestellte Papyrus (von »Papyrus« leitet sich das Wort »Papier« ab). Die ersten Versionen des Alten Testaments wurden auf Papyrus geschrieben, das man aufgerollt in Röhren aufbewahrte. Seit dem 4. Jahrhundert bis ins Mittelalter benutzte man dann jedoch das viel haltbarere Pergament, das aus Tierhäuten gefertigt wurde. - 21 -
Kein anderes Buch hat die Geschichte und Kultur Europas so beeinflusst wie die Bibel. Das in der Bibel vermittelte Wissen ist der größte gemeinsame Nenner der westlichen Welt - und sei es auch, um jahrhundertelang über den geteilten Themenvorrat in Streit zu geraten: Juden gegen Christen, Ostkirche gegen Westkirche, Katholiken gegen Protesta nten. Die Bibel hat zur Rechtfertigung einiger der unheilvollsten Entwicklungen der Welt herhalten müssen - aber sie hat auch die Inspiration zu den großartigsten Leistungen auf den Gebieten der Kunst und Literatur gegeben. Die Bibel ist das am weitesten verbreitete Buch der Welt. Mit der Einführung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert durch Johannes Gutenberg - dessen erstes Druckerzeugnis natürlich eine Bibel war wurde die Bibel zum ersten Massen-Konsumartikel Europas. Im Reisegepäck der Missionare stieg sie zum (nicht immer nur segensreichen) Exportschlager auf. Heute ist die Bibel in rund 2000 Sprachen übersetzt, und jährlich werden mehr als 30 Millionen Bibeln neu gedruckt (Zum Vergleich: Verlage sprechen bereits von einem Bestseller, wenn ein Buch eine Auflage von 20.000 Stück überschreitet.) Wahrscheinlich beträgt die Gesamtauflage aller im Jahre 2001 bereits verbreiteten Bibeln 700 Millionen. Rechnete man alle Bibeln zusammen, die je gedruckt worden sind, hätte man rasch die Milliardengrenze überschritten. Die Bibel ist das Buch der Superlative. Jedes andere Buch, das sich rühmen kann, mit der Bibel verglichen zu werden, rangiert in ideologischen Größenordnungen, die das Maß des Gewöhnlichen sprengen. Man liest häufig Sätze wie: »Homer ist die Bibel der Griechen«, »das Kapital von Karl Marx ist die Bibel des Proletariats«, »Adam Smiths Wohlstand der Nationen ist die Bibel des Wirtschaftsliberalismus«, »Das andere Geschlecht von Simone de Beauvoir ist die Bibel des Feminismus« oder »Der Fänger im Roggen von J. D. Salinger ist die Bibel der Nachkriegsgeneration«. Diese „Bibeln“ tauchen auf den nächsten Seiten neben Büchern auf, die keine Bibeln sind. Sie alle gilt es jetzt zu erkunden.
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Homer Odyssee (700 v. Chr.) Die Literatur Europas beginnt mit Homer - einem Unbekannten. Wie immer in solchen Fällen, ranken sich die wundersamsten Geschichten um den rätselhaften Dichter der Ilias und der Odyssee. Die beliebteste Anekdote macht Homer zu einem Blinden. Der Effekt ist gewaltig. Denn wenn es einem Blinden gelungen wäre, die Welt so zu beschreiben, dass man noch nach Jahrhunderten darüber ins Staunen gerät - wer mag dieser blinde Dichter gewesen sein? Ein hellsichtiger Weiser, ein blinder Seher, ein von den Göttern begnadeter Dichter, der in seiner Dichtung unsterblich geworden ist? Unsterblich ist Homer geworden, weil seine Versepen Ilias und Odyssee die ersten geschriebenen Dichtungen des Abendlands sind. Homer steht an der Schwelle vom Übergang der europäischen Kultur ohne Schrift zur Schriftkultur. Davor hatte die Poesie ohne Alphabet auskommen müssen: Ein Dichter bzw. Sänger schuf seine Werke aus dem Gedächtnis, schrieb nichts auf und präsentierte seine Vorträge mündlich und dabei natürlich immer mit neuen Abweichungen. Erst zu der Zeit, in der Ilias und Odyssee entstanden sind, wird das Alphabet in Griechenland eingeführt. Und damit hat man nun das Medium, um Literatur zu schaffen: Denn man braucht Schrift, um komplexe Texte komponieren und bewahren zu können. Seit der Alphabetisierung der alten Griechen sind in Europa Wissen und Schrift untrennbar miteinander verbunden. Seitdem wird Wissen in Texten konserviert. Seitdem wird die Frage, was man wissen muss und was nicht, entschieden, indem man Texte vergleicht und zur wichtigen oder unwichtigen Lektüre erklärt. Die frühesten abendländischen Texte aus dieser Tradition sind die Ilias und die Odyssee. Aber zwischen dem Ereignis, bei dem irgend jemand Homers Epen Ilias und Odyssee auf Papyrus schrieb, bis zu jenem Moment, in dem jemand ein Buch aus dem Regal nimmt und sich genüsslich zum Lesen im Sessel niederlässt, ist es noch ein unvorstellbar langer Weg: Dazwischen liegen die kulturellen und technischen Entwicklungen von zweieinhalb Jahrtausenden. - 23 -
Man hat behauptet, die Schrift sei eigens für die Epen Homers eingeführt worden. Die These ist zwar unhaltbar, aber sie führt vor, in welchen Größenordnungen wir uns bewegen, wenn wir über Homer sprechen: Seine Epen sind Werke von so gigantischer Bedeutung für die europäische Kultur, dass man auf die Idee kommen konnte, die Schrift sei für sie eingeführt worden! Nachfolgende Generationen verglichen den Dichter mit dem Meer, das die ganze Welt umgibt und das bis in die kleinsten Bäche ins Land hineinfließt. Homer beschrieb den Götterhimmel, die Welt und das Menschenschicksal. Seine Epen sind Mythologie, Geographie, Historie, Gesellschaftsbeschreibung und Abenteuergeschichte. Seit Homer von den Irrfahrten des Odysseus über das Mittelmeer erzählte, kennt das Abendland zwei ausdrucksvolle Metaphern für das Leben des Menschen und für sein Schicksal in der Welt: die Reise und das Meer. Beide fallen im Bild der Seefahrt zusammen, das in der Literatur wie in der Alltagssprache häufig verwendet wird, wenn man die Stürme oder die Flauten des Lebens beschreiben will: Man wagt sich aufs Meer hinaus und man irrt in der grenzenlosen Weite des Meeres herum. Man dümpelt vor sich hin, wird von Stürmen herumgeworfen - und findet in allen Fällen nicht den richtigen Weg. Man wird von den Wogen des Schicksals ergriffen, man erleidet Schiffbruch, man wirft Pläne über Bord oder man strandet. Man scheitert an Klippen, die man umschiffen muss, man geht unter oder man wirft gerade noch den rettenden Anker. Oder landet im sicheren Hafen. Man verirrt sich schnell auf dem offenen Meer der grenzenlosen Möglichkeiten. Das Leben ist eine Odyssee. Homers Epos erzählt von den Irrfahrten und der Heimkehr des Odysseus. Das große Epos ordnet die stürmische Welt, von der es berichtet, in eine übersichtliche Einheit aus 24 „Gesängen“ bzw. Kapiteln. Die ersten zwölf handeln von den abenteuerlichen Reisen, die Odysseus nach zwanzigjähriger Abwesenheit zurück in seine Heimat nach Ithaka bringen, die letzten zwölf handeln von seiner Heimkehr und der Zurückeroberung seiner Frau Penelope und seines Reiches. Vor über 19 Jahren war der mutige und kluge Odysseus in den Krieg der Griechen gegen die Trojaner gezogen. Dort hatte er seine Intelligenz unter Beweis gestellt als er durch eine List für das Ende - 24 -
des zehnjährigen Kampfes gesorgt hatte: Er versteckte in einem riesigen Holzpferd Soldaten und schmuggelte sie in das umkämpfte Troja. (Homer erzählt davon in der Ilias.) Seit dem Ende des Trojanischen Krieges sind etliche Jahre vergangen, die Odysseus auf der Insel der göttlichen Nymphe Kalypso verbringen musste. Sie lässt den Krieger nicht ziehen, weil sie in ihn verliebt ist. Odysseus aber sehnt sich nach seiner Heimat und nach seiner Frau Penelope. Penelope ist Odysseus über all die Jahre treu geblieben. Sie hat ke inen der 88 Freier erhört, die sich in der Abwesenheit des Hausherrn im Palast breitgemacht haben und inzwischen dessen Hab und Gut durchbringen. Penelope steht ihrem Ehemann in Listigkeit übrigens in nichts nach: Denn sie hat den aufdringlichen Freiern erklärt, sie würde sich für einen von ihnen entscheiden, wenn sie ein Tuch zu Ende gewebt hätte - und dann hat sie drei Jahre lang ihre tägliche Arbeit des Nachts wieder aufgeribbelt, bis man ihr auf die Schliche kam. Odysseus sitzt also auf der Insel der Kalypso am Strand und sehnt sich nach Penelope, während Penelope sich allmählich fragt, ob ihr Ehemann überhaupt noch am Leben ist. Da legt die Göttin Athene bei der anstehenden Götterversammlung ein gutes Wort für ihn ein. Sie bittet den Göttervater Zeus, er möge Odysseus nun endlich die Heimfahrt erlauben. Anschließend macht sie sich daran, Odysseus' Sohn Telemachos auf die anstehende Familienzusammenführung vorzubereiten. Sie sucht ihn in Männergestalt auf und animiert ihn, Erkundigungen über seinen Vater einzuziehen. Wie jede Beschäftigung von erwachsenen Kinder mit den Eltern dient auch Telemachos' Suche nach seinem Vater der Identitätsfindung. Telemachos tritt eine Erkundungs-Reise an, auf der ihn Athene begleitet, und zwar in der Gestalt eines Freundes der Familie namens Mentor. In dieser Erscheinung steht sie Telemachos nun stets mit Rat und Tat zur Seite - und deshalb bezeichnet man heute einen wohlgesinnten Ratgeber als Mentor. Erst jetzt, im fünften Buch, tritt Odysseus in Erscheinung. Er verlässt die unglücklich verliebte Kalypso und segelt auf einem Floß in Richtung Heimat, gerät aber in einen Sturm und wird bei den Phäaken an den Strand gespült. Dort findet ihn, nackt und zerzaust, die Königstochter Nausikaa, die - 25 -
mit ihren Freundinnen an den Strand gekommen ist, um Wäsche zu waschen. Sie nimmt ihn mit an den Hof ihres Vaters, wo man den Fremden herzlich empfängt und großzügig bewirtet. Hier übernimmt Odysseus nun selbst die Rolle des Erzählers und berichtet dem Hofstaat von den zurückliegenden Abenteuern seiner Irrfahrten seit dem Ende des Krieges bis zu seinem Aufenthalt bei der verliebten Kalypso (9.-12. Buch). Diese Abenteuer gehören zu den bekanntesten Abschnitten der Odyssee. Das liegt daran, dass es sich dabei um Geschichten handelt, die Eindruck machen. Da plündern Odysseus' Männer die Städte der Kikonen. Sie landen anschließend bei den Lotophagen, den LotusEssern, die der Mannschaft von der Lotus-Droge zu essen geben und die Männer in Junkies verwandeln, denen jedes Verantwortungsgefühl abhanden kommt. Da fallen Odysseus und zwölf seiner Männer in die Hände eines Zyklopen, eines einäugigen Riesen, der vier Mannschaftsmitglieder verspeist und Schafs- und Ziegenmilch dazu trinkt. Odysseus brennt ihm das einzige Auge aus und entkommt mit dem Rest seiner Gefährten, indem sie sich an den Bauch von Schafen binden, die der Zyklop ins Freie treibt. Dann werden die Irrfahrer, kurz vor dem Erreichen der Heimatküste, erneut von den Winden des Meeres hin und her geworfen und landen bei den Lastrygonen, grässlichen Kannibalen. Schließlich gelangen sie auf die Insel der verführerischen Kirke, die alle Männer, bis auf Odysseus, in Schweine verwandelt. Nur Odysseus gelingt es, sich von Kirke nicht bezirzen zu lassen - im Gegenteil: Er zeigt ihr, wer der Herr im Schweinekoben ist, und sorgt dafür, dass seine Leute (zumindest äußerlich) wieder die Gestalt von Männern annehmen. Nun folgt eine Hadesfahrt. Hier, im Reich der Toten, lässt sich Odysseus vom Geist des blinden Sehers Tiresias sagen, wie es weitergeht. Dann erlebt Odysseus seine letzten drei berühmten Abenteuer: Erstens die Begegnung mit den Sirenen, deren betörender Gesang alle Männer ins Verderben zieht und denen Odysseus nur entkommt, indem er die Ohren seiner Mannschaft mit Wachs verklebt und sich selbst an den Mast des Schiffes fesseln lässt; zweitens das Umschiffen der tödlichen Klippen Skylla und Charybdis, und drittens die verbotene Schlachtung der Rinder des Helios, die den Zorn der Götter heraufbeschwört und niemanden, außer Odysseus, einen - 26 -
furchtbaren Sturm überleben lässt. Die nächsten zwölf Bücher behandeln Odysseus' Heimkehr nach Ithaka, wohin ihn die Phäaken nun bringen, nachdem sie Odysseus' Abenteuergeschichten gehört haben. Kaum hat Odysseus die Heimat erreicht, wird er in einen Bettler verwandelt, um zunächst under cover herauszufinden, was während seiner Abwesenheit geschehen ist - und vor allem, um sich Penelopes Treue zu vergewissern. Odysseus sucht den treuen Schweinehirten Eumaios auf. Bei ihm beginnt die Familienzusammenführung, denn Odysseus trifft hier seinen Sohn Telemachos. Vater und Sohn beschließen, gemeinsam dem unverschämten Treiben der Freier Einhalt u gebieten. Am Ende eines großen Gemetzels müssen die ungebetenen Gäste dann auch alle in den Hades hinüberwandern. Anschließend gibt sich Odysseus endlich Penelope zu erkennen. Damit das Paar das zwanzig lange Jahre getrennt war, seine Wiedervereinigung ausgiebig feiern kann, verlängert die Göttin Athene die Nacht. Am nächsten Morgen folgt ein böses Erwachen, denn das Volk, dem das Blutvergießen im Palast nicht behagt hat, ist in Aufruhr. Göttervater Zeus beschließt jedoch, Odysseus' Rache sei gerecht gewesen, und verhängt den Frieden auf Ithaka. Seitdem die Griechen Homer zur Schullektüre erklärt hatten, gehören die Ilias und Odyssee zum Kanon der westlichen Kultur. -» Dante steckte Odysseus in die Hölle, weil er fand, der ewig im Meer der unbegrenzten Möglichkeiten herumirrende Grieche habe sich der Maßlosigkeit schuldig gemacht; Werther las Homer, -» James Joyce übertrug das Epos in die Kultur der Moderne. In der Alltagssprache ist die Odyssee sprichwörtlich geworden für eine beschwerliche Reise, sei es eine Odyssee durchs Einwohnermeldeamt oder - wie in Stanley Kubricks Film - eine Odyssee im Weltraum.
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Dante Alighieri Die Göttliche Komödie (1308-1321) Wer heute in die Hölle reist, landet in Sierra Leone oder in den Slums von Rio de Janeiro. Wer heute im Paradies la ndet, ist 10.000 km dorthin geflogen. Wer sich heute im Himmel wiederfindet, ist sehr glücklich. Wenn wir im 21. Jahrhundert von Himmel, Hölle und Paradies sprechen, benutzen wir Metaphern. Wir glauben nicht, dass Gott in seiner unendlichen Weisheit ein Universum geschaffen hat, in dem diese jenseitigen Bereiche wirklich vorkommen, und wir glauben auch nicht, dass das Leben eine Pilgerfahrt ist, die zu Gott führt. Das unterscheidet uns von Dante, dem größten Dichter des Mittelalters. Dante im 21. Jahrhundert zu lesen ähnelt dem Besuch in einer gotischen Kathedrale. Man betritt einen Raum, der ebenso überwältigend wie unverständlich ist. Man fühlt sich dort nicht zu Hause, aber man wird ehrfürchtig. Und es sind vor allem zwei Dinge, die dem Kathedralen-Besucher wie dem Dante-Leser sofort bewusst werden. Erstens: in dieser Welt hat alles seine unverrückbare Ordnung; und zweitens: diese perfekte Ordnung ist das Werk einer unerschöpflichen, unergründlichen und wunderbaren Macht: Gott. Die Göttliche Komödie ist eine spiritue lle Wanderung und eine Reise durch das Universum. Sie beginnt in der Hölle, fuhrt durchs Fegefeuer, gipfelt zeitweilig im irdischen Paradies und endet in einem räum- und zeitentrückten Schwebezustand, der Dante himmelaufwärts ins Angesicht Gottes bringt. Bevor man Dante zu lesen beginnt, sollte man sich klarmachen, dass man es mit einem Weltbild zu tun bekommt, das sich vollkommen von dem unsrigen unterscheidet. Im mittelalterlichen Weltbild ist das ganze Universum in Form einer hierarchischen Stufenleiter gegliedert: Am unteren Ende befindet sich die unbelebte Materie, an ihrer Spitze steht Gott, der diese Ordnung schafft. Alles hat in dieser Hierarchie seinen angestammten Platz und alles steht mit allem in wundersamer Verbindung. Der ganze Kosmos ist voll sichtbarer und unsichtbarer - 28 -
Zeichen des unermesslichen schöpferischen Reichtums Gottes. Die Göttliche Komödie ist eine Reise durch dieses Universum. Sie ist damit zugleich die Enzyklopädie (summa) des Mittelalters. Aber Dantes Gedicht versammelt nicht nur so gut wie das gesamte theologische und kosmische Wissen des Mittelalters, sondern ist auch ein Dokument der Zeitgeschichte der Gesellschaft von Florenz zu Beginn des 14. Jahrhunderts - und der Bericht einer inneren Wandlung. In der Göttlichen Komödie spie lt die Zahl Drei - die heilige Zahl der Trinität - eine wichtige Rolle. Das epische Gedicht ist in drei Teile unterteilt: die Hölle (Inferno), der Läuterungsberg (Purgatorio) und das Paradies (Paradiso). Jedes dieser drei Bücher (cantiche) besteht wiederum aus 33 Gesängen (cantos). Die Göttliche Komödie beginnt mit einem Einle itungsgesang, so dass das gesamte Epos 100 Gesänge umfasst - und darin der Zahl der Vollkommenheit entspricht. Alle drei Jenseitsbereiche (Hölle, Läuterungsberg, Paradies) sind in neun Stufen unterteilt - neun ist die Quadratzahl der Drei. Die Versform, die Dante sich eigens für die Göttliche Komödie ausdachte, die Terzine (terza rima), basiert wiederum auf der Drei. Es handelt sich dabei um ineinander verzahnte Reime im Dreiertakt nach dem Schema aba, bcb, cdc usw. Da das Reimwort der mittleren Zeile immer schon die nächsten drei Zeilen ankündigt, entsteht der Eindruck, als bewegten sich die Verse von allein vorwärts - sie sind darin natürlich die ideale Reisebegleitung für Dante und Vergil. Dante (der Sprecher des Gedichts) ist zu Beginn der Reise 35 Jahre alt. Er befindet sich in der Mitte seines Lebens und ist in einer Krise. In dieser Konfusion stellen sich ihm plötzlich drei wilde Tiere in den Weg - ein Panther (Sinnbild der Fleischeslust), ein Löwe (Hochmut) und eine Wölfin (Habgier). Da erscheint der antike Dichter des römischen Epos Äeneis Vergil, und bietet sich Dante als Führer auf einer spirituellen Reise an. Die Reise beginnt am Karfreitag des Jahres 1300. Eine Woche später, am Donnerstag nach Ostern, wird Dante das Paradies erreicht haben. Dazwischen wird er rund 600 Seelen historischer Personen begegnet sein: er wird Päpste, Könige, Fürsten, Künstler, Verbrecher, Bankiers, die Helden von Skandalgeschichten, Verwandte und - 29 -
Jugendfreunde gesehen und mit vielen am Rande der Wanderung einige Wort gewechselt haben. Doch zunächst betreten Vergil und Dante erst einmal die Hölle - das Inferno. »Lasst alle Hoffnung fahren, die ihr hier eintretet«, steht in dunklen Buchstaben über dem Tor. Es wird schlagartig dunkel, schreckliche Schreie dringen aus der Finsternis. Dies ist die Vorhölle, das qualvolle Reich für die ewig Unentschiedenen, die in ihrem Leben weder gut noch böse waren. Erst danach beginnt die eigentliche Hölle: ein riesiger Trichter ins Innere der Erde, der sich durch Luzifers Sturz aus dem Himmel bis ins Erdinnere gebohrt hat. Die Hölle besteht aus neun Höllenkreisen, die sich wie Terrassen stufenweise ins Innere fortsetzen. Je tiefer man vordringt, desto furchtbarer werden die Martern. (In einigen Dante-Ausgaben findet man Abbildungen der Hölle, und im Internet gibt es ein Karte der Hölle unter: www.iath.virginia.edu/dante/images/magnifier2.html, die ganz lustig anzusehen ist, wenn man eine Vorstellung von der Topographie der Hölle bekommen will.) Im ersten Höllenkreis befinden sich alle Ungetauften: Das sind nicht nur die Geister bzw. „Schatten“ der bei der Geburt gestorbenen Kinder, sondern auch die Seelen verdienstvoller Geistesgrößen der Antike wie Homer, Horaz, Ovid, Sokrates, Platon, Euklid, Ptolemäus, Hippokrates und all jener, die das Pech hatten, vor der Einführung des Christentums im Abendland geboren zu sein. Im zweiten Höllenkreis beginnen nun die wirklichen Höllenqualen: die Wollüstigen (wie Kleopatra und Tristan) werden von einem ständigen Wirbelwind umhergetrieben. Die Bestrafung erfolgt (wie in den meisten Fällen) nach dem Prinzip der Vergeltung des Gleichen durch Gleiches: In diesem Fall werden die von der Lust getriebenen Menschen mit ewiger Unruhe bestraft. Im dritten Kreis leiden die Fresser: einer davon sitzt in seinen eigenen Exkrementen. Nun setzen sich Kreis für Kreis die furchtbarsten Szenarien fort. Im achten Kreis trifft Dante auf den Geist eines Sünders, den man hier eigentlich nicht vermuten sollte: Es ist Papst Nikolaus III. Er steckt kopfüber in einem Loch, aus dem nur noch seine brennenden Füße herausragen. Da er nicht sehen kann, wer mit ihm spricht, hält er Dante für Papst Bonifatius VIII. und glaubt, jener sei gekommen, um ihn tiefer in die Röhre zu stopfen (die schon voll mit anderen Päpsten ist) und seine - 30 -
Position anzunehmen, bis der nächste Papst kommt. Kurz vor dem Zentrum des Universums, dort, wo Luzifer in der Mitte der Erde im ewigen Eise festsitzt und an den Köpfen der drei Erzverräter Cassius, Brutus und Judas nagt, beschreibt Dante eine seiner eindrucksvollsten Horrorvis ionen. Zwei Diebe verwandeln sich auf grässliche Weise in reptilienähnliche Kreaturen. Die Schilderung dieses widerwärtigen Vorgangs ist so grauenerregend präzise, dass sie durchaus mit Ridley Scotts Horrorfilm Alien (1979) mitha lten kann. Im Erdinneren angekommen, müssen Dante und Vergil durch einen langen Gang auf die andere Seite der Erdoberfläche laufen. Nach drei Tagen in der Hölle ist Dante nun wieder unter freiem Himmel. Vor ihm liegt jetzt der Läuterungsberg - das Purgatorio. Diese Region ist für all jene vorgesehen, die sich den Eintritt ins Paradies noch nicht vollkommen verspielt haben, aber zuvor noch die eine oder andere sittliche Qualifikation nachreichen müssen. Formal gesehen ist der neunstufige Läuterungsberg die Umkehrung der neun Höllenkreise, aber ansonsten ist hier alles anders als im Inferno: es ist warm und hell, und hier herrscht das emsige Vorwärtsdrängen einer zielstrebigen Pilgerprozession. Gemeinsames Ziel ist der Gipfel des Berges: das irdische Paradies. Dante erklimmt nun die neun Stufen des Läuterungsberges. Jede Etappe steht für die Befreiung von einer der sieben Todsünden (Hochmut, Neid, Trägheit, Zorn, Schlemmerei, Wollust, Geiz). Schließlich gilt es noch eine Flammenmauer zu überwinden, um das vorläufige Ziel der Reise zu erreichen: die wunderschöne Beatrice, die in den Stand einer Heiligen erhobene Geliebte Dantes (Liebe). Beatrice empfängt Dante im irdischen Paradies. Dies ist ein wunderbarer Ort, an dem ein laues Lüftchen weht, Blumen blühen und Vögel zwitschern. Vergil verabschiedet sich jetzt von Dante. Er wird auf dem letzten Stück seiner Reise von Beatrice geführt werden. Der letzte Abschnitt der Reise - der Himmel - ist für moderne Leser vermutlich am wenigsten zugänglich. Das hat zwei Gründe: Um jetzt eine Vorstellung davon zu haben, wohin Dante in Begleitung von Beatrice schwebt, muss man das ptolemäische Weltbild kennen. Wie alles andere war auch der Himmel in der Kosmologie des Mittelalters hierarchisch geordnet: Das Modell stammte aus der Antike (Aristoteles und Ptolemäus) und sah folgendermaßen aus: In der Mitte - 31 -
befand sich die Erde, und um die Erde herum wölbten sich sieben Himmelssphären, an denen Sonne, Mond und die Planeten befestigt waren. Darüber lag eine weitere Sphäre (die Fixsternsphäre), und umschlossen wurde das Ganze von der Sphäre, die alle Sphären in harmonische Bewegung setzte, dem primem mobile jenseits dieser neun Himmel lag das himmlische Paradies und das Reich Gottes (Empyreum). Die zweite Schwierigkeit für moderne Leser besteht darin, dass diese Himmelssphären nichtstoffliche Regionen sind. Hier gibt es keine kochenden Blutflüsse und keine von Teufeln auf Bratspießen in Pech getauchte Sünder, sondern körperlose Selige und vor allem eines: ein Meer von Licht. Als das reinste und schönste - das ewige Licht - erstrahlt, ist Dantes Reise zu ihrem Ende gekommen. Er hat das Wesen Gottes, die Liebe, erblickt und kehrt, innerlich gewandelt, auf die Erde zurück.
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Miguel de Cervantes Don Quixote (1605 und 1615) Als Philip III., König von Spanien, einmal sah, wie ein junger Mann sich vor Lachen krümmte, kommentierte er: »Der Bursche hat entweder seinen Verstand verloren, oder er liest gerade Don Quixote«. Don Quixote ist eines der komischsten Bücher der Weltliteratur. Da reitet ein skurriles Paar, das ein bisschen an Dick und Doof erinnert, über die staubigen Landstraßen Spaniens und gerät in eine absurde Situation nach der anderen, weil der alternde Held sich einbildet, ein fahrender Ritter zu sein. Don Quixote ist ein heruntergekommener Hidalgo (span.: Adeliger). Er ist eine hagere Erscheinung, um die 50 Jahre alt, mit einer ausgeprägten Leidenschaft für Bücher. Jede freie Minute verbringt er damit, zu lesen - und der Hidalgo hat viel Zeit, weil er, wie alle Leute seines Standes, nie arbeitet. Seine Lieblingslektüre sind die Ritterromane, die im 16. Jahrhundert für die kleine Zahl der Lesenden den Status von Bestsellern hatten. Diese Ritterromane füllten Seite um Seite - oft viele hundert Seiten lang - mit den Heldentaten eines Ritters. Stets war eine vornehme Dame aus dem Hoc hadel mit im Spiel, derentwegen der Ritter all die Strapazen auf sich nahm, in der Hoffnung, sie würden der Angebeteten imponieren. Die Romane hängten (für unsere Verhältnisse) in endloser Monotonie eine sagenhafte Begebenheit an die nächste. Sie handelten von Mut, Tapferkeit und Ehre und bespiegelten darin die Ideale des Feudaladels. Die Lektüre dieser ritterlichen Abenteuergeschichten bekommt dem Land-Edelmann nicht besonders gut. Er verliert darüber nämlich den Sinn für Realität, um nicht zu sagen den Verstand, und beschließt, selbst ein fahrender Ritter zu werden. Das ist zu Beginn des 17. Jahrhunderts ungefähr so, als würde heute jemand, der sich zu viele Science-Fiction-Filme angesehen hat, glauben, er befinde sich in einer Welt der Außerirdischen, und daraufhin seinen Nachbar mit einem phosphoreszierenden Laserschwert aus der Spielzeugabteilung - 33 -
bedrohen. Der Hidalgo steigt also in eine rostige Rüstung, die seine Vorfahren hinterlassen haben, bastelt sich notdürftig einen Helm, zerrt seinen ausgemergelten Gaul aus dem Stall, tauft das traurige Tier Rosinante und verleiht sich selbst einen wohltönenden Namen: Don Quixote. Nun fehlt nur noch die schöne Dame. Sie ist rasch in Person eines hübschen Bauernmädchens gefunden, das den wunderbaren Namen Dulcinea von Toboso erhält und von seinem Glück nie das geringste ahnen wird. An einem Hochsommertag reitet Don Quixote los. Als er an eine Schenke kommt, glaubt er, es sei eine Burg. In seinem seltsamen Aufzug sorgt er dort für allgemeine Heiterkeit, die sich nicht gerade legt, als er auch noch in der geschraubten Ausdrucksweise der Ritterromane zu sprechen beginnt. Vom „Burg-Herrn, alias dem Wirt, der für jeden Spaß zu haben ist, lässt Don Quixote sich in einer absurden Zeremonie zum Ritter schlagen. Dann zieht er in seine ersten beiden Abenteuer. Sie enden kläglich. Don Quixote wird auf der Landstraße verprügelt und kehrt nach ganzen sechs Tagen vollkommen verbeult nach Hause zurück - die Ritter der Romane waren Jahrzehnte unterwegs!! Daheim beschließen seine beiden Freunde, der Pfarrer und der Barbier, erst einmal, die Bibliothek mit den Werken zu verbrennen, die Don Quixotes Verstand so sehr zerrüttet haben. Die Aktion erweist sich als nutzlos. Schon plant Don Quixote seinen zweiten Auszug - diesmal in Begleitung des gutmütigen Bauerntölpels Sancho Pansa. Sancho Pansa ist das absolute Gegenstück zu Don Quixote: hager und groß der eine, klein und kugelrund der andere (panza: span. „Wampe“). Und so zieht nun dieses merkwürdige Gespann über die staubigen Landstraßen der Region La Mancha, die wenig erhabene Kulisse für heroische Abenteuer zu bieten hat, dafür aber viele Windmühlen. Sie sorgen für das berühmteste Abenteue r Don Quixotes: seinen Kampf mit den Windmühlen. Mitten in der Landschaft sieht Don Quixote plötzlich mehr als dreißig Riesen auftauchen, die mit ihren gigantischen Armen in der Luft herumwirbeln. Das erscheint ihm als eine wunderbare Gelegenheit, durch einen siegreichen Kampf mit gefährlichen Giganten seine Tapferkeit unter Beweis zu stellen. »Was - 34 -
denn für Riesen?!« ruft Sancho Pansa verwirrt, aber da hat Don Quixote seinem Pferd schon die Sporen gegeben, ist auf eine Windmühle zugestürmt und von einem ihrer Flügel mitgerissen worden. Er landet übel zugerichtet auf dem Feld. Von nun an folgt „Abenteuer“ auf „Abenteuer“ oder besser gesagt, eine Groteske auf die nächste. Jede Begebenheit basiert darauf, dass Don Quixote die Realität nicht für das nimmt, was sie ist, sondern versucht, sie so zu verstehen, wie sie in den Ritterromanen erscheinen müsste. Da werden Schafherden zu Soldatenheeren, eine religiöse Prozession zu feindlichen Rittern, Dirnen zu Edelfräulein, eine Rasierschüssel zu einem sagenumwobenen Helm und kriminelles Gesindel zu bedauernswerten Galeerensklaven, die befreit werden müssen. Don Quixote bezieht bei den meisten Begegnungen schreckliche Prügel und kehrt schließlich, am Ende des ersten Teils des Romans, müde, mager und zerschunden, auf einem Ochsenkarren liegend, nach Hause zurück. Im zweiten Teil, den Cervantes zehn Jahre später veröffentlichte, bekommt die Handlung einen neuen Dreh. Don Quixote ist jetzt eine literarische Berühmtheit geworden. Sancho berichtet seinem Herrn, es gebe jetzt ein Buch, das von den gemeinsam erlebten Abenteuern erzählt. Es habe ein Araber namens Gide Hamete Benegeli geschrieben. Mit diesem Buch ist natürlich der erste Teil von Don Quixote gemeint. Das, was Cervantes hier macht, ist eine ziemlich verwirrende Überkreuzung von Realität und Fiktion: Don Quixote ist nun der Held eines Romans (DQ I), der in der Handlung eines zweiten Romans vorkommt (DQ II). Im zweiten Teil trifft Don Quixote nun überall auf Menschen, die seine „Abenteuer gelesen haben und die sich den Scherz erlauben, auf seine Schein-Wirklichkeit einzugehen. Sancho Pansa macht den Anfang. Weil das Objekt aller Mühen, die Schöne Dulcinea nun endlich einmal Gestalt annehmen soll, stellt Sancho seinem Herrn einen außergewöhnlich unansehnlichen Bauerntrampel vor, fällt vor ihm auf die Knie und versucht seinem Herrn weiszumachen, dies sei die schöne Dulcinea. Die Illusionserzeugung funktioniert aber nicht, wenn sie durch andere durchgeführt wird. Don Quixote sieht nur einen hässlichen Bauerntrampel. Einigermaßen verwirrt lässt er sich zwar vor der Frau auf die Knie fallen und beginnt in gewundenen Worten seiner - 35 -
Verehrung Ausdruck zu geben, aber weder die Pöbeleien, mit denen die Angebetete ihm antwortet, noch der Umstand, dass sich die angebliche Hohe Dame mittels eines Bocksprungs auf ihren Esel schwingt, vermögen Don Quixotes tiefe Zweifel an der Echtheit dieser Dulcinea zu zerstreuen. Schließlich redet er sich ein, ein Magier habe seine Dulcinea in diese fürchterliche Gestalt verzaubert. Don Quixote erlebt auch im zweiten Teil viele Abenteuer, die meist sehr übel für ihn ausgehen. Am Ende kehrt er müde, angeschlagen und krank nach Hause zurück. Erst auf dem Sterbebett erkennt er, dass er einer Illusion erlegen war. In Cervantes' Roman treten alle sozialen Typen der spanischen Gesellschaft um 1600 auf: Hochadel, Hidalgos, Kaufle ute, Priester, Bauern, Soldaten, Studenten, Vagabunden, Kriminelle, Herzoginnen, Kammerfrauen, Bäuerinnen, Prostituierte. Don Quixote ist eine komplette Beschreibung der Welt der untergehenden Großmacht Spanien, die keine Chance mehr gegen den wirtschaftlichen Vormarsch Englands hatte. Während die neue Weltmacht bald in den Händen englischer bürgerlicher Kaufleute lag, hing der spanische Feudaladel weiter weltfremden Idealen nach, so wie Don Quixote der Welt der Ritterromane. Deshalb ist Don Quixote manchmal als Verkörperung der spanischen Kultur verstanden worden. Das Besondere an Don Quixote ist aber, dass die europäische Literatur mit diesem Roman „erwachsen“ wurde. Bis dahin hatte man die Frage »Fiktion oder Wirklichkeit?« nie gestellt. Von jetzt an mussten sich alle Leser vor Augen führen, dass man sich in eine fiktive Welt begibt, wenn man einen Roman zu lesen beginnt. Don Quixote ist dieser Herausforderung nicht gewachsen. Er ist nicht in der Lage, Wirklichkeit und Fiktion als zwei getrennte Welten zu behandeln. Bis ins 19. Jahrhundert stellte man sich immer wieder die bange Frage, ob Leser fähig sind, diesen Zwiespalt auszuhalten. Das Problem konzentrierte sich bald auf Liebesromane - was nahe liegt, weil man von der Liebe gelesen haben muss, bevor man in der Wirklichkeit seine Erwartungen daran stellen kann. Deshalb wurden im 18. und 19. Jahrhundert immer wieder Bedenken geäußert, ob man junge Frauen Liebesromane lesen lassen dürfe, weil die Lektüre ihren Sinn für die Realität irritieren könnte (Flaubert: Madame Bovary). Heute kommt uns das absurd vor, aber dafür schlagen wir uns mit dem - 36 -
Problem herum, ob Fernsehzuschauer und Kinobesucher immer in der Lage sind, zwischen Film und Realität zu unterscheiden, oder ob jemand, der regelmäßig durchs Internet surft, überhaupt noch weiß, was Wirklichkeit ist.
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Johann Wolfgang Goethe Faust (Erster Teil: 1808, Zweiter Teil: 1832) Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Faust im Volkstheater auf der Reeperbahn im Hamburger Stadtteil St. Pauli gegeben. Das Stück kam beim volkstümlichen Publikum gut an - nur als sich herausstellte, dass Faust am Ende offensichtlich beabsichtigte, das Opfer seiner Verführungskünste, Gretchen, im Kerker zurückzulassen, regte sich Widerspruchsgeist. Die empörten Zuschauer begannen auf Plattdeutsch »Heiroden! Heiroden!« („Heiraten!“) zu skandieren und hörten nicht eher auf, als bis der Schluss von der Tragödie erstem Teil aus dem Stegreif geändert worden war und Faust um Gretchens Hand anhielt. Die Anekdote markiert vermutlich einen der erbarmungslosesten Tiefpunkte der Faust-Rezeption. Aber sie bestätigt zugleich - quasi von der Unterseite - die kulturelle (Breiten-) Wirksamkeit eines großen Werks. Goethes Tragödie Paust ist die bedeutendste Dichtung in deutscher Sprache. Sie ist der Kern des deutschen Bildungsguts, dient als Zitatensteinbruch für jeden Anlass, wird parodiert, inszeniert, vertont, in Schulen gelesen, interpretiert, zum Comic umgeschrieben und immer wie der neu erforscht. Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert diente Faust als Identifikationsfigur der Deutschen. Die meisten Beschreibungen des „faustischen Menschen als Verkörperung des Deutschen schossen allerdings sowohl am Werk als auch an der Wirklichke it vorbei: Das gilt für die Deutschtümelei des 19. Jahrhunderts, die Faust zur Verkörperung deutscher Gemütlichkeit erklärte, ebenso wie für die Aneignungen des „faustischen TatenMenschen im Dritten Reich, die unter der Rhetorik vom „TathaftMännlichen“ verschleierte, dass Fausts Tatkraft in erster Linie eine Menge Unheil anstiftet. Der Stoff zum Faust basierte auf der Legende vom deutschen Alchemisten und Astrologen Dr. Faustus. Angeblich hatte es diesen - 38 -
Gelehrten um 1500 wirklich gegeben, und angeblich hatte er sich als Ausdruck seines unmäßigen Forscherdranges mit dem Teufel verbündet. Fortan geisterte Dr. Faustus als Verkörperung widergöttlicher Maßlosigkeit und Grenzüberschreitung durch die Folklore und Literatur. Beim ungebildeten Publikum waren FaustPuppenspiele über den Widerstreit von Gut und Böse beliebt. Aber bereits vor Goethe hatte es Faust auch schon einmal als große Literatur gegeben: als Drama Doctor Faustus von einem Zeitgenossen Shakespeares, Christopher Marlowe. Goethe schrieb den ersten Faust (Urfaust) im Alter von 25 und beendete den letzten Faust (Der Tragödie zweiter Teil) im würdigen Alter von 82 Jahren. Er verlieh dem Stoff eine bis dahin nicht dagewesene Vielschichtigkeit. Goethe verarbeitete in dem Werk nicht nur das enzyklopädische Wissen seiner Zeit, sondern vereinte darin auch eine überquelle nde Fülle literarischer Stilrichtungen. Er schuf eine Gestalt, die im wahrsten Sinne zu den großen Figuren der Weltliteratur gehört. Faust ist ein Titan, eine Figur von übermenschlichen Ausmaßen: Er verkörpert den Typus des Mannes, der von Wissensdurst getrieben wird, mit übermenschlichem Willen ausgestattet ist und mit unerschütterlicher Entschlossenheit gegen alle Widerstände vorgeht. Faust kämpft gegen die Grenzen des Menschenlebens, gegen die Begrenzungen durch Moral, gegen die Grenzen dessen, was man wissen und machen kann - kurz: gegen die Grenzen der Welt.
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Erster Teil Am Anfang der Tragödie steht die Wette zwischen Gott, dem Herrn, und dem Teufel, Mephistopheles. Mephisto mokiert sich über Gottes Schöpfung und insbesondere über die lächerliche Unzulänglichkeit des Menschengeschlechts. Als der Herr ihm sein Musterexemplar Faust entgegenhält, brüstet sich Mephisto damit, auch ihn korrumpieren zu können. Faust wird nun (wie der biblische Hiob) zum Wettobjekt zwischen dem Herrn und Mephisto. An ihm soll sich der Wert oder Unwert der Menschheit erweisen. Faust, ein Universalgelehrter fortgeschrittenen Alters, ist in der Existenzkrise. Nach jahrzehntelangem Studieren ist er zu der Einsicht gekommen, dass alle Erkenntnissuche letztlich daran scheitern wird, dass der Mensch die Welt nie in ihrer Gesamtheit begreifen wird. Verzweifelt stellt er fest, dass all sein Wissen ihn keinen Deut weit in die Geheimnisse des Daseins eingeweiht hat. Statt dessen empfindet er, dass ihn die jahrelange Studiererei vom. wahrhaftigen Leben entfernt hat. Angeekelt von steriler Gelehrsamkeit, verfällt Faust in rousseauistische Zivilisationskritik. Er sehnt sich nach einem Leben im Einklang mit der Natur. Wie jeder Europäer des 21. Jahrhunderts, der sich der Esoterik zuwendet, um dort eine Einheit zu finden, die die moderne Gesellschaft nicht bieten kann, versucht es auch Faust zunächst mit Zauberei und der Anrufung der Naturmächte - ohne befriedigendes Ergebnis jedoch. Nach einem Selbstmordversuch, von dem ihn in letzter Minute die Kirchenglocken des Ostermorgens abbringen, unternimmt Faust seinen berühmten Osterspaziergang vor den Toren der Stadt. Hier eröffnet sich ihm die ländliche unbeschwerte Welt des Kleinbürgertums und der Bauern. Beim Anblick der Heiterkeit der Szenerie, die für Faust jenes wahre Leben verkörpert, nach dem er sich sehnt, erkennt er seine eigene innere Gespaltenheit: »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust!« Nachdem nun die Unterscheidung von Herr und Mephisto ins Innere von Faust verlegt worden ist (und der Streit zw ischen Gott und Teufel zum inneren Widerspruch der Psyche wird), erscheint Mephisto. Er mogelt sich in Gestalt eines Pudels in die Studierstube (»das also war - 40 -
des Pudels Kern!«), als Faust gerade damit beschäftigt ist, die ersten Zeilen des Johannes-Evangeliums »Im Anfang war das Wort« in »Im Anfang war die Tat« zu übersetzen. Mephisto schlägt Faust nun seinen Pakt vor, dem Faust seine eigene Wette entgegensetzt. Die Abmachung besagt folgendes: Faust muss sterben und Mephistos Diener werden, falls er auch nur einen einzigen Moment lang Erfüllung empfinden sollte. Faust erklärt: »Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn! Es sei die Zeit für mich vorbei!« Nach besiegeltem Bund stürzt Faust sich ins pralle Leben allerdings weniger aus Lebenslust als eher aus dem dringenden Bedürfnis, seine Melancholie zu betäuben und dabei zugleich der eigenen menschlichen Begrenztheit zu entkommen. Er will nun die Summe der Welt und sämtliche sich in ihr bietenden Möglichkeiten des Lebens an der eigenen Person erleben. Faust beginnt seine sogenannte „Weltfahrt“. Die erste Station führt in Auerbachs Keller nach Leipzig. Dort findet ein Saufgelage statt, das Faust jedoch anekelt. Anschließend landet er in einer Hexenküche, wo man ihn in einen jungen Mann verwandelt, um ihn für die zweite Station der Weltfahrt, die Liebe, fit zu machen. Faust begegnet Gretchen - in die er sich verliebt, weil sie alles verkörpert, was arglos und unschuldig ist. Die Liebesgeschichte mündet in fortgesetzte Katastrophen: Faust verführt Gretchen und vergiftet dabei Gretchens Mutter mit einem Schlafmittel. Anschließend ersticht er bei einem Kampf Gretchens Bruder. Während Mephisto Faust zum orgiastischen Treiben des Hexensabbats der Walpurgisnacht entfuhrt, tötet Gretchen das Kind, das sie von Faust bekommen hat. Sie verliert darauf den Verstand und wird als Kindsmörderin zum Tode verurteilt.
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Zweiter Teil Während der erste Teil Fausts Innerstes (seine Melancholie, Liebe) zum Thema gemacht hat und in der Sphäre des Alltags angesiedelt war, beschreibt der zweite Teil die Welt von außen: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Krieg, Technik. Erster Akt: Staatsverfall und Wirtschaft. Er beginnt damit, dass Faust in einen Genesungsschlaf fällt. Solcherart erfrischt begibt er sich in Begleitung Mephistos an einen Kaiserhof. Mephisto verspricht die Sanierung des heruntergewirtschafteten Staates und greift mittels einer Papiergeldinflation ein. Indes Mephisto das Wirtschaftssystem ruiniert, ist Faust für den schöngeistigen Teil des Hoflebens zuständig. Er soll dem Kaiser die Ebenbilder der menschlichen Schönheit, die Götter Helena und Paris, virtuell vor Augen führen. Zweiter Akt: Entstehung von Leben durch Natur und Wissenschaft. Mittlerweile hat Fausts ehemaliger Mitarbeiter Wagner in seinem Labor einen künstlichen Menschen erzeugt, einen Homunkulus. Dieses Wesen geleitet Faust und Mephisto auf die Klassische Walpurgisnacht. Die findet auf den Pharsalischen Feldern statt, wo sich alljährlich antike Fabelwesen, Götter und Naturphilosophen treffen, um den Gott der Liebe, Eros, zu preisen. Dritter Akt: Entstehung/Zeugung der Poesie aus dem Erbe der klassischen Antike und dem romantischen Norden. Faust, inzwischen zum mittelalterlichen Burgherrn gewandelt, verkörpert den Norden, die Göttin Helena die Antike. Sie zeugen einen Sohn, Euphorion eine Allegorie der Dichtung der Romantik und eine Anspielung auf den englischen Dichter Byron. Vierter Akt: Krieg und Aneignung. Faust ist in die Gegenwart zurückgekehrt und fasst den Gedanken, dem Meer mittels Deichbau Land abzugewinnen. Da es ihm gelingt, durch Zauberei einen Krieg zu gewinnen, erhält er vom Kaiser zur Belohnung ein Stück Küste. Fünfter Akt: Technischer Fortschritt als Werk der Zerstörung. Faust hat das Meer durch Deiche eingedämmt und eine fruchtbare Landschaft entstehen lassen. In seiner Besessenheit, sich durch das Unmögliche nicht aufha lten zu lassen, hat er dem Meer Land abgerungen. Der schöne Schein trügt allerdings. In seiner - 42 -
Maßlosigkeit lässt Faust die Hütte eines alten Ehepaares samt der darin befindlichen Bewohner abbrennen, weil sie just an jener Stelle steht, die Faust für eine Aussichtsplattform vorgesehen hat, von der er sein Werk zu bewundern gedenkt. Nun befällt Faust die Sorge und lässt den inzwischen Hundertjährigen erblinden. Faust hält das Klirren von Spaten für die Arbeit an der Vollendung seines großen Werks der Landgewinnung in Wirklichkeit handelt es sich um einen Bautrupp, der auf Mephistos Befehl Fausts Grab schaufelt. In diesem Moment spricht Faust die entscheidenden Worte und stirbt. Während der Höllenschlund weit gähnt und Mephisto glaubt, die Wette gewonnen zu haben, kommen himmlische Heerscharen, streuen Rosen und nehmen Faust mit sich in den Himmel.
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Honore de Balzac Die Menschliche Komödie (1829-1850) Balzac war fett wie Falstaff. Aber das ist nicht die einzige Eigenschaft des Franzosen die an Shakespeares Dramengestalt erinnert. Balzac wirkt so, als sei Falstaff - der hemmungslose Trinker und Esser, der den lustigen Weibern von Windsor nachstellt - in etwas zivilisierterer Form im Frankreich des 19. Jahrhunderts wieder auferstanden. Wie Falstaff verkörpert Balzac ein geradezu unerschöpfliches Maß an Energie - und weit mehr noch: Kreativität. Als Star der Pariser Gesellschaft präsentierte er sich vital und laut, war eloquent und etwas prahlerisch, schätzte Wein und gutes Essen über alle Maßen und hatte des öfteren Affären mit Damen aus den besten Kreisen der Gesellschaft. Mit Falstaff, der mit unbändiger Lust am Improvisieren ständig Geschichten aus dem Stegreif erfindet, hatte Balzac, der größte französische Romancier des 19. Jahrhunderts, das Erzählen gemein. Aber während Falstaff eine Welt der chaotischen Unordnung kreiert, schuf Balzac ein Romanwerk aus über 90 Einzelromanen, das die Gesellschaft seiner Zeit zu einem gigantischen Tableau anordnet: Die Menschliche Komödie (La Comédie Humaine). Wenn Balzac nicht gerade unmäßig trank oder schlemmte, schrieb er exzessiv: er hüllte sich dann in sein langes weißes Leinenhemd, das aussah wie eine Mischung aus Kartoffelsack und Mönchskutte, schüttete pro Tag bis zu 60 Tassen schwarzen Kaffee in sich hinein und arbeitete 18 Stunden ohne Unterbrechung. So entstanden allein zwischen 1832 und 1835 über 20 Romane. Allmählich nahm der Plan Gestalt an, alle einzelnen Romane zu einem Werk zusammenzufassen, das, bei seiner Vollendung, eine komplette Beschreibung der französischen Gesellschaft der Gegenwart darstellen sollte. Geplant war auch, einzelne Charaktere in anderen Romanen wieder auftauchen zu lassen - mal als Hauptfigur, mal als Nebenfigur - und so allmählich alle Einzelromane zu einem Großwerk zu vernetzen. Balzac konzipierte das Projekt zunächst auf 137 Romane. 91 davon verfasste er tatsächlich, in knapp 20 Jahren, bis zu seinem Tod im Jahr 1850 - 44 -
und die Menge der Genußmittel, die Balzac bis dahin konsumiert hatte, war sicherlich ebenso gewaltig wie ungesund. Der Titel des Romanwerks, Die Menschliche Komödie, ist ein Dante-Zitat. Aber im Unterschied zu Dante, der in die Hölle hinabstieg, bleibt Balzac im Diesseits. Balzac hält sich an die Oberseite der Welt. Im 19. Jahrhundert blickt man nicht mehr auf Gott und fragt sich, wie er das alles geschaffen haben mag und mit Sinn anreichert, und man fragt sich auch nicht, wie „die Natur“ das Ganze zusammenhält. Man sucht die Gründe für das menschliche Leben dort, wo es stattfindet, und beobachtet die soziale Welt. Nirgends zeigt sich dieses neuartige Interesse am Sozialen beeindruckender als bei Balzac. Und da es im 19. Jahrhundert noch keine moderne Soziologie gibt, übernimmt zunächst der Roman die Analyse von Gesellschaft. Der Roman führt vor, was Gesellschaft eigentlich ist und welche Bedeutung sie für das Leben jedes einzelnen Menschen hat. Balzac schwebte vor, alle Einzelromane in drei übergeordnete Kategorien zu unterteilen und sich so allmählich durch drei Schichten des sozialen Lebens hindurchzuarbeiten. Zuerst kommen die Romane zum Thema „Studie der Sitten und Gebräuche“ (Etudès de moeurs). Darin soll in einem großen Sittengemälde ein komplettes Bild der Gesellschaft entstehen. Dann folgen, zur Erklärung dieses Sittengemäldes, Philosophische Studien“, und zuletzt sind die „Analytischen Studien geplant, die sich mit den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des sozialen Lebens beschäftigen sollen. Den weitaus größten Teil seiner Romane schrieb Balzac für die erste Kategorie, „Sittengemälde“. Balzac faszinierte Gesellschaft. Er ähnelte einem ehrgeizigen Soziologen, der von der Idee getrieben ist, die ganze Gesellschaft dadurch zu erklären, dass er sie vollständig beschreibt. Nichts sollte ausgelassen werden: keine Lebensform, kein Beruf, keine soziale Schicht, keine Art sich zu kleiden, keine Region Frankreichs. Balzacs Romane beschreiben das Leben in der Stadt und auf dem Lande, die Sphäre der Wirtschaft: des Handels, der Banken und des Unternehmertums, die Welt der Kunst und Literatur, das Privatleben in der Familie, die Öffentlichkeit und die Politik mit ihren Ränken und Intrigen. Die soziale Skala reicht von der Welt der Prostituierten über das Spießbürgertum bis in die Höhen des Geldadels und der - 45 -
Aristokratie. Balzac beobachtet die nachrevolutionäre französische Gesellschaft im Umbruch: den Niedergang der Monarchie, die Verbürgerlichung der Gesellschaft, die Bedeutung des Geldes, die Strukturveränderung in der Familie. Wer nicht alle 91 Romane der Menschlichen Komödie auf einmal lesen möchte und sich fragt, welcher Roman denn wohl den besten ersten Eindruck vermitteln kann, dem wird gewöhnlich Vater Goriot (1835) empfohlen. Balzac schrieb den 400seitigen Roman in 40 Tagen, und er gilt als einer der besten aus der Comédie Humaine. Im Mittelpunkt der Handlung stehen der alte Vater Goriot, ein ehemaliger Nudelfabrikant, und Eugene Ratignac, ein ehrgeiziger Sproß aus einer verarmten Familie vom Lande, der in Paris Karriere machen will. Beide leben in der Pension der Mme. Vauquer, einer ausgesprochen geschäftstüchtigen Witwe, die es versteht, ihren Logiergästen Geld gegen ein Minimum an Gegenleistung abzuknöpfen. Die Beschreibung ihrer schäbigen Pension, in der sich der Anspruch von Respektabilität mit der Armseligkeit abgewetzter Möbel und dem Schmutz klebriger Tischoberflächen mischen, ist ein wunderbares Beispiel für die meisterhaften Milieuschilderungen, für die Balzac berühmt ist. Goriot, der sein Vermögen mittels dubioser Geschäfte während der Revolution gemacht hat, gibt jeden Pfennig für seine beiden Töchter aus, die er vergöttert. Anastasia und Delphine, verheiratete Damen der oberen Gesellschaftskreise mit luxuriösem Lebenswandel, den die Gatten nicht bezahlen, schröpfen ihren Vater im wahrsten Sinne bis aufs Blut. Gor iot stirbt unter erbärmlichen Verhältnissen. Zum Begräbnis schicken die Töchter ihre Diener. Das Grundmuster des Vater-Töchter-Konfliktes stammt aus Shakespeares Tragödie König Lear. Wie Lear ist Goriot ein mit Blindheit geschlagener alter Mann, der nicht begreifen will, dass sich Liebe nicht kaufen läßt. Um die Austauschbarkeit von Liebe und Geld geht es auch im zweiten Strang der Handlung: Der ehrgeizige Rastignac erklärt, er benötige eine Geliebte aus den oberen Kreisen der Gesellschaft, um Zutritt in eben jene Zirkel zu bekommen. Er erobert das Herz einer der beiden Töchter Goriots, Delphine. Deren herzloses und egoistisches Verhalten gegenüber ihrem Vater löst bei Rastignac zwar Bestürzung aus, aber es dient ihm zugleich als lehrreiche Lektion über das Leben - 46 -
und Denken der Reichen und Mächtigen. Der Roman endet mit Rastignacs selbstbewusster Ankündigung, sich von nun an nach oben zu kämpfen. Vater Goriot kombiniert eine Reihe typischer Merkmale eines Balzac-Romans: die Milieuschilderungen des Kleinbürgertums, die Themen Liebe und Geld, der Verfall der Werte in der bürgerlichen Gesellschaft, in der sich alles nur um Geld dreht, und das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft am Beispiel des cleveren Rastignac, der seinen Eroberungsfeldzug gegen die Gesellschaft antritt.
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Herman Melville Moby Dick oder Der Weiße Wal (1851) Wer Moby Dick bis Mitte des 20. Jahrhunderts in der British Library in London lesen wollte, hätte danach vergeblich unter »Amerikanische Romane des 19. Jahrhunderts« gesucht. Auf Nachfragen wäre er vom Bibliothekar vor die Regale der Abteilung „Cetologie“ geschickt worden - in die Abteilung für Walkunde also! Dabei ist Moby Dick alles andere als eine naturwissenschaftliche Abhandlung über Wale und den Walfang. Es ist eine Tragödie über den Lebenskampf in einer feindlichen Welt, über das Aufbegehren gegen das Schicksal, über die Herausforderung Gottes, über Größenwahn und die fatalen Folgen der Verabsolutierung des Individuums. Moby Dick ist ein Werk von derart mitreißender Wortund Bildgewalt, dass man sich bei der Lektüre manchmal so vorkommt, als würde man in einer Nußschale von den Wogen eines Ozeans herumgeworfen. Der Erzählstil wechselt zwischen biblisch und episch, wissenschaftlich, alltäglich, philosophisch, lyrisch und dramatisch. Kein Wunder also, dass die Bibliothekare der British Library vor Moby Dick zurückschreckten und den Roman kurzerhand unter „Walkunde“ einordneten. Zumal er ja teilweise tatsächlich eine Art „Handbuch für Wale“ ist. Ganze Kapitel widmen sich Themen wie: der Wal in der Kunst, in der Mythologie, Walzähne und Schnitzkunst, der Wal in der Wissenschaft, die Anatomie des Wals (sein Kopf, sein Skelett, seine Fettschicht, sein Phallus). Es gibt auch detaillierte Abhandlungen zum Fang und zur Verarbeitung von Walen. Melville wusste übrigens, was er tat, wenn er den schauderhaften Vorgang des Ausschlachtens eines erlegten Wals beschrieb, denn er war selbst jahrelang auf einem Walfänger zur See gefahren. Doch all dieses Wissen über Wale, das im Verlauf des Romans zusammengetragen wird, steht im krassen Gegensatz zu dem, was man am Ende über den Wal wissen kann, der dem Buch seinen Namen gibt: Moby Dick oder Der Weiße Wal. Was bedeutet dieser - 48 -
weiße Wal, der den blinden Haß des wahnsinnigen Kapitän Ahab auf sich gezogen hat? Ist er, wie Ahab glaubt, die Verkörperung des absolut Bösen, das er deshalb über alle Weltmeere jagen muss? Und warum ist Moby Dick weiß? Ein ganzes Kapitel beschäftigt sich mit der Farbe bzw. mit der Farblosigkeit des Wals und entdeckt dabei eine unübersehbare Fülle von Antworten. Symbolisiert das Weiß des Wales die endlose Leere des Universums, dem der größenwahnsinnige Ahab einen sinnlosen Kampf erklärt hat? Ist der unerbittliche und unsterbliche Wal das Bild des gnadenlosen und strengen Gottes des Calvinismus, gegen den Ahab sinnloserweise aufbegehrt, ohne zu erkennen, dass sein Schiff auf eine Katastrophe hinsteuert, der er gar nicht entkommen kann? Die Handlung beginnt an der Ostküste der Vereinigten Staaten, im Zentrum der Walfangindustrie. (Der Walfang gehörte Mitte des 19. Jahrhunderts zu den wichtigsten Industriezweigen der USA.) Erzählt wird aus der Perspektive eines jungen Mannes, der sich dem Leser mit den Worten vorstellt: »Nenn mich Ishmael« und der sich damit den biblischen Namen eines Ausgestoßenen gibt. Der pathetische Satz mit dem irritierend ironischen Unterton gehört zu den berühmtesten Romananfängen der Weltliteratur. Den melancholischen Ishmael treibt es, wie immer, wenn er trübsinniger Stimmung ist, aufs Meer hinaus, und er beschließt, auf einem Walfänger anzuheuern. In einer Herberge der Hafenstadt New Bedford muss er sich das Bett mit dem Polynesier Queequeg teilen. Queequeg, der am ganzen Körper tätowiert ist, macht zunächst einen recht unheimlichen Eindruck auf Ishmael, aber er entdeckt schnell die gute Seele des „Wilden“, und das ungleiche Paar schließt innige Freundschaft. Gemeinsam heuern sie auf dem Walfänger Pequod an trotz der Warnungen, die sie über dessen Kapitän, Ahab, zu hören bekommen. Die Pequod ist schon einige Tage auf hoher See, da erst erscheint Ahab auf Deck. Er ist eine düstere und zugleich Ehrfurcht einflößende Erscheinung. Über eine Gesichtshälfte verläuft eine lange Narbe. Sie verschwindet im Ausschnitt des Hemdes, und man hat den Eindruck, sie könne sich unter der Kleidung über die Länge des gesamten Körpers ziehen. Als sei das nicht schon unheimlich genug, trägt Ahab ein künstliches Bein aus Walknochen - eine Erinnerung an seinen - 49 -
Kampf mit Moby Dick. Seit der Wal ihn zum Krüppel gemacht hat, ist Ahab nur noch von einer einzigen Idee besessen: den Weißen Wal zu finden und zu töten. Niemand aus der Mannschaft vermag gegen Ahab anzugehen. Statt dessen malt der rachsüchtige Kapitän seinen Leuten das unheilvolle Ziel der Reise so eindringlich aus, dass sie sich, halb beeindruckt, halb verschreckt, auf das aberwitzige Vorhaben einschwören lassen. Um die Motivation der Mannschaft zu stärken, nagelt Ahab eine Goldmünze an den Hauptmast. Sie ist für denjenigen bestimmt, der Moby Dick als erster sic htet. Wochenlang segelt die Pequod über die Meere. Die Mannschaft erlegt von Zeit zu Zeit Wale, aber in Wirklichkeit verfolgt sie nur ein einziges Ziel: die Suche nach Moby Dick in den endlosen Weiten des Meeres. Sobald andere Schiffe auftauchen, fragt Ahab die Seeleute, ob sie den Weißen Wal gesichtet haben. Die Besatzungen warnen vor dem berüchtigten Ungeheuer und weisen der Pequod so, ohne es zu wollen, den Weg in die Katastrophe. Ahab überragt in seiner Maßlosigkeit noch Faust: denn auf der Weite des Meeres gibt es keine Grenzen mehr, an die er sich wagen könnte. In seinem Ehrgeiz zerstört er schließlich den Quadranten des Schiffs. Von nun an heißt es: Ahab allein gegen das Universum. Endlich, nach langer Zeit auf See, wird Moby Dick gesichtet. Der Kampf mit dem Wal dauert drei Tage. Er endet mit der unausweichlichen Katastrophe: Moby Dick zieht die Pequod und die gesamte Mannschaft in die Tiefe. Nur ein einziger überlebt: das ist Ishmael, der dem Schicksal entkommt, um die Tragödie zu erzählen.
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James Joyce Ulysses (1922) James Joyce soll einmal erklärt haben, an seinem Roman Finnegan's Wake (1939) würden sich die Literaturwissenschaftler auch noch nach 50 Jahren die Zähne ausbeißen. Die Beobachtung war vollkommen richtig. Ganz so ist es mit Ulysses zwar nicht, aber ein durchschnittlicher Leser kann sich an dem komplizierten Roman ohne weiteres sein Gebiß ruinieren. Ulysses beschreibt die Ereignisse eines einzigen Tages in der irischen Hauptstadt Dublin: Es ist der 16. Juni 1904. Joyce-Fans feiern diesen Tag inzwischen als „Bloomsday“ - die Bezeichnung ist ein Wortspiel aus Doomsday (engl. „Tag des Jüngsten Gerichts“) und Bloom. Leopold Bloom ist der Name einer der beiden männlichen Hauptfiguren des Romans. Bloom ist ein aus Ungarn stammender Jude, der als Anzeigen-Akquisiteur sein Geld verdient. Er ist verheiratet; und seine Frau, Molly, wird ihn im Verlauf des Tages betrügen. Im letzten Kapitel des Romans hält sie ihren berühmten Monolog: eine Beschreibung des Denkens am Rande des Schlafs in Form eines einzigen endlosen Satzes aus 40.000 Wörtern. Der andere männliche Protagonist des Romans ist Stephen Dedalus, ein junger Intellektueller und angehender Dichter, der als Lehrer arbeitet. In den 18 Stunden zwischen 8:00 morgens und ca. 2:00 in der Frühe des nächsten Tages kreuzen sich die Wege Blooms und Stephens wohl hunderte Male auf direkte oder indirekte Weise - mal laufen sie aneinander vorbei, mal nehmen sie gleichzeitig dasselbe wahr -, bevor sie schließlich, im 15. Kapitel, in einem Bordell, aufeinandertreffen. Im Laufe des Tages bewegen sie sich durch Dublin und besuchen dabei ein Postamt, einen Friedhof, eine Zeitungsredaktion, die Nationalbibliothek, Kneipen, eine Geburtsklinik und das Bordell. Joyce, der Ulysses während der Stationen seines frei gewählten Exils in Paris, Zürich und Triest schrieb, war in der Wiedergabe der Topographie der Stadt so akkurat, dass behauptet worden ist, man könne Ulysses durchaus auch als Stadtführer benutzen. - 51 -
Unzählige Personen bevölkern den Roman, der die ganze Komplexität des modernen Alltags in einer europäischen Großstadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Szene setzt. Blooms Odyssee durch die irische Metropole ist von der Geräuschkulisse einer Metropole begleitet. Auch die Flut der optischen Eindrücke ist großstädtisch: sie reicht von der Reklametafel bis zu den Wolken am Himmel. Aber Ulysses ist weit mehr als ein Großstadtroman. Der Roman ist von einer fast unvorstellbaren Vielschichtigkeit und Gelehrsamkeit. Nichts ist darin dem Zufall überlassen. Und das erkennt man auch, obwohl man unter normalen Lesebedingungen nur einen Bruchteil der inneren und äußeren Bezüge verstehen kann. Ulysses ist, lapidar gesagt, alles. Der Text bewegt sich zwischen der Beschreibung der Gesellschaft und der Beschreibung von Psyche, zwischen Geist und Körper, er navigiert zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und verbindet Mythos und Moderne. Die Handlungsorte reichen vom Friedhof zur Geburtsklinik, vom Bordell zur Kirche, vom Arme-Leute-Pub, in dem das einfache Volk billige Suppe in sich hineinschlingt, bis zur geweihten Stelle für geistige Nahrung, der Nationalbibliothek. Nichts ist zu trivial, um unerwähnt zu bleiben: Seife, Damenstrümpfe, Wasserspülungen, Rennwetten, Kartoffeln, öffentliche Verkehrsmittel, Schuhe, Medikamente. Alles wird thematisiert: von der Mikrobe auf der schmutzigen Serviette bis zu den Bewegungen des Weltalls. Nichts bleibt privat und ungesehen: kein Gedanke, keine Empfindung, und auch nicht Blooms Verrichtung der Notdurft. Es gibt kein Thema, das nicht behandelt wird. Alles kommt vor: Astronomie, Geburt, Politik, Philosophie, Musik, Theologie , Shakespeare, Essen, Trinken, Verdauung, Sex ... Dieser Unendlichkeit der Themen und Gegenstände entspricht die literarische Form des Romans. Ulysses hat alle Textsorten und Stilhöhen zu bieten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts denkbar waren: Roman, Drama, Essay, Erzählung, Reportage, Predigt, wissenschaftliche Abhandlung, Parodie, Katechismus. Mal werden Limericks zitiert oder viktorianische Groschenromane parodiert, mal klingt der Text nach Zeitungsüberschriften, mal ist der Tonfall akademisch, mal ordinär. Im siebten Kapitel, das in der Redaktion einer Zeitung spielt, lassen sich immerhin 96 rhetorische Figuren - 52 -
nachweisen. Das 14. Kapitel, in dem eine gewisse Mrs. Purefoy die Mühsal der Geburt ihres Sohnes über sich ergehen lassen muss, verbindet die Vorstellung des organischen Wachstums eines Fötus mit einer parodistischen Entwicklungsgeschichte der englischen Sprache vom Altenglischen bis zum amerikanischen Slang. Der Titel Ulysses (engl.: Odysseus) signalisiert, dass Joyce eine moderne Odyssee schreiben wollte. Entsprechend verteilte er die Rollen und konzipierte die Episoden nach der Vorlage des homerischen Epos: Bloom ist Odysseus, Molly ist Penelope und Stephen Telemachos; das Friedhofskapitel entspricht dem Abstieg in die Unterwelt, Blooms Besuch in einem Pub, in dem die Gäste ihr Mittagessen unmanierlich in sich hineinschlingen, spielt auf Odysseus' Begegnung mit den kannibalistischen Lästrygonen an, der Bordellbesuch, der in einer halluzinatorischen Orgie endet, erinnert an Circes magische Ferkeleien usw. Im Unterschied zu Homers Epos, in dem der Held ganze 10 Jahre herumirrt, reicht bei Joyce ein einziger Tag aus, um dasselbe Pensum zu absolvieren. Das ist möglich, weil Joyce die Unendlichkeit der Welt in das Innere der Figuren verlegt. Blooms und Stephens Bewegungen durch Dublin sind zugleich auch Bewegungen durch ihre Psyche. Die ganze Fülle der Themen des Romans kommt durch den Blick in das Innere der Figuren zustande. Dort bleibt dann nichts verborgen. Alles: jeder Gedanke, jede Gefühlsregung, jeder Zweifel, jeder Wunsch, jede Idee, jede Assoziation, jede Wahrnehmung - und sogar das, was sich der eigenen Beobachtung entzieht, weil es der Person unbewusst ist - wird bis ins kleinste ausgeleuchtet. Nachstehend finden Sie den Roman tabellarisch aufgeschlüsselt. Die Tabelle hat mit Ulysses, offen gesagt, so viel zu tun wie ein Stadtplan von Paris mit der wirklichen Stadt - aber beide haben einen unschätzbaren Vorteil: Man findet sich damit einfach besser zurecht.
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Kapitel homerische Überschriften l. Telemachos
Zeit
Ort
Handlung
8:00
Martello-Turm, Stephens Behausung, alter Befestigungsturm in der Dubliner Bucht
2. Nestor
10:00
Schule von Deasy, wo unterrichtet
3. Proteus
11:00
4. Kalypso
Mr. S.
Sandymount Strand, Bucht von Dublin 8:00 Wohnung der Blooms, Eccles Street 7
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Stephen frühstückt mit seinen Mitbewohnern im Martello Tower, er ist wegen des Todes seiner Mutter aus Paris zurückgekehrt, hat sich an ihrem Bett während der Sterbesakramente geweigert niederzuknien; er verlässt den Turm mit dem Entschluss, dorthin nicht wieder zurückzukehren. Stephen unterrichtet in Mr. Deasys Schule; der ist ein antisemit ischer Spießer und beauftragt Stephen, für ihn einen Leserbrief über Maul- und Klauenseuche beim Evening Telegraph unterzubringen. Stephen geht am Strand spazieren. Innerer Monolog. Bloom macht Frühstück für seine Frau und gönnt sich selber eine Schweinsniere, er geht auf die Toilette, bringt Molly das Frühstück ans Bett, Molly (die Sängerin ist) bekommt einen Brief von dem Konzertagenten
Boylan, mit dem sie Bloom am Nachmittag betrügen wird; Bloom verlässt das Haus.
5. Lotophagen
6. Hades
8. Lästrygonen
10:00
Postamt, Kirche, Bloom holt einen Brief öffentliches Bad von seiner Geliebten beim Postamt ab, geht in eine Kirche am Weg, kauft ein Stück Seife, besucht ein öffentliches Bad. 11:00 Friedhof Bloom geht auf den Friedhof, um an einer Beerdigung teilz unehmen. 12:00 Zeitungsbüro Bloom und Stephen laufen aneinander im Büro des Evening Telegraph vorbei, ohne den anderen wahrzunehmen. Das Kapitel parodiert Zeitungsüberschriften. 13:00 Straßen südlich der Bloom denkt ans Nelson-Säule Mittagessen, verlässt aber Burtons Restaurant, weil die Gäste darin so unmanierlich essen, landet in Davy Byrne's Pub, sieht Boylan, von dem er nicht erkannt werden will, versteckt sich hinter den Skulpturen der Göttinnen vor dem Nationalmuseum - 55 -
und fragt sich, ob sie einen Anus haben.
9. Scylla und Charybdis
10. Irrfelsen
11. Sirenen
14:00
Nationalbibliothek
Bloom und Stephen in der Nationalbibliothek. Stephen vertritt seine Thesen über Shakespeare und Hamlet. Das Kapitel versammelt in Andeutungen alle Erkenntnisse der Shakespeare-Biographik. Beim Herausgehen bemerkt Stephen hier zum ersten Mal Bloom. 15:00 Straßenlabyrinth Synchron abla ufende Episoden im Großstadtleben. Beschreibt, was fünfzig Personen um 15:00 tun. 16:00 Restaurant im Bloom isst endlich zu Ormont Hotel Mittag, sieht Boylan und hört, dass er sich auf den Weg zur Wohnung der Blooms macht. Bloom stellt sic h vor, wie Molly ihn mit Boylan betrügt.
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12. Zyklopen
13. Nausikaa
14. Rinder des Helios
17:00
Barny Pub
Kiernan's
Wird von einem IchErzähler erzählt, der bisher noch nicht aufgetaucht ist; er trifft sich mit Bekannten in einem Pub, in dem auch Bloom auftaucht. Ein Anhänger des irischen Nationalismus und Antisemit (der »Bürger«) gerät mit Bloom in Streit und wirft ihm eine Keksdose hinterher, als Bloom flüchtet. 20:00 Strand an der Drei junge Frauen am Bucht von Dublin Strand; die erste Hälfte der Episode ist im Stil von Trivialromanen geschrieben. Bloom starrt eine von ihnen (Gerty MacDowell) an und masturbiert. 22:00 Geburtsklinik Eine Bekannte von Bloom liegt seit drei Tagen in den Wehen, Bloom besucht sie aus Mitgefühl, wird aber nicht zu ihr gelassen; im Warteraum trifft er auf Stephen, der ist sturzbetrunken und trinkt immer noch weiter. Bloom folgt ihm, weil er um seine Sicherheit besorgt ist. Das Kapitel parodiert die Prosastile der englischen Literatur vom 10. bis 19. Jahrhundert. Stephen wird von einem seiner - 57 -
Gefährten ins Rotlichtviertel mitgenommen. Bloom trifft ihn in einem Bordell wieder.
I5.Circe
24:00
Bordell
l6.Eumäus
23:00
Rotlichtviertel
17. Ithaka
2:00
Blooms Wohnung
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Die Episode beschreibt die halluzinatorischen Wahrnehmungen und Metamorphosen Stephens und Blooms. Wirklichkeit und Imagination vermischen sich. Die Episode ist die schwierigste des Romans. Bloom kümmert sich um Stephen und nimmt ihn schließlich zu sich nach Hause. Bloom und Stephen trinken Kakao, die Episode besteht aus 309 Fragen und Antworten, im Stil eines Katechismus.
18. Penelope
-3:00
Blooms Schlafzimmer
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Der Monolog der Molly Bloom. Endloser Gedankenfluss, ein einziger Satz, Denken am Rande des Schlafes. Endet mit Mollys Erinnerung an Intimität mit Bloom und dem Wort »Ja«: ». . . und ich hab ja gesagt ja ich will. Ja«.
LIEBE Im Italien des ausgehenden Mittelalters liebte man anders als im Frankreich des Ancien Regime, und im England des 19. Jahrhunderts liebte man anders als in der europäischen Postmoderne. Liebe war bis zur Renaissance die Idee eines Ideals. Geliebt wurde die Frau als vollkommene Verkörperung von Tugend und Schönheit. Die berühmtesten Quellen für diese Verehrung der Frau sind die Sonette der großen italienischen Dichter Dante und Petrarca. Sie schrieben im 14. Jahrhundert Liebesgedichte an zwei junge Frauen: Dantes Angebetete hieß Beatrice, Petrarcas hieß Laura. Beide Damen waren die Idealisierungen leibhaftig existierender Mädchen, denen die Dichter in ihrem Leben einmal kurz begegnet waren. Dante hatte die neunjährige Beatrice Portinari, die Tochter einer wohlhabenden Familie aus Florenz, vermutlich zweimal von Ferne gesehen. Petrarca sah seine Laura das erste Mal in einer Kirche in Avignon am 6. April 1327 - aber niemand hat bisher herausfinden können, wer diese „Laura“ war. Die flüchtigen Begegnungen reichten, um in der Phantasie der beiden Dichter zwei Frauengestalten entstehen zu lassen, die zu den berühmtesten der westlichen Literatur gehören. Übrigens waren Beatric e und Laura später mit anderen Männern verheiratet, aber nichts lag Dante und Petrarca ferner als die Vorstellung, sich ihren Geliebten körperlich zu nähern. Beatrice und Laura waren perfekt - und schon deshalb unerreichbar und unberührbar. Dass die beiden realen Frauen sehr jung starben, hat ihrer Verklärung nicht gerade Abbruch getan. Beatrice und Laura waren vollkommen - und tot. Zu Shakespeares Zeiten, in der Renaissance, hielt man die Liebe für eine Krankheit, die man heilen konnte oder an der man zugrunde ging. Die Verbindung von Liebe und Krankheit stammte ursprünglich aus der Antike: Damit wurde zum Ausdruck gebracht, dass Liebe in einen außergewöhnlichen Zustand versetzt, der eine Sonderbehandlung erfordert. In der Renaissance galt die Liebe als eine Ausprägung der ersten Zivilisationskrankheit Europas: der „Melancholie“. (Robert Burton) Es hat einige Jahrhunderte gedauert, bis die Liebe demokratisiert - 60 -
worden ist. Die großen klassischen Liebespaare der europäischen Kultur stammen alle aus dem Hochadel. Wenn in der volkstümlichen Literatur der Renaissance oder in den Nebenrollen bei Shakespeare ein verliebtes Paar aus den unteren Ständen in Erscheinung trat, geschah das in Form einer Slapsticknummer. Sie machte deutlich, dass das Lieben eine komplizierte Angelegenheit war, die man lernen musste und die daher nur der (oder die) beherrschen konnte, der eine kultivierende Erziehung genossen hatte. Es bedurfte der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, bis man zu der Überzeugung kam, dass das Lieben nicht nur eine Beschäftigung der Oberschichten ist, sondern eine innere Qualität, zu der die ganze Menschheit fähig ist. Der größte Unterschied zwischen unserer Vorstellung und der, die bis ungefähr 1750 in Europa galt, betrifft jedoch die Frage, ob die Liebe andauern kann oder nicht. Bis vor 250 Jahren wäre niemand auf die Idee gekommen, bei Liebe an Ehe zu denken, denn die Liebe galt als unbeständig. Die Liebe war leidenschaftlich, und sie war kurz. Sie war wie ein Feuer, das sich unweigerlich selbst vernichtete: Irgendwann würde die Flamme der Leidenschaft verlöschen. Weil die Liebe irrational war, konnte man in ihr nichts begründen, was Bestand haben sollte. Die Ehe war aber eine rationale Entscheidung. Sie unterstand politischen und wirtschaftlichen Interessen. Sie diente in den Oberschichten der Erweiterung des territorialen Grundbesitzes, der Vermehrung des Geldes und der Familienpolitik und wurde entsprechend strategisch vorbereitet. In den mittleren und unteren Schichten begründete man mit der Ehe einen Hausstand, d.h. man sicherte seine wirtschaftliche Existenz in ihr ab. Nichts störte bei der Ehe mehr als die Liebe. Deshalb hatte die Liebe ihren Ort außerhalb der Ehe und fand nach der Heirat statt. In der Gesellschaft des europäischen Hochadels des 16. und 17. Jahrhunderts war es eine Selbstverständlichkeit, Affären außerhalb der Ehe zu haben. Das galt für Frauen ebenso wie für Männer. Die Liebe war in erster Linie Verführung und Verführtwerden und erforderte Diskretion, Taktik und viel rhetorisches Geschick. Im 17. Jahrhundert hätte sich niemand unbehaglich gefühlt, wenn behauptet worden wäre, Liebe sei bloß eine gesellschaftliche Konvention. Die galante Liebe war ein anspruchsvolles Gesellschaftsspiel, und es gab wahre Könner der Kunst der Verführung: die Libertins und die Koketten. (Choderlos - 61 -
de Laclos) Es ist in der europäischen Kultur eine ziemlich junge Idee, der Liebe Dauer zuzugestehen. Eine Beziehung zu zweit in der Hoffnung zu beginnen, dass sie andauert, weil man sich liebt, ist ein sehr moderner Gedanke. Er stammt, wie fast alle modernen Erfindungen, aus England. Diese neue Form der Liebe ist im wesentlichen eine wunderschöne Erfindung der bürgerlichen Mittelschichten. Das Entscheidende war jetzt, dass man die romantische Liebe auf das Gefühl gründete. Das veränderte die Motive des Liebens von Grund auf: Geliebt wurde nun nicht, weil der andere schön, reich, edel oder verführbar war, sondern weil er so war, wie er war. Man liebte den anderen als ganzen Menschen. Das schloss auch seine Fehler mit ein (und im Notfall konnte er sich immer noch ändern). Deshalb war es jetzt möglich, der Liebe Dauer zuzugestehen. Erst jetzt konnte die Liebe zur Grundlage der Ehe bzw. andauernden Partnerschaft werden (Jane Austen). Die romantische Liebe ist das Modell, das sich heute des größten Zuspruchs erfreut. Aber erlaubt ist alles: Wer will, kann jahrelang Entsagung üben und von fern unerreichbare Popstars anhimmeln, wer will, kann sich in theatralische Posen werfen und regelmäßig so tun, als stünde er kurz vor seinem Ableben, und wer will, kann Eroberungen sammeln wie die Aristokraten am Hofe Ludwigs XIV.
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Gottfried von Straßburg Tristan (ca. 1210) Lieben sich Tristan und Isolde eigentlich? Die Frage ist Ketzerei. Denn Tristan und Isolde sind eines der berühmtesten Liebespaare des Abendlandes. Ihre Geschichte von Liebe, Schmerz und Tod gehört zu den großen Mythen Europas. Sie hat Dichter, Künstler und Komponisten (Wagner) jahrhundertelang fasziniert, inspiriert und mit Ehrfurcht erfüllt. Aber für einen Leser im 21. Jahrhundert drängt sich die Frage auf, wie es denn überhaupt mit der Echtheit ihrer Liebe steht. Denn Tristan und Isolde lieben sich aus Versehen. Sie würden sich gar nicht lieben, hätten sie nicht irrtümlich von einem Liebestrank getrunken. Niemandem wird es heute gelingen, sanft träumend in das Versepos abzutauchen, wie in „Stolz und Vorurteil“ von Jane Austen oder „Anna Karenina“ von Tolstoj. Und das liegt nicht allein daran, dass Gottfried von Straßburgs Tristan auf mittelhochdeutsch geschrieben ist, also in der deutschen Literatursprache des Hochmittelalters. Dass man Tristan nicht versteht, liegt vor allem daran, dass die Vorstellung von Leidenschaft und Liebe unendlich weit entfernt ist von dem, was wir heute unter Liebe begreifen. Die Liebe zwischen Tristan und Isolde ist schön, weil sie Leiden und Verzicht ist. Sie wird erst im Tod vollkommen. Tristan und Isolde ist eine große europäische Legende. Ursprünglich überlieferte man sie in mündlichen Erzählungen. Im 12. und 13. Jahrhundert entstanden die ersten Handschriften. Sie stammten von französischen Troubadours und deutschen Minnesängern. Gottfried von Straßburgs Version gilt im allgemeinen als „der Klassiker“. Es ist eines der bedeutendsten literarischen Werke des Mittelalters. Tristan wächst in Cornwall am Hof seines Onkels, König Marke, zu einem mutigen und tapferen Mann heran. Seine erste große Heldentat ist die Vernichtung des irischen Riesen Morolt. Eines Tages beauftragt König Marke seinen Neffen mit der Brautwerbung. Tristan soll für ihn jene Frau ausfindig machen, deren goldenes Haar Marke durch eine - 63 -
Schwalbe gebracht wurde. Tristan gelangt auf seiner Suche an den Hof des irischen Königs. Dort wirbt er im Namen seines Onkels um die Hand der Königstochter. Das ist Isolde Goldhaar. Er erhält die Erlaubnis des irischen Königs, Isolde nach Cornwall zu Marke zu bringen. Doch auf der Überfahrt von Irland nach Cornwall besiegelt sich das Schicksal von Tristan und Isolde: Sie trinken versehentlich jenen Liebestrank, der für Isolde und ihren zukünftigen Ehemann Marke vorgesehen war. Von nun an sind Tristan und Isolde für immer in Liebe aneinander gebunden. Noch auf dem Schiff geben sie sich einander hin. In Cornwall angekommen, wird Isolde Markes Frau. (Sie lässt sich in der Hochzeitsnacht durch ihre Zofe, die noch Jungfrau ist, vertreten.) Heimlich trifft sie sich weiterhin mit Tristan. Eine Weile können die beiden ihr ehebrecherisches Verhältnis verheimlichen. Als man ihnen auf die Schliche kommt, werden sie zum Tode verurteilt: Tristan kann entkommen und rettet Isolde aus einer AussätzigenKolonie, in der sie schmachvoll zugrunde gehen sollte. Die beiden fliehen in ein »wunnecliches Tal«, wo sie nun ein karges Leben fuhren. Nur die Liebe versüßt die Beschwerlichkeit ihrer Existenz. Doch als der betrogene Marke das Paar dort eines Nachts im Schlaf überrascht, sieht er erstaunt, dass die Liebenden bekleidet im Bett liegen. Sie sind durch Tristans Schwert getrennt, das zwischen ihnen liegt. Marke lässt sich durch dieses Zeichen der Keuschheit beschwichtigen. Er begnadigt die beiden und nimmt Isolde wieder als seine Ehefrau auf. Tristan muss Cornwall verlassen. In dem kummervollen Abschied beschwört Isolde ihre Unzertrennlichkeit: »Wir sind beide zu aller Zeit ein Wesen ungeteilt«. Gottfried von Straßburgs Epos ist Fragment geblieben, wahrscheinlich starb er, bevor er es vollenden konnte. Der weitere Verlauf der Geschichte wäre gemäß der Legende vorgezeichnet gewesen: Tristan führen seine Reisen in die Bretagne, wo er die Schwester eines Freundes heiratet. Auch sie heißt Isolde, trägt aber den Beinamen „Weißhand“. Er liebt sie, sie liebt ihn, sie ist unverheiratet - und nun könnte eigentlich alles gut werden. Aber Tristan plagen nun Gewissensbisse, - 64 -
weil er seine Liebe verraten hat: Waz hän ich mich genomen an, ich triuweloser Tristan! Ich minne zwo jsolde und hän die beide holde und ist min ander leben, jsolt, niwan einem Tristande holt. Diu eine wil dekeinen Tristanden wan mich einen, und wirbe ich ie genote nach anderer jsote. We dir, sinneloser man, verirreter Tristan! Ein Happy End sieht die Legende nicht vor: In der Hochzeitsnacht wird Tristan klar, dass er Isolde Weißhand nur aus Sehnsucht nach Isolde Goldhaar zur Frau genommen hat. Er vollzieht die Ehe nicht. Einige Zeit später zwingt eine schwere Verwundung Tristan, seine erste große Liebe, Isolde (Goldhaar), herbeizurufen, denn nur sie verfugt über die medizinischen Kenntnisse, die ihn retten können. Ihre Ankunft über das Meer soll durch ein weißes Segel angekündigt werden; ein schwarzes Segel würde bedeuten, dass sie Tristan im Stich gelassen hat. Am Horizont erscheint ein weißes Segel, aber seine eifersüchtige Ehefrau berichtet Tristan, das Segel sei schwarz. Tristan stirbt auf der Stelle vor Gram. Als Isolde Goldhaar ihren toten Geliebten in den Armen hält, stirbt auch sie vor Kummer. Dieses tragische Ende kennen wir aus Richard Wagners Oper, die ansonsten aber sehr frei mit Motiven aus dem Stoff umgeht. Es gibt in dieser gewaltigen Geschichte zwei Merkwürdigkeiten, die jeden modernen Leser verwundern müssen. Wie so sind die beiden ausgerechnet in dem Moment keusch, in dem der Erfüllung der Liebe nichts mehr im Wege steht? Was bedeutet das Schwert, das zwischen Tristan und Isolde hegt, als sie allein im Wald leben? Und: Wie kann ein versehentlich eingenommener Minnetrank eine so bedeutsame Liebe begründen? Tristan und Isolde würden sich nämlich gar nicht lieben, wenn sie kein Gift getrunken hätten! Welche Bedeutung hat also der Minnetrank? Wieso sind die Liebenden ausgerechnet dann enthaltsam, als sie nicht den geringsten Grund dazu haben? In der Waldidylle gibt es keinen eifersüchtigen Ehemann und keine intriganten Hofleute, vor denen sich Tristan und Isolde in acht nehmen müssten. Aber genau da liegt das Problem. Die Liebe zwischen Tristan und Isolde benötigt Hindernisse und Widerstände. Man muss nämlich leiden können, um lieben zu können. Nur so schafft die Liebe Leiden und wird zur - 65 -
Leidenschaft. (Tristan kann seine Ehefrau schon allein deshalb nicht begehren, weil sie seine Ehefrau ist.) Nichts tötet die Liebe schneller als ihre vollständige Erfüllung. Das Schwert trennt die Liebenden daher, als es die Anwesenheit des Ehemanns vorübergehend nicht tut. Tristan und Isolde bringen das Selbstopfer der freiwilligen Keuschheit, damit die Liebe überlebt. Ihre Liebe ist Le iden. Sie wird passiv erduldet. Das erklärt auch die Verwandtschaft von Liebe und Tod. Denn auch der Tod ist ein Leiden und muss passiv erfahren werden. Man kann sich gegen den Tod so wenig wehren wie gegen die Liebe. Dass man der Liebe passiv ausgeliefert ist, ist auch mit dem Minnetrank gemeint: Er ist ein Symbol dafür, dass die Liebe eine Schicksalsmacht ist. Man kann sich so wenig gegen sie wehren wie gegen ein Gift, das man unwissentlich trinkt. Die Liebe ist etwas, was einem einfach widerfährt - man ist nicht selbst dafür verantwortlich. Der Minnetrank symbolisiert noch etwas anderes: Liebe muss nicht nur gegenseitig sein (das versteht sich von selbst) - sie muss auch synchron beginnen. Die Liebe sollte wie eine Initialzündung sein, die auf zwei Seiten zugleich abläuft. Das ist mit dem Liebesgift gemeint. In dem Moment, in dem Tristan und Isolde ihre Lippen an die Flasche mit dem Minnetrank gesetzt haben, beginnt ihre Liebe. Gleichzeitig. Gegenseitig. Für immer.
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William Shakespeare Romeo und Julia (ca. 1595) Sie sind das berühmteste Liebespaar aller Zeiten: Romeo und Julia aus Verona, Italien. Jeder kennt ihre Namen. Jeder weiß, dass ihre Liebe im Tod endet. Romeo und Julia lieben gegen den Widerstand ihrer verfeindeten Familien: den Montagues und den Capulets. Romeo und Julia empfinden eine verbotene Liebe, aber das macht ihre Gefühle zueinander umso bedeutender. Niemand ist einsamer als Romeo und Julia, die ihre Liebe vor aller Welt verheimlichen müssen. Aber niemand verfügt auch über einen größeren inneren Reichtum als die beiden, die keine andere Seele brauchen, solange sie einander haben. Romeo und Julia besitzen ein so hohes Gut, dass sie ohne die Gesellschaft auskommen. Ihre Liebe ist stärker als die Familie und als Gesetze. Und sie ist am Ende auch stärker als der Tod. Romeo und Julia sind in ihrer Liebe zueinander unsterblich geworden. Erst vor einigen Jahren haben sie wieder ihre Gruft in Verona verlassen und sind für den Film Titanic ins Leben zurückgekehrt. Einer der Oscars, die der Film erhalten hat, gebührt jedenfalls Shakespeare. Titanic ist im Grunde nichts anderes als eine abgewandelte Romeo-und-Julia -Verfilmung über die große Liebe und den großen Tod: Zwei kaum erwachsene Menschen verlieben sich rettungslos ineinander, und die Gesellschaft verhindert eine gemeinsame Zukunft (in Titanic ersetzt der unüberwindliche soziale Unterschied die italienische Familien-Fehde). Das Ganze endet dann in einer Tragödie und mit dem eindrucksvoll in Szene gesetzten Tod. In Shakespeares Tragödie ist Romeo anfänglich noch unglücklich in ein Mädchen namens Rosaline verliebt. Er ist krank vor Liebeskummer - eindeutig ein schwerer Fall von Liebesmelancholie: Romeo ist depressiv, zieht sich schla mpig an, meidet Menschen und verdunkelt sein Zimmer zur Gruft. Sein Freund Benvolio gibt ihm daher den Rat: »Such Dir eine andere«. Das ist natürlich ebenso gut gemeint wie taktlos. Aber genau das ist es dann ja, was Romeo tut. Er - 67 -
erblickt Julia auf einem Maskenfest und ist auf der Stelle entflammt. Diesmal ist die Liebe gegenseitig. Es ist Liebe auf den ersten Blick im wörtlichen Sinne: Sie beginnt im ersten Augen-Blick. Romeo und Julia sehen sich in die Augen und stehen sofort in Flammen. Die Liebe hat sofort ihren Höhepunkt erreicht. Sie heiraten heimlich. Niemals würden ihre verfeindeten Familien der Ehe zustimmen. Kurz darauf befiehlt Julias ahnungsloser Vater ihr, sie solle den jungen Edelmann Paris zum Mann nehmen. In dieser misslichen Lage schlägt der Mönch Lorenzo folgendes vor: Julia soll so tun, als würde sie auf die Forderung ihres Vaters eingehen. Am Abend vor der Hochzeit soll sie dann ein Gift trinken, das sie für 42 Stunden in einen totenähnlichen Zustand versetzen wird. Während Julia in der Familiengruft schlummert, wird Romeo sie befreien, um mit ihr nach Mantua zu gehen. Das ist der Plan. Aber Romeo wird durch widrige Umstände nicht in ihn eingeweiht. Er hört von Julias angeblichem Tod. Ohne zu wissen, dass sie nur bewusstlos ist, entdeckt er ihren leblosen Körper. Außer sich vor Schmerz nimmt er sich an ihrer Seite das Leben. Als Julia erwacht, sieht sie Romeo tot neben sich liegen. Nun tötet auch sie sich. In Shakespeares Tragödie ist die Liebe untrennbar mit dem Tod verbunden. Die Liebe trifft mitten ins Herz, durchbohrt es und endet mit dem Tod. Sie ist ebenso tödlich wie die drei Duelle, die in Romeo und Julia auf der Bühne gekämpft werden und die weit mehr sind als bloße Action-Szenen zur Auflockerung der Handlung: Die DuellSzenen zeigen das Motiv des Mitten-ins-Herz-getroffen-Seins noch einmal von einer ganz anderen Seite. Die Liebe zwischen Romeo und Julia endet auch deshalb im Tod, weil sie Selbstaufgabe bedeutet. Die Liebenden werden eins, aber das setzt zunächst voraus dass sie ihre Identität aufgeben. Das ist bereits so etwas wie ein freiwilliger Tod. Das können wir heute zwar aus der Distanz des Kinosessels wundervoll finden, aber im Grunde erwarten wir von der Liebe das genaue Gegenteil: Sie soll unsere Persönlichkeit bereichern. Selbstaufgabe ist heute ein eindeutiges Zeichen dafür, dass eine Beziehung pathologische Züge trägt. Romeo und Julia müssen sterben. Die Intensität ihrer Liebe garantiert die Leidenschaft, aber leider nicht, dass sie ewig hält. - 68 -
Möchte man sich vorstellen müssen, wie Romeo und Julia ihren ersten Ehekrach haben? Ephraim Kishon hat sich in seiner Parodie Es war die Lerche ausgemalt, was passiert wäre, wenn das Liebespaar nicht Selbstmord begangen hätte: Dann lebten sie nämlich in einem schäbigen Zimmer in Verona, der Haushalt wäre verwahrlost, Romeo hätte eine Wampe, Julia hätte seinen Anblick satt und die beiden würden sich ständig streiten. Wie deprimierend.
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Choderlos de Laclos Gefährliche Liebschaften (1782) Nichts wäre in der Welt der französischen Aristokratie des Ancien Regime absurder, als bei Liebe an die Aufrichtigkeit von Gefühlen zu denken. Die Ehen werden arrangiert, anschließend eröffnet sich die Welt der Affären. Die Liebesabenteuer der Pariser Gesellschaft sind ein allgemein bekanntes Geheimnis: Jeder weiß, dass jeder Affären hat, und jeder weiß auch, dass es den eigenen sozialen Tod bedeuten würde, nicht diskret damit umzugehen. Das gilt insbesondere für Frauen, deren Ruf noch schneller ruiniert ist als ihre Unschuld. Die Affären werden dezent behandelt, aber die Liebe ist nicht privat. Sie ist eine öffentliche Angelegenheit. Sie ist den Blicken der Gesellschaft ausgesetzt. (Und sie wird eben deshalb so weit wie möglich geheim gehalten.) In der französischen Gesellschaft des Ancien Regime ist die Liebe ein kompliziertes Gesellschaftsspiel. Die Spielanle itung lautet: Laß deine Leidenschaft nie außer Kontrolle geraten. Die Mitspieler benötigen Kalkül, Strategie, Heuchelei und Manipulationsgeschick. Der Einsatz ist die persönliche Reputation. Zu gewinnen gibt es Macht, das Gefühl der Genugtuung bei der Vernichtung eines Feindes und die Befriedigung der Eitelkeit. Die Regeln sind höchst kompliziert: Sie basieren auf der Maxime, dass sie nicht durchschaut werden dürfen. Das Ziel ist, auch in den Momenten der höchsten Leidenschaft noch zu wissen, was man tut. Und umgekehrt: Auch in den Situationen größter Berechnung so zu wirken, als sei man von der Leidenschaft erfaßt. Wer in diesem Spiel mitspielen und gewinnen will, muss lernen, Masken zu tragen. Er oder sie muss überlegt handeln. Er muss andere beobachten, ihre Schwächen erkennen und ausnutzen. Wer die Kontrolle verliert, hat verloren. Und man weiß, wie schmal der Grat zwischen Kontrolle und Kontrollverlust ist. Denn die Liebe ist Passion: Leidenschaft. Die große Virtuosin der Intrige ist die Marquise von Merteuil. Sie ist hochintelligent, selbstbewußt und vollkommen skrupellos. Bereits vor ihrer Heirat, als junges Mädchen, hatte sie erkannt, welchen enormen - 70 -
gesellschaftlichen Einfluss sie hat, wenn sie sich die richtigen Männer zu Liebhabern nimmt. Diese Erkenntnis hat die Marquise zu einer Meisterin in der Kunst der Verführung gemacht. Die Männer liegen ihr zu Füßen. Mitunter bleiben sie auch dort - am Boden -, wenn der Marquise ihre Vernichtung opportun erscheint. Nur Valmont, ihr Ex-Geliebter, kann der Marquise das Wasser reichen. Ihm, dem berüchtigten Libertin, eilt der Ruf voraus, sämtliche weibliche Angehörige der Pariser Gesellschaft besessen zu haben. Für Valmont gibt es Frauen auf dieser Welt, damit man sie ruiniert. Valmont ist der ideale Kandidat, um der Marquise bei der Durchführung einer ihrer Intrigen behilflich zu sein. Sie will Rache an einem ihrer zahlreichen ehemaligen Liebhaber nehmen, indem sie ihm eine empfindliche Verletzung seiner Ehre zufügt: Seine zukünftige Braut, die naive Cecile, soll entjungfert in die Hochzeitsnacht gehen. Valmont nimmt sich der Sache an. Aber er ist inzwischen von Eroberungen kleiner Mädchen derart gelangweilt, dass ihn ein Objekt der Begierde reizt, dessen Unterwerfung fast unmöglich scheint. Er hat es auf die tugendhafte und verheiratete Frau von Tourvel abgesehen. Im zeitgenössischen Klassement der Frauen gehört sie zu den »Preziösen«, jenen Frauen, die gar nicht - oder zumindest nur unter enormem Aufwand - zu haben sind. Sie sind das Gegenstück zu den »Koketten« wie der Marquise. Den Koketten dient ihr beachtliches Repertoire der Gesten der Ablehnung nur dazu, um eine Weile hinauszuzögern, was von vornherein klar ist: dass der Mann sie bekommen wird. Durch Heuchelei gelingt es dem charismatischen Valmont allmählich, Frau von Tourvel für sich zu gewinnen. Er schickt ihr Briefe, die sie ungeöffnet zurücksendet. Weil Valmont sich darauf verlassen kann, dass die Tugend der Tourvel es nicht gestattet, seine Briefe anzunehmen und zu lesen, verfasst er einen einzigen Liebesbrief und schickt diesen nun immer wieder an sie los. Wenn er ihn erwartungsgemäß ungeöffnet zurückerhält, steckt er ihn in einen neuen Umschlag und schickt ihn wieder ab. Das ist gemäß den Konventionen der Zeit ein wirklich verwerfliches Verhalten, denn der Brief- und um so mehr der Liebesbrief - galt in den weniger verderbten Kreisen als das Medium der Aufrichtigkeit (Rousseau). - 71 -
Während Frau von Tourvel noch mit Gewissensfragen kämpft, vergnügt sich Valmont zwischendurch mit Cecile. Aber ausgerechnet die Standhaftigkeit der Tourvel wirkt aphrodisierend auf Valmont. Unermüdlich belagert und verfolgt er sie. In seinen Briefen an die Marquise vergleicht Valmont sein Vorgehen mit den Worten der Kriegsführung. Schlie ßlich gibt sich Frau von Tourvel - die sich in Valmont verliebt hat - geschlagen und Valmont hin. Dies, triumphiert Valmont, sei nun keine bloße Kapitulation der schönen Frau, sondern ein »richtiger Sieg« über sie. Nach einem »mühevollen Feldzug« haben »überlegte Manöver« entschieden. Die Beschreibung der Unterwerfung seines Objekts der Begierde ist ein Paradebeispiel des strategischen Vorgehens. Valmont wählte den Zeitpunkt der Schlacht, bestimmte das Terrain, führte Täuschungsmanöver durch und entschied im günstigsten Moment den Vorstoß. Diese Bildersprache der Kriegskunst in der Liebe hat Tradition. Man findet sie schon in der Dichtung des späten Mittelalters und in der Lyrik der Renaissance. Dort wird die unerreichbare Angebetete wie eine zu erstürmende Festung belagert. Aber während die Kriegsmetaphorik in der feudalen Gesellschaft die Uneinnehmbarkeit der Frau und den Heldenmut des Mannes ausdrückte, steht sie bei Valmont für das Kalkül eines Stellungskrieges. Und für die Vernichtung des Gegners. Valmonts Affäre mit Frau von Tourvel führt schließlich zur Entzweiung zwischen den beiden Verbündeten Valmont und Marquise von Merteuil. Die Unbeirrbarkeit und Hartnäckigkeit, mit der Valmont sein tugendhaftes Objekt verfolgt, lassen in der Marquise den Verdacht aufkommen, er habe die Kontrolle verloren und sich gar selber verliebt. Dies erzürnt die Marquise nicht etwa aus Eifersucht, sondern weil Valmont sich damit eine Blöße gibt. Das kommt im Universum der Marquise einem Hochverrat gleich. Sie erkennt, dass Valmont seinen eigenen Verführungskünsten erlegen ist. Sie sieht, was Valmont selber nicht bewusst ist: Die Verführung der Frau von Tourvel ist zur Selbstverführung geworden. Im Sog der Eigendynamik seiner Verführung der Tourvel ist Valmont nämlich einer narzißtischen Lust an der Leidenschaft verfallen: Er liebt zwar nicht die Tourvel, aber er liebt das Gefühl der Leidenschaft in ihrer Gegenwart. - 72 -
Diese Schwäche Valmonts provoziert die Marquise derart, dass sie beschließt, ihn zu vernichten. Es kommt zu einem Duell, das Valmont nicht überlebt. Der Roman endet mit Zerstörungen. Sie sind das Werk der Liebesintrigen der Marquise und Valmonts. Valmont fällt im Duell; Frau von Tourvel stirbt in geistiger Umnachtung, Celine geht ins Kloster und die Marquise von Merteuil verliert ihr Vermögen und anschließend ihre Schönheit durch die Blattern. In Laclos' Roman aus dem Milieu des französischen Hochadels bedeutet Liebe Intrige. In der Welt der Marquise und Valmonts ist die Liebe egoistisch, unaufrichtig und destruktiv. Sie dient der eigenen Bedürfnisbefriedigung. Der Roman zeigt den zynischen Triumph dieser Liebe und ihren Untergang. Als Verführer scheitert Valmont. Die Ironie der Figur liegt darin, dass Valmont zu böse ist, um als Liebhaber zu imponieren, und zu verführbar, um als Verführer Eindruck zu machen. Die Gefährlichen Liebschaften markieren das Ende einer Konzeption von der Liebe als Spiel raffinierter Verführungsstrategien. In der Welt des europäischen Hochadels des 17. und 18. Jahrhunderts galt Liebe als rhetorische Meisterleistung: sie war erlernbar und kontrollie rbar. Im wesentlichen war sie eine „oberflächliche“ Angelegenheit. Sie konnte sich auf ein Kompendium studierbarer Gesten verlassen: Ende des 17. Jahrhunderts hatte man in Frankreich ein Handbuch der Seufzer herausgegeben. Mit seiner Hilfe konnten junge Mädchen lernen, in feinen Nuancen Zeichen ihrer Verzweiflung oder unterdrückten Bereitwilligkeit Ausdruck zu geben. Erst am Ende des 18. Jahrhunderts wird die Liebe verinnerlicht. Erst jetzt beginnt man bei Liebe an Gefühl zu denken. Erst jetzt kommt man auf die Idee, Aufrichtigkeit im Verhalten der Liebenden zu erwarten. Die Gefährlichen Liebschaften zeigen das Ende einer Kultur, die an die Zuverlässigkeit der kalkulierbaren Kommunikation (Rhetorik) glaubte. Laclos' Roman entblößt die Welt der Liebesintrigen als böse und verdorben, aber auch als: ineffektiv. Gefährliche Lie bschaften zeigt das Ende einer alten europäischen Vorstellung von der Liebe als Rhetorik. Aber der Roman markiert auch das Ende einer Ära. Valmont, der Erzstratege, erliegt schließlich selbst seiner Verführungskunst und verliert den Kopf. Wenige Jahre - 73 -
nach der Veröffentlichung des Romans verlor die gesamte Gesellschaftsschicht, der Valmont angehört, ihren Kopf: auf der Guillotine.
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Jean-Jacques Rousseau Julie oder Die neue Heloise (1761) Willkommen in der Kultur der Sentimentalität! Hier regiert das Gefühl! Hier zeigt man Herz, hier ist man empfindsam, hier spricht die Seele! Hier beben die Lippen, hier flattern die Nerven, hier zittern die Hände. Hier wird geseufzt und geschmachtet, verzagt und gehofft, entsagt und gelitten. Und viel geweint. Das geht zu Herzen. Die romantische Liebe entdeckt die Innerlichkeit. Man verkündet den Wert des aufrichtig empfundenen Gefühls und spürt den kleinsten Regungen der individuellen Emotionen nach. Was immer man dabei findet, wird zum Ausdruck gebracht - und wenn die Sprache versagt, weil die Gefühle so überwältigend sind, dass sie unsagbar werden, rettet man sich eben in Ach! und Oh! und Gott!. Und seufzt. Und man ahnt, dass damit noch viel mehr gesagt werden kann als mit Worten. Im 18. Jahrhundert werden die persönlichen Empfindungen und Erfahrungen zu einer neuen Quelle der Erkenntnis. Das eigene Erleben wird zum Schlüssel des Verständnisses der Welt, der anderen Menschen und der eigenen Person. Man entdeckt das Gefühl. Aber man scheint zunächst Schwierigkeiten mit der richtigen Dosierung zu haben. Jedenfalls wird furchtbar übertrieben. Die Liebesromane um die Mitte des 18. Jahrhunderts, die aus dem Geiste der Empfindsamkeit entstehen, sind Briefromane. Es sind fiktive Briefsammlungen. Meistens handelt es sich um die herzzerreißenden Ergüsse zwischen zwei Liebenden oder zwischen zwei Freundinnen. In den Briefen erhalten die Wonnen und Qualen der Liebenden ihren unverfälschten Ausdruck. Briefe sind das ideale Medium der Aufrichtigkeit, weil sie den Eindruck erwecken, dass der oder die Schreibende just das zu Papier bringt, was im Moment seine Seele bekümmert oder ihr Herz erfreut. Das ist fast so, als würde man der Person ins Herz sehen und an ihren intimsten Gedanken und Gefühlen teilhaben können. Der Liebesbrief entsteht spontan und aus dem tiefsten Gefühl - er kann nicht täuschen. (umso verwerflicher also, wenn Schurken und Verführer wie Valmont in „Gefährliche - 75 -
Liebschaften“ die Liebesbriefe absichtlich fälschen!) Die Briefe werden mit zitternder Hand geschrieben, mit aufwallendem Herzen entgegengenommen und, bevor sie geöffnet werden, mit Küssen bedeckt. Man liest die Briefe an einsamen Orten am liebsten im Grünen. Beim Abfassen der Antwort ist darauf zu achten, hinter die ersten zwei oder drei Sätze ein Ausrufungszeichen zu setzen (zur Not geht auch ein Fragezeichen). Auch muss man dem Liebsten unbedingt mitteilen, dass man den Brief geküßt hat. Der Rest des Briefes, der entweder sehr lang oder sehr kurz sein sollte, ist der freien Gestaltung überlassen - Hauptsache, man spart nicht mit Gedankenstrichen. - Männer können sich der Kühnheit bezichtigen und beteuern, dass sie nicht beabsichtigen, ihre tugendhafte Schöne zu kompromittieren. Dabei sollten sie allerdings zum Ausdruck bringen, welche Höllenqualen es bedeuten wird, nicht erhört zu werden. Auch ein dezenter Hinweis, sich das Leben nehmen zu wollen, kann nicht schaden. Frauen können dagegen diskret durchblicken lassen, dass sie zwar gerne nachgeben würden, ihre Tugend jedoch nicht aufs Spiel setzen dürfen. Anstatt die Korrespondenz einfach abzubrechen, empfiehlt es sich für sie, eine Dienerin ins Vertrauen zu ziehen, die heimlich Briefe überbringen kann. So kann man in vielen Briefen schriftlich festhalten, wie tugendhaft man ist. Beide Geschlechter sollten unbedingt zum Ausdruck bringen, dass die Gefühle für den anderen nicht in Worte zu fassen sind. Mit derlei Beteuerungen füllt man locker zehn Seiten. Schön ist es aber auch, sich das gemeinsam Erlebte noch einmal genüsslich in Erinnerung zu rufen. So wie Julies Lie bhaber, der junge Hauslehrer Saint-Preux, der immer noch ganz atemlos ist, wenn er sich daran erinnert, wie es war, als er (erst vorgestern!) Julie zum ersten Mal küßte: »Allein, wie -wurde mir einen Augenblick hernach, als ich - die Hand bebt mir - ein angenehmes Zittern - Deinen Rosenmund - Juliens Mund fühlte ich - wie er auf dem meinigen ruhte, auf den meinigen sich preßte, und wie mein Leib von Deinen Armen umschlossen war. Nein, des Himmels Feuer ist nicht heftiger, nicht schneller als jenes, das mich augenblicklich entzündete. ... Mit unseren Seufzern verhauchte das Feuer von den brennenden Lippen, und mein Herz erstarb unter der Wonne Last - da ich auf einmal Dich erblassen, Deine schönen Augen schließen, an Deine Base [Cousine] - 76 -
Dich lehnen und in Ohnmacht sinken sah.« Das tun die Frauen der sentimentalen Romane immer, wenn es gefährlich wird: Sie fallen vorsichtshalber in Ohnmacht und vertrauen auf die Anständigkeit des Geliebten! Rousseau ist zwar nicht der Erfinder des sentimentalen Briefromans - das war der Engländer Samuel Richardson (Pamela, 1740) -, aber er ist der große Prophet des Gefühls, der Aufrichtigkeit und des moralisch einwandfreien Lebens in der Natur. Die Liebe ist ganz unverfälschtes Sein. In der Liebe bricht das reine Gefühl aus dem Menschen. Hier regiert die gute Natur. Die Gesellschaft wird den Liebenden zur Qual, denn unter Fremden muss man sich beherrschen und benehmen wie ein vernünftiger Mensch. Nur in Wald und Wiese geht es etwas besser. Saint-Preux, der liebeskranke Held der Neuen Heloise, mutet sich ausgerechnet Bergsteigen in den Alpen zu, um freier atmen zu können und ruhiger zu werden. Julie und Saint-Preux lieben einander sehr. Sie verständigen sich in vielen Briefen über die Schwankungen ihrer Liebe und ihrer Gemütsverfassungen: Die Liebe ist mal zärtlich, mal rein und unschuldig, dann wieder stürmisch und ungestüm In erster Linie ist sie aber hoffnungslos, denn der mittellose Hauslehrer Saint-Preux ist keine standesgemäße Partie für die junge Frau von edlem Geblüt. Obwohl Julie weiß, dass den Frauen ein »gefährliches Pfand anvertraut« ist, wird sie schwach und gibt sich ihrem Geliebten hin. Das zeigt, dass Liebesbriefe - auch wenn darin steht, dass man tugendhaft bleiben will - immer noch Liebesbriefe sind und sich nicht gerade dazu eignen, die Leidenschaft abkühlen zu la ssen. Julie ist einem Freund ihres Vaters zur Frau versprochen worden. Saint-Preux geht nach Paris, erlebt dort das verwerfliche Treiben der Gesellschaft, in der niemand in der Lage ist, „er selbst zu sein“, und alles Etikette ist. Einmal erliegt der ahnungslose Held vom Lande den Versuchungen dieser verderbten Welt und landet, ohne zu wissen, wie ihm geschieht, in einem Bordell und zu seiner großen Verwunderung in den Fangarmen einer Prostituierten (2.Teil, 26. Brief). Julie heiratet den ihr bestimmten Mann, den wesentlich älteren Herrn von Wolmar. Der neue Ehestand versetzt Julie schla gartig in einen Zustand der Läuterung. Nicht ohne sich vorher noch einmal aus Dankbarkeit über ihre moralische Rettung auf den Boden geworfen zu haben, beginnt - 77 -
Julie nun das Leben einer vorbildlichen Ehefrau und liebenden Mutter. Etwas befremdlich ist allerdings, dass sie später aus Mutterliebe eine Tochter an ihre Cousine verschenkt. Für einige Jahre trennen sich die Wege Julies und Saint-Preux'. Bis zu jenem Tage, an dem Julie ihrem Ehemann von ihrem Vorleben berichtet. Herr von Wolmar reagiert erstaunlich großzügig und bietet dem ehemaligen Geliebten seiner Frau an, bei ihnen einzuziehen. Saint-Preux wird der Lehrer im Hause der von Wolmars. Julie und ihr ehemaliger Geliebter lernen, ihre Zuneigung zueinander in eine höhere Stufe der Liebe zu verwandeln, und bleiben makellos sittsam. Als Julie eines ihrer Kinder vor dem Ertrinken retten will, kommt sie ums Leben. Im 18. Jahrhundert war die Neue Heloise in Europa ein Kultbuch. Heute wirkt das hemmungslose Pathos des permanenten Überwältigtseins durch die eigenen Gefühle nur noch lächerlich. Die Idealisierung des schönen Lebens auf dem Lande ist vollkommen blauäugig. Die Idee der Vervollkommnung der eigenen Person inmitten eines harmonischen Familienglücks taugt allenfalls noch zu einem Werbespot für Margarine. Die Sprache in Rousseaus sentimentalem Roman ist von derart überschwenglicher Emotionalität, dass man die Neue Heloise heute nur noch mit Vergnügen lesen kann, wenn man eine Doktorarbeit darüber zu schreiben beabsichtigt. Aber neben all den klopfenden Herzen, dem bangen Sehnen und den stürmischen Ausbrüchen der Leidenschaft hat die Kultur der Empfindsamkeit uns eine Idee hinterlassen, die bis heute niemand albern finden wird: Die aufrichtige Liebe als großes Versprechen für persönliches Glück. Aber erst Jane Austen weiß, wie man das würdig in Worte faßt.
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Jane Austen Stolz und Vorurteil (1813) Mr. Bingley, gutaussehend, vermögend und unverheiratet, scheint mit seiner angenehmen Wesensart alle Attribute in seiner Person zu vereinen, die ihn als Schwiegersohn für die ortsansässigen Mütter und Gatte für ihre Töchte r begehrenswert machen. Deshalb verbreitet seine nahende Ankunft in der südenglischen Gemeinde auch einen Hoffnungsschimmer für Mrs. Bennet. Sie hat nämlich ein Problem: fünf gutaussehende Töchter in heiratsfähigem Alter! Als Bingley auf dem ersten Ball gleich zweimal mit der schönen Jane, der ältesten Tochter der Bennets, tanzt, ist in den Augen von Mrs. Bennet sowohl Bingleys als auch Janes eheliches Schicksal besiegelt. Jane Austen sagte einmal: »Drei oder vier Familien auf dem Lande sind ideal, um darüber zu schreiben« - eine Konste llation, die genug für eine paar Verwicklungen hergibt, aber nicht Gefahr läuft, unübersichtlich zu werden. Austens Romane wählen einen kleinen Ausschnitt, aber man bekommt Dinge zu sehen, die einem sonst entgehen. Das, worüber Austen schreibt, erscheint, als hätte sie es unter ein Mikroskop gelegt. Durch ihren messerscharfen Blick erkennen wir plötzlich Einzelheiten, die sonst mehr oder minder gut versteckt unter den Oberflächen liegen: Eitelkeit, Enttäuschungen, Borniertheit, Verletzungen, verborgene Hoffnungen und Arroganz. Austen führt uns das alles mit kühler Distanz, Ironie und mitunter gnadenlosem Spott vor Augen. In einem zweiten berühmten Ausspruch verglich sie ihre Romane mit »einem kleinen Stück Elfenbein (zwei Zoll breit), das ich mit einem so feinen Pinsel bearbeite, dass man hinterher nicht sieht, wie viel Arbeit darin steckt.« Besser könnte man Austen überhaupt nicht beschreiben: Ihre Romane verführen durch Leichtigkeit und Eleganz, sie wirken völlig unangestrengt und erscheinen eher wie zufällig entstanden. Erst beim zweiten Hinsehen hält man den Atem an und fragt sich: „Wie hat sie das bloß gemacht?“ Austens Romane handeln von der Liebe, von der Suche nach dem - 79 -
richtigen Partner und den Bedingungen und Möglichkeiten des Zusammenlebens zu zweit. Sie zeigen, dass sich geglückte Partnerfindung bereits in einer übersichtlichen Konstellation, wie der einiger bürgerlicher Familien auf dem Lande, äußerst kompliziert gestalten kann. Sie beschreiben, wie sich die Zweisamkeit von der Geselligkeit unterscheidet, und sie liefern ein sorgfältiges Bild von beidem: von der Intimität und der Gesellschaft. Da gibt es in Stolz und Vorurteil das Eheleben der Bennets: der Lebenskompromiss eines Mannes, der zu spät erkannt hat, dass die hübsche junge Frau an seiner Seite von bodenloser Dummheit ist, und der im Laufe der Ehejahre resigniert in gewohnheitsmäßigem Sarkasmus Zuflucht gefunden hat. Da ist im Gegenzug dazu die Ehe der Gardiners, beispie lhaft für eine Partnerschaft von zwei Personen, die in jeder Hinsicht zusammenpassen. Aber da sind natürlich vor allem die Liebesgeschichten von Jane und Elisabeth Bennet. Bingley bringt seinen Freund mit aufs Land, den attraktiven, aber arroganten Gentleman Mr. Darcy. Er verliebt sich wider Wille n in die Zweitälteste Tochter der Bennets, die geistreiche Elisabeth. Das anfängliche Verhältnis der beiden zueinander gibt dem Roman seinen Titel: Denn während Darcy zunächst durch seinen Standesdünkel daran gehindert wird, sich seine Gefühle einzugestehen, sieht Elisabeth nicht, dass Darcy nicht bloß arrogant ist, sondern auch klug und liebenswert. Als Darcy dann in einem Akt der Selbstüberwindung Elisabeth einen Heiratsantrag macht und dabei erklärt, er würde sie auch trotz ihrer unmöglichen gesellschaftlichen Verbindungen, gegen alle Vernunft und bessere Einsicht, zur Frau nehmen, empfindet Elisabeth das nicht ganz unbegründet als Unverschämtheit. Die Szene macht zudem - im Rahmen der Austen zur Verfügung stehenden Mittel ziemlich deutlich, dass Darcy momentan nur eines im Kopf hat: Sex mit Elisabeth. Elisabeth schlägt Darcys Antrag aus. Für die Leserinnen ist an dieser Stelle aber schon klar, dass Elisabeth von Darcy fasziniert ist. Sie schenkt ihm unbewusst mehr Aufmerksamkeit, als sie selbst gewahr wird. Ohne es selbst zu merken, verliebt sie sich in ihn. Als sie dann durch Erzählungen Dritter eine Seite an Darcy entdeckt, die ihr bisher verborgen war, kommt ihr schlagartig zu Bewusstsein, dass sie Darcy nicht nur - 80 -
begehrt, sondern dass er auch die erste Person ist, mit der sie ebenbürtig kommunizieren kann. Darcy ist der einzige Mann, mit dem sie sich ein Zusammenleben vorstellen kann. Ist die Erkenntnis nun zu spät gekommen? Elisabeth und Darcy sind das ideale Paar des Romans. Hier finden sich zwei, die sich begehren und einander geistig ebenbürtig sind. Parallel zu ihrer Liebesgeschichte werden drei andere Versionen der Paarfindung erzählt. Zunächst die von der schönen, sanftmütigen Jane und dem gutmütigen Mr. Bingley. Dann die Geschichte der jüngsten Bennet-Tochter, Lydia, die mit allem flirtet, was eine Uniform trägt, und dabei an den gewissenlosen Wickham gerät, mit dem sie zum Entsetzen aller durchbrennt. Um zu retten, was nicht mehr zu retten ist, muss Wickham mit einer ansehnlichen Summe bestochen werden, um Lydia zu heiraten (die inzwischen ihre Unschuld verloren hat). Und schließlich gibt es noch die deprimierende Verbindung zwischen Charlotte Lucas und dem Geistlichen Mr. Collins. Mit ihren siebenundzwanzig Jahren ist Charlotte laut eigener Aussage schon fast zu alt für den Heiratsmarkt. Sie sieht ihre letzte Chance daher in dem in jeder Hinsicht beschränkten Mr. Collins, einem Mann, den Charlotte verachtet. Inmitten des Szenarios romantischer Liebe führt Charlottes „Liebesgeschichte“ eine desillusionierende Realität aller Frauen im 18. und 19. Jahrhundert vor Augen. Ohne die Möglichkeit, einen Beruf auszuüben, garantierte nur die Ehe ein einigermaßen würdevolles und ökonomisch gesichertes Leben - und dies war dem Schicksal einer „alten Jungfer oder einer Anstellung als Gouvernante vorzuziehen, selbst wenn es bedeuten würde, mit einem Mann zusammenzuleben, der einem peinlich war. Diese Zeiten sind ja nun glücklicherweise vorbei. Aber Austen ist auch im 21. Jahrhundert noch lesenswert, weil sie die erste ist, die Liebe so behandelt, wie wir sie heute erleben. Auch wer Austen nie gelesen hat, ist mit ihr vertraut. In einem ihrer Romane sagt eine Figur über Shakespeare: »Shakespeare lernt man kennen, ohne es zu merken, er begegnet uns überall«. Das trifft auch auf Austen zu: Wir brauchen sie gar nicht mehr zu lesen, um ihre Romane zu kennen. Unsere Erwartungen an Intimität zu zweit stammen aus ihren Romanen. Die erfolgreichsten Liebesfilme Hollywoods basieren mehr oder weniger direkt auf Austen-Romanen. Damit sind nicht die - 81 -
Literaturverfilmungen gemeint, die Ende der 90er Jahre das Kinopublikum in Scharen anzogen. Die Rede ist vielmehr von den versteckten Anleihen bei Austen in den sogenannten romantic comedies aus Hollywood: jenen Liebesgeschichten, die im ZeitgeistMilieu amerikanischer Großstädte spielen und deren weibliche Hauptrollen meistens mit Meg Ryan besetzt werden. Das Grundmuster der Geschichte stammt von Austen: Die Heldin merkt nicht, dass sie sich verliebt hat, erkennt dann schlagartig, dass der Mann ihrer Träume ihren Weg gekreuzt hat, muss nun aber befürchten, dass die Erkenntnis zu spät kommt, und am Ende bekommen sie sich dann doch. Filme wie Harry und Sally, French Kiss, Green Card, Clueless, You've got mail basieren mehr oder weniger direkt auf Austens Romanen. Austen beschreibt die Liebe nicht als passioniertes Drama eines schmachtenden Liebhabers vor einer unerreichbaren Angebeteten; die Verliebten werden bei ihr nicht toll vor Liebe und verhalten sich auch sonst überwiegend zurechnungsfähig; die Liebe erfordert kein aufwendiges Szenario der Intrigen oder des Betrugs; sie ist auch nicht begleitet von moralischen Selbstbezichtigungen; die Liebe ist nicht automatisch ein Motiv für Selbstmord; und die Geliebte verrät ihren Geliebten nicht aufgrund einer nebulösen Motivlage, um mit einem Kürassier durchzubrennen, den sie im Grunde gar nicht liebt. Die Liebe ist bei Austen nicht Anarchie, sondern die Verzauberung des Alltags. Austen zeigt uns die Magie der Liebe, ihre Realität, ihre Unwahrscheinlichkeit und: dass sie gelingen kann. Ihre Romane sind die größten Liebesromane der modernen Gesellschaft.
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Stendhal Rot und Schwarz (1830) Julien Sorel, der junge Hauslehrer des Bürgermeisters der Provinzstadt Verrieres, hat sich in den Kopf gesetzt, die Frau seines Arbeitgebers, Mme. de Renal, zu verfuhren. Nicht, dass er in sie verliebt wäre oder dass er sie besonders begehrte. Julien wird bei dem Gedanken an sein Vorhaben in Wirklichkeit sogar etwas übel vor Angst. Aber die Eroberung der schönen Mme. de Renal muss sein. Julien hat seine Prinzipien. Sie ähneln dem Pflichtbewußtsein eines Soldaten vor der Schlacht. Gewappnet mit den lückenhaften Geständnissen eines Freundes über die Frauen und gerüstet mit dem, was die Bibel über die Liebe zu sagen hat, entwirft Julien einen Schlachtplan. Aber seine Strategie scheitert bereits im ersten Moment. Denn Mme. de Renal stellt eine Frage, auf die Julien nicht vorbereitet ist. Er verliert sofort die Kontrolle, weil er so sehr auf seinen Plan fixiert war, dass er jetzt unfähig ist, einfach zu improvisieren. Mme. de Renal findet es entzückend, Julien verlegen zu sehen. Aber Julien fühlt sich gedemütigt. Um die Schlappe wettzumachen, fährt er schweres Geschütz auf: Er küßt Madame wie aus heiterem Himmel. Die ist nun nicht nur vollkommen konsterniert, sondern auch vage angeekelt, denn sie empfindet Juliens Verhalten als ausgesprochen plump. Julien verlegt sich alternativ darauf, Mme. de Renal mit stechenden Blicken zu traktieren. Aber er merkt zugleich, dass sein ganzer Plan nichts taugt. Zu allem Übel kommt ihm in den Sinn, seinen Fuß gegen den von Madame zu pressen. Das ist überhaupt keine gute Idee. Schließlich ringt sich Julien zu einer Attacke durch, die einem Selbstmordkommando gleichkommt. Bei der erstbesten Gelegenheit flüstert er Mme. de Renal zu, er werde sie in der Nacht in ihrem Zimmer besuchen. Jetzt ist Madame aufrichtig wütend. Julien ist ratlos. Todesmutig beschließt er um zwei Uhr nachts, das Zimmer von - 83 -
Madame aufzusuchen. Er kann sich vor Angst kaum auf den Beinen halten, aber er befiehlt sich, nicht zu kneifen. Zitternd platzt er in das Schlafzimmer, macht dabei aus Ungeschicklichkeit fürchterlichen Krach, wird von der entsetzten Mme. de Renal brüsk zurückgewiesen und - bricht in Tränen aus. Das entscheidet die Sache dann für beide Seiten. Madame ist sehr gerührt, und Julien wird ihr Geliebter. Warum tut Julien sich das bloß alles an? Weil ihn eine Mischung von Minderwertigkeitsgefühl und Ehrgeiz dazu antreibt. Julien, der intelligente Sohn eines Zimmermanns, sehnt sich nach nichts so sehr, wie das Milieu seines Elternhauses, den Bauernstand, für immer hinter sich zu lassen. Er will es bis an die Spitze der Gesellschaft schaffen. Sein großes Vorbild ist Napoleon Bonaparte - der aus Korsika stammende Soldat, der sich mit verbissenem Ehrgeiz an die Spitze Frankreichs kämpfte und schließlich selbst zum Kaiser Frankreichs krönte. Aber in der nachnapoleonischen Ära kann Julien nicht - wie Napoleon - seinen soldatischen Mut unter Beweis stellen. Er kann jedoch stattdessen einen Eroberungsfeldzug gegen die Gesellschaft führen und dabei Frauen, die höheren Schichten angehören, zu vorgeschobenen Posten erklären, die zuerst eingenommen werden müssen. Der erste ist Mme. de Renal. Als Stratege in Friedenszeiten ist Julien kein Soldat, sondern ein Politiker in Sachen Liebe. Julien schlägt die berufliche Laufbahn des Geistlichen ein - nicht weil er besonders fromm wäre, sondern weil sich hier die besten Karrierechancen eröffnen. Der Weg führt nach Paris und von dort steil nach oben: Julien wird Privatsekretär des Marquis de la Mole. Dort begegnet er Mathilde, der rebellischen Tochter des Hauses, die von Julien fasziniert ist, weil er sich von allen Männern unterscheidet, die sie kennt. Mathilde wird Juliens zweiter bedeutender Sieg. Die gegenseitige Verführung verläuft kaum routinierter als die erste Begegnung mit Mme. de Renal: Julien ist wieder entsetzlich verunsichert und beklommen - immerhin zitiert er diesmal aus der „Neuen Heloise“ Rousseaus und zeigt damit Herz. Er beginnt eine Affäre mit Mathilde. Als Mathilde ein Kind erwartet, überredet sie ihren Vater, Julien in den Adelsstand zu erheben. Julien ist auf dem Gipfel seines Erfolges. Doch im Moment seines größtes Triumphes trifft ein Brief ein, der Juliens Ruf zerstört. Er stammt von Mme. de Renal, die ihn unter dem - 84 -
Zwang ihres Beichtvaters schreiben mußte. Außer sich vor Zorn und zutiefst gekränkt, jagt Julien nach Verrieres und schießt auf seine frühere Geliebte, während sie in der Messe betet Mme. de Renal überle bt die Schüsse. Julien wird zum Tode verurteilt. Juliens Schicksal zwischen Liebe und Tod ist einer der Schlüssel für den Titel des Romans: Rot steht für die Liebe, schwarz für den Tod. (Zugleich ist damit auch die Unterscheidung von Soldatenkarriere [rot] und Priesterstand [schwarz] gemeint.) Julien ist ein Held voller Widersprüche. Ständig schwankt er zwischen politischem Opportunismus und hilfloser Verletzlichkeit, zwischen Aufrichtigkeit und Täuschungsmanövern. Julien ist kein besonders begnadeter Heuchler. Nichts kostet ihn so viel Mühe wie die Verstellung. Ausgerechnet in den Situationen, in denen er besonders berechnend auftritt, wirkt er ergreifend hilflos. Julien benutzt zwar Frauen, um voranzukommen, aber die Kunst der strategischen Verführung - die in Laclos' Gefährlichen Liebschaften noch lebendig war - wird in Rot und Schwarz ad absurdum geführt. Die Liebe braucht Verhaltensplanung, aber eiskalte Berechnung kann sie nicht ertragen. Bei Stendhal ist die Liebe daher weder immer Spontaneität und Aufrichtigkeit noch pure Heuchelei.
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Goethe Die Wahlverwandtschaften (1809) Gelegentlich wird gesagt, „die Chemie habe nicht gestimmt“, wenn man das Scheitern einer Beziehung kommentiert. Das hört sich eher nach dem resignativen Schulterzucken der Leserinnen-Beraterin einer Frauenzeitschrift an als nach einem der berühmtesten Romane der deutschen Literatur. Aber tatsächlich liegt der Vergleich von Chemie und Liebe den Wahlverwandtschaften zugrunde - und macht den Roman zu einer Mischung aus Liebesroman und Versuchsanordnung. Der Begriff „Wahlverwandtschaft“ war in der Chemie des 18. Jahrhunderts ein wichtiges Konzept. Goethe, der selbst chemische Experimente durchführte, kannte es aus dem Titel einer bekannten Studie des schwedischen Chemikers Torbern Bergman. „Wahlverwandtschaft“ bezeichnete die chemische Reaktion zwischen bestimmten Substanzen: Man hatte folgendes beobachtet: Wenn zu zwei miteinander verwandtem Stoffen AB ein dritter Stoff C hinzukommt, der eine stärkere Verwandtschaft zu A besitzt als A zu B, wird A seine Verbindung zu B verlassen und sich mit C „wahlverwandtschaftlich“ vereinigen. Goethe übertrug dieses Modell der Anziehung und Abstoßung chemischer Stoffe auf die Liebesbeziehungen seiner vier Romanfiguren. Die Versuchspersonen sind: der reiche Baron Eduard, seine Frau Charlotte, Eduards Freund, der Hauptmann, und Charlottes Nichte, Ottilie. Eduard und Charlotte haben sich endlich heiraten können, nachdem beide von ihren Eltern in Vernunftehen untergebracht worden waren und ihre ersten Ehepartner früh gestorben sind. Sie leben in glücklicher Zweisamkeit auf dem Landsitz Eduards und dilettieren in Gartenbau und Parkgestaltung, als Eduard auf die Idee kommt, seinen in Not geratenen Freund, den Hauptmann, bei sich aufzunehmen. Charlotte stimmt dem Vorschlag erst zu, als sie dafür im Gegenzug ihre Nichte, Ottilie, einladen darf. Damit treten nun zwei neue Kräfte ins Spiel, die dazu führen, dass sich Charlotte und Eduard zu dem Hauptmann bzw. zu Ottilie - 86 -
hingezogen fühlen. Es kommt zum Ehebruch - wenngleich er auch nur in der Phantasie Charlottes und Eduards stattfindet: Eduard phantasiert, er schliefe mit Ottilie, während Charlotte sich in den Armen des Hauptmanns wähnt, als beide ihrer ehelichen Pflicht nachkommen. Als dann der Abschied des Hauptmanns bevorsteht und auch Ottilie das Landgut verlassen soll, gießt die Aussicht der bevorstehenden Trennung Pech auf das Feuer der Leidenschaft: die wahlverwandtschaftlich zueinander gedrifteten Liebespaare gestehen sich ihre Liebe. Charlotte und der Hauptmann entschließen sich nun allerdings im Hinblick auf gesellschaftliche Konventionen pflichtschuldig zur Entsagung, während Eduard darauf besteht, seiner Leidenschaft freien Ausdruck geben zu dürfen. Doch als er erfährt, dass er in der Nacht des phantasierten „Ehebruchs“ ein Kind mit Charlotte gezeugt hat - und sich damit auch nur die geringste Aussicht zerschlägt, Charlotte je verlassen zu können -, zieht er verzweifelt in den Krieg. Charlotte und Ottilie bleiben auf dem Landsitz zurück. Charlotte bringt einen Sohn zur Welt, der eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Hauptmann und Ottilie hat. Eduard kehrt aus dem Krieg zurück und trifft Ottilie, als sie zufällig mit dem Kind am See spazieren geht. Er gesteht ihr erneut seine Liebe. Als Ottilie, noch ganz benommen von der Begegnung, über den See zurückrudern will, kippt beim Einsteigen der Kahn um. Das Kind ertrinkt. Nach dem Tod ihres gemeinsamen Kindes willigt Charlotte ein, sich von Eduard zu trennen. Während es einen Moment lang so aussieht, als könnten die wahlverwandten Paare endlich zusammenkommen, macht jetzt Ottilie dem Glück einen Strich durch die Rechnung. Sie glaubt, am Tod des Kindes schuld zu sein, und legt sich Buße auf. Sie entsagt ihrer Liebe zu Eduard und zieht sich vollkommen in sich selbst zurück. Sie hört auf zu sprechen, nimmt keine Nahrung mehr zu sich und verweigert sich auf diese Weise so standhaft dem Leben, bis sie stirbt Eduard folgt ihr kurz darauf in den Tod, und man bestattet ihn an der Seite Ottilies. Goethes Roman über die Anziehungskraft der Liebe stellt die gesellschaftliche Institution der Ehe den natürlichen Leidenschaften gegenüber. Er steht am Beginn einer Reihe von Romanen des 19. - 87 -
Jahrhunderts, in denen die Liebe scheitert, weil sich Leidenschaft und Ehe gegenseitig ruinieren. In den Wahlverwandtschaften entpuppt sich der Titel am Ende als geballte Ironie: denn das konfliktanfällige Szenario aus Rücksichtnahme gegenüber gesellschaftlichen Pflic hten, aus unterdrückter Leidenschaft und fortlaufender Entsagung führt am Ende in eine Situation der totalen Ausweglosigkeit. Nur Ottilie scheint das wirklich zu begreifen, und sie tut das einzige, was jetzt noch getan werden kann: sie hört einfach auf zu existieren.
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Gustave Flaubert Madame Bovary (1857) Dies ist kein Roman über die Liebe, sondern ein Roman über die Ehe. Und über die Langeweile. Der Roman handelt vom Leben in der Provinz und von der Mittelmäßigkeit des Ehe-Alltags. Und er handelt von Phantasie, dem Unglücklichsein und der Leidenschaft. Flauberts Roman zeigt, dass das Ideal der bürgerlichen Ehe keineswegs immer eine Garantie auf persönliches Glück bedeutete. Die Heldin des Romans ist Emma Bovary. Sie hat den herzensguten, aber trostlos faden Landarzt Charles Bovary geheiratet. Bereits in den ersten Tagen ihrer Ehe stellt sie fest, dass dies nicht das Leben ist, das sie sich vorgestellt hat. Emma hat eine Vorstellung vom Leben, die sich nicht mit dem spießbürgerlichen Alltag deckt, in den sie nun geraten ist. Ihre Ideen stammen aus den sentimentalen Liebesromanen, die sie als Klosterschülerin heimlich gelesen hat. Das sind Geschichten, in denen die Frauen ständig in Ohnmacht oder in die Arme umwerfender Männer sinken, in denen Schwüre im Mondlicht geflüstert werden, in denen tugendhafte Retter vor garstigen Burschen in finsteren Wäldern retten, in denen ständig wild herumgaloppiert wird und in denen die Damen heimlich fein zusammengefaltete Briefe erhalten. Die Geschichten entführen in fremde Welten und phantasievoll gestaltete Landschaften, die verschwommen an das Mittelalter und den Orient erinnern. Als sich Emma nach ihrer Hochzeit nicht auf der Terrasse einer italienischen Villa oder eines Schweizer Chalets in Gesellschaft eines beeindruckenden Ehemannes wiederfindet, sondern in einer bedeutungslosen Kleinstadt als Frau eines mittelmäßigen Landarztes, beginnt sie sich zu langweilen. Emma verbringt Woche um Woche damit, vor dem Kamin zu sitzen oder aus dem Fenster zu starren. Der Haushalt wird vom Dienstmädchen erledigt, die kleine Tochter kommt bei einer Amme unter, das Klavierspielen lohnt die Mühe nicht, weil ohnehin niemand zuhört. Statt an der Seite eines inspirierenden Ehemanns, verbringt sie - 89 -
die Abende an der Seite des langweiligen Charles Bovary. Er liebt Emma zwar abgöttisch, aber er kehrt abends erschöpft von seinen Visiten an den nach Eiter stinkenden Krankenbetten der Bauern zurück. Er bedenkt seine Frau mit routinierten Liebkosungen, wird allmählich fett, gewöhnt sich schlechte Tischmanieren an, vernachlässigt seine Kleidung und rollt sich nachts schnarchend im Bett weg. Flaubert schildert zum ersten Mal in der Literatur die Öde eines traditionellen bürgerlichen Ehe-Alltags, in dem die Rollenverteilung der Geschlechter dazu führt, dass der Mann seine Arbeit hat und die Frau Erwartungen. Charles geht Emma auf die Nerven. Sie verachtet seine berufliche Erfolglosigkeit, seine Geistlosigkeit und sein bäurisches Benehmen. Tatsächlich erscheint Charles Bovary auch in den Augen der Leser nicht gerade als Inbegriff eines Helden. Aber trotz seiner an Dummheit grenzenden Arglosig keit verachten wir ihn nie ganz so sehr, wie Emma das tut. Aus Langeweile beginnt Emma nun enorme Summen bei einem Modehändler auszugeben. Sie versucht, ihre Sehnsucht zu ersticken, und fährt mit dem Finger über einen Straßenplan von Paris. Schließlich wird sie depressiv. Der überforderte Charles weiß sich keinen besseren Rat, als einen Klimawechsel vorzunehmen und in ein anderes Nest zu ziehen. Dort, in Yonville, lernt Emma den jungen Notariatsangestellten Leon kennen. Emma verzehrt sich förmlich nach einem Ehebruch, aber sie begeht ihn nicht, noch nicht. Da erscheint der reiche Gutsbesitzer mit dem wundervoll klingenden Namen Rodolphe Boulanger de La Huchette auf der Bildfläche. Rodolphe verkörpert jene Welt des Luxus und der erotischen Genüsse, nach der Emma sich sehnt. Umso leichter ist es für ihn, Emma durch ein paar routiniert abgespulte Floskeln zu verfuhren. Die berühmte Verführungsszene findet auf einer Landwirtschaftsversammlung statt. Während die Honoratioren der Gegend ihre aufgeblähten Reden schwingen, erobert Rodolphe mit fachmännischer Verführungskunst Emmas Herz. Flaubert schildert diese Episode in kurzen, sich abwechselnden Abschnitten: In die Beschreibung der Verführung dringen immer wieder die Stimmen der Redner. Die Technik ist modern und uns inzwischen aus dem Medium des Films geläufig, wenn durch schnelle - 90 -
Cuts zum Ausdruck kommt, dass zwei Handlungen parallel ablaufen. Emma stürzt sich nun in die Affäre mit Rodolphe. All ihre Träumereien werden Wirklichkeit. Sie inszeniert sich als die Heldin der romantischen Liebesgeschichten, die sie gelesen hat. Aber dann nimmt die Affäre ein jähes Ende, als Emma (nach dem Vorbild der Romane) eine dramatische Flucht plant. Rodolphe ergreift nun kurzerhand die Flucht vor Emma und lässt sie sitzen. Bei einem Theaterbesuch in Rouen trifft Emma Leon wieder. Mit geradezu komisch wirkender Arglosigkeit schlägt Charles Bovary seiner Frau vor, noch einige Tage ohne ihn in der Stadt zu bleiben. Leon wird Emmas zweiter Liebhaber. Während Charles glaubt, Emma nehme Klavierstunden, trifft sie sich in Wirklichkeit mit Leon. Aber die Leidenschaft der beiden zueinander hält nicht an. Bald hat die Tristesse des Ehelebens sich auch im Ehebruch eingespielt. Eines Tages steht den Bovarys die Pfändung ins Haus. Emma konnte ihre Schulden beim Modehändler nicht bezahlen. Sie reagiert mit Panik. Selbstmord scheint der einzige Ausweg. Emma vergiftet sich mit Arsen. Der Moment ihres Todes ist ironischerweise Emmas größter Augenblick im Leben. Sterbend bittet sie um einen Handspiege l und betrachtet sich darin, weint einige Tränen, seufzt und sinkt ins Kissen zurück. Noch im Angesicht des Todes stilisiert sich Emma mit dem Gestus einer jener dahinsiechenden Heldinnen, deren sentimentale Schicksale ihr als Vorbild für das eigene Leben gedient hatten. Aber im nächsten Moment wird Emma von grauenvollen Schmerzen gepeinigt und krümmt sich im Todeskampf. Jetzt erfährt sie auf brutale Weise zum ersten Mal das Leben nicht mehr als Roman, sondern am eigenen Leib. Im 19. Jahrhundert war das Ideal der bürgerlichen Liebesehe fest in der europäischen Kultur verankert. Aber je größer die Erwartungen an das Glück in der Ehe, desto anfälliger wurde sie für Enttäuschungen, wenn sich der Alltag unvermeidbar als alles andere als romantisch entpuppte. Für Emma ist die Ehe mit Charles ein bitterer Realitätsschock. Dem versucht sie sich zu entziehen: erst, indem sie in die Welt der Romane flüchtet, und später, indem sie sich in Affären einläßt. Aber im 19. Jahrhundert ist es - anders als für die adeligen - 91 -
Oberschichten des Anden Regime - gesellschaftlich nicht mehr akzeptabel, Liebschaften zu haben. Für Frauen bedeutet das sogar ihre gesellschaftliche Ächtung als Ehebrecherinnen. Andererseits ist die Ehe auch im 19. Jahrhundert so wenig ein Ort für Leidenschaft, wie sie es im 17. Jahrhundert gewesen war. Es gibt jetzt für das reine Begehren praktisch überhaupt keinen Ort mehr weder passt es besonders gut in die Ehe, noch darf es außerhalb der Ehe gelebt werden. Der einzige Ort, an dem die Leidenschaft jetzt noch überleben kann, sind Romane: In den miserablen sentimentalen Geschichten, die Emma liest - und in Meisterwerken wie Madame Bovary, Effi Briest und Anna Karenina.
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Lev Tolstoi Anna Karenina (1875-1877) Anna Karenina ist die schönste Frau der Weltliteratur. Sie ist so wundervoll, dass es einem eigentlich die Sprache verschlägt. Anna Karenina ist jung, schön und klug. Sie fährt von St. Petersburg nach Moskau, wo ihr Bruder lebt, um in einer Blitzaktion dessen Ehe zu retten. Ihr Bruder hat seine Frau mit der Gouvernante betrogen. Anna spricht mit ihrer Schwägerin, spendet ihr Trost und sorgt für die Versöhnung der Eheleute. Als sich die Stimmung im Haushalt des Bruders wieder entspannt hat, wird es familiär. Anna begrüßt nun ihre kleinen Nichten und Neffen. Sie läuft ihnen mit ausgebreiteten Armen entgegen, bis alle ineinander krachen und vergnügt kreischend zu Boden purzeln. So lernen wir Anna Karenina kennen. Anna lebt ein zufriedenes, gesichertes Leben an der Seite ihres Mannes, des erfolgreichen Beamten Alexej Alexandrowitsch Karenin, den sie zwar nicht liebt, aber achtet. Sie hat einen achtjährigen Sohn, den sie vergöttert, und sie verkehrt in den besten Kreisen der Gesellschaft des eleganten St. Petersburg. Anna ist wach und warmherzig. Sie ist elegant und von schlichter Anmut, ohne jede Borniertheit und Arroganz. Ihre Offenheit ist weder naiv noch unbedarft, sondern umsichtig und aufrichtig. Sie sprüht vor Lebensfreude und Lebendigkeit. Anna hat ihren ersten Auftritt auf einem Bahnhof, als sie zu ihrem Bruder nach Moskau gereist ist und das Abteil des Erste-KlasseWagens verläßt. Und sie hat ihren letzten Auftritt auf einem Bahnhof, als sie ihre rote Reisetasche fortwirft, sich auf die Gleise kniet und von einem Güterzug mitgerissen wird. Anna Karenina ist, neben Emma Bovary, die berühmteste Ehebrecherin der modernen Literatur. Als sie in Moskau aus dem Zug steigt, begegnet sie dem Grafen Wronskij. Und mit dieser Begegnung verändert sich ihr ganzes Leben. Auf einem Ball trifft sie Wronskij wieder. Sie verliebt sich rettungslos, und sie entdeckt zum ersten Mal in ihrem Leben, was es bedeutet, Leidenschaft zu empfinden. - 93 -
Durch ihre Liebe zu Wronskij erstrahlt für Anna die Welt in neuem Glanz. Das alte Leben an der Seite ihres Mannes verblaßt zum Totenreich. Plötzlich sieht Anna ihren Mann mit ganz anderen Augen: Als er sie nach ihrer Heimreise von Moskau nach St. Petersburg vom Zug abholt, bemerkt sie angeekelt zum ersten Mal, wie groß seine Ohren sind, die von der Hutkrempe heruntergeknickt werden. Sogar das Wiedersehen mit ihrem Sohn, auf das sich Anna so gefreut hat, empfindet sie als enttäuschend, weil sie spürt, dass nichts in ihrem bisherigen Leben sie so sehr mit Leben erfüllt hat, wie ihre Liebe zu Wronskij. Anna begeht ihren Ehebruch nicht aus Langeweile, wie Emma Bovary, sondern - im Gegenteil - aus leidenschaftlicher Freude am Leben. Anna und Wronskij beginnen eine Affäre, von der bald die ganze vornehme Gesellschaft St. Petersburgs spricht - natürlich hinter vorgehaltener Hand. Die Sache ist für Anna ungleich gefährlicher. Denn für sie, die Frau, steht ihr Ruf auf dem Spiel - und das bedeutet: ihre ganze Existenz. Für Wronskij, den Mann, ist die Affäre eher eine Art Auszeichnung. Eine verheiratete Frau aus den höchsten Gesellschaftskreisen zum Ehebruch zu bewegen - das ist schon etwas. Wronskij ist aber kein routinierter Verführer wie Emma Bovarys Rodolphe. Er ist ein höflicher und freundlicher Mensch. Er hat weder besonders verwerfliche noch löbliche Eigenschaften. Im Grunde ist sein bedeutsamster Charakterzug, dass er Anna liebt. Annas Ehemann, Karenin, ahnt zwar lange, dass seine Frau ein Verhältnis hat, aber er glaubt mit der Unerschütterlic hkeit einer moralgefestigten Person, dass Ehebruch immer nur in den anderen Familien vorkommt. Als er von Annas Verhältnis erfährt, reagiert er mit Empörung, denkt mit Unbehagen an die Möglichkeit, sich mit Wronskij zu duellieren, und verwirft wegen des damit verbundenen Skandals die Idee einer Scheidung. Karenin versucht zu retten, was zu retten ist. Und das bedeutet: sich selbst - seinen Ruf, seine Ehre und seinen Platz in der Gesellschaft. Er verbietet Anna, Wronskij zu treffen, befiehlt ihr, sich anständig zu verhalten, und droht damit, ihr den Sohn wegzunehmen. Karenin ist ein unbeugsamer, pflichtversessener Mann, der hilflos reagiert, wenn er es mit Gefühlen zu tun bekommt. Anna verlässt ihren Mann. Und obwohl es ihr ungeheuer schwer - 94 -
fällt, verlässt sie auch ihren Sohn, um von nun an mit Wronskij zusammen zu leben. Sie gibt Ar ganzes Leben für ihre Liebe zu Wronskij. Während der Skandal an Wronskij abperlt, trifft Anna die ganze Wucht der Verachtung der Petersburger Gesellschaft. Sie wird von der vornehmen Welt geächtet. Keine anständige Frau kann es sich Jetzt leisten, mit ihr im selben Raum zu sein. Alles, was Anna geblieben ist, ist Wronskijs Liebe. Und mit Entsetzen bemerkt sie, wie sich Wronskijs Leidenschaft allmählich abkühlt. Anna wird eifersüchtig und überempfindlich; Wronskij reagiert gedankenlos. Das Verhältnis beider zueinander wird immer gereizter. Als Anna glaubt, sich von Wronskij trennen zu müssen, weil er sie nicht mehr liebt, wirft sie sich aus Verzweiflung über ihre demütigende Situation, und um Wronskij zu strafen, vor einen Güterzug. Doch noch in letzter Sekunde erfüllt Anna ihr Lebenswille. Als der riesige Waggon des Güterzuges sie schon erfaßt hat, wird Anna schlagartig klar, dass das, was sie gerade tut, im Grunde furchtbar absurd ist. Anna will wieder aufstehen. Aber da ist es zu spät. Anna und Wronskij verbindet die Leidenschaft. Eine Lie be, die in den Augen des Moralisten Tolstoj flüchtig, sinnlich und selbstsüchtig ist. Sie ist grandios, aber sie kann kein gutes Ende nehmen. Tolstoj stellt daher der Liebe zwischen Anna und Wronskij eine andere Liebesgeschichte gegenüber, die über lange Passagen die Handlung des Romans bestimmt. Das ist die Liebe zwischen dem integeren Gutsbesitzer Lewin und Kitty. Zwischen diesen beiden dominiert nicht die Leidenschaft, sondern Aufrichtigkeit, Zärtlichkeit, Verantwortung und die Fähigkeit, ein glückliches, erfülltes Familie nleben auf dem Lande zu fuhren. Lewins und Kittys Liebe beruht auf einer Seelenverwandtschaft, die so weit geht, dass beide die Gedanken des anderen lesen können, als verfügten sie über übersinnliche Kräfte. In der Verlobungsszene schreibt Lewin die Anfangsbuchstaben jedes Wortes eines schier endlosen Satzes auf eine Kreidetafel: A,s,m,a: D,k,n,s,b,d,n,o,n,d?. Kitty versteht und antwortet auf die gleiche Art. Natürlich ist es ganz unwahrscheinlich, dass so etwas wirklich funktioniert - nicht einmal unter Liebenden -, und man muss nicht erst SMS-Nachrichten verschicken, um zu wissen, dass das nicht gehen kann. Aber Tolstojs Idee besagt, dass wahre Liebe eine besondere Art der Verständigung - 95 -
ist. Lewin und Kitty sind das ideale Paar des Romans. Tolstoj lässt uns nicht im Zweifel darüber, wie hoch er diese Art der Liebe einschätzt: Als die beiden gerade frisch verheiratet sind, kommt Lewin einmal später nach Hause als angekündigt. Kitty hat sich entsetzliche Sorgen um ihn gemacht und empfängt ihn mit einem Ausbruch von Vorwürfen. In diesem Moment erkennt Lewin, was Liebe (in der Ehe) bedeutet: Kitty steht ihm nicht nur nahe, sondern er weiß jetzt selber nicht mehr, wo sie aufhört und er anfängt. Das ist nicht Leidenschaft, sondern unendliche Zuneigung. Anna Karenina ist, wie Madame Bovary, ein Liebesroman des 19. Jahrhunderts, der eigentlich ein Roman über die Ehe ist. Welchen Ort kann die Leidenschaft in der Gesellschaft bekommen, wenn die Liebe nun untrennbar mit Ehe verbunden ist, aber die Ehe vor allem Beständigkeit verlangt und nicht vergängliche Leidenschaft? Die Leidenschaft landet in den Grenzbereichen der Gesellschaft - und sie zieht jene Frauen, die sich zur Leidenschaft hinreißen lassen, mit sich mit: ins gesellschaftliche Niemandsland. Aber von dort holt sie die Literatur zurück und stellt sie - mit Romanen wie Anna Karenina - in den Mittelpunkt unserer Kultur.
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Theodor Fontane Effi Briest (1894/95) Die dritte berühmte Ehebrecherin der Literatur des 19. Jahrhunderts ist Effi Briest. Effi heiratet aus Naivität, und weil ihre Eltern es wünschen, den wesentlich älteren Baron von Instetten. Weil Instetten keine der romantischen Vorstellungen Effis befriedigen kann, beginnt sie eine Affäre mit dem Major von Crampas. Die Beziehung ist ohne große Leidenschaft, und als ihr Ehemann nach Berlin versetzt wird, ist Effi geradezu erleichtert, daß das Verhältnis damit ein Ende nimmt. Jahre später findet Instetten durch einen Zufall die Liebesbriefe, die Crampas an Effi geschrieben hat. Statt die Geschichte, die längst der Vergangenheit angehört, einfach zu vergessen, fühlt sich Instetten so tief in seiner Ehre verletzt, dass er Crampas zum Duell fordert. Crampas fällt bei der Begegnung. Instetten lässt sich von Effi scheiden und verbietet ihr, die gemeinsame Tochter zu sehen. Effi lebt nun das von der Gesellschaft ausgeschlossene, einsame und verachtete Leben der „Ehebrecherin“ - nicht einmal ihre Eltern erlauben ihr, sie zu besuchen. Erst als Effi, nach einem ernüchternden Wiedersehen mit ihrer Tochter, schwer erkrankt, nehmen ihre Eltern sie wieder bei sich auf. Wenige Monate später stirbt Effi. Fontane hatte die Anregung zu seinem Roman durch einen Ehebruchfall erhalten, von dem er in der Zeitung gelesen hatte. In Effi Briest enttarnte er die rigide Moral der preußischen Offiziersehre als unmenschlich und funktionslos: Das Tragische am Verlauf der Ereignisse ist, dass Instetten sich zu dem Duell aus reiner Konventionalität und eher widerwillig entschließt. Fontanes Roman hat auch ein geflügeltes Wort hinterlassen: Immer, wenn Effis Vater, »der alte Briest«, mit einer Situation konfrontiert wird, die ihm zu kompliziert erscheint, als dass er sie eindeutig beurteilen könnte, rettet er sich in die Bemerkung: »Das ist ein weites Feld«.
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Vladimir Nabokov Lolita (1955) Lolita - ein Liebesroman? Die Bezeichnung bleibt einem im Halse stecken, wenn man sich das Liebespaar des Romas näher ansieht: den 40jährigen Literaturwissenschaftler Humbert Humbert und sein Geliebte Lolita, zwölf Jahre. Lolita erzählt die Geschichte einer Perversion. Humbert liebt kindhafte Mädchen, bei denen die Pubertät gerade erst eingesetzt hat. Er erfindet eigens ein Wort für sie: nymphets (Nymphchen). Zu Beginn des Romans sitzt der Ich-Erzähler Humbert, des Mordes angeklagt, im Gefängnis. Er beginnt, die Geschichte seiner Obsession zu erzählen: Nach dem Zweiten Weltkrieg geht der aus Frankreich stammende Humbert nach Neuengland, Amerika. Auf der Zimmersuche macht er die Bekanntschaft der attraktiven, aber in seinen Augen gänzlich reizlosen, weil erwachsenen, Charlotte Haze. Sie bietet ihm ein noch viel reizloseres Zimmer an, und Humbert will sich angesichts derartiger Tristesse schon wieder aus dem Staube machen, als er im Garten Charlottes zwölfjährige Tochter Dolores sieht. Sie erinnert ihn an seine Kinderliebe. Humbert verliebt sich rettungslos in Dolores, die er Lolita tauft. Von nun an ist er Lolita verfallen. Er zieht bei Charlotte Haze ein und heiratet sie wenig später aus reinem Pragmatismus, nur um in Lolitas Nähe bleiben zu können. Nun dokumentiert Humbert in seinem Tagebuch wochenlang jeden Schritt, den Lolita tut. Er beschreibt die Erregungen und die Momente der Ekstase, die ihm jeder Anblick und jede scheinbar arglose oder zufällige Berührung verursachen. Charlotte entdeckt dieses Buch, aber bevor die Entdeckung irgendwelche Konsequenzen für Humbert haben kann, verunglückt Charlotte bei einem Autounfall. Humbert packt nun Lolita in sein Auto und beginnt eine monatelange Reise durch die Vereinigten Staaten. Tagsüber besichtigt das Paar, das so aussieht wie Vater und Tochter, am Weg liegende - 98 -
Sehenswürdigkeiten und lokale Kuriositäten. Sie klappern die gesamte Skala amerikanischer Landstraßenrestaurants ab und übernachten in Motels, deren pseudo-phantasievolle Namen kaum über ihre erbärmliche Durchschnittlichkeit hinwegtäuschen können. In der ersten Nacht - das Motel trägt den Namen The Enchanted Hunters schläft Humbert das erste Mal mit Lolita. Jeder Versuch, diese Episode nachzuerzählen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt , so widersprüchlich sind die Motive, aus denen sie besteht: Lolita verführt Humbert und Humbert vergewaltigt Lolita. Lolita, die ihre Unschuld kurz zuvor im Sommercamp bei ziemlich frühreifen Kinderspielen verloren hat, führt Humbert in aller Arglosigkeit in diese Welt des kindlichen Vergnügens ein, ohne zu ahnen, was der Geschlechtsverkehr in der Welt der Erwachsenen bedeutet. Humbert simuliert den Ahnungslosen, »zumindest solange ich es aushalten konnte«. Die Konstellation ist hochgradig paradox: Lolita ist die verführende Unschuld und das aktive Opfer; Humbert ist der passiv Manipulierende und der verführte Täter. Die Szene führt vor, dass in Nabokovs kompliziertem Roman überhaupt nichts eindeutig entschieden werden kann und dass eine moralische Beurteilung genauso sinnlos ist wie der Versuch, sich einem moralischen Urteil zu entziehen. Während Humbert auf der Reise durch die Bundesstaaten Nacht für Nacht Momente unsagbarer Glückseligkeit erlebt, begleitet ihn das Schluchzen Lolitas, die zu weinen beginnt, sobald sie glaubt, dass Humbert eingeschlafen ist. Nach einer Weile der Seßhaftigkeit in einer Collegestadt machen sich Humbert und Lolita erneut auf die Reise. Wenig später bemerkt Humbert, dass sie verfolgt werden. Der Verfolger ist der ältere Dramatiker Clare Quilty, mit dem Lolita seit einiger Zeit ein heimliches Verhältnis hat und mit dem sie eines Tages verschwindet. Humberts Versuche, die beiden zu finden, bleiben erfolglos. Drei Jahre nach ihrer letzten Begegnung erhält Humbert einen Brief von Lolita; sie ist verheiratet, schwanger und bittet Humbert um Geld, weil sie mit ihrem Ehemann, einem harmlosen Burschen, nach Alaska auswandern will. Humbert erfährt erst jetzt die Identität Quiltys und erschießt ihn. Er landet nun im Gefängnis, von wo aus die Handlung des Romans ausgegangen war. Man muss den Roman lesen, wenn man eine Vorstellung davon bekommen will, wie Lolita alles zugleich - 99 -
sein kann: romantisch, poetisch, erotisch, komisch, tragisch, beklemmend. Humberts „Lolita“ ist eine Fiktion. Das Mädc hen, das er liebt, gibt es in Wirklichkeit nicht. „Lolita“ ist ein stinknormales, wenngleich ziemlich hübsches, zwölfjähriges Mädchen namens Dolores, der die Schönheiten der Landschaft gestohlen bleiben können und dessen pubertärer, schlechter Geschmack Humbert auf die Nerven geht. Das Mädchen, das Humbert „Lolita“ getauft hat, existiert nur in seiner Phantasie. Es ist mit jenen Kunstfiguren von überirdischer Perfektion verwandt, die in der europäischen Literatur seit Jahrhunderten verehrt werden: mit den Kindfrauen wie Beatrice und Laura, für die Dante und Petrarca ihre wunderbare Literatur geschrieben haben. Im Reich des Fiktiven spielt sich deshalb die eigentliche Liebesgeschichte von Lolita ab. Lolita ist unterschwellig ein Roman über die Tradition der europäischen Literatur. Nabokov, Sohn russischer Aristokraten, der nach Amerika emigriert war und dort als Literaturprofessor an der Universität lehrte, spielt zwischen den Zeilen ständig auf große Autoren wie Poe, Flaubert, Proust und Joyce an. Auf dieser Ebene ist die eigentliche Liebesgeschichte angesiedelt, die in Lolita erzählt wird: Denn der Roman ist Nabokovs Liebeserklärung an die europäische Literatur.
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POLITIK Wenn in Shakespeares Königsdramen ein Herrscher zu schwach, alt oder sonst wie hinfällig wird, steht in der zweiten Reihe sofort jemand bereit, der die Macht an sich reißen will. Shakespeare fuhrt damit das Gesetz der Macht vor Augen: Macht bleibt nie lange herrenlos. Wenn die Krone vom Kopf des Herrschers gefallen ist, wird sie nicht lange am Boden liegen bleiben. Jemand wird kommen, um sie sich auf den Kopf zu setzen. Aber das Problem ist, dass er vie lleicht gar nicht das Recht hat, das zu tun. Macht braucht einen Ort, an dem sie sicher verwahrt wird. Im 16. und 17. Jahrhundert wechselt die Macht in Europa so schnell ihre Besitzer, dass niemand mehr weiß, wohin sie eigentlich gehört. Frankreich und England werden von Religionskriegen und Bürgerkriegen verwüstet. Das Chaos macht es erforderlich, die Macht zu zähmen. Man muss ihr einen Platz zuweisen, an dem sie dauerhaft bleibt. Dafür erfindet man den modernen Staat. Darunter versteht man dann eine Gemeinschaft, die das alleinige Recht hat, die Macht in ihren Besitz zu nehmen. Die moderne politische Theorie beginnt mit dem Italiener Niccolo Machiavelli. Machiavelli entwarf zwar noch keine Theorie von einem Staatswesen, aber er zeigte, was Politik eigentlich ist. Politik, sagte Machiavelli, heißt: Macht erhalten. Er schockierte mit dieser Erkenntnis seine Zeitgenossen, denn die erwarteten von einem Herrscher bestimmte „Tugenden“ wie Klugheit, Mut, Mäßigung. Machiavelli sagte nüchtern, auch ein kluger Herrscher kann gestürzt werden: Was zählt, ist die Fähigkeit, Macht zu erhalten. Machiavelli trennte Politik von Moral. Wie Machiavelli hatte auch der Engländer Thomas Hobbes die Erfahrung der totalen Anarchie im Bürgerkrieg gemacht. Sein Fazit war: je stärker die Herrschaft, desto besser. Hobbes schrieb die Theorie zum Absolutismus. In seinem berühmten Buch Leviathan erklärte er, dass es ein Gebot der Vernunft sei, wenn alle Untertanen ihre Rechte an den Herrscher übertragen. Was Hobbes' Theorie von den verwirklichten absolutistischen Staaten (Frankreich) unterscheidet, ist, dass sich die Untertanen per Vertrag auf diese - 101 -
Regierungsform einigen sollen. Bis dahin hatte man das Recht des Herrschers von Gott abgeleitet - und weil der Regent von Gott eingesetzt war, durfte man ihn auch nicht stürzen. Erst John Locke bringt die Idee der vertraglichen Einigung der Untertanen in eine Form, die bis heute nicht besser gedacht worden ist. Locke erfindet die moderne, verfassungsmäßige Demokratie. Lockes Leistung ist atemberaubend. Er verkündet die Menschenrechte und erfindet die Gewaltenteilung. Er ist der geistige Vater der ersten verwirklichten Demokratie der Welt: der Vereinigten Staaten von Amerika. Bei der Verkündung der demokratischen Grundrechte hat man Locke im Sinn, der erklärt hatte, jeder Mensch habe das Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum. Die Gründerväter sprachen von „life, liberty und pursuit of happiness“ und legten damit den Grundstein für eine einträchtige Allianz von Demokratie und Kapitalismus.
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Niccolo Machiavelli Der Fürst (1513) Es ist früher Morgen in Cesena, der italienischen Stadt in der Emilia-Romagna. Der Marktplatz liegt friedlich im Licht der warmen Morgensonne. Doch in seiner Mitte bietet sich den Einwohnern ein grässliches Schauspiel dar. Dort liegt der Körper des ehemaligen Statthalters Remirro de Orco. Daneben ein blutiges Messer. Man hat de Orco bei lebendigem Leibe in zwei Teile geteilt. Die Tat geschah auf Befehl des Herzogs der Romagna: Cesare Borgia. Borgia hatte de Orco zu seinem Statthalter ernannt, als das Herzogtum durch Aufstände der Bevölkerung so gut wie unbeherrschbar geworden war. In kürzester Zeit hatte de Orco Ruhe und Ordnung wiederhergestellt. Allerdings mußte er dabei so brutal vorgehen, dass er nun der ganzen Bevölkerung verhaßt war. Borgia erkannte, dass das Volk beginnen würde, auch ihn zu hassen, wenn er sich nicht von de Orco trennen würde. Und er statuierte ein Exempel: Er ließ de Orco aufs Grausamste und für alle sichtbar abschlachten. Das beeindruckte die Bevölkerung. Sie nahm de Orcos Tod mit einer Mischung aus Genugtuung und Ehrfurcht wahr und achtete Borgia nun umso mehr. Machiavelli erzählt diese Episode, um zu zeigen, was vorbildliches politisches Handeln ist. Borgia ist Machiavellis Musterexemplar eines Fürsten, der weiß, wie er seine Macht nicht verliert, sondern stärkt. Machiavellis Forderung nach kalter und erbarmungsloser Machtpolitik hat ihm einen denkbar schlechten Ruf eingebracht. Bis heute gilt Machiavelli mitunter als Synonym für den absoluten Nullpunkt der Moral. Mit seinem Namen verbindet man Kaltblütigkeit, Zynismus, Erbarmungslosigkeit und Rücksichtslosigkeit. In Amerika müssen die Kandidaten einer Eliteeinheit am Ende ihres einwöchigen Eignungstests - währenddessen sie durch Schlamm robbten, tagelang weder Schlaf noch Essen bekamen und die ganze Zeit Schikanen ausgesetzt waren - eine Art Besinnungsaufsatz über Machiavellis Der Fürst schreiben. Die Frage lautet: Welchen praktischen Nutzen kann ich aus der Lektüre für den nächsten Einsatz ziehen? Auf der Bühne - 103 -
des englischen Theaters zur Zeit Elisabeth I. galt „der Machiavellist“ als Inbegriff eines Schurken, dessen Bosheit nicht mehr übertroffen werden konnte. Aber man mißversteht Machiavelli, wenn man behauptet, er habe die Tyrannei und den Typ des ruchlosen Politikers verherrlicht. Allerdings muss man auch zugeben, dass Machiavellis politische Theorie vor allem eines ist: eiskalt. Politik, lautete Machiavellis Devise, hat mit Moral nichts zu tun. Ein guter Herrscher muss in der Lage sein, als schlechter Mensch zu handeln. Machiavellis Revolution des politischen Denkens basierte auf der Maxime, dass Staaten starke Herrscher brauchen, um den Frieden, die Sicherheit und das Wohl eines Landes zu garantieren. Diese Lehre hatte er aus jener Zeit gezogen, während der er als Politiker in der Regierung der Republik von Florenz den mächtigsten Personen Italiens begegnet war. Er hatte das Regieren aus nächster Nähe gesehen. In einer Phase ständiger politischer Unruhen fragte sich Machiavelli, wie politische Macht dauerhaft zu erhalten war. Und er sagte, dass alles politische Handeln dem Erwerb und Erhalt von Macht untergeordnet sein mußte. Und dafür sollte je des Mittel recht sein. Eine der ersten Lektionen, die ein Fürst zu lernen hatte, war, nicht gut zu sein, sofern es die Situation erforderte. Machiavellis pessimistischer Einschätzung zufolge war es weitaus häufiger notwendig, unmoralisch zu handeln, als moralisch. »Man muss nämlich einsehen«, schrieb Machiavelli zum Entsetzen seiner Zeitgenossen, »dass ein Fürst, zumal ein neu an die Macht gekommener, nicht all das befolgen kann, dessentwegen die Menschen für gut gehalten werden, da er oft gezwungen ist - um seine Herrschaft zu behaupten -, gegen die Treue, die Barmherzigkeit, die Menschlichkeit und die Religion zu verstoßen«. Anstelle der traditionellen Kardinaltugenden eines Regenten: Weisheit, Gerechtigkeit, Mut und Mäßigung, setzte Machiavelli die virtù seines Fürsten und meinte damit Pragmatismus, Kalkül und Realitätssinn. Ein Fürst solle sich nicht um seinen Ruf scheren: er könne es ohnehin nicht allen recht machen. Der einzige gute Ruf, den er zu verlieren habe, sei der desjenigen, der seine Macht zu erhalten weiß. Ein Fürst dürfe auch nicht wollen, dass man ihn liebt; wenngleich er ebenso - wie Cesare Borgia - auch verhindern müsste, dem blanken Haß seiner Untertanen ausgesetzt zu werden. - 104 -
Die wichtigste Eigenschaft des Fürsten bestand aber in der Kunst der Verstellung. Und in diesem Punkt sprengte Machiavelli die Grenzen des Zumutbaren. Denn wenn ein Fürst in der Lage sein mußte, skrupellos zu handeln, sofern es die Situation erforderte, so durfte man es ihm niemals ansehen. Er durfte ja nicht als böse oder verwerflich verschrien sein. Es war nicht gerade wünschenswert, dass der Fürst gute Eigenschaften verkörperte - aber es war ausgesprochen wichtig, dass er so tat, als täte er es. Das war der Abgrund des Bösen: Der Fürst sollte nicht nur lernen, unmoralisch zu handeln, er mußte seine Verworfenheit hinter der Maske der Milde, Freundlichkeit und des Anstands verbergen. Im berühmten 18. Kapitel von Der Fürst vergleicht Machiavelli den Herrscher mit einem Fuchs, der List anwendet, und mit einem Löwen, der Stärke zeigt. Stets mußte der Fürst all sein Handeln verschleiern: er sollte heucheln, lügen, betrügen und wortbrüchig sein können. Das klingt alles nicht besonders gut. Wir erwarten von einem Politiker andere Qualitäten. Aber wenn man Machiavellis Idee eines pragmatisch handelnden Politikers mal von all ihrem Zynismus befreit und aus dem Kontext der Renaissance-Gesellschaft löst, in der öffentliche Grausamkeit noch zum Alltagsleben gehörte, bleiben ein paar sehr moderne Gedanken übrig: Machiavelli sagte, dass ein Herrschender mit Selbstdistanz handeln muß. Es kann sein, dass man bestimmte Entscheidungen unter anderen Gesichtspunkten vielleicht gar nicht oder anders beschließen würde. Als Vater und als Freund würde man anders entscheiden, aber als Politiker muss man sich Kriterien unterordnen, die nichts mit persönlichen Vorlieben oder Abneigungen zu tun haben dürfen. Der Fürst ist der erste Versuch zu zeigen, dass im Bereich der Politik politische Entscheidungen getroffen werden. Was zählt, ist das, was Macht erhält. Das klassische Beispiel des ersten modernen Politikers in der Literatur, der diese Lektion gelernt hat, ist Prinz Heinrich in Shakespeares Historiendrama Heinrich IV. Eine berühmte Szene des Stücks ist jene am Ende des zweiten Teils, in der Prinz Heinrich seinen Freund und ehemaligen Saufkumpan Falstaff verleugnet, nachdem er als Thronfolger zum König gekrönt worden ist. Heinrich ist darin unbarmherzig, aber hochprofessionell. Der zukünftige König kann sich nicht leisten, den wüsten Falstaff zum Freund zu haben. Bei - 105 -
Machiavelli verschwindet das (Un-) Menschliche hinter dem Politischen. Das macht seine politische Theorie so eisig. Machiavelli tat etwas sehr wichtiges. Er zeigte, wie der Fürst mittels Tricks und Verstellung seine Untertanen beeindrucken konnte. Er führte vor, wie Macht funktioniert. Dann war es zwar immer noch nicht moralisch vertretbar, wenn der Fürst ein Heuchler war, aber man konnte es wenigstens wissen. Die Macht war durchsichtig geworden. Ungeachtet seiner Modernität (oder gerade deshalb?) haftet Machiavellis Namen in der europäischen Kultur etwas Unheimliches an. Im Zweiten Weltkrieg erklärten die Heerführer der amerikanischen und der deutschen Truppen das 400 Jahre alte Anwesen des Italieners als off limits und verboten ihren Truppen den Zutritt - keiner wollte dafür verantwortlich sein, dass das Gelände verwüstet wird. Als hätte man Angst, Machiavelli könne sein Grab verlassen und Rache nehmen.
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Thomas Hobbes Leviathan (1651) An einem nebligen Januarmorgen 1649 eilte der englische König Karl I. durch St. James Park. Er ging so schnell, dass seine Begleiter ihm kaum folgen konnten. Seine Begleiter - das war an diesem Morgen nicht der Hofstaat, sondern die Wachen des TowerGefängnisses. Der König war auf dem Weg zum Schafott. Das Beil, das des Königs Kopf von seinem Rumpf trennte, durchschnitt im selben Moment eine jahrhundertealte polit ische Tradition. Die Hinrichtung Karls I. demonstrierte ganz Europa, dass der Herrscher nicht länger durch Immunität geschützt war. Bis dahin hatte gegolten, dass dem König seine Machtbefugnis direkt von Gott erteilt worden war: Er war der Stellvertreter Gottes auf Erden und mußte sich nur vor Gott verantworten. Der Königsmord oder der Sturz des Königs waren das Werk des Teufels. Die widerrechtliche Aneignung des Throns kam einem Weltuntergang gleich. Shakespeares bluttriefende Historiendramen sind deshalb so grimmig, weil sie eine Phase der englischen Geschichte beschreiben, in der die göttliche Ordnung der Thronfolge gewaltsam durcheinander gebracht worden war. Aber Karls Hinrichtung war im Namen des Volkes rechtmäßig beschlossen worden. Zum ersten Mal in der Geschichte hatte man einen König vor ein Gericht gestellt. Dort hatte Karl noch eingewandt, man könne ihn gar nicht richten, weil kein König von seinen Untertanen gerichtet werden könne. Aber dann hatten 58 der 70 Richter ihre Unterschrift unter das Todesurteil gesetzt. Für die nächsten 13 Jahre war die Monarchie in England abgeschafft, und England wurde vom Parlament regiert. Währenddessen saß der englische Gelehrte Thomas Hobbes in seinem Exil in Paris und gab dort dem aus England geflohenen Sohn des Königs Mathematikunterricht. Vor allem aber dachte er über die bestmögliche Regierungsform nach und schrieb eines der wichtigsten und dunkelsten politischen Bücher der europäischen Literatur: - 107 -
Leviathan. Zum Zeitpunkt der Hinrichtung Karls I. hatte England einen blutigen Bürgerkrieg hinter sich. Sieben Jahre lang war unklar geblieben, wem im Land die Macht gehörte. Gewarnt durch die Erfahrung des Bürgerkriegs, erklärte Hobbes im Leviathan, dass ein Staat eine Autorität braucht, damit der Frieden und das Wohlergehen seiner Mitbürger garantiert sind. Hobbes dachte an einen allmächtigen Herrscher, der mit unumschränkter Machtbefugnis ausgestattet sein sollte - und legte damit das theoretische Fundament des Absolutismus. Sein Herrscher war ein sterblicher Gott. Aber er bezog seine schrankenlose Machtbefugnis nun nicht mehr direkt von Gott, sondern durch einen Vertrag, den seine Untertanen untereinander geschlossen haben. Der Name „Leviathan stammt“ ursprünglich von dem allmächtigen Seeungeheuer aus dem Alten Testament (Hiob, 41). Bei Hobbes bezeichnet Leviathan den Staat. Hobbes' politische Theorie basierte auf einer Grundannahme, die uns noch heute ebenso deprimiert wie Hobbes' Zeitgenossen vor 350 Jahren. Für Hobbes ist der Mensch nicht Geist, sondern ein Automat. Hobbes' Mensch ist nichts anderes als eine Maschine. Diese Maschine wird durch den Trieb zur Selbsterhaltung in Bewegung bzw. am Leben erhalten. Bei Hobbes strebt der Mensch nicht nach Höherem, nach dem Guten oder nach Gott. Die Bewegungen des Automaten (Menschen) dienen nur dazu, den Automaten (Menschen) zu bewegen. Der Mensch ist von Natur aus ein triebhaftes Wesen ohne freien Willen. Weil ihn nichts anderes interessiert als seine Selbsterhaltung, ist er stets auf seinen eigenen Vorteil bedacht und jederzeit bereit, sich um knappe Güter zu prügeln. Im schlimmsten vorstellbaren Fall, dem Naturzustand, wäre das Leben der Menschen ein Krieg aller gegen alle. Dann wäre das Leben ein Kampf: einsam, armselig, roh, tierisch und kurz. Aber die Menschen entkommen diesem Elend, wenn sie sich vernünftigerweise zu einer Gemeinschaft zusammenschließen und einen Staat gründen. Um ein sicheres und friedliches Leben führen zu können, schließen sie einen Gesellschaftsvertrag. Darin übertragen sie all ihre Rechte und Machtansprüche auf eine einzige Instanz, den sterblichen Gott Leviathan. Die Bedingung ist, dass alle Untertanen - 108 -
ausnahmslos einwilligen, sich der Autorität des Leviathan zu unterwerfen. Mit der Staatsgründung geben alle Untertanen ihren eigenen Willen an den Herrscher ab. Von diesem Moment an haben sie keine Rechte mehr. Sie sind dem Leviathan zu absolutem Gehorsam verpflichtet. Die Macht des Herrschers ist unbegrenzt. Ein ziemlich unheimlicher Gedanke ist Hobbes' Vorstellung, dass sich zwar die Untertanen ve rtraglich verpflichten, sich alle ausnahmslos dem Herrscher unterzuordnen, aber dass der Herrscher selbst gegenüber seinen Untertanen durch keinen Vertrag gebunden ist. Hobbes' Argumentation in diesem Punkt ist ebenso einfallsreich wie beunruhigend, denn wenn der Souverän an keinen Vertrag gebunden ist, kann er auch keinen Vertrag brechen. Hobbes stellt sich den Staat als gigantischen künstlichen Menschen vor. Das Kupfer der Erstausgabe zeigt den Leviathan daher als einen gekrönten Riesen mit Zepter und Schwert, der am Horizont einer Spielzeuglandschaft aufragt und dessen Körper aus unzähligen kleinen Menschen besteht. Diese Vorstellung eines Staatskörpers war konventionell: Seit der Antike hatte man das Staatswesen mit dem menschlichen Körper verglichen. Bis ins 17.Jahrhundert war es üblich, die Organe und die Funktionen eines Staatswesens mit denen des Menschen parallel zu setzen. Im Leviathan entspricht die Souveränität des Herrschers der Seele, Recht und Gesetz dem Willen, die Strafen und Belohnungen den Nerven und Sehnen, die Berater dem Gedächtnis, die Spione und Gesandte den Augen und Ohren, die Polizei den Händen, die gesetzlichen Vereinigungen den Muskeln, die Zirkulation des Blutes dem Blutkreislauf, der Reichtum entspricht der Stärke, die Wirtschaft der Ernährung, die Steuern der Nahrungsaufnahme, die Gesetzgebung dem Denken, die Kolonien der Nachkommenschaft und der Bürgerkrieg dem Tod. Wir können die Körpermetaphorik noch im heutigen Sprachgebrauch wiederfinden, wenn wir sagen: Alle Mitglieder des Staats-Körpers gehorchen ihrem Oberhaupt. Hobbes löste auf allen Seiten der politischen und religiösen Lager blankes Entsetzen aus: Den Anhängern des Parlaments behagte die Idee eines absoluten Herrschers nicht; den Monarchisten war der Gedanke eines Gesellschaftsvertrages ein Dorn im Auge, die Kirche erzürnte Hobbes' Vorstellung vom Menschen als Tier, und sie - 109 -
verschrie ihn als Atheisten, und den Puritanern mißfiel sein Mangel an Sinn für öffentliche Moral. Als 1665 eine große Pestepidemie in London ausbrach und als ein Jahr später die Stadt in einer gigantischen Feuersbrunst dem Erdboden gleichgemacht wurde, neigte man dazu, die Katastrophen Hobbes in die Schuhe zu schieben. Sie seien das Gericht Gottes für diese lästerliche Schrift: Leviathan.
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John Locke Zweite Abhandlung über die Regierung (1689) Locke zu lesen ist so, als träfe man nach einer langen Wanderung, während der einem lauter interessante, aber irgendwie merkwürdige Menschen begegnet sind, endlich wieder auf ein vertrautes Gesicht. Locke steht für den Common sense der Engländer (den gesunden Menschenverstand) und für den Gebrauch der Vernunft im Geiste der Aufklärung. Er ist der Vater des modernen liberalen, demokratischen Staates. Er ist der Pionier der Menschenrechte, der Meinungsfreiheit und der Toleranz. Mit Locke reißen die dunklen Wolken, die sich über Machiavelli und Hobbes zusammengebraut haben, mit einem Mal auf, der Himmel wird klar und die Sonne kommt zum Vorschein. John Locke, Sohn eines Anwalts, erhielt eine klassischen Ausbildung und studierte in Oxford. Weil ihn das übliche Programm aus Rhetorik, Griechisch, Moralphilosophie, Geometrie und Grammatik langweilte, belegte er nebenbei noch Medizin und Naturwissenschaft. 1666 hatte der 35jährige eine einschneidende Begegnung mit dem bedeutenden Staatsmann und Mitglied des englischen Hochadels: dem scharfsinnigen, liberal denkenden Lord Anthony Ashley Cooper. (Er trug den Titel „Erster Graf von Shaftesbury“). Shaftesbury bekleidete ein wichtiges Amt am Hof des englischen Königs Karl II. (Das war jener, dem Hobbes in Paris Mathematikunterricht gegeben hatte. Er war 1660 auf den englischen Thron gekommen.) Shaftesbury war der Anführer der Partei der Whigs. Die Whigs waren das liberale, republikanische Lager des Landes - im Unterschied zu den königstreuen Tories, die für den Absolutismus eintraten und das göttliche Recht der Könige verteidigten. Shaftesbury und Locke stellten fest, dass sie dieselben politischen Überzeugungen teilten: Beide waren für die konstitutionelle Monarchie, die Staatsmacht des Parlaments, für religiöse Toleranz und Meinungsfreiheit. Über Shaftesbury lernte Locke die Bedeutung der - 111 -
wirtschaftlichen Rolle Englands in den Kolonien kennen. Locke wurde Shaftesburys Leibarzt, und er rettete seinem adeligen Freund durch einen denkwürdigen operativen Eingriff an der Leber das Leben. Locke zog im Londoner Haushalt Shaftesburys ein. Damit hatte er das politische und intellektuelle Zentrum Englands betreten. Die Freundschaft zwischen dem schillernden Politiker Shaftesbury und seinem gelehrten Berater Locke wurde in einer Zeit geschlossen, in der England dramatische politische Umwälzungen bevorstanden. 1681 wurde Shaftesbury des Hochverrats angeklagt und kam in den Tower. Das Gericht sprach ihn zwar frei, aber Shaftesburys Leben war in England nicht mehr sicher. Er ging nach Holland ins Exil, und John Locke folgte ihm. In Holland schrieb Locke zwei der wichtigsten Bücher der europäischen Aufklärung: den Versuch über den Menschlichen Verstand (An Essay concerning Human Understanding) und die Zwei Abhandlungen über die Regierung (Two Treatises on Government). von den Zwei Abhandlungen (oder Traktaten) hat die zweite Geschichte gemacht. In ihr legte Locke das Fundament des modernen Verfassungsstaates. In der ersten Abhandlung widerlegt Locke die These der Rechtmäßigkeit des Gottesgnadentums und des Absolutismus. In der zweiten führte Locke seine eigene politische Theorie aus. Locke vertritt darin die folgenden Positionen: 1.Alle Menschen sind von Natur aus frei und gleich und haben deshalb denselben politischen Status - auch wenn sie sich hinsichtlich ihrer sozialen Position und ihres Besitzes unterscheiden. (Locke verkündet die Freiheit und Gleichheit aller Menschen.) 2. Jeder Mensch hat das Recht auf seine Freiheit, sein Leben und sein Eigentum. Er muß dieses Recht auch bei anderen Menschen respektieren. (Locke formuliert die Idee der Menschenrechte.) 3. Menschen schließen sich zu einer Gemeinschaft zusammen, die dann über ihre Regierung bestimmt. (Locke unterscheidet zwischen Gesellschaft und Staat.) 4. Eine Regierung ist nur dann rechtmäßig, wenn ihr die Mehrheit zugestimmt hat. (Locke ebnet der verfassungsmäßigen Demokratie den Weg.) 5. Die Gewalt des Staates teilt sich in Legislative und Exekutive. - 112 -
(Locke fordert die Gewaltenteilung.) 6. Die Legislative hegt in letzter Instanz immer beim Volk. (Locke ist der Vorkämpfer der Volkssouveränität.) 7. Die Bürger haben das Recht, sich der Regierung zu widersetzten, wenn sie ihre Macht mißbraucht. (Locke legitimiert die Revolution.) 8. Die politische Debatte wird öffentlich geführt und jeder kann sich daran beteiligen. Deshalb muß Meinungsfreiheit herrschen. (Locke fordert die politische Öffentlichkeit und den konstruktiven Streit zwischen zwei [oder mehr] Parteien.) 9. Staat und Kirche werden getrennt. Es herrscht religiöse Toleranz. (Locke erklärt, das Gewissen sei Privatsache und gehe den Staat nichts an.) Locke beginnt, wie Hobbes, mit dem Naturzustand. Aber während sich Hobbes' Menschen im Naturzustand gegenseitig bekriegen, sind sie bei Locke kluge und tolerante Wesen. In Lockes Naturzustand herrscht nicht nur Freiheit und Gleichheit, sondern jeder hat auch das Recht auf persönliches Eigentum. Das Recht auf Privateigentum steht bei Locke sogar an ganz zentraler Stelle. Wenn man seines Eigentums beraubt wird, ist das genauso, als würde man seiner Freiheit beraubt. Das klingt nach einem Bekenntnis aus dem Munde von Kaufleuten und Geschäftsmännern. Lockes politische Theorie ist daher der bürgerlichen Gesellschaft wie auf den Leib geschrieben. Die Gemeinschaft entscheidet durch den Beschluss der Mehrheit darüber, welche Regierungsform sie wünscht. Das kann eine konstitutionelle Monarchie sein oder eine Demokratie. Lockes Ideal ist eine liberale, konstitutionelle Monarchie. In jedem Fall ist die Entscheidung dazu aber ein demokratischer Akt, denn sie wird von der Mehrheit getroffen. Jetzt ist der Staat gegründet. Gemeinschaft und Regierung sin d vertraglich gebunden. Die Regierung ist verpflichtet, die Rechte der Bürger zu vertreten, die Bürger sind verpflichtet, sich an die Gesetze zu halten. In einer Zeit, in der de facto der Großteil der Bevölkerung noch nie eine politische Entscheidung getroffen hatte, erfindet Locke die Bezeichnung des »stillschweigenden Einverständnisses« (tacit consent), um zu erklären, dass es zu Mehrheitsentscheidungen kommen kann, ohne dass die Mehrheit aktiv wählt. (Die wahlberechtigte Bevölkerung - das - 113 -
konnten nur volljährige Männer mit Eigentum sein. Alles andere war im 17. Jahrhundert noch undenkbar.) Als nächstes wendet sich Locke der Frage zu, wie die Gewalt im Staat verteilt werden soll. Dabei begründet er seine berühmte Lehre von der Gewaltenteilung in Legislative und Exekutive. Die Legislative (gesetzgebende Gewalt) ist die höchste Gewalt des Staates, denn sie erläßt die Gesetze und lenkt damit den Staat. Die Mitglieder der Legislative (Parlament) sind die Repräsentanten der Bürger. Sie vertreten den Willen des Volkes. Locke hält es aber für zu gefährlich, dass dieselben Personen die Gesetze vollstrecken, die sie erlassen. Es könnte dann leicht passieren, dass sie sich selbst nicht an die Gesetze halten, die sie erlassen haben. Deshalb benötigt der Staat eine zweite Instanz, die für die Einha ltung der Gesetze zuständig ist: das ist die Exekutive (König und Minister). (Der Franzose Montesquieu bringt 1748 in seinem Werk De l'Esprit des Lois zusätzlich die dritte Gewalt, die Judikative, ins Spiel.) Am Ende der Zweiten Abhandlung begründet Locke das Recht zum Widerstand und zur Revolution. Die Bürger haben ihre Souveränität an eine Versammlung (Legislative) abgetreten, im Vertrauen darauf, dass diese ihre Interessen verfolgt. Wird dieses Vertrauen aber missbraucht, hat das Volk das Recht, eine neue Legislative zu errichten. Das Volk gibt also zu keiner Zeit seine Souveränität ganz auf. Diese Volkssouveränität stattet das Volk im Notfall mit dem Recht aus, die Regierung aufzulösen, notfalls auch mit Gewalt, also durch eine Revolution. Lockes Zwei Abhandlungen sind ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie sich Theorien und Wirklichkeit wechselseitig beeinflussen. 1688 verwandelte die Glorreiche Revolution England in einem friedlichen Streich in eine konstitutionelle Monarchie: Führende Persönlichkeiten (darunter auch Locke) hatten Wilhelm von Oranien, den Schwiegersohn des regierenden Königs Jakob II., zu Hilfe gerufen, um den Thron zu übernehmen. Wilhelm segelte von Holland mit seiner Flotte über den Ärmelkanal, landete unbehelligt an der Südküste und zog in London ein, worauf Jakob die Flucht ergriff, doch nicht ohne vorher das Symbol der Legitimität des Königs, das „Große Siegel“, in die Themse zu werfen. Vermutlich hatte Jakob damit beabsichtigt, seinem Nachfolger keine Chance zu geben, - 114 -
rechtmäßig zu handeln. Aber als das königliche Siegel in den Fluten versank, war das wie ein Zeichen für einen kompletten politischen Neustart in Europa. England wurde die erste konstitutionelle Monarchie der Welt. Das Recht des Königs leitete sich von nun an von einem Vertrag ab (von einer Konstitution, d.h. einer Verfassung). Der Vertrag verpflichtete den Herrscher und die Untertanen gleichermaßen zur Einhaltung. Der Vertrag sicherte dem frei gewählten Parlament das Recht der Legislative (Gesetzgebung), während die Exekutive beim König lag; er garantierte Rede- bzw. Pressefreiheit und religiöse Toleranz. Als 1776 die amerikanische Unabhängigkeitserklärung verfasst wurde, und damit der entscheidende Schritt zur Gründung der ersten modernen Demokratie der Welt getan war, hatte man einige Formulierungen fast wörtlich von Locke übernommen. Locke kehrte aus dem Exil nach England zurück. Am Ende seines Lebens war er ein berühmter Mann. Sein Name stand für Liberalität, Toleranz und bürgerliche Freiheit. Er sei der »größte Mann dieser Welt«, sagte eine seiner weiblichen Bekannten aus dem Hochadel. Kein aufgeklärter Europäer des 18. Jahrhunderts hätte ihr widersprochen.
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Jean-Jacques Rousseau Der Gesellschaftsvertrag (1762) Ganz Europa war im 18. Jahrhundert vom Rousseau-Fieber gepackt: man errichtete Rousseau-Denkmäler, feierte Rousseau-Feste und dichtete Rousseau-Hymnen. Sogar die französische Königin, Marie Antoinette, entdeckte das Leben im Einklang mit der Natur und inszenierte sich als nährende Mutter. Das geschah in einer Zeit, in der normalerweise keine Frau der gehobenen Kreise auf die Idee gekommen wäre, ihren Kindern die Brust zu geben. Erst Rousseau machte das Stillen gesellschaftlich akzeptabel. Daher hatte die französische Königin den reizenden Einfall, ihren Gästen im Park von Versailles Milch aus Porzellantassen zu servieren, die der Form ihrer Brüste nachgebildet waren. Von derart rousseauistischem Geist beseelt, pilgerte sie auch an das Grab des berühmten Bürgers aus Genf. Wahrscheinlic h hätte sie das gelassen, wäre ihr damals schon klar gewesen, dass man ihr, viele Jahre später, den Kopf abschlagen würde - und dass ihre Richter dabei ebenfalls von rousseauistischem Gedankengut inspiriert sein würden. Rousseau ist zum einen der Entdecker des Gefühls und des Lebens im Einklang mit der Natur. Zum anderen ist er einer der Väter der Demokratie. Seine politische Schrift Der Gesellschaftsvertrag (Contrat Sodal) wurde zum Glaubensbekenntnis der Anführer der Französischen Revolution. Rousseau, der nicht mehr lebte, als die Französische Revolution ausbrach, hat nie zur Revolte angestiftet - eine Revolution war für ihn etwas, was man besser vermeiden sollte. Aber die Schlagwörter wie Freiheit, Gleichheit und Gemeinwille (volonte generale) hatten die Revolutionäre bei Rousseau gelesen. In gewisser Weise war Rousseau der unfreiwillige Chefideologe der Französischen Revolution. »Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.« Das ist Rousseau von seiner beeindruckendsten Seite. So lauten die ersten Worte des berühmten Contrat Sodal. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts haben sie sich Revolutionäre immer wieder gern auf ihre - 116 -
Banner geschrieben. Sie sind der Fanfarenstoß, der den Beginn der Französischen Revolution ankündigt. Das Spektakel beginnt im Garten des Palais Royal: Ein Einwohner von Paris malt den Zuhörern in schillernden Farben eine neue Zukunft aus. Die Rede ist von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit (liberté, egalité, fraternité). Davon, dass die Zeiten der Königsherrschaft in Europa sich dem Ende nähern und dass das Volk den Staat bald selbst führen wird. Der Redner hat bestimmt Rousseau gelesen. Plötzlich hält er ein Paar Pistolen in den Händen. Er schießt in die Luft und ruft: »Zu den Waffen!« Die Pariser Bevölkerung strömt zusammen und stürmt die Bastille - das Gefängnis für politische Gefangene und das Symbol der politischen Unfreiheit. Es ist der 14. Juli 1789. Die Revolution hat begonnen. (Angeblich hatte noch vierzehn Tage zuvor der in der Bastille inhaftierte Marquis de Sade aus seinem Fenster herausgebrüllt, die Gefangenen würden erwürgt und man solle sie befreien.) - Fünf Jahre später: Zum zweiten Mal in der Geschichte Europas richtet das Volk seinen König hin. Ludwig XVI. ist tot. Hoch lebe der „neue Mensch“ der Republik. Dieser neue Mensch ist Bürger. Er ist Souverän und Untertan in einer Person. Die Gewalt gehört dem Volk. Es herrschen Freiheit und Gleichheit. Das Gesetz ist Ausdruck des kollektiven Willens (volonte generale). Diese Ideen stammen aus Rousseaus Gesellschaftsvertrag. Wie seine beiden Vorgänger Hobbes und Locke, beginnt auch Rousseau seine politische Theorie mit dem Naturzustand. Aber Rousseaus Vorstellung vom Menschen ist nun weder die eines Tieres, wie bei Hobbes, noch die eines vernünftigen Wesen, wie bei Locke, sondern die eines moralischen Geschöpfs: „Der Mensch ist von Natur aus gut“ - lautet die entsprechende Formel dafür, die Rousseau in diesem Wortlaut übrigens nie geäußert hat. Der gute Mensch ist aufrichtig, mitleidig, empfindsam, naiv. Er wird durch sein Gefühl geleitet. Rousseaus Ideal ist der Wilde, den die Zivilisation noch nicht verdorben hat. Denn die Gesellschaft korrumpiert den Menschen. Sie zwingt ihn, lauter schlechte Eigenschaften zu kultivieren: Heuchelei, Konkurrenz, Neid und Mißgunst. Das Grundmuster dieses Arguments hat Rousseau dem Christentum entliehen: Die Natur ist das verlorene Paradies, in dem die Menschen in Unschuld leben; ihre - 117 -
Vergesellschaftung ist der Sündenfall, der sie böse machte. Doch anstelle von Gebeten, die das Christentum dem sündigen Menschen verschreibt, empfiehlt Rousseau eine anständige naturnahe Erziehung (Emile) und die Einrichtung einer Republik. Die beiden Säulen der Republik sind die Souveränität des Volkes und die Gründung des Rechts auf dem Gemeinwillen (volonte generale). Am Anfang der Staatsbildung steht auch bei Rousseau (wie bei Hobbes und Locke) der Gesellschaftsvertrag. Der Einzelne gibt darin seine Güter, seine Person, sein Leben und seine Macht in die Hände der Gemeinschaft. Er gibt damit seine Freiheit und Souveränität aber nicht auf (so wie die Untertanen in Hobbes' Leviathan) .Vielmehr findet er seine Freiheit und seine Rechte in der Gemeinschaft in einer besseren Qualität wieder. Der Einzelne gibt mit anderen Worten alle seine Privatinteressen auf, aber er findet sich dafür in der Gemeinschaft aufgehoben. Er ist in einer Person der Souverän, der die Gesetze macht, und der Untertan, der ihnen gehorcht. Bis zu diesem Punkt kann man in Rousseau den Vertreter freiheitlicher und demokratischer Überzeugungen sehen: Er tritt dafür ein, dass der Einzelne seine Interessen am besten in einer Gemeinschaft vertreten sieht, die er selber repräsentiert. Aber Rousseaus politische Theorie hat noch eine ganz andere Seite, die alles andere als demokratisch ist. Das Herzstück der rousseauschen Theorie ist die volonte generale: der kollektive Wille der Gemeinschaft. Dieser Gemeinwille ist eine ausgesprochen komplizierte Angelegenheit, und er hat dafür gesorgt, dass man Rousseau nicht nur als Vater des liberalen Staates sieht, sondern - ganz im Gegenteil - auch als den der Diktatur des Volkes. Der Gemeinwille ist eine eigenständige Macht, der Wille des Volkes. Er ist aber nicht dasselbe wie der Wille der Mehrheit. Für Rousseau gibt es keine Abgeordneten, keine Parteien und keine Opposition. An die Stelle einer streitbaren Parteienlandschaft (wie Locke sie vorschlägt) tritt diese Idee eines rätselhaften Kollektivwillens, der immer weiß, was gut für alle ist. Es liegt auf der Hand, dass dies zu Problemen führt. Was passie rt, wenn ein Bürger vom Gemeinwillen abweicht? Er muß sich zum Wohle des Staates und zum Wohle seiner eigenen Person dem Gemeinwillen unterwerfen. Zur Not kann er dazu auch einfach - 118 -
gezwungen werden. Denn, so schreibt Rousseau: »Das bedeutet dann nichts anderes, als dass er gezwungen wird, frei zu sein«. Rousseaus Idee einer großen Gemeinschaft, in der sich alle einig sind, ist im harmlosesten Fall eine Utopie kollektiver Glückseligkeit. Im schlimmsten Fall ist es ein totalitärer Staat, in dem gemäß der Maxime „die Partei hat immer recht“ entschieden wird, was gut ist und was nicht. Der erste Versuch, Rousseaus Idee des Gemeinwillens in die Tat umzusetzen, ging entsetzlich schief. Robespierre, der Führer der Jakobiner in der Französischen Revolution, war Rousseau-Anhänger. Berühmt-berüchtig sind seine „Revolutionsfeste“ - gigantische Spektakel, die die volonte generale in Szene setzten. Inmitten einer künstlichen Landschaft aus Hügeln, Felsen, Grotten und Bäumen gab es Darbietungen mit Jubelchören, Weihrauch und Blumenkindern zu Ehren der Republik. Zum »Fest des höchsten Wesens und der Natur« im Juni 1794 erschien Robespierre rustikal gewandet in einem kornblumenblauen Rock und mit einem Ährenstrauß in der Hand. Weniger harmlos als diese absurden Schauspiele war allerdings Robespierres Diktatur der Tugend, die fast den gesamten französischen Adel und jede Person, die in den leisesten Verdacht der Opposition geriet, den Kopf auf der Guillotine kostete. Man sieht es ihm nicht an, aber die volonte generale enthält im Kern den Geist eines totalitären Regimes. Mit etwas Argumentationsgeschick lässt sich mit ihm die Wahnvorstellung legitimieren, der Führer oder die Partei verkörpere den Willen des ganzen Volkes - sei es Robespierre, Stalin oder Hitler. Rousseaus Vorstellungen von Agrarromantik, Gefühlsseligkeit und kollektivem Willen sind daher nicht nur harmlos. Rousseau, um das ganz klar zu machen, war kein Befürworter totalitärer Regime. Aber seine Idee der volonte generale ist eine so problematische Konstruktion, dass Rousseau mit vollkommen unvereinbaren Seiten in Verbindung gebracht werden kann: mit plebiszitären Diktaturen ebenso wie mit der Freiheit und der Souveränität des Volkes.
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Alexis de Tocqueville Über die Demokratie in Amerika (1835 und 1840) Der große Theoretiker der Massendemokratie, Alexis de Tocqueville, stammte aus dem französischen Hochadel. Der größte Teil seiner Familie hatte während der Terrorherrschaft Robespierres das Leben auf der Guillotine lassen müssen. Tocquevilles Vater und Mutter gehörten zu jenen Zigtausenden von Gefangenen, die monatelang, Tag für Tag, damit rechnen mussten, ihre Namen zu hören, wenn sich die Tür des Gefängnisses öffnete und der Gerichtsdiener die Liste der Verurteilten vorlas. Für Tocquevilles Vater war das Todesurteil bereits unterschrieben, als Robespierre gestürzt und damit der Schreckensherrschaft (La grande Terreur) ein Ende gemacht wurde. Als Alexis de Tocqueville zur Welt kam, waren seit dem Ende der Herrschaft Robespierres elf Jahre vergangen, und an der Spitze Frankreichs stand Napoleon Bonaparte. Alexis wuchs mit allen Privilegien eines jungen Aristokraten auf dem Stammsitz der Familie auf. Aber das grausige Kapitel der französischen Geschichte, in dem der Großteil der Familie de Tocqueville sein Leben gelassen hatte, war ihm stets vor Augen, wenn er die schneeweißen Haare seines jungen Vaters sah. Man erzählte ihm, dass sein Vater seine weißen Haare bereits mit 22 Jahren bekommen hatte. Alexis de Tocqueville wurde Richter, aber seine wahren Ambitionen lagen auf dem Gebiet der Politik. Zusammen mit seinem Freund Gustave de Beaumont beschloss der 25jährige Tocqueville, zum Experten der amerikanischen Demokratie zu werden und in die Vereinigten Staaten zu reisen - das waren im Jahre 1831 die 25 östlichen Staaten, die an den noch unerschlossenen „Wilden Westen“ grenzten. Die beiden Freunde beschafften sich mit einiger Mühe einen amtlichen Grund für ihre Reise: Offiziell waren sie als Inspektoren des modernen amerikanischen Gefängniswesens unterwegs, von dem Frankreich möglicherweise lernen konnte. Zehn Monate lang reisten - 120 -
die beiden französischen Aristokraten durch die Neue Welt: von New York bis zu den nördlichen Seen und dann hinunter in den Süden bis nach New Orleans. Sie legten dabei 12.000 Kilometer zurück, sprachen mit Politikern, darunter auch mit dem ehemaligen Präsidenten John Quincy Adams, trafen einflußreiche Leute und einfache Pioniere, durchquerten in Begleitung eines Indianers die Wildnis, erlebten einen Schiffbruch auf dem vereisten Ohio, sahen die Sklaverei in den Südstaaten und inspizierten pro forma auch einige Gefängnisse. Vor allem aber notierten sie sich alle Eindrücke und Informationen, die sie über diese demokratische Gesellschaft gewinnen konnten. Das, was Tocqueville jetzt zu sehen bekommt, ist zunächst vollkommen verwirrend: in Amerika sind alle gleich und alle unterschiedlich. Hier findet Tocqueville eine Gesellschaft ohne Tradition, ohne Geschichte, ohne Aristokratie. Die ganze amerikanische Gesellschaft scheint aus der Mittelklasse zu bestehen natürlich gibt es immer noch Arme und Reiche, aber sie spielen im Gesamtbild der amerikanischen Gesellschaft nur eine Rolle am Rande. Selbst die Regierung liegt in den Händen mittelmäßiger Begabungen, denn Eliten nutzen ihre Fähigkeiten auf anderen Gebieten. Insgesamt gibt es in allen Bereichen der Gesellschaft wenig Herausragendes. Aber gleichzeitig herrscht ein ausgeprägter Individ ualismus: Der einzelne lebt unabhängig und ohne soziale Bindungen und ist in seinen Entscheidungen vor allem sich selbst verpflichtet - im Unterschied zum Europa des 19. Jahrhunderts, in dem die Familienherkunft noch immer den Großteil des Lebens bestimmt. Alle Amerikaner vereint das Interesse am Erfolg. Die ersten amerikanischen Worte, die Tocqueville hört, lauten »How is business?« - das heißt wörtlich »Wie stehen die Geschäfte?« und bedeutet »Wie geht's?« Der Sproß aus dem alten französischen Adel beobachtet fasziniert, dass in der amerikanischen Gesellschaft tatsächlich Gleichheit herrscht. Der einfachste Mann kann dem einflußreichsten Mann auf der Straße die Hand geben. Fast hat es den Anschein, als gebe es keine sozialen Unterschiede - denn selbst das Geld trennt nicht wirklich: wer heute arm ist, kann morgen reich sein, und umgekehrt. Tocqueville, in dessen Heimat die Rufe der Revolution nach Freiheit und Gleichheit in Tyrannei und Despotie - 121 -
gemündet waren, ist fasziniert von seiner Beobachtung: In den Vereinigten Staaten schließen sich Gleichheit und Freiheit nicht aus! Die Herrschaft liegt in den Händen des Volkes (sogar Armenhäusler dürfen wählen!) - und in allen privaten Bereichen, in denen Entscheidungen nur den einzelnen betreffen, ist jeder sein eigener Herr. Als Tocqueville Indianern und Sklaven begegnet, wird ihm allerdings klar, dass Gleichheit auch in Amerika ihre Grenzen hat: Sie macht vor der Hautfarbe halt. Zurück in Frankreich beginnt Tocqueville sein großes zweibändiges Werk über die Demokratie in Amerika. Er erklärt das politische System der Vereinigten Staaten, das bis dahin in Europa niemand so richtig durchschaut. Er schildert im ersten Band die Eigenarten der Verfassung sowie die politischen Institutionen und erläutert, wie sie funktionieren. Im zweiten Band beschreibt er, welchen Einfluss die Demokratie auf die Mentalität des Volkes hat, auf die Art zu denken und zu fühlen. Tocqueville zeigt ein Gesamtbild der Gesellschaft und nicht mehr allein die Staatsverfassung oder einen Gesellschaftsvertrag. Im Unterschied zu Hobbes, Locke und Rousseau handelt es sich bei Tocqueville um keine präskriptive Theorie - für die der tatsächliche Zustand der Gesellschaft kaum von Belang ist -, sondern um eine akkurate Beschreibung von Gesellschaft und um die Frage, wie das politische System dieser Gesellschaft (eine Demokratie) unter den realen Gegebenheiten funktionieren kann. Tocqueville begründet damit die Praxis der modernen politischen Wissenschaften, in der die ganze Struktur einer Gesellschaft von Interesse ist, wenn Aussagen über politische Verhältnisse getroffen werden sollen. Als der erste Band von Tocquevilles Studie erscheint, ist er in kürzester Zeit vergriffen. Politiker aus dem rechten wie dem linken Lager äußern sich begeistert. Mit dreißig Jahren ist Tocqueville schlagartig ein berühmter Mann. Tocqueville prognostiziert den unaufhaltsamen Siegeszug der Demokratie in Europa. Aus den Erfahrungen der Zeit in Amerika kann er zeigen, dass eine egalitäre Demokratie funktionieren kann. Er macht den Konservativen in Europa klar, dass „Demokratie“ nicht dasselbe wie „Anarchie“ ist. Aber er zeigt auch, dass eine Demokratie bestimmte Bedingungen braucht, um erfolgreich sein zu können: ein gleichmäßiges Bildungsniveau durch alle Schichten, - 122 -
Chancengleichheit, Meinungsfreiheit und den Schutz des Privateigentums. In Amerika hat er diese Bedingungen vorgefunden. Wenn man Tocqueville liest, ist man überrascht, mit welcher Klarheit er nach seinem nur zehnmonatigen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten die Mechanismen der demokratischen Gesellschaft erfaßt hatte. Tocqueville analysiert die modernste und erfolgversprechendste Regierung der Welt, aber er zeigt auch die neuralgischen Punkte einer Massendemokratie. Viele von seinen Beobachtungen haben nichts von ihrer Aktualität eingebüßt: Welche politische Rolle spielen die Bürger in der Demokratie tatsächlich? Wieviel Freiheit des einzelnen lässt die Meinung der Mehrheit in einer Massengesellschaft zu? Wieviel Abweichung ist in einer Massengesellschaft möglich, in der die Unterschiede nivelliert werden? Eine der Schwachstellen der Massendemokratie sah Tocqueville darin, dass sie die Bedingungen für eine unpolitische Gesellschaft in sich trägt. Wenn alle gleich sind und nur noch das Geld als Mittel der persönlichen Auszeichnung taugt, liegt es nahe, dass sich das Hauptinteresse der Bürger darauf richtet, Geld zu machen, um ihre gesellschaftliche Position am Besitz zu verankern. Aber damit richten sie ihr Augenmerk nur noch auf den Bereich des Privaten. Sie werden unpolitisch, überlassen die Politik den politischen Führern. Tocqueville sah in diesem schleichenden Rückzug der Bürger aus der politischen Öffentlichkeit die Gefahr eines demokratischen Despotismus mit der Vormundschaft der Regierung über das Volk. Während die meisten Zeitgenossen die Demokratie fürchteten, weil sie glaubten, sie ebne den Massen den Weg zur Revolte und münde zwangsläufig in die Revolution, zeigte Tocqueville, dass das Gegenteil viel wahrscheinlicher war. Die Bürger der Demokratie liefen nicht Gefahr, sich in eine Meute zu verwandeln, die die Gesellschaft gewaltsam verbessern wolle, sondern in politischer Apathie zu erstarren. Die größte Gefahr der Demokratie sah Tocqueville dort, wo die Gleichheit die Freiheit unterminierte; also dort, wo die Meinung einzelner und Andersdenkender dem Druck der Konformität geopfert würde. Tocqueville sprach von der »Tyrannei der Mehrheit« und attestierte Amerika, es sei das Land mit der geringsten geistigen - 123 -
Unabhängigkeit seiner Bürger. Die Tyrannei der Mehrheit gefährdet die Demokratie, weil sie eine ihrer politischen Grundfesten erschüttert: das Bewusstsein der individuellen Freihe it. Wer innerhalb der Grenzen dessen bleibt, was die Mehrheitsmeinung zuläßt, bewegt sich in Freiheit; wer davon abweicht, hat zwar keine staatliche Zensur zu befürchten, wohl aber den moralischen Druck des Mehrheitsdespotismus. Er landet nicht im Kerker, aber im Aus der Gesellschaft. Wenige Jahre später griff der Engländer John Stuart Mill das Thema Freiheit des Individuums erneut auf. Er schrieb seine Verteidigungsschrift On Liberty (1859) über das Recht des einzelnen in der modernen Massengesellschaft zur Abweichung, zur Exzentrizität und zum Andersdenken. Die Allmacht der Mehrheit hielt Tocqueville für besonders gefährlich, wenn sie eine Allianz mit der Mittelmäßigkeit eingeht. Er hatte beobachtet, dass die Demokratie mittelmäßigen Begabungen das Feld eröffnet. Sie ist eine Chance für ehrgeizige, aber nicht besonders kluge Männer, durch schlichte Wahlslogans die große Masse des Volkes zu erreichen. Außergewöhnliche Persönlichkeiten haben in der Regel nicht die geringste Chance, gewählt zu werden, weil die große Mehrheit sie nicht versteht. Aber diese Abwesenheit hochbegabter Personen in den Reihen der politischen Führung birgt eine große Gefahr: Sie öffnet Demagogen und charismatischen Rednern Tür und Tor, die mit Versprechungen die Gunst des Volkes erringen können. Hitlers „Machtergreifung“ und die Entstehung einer plebiszitären Diktatur in den dreißiger Jahren aus den Bedingungen der Demokratie der Weimarer Republik gaben Tocquevilles Analyse furchtbarerweise recht. Für Tocqueville, der übrigens auch voraussagte, dass Amerika und Rußland die Weltmächte der Zukunft sein würden, war die Demokratie nicht die beste, aber die einzig mögliche Form der Regierung. Er hielt die Demokratie nicht für vollkommen, aber mit all ihren Schwachstellen für die beste aller Möglichkeiten.
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Karl Marx und Friedrich Engels Das Manifest der Kommunistischen Partei (1848) In den Großstadt-Läden, in denen sich die Jugend mit den angesagtesten Accessoires für das ästhetische Überleben in der Szene ausrüstet, kann man bunte Umhängetaschen aus glänzender Plastikplane kaufen. Das sind wohldurchdachte, praktische Behältnisse, mit einer Außentasche für das Handy und acht Fächern in der Innenseite für Kredit- und Chipkarten. Die Taschen sind Made in Indonesia und kosten € 72,00. Es gibt sie in Rot mit einem schwarzen Hammer-und-Sichel-Emblem und in Grau mit einem roten Hammerund-Sichel-Emblem. Vieles wird in diesen Taschen Platz finden, nur eines nicht: das etwa 50 Seiten schmale Bändchen, das einst zur Kultlektüre der Jugend gehörte: Das Manifest der Kommunistischen Partei. Marx ist out. Das Kommunistische Manifest entstand im Auftrag des Bundes der Kommunisten, die Marx und Engels damit beauftragt hatten, die Grundsätze des Kommunismus in einem Thesenpapier darzulegen. Nach seiner Veröffentlichung in England erschien der Text überall in Europa: auf deutsch, englisch, französisch, italienisch, flämisch, dänisch und russisch. »Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Kommunismus«, so lauten die berühmten ersten Worte des Manifests. Marx/Engels erklären, was dieses Gespenst zu sagen hat. Sie beginnen mit einer geschichtstheoretischen Darstellung. Marx/Engels zufolge besteht Geschichte aus Klassenkämpfen. Es geht immer um das Verhältnis von Unterdrücker und Unterdrückten. In der gegenwärtigen Epoche (die Rede ist von der Mitte des 19. Jahrhunderts) gibt es nur noch zwei Klassen: die Bourgeoisie und das Proletariat. Zügig kommen Marx/Engels auf die zukünftige, historische Rolle des Proletariats zu sprechen. In den letzten Jahrhunderten ist es der Bourgeoisie zwar gelungen, sich vom Feudaladel zu befreien, aber mit der stetigen Ausweitung des Kapitalismus hat sie auch unermüdlich - 125 -
ihr eigenes Grab geschaufelt: »Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden - die modernen Arbeiter, die Proletarier“, klingt es unheilvoll. Der Kapitalismus drängt die Arbeiter in die wirtschaftliche Not und - was noch viel schwerer wiegt - in eine Existenz, die wenig mit ihrer menschlichen Natur zu tun hat. Der Arbeiter wird zum „Zubehör der Maschine“ und er erhält nicht den Gegenwert seiner Arbeit, sondern einen Lohn, der gerade das Existenzminimum sichert. Je weniger seine Fertigkeiten gefragt sind und je mehr er zu einem bloßen Arbeitsinstrument wird, desto weiter „entfremdet“ er sich von seiner Arbeit, wird zur bloßen Maschine, führt im wahrsten Sinne des Wortes eine unmenschliche Existenz. Diese »menschliche Selbstentfremdung« ist auf die Dauer so unerträglich, dass sie das Proletariat zwingt, sich selbst zu befreien. Darin begründet sich zum einen die revolutionäre Rolle der Arbeiter, zum anderen liegt hier aber auch die welthistorische Bedeutung des Proletariats, denn dies ist die Klasse, die dazu befähigt ist, eine bessere Gesellschaft zu begründen. Die Revolution des Proletariats wird die gesamte Menschheit aus ihrem Dasein der Selbstentfremdung befreien. (Denn auch die Bourgeoisie ist selbstentfremdet, merkt es aber nicht, weil sie sich das Leben so schön gestalten kann.) Im zweiten Teil des Manifestes listen Marx/Engels dann die Ziele der Kommunistischen Partei auf: l. Sturz der Bourgeoisie, Eroberung der Macht durch das Proletariat, 2. Abschaffung des Privateigentums, 3. Aufhebung der Freiheit der bürgerlichen Person, 4. Aufhebung der Familie als Erziehungsinstanz, 5. Aufhebung der Nation, 6. Aufhebung der Religion und Moral und schließlich das eigentliche Ziel: Aufhebung der Klassen. »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« lautet der berühmte Ausruf, mit dem das Manifest endet. Jetzt verhallt er in kläglicher Stille.
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John Stuart Mill Über die Freiheit (1859) John Stuart Mill war drei Jahre alt, als er Griechisch lernte. Mit fünf las er mehrbändige Klassiker der Geschichte. Mit sechs beherrschte er die Grundlagen der Geometrie und Algebra. Mit sieben las er Platon im Original. Mit acht begann er mit Latein und übernahm den Unterricht seiner jüngeren Geschwister. Mit zehn las er Newtons Principia Mathematica und schrieb sein erstes Buch über die Geschichte der römischen Regierungsgrundsätze. Mit zwölf studierte er Logik und las Aristoteles. Mit dreizehn stand politische Ökonomie auf dem Lehrplan und Adam Smiths Wohlstand der Nationen. Mit vierzehn ging er für ein Jahr nach Frankreich, lernte Französisch, Chemie und Botanik und machte Aufzeichnungen über die Kultur des Landes. Mit sechzehn hatte er die Philosophen der Aufklärung gelesen. Inzwischen verkehrte er in Begleitung seines Vaters mit den wichtigsten Gesellschaftstheoretikern der Zeit - unter anderem mit David Ricardo und Jeremy Bentham. Mit siebzehn wurde er Beamter der Ostindischen Handels-Compagnie (East India Company) und veröffentlichte Aufsätze über Möglichkeiten zur Verbesserung der Gesellschaft. Mit zwanzig fiel Mill dann in eine tiefe Depression. John Stuart Mills Erziehung ist die berühmteste des viktorianischen Englands. Mills Vater war der Überzeugung, dass Intelligenz nicht angeboren, sondern erlernbar ist. Um das zu beweisen, machte er seinen ältesten Sohn zum Versuchskaninchen. »Ich war nie ein Kind, ich habe nie Cricket gespielt - es wäre besser gewesen, der Natur ihren eigenen Weg zu lassen«, kommentierte Mill einmal traurig. Jahre später schrieb er in seiner berühmten Autobiographie etwas nüchterner, er sei das beste Beispiel dafür, dass Kinder bereits in einem Alter schwierige Dinge lernen könnten, in dem sie üblicherweise gar nichts beigebracht bekämen. Am Ende seiner Jugend, in der Mill nie Freundschaften gehabt hatte, wurde ihm schlagartig klar, dass seine emotionale Entwicklung nicht stattgefunden hatte. Er fragte sich, was es ihm bedeuten würde, wenn all seine Ziele verwirklicht wären und er all die sozialen Reformen - 127 -
durchgesetzt hätte, für die er sich einsetzte? Und die Antwort lautete: es würde ihm gar nichts bedeuten. Im Alter von zwanzig Jahren stellte Mill fest, dass ihn überhaupt nichts mit Freude oder Stolz erfüllte, dass er niemals geliebt worden war und niemanden liebte und dass es im Grunde für ihn nichts gab, wofür es sich zu leben lohnte. Und nun las Mill romantische Gedichte. Er überwand seine Depression und fand seine große Liebe: Harriet Taylor - eine verheiratete Frau und Mutter von drei Kindern. Erstaunlicherweise reagierte ihr Ehemann John Taylor äußerst großzügig: er bezahlte seiner Frau Auslandsreisen, die sie in Begleitung von Mill unternahm, und mietete ein Cottage, in dem sich die beiden am Wochenende treffen konnte. Das Verhältnis zwischen Mill und Harriet Taylor war außergewöhnlich eng - allerdings rein platonisch. Dann starb John Taylor, und Mill und Harriet Taylor heirateten. Zusammen mit Harriet Taylor schrieb Mill seine berühmtesten Bücher: The Subjection of Women (Die Unterwerfung der Frauen, 1869) Es wurde zu einem der einflußreichsten Pamphlete der Frauenrechtsbewegung und das Plädoyer für die Freiheit des Individuums: On Liberty, (Über die Freiheit, 1859). Mill betonte immer, dass diese Schriften gemeinsam mit Harriet Taylor geschrieben waren. Mill war Feminist. In Zeiten, in denen der Status von Frauen auch aus der Sicht der „kultivierten“ Schichten irgendwo zwischen Kindern, Schwachsinnigen und Haustieren angesiedelt waren, forderte Mill die Einführung des Frauenwahlrechts. Er zeigte, dass die Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Realität des 19. Jahrhunderts nicht die Folge weiblicher Unfähigkeit waren, sondern das Ergebnis unsinniger Mädchenerziehung. Mill sprach sich sogar schon gegen die Verwendung von Maskulina aus, wenn „man“ die ganze Menschheit meinte. Mill ist bekannt für seine Fähigkeit, komplizierte Themen in klare Worte zu fassen. Das Paradebeispiel dafür ist der Essay On Liberty. Es ist Mills berühmtestes Buch. On Liberty ist der Klassiker des Liberalismus. Es ist eine Verteid igungsrede für die bürgerliche Freiheit: für Gewissens-, Meinungs-, Diskussionsund Handlungsfreiheit. Es ist zugleich ein Plädoyer für den Individualismus. - 128 -
Die zentrale Aussage der Schrift lautet: die Freiheit des Individuums ist absolut in allen Bereichen, in denen sein Denken, Reden und Handeln anderen nicht schadet. Weder die Gesetze des Staates noch das moralische Urteil der Allgemeinheit dürfen die Freiheit des Individuums beschränken. In etwas modernisierter Übersetzung bedeutet das, dass niemand einen anderen daran hindern darf, homosexuell zu sein, sich zu betrinken, vor dem Fernseher einzuschlafen, sein Geld zum Fenster hinauszuwerfen, sich ausschließlich von Pommes frites zu ernähren usw. Nichts erlaube jemandem, eine erwachsene Person an ihrer Lebensform zu hindern, nur weil man ihr Verhalten moralisch verwerflich findet. Nicht einmal die Überzeugung, der andere renne in sein Unglück, ist Grund dafür, den anderen zu seinem vermeintlichen Glück zu zwingen: Man sollte jemandem ruhig sagen, dass es gesünder ist, Müsli zu essen statt Pommes, aber die Entscheidung, dies dann Zu tun, liegt im Ermessen des anderen. Und nur weil man es selber verwerflich findet, darf man einen anderen nicht daran hindern, sich zu betrinken, wenn er es möchte. Das ändert sich allerdings, wenn andere dadurch zu Schaden kommen können. Die Dinge stehen völlig anders, wenn der Betreffende der Chirurg ist, der einem in zehn Minuten den Blinddarm entfernen soll, oder wenn er die Absicht hat, sich an das Steuer seines Autos zu setzen. In solchen Fällen greifen die Gesetze des Staates. Mill plädiert für das Recht jedes Menschen, seine eigenen Fehler machen zu dürfen. Die Idee verliert ihren Schrecken, wenn man, wie Mill, der Meinung ist, dass Menschen aus ihren Fehlern lernen können. Moralisches Handeln, sagt Mill, taugt nur dann überhaupt etwas, wenn Moral nicht staatlich oder gesellschaftlich verordnet ist, sondern auf persönlichen Erfahrungen und Überzeugungen beruht. Gegen die Kultur der politischen Korrektheit - selbst wenn sie gute Absichten verfolgt - wäre Mill in jedem Fall Sturm gelaufen, weil sie mehr oder weniger verbindlich vorschreibt, welche Meinung richtig ist und welche nicht. Eine Verbindlichkeit der richtigen Meinungen und Handlungen kann es Mill zufolge aber nicht geben. Niemand darf gezwungen werden, sich dem Diktat der Mehrheit anzupassen, sagt Mill im Anklang an Tocqueville, den er bei dessen Besuch in London getroffen hatte. Menschen können sich irren. Nur weil eine Meinung von der Mehrheit - 129 -
vertreten wird, muß sie nicht richtig sein. Eine Gesellschaft braucht Abweichungen, sie muß sich die Meinungen Andersdenkender und der Minoritäten anhören und sie muß sich auch Exzentriker leisten können. Niemand soll gezwungen sein, etwas zu tun, nur weil alle anderen es auch so machen. Weil Menschen ihre Meinung ändern können, besteht Mill auf der Freiheit des Gedankens und der Diskussion. Es gibt keinen einzigen Grund, die Meinung Andersdenkender zu unterdrücken: Erstens, weil sie richtig sein könnte; zweitens, weil sie falsch sein könnte (aber dann verhindert man, dass die richtige Meinung als richtig bestätigt wird); und drittens, weil sie weder falsch noch richtig ist und man nur im ständigen Austausch der Meinungen Irrtümer korrigieren kann. Meinungen und „Wahrheiten“ müssen ständig bewegt werden, sie brauchen Widerspruch, sonst erstarren sie zu toten Dogmen. Mill lebte in der sittenstrengen viktorianischen Gesellschaft. Er schrieb sein Plädoyer für die absolute Freiheit des einzelnen aus der Erfahrung einer Alltagswelt, in der die moralische Überwachung durch die Allgemeinheit ein für uns unvorstellbares Ausmaß angenommen hatte. Die strengen Ansprüche an bürgerliche Ehrbarkeit drangen wie dichter Nebel durch sämtliche Ritzen in die privaten Wohnungen und verschonten niemanden, der von den allgemeingültigen Regeln abwich. Wenn man Mill unter gesellschaftspolitischen Aspekten sieht, ist die Idee der absoluten Freiheit des Denkens und Handelns des einzelnen, sofern es andere nicht schädigt, immer noch hochaktuell. Mill plädiert für den Pluralismus der Meinungen, für die Redefreiheit von Minoritäten, für die Ermöglichung unterschiedlicher Lebensformen, für einen undogmatischen Umgang mit Wahrheit, für die Unverletzlichkeit der Person, für das selbstbewußte Abweichen von der Meinung der Allgemeinheit, für Exzentriker, für die freie Diskussion, für das Recht, sich als Interessengemeinschaft für eine Sache zu organisieren, und für die Ablösung vom Diktat der Moral. In den multikulturellen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts kann Mill immer noch ganz lehrreich sein. Der Begriff des „Liberalismus“ hat in Deutschland einen denkbar schlechten Ruf, weil man dabei in erster Linie an Wirtschaftsliberalismus denkt: das heißt, an die Mentalität der - 130 -
rücksichtslosen Durchsetzung der eigenen ökonomischen Interessen auf Kosten anderer. Aber immerhin verdanken wir Mill das Recht auf die Freiheit der Person: Es ist im Artikel 2 des Grundgesetzes verankert.
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SEX Tiere pflanzen sich fort. Menschen haben Sex - es sei denn, sie sind katholische Geistliche und leben im Zölibat, oder sie sind Puritaner und finden Sex sündhaft, oder sie leben im 19. Jahrhundert und wissen nicht, was Sex ist, oder sie leben im 21. Jahrhundert und haben keine Lust mehr. Im Unterschied zur Fortpflanzung dient Sex keinem Zweck. Sex ist Intimität, aber damit ist noch nicht viel gesagt, denn das, was Sex bedeutet, hängt von den Kontexten ab, in denen er stattfindet. Für die Frau, die vergewaltigt wird, ist Sex die Hölle. Für die Frau, die gerade frisch verliebt ist, ist es der Himmel auf Erden. Für die eine Frau bedeutet Sex Gewalt, für die andere Frau bedeutet Sex Liebe. Sex ist aber nicht nur für jeden einzelnen Menschen immer wieder etwas anderes, sondern hat auch zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Kulturen Unterschiedliches bedeutet, Im sprichwörtlich prüden 19. Jahrhundert war Sex förmlich von der Bildfläche verschwunden. Angeblich verhüllte man in England sogar die Tische mit Tischdecken, weil im unübertroffen körperfeindlichen Klima des viktorianischen Zeitalters auch noch der Anblick eines Tischbeines, als anzüglich empfunden werden konnte. Die strikte Sexualmoral des 19. Jahrhunderts machte Sex zu einem knappen Gut. Im 19. Jahrhundert war Sex gleichbedeutend mit dem, was der Mann vor der Ehe nicht bekommen konnte. In der Ehe gab es keinen Sex mehr, sondern nur noch Fortpflanzung, und deshalb wurde ehelicher Sex auch nicht weiter als Sex thematisiert. Die einzige öffentliche Aufmerksamkeit, die man dem Sex verschämt zukommen ließ, beschränkte sich also auf die Frage der ersten Nacht. Innerhalb der verklemmten Ideologie des 19. Jahrhunderts behandelte man Sex wie eine verbotene Ware, die jeder Mann haben wollte und von der sich keine Frau trennen durfte, es sei denn, man machte ihr ein anständiges Angebot und hielt um ihre Hand an. Entsprechend dieser Behandlung von Sex als Tauschmedium gab es einen „HeiratsMarkt“. Frauen verfugten außerdem über Strategien zur Wertsteigerung: War zum Beispiel bekannt, dass ein Mädchen zu leichtsinnig mit zu vielen Verehrern flirtete, kam das einem - 132 -
inflationären Wertverfall gleich. Ebenso trugen Frauen Verfallsdaten, wie Waren, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt an den Mann gebracht werden mussten: Wer die 25 Jahre überschritten hatte und immer noch nicht verheiratet war, lief Gefahr, als „alte Junfger zu enden. Heutzutage ist Sex kein knappes Gut mehr. Dort, wo scheinbar mit Sex gegeizt wird, wie im Fall von Pop-Idol Britney Spears, wird die symbolische Verknappung hochgradig paradox. Britney behauptet nämlich, sie sei noch Jungfrau. Dergestalt erotisch verknappt, präsentiert sie sich dann aber notorisch bauchnabelfrei auf ihrer Homepage im Internet als Traum für Millionen von Fans, von denen jeder der Illusion nachhängen darf, er sei der erste und einzige. Sex ist heute überall sichtbar, jederzeit verfügbar, an allen möglichen Orten praktizierbar und wird ständig öffentlich diskutiert. Mit dem Ergebnis, dass Sex im Grunde niemanden mehr so richtig interessiert. Keiner sieht oder hört mehr hin. Wem bereits die Lust völlig vergangen ist, soll absurderweise im weitläuf igen Angebot der TV-Sexmagazine herausfinden, was er denn bloß tun kann - nun, da die Luft raus ist. Aber all das Gerede und Getue um Sex oder Nicht-Sex wird wohl ohnehin bald Schnee von gestern sein. So jedenfalls sieht das der französische Autor Michel Houellebecq in Elementarteilchen (1999). Der Roman wirft einen gnadenlosen Blick auf die europäische Zivilisation am Ende des 20. Jahrhunderts. Darin bemißt sich »Lebensqualität« an der Zahl der zur Verfügung stehenden Einkaufszentren sowie an der Größe der dazwischen liegenden Grünflächen. Nachbarliche Beziehungen bestehen darin, sich im Treppenhaus zuzunicken, zwischenmenschliche Nähe beschränkt sich auf Gelegenheitssex. Wer keinen Sex mehr hat, hat auch keine sozialen Kontakte. Houellebecqs Helden in dieser trostlosen Welt sind die Halbbrüder Michel und Bruno. Beide sind um die vierzig. Bruno ist Beamter im Erziehungswesen und lebt für den sexuellen Kick, den er sich mittels Pornos und der gelegentlichen Teilnahme an außerordentlich trostlosen Sexorgien verschafft. Michel ist Molekularbiologe, hat nie Sex und forscht auf dem Gebiet der Humangenetik. Am Ende des Romans hat er den genetischen Code für eine geschlechtslose, unsterbliche Spezies gefunden. Damit wäre Sex - 133 -
dann ja wohl in eine neue Phase geleitet. - Aber dann kann man ja immer noch davon lesen, was die Vorfahren so getrieben haben.
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Giovanni Boccaccio Das Dekameron (1349-1353) In Giovanni Boccaccios Dekameron regiert Eros, der Gott der Liebe, die Welt: Mann und Frau sind für die Liebe gemacht, die Liebe ist sinnlich, und sie muss körperlich erfahren werden. Die Lust überschreitet die Grenzen der Stände und die Gesetze der Moral. Im Jahre 1348 wütet die Pest in Florenz. Sieben junge Frauen und drei junge Männer flüchten vor dem entsetzlichen Elend und dem sittlichen Verfall der seuchengeplagten Stadt auf einen Landsitz in der Toskana. Dort, inmitten der idyllischen Landschaft, genießen sie für eine kurze Zeit ein Leben wie im Paradies. Wenn die Hitze des Tages einbricht und die Ausflüge auf die umliegenden Hügel zu beschwerlich werden, vertreiben sich die zehn jungen Leute die Zeit mit dem Erzählen von Geschichten. Zehn Tage lang wird allabendlich eine sogenannte Königin oder ein König bestimmt, die oder der ein Thema für den nächsten Tag auswählt. Jeder der Anwesenden steuert dann reihum eine Geschichte bei: So entstehen in zehn Tagen die hundert Erzählungen des Dekameron, des „Zehntagewerks“ (griech: deka [zehn], hemera [Tag]). Hundert ist die Zahl des Vollkommenen sie liegt auch Dantes Göttlicher Komödie zugrunde. Das Dekameron entstammt einer Zeit, in der sich das Mittelalter dem Ende neigt. Mitten in der sterbenden Gesellschaft des Mittelalters liegt eine lebendige Insel: Während rund herum die Pest wütet, entsteht in der schattigen Kühle eines prächtigen Gartens eine neue Welt aus vitalen, sinnlichen Geschichten. Ein schwächlicher Ehemann bringt mit Ach und Krach die Hochzeitsnacht hinter sich und vermag danach nicht mehr, seine Frau zu befriedigen. Als diese von einem Seeräuber verschleppt wird, ist sie nach dessen Beweis seiner Manneskraft bald davon überzeugt, dass ihr gar nichts besseres hätte passieren können als die Entführung. - Masetto, ein kräftiger junger Mann, wird Gärtner in einem Kloster und übernimmt dort zur Freude der acht Nonnen und der Äbtissin nicht nur die Besamung der Blumenbeete. - Ein Stallknecht verkleidet - 135 -
sich als König, schläft mit der Königin, wird entdeckt und entkommt durch eine List der Strafe. - Ein junger Mönch vergnügt sich mit der Frau seines Gastgebers, während jener im Nebenraum Bußübungen ausführt, die der Mönch ihm aufgegeben hat. - Ein Abt verlustiert sich mit einer Bauersfrau, nachdem er ihr in der Beichte weisgemacht hat, dass dies ihrem Seelenheil zuträglich wäre. - Einem Ehemann, der sich weigert, die Ehe zu vollziehen, wird seine Ehefrau ins Bett geschmuggelt, während er glaubt, die Nacht mit einem jungen Mädchen zu verbringen. (Die Geschichte diente als Vorlage für Shakespeares Komödie Ende gut, alles gut.) Boccaccios erotische Geschichten sind vom Frauenbild des Mittelalters geprägt: Man glaubte nämlich (im Unterschied zum 18. und 19. Jahrhundert), dass das weibliche Geschlecht anfälliger für sexuelle Versuchungen war als das männliche. Sofern man die Frau nicht als engelsgleiche Wesen von überirdischer Tugend idealisierte, war sie eine Tochter Evas: die unersättliche Verführerin. Man war der Ansicht, dass die Lust der Frauen nie gestillt war. Deshalb tauchen bei Boccaccio so viele betrogene Ehemänner auf, die sich nicht wundern müssen, wenn sich ihre Frau woanders umschaut, weil sie selbst nicht in der Lage sind, sie zu befriedigen. Außerhalb der erotischen Literatur, in der Realität, führte die Vorstellung, Frauen seien zur Triebhaftigkeit veranlagt, aber dazu, dass sie um so strikter bewacht wurden. Das Dekameron ist das erste große Prosawerk italienischer Sprache. Boccaccio vollendete darin die literarische Gattung der Novelle - das ist eine Form der kurzen Prosaerzählung. Die Inquisition setzte das Buch wegen der darin enthaltenen Anstößigkeiten auf die Liste der verbotenen Bücher, zumindest solange, bis man eine „gereinigte“ Fassung erstellt hatte. Darin waren die Unzucht treibenden Mönche dann in Laien verwandelt und die Nonnen in Jungfrauen. Man möchte meinen, das sei immer noch anstößig genug, um auf den Index zu kommen. Aber hätte es sich etwa als undurchführbar erwiesen, das Buch auf den Index librorum prohibitorum (die Liste der verbotenen Bücher) zu setzen, weil sich dann der gesamte Klerus an einer verbotenen Lektüre ergötzt hätte? Angeblich war Das Dekameron eine Lieblingslektüre der katholischen Geistlichen. - 136 -
Francois Villon Balladen (um 1456) Klaus Kinski stöhnt: »Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund, ich schrie mir schon die Lungen wund nach deinem weißen Leib, du Weib.« Das sind die ersten Zeilen der Ballade für ein Mädchen namens Yssabeau. Kinskis berüchtigt geniale Wiedergabe der Balladen des französischen Draufgängers und Dichters Francois Villon (1431 - nach 1463) hat Kultstatus. Sie hat dafür gesorgt, dass Villons Gedichte aus der Welt der Verbrecher und Prostituierten in Deutschland fast bekannter sind als in Frankreich. Villon lebte im ausgehenden Mittelalter, gegen Ende des Hundertjährigen Krieges. Er stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Weil er klaute wie ein Rabe und ständig in Prügeleien verwickelt war, brachte ihn seine Mutter zu einem reichen Stiftsherrn, dem Pater Guillaume de Villon - dessen Namen Villon später annahm. Der junge Villon bekam eine anständige Erziehung und wurde im Alter von zwölf Jahren auf die Universität in Paris geschickt - das war das damals übliche Alter zum Beginn der Studien. Er machte seinen Magister und begann mit dem weiterführenden Studium der Theologie. Aber als die Pariser Professoren ein Jahr lang streikten, bekam Villon die vorlesungsfreie Zeit nic ht besonders gut. Er landete im Milieu der Unterwelt, traf sich mit Huren, tötete in einer Messerstecherei einen Priester und besoff sich regelmäßig in zwielichtigen Spelunken. Dort gabelte ihn die Geheimgesellschaft „Coquille“ auf und machte ihn zu ihrem Sekretär. Die „Coquille“ war eine hochprofessionell organisierte Verbrechervereinigung, die eine eigene Geheimsprache und einen geheimen Nachrichtendienst hatte. Ihre Mitglieder waren hauptsächlich ehemalige Soldaten des Hundertjährigen Krieges, die nie etwas anderes gelernt hatten als Rauben und Morden. Kurz vor Weihnachten 1456 knackte Villon zusammen mit vier Komplizen den Tresor der Universität. Die Diebe erbeuteten 500 Taler. Villon wurde in seinem Leben mehrfach zum Tode verurteilt und nur durch glückliche Umstände immer wieder begnadigt. Als ein neues Todesurteil in zehn Jahre Verbannung aus - 137 -
Paris umgewandelt wurde, verließ Villon die Stadt. Danach verliert sich seine Spur. Villon war ein stadtbekannter Desperado. Ganz Paris kannte seine schonungslosen verbalen Attacken auf die Reichen und seine Balladen über das Leben der Kriminellen und Prostituierten. Villons Begegnungen mit Frauen, „den weißen Tieren“, sind animalische, leidenschaftliche Exzesse der Lust. Das Begehren ist asozial, es gehört zur Unterwelt. Die Frauen sind unersättlich und niemand ist treu. Die Liebe ist sinnlich, sie ist selbstzerstörerisch, gewalttätig, leidenschaftlich und kurz.
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Denis Diderot Die indiskreten Kleinode (1748) »Ich war jung und brauchte das Geld«, sagte Denis Diderot (sinngemäß) zu seiner Entschuldigung, wenn er an seinen erotischen Roman Die indiskreten Kleinode (Les bijoux indiscrets) erinnert wurde. Diderot war der spätere Herausgeber der berühmten Encyclopedie, des großen Universallexikons aus dem Geiste der französischen Aufklärung. Für seinen literarischen Ausrutscher verlegte er seine erotische Geschichte in den Orient und ließ sich eine Märchenerzählung nach dem Vorbild von Tausendundeine Nacht einfallen. Das war ein erfolgversprechendes Rezept. Mit dem Orient assoziie rten Diderots Zeitgenossen eine Welt der sinnlichen, verbotenen Genüsse: Der Orient, das war in der Vorstellung des 18. Jahrhunderts die betörende Welt des Serails und des Harems, in dem es vor verfügbaren, halbnackten Frauen nur so wimmelte. Der Sultan Mangogul und seine Liebste Mirzoza sind seit vier Jahren zusammen. Sie haben alle Freuden der Liebe bereits hundertmal erlebt, und sie haben sich nichts mehr zu sagen. Eines Abends - es regnet - sitzt Mirzoza häkelnd neben Mangogul, der auf seinem Bett liegt und sich langweilt. Die Stimmung ist gedrückt. »Was hast du?« fragt Mirzoza ihren Geliebten. »Ich weiß nicht«, antwortet Mangogul und gähnt. »Du findest mich zu alt«, sagt Mirzoza (sie ist 21). »Überhaupt nicht«, antwortet Mangogul gähnend. »Aber falls du eine Idee hast, wie ich mich amüsieren kann, laß es mich bitte wissen.« »Frag Cucufa«, sagt Mirzoza. Cucufa, ein Geist, den Mangogul herbeiruft, gibt ihm einen edelsteinbesetzten Ring. »Wenn Ihr diesen Edelstein auf eine Frau richtet, wird sie Euch mit klarer Stimme haarklein von ihren erotischen Abenteuern erzählen. Aber glaubt nicht, dass sie mit ihrem Mund sprechen wird.« »Mit was dann?« fragt Mangogul verwirrt. »Mit dem Teil des Körpers, der am ehesten geeignet ist, Auskunft über die Dinge zu geben, die Euch interessieren. Mit ihrem Kleinod.« Es dürfte wohl klar sein, was damit gemeint ist. - 139 -
Glücklicherweise behandelt Diderot diese merkwürdige Phantasie die Tradition hat - mit einer gehörigen Portion Ironie, weshalb Die indiskreten Kleinode eher Satire ist als erotische Literatur. Lustig ist zum Beispiel der Einfall, dass nicht nur Mangogul die intimen Geständnisse hören kann, sondern sämtliche weiteren Anwesenden. Das ist Diderots bissiger Kommentar über das Niveau der Konversation bei Hofe. Was die Kleinode dann zu berichten haben, ist im wesentlichen Hoftratsch und im Grunde etwas einfallslos. Offenbar langweilte sich Diderot selbst beim Schreiben zu Tode. Er schmuggelte deshalb in seinen erotischen Roman ein paar Kapitel ein, die das behandelten, was ihn wirklich interessierte: die Philosophie der Aufklärung.
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John Cleland Fanny Hill, Memoiren eines Freudenmädchens (1749) Einer der großen Klassiker der erotischen Literatur verkündet Genuss ohne Reue. Fanny Hill ist eine Mischung aus sentimentalem Roman und Pornographie. Der Roman erzählt aus der Perspektive seiner Heldin deren Lebensweg von einer Prostituierten zur glücklichen Ehefrau und Mutter. Wenn Fanny auf 250 Seiten genüsslich ihre sexuellen Abenteuer zum besten gibt, verfolgt sie dabei eine gute Mission: Sie will die Geschichte einer Läuterung erzählen, von der andere lernen können. Am Anfang ist Fanny naiv, am Ende ist Fanny - na ja, eigentlich immer noch naiv - aber in ihrer Naivität quasi gewachsen und wenigstens respektabel geworden. Fanny versichert, nur die Wahrheit zu erzählen. Die »nackte Wahrheit« - natürlich. Fanny wächst auf dem Lande auf. Sie ist die Tochter sehr armer, jedoch außergewöhnlich anständiger Eltern, die unglücklicherweise durch eine Krankheit dahingerafft werden, als Fanny 15 Jahre alt ist. Das mittellose, hübsche Mädchen steht nun mutterseelenallein in der Welt. Sie kommt auf die ziemlich einfältige Idee, ihr Glück in London zu suchen, und fällt dort, arglos wie sie ist, in die Hände einer Bordellbesitzerin. Natürlich hat die unaufgeklärte Fanny keine Ahnung, was ein Bordell ist, und staunt statt dessen über ihr Glück, in einem so prächtigen Haus gelandet zu sein. Als sie durch Phoebe, eine Prostituierte, mit der sie sich das Zimmer teilt, ihre erste erotische Lektion erteilt bekommt, glaubt Fanny sogar noch, Phoebes lesbische Neigung gehöre zu den freundlichen Umgangsformen, die in der Großstadt nun mal üblich sind. Phoebe übernimmt Fannys Aufklärung und gibt ihr Anschauungsunterricht. Am Ende der Lektionen hat Fanny gelernt: Geschlechtsverkehr ist die größte Quelle menschlicher Glückseligkeit. Sie ist daher kaum noch zu halten, als sie Charles, einem ansehnlichen jungen Mann, begegnet. Charles und Fanny verlieben - 141 -
sich ineinander, und Fanny verliert ihre Unschuld. Ärgerlicherweise wird Charles von seinem Vater auf eine Weltreise abkommandiert. Nun zwingt die wirtschaftliche Not Fanny, ein Freudenmädchen zu werden. Sie wird die Geliebte eines Mr. H., fliegt aber aus dessen Haus, als sie dessen Hausangestellten Will verfuhrt. („Will“ ist eine englische Zote für das männliche Geschlechtsorgan.) Fanny setzt ihre Weiterbildung in Mrs. Coles „Akademie“ für junge Frauen fort einem Bordell der Luxusklasse. Dort tauscht Fanny das Erlebnis ihrer Defloration mit ihren Kolleginnen aus, hat Gruppensex, erweitert ihren Horizont durch die Erfahrung einer sado-masochistischen Liebschaft und beobachtet zwei homosexuelle Männer beim Geschlechtsverkehr. Schließlich wird sie die Mätresse eines wohlhabenden älteren Junggesellen, den sie nach seinem Tode beerbt. Fanny begegnet Charles wieder, und die wahre Liebe triumphiert. Fanny Hill entstammt dem Geist der Aufklärung. Seine Heldin verkündet eine Botschaft, die die Aufklärer so natürlich nicht gemeint hatten: Die Vervollkommnung der eigenen Person geschieht durch den Gebrauch der Sinne, durch die Erfahrung und die Beobachtung.
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Giacomo Girolamo Casanova Erinnerungen (um 1790 - 1798) Das ausschweifende Leben des Italieners Giacomo Girolamo Casanova (1725-1798) hat ihm das sprichwörtliche Etikett eines Frauenhelden eingebracht. Dabei machen die erotischen Episoden nur einen geringen Teil seiner gigantischen zwölfbändigen Autobiographie aus, seinen Erinnerungen. Casanova hat jedoch in jedem Fall Berühmtheit verdient, denn sein Leben ist eines der aufregendsten des 18. Jahrhunderts. Casanova verbrachte es fast ausschließlich reisend. Er kannte Venedig, Paris, Prag, Berlin, Moskau, London, Warschau, Madrid und Wien. Er reiste kreuz und quer durch Europa und besaß eine Weile sogar ein „Wohnmobil“ mit Bett. Er verkehrte an den großen europäischen Höfen und lernte einige der wichtigsten Personen der Zeit kennen: die Päpste Benedikt XIV. und Clemens XIII., die Kaiserin Maria Theresia, den französischen König Ludwig XV, Friedrich den Großen (der ihm einen Posten am Hofe anbot), die russische Zarin Katharina die Große, den englischen König Georg III., die Mätresse des französischen Königs, Madame Pompadour, Voltaire, Rousseau und D'Alembert (der mit Diderot die Encydopedie herausgab), den englischen Weisen Dr. Johnson, Joachim Winckelmann, den Schweizer Arzt und Dichter Albrecht von Haller, den Amerikaner Benjamin Franklin und Mozart. Casanova, der Sohn eines Schauspielerpaares, war Geistlicher, Sekretär, Violinist, Soldat, Bibliothekar, Übersetzer, Spion, Philosoph, Spieler, der Erfinder der Lotterie und Alchemist. Im Alter von dreißig Jahren wurde sein unruhiges Leben für eine Weile stillgestellt. Er war als Magier verleumdet worden und landete in den berühmten Bleikammern unter dem Dach des Dogenpalastes in Venedig. Nach einem Jahr Gefangenschaft gelang Casanova eine abenteuerliche Flucht. Sie machte ihn berühmt, und als er Paris erreicht hatte, war Casanova der Star der dortigen vornehmen Gesellschaft. Zwei Jahre später führte er das Glücksspiel in der französischen Metropole ein und wurde Millionär. Casanovas unruhiges Leben trieb ihn unentwegt durch Europa, er - 143 -
blieb selten längere Zeit an einem Ort. Überall hatte er Flirts, Liebschaften und gelegentlich längere, ernste Affären mit Frauen aus allen sozialen Schichten. Eine davon war die große Liebe seines Lebens, die intelligente Französin Henriette, mit der er drei Monate zusammen blieb. Eine andere war die Nonne M.M., eine weitere die Römerin Lukrezia, mit der er eine Tochter hatte, die später auch seine Geliebte wurde. Gelegentlich glaubte Casanova treu zu werden, aber das stellte sich dann bald als Irrtum heraus. Einmal versprach er einer seiner Geliebten, Christina, sie zu heiraten, überlegte es sich anders und besorgte ihr einen Ersatzehemann. Solches Verhalten hat Casanova von Seiten seiner staunenden Geschlechtsgenossen den Ruf eingebracht, „alle Frauen seien ihm dankbar“ gewesen. Casanova konsumierte Frauen. Er genoß sie, liebte sie, verehrte sie und sah in jeder etwas Besonderes. Er achtete sie und lebte in einem sonderbaren Kosmos mit einer eigenen Moral der Libertinage, in dem es nicht verwerflich war, mit der eigenen Tochter ins Bett zu steigen. Natürlich gabelte er von Zeit zu Zeit irgendwelche Geschlechtskrankheiten auf. Die letzten dreizehn Jahre seines Lebens verschlugen Casanova nach Böhmen. Dort arbeitete der alternde Verführer als Bibliothekar eines Grafen. Das einzige, was Casanova sein langweiliges Leben nun noch erträglich machte, waren die Erinnerungen an seine bewegte Jugend und seine Liebesabenteuer: Er durchlebte sie noch einmal. Seite um Seite, auf 4000 Blättern, schrieb er seine Erinnerungen nieder.
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Marquis de Sade Justine, oder Das Unglück der Tugend (1791) Wenn man beabsichtigt, de Sade zu lesen, sollte man wissen, worauf man sich einläßt. Seine Romane sind schockierend, im wesentlichen ekelhaft, und in ihrer ewigen Wiederholung von Monstrositäten am Ende ziemlich langweilig. Der Marquis de Sade hat einer Psychopathologie der Sexualität ihren Namen gegeben: dem Sadismus. Wer ein paar Seiten von Sades Justine liest, wird den Eindruck bekommen, er habe es mit dem Werk eines Psychopathen zu tun. Der Roman beschreibt die Qualen der tugendhaften Justine. Das Vorbild für die moralisch unanfechtbare Heldin stammte aus den Romanen über die „Verfolgte Unschuld“. Das waren Romane über den Wert der Tugend. Der Engländer Samuel Richardson hatte sie mit seinen Bestsellern Pamela (1741) und Clarissa (1747/48) in Europa populär gemacht. Pamela, Richardsons berühmteste Heldin, ist so tugendhaft, dass sie schon an den Rand einer Ohnmacht gerät, als ihr Verehrer Mr. B. einmal in ihrer Gegenwart einen so anrüchigen Gegenstand wie einen Damenstrumpf erwähnt. Die Ohnmacht bewährt sich im Laufe der Geschichte als gezielte Abwehrmaßnahme gegen Mr. B.s sexuelle Attacken. Immer wenn Mr. B. über Pamela herfallen will, wird sie ohnmächtig - und vertraut darauf, dass er anständig genug ist, von ihr abzulassen. Sade pervertierte Richardsons sentimentale Lobeshymnen auf die Unschuld. Justine nützt ihre Tugend gar nichts. Als Justine aus ihrer ersten Ohnmacht erwacht, stellt sie fest, dass sie von dem Mann, dem sie zuvor das Leben gerettet hat, vergewaltigt, mißhandelt und bestohlen worden ist. Justines Tugend macht sie zum passiven Opfer der entsetzlichsten sexuellen Mißhandlungen. De Sades kühl kalkulierte Szenarien der Grausamkeit sind ins Gigantische gesteigerte Alpträume von einer aggressiven und mitleidlosen Welt. De Sade, der die letzten Jahre seines Lebens in einer Irrenanstalt verbrachte, litt sicherlich unter einer stark unterentwickelten - 145 -
Persönlichkeit, wenn er denn kein Psychopath war. So beschwerte er sich bei einem seiner zahllosen, kurzen Gefängnisaufenthalte über die „Unmenschlichkeit“ seiner Gefängniswärter, die ihm keinen Hustensaft brachten, nachdem er Wochen zuvor Prostituierte und Kinder gefoltert und mißbraucht hatte. Es besteht überhaupt kein Zweifel darüber, dass de Sade ein furchtbarer Mensch war. Aber seine Schriften nehmen in der europäischen Kulturgeschichte eine einzigartige Position ein. De Sade sprengt alle Grenzen. Darin liegt seine Faszination. De Sade lieferte das pechschwarze Gegenbild zum optimistischen Menschenbild der Aufklärung. Rousseau hatte gesagt, der Mensch sei von Natur aus gut. Die britischen Moralphilosophen David Hume, Shaftesbury und Adam Smith erklärten, das Wesen des Menschen sei Güte, Mitleidsfähigkeit, Großzügigkeit und Wohlwollen. Auf diesem Menschenbild basierte die Erklärung der Menschenrechte in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: sie setzte das Verantwortungsbewußtsein aller Bürger voraus. Die Französische Revolution begann unter dem Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Zum ersten Mal in der europäischen Geschichte sah der Blick auf den Menschen und auf seine Zukunft in der Gesellschaft überwiegend rosig aus. Diese schone Aussicht verdüsterte der Marquis de Sade mit seinem nihilistischen Menschenbild: de Sades perfide „Helden“ und „Heldinnen“ waren anarchisch, grausam, aggressiv und amoralisch. Aber das Schlimmste war, dass de Sades Weltsicht auf denselben Prinzipien basierte wie die der Aufklärer. De Sades Philosophie teilte sich mit der Aufklärung zwei Ideen: Erstens, dass der Mensch aus der Erfahrung lernt, und zweitens, dass er das Recht auf freie Selbstverwirklichung hat. De Sades maßlos zynische Version dieser Prinzipien war die Erfahrung der Peitsche auf der zerfetzten Haut und das Recht auf freien Sex, koste es, was es wolle, und sei es das Leben anderer. Die Aufklärung hatte den Teufel wegrationalisiert. Aber er erschien plötzlich wieder Wie das Monster im Film: in genau dem Moment, in dem man es am wenigsten erwartet. Dass die Rufe nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit den Teufel tatsächlich nicht vertrieben hatten, stellte sich Ende des 18. Jahrhunderts zum Entsetzen der - 146 -
aufgeklärten Bevölkerung Europas heraus, als die Französische Revolution in die Herrschaft des Schreckens unter Robespierre mündete. Das, was „das Volk“ nun im Namen der Republik in den Gefängnissen mit seinen Gefangenen anstellte, unterschied sich nur unwesentlich von den sadistischen Orgien des Marquis. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer haben in ihrer Zivilisationskritik Die Dialektik der Aufklärung (1947) die These aufgestellt, de Sade sei nicht die Gegenseite zur Aufklärung, sondern deren logische Folge. De Sade ist die Systematisierung des Irrsinns aus dem Geist der Vernunft. De Sades orgiastische Szenen sind mit eiskalter Berechnung komponiert. Keine Körperöffnung, keine Körperfunktion bleibt ungenutzt und kein noch so kompliziertes Arrangement der Figuren wird ausgespart. Gemacht wird, was möglich ist. Und was möglich ist, wird leidenschaftslos zu Protokoll gebracht. Da ähneln die Orgien Versuchsanordnungen. Natürlich wurde de Sade das liebste Studienobjekt der Sexualwissenschaft des 19. Jahrhunderts. Er kam auch in der Psychoanalyse unter, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Abgründe der Psyche auszuloten. Die Bezeichnung „Sadismus“ stammte von dem deutschen Sexualwissenschaftler Krafft-Ebing. Er verwendete sie in seinem Buch Psychopathia sexualis (1886), einer medizinischen Untersuchung über sexuelle Perversionen. Bei KrafftEbing ist Sadismus eine Abweichung und die Ausnahme. Bei Freud werden wir alle zu Sadisten - für eine kurze Zeit jedenfalls, und ohne dass wir es merken. In Freuds Psychoanalyse durchlebt jedes Kind im Alter von zwei Jahren die „sadistisch-anale“ Libidophase: Es entdeckt dann zum ersten Mal die Möglichkeit, „nein“ zu sagen, und erfährt so, was es bedeutet, Macht auszuüben.
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D. H. Lawrence Lady Chatterley (1928) Die Typistin, die 1927 das Manuskript von Lady Chatterley abtippen sollte, weigerte sich, nach dem 5. Kapitel weiterzumachen. Die erste Ausgabe des Buches mußte in Italien hergestellt werden, wo die Drucker kein Wort des englischen Textes verstanden. Einige der Buchhändler in England, die den Roman vorbestellt hatten, lehnten dankend ab, als sie ihre Lieferung ausgepackt hatten und lasen, was darin stand. Erst 1960, nachdem der englische Penguin-Verlag seinen aufsehenerregenden Prozeß gewonnen hatte, durfte der Skandalroman in England offiziell in einer unzensierten Fassung veröffentlicht werden. Lady Chatterley ist ein Roman über Sex. Genauer gesagt, ist es ein Roman über die sexuelle Ekstase. Das war in den zwanziger Jahren noch ausgesprochen schockierend für die Nachkommen des Viktorianismus, die daran gewöhnt waren, so zu tun, als hätte der Mensch keinen Körper. Wahrend des 19. Jahrhunderts war Sexualität vollständig aus der offiziellen Kultur verschwunden. Und nun hatte Lawrence einen Roman über den Orgasmus geschrieben! Aber damit noch nicht genug. Lawrence sprengte das Maß dessen, was seine Zeitgenossen tolerieren konnten, denn er nannte das, worum es ging, ganz unverblümt beim Namen. Er bereicherte die englische Literatur um Vokabeln, die noch heute zu den unaussprechlic hen Wörtern zählen, und benutzte die zotige Sprache der Pornographie. (Im Englischen spricht man von den „four-letter-words“; das sind die nicht gesellschaftsfähigen Zoten, die vier Buchstaben haben.) Dabei lag Lawrence eigentlich nichts ferner, als Pornographie zu schreiben. Lady Chatterky sollte den Nachkommen des Viktorianismus einen unverkrampften Zugang zur Sexualität ermöglichen. Lawrence verwendete tabuisierte Ausdrücke, weil er dem Sex das Verbotene und Geheimnisvolle nehmen wollte. Sex war für Lawrence das Allheilmittel gegen die Übel der westlichen Zivilisation. Deshalb ist sein Skandalroman ebenso eine - 148 -
Zivilisationskritik wie ein Roman über erotische Ekstase. Beide Seiten - degenerierte Kultur und vitaler Körper - werden durch jeweils eine der beiden männlichen Hauptfiguren verkörpert. Lady Chatterleys aristokratischer Ehemann, Clifford, ist Lawrences gnadenloser Kommentar über die moderne Zivilisation. Lawrences Sympathien gehören dagegen dem virilen Liebhaber der Titelheldin, dem Wildhüter des Anwesens, Oliver Mellors. Er stammt, wie Lawrence, aus der Arbeiterklasse. Lady Constance Chatterley, genannt Connie, hat Clifford während des Ersten Weltkriegs geheiratet. Clifford wird an der Front schwer verwundet. Er bleibt von der Hüfte ab gelähmt und muss den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen. Er bezieht mit Connie den Landsitz der Familie, „Wragby Hall“. Hier lebt er ein von der Öffentlichkeit isoliertes Leben. Er ist ein kultivierter, aber steriler Repräsentant der englischen Oberklasse. Daran können auch die Versuche, seine Impotenz durch literarische Kreativität wettzumachen, nichts ändern. Als Cliffords Schreiberei keinen Erfolg hat, wird er Unternehmer im Kohlebergbau und kompensiert seine Zeugungsunfähigkeit durch die Vermehrung von Geld. In einer berühmten Szene des Romans (im 13. Kapitel) walzt Clifford mit seinem motorisierten Rollstuhl die blauen Hyazinthen einer zauberhaften Frühlingswiese nieder nachdem er kurz zuvor ein Plädoyer für die Privilegiertheit der Oberschichten gehalten hat. Das ist Lawrences Bild für die zerstörerischen Elemente der Zivilisation: für den Krieg, der Clifford zum Krüppel gemacht hat, für die Mechanisierung des modernen Lebens, dem die Natur zum Opfer fällt, und für die Klassengesellschaft, die kein Mitleid kennt. Cliffords Rollstuhl bleibt auf diesem Ausflug in der Blumenwiese stecken. Um Clifford samt seinem halbautomatischen Apparat von der Stelle zu bewegen, bedarf es ganzen Körpereinsatzes von Mellors, dem Wildhüter und Liebhaber von Lady Chatterley, der zufällig zur Stelle ist. Mellors verkörpert Cliffords Gegenwelt. Er hat der Zivilisation den Rücken gekehrt, den Wald des Anwesens zu seinem Zufluchtsort erkoren und spricht mit dem Akzent der Arbeiterklasse. Vor allem verfugt Mellors über etwas, was der vergeistigte Clifford nicht hat: einen Körper. Mellors und Connie beginnen eine Affäre, verlieben sich ineinander - 149 -
und treffen sich zu leidenschaftlichen sexuellen Vereinigungen im Wald. Während die Welt unter dem schwarzen Ruß von Kohlebergwerken versinkt, wälzen sich die weißen Körper von Connie und Mellors in sinnlicher Ekstase auf einer idyllischen Waldlichtung. Sex- so lautet die schwarzweiß gemalte Botschaft heilt die Wunden, die die Kultur dem modernen Individuum zugefügt hat. Sex vereint Körper und Geist und überwindet die Grenzen zwischen Oberschicht und Unterschicht: Sexual healing der kaputten, zerstörerischen Zivilisation. Lawrence wollte Sex unverblümt beschreiben, ohne dabei pornographisch zu sein. Das Problem dabei war nur, dass es Ende der zwanziger Jahre nur zwei Möglichkeiten gab, offen über Sex zu sprechen bzw. zu schreiben: Entweder man benutzte die Sprache der Medizin oder man begab sich in die Regionen der Pornographie. Es ist deshalb kein Wunder, dass Lady Chatterley unfreiwillig die meisten Klischees der pornographischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts wiederholt: Dazu gehört vor allem die schablonenhafte Beschreibung des Widerstandes auf Seiten der Frau, der sich plötzlich in Hingabe wandelt, und das Motiv des Phallus als ehrfurchtgebietendes Objekt der Begierde. Lady Chatterley war das Produkt einer geradezu atemberaubend naiven Kritik an der westlichen Zivilisation und bot eine einfache Lösung für deren Übel an: besseren Sex gegen eine schlechte Gesellschaft. Aber wichtig war der Roman, weil er Neuland erschloß: er machte das Intimste öffentlich. Er holte den Sex - von dem Freud uns erklärt hatte, welche Bedeutung er für unsere Psyche hat - aus den schattigen und anrüchigen Randzonen der Pornographie und plazierte ihn mitten in der Literatur.
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WIRTSCHAFT »In God we trust« steht auf jeder Münze und auf jedem Schein des amerikanischen Dollars: Wir vertrauen auf Gatt. Das Gottvertrauen in die Macht des Geldes kommt nicht von ungefähr. In den modernen Gesellschaften hat die Wirtschaft das Erbe der Religion angetreten. Geld hat Gott ersetzt. Das funktioniert reibungsloser, als man denkt, denn Gott und Geld haben eines gemeinsam: sie sind universelle Symbole. Geld kann, wie Gott, alles mit Bedeutung aufladen. Als symbolischer Bedeutungsträger ist Geld nahezu unerschöpflich - wie Gott. Wer über sehr viel oder sehr wenig Geld verfügt, weiß, dass Geld sehr viel mehr bedeutet als die Summe der Zahlen, die jeder einzelne Schein tragt. Geld kennt keine Grenzen: „Geld regiert die Welt“ ohne Rücksicht auf Klima, Kultur, Nation oder Geschlecht und erreicht dabei - wie Gott - alles und jeden. So wie in der religiösen Weltorientierung alles seine Motivation und seinen Grund in Gott finden konnte, wird im Kapitalismus alles durch Geld bewertbar. In den Weltmodellen des Mittelalters und der Neuzeit stand die ganze Schöpfung durch ein unendliches Geflecht hor izontaler und vertikaler Verbindungen miteinander in Beziehung - heute erledigen das die Weltmärkte. Mit Beginn der Neuzeit bekommt die Kirche Konkurrenz. Die moderne Heilsgemeinschaft heißt Wirtschaft. Sie verteilt zwar keine Oblaten, bringt dafür aber Münzen in Umlauf. Die sind - genauso wie die Hostien - beidseitig bestempelt, verfugen über einen unbedeutenden materiellen Eigenwert und werden erst dadurch wertvoll, dass sie von der Autorität, die sie verteilt hat (ein Regent oder die Bank), mit einem symbolischen Wert versehen worden sind. Nachdem die Wirtschaft die Religion beerbt hat, zieht sie in deren Räumlichkeiten. In der Literatur wird der Vergleich von Banken und Börsen mit Kirchen zu einer stehenden Redewendung: Der Franzose Voltaire schlug zum Beispiel vor, Konfessionsstreitigkeiten in der Londoner Börse auszutragen; der Deutsche Heinrich Heine erklärte, in der Pariser Börse werde der Finanzminister verehrt wie Gott; und der - 151 -
Brite Samuel Butler schilderte in seinem utopischen Roman Erewhon (1872) den Besuch einer „Bank“: An einem großen Platz liegt ein riesengroßes, altes Gebäude, sein imposantes Portal und die hoch aufragenden Türme lösen Ehrfurcht und Ohnmacht aus, im Inneren befinden sich marmorne Säulen, ein Knabenchor singt in einem Nebenraum, und bunte Glasfenster stellen Szenen aus der Geschichte der Bank dar. (Der merkwürdige Name des Romans stammt daher, dass er rückwärts gelesen „nowhere“ [engl. nirgendwo] ergibt.) Die Abtrünnigen der Wirtschaft sind die Bankrotteure. Anstelle der sieben Todsünden gibt es nur noch eine einzige: Armut. Man büßt dafür in der irdischen Holle, dem Armenhaus, dem Slum oder dem Sweatshop. Tatsächlich galt Armut nach der gängigen Meinung der wohlhabenden Schichten bis ins 20. Jahrhundert als schwere moralische Verfehlung. In der Sozialgesetzgebung des 19. Jahrhunderts - oder was man dafür hielt - behandelte man Armut als krimine llen Tatbestand und organisie rte Armenhäuser daher wie Gefängnisse. Im Armenhaus landen Schuldner, die ihre Schulden nicht mehr bezahlen können. Wer einen Schuldner in seine Abhängigkeit gebracht hat, ist ein Gläubiger. So hängt alles mit allem zusammen: der eine ist immer für den ändern da - ganz so wie in der Gemeinschaft der Seelen. Gemeinsam besuchen Gläubiger und Schuldner dann auch die Messe - nur beabsichtigen sie dort nicht, Gott zu lobpreisen, sondern Preisvergleiche einzuholen. Falls dem Gläubiger das Vaterunser über die Lippen kommt, enthält es natürlich nicht die Worte: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigen, sondern: „Und zahle, was ich dir verkaufte, wie auch ich bezahle meine Rechnungen“ Die Initiatoren des Wechsels von der Vorherrschaft der Religion zur Wirtschaft waren frühe protestantische Sekten. Die Puritaner erklärten die Arbeit zum wahren Gottesdienst und sahen den Erwerb großer Vermögen als Zeichen göttlicher Gnade. Der klassische Roman hierzu ist Robinson Crusoe von Daniel Defoe. Noch der Begründer der Wirtschaftswissenschaften, der Schotte Adam Smith, dachte an religiöse Ordnungsvorstellungen. Smith orientierte sich am klassischen Harmonie -Modell, demzufolge die Welt durch Gottes unsichtbare Hand in ihrem Gleichgewicht gehalten wird. So wie Gott - 152 -
für die Ordnung der Welt sorgt, stellt das Wirtschaftssystem mittels der Selbstregulierung des Marktes sein Gleichgewicht her, erklärte Smith und lieferte die erste moderne Beschreibung davon, was Wirtschaft überhaupt ist.
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Max Weber Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1905) Der Katholik geht in die Kirche. Der Protestant geht zur Arbeit. Der Katholik heiligt den Sonntag. Der Protestant heiligt den Werktag. Der Katholik wird Mönch, geht ins Kloster und übt sich in Askese (Triebverzicht). Der Protestant wird ein Workaholic, macht Karriere und übt Sparsamkeit. Die Heiligen der katholischen Kirche leben im Himmelreich und legen für die Erdenbewohner ein gutes Wort bei Gott ein. Die Heiligen des Protestantismus leben im Diesseits und gründen im Verlauf eines Menschenlebens Weltkonzerne. Der Katholik hat die Beichte, wenn er schuldig geworden ist. Der Protestant hat einen Haufen Schulden und keine Beichte. Er muß arbeiten. Was hat der Kapitalismus mit dem Protestantismus zu tun? Warum florierte im 17. Jahrhundert die Wirtschaft in den beiden protestantischen Ländern England und den Niederlanden? Woran lag es, dass zur selben Zeit der wirtschaftliche Niedergang der katholischen Weltmacht Spanien einsetzte? Warum stammen die größte n Erfolgsstorys über den Erwerb gigantischer Vermögen in einer Generation - das Märchen »vom Tellerwäscher zum Millionär« aus dem Land des sittenstrengen Puritanismus, den USA? Max Weber, der Begründer der modernen Soziologie, zeigte in seinem Aufsatz über den Ursprung des Kapitalismus, dass es einen Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Erfolg und Religion gibt. Er sagte, dass der moderne Berufsmensch ein Produkt des Protestantismus ist - genauer gesagt eine Folgeerscheinung der Lehre des protestantischen Reformators Johannes Calvin. Im Calvinismus galt die Arbeit als Gottesdienst. »Werde reich für Gott, aber nicht, um ein Luxusleben zu führen«, lautete die Anweisung der Prediger aus den puritanischen Sekten. Das waren von Calvins Lehre beeinflußte, radikale Abspaltungen vom Protestantismus - z.B. die angloamerikanischen Presbyterianer, Baptisten, Quäker. Mennoniten - 154 -
und Methodisten. Weil der Reichtum aber nur dann gottgefällig war. wenn er hart erarbeitet wurde, und nicht, wenn er genossen wurde, gehörten Emsigkeit und Sparsamkeit zu den größten Tugenden in der Glaubensethik der Puritaner. Mit harter Arbeit, Kapitalanhäufung und wohlüberlegten Investitionen diente man Gott - und erfand nebenbei den Kapitalismus. Gemäß der sittenstrengen Moralauffassung der Puritaner arbeitete man, um zu arbeiten. Man durfte nicht aufhören zu arbeiten, wenn man genug Geld verdient hatte, um ein angenehmes Leben zu führen. Die Arbeit diente nicht der Befriedigung von Bedürfnissen - sie war im Idealfall vollkommen losgelöst von der Vorstellung, was man mit den Früchten der Arbeit tun konnte. Der puritanisch gestimmte englische oder amerikanische Unternehmer des 17. Jahrhunderts ordnete sein ganzes Leben seiner Arbeit unter. Da florierte der Betrieb, aber das Privatleben blieb Öde. Und entsprechend ging im Hause eines puritanischen Unternehmers nicht nur die Vermehrung des Geldes lustlos vonstatten, sondern auch die Vermehrung des Nachwuchses. Die größte Versuchung der Fleischeslust, der Geschlechtsverkehr, mußte deshalb irgendwie mit kühlem Kopf und dem Gedanken an seine Zweckmäßigkeit absolviert werden. Wer trotzdem unter sexuellen Anfechtungen litt, dem wurde geraten, er solle kalte Bäder nehmen und etwas harter arbeiten. Woher kam diese zugleich nüchterne und religiös überhöhte Bewertung der Arbeit bei den Puritanern? Im Zentrum der Lehre Calvins und seiner Nachfolger stand die Lehre von der Prädestination, der Vorherbestimmung des Schicksals. Sie besagte: Gott hatte in seiner unergründlichen Weisheit vorherbestimmt, wer verdammt bliebe und wer selig werden würde. Nichts konnte Gottes einmal getroffenen, weisen Ratschluss verändern, keine noch so guten Taten, keine Beic hte, keine Opfergaben, keine Sakramente. Für die Calvinisten gab es weder eine Amtskirche noch privilegierte Gesprächspartner des Herrn (Priester), an die man sich wenden konnte, um seelischen Beistand zu bekommen. Nirgends konnte der einzelne erfahren, ob er zu den Erwählten gehörte oder zu den Verdammten - aber er hätte Gottes Beschluss auch nicht mehr ändern können. Der Gott der Calvinisten war fern, gnadenlos, unbestechlich und unerforschlich. Der Gläubige blieb mit seinem Gefühl seiner - 155 -
Heilsungewißheit und in einer furchtbaren inneren Vereinsamung allein. Calvins Lehre von der Prädestination war natürlich auf die Dauer unerträglich für die Gläubigen. Calvins Nachfolger waren daher bestrebt, ihr Los zu lindern. Sie erklärten, es sei durchaus möglich, Zeichen des Erwähltseins an sich zu erkennen. Mit ziemlich akrobatischer Logik verkündeten sie, man könne an der eigenen Lebensführung erkennen, ob man erwählt sei. Es lag also auf der Hand, dass der gottesfürchtige Puritaner die Anzeichen seines Gnadenstandes selbst produzierte. Er vollbrachte Werke, die den Ruhm Gottes mehrten, und verschaffte sich damit die Gewißheit des eigenen Erwähltseins. Es reichten aber nicht einzelne gute Taten, die von moralischen Ausfallserscheinungen durchbrochen waren, die man später wieder zur Not gutmachen konnte, wenn man Reue empfand. Die guten Werke des Puritaners durften nicht den Anschein haben, man wolle Gott damit bestechen. Jede Minute des Lebens mußte gottgefällig gestaltet werden. Das gottesfürchtige Leben sah so aus, als wirke Gottes Gnade durch einen selbst. Damit war der Alltag vollständig religiösen Geboten untergeordnet. Er bestand aus permanenter Selbstüberwachung, Selbstdisziplin, Verzicht und Regeln, die helfen sollen, fromme Gebote einzuhalten. Er war wie das Leben eines mitte lalterlichen Mönchs im Kloster. Max Weber hat dafür den Begriff der »innerweltlichen Askese« gefunden. Er meint damit die von der Sittenstrenge des Calvinismus diktierte klösterliche Lebensführung in der Welt des Berufsalltags. Der Alltag wird einer methodischen Lebensführung untergeordnet (daher die Bezeichnung „Methodisten“). Dazu gehörten auch feste Arbeitszeiten. Ein gewisses Maß der innerweltlichen Askese leben heutzutage alle, die einem geregelten Arbeitstag nachgehen: Aufstehen um 7:00, ins Büro um 9:00, Mittag in der Kantine um 13:00, Feierabend um 17:00. Auch Benjamin Franklins Ausspruch »time is money« entstammt dem „Geist des Kapitalismus“ Pünktlichkeit und Zeiteinteilung waren Tugenden, die sich am Ende auszahlen. Heute nennt man das „ TimeManagement. Und man lässt es sich etwas kosten, den Mitarbeitern beizubringen, wie man Arbeitsabläufe effektiver organisiert, und heuert dafür Unternehmensberatungen an. In den puritanischen Sekten wurde der Beruf zum Testlauf des - 156 -
persönlichen Gnadenstandes. Von Luther stammte die Idee, die Bewährung vor Gott aus den Klostermauern in den Berufsalltag zu verlegen. Aber Luther sah im Beruf auch ein göttliches Schicksal, das den Gläubigen in seine Schranken verwies. Der Calvinismus radikalisierte die Idee des Berufes als Zeichen der eigenen überragenden moralischen Qualität. Im beruflichen Erfolg oder Mißerfolg zeigte sich, ob eine Person in den Genuss göttlicher Gnade kommen würde oder nicht. Wirtschaftlicher Erfolg war ein Erkennungszeichen göttlicher Gnade. Geschäftlicher Verlust haftete an einem als schwerer sittlicher Makel und ließ das Schlimmste befurchten. Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe stellt genau m diesem Sinn einen Zusammenhang zwischen Schulden und Schuld her. Das Phantastische an dieser moralischen Aufwertung des Berufes war, dass man kein schlechtes Gewissen haben mußte, wenn man Gewinne machte. Im katholischen Glauben galt persönliche Bereicherung als eine Sünde - sie fand natürlich ständig statt, war aber vom schlechtem Gewissen begleitet. Der Puritaner brauchte kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn er immer reicher wurde. Im Gegenteil: Er konnte seinen Reichtum als sicheres Zeichen dafür sehen, von Gott erwählt worden zu sein. Das galt natürlich nur, sofern er sich an die durch die Berufsaskese diktierten Tugenden hielt; d.h. wenn er sein Geld mit legalen Mitteln machte, seinen Reichtum nicht verpraßte, sondern sparte oder überlegt und vernünftig investierte, um (zum Ruhme Gottes) noch reicher zu werden. Es war nicht sündhaft, reich zu sein, es war nur sündhaft, das zu genießen. Weber erklärt die Ursprünge des Kapitalismus aus der Berufsethik der Calvinisten. Stetige Arbeit, Verzicht auf Konsum, Sparsamkeit, kalkuliertes und vorausplanendes Verhalten, Investition des Gewinns in den Betrieb, Offenheit für jede Art Veränderung, die Profite bringen würde - das alles machte eine kapitalistische Wirtschaftsordnung erst möglich. Da die Puritaner ihr Geld nicht für immer neue möglichst auffallende Kleidung benötigten und niemals rauschende Feste feierten, waren sie die ersten Reichen in der Geschichte, die tatsächlich Kapital ansammelten, das sie investieren konnten: in Schulen und Universitäten, vor allem aber in neue Technologien. So wurde aus einer religiösen Überzeugung der „Geist - 157 -
des Kapitalismus“ Er beseelte die Gründungen der Manufakturen im 18. Jahrhundert, der Fabriken im 19. Jahrhundert und der Weltkonzerne im 20. Jahrhundert. Er durchdrang den modernen Unternehmer, den stets vernünftig kalkulierenden und in allen Lebenslagen disziplinierten self-made man mit einer sagenhaften Arbeitsmoral: fleißig, gewissenhaft, sparsam, emsig, tatkräftig und bescheiden - jenen Typ des strengen, aufrechten, moralgefestigten und eisenharten Geschäftsmannes vom Schlage John Davison Rockefellers oder Henry Fords.
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Daniel Defoe Robinson Crusoe (1719) Daniel Defoe war 59 Jahre alt, als er seinen ersten Roman schrieb: Das Leben und die seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe. Zu diesem Zeitpunkt hatte er ein bewegtes Leben mit ständigen Höhen und Tiefen hinter sich. Defoe wusste, wie es ist, „Schiffbruch zu erleiden“, und er wusste, wie man aus den Trümmern seiner Existenz (einem „Wrack“) herausholt, was herauszuholen ist. Defoe hatte als Kind die große Pest in London erlebt und war ein Jahr später Zeuge des großen Brandes geworden, der London dem Erdboden gleichgemacht hatte. Er hatte als Sohn eines Nonkonformisten (Puritaners) erfahren, was es bedeutet, einer verfolgten Minderheit anzugehören. Er hatte sich zum puritanischen Prediger ausbilden lassen und sich einer Rebellion gegen den König angeschlossen, die von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Er war Geschäftsmann geworden und hatte mit der damals gewaltigen Summe von £ 17.000 bankrott gemacht. Er war nach der Veröffentlichung eines satirischen Pamphlets wegen „Aufwiegelung“ angeklagt worden und für fünf Monate im Gefängnis gelandet. Er hatte am Pranger gestanden, wo er jedoch von der Londoner Bevölkerung statt mit faulem Gemüse und Steinen mit Applaus bedacht worden war. Er hatte zum zweiten Mal bankrott gemacht, war Spion und Doppelagent geworden und gleichzeitig Herausgeber einer Zeitung. Er hatte politische Flugschriften verfasst, ein Spionagenetz geschaffen und als Geheimnisträger für die englische Regierung gearbeitet. Defoe war nacheinander Rebell für eine hoffnungslose Sache, Unternehmer, Bankrotteur, verfolgter Journalist, einsamer Parteispitzel, politischer Propagandist und Verfasser von rund 500 Texten. Bis zum Ende seines Lebens hatte Defoe mit einem gigantischen Berg Schulden zu kämpfen und war abwechselnd damit beschäftigt, sich seine Gläubiger vom Leibe zu halten und jede Gelegenheit wahrzunehmen, die sich bot, um Geld zu machen. Defoes berühmter Roman über den englischen Kaufmann Robinson Crusoe, den das Schicksal eines Tages auf eine einsame Insel - 159 -
verschlägt, war von der Geschichte des Seefahrers Alexander Selkirk inspiriert worden. 1704 hatte sich Selkirk nach einem Streit mit seinem Kapitän auf einer der Juan-Fernández-Inseln vor der Küste von Chile absetzen lassen und dort vier Jahre lang gehaust. Diese Begebenheit brachte Defoe vermutlich auf die Idee zum Roman, aber im wesentlichen wurde Robinson Crusoe dann eine Allegorie auf sein eigenes Leben. Defoe beschrieb, was er selber erlebt hatte: den Schiffbruch einer Firmenpleite, das Inseldasein der totalen inneren Vereinsamung als Geheimnisträger und den Segen einer eisernen Arbeitsmoral in Situationen der totalen Ausweglosigkeit. Robinson Crusoe ist das Paradebeispiel für Max Webers These von den Ursprüngen des modernen Kapitalismus aus der religiösen Ethik der Puritaner. Die Beziehung zwischen Wirtschaft und Religion ist der Schlüssel zu Robinson Crusoe. Der Puritaner Defoe setzt nämlich den Begriff der „Schulden“ mit dem Begriff der „Schuld“ gleich. Defoes Bankrott-Erlebnis entspricht Robinsons Schiffbruch: Aber was bei Defoe der geschäftliche Verlust ist, ist bei Robinson ein moralisches Desaster. Defoes Schulden sind Robinsons Schuld. Robinson Crusoe ist eine der berühmtesten Figuren der Weltliteratur. Jeder kennt mindestens eine der mehr oder weniger missratenen Robinson-Verfilmungen, in denen ein mit einem Zottelfell dürftig bekleideter Mann vor einem Palisadenzaun lauter praktische Sachen bastelt. Wahrscheinlich kann an dieser Stelle eine kurze Erinnerung an die Handlung dennoch nicht schaden: Robinson Crusoe macht zunächst alles falsch, was man als bürgerliches Individuum falsch machen kann. Er heuert auf einem Schiff an, anstatt sich der Segnungen einer gesicherten Existenz des Mittelstandes zu erfreuen. Er wird ein merchant-adventurer, ein Handel treibender Abenteurer, der das große Geld mit Sklavenhandel macht und alles verliert. Statt daraus eine Lehre zu ziehen, begeht Robinson denselben Fehler noch einmal: Nachdem er sich mit der Gründung einer Plantage saniert hat, macht er erneut bankrott, weil er sich auf riskante Unternehmungen einläßt. Als Unternehmer versagt Robinson auf ganzer Linie, denn anstatt seine Profite überlegt zu investieren, steckt er sein Geld in windige Geschäfte. Statt kühl zu kalkulieren, wagt er immer wieder gefährliche Handelsreisen über die Meere. Die grenzenlose Weite des Meeres entspricht dabei der Maßlosigkeit - 160 -
Robinsons. Aus der Sicht der puritanischen Ethik macht Robinson sich durch seinen Lebenswandel schuldig- Er hat nicht nur die Autorität seines Vaters mißachtet, als er sich aus dem väterlichen Hause stahl, um zur See zu fahren, sondern auch das Gebot Gottes zur inneren und äußeren Bescheidenheit. Zur Strafe wirft ihn das Schicksal (Gott) nach einem Schiffbruch auf eine einsame Insel. Robinson ist der einzige Überlebende; auf der Insel gibt es auf den ersten Blick so gut wie nichts, und vor der Küste liegt das Wrack des Schiffes. Robinson ist in seinem Leben gestrandet. Aber allmählich dämmert ihm der Sinn seines Inselaufenthaltes. Ihm wird klar, dass er überlebt hat, weil Gott seine innere Läuterung vorsieht. Die Insel wird zum Ein-Mann-Kloster. Nun betet Robinson regelmäßig - aber was viel wichtiger ist: er beginnt ein Tagebuch zu schreiben. Darin summiert er seine Verfehlungen und verbucht seine Fehler als Fehlinvestitionen. Robinson erstellt eine Art Bestandsaufnahme seines Lebens. Er denkt über das Vergangene nach, bewertet seine momentane Lage und stellt sich vor, was alles hätte schlimmer kommen können. Er wägt das Positive gegen das Negative (Soll gegen Haben) ab und ähnelt darin einem Buchhalter, der abends über den Rechnungsbüchern brütet, um herauszufinden, wie sich noch mehr Kapital aus dem Unternehmen pressen läßt. Robinsons „Ertrag“ ist geistiger Natur: Selbsterkenntnis und der Weg zu Gott. Robinson beginnt, seinen Alltag methodisch einzuteilen. Er schlachtet das Wrack des Schiffes aus, soweit er nur kann. Er legt sich eine Vorratskammer an und lernt, sich sparsam daraus zu bedienen. Er konstruiert so ungefähr alles, was eine englische Kleinstadt zu Beginn des 18. Jahrhunderts an technischem Standard zu bieten hatte. Dass es nun auf der Insel dank seines emsigen Fleißes und seiner Erfindungsgabe immer zivilisierter und schöner wird, erscheint Robinson als ein Zeichen dafür, dass Gott seine Mühen anerkennt und sich gnädig zeigt. Eines Tages entdeckt Robinson am Strand einen Fußabdruck. Kurze Zeit später stellt sich heraus, dass Kannibalen einer Nachbarinsel von Zeit zu Zeit Robinsons Strand benutzen, um dort ihre Feinde zu grillen. Robinson gelingt es, eines ihrer Opfer zu retten. Er nennt den Wilden »Freitag« - nach dem Tag, an dem er ihn aufgegriffen hat. Zu - 161 -
diesem Zeitpunkt ist Robinson bereits seit 25 Jahren auf der Insel und weiß immer noch das Tagesdatum. Das ist zwar vollkommen unwahrscheinlich, aber für die Botschaft des Romans Von zentraler Bedeutung: Denn der ganze Erfolg des „Unternehmens Läuterung“ hängt davon ab, dass Robinson nicht wieder im Ozean der unbegrenzten Möglichkeiten versinkt. Damit das nicht passiert, sitzt er erstens auf der Insel fest (das begrenzt ihn räumlich). Zweitens halt er sich an einen strikten Tagesplan und schreibt einen Kalender (das begrenzt ihn zeitlich). Als Robinson die Insel endlich verlassen kann, ist er in der Lage festzuhalten, dass er dort 28 Jahre, zwei Monate und 19 Tage verbracht hat. Wenn man eine Gleichung Robinson = Defoe eröffnet, kommt man zu den folgenden Resultaten: Robinsons Schiffbruch entspricht der Katastrophe des Bankrotts von Defoe. Das Wrack ist Defoes ruinierte Firma. Der Versuch, aus den Resten des Schiffes herauszuholen, was herauszuholen ist, entspricht dem, was ein Bankrotteur mit den Ruinen seiner Firma tun würde. Robinsons knappe Güter sind das knappe Geld. Und die Kannibalen, vor denen Robinson in ständiger Angst lebt, weil sie ihn fressen könnten, sind die Gläubiger, die Defoe stets auf den Fersen waren. Robinson hat seinen Kredit überzogen, als er sich gegen das Gebot Gottes auf ein Abenteurerleben eingelassen hat. Seine Selbsterkenntnis ist eine Inventur seines Lebens und seiner Seele, die zutage fördert, dass er jahrelang in einen falschen Lebensweg investiert hat. Robinsons Tagebuch ist sein Schuldenkonto, das ausgeglichen werden muß, oder ein Rechnungsbuch, in dem er nun Tag für Tag die Fortschritte seiner moralischen Läuterung bilanziert. Robinson befreit sich von seiner Schuld wie Crusoe von seinen Schulden - durch Insel- bzw. innerweltliche Askese, methodische Arbeit und zähe Selbstdisziplin. Robinson Crusoe zeigt, was Weber beobachtet hat: den geheimen Austausch zwischen Wirtschaft und Religion in den Anfängen des modernen Kapitalismus im 17. Jahrhundert. Deshalb werden Defoes Schulden mit dem moralischen Problem der Schuld vergleichbar, und deshalb ähnelt Robinsons Schuld einer offenen Rechnung. Nicht alle Leser haben Robinsons puritanische Gesinnung immer gesehen: Im späten 18. Jahrhundert fand Defoes Roman vor allem in - 162 -
Deutschland Nachahmer, die das Inselabenteuer als zivilisationsentrückte Idylle verherrlichten (die „Robinsonade“). Sicher hatten auch die Gründer des Ferienclubs Club Robinson keine Ahnung, dass ihr Namensgeber überhaupt nichts mit dem süßen Nichtstun auf einem Inselparadies zu tun hat. Wir sind Robinson nicht auf einer Insel im Pazifik nah, sondern im Büro. Wir sind wie Robinson, wenn wir pünktlich zur Arbeit erscheinen, uns unseren Aufgaben gewissenhaft widmen und für den Urlaub sparen, um hinterher erfrischt zurück an die Arbeit gehen zu können. Na dann: »Schöne Ferien. Sie haben es sich verdient«.
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Adam Smith Der Wohlstand der Nationen (1776) Adam Smith ist der Vater der klassischen Ideologie des Kapitalismus, des Wirtschaftsliberalismus. Er war ein bescheidener Mann. Als der Schotte seine Lehrtätigkeit als Professor für Moralphilosophie an der Universität von Glasgow beendete, um Privatlehrer eines englischen Aristokraten zu werden, mußte er seine Vorlesungsreihe mitten im Semester abbrechen. Zu seiner letzten Veranstaltung hatte Smith für jeden Studenten einen Umschlag mitgebracht, in dem dessen Vorlesungsgebühr steckte. Smith wollte seinen Studenten ihr Geld zurück geben. Sie hatten es, wie damals üblich, direkt an den Lehrenden gezahlt. Aber die Studenten weigerten sich, das Geld zurückzunehmen. Sie sagten, sie hätten schon viel mehr gelernt, als man in Geld aufwiegen könne. Smith war tief gerührt, aber er blieb hartnäckig und stopfte dem nächstsitzenden Studenten einen Umschlag mit Geld einfach in dessen Jackentasche. Als die Studenten sahen, dass Protest zwecklos war, nahm jeder die zurückerstattete Kursgebühr widerwillig an sich. Nur wenn es um Zuckerstücke ging, schien Smith von Gier überwältigt zu werden - jedenfalls existiert eine Anekdote, der zufolge daheim die Zuckerdosen vom Tisch genommen wurden, wenn Smith sich setzte. Smith war unter seinen Freunden auch für seine Zerstreutheit berüchtigt, die schon geradezu groteske Formen annahm: Einmal ging er morgens in seinem Garten im Morgenrock spazieren, wandte sich - tief versunken - aus Versehen in die falsche Richtung und bemerkte erst, dass er seinen Garten verlassen hatte, als ihn das Geläut von Kirchenglocken aus seinen Gedanken aufschreckte. Smith hatte sich, ohne es zu merken, 15 (!) Meilen von zu Hause entfernt. Gegen Ende seines Lebens war Smith ein berühmter Mann. Auf einer Versammlung der bedeutendsten Männer der Zeit erhoben sich die Anwesenden, als er den Raum betrat. Smith war das höchst unangenehm und er bat scheu, man möge sich um Himmels Willen bitte wieder setzen. Aber einer der Gäste, der Politiker William Pitt, antwortete: »Wir möchten stehenbleiben, bis Sie Platz genommen - 164 -
haben. Wir sind alle Ihre Schüler.« Der Wohlstand der Nationen ist der große Klassiker der Wirtschaftstheorie. Adam Smith legte das Fundament für die moderne Nationalökonomie, und er begründete eine neue Wissenschaft: die Volkswirtschaftslehre. Der Wohlstand der Nationen ist die erste systematische und umfassende Beschreibung der Bedeutung und Funktionsweise des Systems der Wirtschaft als Teil der Gesellschaft. Das Zentrum der Untersuchung ist Smiths Beschreibung vom Gleichgewicht des Marktes. Um Smiths ungeheure Leistung zu ermessen, muß man sich klarmachen, dass am Ende des 18. Jahrhunderts weder eine umfassende Theorie der Wirtschaft noch ein Studienfach Wirtschaftswissenschaft existierten. Smith war Philosophie -Professor. Er gewann seine Erkenntnisse über die Mechanismen der Wirtschaft im regen Gedankenaustausch mit den wichtigsten Denkern seiner Zeit (er war mit dem Philosophen David Hume befreundet). Und er war so abwesend er auch durch seinen Garten gehen mochte - ein aufmerksamer Beobachter der vorindustriellen Gesellschaft im Übergang zum Industriekapitalismus. Smiths Weitblick ist ehrfurchtgebietend. Als er sein großes Werk schrieb, gab es in England (dem Mutterland der Industrialisierung) nur einige wenige Manufakturen und Fabriken. Mit dem Namen Adam Smith verbindet man drei Begriffe: erstens den Wirtschaftsliberalismus, zweitens die Metapher der „unsichtbaren Hand“ (the invisible hand) und drittens die Arbeitsteilung. 1. Smiths zentrale Idee lautet: Der Egoismus des Menschen ist der Schlüssel zum Wohlstand der ganzen Gesellschaft. Smith erkannte nüchtern, dass die Wirtschaft nicht auf der Grundlage von Mildtätigkeit funktioniert, sondern weil alle, die am Wirtschaftsleben teilhaben, das Interesse verfolgen, sich zu bereichern. Mitleid ist gut, aber nicht in der Wirtschaft. Läßt man jedem einzelnen die Freiheit, seine ökonomischen Interessen zu verfolgen, zahlt sich das am Ende für alle aus. Der Egoismus des einzelnen stellt sich somit als Quelle für Ordnung, Wohlstand und Wohlfahrt der ganzen Nation heraus. Dieser Leitgedanke wurde zum Credo des Wirtschaftsliberalismus. - 165 -
Zu Beginn des l8. Jahrhunderts hatte der in England lebende holländische Arzt Bernard de Mandeville einen ähnlichen Gedanken in seinem Gedicht Die Bienenfabel (1704) auf die berühmte Formel »private vices, public benefits« gebracht (private Laster gleich öffentlicher Nutzen). Mandevilles Idee, Egoismus sei für alle gut, hatte unter den verwirrten Zeitgenossen blankes Entsetzen hervorgerufen. Mandevilles Worte klangen nach einem Absturz ins moralische Niemandsland. Der Vater des Wirtschaftsliberalismus, Adam Smith, bewahrte kühlen Kopf und systematisierte den Gedanken. Er sagte: Eigeninitiative, Entscheidungsfreiheit des einzelnen, Einzelplanung und Wettbewerb sind die Bedingungen einer florierenden Wirtschaftsordnung. Der freien Entfaltung des einzelnen dürfen im Interesse des Wirtschaftswachstums deshalb keine Grenzen gesetzt werden. Private Investitionen dürfen nicht blockiert werden. Vor allem muß sich der Staat aus allen Vorgängen der Wirtschaft heraushalten. Heute identifizieren wir das als Grundpositionen der „freien Marktwirtschaft“. Smith erklärte, dass wirtschaftliche Freiheit nicht automatisch Chaos bedeuteten würde. Warum das so war, zeigte er durch seine Analyse eines wirtschaftlichen Mechanismus: des sich selbst regulierenden Marktes. Smiths Beobachtung ist so modern, dass sie seinen anhaltenden Ruhm begründet hat. Er beschrieb, wie Angebot und Nachfrage das Preisgleichgewicht bestimmten. Er zeigte, wie Produktion und Bedürfnisse der Käufer zusammenhängen. Und er führte vor Augen, wie der Wettbewerb dafür sorgt, dass sich Preis und Produktionskosten decken. Der Markt war ein in sich geschlossenes System, dessen Kräfte sich gegenseitig regulierten. Daher konnte man die Wirtschaft sich selbst überlassen, ohne in ihre Dynamik von außen einzugreifen. Diese Sichtweise begründete die Doktrin des Laissez faire, die zum Glaubensbekenntnis der westlichen Industriestaaten im 19.Jahrhundert wurde. 2. Smith fand für diese komplizierten Zusammenhänge ein unglaublich eingängiges Bild: die unsichtbare Hand (the invisible hand). Er meinte damit eine unsichtbare, ordnende Macht, die jeden einzelnen dazu bringt, mit anderen zu wetteifern, und die zugleich dafür sorgt, dass der Wettbewerb die Marktmechanismen auslöst, die zum Wohlstand der Nation fuhren. Smith hatte das Bild der - 166 -
unsichtbaren Hand der traditionellen Vorstellung entlehnt, Gott ordne mit unsichtbarer Hand die Welt. Aber Smith meinte tatsächlich etwas so ungeheuer Modernes wie den „sich selbst regulierenden Mechanismus“ der Marktwirtschaft. Natürlich war das Bild von der „unsichtbaren Hand“ ungle ich beeindruckender. Es verlieh einem staubtrockenen Phänomen eine geradezu mystische Weihe. Es erhob den Bereich der Wirtschaft in die Höhen der Religion. Und damit tauchte auch in Smiths Metapher wieder die heimliche Verwandtschaft zwischen Wirtschaft und Religion auf, die Max Weber beobachtet hat. 3. Neben der Analyse der Marktmechanismen beschäftigte sich Smith mit der Frage, wie der Reichtum einer Nation zu vergrößern sei. Er schlug Spezialisierung und Arbeitsteilung vor. Um seinen Zeitgenossen zu verdeutlichen, was er damit meinte, führte Smith sein berühmtes Stecknadel-Beispiel an: Die Herstellung einer Stecknadel umfaßt ungefähr 18 unterschiedliche Arbeitsschritte. Läßt man diese Handlungen alle von einem einzelnen Arbeiter verrichten, wird er mit knapper Not weniger als 20 Stecknadeln, und vielleicht nicht mal eine einzige pro Tag herstellen können. Verteilt man alle Schritte auf 10 Arbeiter, werden sie am Ende eines Tages bis zu 48.000 Stecknadeln hergestellt haben. Smith hielt sein Plädoyer für die ökonomischen Vorteile der Massenproduktion in einer Zeit, in der es in England, dem Mutterland der Industrialisierung, erst einige wenige Fabriken gab - ganz zu schweigen von Fließbandarbeit. Das Fließband wurde erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem amerikanischen Automobilhersteller Henry Ford eingeführt, Smiths Theorie des Wirtschaftsliberalismus bestimmte in den folgenden hundert Jahren die Wirtschaft in allen führenden europä ischen Industriestaaten. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass der Moralphilosoph Smith etwas zu optimistisch gewesen war, was die Folgen der uneingeschränkten wirtschaftlichen Selbstverwirklichung des einzelnen anging: Sie machte die Reichen immer reicher und die Armen immer armer, statt für allgemeinen Wohlstand zu sorgen. Das brachte Mitte des 19. Jahrhunderts Karl Marx auf den Plan. Die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts brachte dann das Ende in das Vertrauen auf Laissez faire und läutete die „Keynes'sche Revolutiom ein (Keynes). - 167 -
Karl Marx Das Kapital (1867) Karl Marx hat den Untergang des Kapitalismus vorausgesagt. Er hat sich geirrt. Inzwischen ist nicht der Kapitalismus untergegangen, sondern der Kommunismus. Aber das ändert überhaupt nichts an der Tatsache, dass Das Kapital seinen ewigen Platz in der Geschichte der bedeutenden Werke der Ökonomie hat. Marx' großes Werk war lange Zeit die wic htigste Kritik am Kapitalismus. Als Karl Marx Das Kapital schrieb und darin die »Ausbeutung« der Arbeiterklasse, die psychische Vereinsamung des Arbeiters (die »Entfremdung«) und den wachsenden Reichtum auf Seiten derer, die ohnehin schon alles haben, anprangerte, sah das Arbeitsleben in den Industriestädten des 19. Jahrhunderts unvorstellbar grauenhaft aus. In den Fabriken galt ein Arbeitstag, der morgens um 6.00 Uhr begann und um 7.00 Uhr abends endete, als ausgesprochen human. Es war keine Seltenheit, dass Männer, Frauen und Kinder bis nach Mitternacht arbeiteten. Hinzu kam, dass eine zeitgenössische Ökonomische Binsenweisheit besagte, man dürfe Arbeiter nicht zu gut bezahlen, damit sie nicht faul würden. Marx' Kapital erhielt noch zu seinen Lebzeiten den inoffiziellen Titel Bibel des Proletariats verliehen. Marx war der Sohn eines Rechtsanwalts und stammte aus Trier. Er studierte Philosophie in Berlin und schloss sich den „Junghegelianern“ an. Er wurde Journalist und ging nach Paris, wo er Friedrich Engels begegnete. Engels war der Sohn eines reichen deutschen Industriellen, der in England Fabriken besaß. Marx und Engels schlossen Freundschaft und verfaßten gemeinsam das -» Manifest der Kommunistischen Partei. Engels unterstützte Marx in den folgenden Jahren ständig durch großzügige finanzielle Hilfen. Als Marx wegen seiner politischen Gesinnung aus Deutschland ausgewiesen wurde, ging er mit seiner Frau Jenny und den Kindern nach London, wo er bis zu seinem Tod lebte. In London schrieb Marx Das Kapital, von dem er allerdings nur den ersten Band beenden konnte. Nach seinem Tod gab Engels die anderen Bände heraus. - 168 -
Die geläufigsten von Marx stammenden Begriffe sind Ausbeutung, Mehrwert, Akkumulation des Kapitals, Verelendung des Proletariats, Entfremdung und Fetischcharakter der Ware. Marx sagt: Im Kapitalismus wird der Arbeiter ausgebeutet, weil er nicht den vollen Wert seiner Arbeit erhält. Im Kapitalismus wir d die Arbeitskraft des Arbeiters zur Ware. Der Kapitalist (Arbeitgeber) kauft die Ware Arbeitskraft und bezahlt den entsprechenden Preis dafür. Das ist der Lohn. Der Lohn entspricht der Höhe dessen, was der Arbeiter braucht, um dem Kapitalisten als Arbeitskraft verfügbar zu ble iben, er deckt die Lebenshaltungskosten des Arbeiters. Tatsächlich erarbeitet der Arbeiter aber mehr als nur seinen Lohn. Um seine Lebenshaltungskosten zu erarbeiten, genügt nämlich ein halber Arbeitstag; tatsächlich arbeitet der Arbeiter aber einen ganzen Arbeitstag. Wenn ein Arbeiter also zwölf Stunden am Tag arbeitet, arbeitet er sechs davon für seinen Lohn und sechs davon für den Kapitalisten. Marx benutzt für diese Unterscheidung zwischen Lohn und tatsächlichem Wert der hergestellten Dinge die Begriffe Tauschwert (Preis bzw. Entlohnung der Arbeit) und Gebrauchswert (Wert der in der gesamten Arbeitszeit hergestellten Dinge). Zieht man den Lohn (Tauschwert) vom Gesamtwert der Arbeitszeit (Gebrauchswert) ab, bleibt noch etwas übrig: das ist der Mehrwert, und der wandert in die Taschen des Kapitalisten. Der Kapitalist benutzt den Mehrwert aber nicht in erster Linie für sein Luxusleben, sondern, viel schlimmer: er investiert den Mehrwert, um die Profite zu erhöhen. Er macht aus Geld Kapital. Dies ist bedenklich, weil damit eine Kettenreaktion in Gang gesetzt wird, an deren Ende die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Große Betriebe sind immer im Vorteil, denn je größer ein Betrieb ist (je mehr Arbeiter er hat), desto größer der Mehrwert, desto mehr Investitionen, desto hoher die Profitrate - und desto konkurrenzfähiger das Unternehmen. Im Kapitalismus verdrängen die großen Betriebe zwangsläufig die feinen Betriebe. Das Kapital konzentriert sich also immer mehr bei einigen wenigen. Im Gegenzug zu dieser Akkumulation (Anhäufung) des Kapitals bei den Reichen kommt es zur Verele ndung des Proletariats. Nur die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln (Fabriken, Maschinen) kann - 169 -
hier Abhilfe schaffen. Der Kapitalist verfolgt nur ein Interesse: die Steigerung des Mehrwerts. Er wird deshalb alles daran setzen, den Zeitraum zu reduzieren, in dem ein Arbeiter seinen Lohn (das, was er zum Leben braucht) erarbeiten kann. Um die Produktivität der Arbeitszeit zu steigern, wird die Arbeit so weit wie möglich durch Arbeitsteilung in viele Einzelschritte aufgeteilt. -» Adam Smith hatte gezeigt, dass Arbeitsteilung wirtschaftliche Vorteile bringt. Smith hatte auch schon gesehen, dass ein Arbeiter, der jeden Tag stundenlang, Woche um Woche dieselbe stupide Tätigkeit ausführen muß, allmählich abstumpft und geistig ermüdet. Für Marx hat die Arbeitsteilung eine noch viel schwerwiegendere Bedeutung: Sie führt dazu, dass ein Arbeiter, der nie das ganze, fertige Produkt seiner Arbeit in Händen hält, sich nicht mehr mit seiner Arbeit identifizieren kann. Dazu kommt noch eine weitere deprimierende Erfahrung: Der Arbeiter stellt mit fremden Produktionsmitteln (den Maschinen des Kapitalisten) Dinge her, die ihm nicht gehören, und die ihn immer ärmer machen, je reicher der Kapitalist wird. Diese Erfahrungen münden in die Entfremdung von der Arbeit. Marx zufolge hat der Kapitalismus tiefgreifende Konsequenzen für die Psyche des Menschen und letztlich für die gesamte Struktur der Gesellschaft. Den Arbeitenden trennt ein tiefer psychologischer Graben von den Früchten seiner Arbeit. Im Kapitalismus erhält der Arbeiter als Gegenleistung für seine Arbeit nicht das erarbeitete Produkt, sondern das abstrakte Ersatzmittel Geld. Weil der Arbeiter jeden affektiven Kontakt zur Arbeit verloren hat, dient die Arbeit überhaupt nur noch dazu, mit Geld Bedürfnisse zu befriedigen, die in der entfremdeten Arbeit unbefriedigt bleiben. Man arbeitet also, um zu kaufen. Die Arbeit wird fremd, die Befriedigung von Wünschen findet außerhalb des Arbeitslebens statt. Der von seiner Arbeit abgekoppelte Mensch ist nur noch von dem Wunsch beseelt, „haben“ zu wollen. Und das vergiftet nun auch noch das zwischenmenschliche Miteinander. Die Entfremdung von der Arbeit setzt sich also in den Beziehungen zwischen Menschen fort: Sie bestimmt das Verhältnis zu Kollegen, zu Arbeitgebern, zur Familie und schließlich des Menschen zu sich selbst. Hier entspringt die unmoralische, inhumane Seite des Kapitalismus und seine perverse Verschie bung der Werte. Während - 170 -
die zwischenmenschlichen Beziehungen immer kälter und nüchterner werden, erscheint die Ware in einem magischen Licht. Die Welt wird entzaubert, die Ware wird verzaubert. Sie erhält eine mystische Eigenschaft: den geheimnisvollen Charakter eines Fetischs. Marx hat das 20.Jahrhundert geprägt wie niemand sonst. Das Kapital hat mehr als hundert Jahre lang auf der ganzen Welt Biographien auf unterschiedlichste Weise geformt. Es hat die Massen mobilisiert und die geistige Elite inspiriert. Das Kapital ist nicht nur eines der wichtigsten Bücher zur Ökonomie, sondern es hat phasenweise die gesamte intelle ktuelle Landschaft des 20. Jahrhunderts dominiert. Überall hat Das Kapital die Spuren seiner Erschütterungen hinterla ssen. Aber das ist nun vorbei, wie der gänzlich unmarxistische Soziologe Niklas Luhmann über Marx sagte: nun ist der Vulkan erloschen.
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Bertolt Brecht Die Dreigroschenoper (1928) Brechts Theaterstück. mit Songs über den Gangster Macheath, genannt Mackie Messer, war der größte Theatererfolg der zwanziger Jahre. Das Stück lief fast ein Jahr lang am Schiffbauerdammtheater in Berlin. Die Dreigroschenoper spielt im Gaunermilieu des viktorianischen Londons. Seine beiden Hauptfiguren, der Bettlerkönig Peachum und der Gangster Mackie Messer, sind Geschäftsleute, die ihrem (kriminellen) Gewerbe mit der Zuverlä ssigkeit und Professionalität eines bürgerlichen Unternehmers nachgehen. Ironischerweise führte Brecht, der in den zwanziger Jahren Marxist geworden war, seinem begeisterten bürgerlic hen Publikum vor, dass Unternehmertum dasselbe ist, wie kriminell zu sein: der Kapitalismus ist organisiertes Verbrechen. Diese Grundidee machte den sagenhaften Erfolg des Stücks bei den gutbürgerlichen Theaterbesuchern nicht gerade voraussehbar. Als Brecht sich den Zulauf zu erklären versuchte, sagte er, die Vorliebe des Bürgers für Gaunergeschichten läge daran, dass der Bürger glaube, der Räuber sei kein Bürger, aber das sei ebenso falsch wie die Annahme, der Bürger sei kein Räuber. Brecht attackierte sein Publikum dann aber auf so unterhaltsame Weise, dass Die Dreigroschenoper noch heute sein bekanntestes Stück ist. Allerdings geht ein beachtlicher Teil des Erfolgs auf das Konto des Komponisten Kurt Weill. Wer kennt sie nicht, die Moritat von Mackie und seinem Messer, das gefährlicher ist als die Zahne des Haifisches, weil es hinterrücks tötet. Brechts Dreigroschenoper ist die Bearbeitung eines satirischen Singspiels aus dem 18. Jahrhundert: der Bettleroper des Engländers John Gay (1728). Gay hatte mit seiner Gaunerkomödie die zeitgenössische Regierung aufs Korn genommen. Sein Räuberhauptmann Macheath war das wenig schmeichelhafte Ebenbild des damaligen Premierministers Robert Walpole, und die - 172 -
Räuberbande sollte dessen Kabinett darstellen. In Brechts Version sind die Gangster bürgerliche Geschäftsleute. Der Bettlerkönig Peachum ist Chef der Firma „Bettlers Freund“. Er betreibt sein Geschäft mit dem Mitleid umsichtig-professionell. Um das Herz der Mitbürger zu rühren, werden die Mitarbeiter in entsprechend armselige Kostümierungen gesteckt und mit künstlichem Grind, Beulen und Prothesen ausstaffiert. Wer zu dick wird, wird gefeuert, denn Übergewicht rührt nicht. Peachums Geschäfte laufen famos. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er das Bettelmonopol besitzt: Wer auf Londons Straßen betteln will, kommt an ihm nicht vorbei. Bettler müssen eine Lizenz bei Peachum erwerben und den größten Teil ihrer Einnahmen an den Bettlerkönig zahlen. Während Peachum das Betteln kontrolliert, gehört dem Gangster Mackie Messer da s Monopol für Straßenraub und Einbruch. Trotz dieser geschäftlich vereinbarten Aufteilung ihrer Territorien geraten Peachum und Mackie in Streit über eine „Ware“, auf die jeder der beiden glaubt, Anrecht zu haben: es ist Peachums Tochter Polly. Sie hat Mackie gegen den Willen ihres Vaters geheiratet. Weil für Peachum (und nach Brechts Auffassung für das ganze Bürgertum) auch die Hochzeit einer Tochter nur ein Geschäft ist, versucht Peachum wenigstens nachträglich, etwas Profit aus dem mißglückten Handel herauszuschlagen. Er verrät seinen Schwiegersohn an die Polizei. Mackie Messer landet im Gefängnis und soll gehenkt werden. In letzter Sekunde kommt die Rettung von höchster Stelle: Die Königin begnadigt den Ganoven und erhebt ihn in den Adelsstand. Sie vermacht ihm ein Schloß und eine lebenslange Rente. Das Unrecht triumphiert. Brecht schrieb Die Dreigroschenoper als Kritik am Kapitalismus und versteckte m dem flotten Singspiel seine marxistischen Überzeugungen. Wie bei Brecht so üblich, lieferte der Autor die Richtlinien zum Verständnis seines Stücke gleich mit. Brecht legte großen Wert darauf, dass die Schauspieler nicht der Versuchung erlägen, die Banditen wie Gesindel darzustellen, sondern im Gegenteil wie respektable Menschen, die bloß einem dreckigen Gewerbe nachgehen. Als Mackie Messer zu seiner Hochzeit tonnenweise geklaute Möbel herankarren läßt, schwebte Brecht vor, damit zu zeigen, dass dies die Umstände sind, in die die bürgerliche - 173 -
Gesellschaft einen Mann bringt, der eine Familie gründen will: Im Kapitalismus muß der bürgerliche Familienvater zwangsläufig zum Bandit werden, wenn er seine Familie anständig ernähren soll. Polly, Räuberbraut und bürgerliche Tochter in einer Person, wird zu einer Ware, die zwischen Männern ausgetauscht wird. Ihre Liebe zu Mackie Messer hat in der bürgerlichen Welt keinen Ort, denn hier zählen nicht Gefühle, sondern Geld. Die Pointe des Stücks besteht darin, dass Mackies Befreiung durchaus gerecht ist, nicht weil er unschuldig ist, sondern weil er wie Brecht findet, nichts anderes macht als alle anderen auch: schmutzige Geschäfte.
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John Maynard Keynes Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes (1936) Keynes' Allgemeine Theorie der Beschäftigung ist das wichtigste wirtschaftswissenschaftliche Werk des 20. Jahrhunderts. Es hat eine komplette Kehrtwende in der Theorie der Ökonomie ausgelöst: „die Keynes'sche Revolution^ Keynes hatte zu Beginn seiner Karriere einmal ein Examen für die höhere Beamtenlaufbahn ablegen müssen und darin im Fach Wirtschaft am schlechtesten abgeschnitten. Keynes kommentierte später, das hätte daran gelegen, dass er mehr über Wirtschaft gewusst hätte als seine Prüfer (die ihn deshalb nicht verstehen konnten). Keynes galt unter seinen Freunden als brillanter Snob und als Workaholic. Er war ständig mit irgendwelchen Projekten beschäftigt und fand daneben noch Zeit, sich für Kunst und Kultur zu interessieren. Er war ein enger Freund der Bloomsbury-Gruppe, zu der auch die Schriftstellerin Virginia Woolf, der Literat Lytton Strachey und der Maler Duncan Grant gehörten. Duncan Grant war eine Weile Keynes' Liebhaber. Später heiratete Keynes eine berühmte Ballettänzerin. Keynes unterrichtete Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Cambridge. Neben seiner akademischen Arbeit war er auch einer der wichtigsten Verhandlungspartner in den großen wirtschaftspolitischen Ereignissen der zwanziger und dreißiger Jahre; nach dem Ende des Ersten Weltkriegs nahm er in wichtiger Funktion an der Versailler Friedenskonferenz teil. Nebenbei spekulierte Keynes mit Devisen, Aktien und Wertpapieren und verdiente dabei bis zum Ende seines Lebens zehn Millionen englische Pfund. Im Alter wurde er in den Adelsstand erhoben. Von Keynes wird gesagt, er habe den Kapitalismus gerettet. Keynes' wichtiges Werk entstand als unmittelbare Reaktion auf das Erlebnis einer weltweiten wirtschaftlichen Katastrophe: der Weltwirtschaftskrise in den Jahren zwischen 1929 und 1939. Nach dem Börsenkrach 1929 folgten zehn lange Jahre wirtschaftlicher - 175 -
Stagnation in Amerika und Europa. Zigtausende Firmen gingen bankrott, Banken machten Pleite, Privatinvestoren verloren das Vertrauen in die Wirtschaft und investierten nicht mehr, und die Arbeitslosenzahlen in Europa und den Vereinigten Staaten erklommen astronomische Höhen. Das Wirtschaftssystem war vollkommen zusammengebrochen. Politiker und Wirtschaftsexperten standen dem Phänomen ohnmächtig gegenüber. Sie hatten weder eine Erklärung noch eine Lösung dafür. Man glaubte immer noch an das Prinzip des Laissez faire und hoffte, dass sich die Wirtschaft irgendwie erholen würde, wenn man alles den Marktkräften überlassen würde, wie -» Adam Smith gelehrt hatte. Man war zum Beispiel der Meinung, die Arbeitslosigkeit würde enden, wenn Arbeiter bereit wären, für weniger Lohn zu arbeiten. Aber das war nicht der Fall: Die Löhne sanken ins Bodenlose und die Arbeitslosenzahl stieg in unvorstellbare Höhen. Keynes erklärte, man könne nicht erwarten, dass sich die Wirtschaft von allein erholen würde. Nicht die Arbeiter und ihre Löhne seien ausschlaggebend, sondern Investoren. Er schlug vor, dass die Regierung als Investor in Erscheinung treten müsse, wenn Investoren nicht mehr in der Lage seien zu investieren. Der Staat solle Kredite aufnehmen und Aufträge für öffentliche Einrichtungen erteilen. Damit würde die Nachfrage angekurbelt, dies führe zu mehr Produktion und allmählich zu Vollbeschäftigung, zu gesteigertem Konsum und zu noch mehr Nachfrage und mehr Produktion. Etwas vereinfacht sagte Keynes: Damit es einer Gesellschaft wirtschaftlich gut geht, muß sich der Staat verschulden. Diese Logik verstand zunächst kaum jemand. Dabei war sie so abwegig auch wieder nicht und hätte in jedem Einmaleins des Segelns nachgelesen werden können. Im Prinzip sollte sich der Staat ziemlich weit über Bord lehnen, weil die Wirtschaft Schlagseite bekommen hatte. Das sah riskant aus, rettete aber alle vor dem Kentern. Der amerikanische Präsident Roosevelt hielt Keynes fast für übergeschnappt. Erst als die amerikanische Wirtschaft ihren Tiefpunkt erreicht hatte und Roosevelt und seine Berater am Ende ihrer Weisheit angekommen waren, besann man sich auf Keynes Theorie. Das Ergebnis war atemberaubend: Innerhalb kürzester Zeit verdoppelte sich das Bruttosozialprodukt der Amerikaner, und die Arbeitslosenzahl sank von 17 auf ein Prozent. - 176 -
In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmten die Grundsätze der Keynes'schen Revolution die Wirtschaftspolitik in England, den Vereinigten Staaten und Deutschland. Bis in die siebziger Jahre blieb Keynes' Allgemeine Theorie der Standard der Volkswirtschaftslehre.
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Carl Barks Donald Duck (1943-1967) In der Welt der Entenfamilie Duck dreht sich alles um eines: ums Geld; genauer gesagt um die Macht des Dollars. In der deutschen Übersetzung kommt das gar nicht zum Ausdruck, denn darin heißt das Geld, das alles in Bewegung setzt, „Taler“. Das erinnert eher an einen Kaufmannsladen für Kinder als an die mächtigste Währung der Welt. Die Übersetzung ist zwar korrekt, weil „Dollar“ tatsächlich von dem Wort „Taler“ abstammt, aber sie verharmlost die zentrale Botschaft des ulkigen Entenimperiums: Wer das Geld hat, hat die Macht. Jeder kennt die berühmten Helden aus Entenhausen: die drei aufgeweckten Entenkinder Tick, Trick und Track, ihren despotischen Onkel Donald und dessen steinreichen Onkel Dagobert, der im wahrsten Sinne des Wortes in Geld nur so schwimmt. Sie sehen alle mit ihren großen Köpfen und ihrem dicken Hinterteil so niedlich aus wie tapsige Kleinkinder, aber diese putzige Tarnung verbirgt eher unkindliche Anti-Tugenden. Das sind die Eigenschaften, die man benötigt, um eine Erfolgsstory des Kapitalismus zu schreiben: Ehrgeiz, Gier, Karrierestreben und die ständige Angst vorm Versagen. Was nach lustigen Streichen aussieht, ist in Wirklichkeit das Gesetz des freien Marktes. Es geht um Bereicherung, Ausbeutung, Aneignung fremder Ressourcen, notfalls auch auf Kosten anderer. Hauptsache, am Ende springen Geld und Erfolg heraus. Die Familie der Ducks (engl.: Enten) ist nicht durch die Bande des Vertrauens und der Nähe miteinander verbunden, sondern ähnelt eher der Organisation einer Firma. Die Rollen sind dabei nach einem Schema verteilt, das sich in etlichen amerikanischen Spielfilmen bewährt hat: Es gibt den fast unantastbar mächtigen und moralisch fragwürdigen Boss (Dagobert), den Betonkopf Donald, der jede Innovation blockiert, und das junge dynamische Trio aus Tick, Trick und Track, das dafür zuständig ist, durch Intelligenz, Improvisation und Mut ständig die Kohlen aus dem Feuer zu holen. Der Firmenchef Onkel Dagobert heißt in Walt Disneys englischer Version „Uncle Scrooge“. „Scrooge“ ist der Name des Geizhalses aus einer berühmten - 178 -
Weihnachtserzählung von Charles Dickens. „Uncle Scrooge“ trägt aber auch dieselben Anfangsbuchstaben wie die United States. Als Onkel Dagobert Ende der vierziger Jahre von Carl Barks, dem berühmtesten Zeichner und Texter der Walt Disney Studios, erfunden wurde, war er die Verkörperung der weltweit herrschenden Wirtschaftsmacht Nummer eins, der Vereinigten Staaten. Im Unterschied zu Dagobert ist Donald Duck der ständige Loser. Er ist ein Versager, jemand, der immer arbeitet, jeden Job verliert, nie Erfolg hat und ständig pleite ist. Donald ist der Typ des mittleren Angestellten, der sein Leben lang den Buckel für die Firma krumm macht und trotzdem nie auf einen grünen Zweig kommt. Seine drei aufgeweckten Neffen sind die wahren Helden der Firma: Sie verfügen über sämtliche Eigenschaften (sprich: Schlüsselqualifikationen), die man heutzutage in Stellenanzeigen für Führungsjobs lesen kann: soziale Kompetenz, Eigeninitiative, Flexibilität und Risikobereitschaft, die Fähigkeit zum visionären und planerischen Denken ... Und darüber hinaus haben sie jene wundersame Qualifikation, die die Lieblingseigenschaft aller heutigen Personalchefs ist: Teamfähigkeit Die Botschaften, die das Entenuniversum in den vierziger bis sechziger Jahren verbreitete, waren simpel und zugleich hochpolitisch. In den Zeiten des Kalten Krieges und in der antikommunistischen Hysterie der McCarthy-Ära erfand Carl Barks die „Panzerknacken. Diese Figuren in Gestalt maskierter Hunde waren die Feinde (Kommunisten), die es auf Dagoberts Geld (die Weltmacht USA) abgesehen hatten. Barks' Comics waren Geschichten über die Allmacht Amerikas und über den Erfolg des Kapitalismus. Aber auf den zweiten Blick traut man seinen Augen manchmal nicht so recht, wenn man die feine Satire hinter der aufgeblähten politisch korrekten Botschaft entdeckt. Die großen ideologischen Kämpfe zwischen Kapitalismus und Kommunismus, die die Welt bis Ende der achtziger Jahre in Atem hielten, nahmen in Entenhausen eine vollkommen lächerliche Gestalt an: Die Weltmacht lag in den Händen eines hysterischen Geizhalses, der mit erregtem Steiß durch seine Geldspeicher taucht (Dagobert), und sie wurde von einer Horde schlecht rasierter Hunde bedroht (den Panzerknackern). - 179 -
Frederic Beigbeder Neununddreißigneunzig (2000) Im Weltbild des Mittelalters enthielt der ganze Kosmos Botschaften. Sie waren die Indizien der Allmacht Gottes. Wohin man auch sah hinunter zu den Pflanzen oder hinauf zu den Sternen -: überall erkannte man die Zeichen Gottes, der sich in seiner Unerschöpflichkeit jedem Ding eingeschrieben hatte und dessen wunderbare Größe sich auch noch in dem unscheinbarsten Lebewesen offenbarte. Auch die Welt des 21. Jahrhunderts ist voller Botschaften zumindest im Welt-Bild des französischen Skandalautors Beigbeder nur stammen sie nicht von Gott, sondern aus den Kreativ-Abteilungen der internationalen Werbeagenturen. Sie, die überall und jederzeit sichtbar, können von jedem verstanden werden und lauten beispielsweise: »Ich bin doch nicht blöd«, »Die tun was« oder »Weil ich es mir wert bin«. Sie verkünden die Allmacht des Kapitalismus. In Beigbeders düsterer Sicht auf unsere Wohlstandsgesellschaft ist Gott durch Massenkonsumgüter ersetzt worden. Der Heiligenkalender wird demnächst nicht die Namen der Seligen tragen, sondern 365 Logos. Auch der Himmel ist die längste Zeit das Reich Gottes gewesen, seitdem Pepsi sich mit dem Gedanken trägt, die Farbe „Blau“ zu kaufen. Descartes' berühmte Formel über die menschliche Erkenntnis, »Ich denke, also bin ich«, lautet jetzt »Ich gebe Geld aus, also bin ich«. Und Hamlets große Worte über den Sinn der Existenz, »Sein oder Nichtsein«, mutieren in einer Welt, in der alles käuflich ist, zu einem Monolog über »Bezahlen oder bezahlt werden, das ist die Frage«. In dieser Welt ist alles das wert, was es kostet. Deshalb trägt Beigbeders Roman seinen Ladenpreis als Titel: Neununddreißigneunzig. Beigbeders Roman ist eine bitterböse Satire auf die Welt der Werbung und auf jene, die sie machen. Der ehemalige Texter einer renommierten Pariser Werbeagentur schrieb sein Enthüllungswerk mit dem Ziel, anschließend dafür gefeuert zu werden, und das ist ihm dann auch gelungen. Im wesentlichen „enthüllt“ Beigbeder (für alle, die es noch nicht wussten), dass Werbeagenturen astronomische - 180 -
Summen für dreißigsekündige Werbefilme über Magermilch-Joghurt ausgeben. Dass in den Konferenzräumen der großen Agenturen hirnlose Projekte mit demselben Aufwand und derselben Geheimhaltungsstufe vorbereitet werden wie die Invasion der Alliierten in der Normandie. Und dass jeder Bissen Nahrung, der in einem Werbefilm von einem Model scheinbar genüsslich verspeist wird, unmittelbar nach jeder Aufnahme in einem kleinen Spucknapf landet. Der größte Teil des Buches besteht aus gnadenlosen Attacken auf die Konsumgesellschaft der westlichen Welt. Die Weltmacht liegt in den Händen der Werbung. Die Agenturen sind die Schaltzentralen der kapitalistischen Welt. Sie manipulieren die Konsumenten und sorgen dafür, dass Menschen Dinge haben wollen, die sie nicht brauchen. Werbung entmündigt und zerstört die Grundlagen der Demokratie. Müßte man die Botschaft des Romans auf eine Formel bringen, würde sie wohl lauten: »Werbung ist das Böse«. Sie ist an allem schuld: an kaputten Beziehungen, dem Sieg der Nazis in den dreißiger Jahren, dem Zweiten Weltkrieg, dem Verfall der Zivilisation, Umweltzerstörung, der maroden Wirtschaft in nicht-westlichen Ländern, dem Drogenkonsum, der Auflösung von Identität, Korruption der steigenden Selbstmordrate in europäischen Metropolen usw. usw. Natürlich übertreibt Beigbeder fürchterlich, und er tut das in voller Absicht. Die Schmähreden, die er seinem Helden Octave Parango in den Mund legt, sind eine Mischung aus blankem Zynismus und moralischer Empörung. Aber man wird den Eindruck nicht los, dass sich in die Attacken auf die Konsumgesellschaft eine Spur von Verzweiflung mischt, weil sie von einer Person stammen, die weiß, dass sie in der Sackgasse sitzt. Wenn Beigbeder/Octave zu Beginn des Romans selbstbewußt ankündigt, er wolle einen Roman über den Kapitalismus schreiben, der seinen Rausschmiß aus der Firma zur Folge hat, dann ist er sich sehr wohl darüber im klaren, dass er sich diesen Luxus nur erlauben kann, weil er jahrelang von diesem System profitiert hat und ein Monatsgehalt kassierte, das das Jahreseinkommen der meisten Normalverdiener um einiges übersteigt. (Mal ganz abgesehen von den 20 Millionen Arbeitslosen in Europa.) Genauso paradox ist, dass die - 181 -
Kritik an der Werbung einer sorgfältigen und großangelegten Werbekampagne für den Roman bedurfte, um überhaupt die Öffentlichkeit zu erreichen. Man entkommt der Konsumgesellschaff nicht so leicht. Kein Wunder, dass angesichts dieser Unausweichlichkeit von Selbstwidersprüchen eine Spur von Selbstekel in der Hauptfigur Octave zum Vorschein kommt. »It's so rousseau, würde man unter Werbern zu Beigbeders Roman sagen - sofern man dort wüsste, wer Rousseau war und was der mit Gesellschaftskritik und Selbstwiderspruch zu tun hat. Neununddreißigneunzig gehört zu jener Sorte Literatur, die man nur so lange lesen „muß“, wie alle darüber sprechen. Es ist kein wirklich bedeutender Roman, aber ein interessantes Symptom für eine Paradoxie unserer Zeit. In Beigbeders Roman kommt der Selbstwiderspruch zum Ausdruck, in den man gerat, wenn man der Versuchung nachgibt, unsere Konsumgesellschaft moralisch zu beurteilten: Dann fühlt man sich in einem recht angenehmen Leben plötzlich furchtbar unbehaglich.
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FRAUEN In den siebziger Jahren trugen Feministinnen lila Latzhosen und hatten rot gefärbte Haare. Das sah offenbar so furchtbar aus, dass noch heute jedermann schreiend die Flucht ergreift, wenn das Wort „Feministin“ fällt. Außerdem hatten die Feministinnen vor lauter Wut immer etwas furchtbar Intensives an sich und verdarben garantiert die gute Laune. Und dann verfügten sie auch noch über eine besonders feine Wahrnehmung und warfen arglosen Männern aus heiterem Himmel ständig schreckliche Dinge vor, wenn die doch nur versucht hatten, nett zu sein. Dreißig Jahre später: Fahrrad-Kuriere, die sich die Beine rasieren, geschirrspülende Väter in der Werbung, „Powerfrauen“, „Neue Väter“, die Windeln kaufen, Politiker, die emsig »Wählerinnen« sagen, Frauen mit Beruf und Kind, jede zweite Woche ein KarriereSpecial in den Frauenmagazinen und richtige Heldinnen im Film, und nicht bloß Frauen, die die Prostituierte oder die Leiche spielen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat die Frauenbewegung einiges vollbracht und erreicht. Frauen können heute alles tun, was Männer tun können, und meistens wird ihnen dazu auch die Gelegenheit gegeben. Keine Frauengeneration war je so selbstbewußt wie die der jetzt Zwanzigjährigen. Frauen wissen, was sie wollen. Sie trauen sich, es zu sagen, und sie trauen sich zu, es zu tun. Nirgendwo zeigt sich der Erfolg der Frauenbewegung heute eindrucksvoller als dort, wo Frauen sich über sich selbst lustig machen. Inzwischen werden ständig neue Bücher geschrieben und gelesen, in denen Frauen amüsant über Tücken des weiblichen Alltags plaudern. Der Tonfall strotzt vor Selbstbewußtsein. Das FrauenThema ist unbeschwerter geworden. Aber das heißt sicher nicht, dass jetzt immer überall alles gut ist. Der Feminismus ist viel älter als die dreißig Jahre, die seit der Frauenbewegung der siebziger Jahre vergangen sind. Er ist sogar wesentlich älter als die einhundert Jahre seit der Frauenrechtsbewegung um 1900. Bereits im 14. Jahrhundert gab es - 183 -
Frauen, die der Meinung waren, dass nicht alles stimmte, was zu ihren Lebzeiten über ihr Geschlecht gedacht und gesagt wurde. Frauen waren nicht die Pfuscharbeit der Schöpfung. Frauen waren nicht unfähig zu denken. Und Frauen gewannen auch nicht an Qualität, wenn man sie regelmäßig verprügelte, wie ein altes englisches Sprichwort sagte: »A woman, a horse and walnut tree, the more they are beaten the better they be« (Eine Frau, ein Pferd und ein Walnußbaum werden stets »besser, je mehr sie verhau'n). Eine der ersten Feministinnen lebte im Mittelalter. Sie war die französische Hofdame Christine de Pizan. Pizan war eine hochgebildete Frau, die mit 23 Jahren Witwe geworden war. Sie lebte als Dichterin am französischen Hof. Das Schreiben ernährte sie, ihre zwei Kinder und ihre Mutter. Während ihre männlichen Kollegen in einem groß angelegten Wissenschaftsstreit die Unterschiede zwischen Männern und Frauen diskutierten (franz. querelies des femmes, der „Streit über die Frauen“) und dabei erörterten, ob Frauen Menschen seien und ob man ihnen Bildung angedeihen lassen könne, stellte Pizan fest, dass sie das Gerede ihrer männlichen Kollegen entsetzlich deprimierte. Sie schrieb als Gegendarstellung Das Buch von der Stadt der Frauen (1405). Pizans Text ist eine symbolische Stadt für Frauen. Aus Argumenten errichtete sie eine uneinnehmbare Festung zum Schutz der weiblichen Würde. Hinter dem Stadtwall aus Worten war die moralische Stärke der Frauen unangreifbar. Es passt in dieses symbolische „Frauenhaus“, dass Pizan - entgegen der vollkommen gängigen Meinung ihrer Zeitgenossen - erklärte, Frauen empfänden mit Sicherheit keine Lust, wenn sie vergewaltigt werden. Pizan schrieb, dass Frauen dieselben intellektuellen Kapazitäten wie Männer haben. Gäbe man ihnen auch dieselben Bildungschancen, wären sie auch zu denselben Leistungen imstande. In den folgenden 500 Jahren wiederholten Feministinnen unermüdlich diese Forderung nach Bildung, Bildung und nochmals Bildung für Frauen. Aber erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist es zur Selbstverständlichkeit geworden, dass Mädchen und Frauen de facto dieselben Bildungschancen bekommen wie Jungen und Männer. Es ist kein Wunder, dass sich die Generation der gerade Zwanzig- bis Dreißigjährigen nicht besonders für Feminismus interessiert, denn sie - 184 -
ist die erste Frauengeneration, die nicht mehr um ihre (Aus-)Bildung kämpfen muß. Weil Frauen keine Bildung erhielten, gab es keine Berufe für sie. Frauen mussten heiraten. In der Ehe mußte sich die Frau dem Mann unterordnen. Die Hierarchie in der Ehe war lange Zeit damit begründet worden, dass die Familie den Staat im kleinen widerspiegle: Der Mann herrschte über seine Frau und Kinder wie der König über seine Untertanen. Aber im Laufe des 17. Jahrhunderts ersetzte man das alte Staatsmodell durch ein neues. Der große geistige Vater der modernen Demokratie, der englische Philosoph John Locke, zeigte, dass es keine rechtmäßige Begründung für die Absolutheit des Herrschers gab. Menschen sollten sich freiwillig per Vertrag zusammentun. Das war das Ende des Absolutismus und der allmähliche Beginn der Gründung liberaler, demokratischer Staaten. Während Locke die politische Freiheit des Individuums verkündete, fragte sich die Engländerin Mary Asteil, wieso in der Ehe immer noch gelten sollte, was im Staat als Unrecht erkannt worden war: die Unterordnung der Frau unter den Mann- Sie verfasste die Refle ctions on Marriage (Gedanken über die Ehe, 1700). Die Mutter des modernen Feminismus wurde im 18. Jahrhundert geboren. Es war die Engländerin Mary Wollstonecraft. Auch sie war eine leidenschaftliche Vertreterin der Meinung, dass Mädchen dieselbe Bildung bekommen sollten wie ihre Brüder. Frauen werden als Menschen geboren, aber zu dümmlichen Weibchen erzogen, schrieb Wollstonecraft zu einer Zeit, in der es als besonders weiblich galt, kokett, empfindsam und hilflos zu sein. Wollstonecraft unterschied sich in einem wesentlichen Punkt von all ihren Vorgängerinnen. Jene hatten das Recht der Frau auf Bildung und eine menschenwürdige Behandlung in der Ehe mit dem Argument begründet, dies seien die Gebote der Moral und der Christlichkeit. Wollstonecraft forderte die politisch verankerten Rechte der Frau. Als sie ihre „Verteidigung der Rechte der Frau (1792)“ schrieb, hatten die Philosophen der Aufklärung verkündet, alle Menschen seien frei und gleichberechtigt. Dann folgten die beiden großen politischen Ereignisse in der Geschichte der Demokratie: 1776 wurden mit der Gründung der Vereinigten Staaten die Menschenrechte erklärt; 1789 verkündete die Nationalversammlung der Französischen Revolution - 185 -
die Menschen- und Bürgerrechte. Aber die Menschenrechte galten nicht für Frauen. 1791 versuchte die Französin Olympe de Gouges das zu ändern. Sie verfasste im Gegenzug zur Menschenrechtserklärung der französischen Nationalversammlung die Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin. Ihre Menschenrechtserklärung beinhaltete nun auch Frauen. Die ersten Jahre der Französischen Revolution waren verhältnismäßig frauenfreundlich: Frauen waren politische Mitstreiterinnen im Kampf um die Freiheit. Dem machte die Schreckensherrschaft unter Robespierre ein Ende. Nun wurde offiziell verkündet, Frauen hätten in der Öffentlichkeit nichts zu suchen. De Gouges ließ wie Tausende anderer Opfer der Willkürherrschaft ihr Leben auf der Guillotine. Im England des 18. Jahrhunderts konnte ein Ehemann seine vollkommen zurechnungsfähige Frau ins Irrenhaus einliefern, ihr die Kinder wegnehmen, sie schlagen, Ehebruch begehen oder ihr Vermögen durchbringen, ohne dass die Frau dagegen juristisch vorgehen konnte. Und natürlich war eine ehebrecherische Frau zwar ein Scheidungsgrund für den Mann, nicht aber ein ehebrecherischer Mann ein Scheidungsgrund für die Frau. Wollstonecraft sagte, Frauen seien die outlaws der Welt: Personen ohne die Rechte von Staatsbürgern. Dies zu ändern wurde in den folgenden 120 Jahren die gewaltige Aufgabe der Frauenrechtsbewegung. Sie begann in England, denn hier waren die Bedingungen für eine organisierte Protestbewegung von Frauen am günstigsten. England war trotz der verheerenden rechtlichen Zustände für Frauen das modernste und liberalste Land Europas. Die Frauenrechtsbewegung verlangte das Wahlrecht für Frauen. Sie begann zögerlich in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als Harriet Taylor Mill ihren Essay The Enfranchisement of Warnen (1851) veröffentlichte (Die Erteilung des Wahlrechts für Frauen). Allmählich wurde aus der höflich vorgebrachten Gesellschaftskritik einiger wohlerzogener Frauen aus dem Bürgertum eine Lawine aus blanker Wut. Bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts hatten die Frauenrechtlerinnen viel erreicht, aber immer noch kein - 186 -
Frauenwahlrecht durchgesetzt. Wie so häufig, wenn man kurz vor dem Ziel steht, ging den Aktivistinnen jetzt die Geduld aus. Sie formierten sich zu den „Suffragetten“ (engl. suffrage: Wahlrecht} und bildeten einen militanten Zweig. Nach wie vor traten tapfere Frauen vor grölende Mengen und hielten unbe irrbar ihre Reden, während Wurfgeschosse aus faulen Eiern und vergammeltem Gemüse in Richtung Rednerpult flogen. Aber zugleich versammelten sich nun auch Kämpferinnen um die Suffragette Emmeline Pankhurst und begannen Gewalt anzuwenden. Sie warfen Fenster ein, schütteten klebrige Flüssigkeiten in Briefkästen, zerschnitten Telefonleitungen und mähten »Votes for Women« („Stimmrecht für Frauen“) in den makellos gepflegten Rasen von Golf-Anlagen. Wenn sie festgenommen wurden, traten sie in den Hungerstreik. Die Regierung verordnete Zwangsernährung und stopfte den Frauenrechtlerinnen dicke Schläuche durch die Nase, 50 Zentimeter tief in die Speiseröhre hinein. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, hatten Frauen immer noch kein Wahlrecht. Aber ironischerweise führte hi re Bewährung im Krieg dazu, dass sich nach dem Ende des Krieges die öffentliche Meinung geändert hatte. 1918 erhielten Frauen, die über 30 Jahre alt waren, in England das Wahlrecht. 1928 erhielten englische Frauen das volle Wahlrecht und konnten, wie Männer, ab 21 Jahren wählen. In Australien hatten die Frauen bereits 1902 das volle Wahlrecht erhalten, in der Sowjetunion 1917, in Deutschland 1919, in den USA 1920, in Frankreich erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, 1946. Die zweite große Welle der Frauenbewegung begann in den sechziger Jahren. Sie entstand, als Frauen merkten, dass sie auf dem Papier zwar dieselben Rechte hatten wie die Männer, aber im Alltagsleben von Gleichheit keine Rede sein konnte. Frauen waren immer noch in allen Lebensbereichen von Männern abhängig: Männer bestimmten in der Schule und an der Universität über ihre Bildung, im Berufsleben über ihre Karriere, im Krankenhaus und im Gerichtssaal über ihren Körper, und zu Hause über den Ort, an dem die Pantoffeln aufgestellt werden mußten. In den sechziger und siebziger Jahre wurden die Feministinnen lauter als je zuvor Sie organisierten sich in Frauengruppen und sorgten - 187 -
für ihre eigenen öffentlichen Institutionen. Sie schufen männerfreie Zonen, Frauenzentren, Selbsthilfegruppen und Medien für weibliche Öffentlichkeit, wie Alice Schwarzers Emma. Sie zerrten „unaussprechliche“ Themen wie Menstruation, Verhütung, Orgasmus, Abtreibung und Vergewaltigung aus dem gesellschaftlichen Niemandsland in den Blick der Öffentlichkeit. (So zum Beispie l 1971 der sensationelle Stern-Artikel, in dem über 300 Frauen erklärten: »Ich habe abgetrieben.«) Vielleicht trugen die Feministinnen der siebziger Jahre lila Latzhosen und kombinierten das erstaunlicherweise mit rot gefärbten Haaren. Aber vor allem sorgten sie dafür, dass Frauen so selbstbewußt werden konnten, dass ihnen am Anfang des 2I.Jahrhunderts der Gedanke an den Feminismus vorkommen kann wie kalter Kaffee.
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Mary Wollstonecraft Eine Verteidigung der Rechte der Frau (1792) Mary Wollstonecraft war eine moderne Frau. Sie wollte in ihrem Leben alles tun können, was die Welt an Möglichkeiten bot. Sie stellte Ansprüche, die sie selber erfüllte: Sie wollte unabhängig sein und wurde mit 32 Jahren über Nacht die berühmteste Frau Europas. Sie wollte ihre Gefühle zeigen dürfen und rannte den Männern, in die sie sich verliebte, regelrecht die Türen ein. Wollstonecraft wollte etwas, was es im 18. Jahrhundert für Frauen nicht gab: ein unabhängiges, selbstbestimmtes Leben. Im Alter von 15 Jahren sah sie sich die Ehe ihrer Eltern an, in der ihr beruflich frustrierter Vater ihre Mutter schlug. Wollstonecraft beschloss, nie zu heiraten. Im 18. Jahrhundert hatte eine verheiratete Frau die Rechte eines Kindes - sie hatte kein Recht auf das Geld, das sie in die Ehe gebracht hatte, sie hatte kein Recht auf die Kinder, und sie verlor jedes Recht, gegen ihren Mann zu klagen, wenn sie ihn verließ, weil er sie misshandelte. während ihres ganzen Lebens finanzierte Wollstonecraft Familienangehörige oder verarmte Freunde. Mit 19 Jahren begann sie ihren Lebensunterhalt zu verdienen und wurde die Gesellschafterin einer reichen Witwe. Zwei Jahre später eröffnete sie eine Schule, die zunächst gut lief, aber nach einer Weile wieder geschlossen werden mußte. Wollstonecraft schrieb nun ihr erstes Buch über die Erziehung von Töchtern. Sie stellte darin fest - wie später in ihrem berühmten Werk -, dass es überhaupt keine Möglichkeiten für Frauen gab, ein selbständiges Leben zu führen weil es nämlich keine Möglichkeiten für sie gab, einen Beruf auszuüben. Was es bedeutete, zu arbeiten und trotzdem abhängig zu bleiben, erfuhr Wollstonecraft im folgenden Jahr, als sie Erzieherin in einem Haushalt irischer Aristokraten wurde. Dies war der gängigste und gleichzeitig verhaßte Berufsweg aller unverheirateten Frauen, die über etwas Bildung verfugten. Die Gouvernante war sicherlich die - 189 -
einsamste und unfreieste Person in einem herrschaftlichen Haushalt: Sie war zu gebildet, um zu den Dienstboten zu gehören; sie war als Erzieherin der Kinder der Familie zu nah, um als einfache Angestellte behandelt werden zu können; aber sie konnte als bezahlte Angehörige des Haushaltes auch niemals ein vollwertiges Mitglied der Familie sein. Als Wollstonecraft Irland verließ, ging sie nach London. In den folgenden Monaten wurde sie zu einer Öffentlichen Person. Sie engagierte sich in den politischen Debatten, die in England mit dem Ausbruch der Französischen Revolution aufflammten. Und sie schrieb ihr berühmtes „Manifest des Feminismus“: Eine Verteidigung der Rechte der Frau. Das Buch wurde mit einer Mischung aus Entsetzen und Begeisterung aufgenommen, und Wollstonecraft war mit Anfang Dreißig eine prominente Frau. Wollstonecrafts Privatleben war turbulent und vollkommen unkonventionell. Sie flüchtete aus Liebeskummer ins revolutionäre Frankreich und traf dort die große Liebe ihres Lebens: den Amerikaner Gilbert Imlay. Wollstonecraft bekam ihre erste Tochter, ohne mit Imlay verheiratet zu sein - die Zeitgenossen waren schockiert. Mit der Zeit wurde Imlay die hochintelligente Frau an seiner Seite, die ständig die Welt verändern wollte, zu anstrengend. Als Wollstonecraft erfuhr, dass Imlay eine neue Geliebte hatte, organisierte sie überstürzt die Zukunft ihrer kleinen Tochter und ruderte nachts, bei strömendem Regen, die Themse hinunter, um sich das Leben zu nehmen. Bootsleute zogen sie bewusstlos aus dem Wasser. Einige Monate später traf Wollstonecraft den englischen Philosophen William Godwin. Sie heiratete ihn, als sie ihr zweites Kind erwartete. Wollstonecraft überlebte die Geburt ihrer zweiten Tochter nur um wenige Tage. Diese zweite Tochter erhielt den Namen ihrer Mutter, und sie ist die Autorin eines der berühmtesten Klassiker der populären Literatur: Frankenstein. Wollstonecraft schrieb die Verteidigung der Rechte der Frau in sechs Wochen. Der grundlegende Gedanke der Schrift ist: Frauen werden (wie Männer) als vernunftbegabte Wesen geboren, aber zu dämlichen Puppen erzogen. Moderne Feministinnen haben sich gelegentlich davon irritieren lassen, dass Wollstonecraft wenig - 190 -
Frauensolidarität zeigt. Man muß aber wissen, dass die Schrift zu einer Zeit entstand, in der die Rolle der Frau im wesentlichen auf die Perfektionierung von Untätigkeit hinauslief. In den Mittelschichten war die Familie zu einem Bereich ohne Arbeit geworden. Scharen junger Frauen saßen buchstäblich untätig zu Hause herum, spielten Klavier, malten Aquarelle, sahen in den Spiegel oder aus dem Fenster und warteten darauf, dass jemand vorbeikommen möge, der ihnen den Hof machte. Wenn die Gesellschaft Frauen für unfähig und unreif hielt, lag das daran, dass Mädchen systematisch verdummt wurden, sagte Wollstonecraft. Anstatt zu lernen, ihren Verstand zu gebrauchen, würde den Töchtern des Bürgertums beigebracht, schön, nett und gut gelaunt zu sein. Entnervt stellte sie fest, die Frau sei das Spielzeug des Mannes: seine Rassel, die immer dann in seinen Ohren zu klingeln habe, wenn er wünsche, unterhalten zu werden. Wollstonecraft attackierte vor allem Rousseau. Er hatte in „Emile“, seinem Buch über die Erziehung des Knaben, auch ein Kapitel über Mädchenerziehung eingefügt. Sophie ist Rousseaus Idealtyp der Ehefrau und die Horrorvision eines jeden denkenden Menschen: Sie ist ein duldsames, passives und anpassungsfähiges Geschöpf. Da sie viel zu schwach ist, um unter der Last eines von ihr selbst zustande gebrachten Gedankens nicht sofort zusammenzubrechen, flüstert ihr die Stimme der Natur ein, das Denken lieber Männern zu überlassen. Wollstonecraft sagte, keiner Gesellschaft sei damit geholfen, wenn Frauen ihren ganzen Scharfsinn dafür verplempern, Männer zu verfuhren. Die Erziehung der Frauen zu vernünftigen Menschen geschieht im allgemeinen Interesse. Nur eine selbstbewußte, unabhängige Person ist ein nützliches Mitglied der Gemeinschaft. Wollstonecraft forderte Staatsbürgerrechte und Staatsbürgerpflichten für Frauen. Sie sagte voraus, dass Frauen in der Zukunft in der Regierung vertreten sein würden (und kommentierte, man möge über diese Gedanken ruhig lachen). Sie schlug vor, welche gesellschaftliche Rolle Frauen im Alltag spielen könnten: Sie könnten sich als Ärztinnen, Hebammen und Krankenschwestern nützlich machen. Frauen könnten sich mit Politik befassen oder Unternehmerinnen werden, in der Landwirtschaft arbeiten oder ein Geschäft fuhren. Sie forderte neue Rollen für Frauen in der - 191 -
Öffentlichkeit des Berufslebens. Wollstonecraft war sich darüber im klaren, dass der größte Teil aller Frauen nach wie vor Ehefrauen und Mütter sein würden. Schließlich sprach auch nichts dagegen, dass denkende und verantwortungsbewußte Frauen Kinder erziehen. Davon profitierte wiederum eine ganze Gesellschaft. Für Wollstonecraft gehörte die Mutterrolle zur weiblichen Identität. Man kann in Wollstonecrafts Briefen nachlesen, wie ungeheuer befriedigend Momente mit ihrer heranwachsenden Tochter für sie waren. Sie sah aber auch, dass eine Frau mit Kindern geringere Chancen hatte, bedeutende Bücher zu schreiben oder große Entdeckungen zu machen, als eine Frau ohne Kinder. Mehr als 200 Jahre lang hat sich der Großteil der schreibenden und forschenden Frauen das Mutterdasein abgeschminkt, um arbeiten zu können. Am Anfang des 21. Jahrhunderts stehen wir immer noch vor der Frage: Wie lassen sich zumutbare Bedingungen schaffen, die das Recht der Frau auf ihre Weiblichkeit mit ihrem Recht auf eine öffentliche Rolle vereinen? 1929 schrieb die große Dichterin und Feministin -» Virginia Woolf in ihrem Essay Ein Zimmer für sich allein, alle Frauen schuldeten jenen Frauen Dank, die für sie den Weg bereitet haben, um zu freien, selbstbewußten und unabhängigen Menschen werden zu können. Woolf schlug vor, alle Frauen sollten Blumen auf dem Grab der ersten englischen Berufsschriftstellerin, Aphra Behn, in der Westminster Abtei in London niederlegen. Falls Sie danach noch etwas Zeit haben und an einem Blumenladen vorbeikommen: Mary Wollstonecraft liegt auf dem Kirchhof von St. Pancras. Wenn Sie mit der U-Bahn fahren, nehmen Sie am besten die Northern Line bis Euston.
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Virginia Woolf Ein Zimmer für sich allein (1929) Lunch in einem altehrwürdigen College in Cambridge: Die Dekane und Professoren versammeln sich in der großen, getäfelten Halle aus dem 15. Jahrhundert. An den Wänden hängen die kostbaren Portraits berühmter Collegeabsolventen aus 400 Jahren. Es gibt mit Sahne überbackene Seezunge, anschließend zarte Rebhühner, dazu gratinierte Kartoffeln und Rosenkohl, zum Nachtisch delikates Konfekt. Man trinkt erlesene Weine. Dinner in einem modernen Frauencollege. Das Mahl beginnt mit einer klaren Brühe, dann folgen Rindfleisch, Kartoffeln und Rosenkohl, es endet mit Backpflaumen in Vanillesoße. Man trinkt Wasser. Mit diesen beiden kulinarischen Erlebnissen beginnt Virginia Woolfs Essay Ein Zimmer für sich allein. An der Verschiedenheit der Gaumenfreuden - hier ein köstlicher Schmaus in alten Gemäuern, dort eine mittelprächtige Mahlzeit in der Mensa - fächert sie die ganze Welt der Unterschiede zwischen Männer- und Frauenleben auf. Männer hatten Geld, Tradition, Prestige, Macht. Frauen hatten das alles nicht. Warum hat es in all den vorangegangenen Zeiten so wenig weibliche Kreativität gegeben? Warum gab es keine schreibenden, dichtenden und philosophierenden Frauen? Warum haben so wenig Frauen am „Geistesleben“ teilgenommen? Im Gegenzug zu den Gelehrten, die jahrhundertelang ihren theoretischen Müll über die angeborene Begriffsstutzigkeit von weiblichen Halbmenschen produziert haben, schreibt Woolf: Wenn Frauen in der Geschichte eine so geringe Rolle gespielt haben, dann liegt das daran, dass sie zwei Dinge nie hatten: ihr eigenes Geld und ein Zimmer für sich allein. Wer über kein eigenes Geld verfugt, ist abhängig. Er oder sie hat kein Prestige und keine Macht. Wer kein eigenes Zimmer hat, in das er sich zurückziehen kann, hat keine Privatsphäre. Er bzw. sie hat nicht die Ruhe und Abgeschiedenheit, die man braucht, um zu denken und zu - 193 -
schreiben. Woolfs Essay ist ein stilistisch geschliffenes Kunstwerk. Es funkeln darin die unterschiedlichsten Facetten: historische Zusammenhänge und persönliche Erlebnisse, Anekdoten und Stimmungen, Ernst und Humor, Sachlichkeit und purer Sarkasmus. Und gelegentlich läßt selbst die vornehme Virginia Woolf unverhohlen durchblicken, dass sie zornig ist, obwohl ihre Erziehung sie gelehrt hatte, ihre Gefühle stets im Zaum zu halten. Wo sind die Frauen in der Geschichte, fragt Woolf ein halbes Jahrhundert vor den Professorinnen und Studentinnen die in den Jahren nach 1980 begannen, vergessene Frauen wiederzuentdecken. Als Woolf 1928 in die Bibliothek des Brit ischen Museums in London ging, um etwas über Frauen zu lesen, gab es noch keine meterlangen Regale mit Frauenforschung. Sie fand einen Haufen obskurer Werke über das „Wesen der Frau', in denen sich kleine Männer über die Unterlegenheit des Weibes ausgelassen hatten. Frauen dienten Männern jahrhundertelang als magischer Spiegel, vor dem. sie in doppelter Größe erscheinen konnten, schreibt Woolf voller Zynismus. Sie erinnert gehässig daran, dass Napoleon und Mussolini ausgewiesene Frauenhasser waren (und ziemlich kleine „große“ Männer der Weltgeschichte). Verärgert läßt Woolf vor ihrem geistigen Auge einen hässlichen „Professor von X“ auferstehen, der emsig an einer Arbeit über die Unterlegenheit der Frau schreibt. Man möchte sich aber nicht von jemandem, der ein puterrotes Gesicht hat und beim Atmen schnauft, sagen lassen, man sei ihm unterlegen. Und was ist eigentlich interessanter: Die Geschic hte der Emanzipation der Frau oder die Geschichte der Behinderung ihrer Emanzipation durch den Mann? Was wäre passiert, wenn Shakespeare eine Schwester gehabt hätte, die ebenso begabt war, wie er?, fragt Woolf in der berühmten Passage über „Shakespeare's Sister“. Nehmen wir an, William hätte eine Schwester gehabt, die Judith gehießen hätte. Judith hätte den Kopf voller Ideen gehabt. Sie hätte ein ganzes Universum an lebendigen Figuren erschaffen können, genauso wie ihr Bruder. Aber Judith wurde nicht zur Schule geschickt. Während William lateinische Klassiker las drückte man Judith zerlöcherte Socken in die Hand und sagte ihr »Stopf das, und paß' auf, dass die Suppe nicht überkocht, und - 194 -
laß' gefälligst diesen albernen Kram mit den Büchern.« Mit sechzehn wollte man sie mit dem benachbarten Wollhändler verheiraten. Als Judith sich weigerte, erhielt sie erst mal eine Tracht Prügel vom Vater. In derselben Nacht schnürte sie ihr Bündel und lief von zu Hause weg. Sie ging nach London. Sie wollte Schauspielerin werden, aber man lachte sie aus. »Frauen auf der Bühne - wo kommen wir denn da hin!« schimpften die Theaterleute, und sie hatten auf ihre Art recht, denn zu Shakespeares Zeiten wurden alle Rollen von Männern und Knaben gespielt, auch die der Frauen. Einer von ihnen nahm sich des Mädchens an - eine Weile später war Judith schwanger. Sie nahm sich das Leben, und man bestattete sie in ungeweihter Erde. - Dies wäre der Werdegang gewesen, den die europäische Kultur für eine Frau von außerordentlicher Begabung vorsah. „Shakespeare's Sister“ ist sprichwörtlich geworden für das, was in der europäischen Kultur eigentlich nicht vorkommen sollte: ein weibliches Genie. -» Jane Austen war ein Genie, erinnert uns Woolf. Sie hatte kein Zimmer für sich allein, aber sie verfasste einige der größten Romane der Weltliteratur. Jane Austen schrieb an einem winzigen Tisch im Wohnzimmer der Familie. Wenn Besuch kam, mußte sie ihre Arbeit unterbrechen. Niemand außerhalb der Familie wusste, dass sie Bücher schrieb, denn es schickte sich für eine Frau nicht, als Schriftstellerin an die Öffentlichkeit zu treten. Wenn Gäste kamen, versteckte Austen ihre Manuskripte schnell unter einem Blatt Löschpapier. Eine quietsch ende Tür diente als Frühw arnsystem, und angeblich soll Austen dafür gesorgt haben, dass sie nie geölt wurde. Und dann fragt man sich nach der Lektüre des Essays: Hat die Weltliteratur eigentlich einen Mann zu bieten, der in der Lage gewesen wäre, einen Roman wie -» Stolz und Vorurteil (Pride and Prejudice) zu schreiben, während die Schwester daneben mit den Teetassen klappert und die Schwägerin den Kopf zur Türe hineinsteckt, um das Musterbuch mit den neuesten Hut-Kreationen aus London vorbeizubringen?
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Simone de Beauvoir Das andere Geschlecht (1949) Le Deuxième Sexe war das einflußreichste feministische Buch des 20. Jahrhunderts. Als Simone de Beauvoir 1986 starb, standen in den Nachrufen Worte wie „Bibel des Feminismus“, „Hohepriesterin der Frauenbewegung“ oder „Mutter des Feminismus“. Rund vierzig Jahre zuvor, bei der Veröffentlichung des Buchs 1949, hatte es noch empörte und vernichtende Kritiken gehagelt. Aber in den adretten Zimmern gutbürgerlicher Töchter in gestärkten Hemdblusenkle idern eröffnete sich eine neue Welt. Das andere Geschlecht zu lesen, erinnerte sich eine Feministin schwärmerisch, war, als würden einem Flügel wachsen. Der Grundgedanke des Buches war eigentlich gar nicht neu. Der am häufigsten zitierte Satz des Werks lautet: »Frauen werden nicht geboren, sondern gemacht«. Das hatte bereits Wollstonecraft mit etwas anderen Worten gesagt. Neu und überwältigend war aber die systematische, distanzierte Art, mit der de Beauvoir vor Augen führte, in welchen Bereichen und auf welche Weise Frauen in einer männlich dominierten Welt unterdrückt wurden. De Beauvoir behandelte flächen deckend, was es in der abendländischen Kultur bedeutete, Frau zu sein: Sie untersuchte die Aspekte Frauen und Körper, Frauen und Geschichte, Mythos „Frau“ und Frauenalltag. Das Verhältnis von Frauen und Männern war in allen Bereichen asymmetrisch. Frauen waren unfrei, unselbständig und fremdbestimmt. Als das Maß aller Dinge galt überall das Männliche. Das Weibliche war „das Andere“. „Das Andere“ (das Weibliche) war die Abweichung vom Normalen. „Das Andere“ waren die Ängste und Phantasien, die aus der Sicht des Männlichen ausgegrenzt und unterdrückt werden mußten. Frauen waren nicht Subjekt, sondern Objekt, sie waren nicht selbstdefiniert, sondern durch den Blick und die Werte des Männlichen fremdbestimmt. Die männlich dominierte Kultur machte Frauen zu den wirtschaftlich, politisch, physisch, psychisch, rechtlich und historisch Unterdrückten. - 196 -
De Beauvoirs' bahnbrechendes Werk schaffte weibliches SelbstBewußtsein wie noch kein feministisches Buch zuvor. Als die Frauenzeitschrift Elle in den neunziger Jahren prominente Französinnen danach fragte, was Simone de Beauvoir für sie bedeutet habe, übertraf eine hymnische Antwort die andere: De Beauvoir hatte Tausende von Frauen aufgeweckt, sie war ihre Vertraute und Lehrerin gewesen, sie hatte den nachfolgenden Generationen den Weg geebnet. Alle modernen Frauen schuldeten ihr alles, was sie erreicht hatten. Wenn man heute Das andere Geschlecht liest, erinnert das tausendseitige Werk an einen Dinosaurier. Das meiste von dem, was de Beauvoir über die Passivität und Selbstaufgabe der Frau, über ihr sexuelles Unaufgeklärtsein, über ihr Verhältnis zum eigenen Körper, über ihre Rolle in der Ehe und die Erfahrung der Schwangerschaft sagt, klingt, als entstamme es irgendwelchen endlos weit zurückliegenden Urzeiten. Das liegt daran, dass de Beauvoir das Selbstbewußtsein der Frauen an den Zuständen des 19. Jahrhunderts festschreibt - und die waren im Hinblick auf Körpergefühl und weibliche Selbstwahrnehmung unübertroffen katastrophal. Aber Anfang der fünfziger Jahre war das 19. Jahrhundert zumindest was die sexuelle Aufklärung Europas anging - noch nicht vorbei. De Beauvoir zeigte, in welchem Maße die Erfahrung des eigenen Körpers mit der kulturell verankerten „Minderwertigkeit“ der Frau zusammenhing. Wenn die Tradition Frauen ausschließlich mit ihrer Fähigkeit, Kinder gebären zu können, identifizierte, mußte sich die Frau zwangsläufig mit ihrem Körper identifizieren. Zugleich erlebte sie (traditionsgemäß) ihren Körper nur als passiven, empfangenden Organismus: als etwas, das den unausweichlichen Diktaten der Natur ausgeliefert war. Die Frau war ihr Körper, aber ihr Körper war etwas Fremdes. Seine biologischen Funktionen mußten passiv erduldet werden. Paradoxerweise wurde die Frau mit ihrem Körper gleichgesetzt, aber ihr Körper war nicht ihr Selbst. Der Körper war eine Bürde. Generationen von Frauen erlebten ihren Körper als schäm-, angst- und schmerzbehaftet. Das Einsetzen der Menses war mit Ekel verbunden, die Defloration mit Gewalt, der Geschlechtsverkehr mit Abscheu, die Schwangerschaft mit Angst, die Mutterschaft mit Selbstaufgabe. Heutzutage sind die Zeiten, in denen junge Frauen zu Tausenden - 197 -
unaufgeklärt in die Brautnacht gingen und dort mehr oder weniger vergewaltigt wurden, glücklicherweise Geschichte. (In einem von de Beauvoir erwähnten Fall glaubte eine verschreckte und vollkommen ahnungslose Braut gar, ihr Ehemann sei geisteskrank.) Und die Zeiten, in denen der weibliche Körper als Behinderung erlebt werden mußte, der davon abhielt, sich selbst und die Welt zu entdecken, gehören ebenfalls der Vergangenheit an. Das andere Geschlecht ist immer noch ein beeindruckendes Buch. Aber inzwischen wird es keiner Zwanzigjährigen etwas über ihr alltägliches Selbstverständnis zu sagen haben. Es das grandiose Dokument für das, was sich in den vergangenen fünfzig Jahren für Frauen verändert hat.
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Germaine Greer Der weibliche Eunuch (1970) Von der australischen Feministin Germaine Greer stammt der coolste Satz der ganzen Frauenbewegung: »Wenn du glaubst, du seist emanzipiert, dann probier doch mal dein Menstruationsblut - und wenn dir davon schlecht wird, hast du noch einen weiten Weg vor dir, Schätzchen.« Eines ist klar: Der Ton, den Der weibliche Eunuch anschlug, war radikal, laut, respektlos und provokant. Die ehemalige Klosterschülerin, die Gruppensex befürwortete und ihren Ehemann in ihrer dreiwöchigen Ehe siebenmal betrog, wurde mit der Veröffentlichung des Buchs zum internationalen Medienstar. In England gab es in bestimmten Kreisen zeitweise gar kein anderes Gesprächsthema mehr. Es soll Frauen gegeben haben, die ihr Exemplar im Schuhschrank versteckten, weil ihnen ihr Mann die Lektüre verboten hatte. In solchen Fällen wurde die feministische Selbstaufklärung dann ja wohl auch höchste Zeit. Greer verkündete: Frauen werden ah Frauen geboren, aber im Laufe ihres Lebens in ihrer Weiblichkeit „kastriert“. Frauen würden gezwungen, ihr Geschlecht zu ignorieren und zu verleugnen. Sie würden weibliche Eunuchen“. Greer zählte eine überbordende Fülle von Situationen auf, in denen Frauenalltag unzumutbar ist: sexuelle Bevormundung, Gewalt, Schönheitsterror der Medien etc. Sie appellierte an Frauen, sich Kosmetik-Diktaten zu widersetzen, die ihren Körper zu einer enthaarten, geruchslosen und weichkurvigen Ideallandschaft machten, aus der alle Anzeichen des Alterungsprozesses getilgt sind. Sie sorgte für Aufruhr mit dem Satz »Frauen haben keine Ahnung, wie sehr Männer sie hassen« und attackierte das Gewaltpotential der männlichen Sexualität. Sie pochte auf die sexuelle Selbstverwirklichung der Frau und behauptete, die Liebesheirat sei sentimentaler Unsinn. Greer ist die Vorkämpferin der Frauenpower. Sexy, intelligent und angstfrei. Mit den scharfen Augen eines Raubvogels segelt sie über - 199 -
die weitläufige Landschaft weiblicher Benachteiligungen und Unterdrückungen und stürzt sich dann plötzlich im Sturzflug auf ihre ahnungslosen Opfer, worauf man selber - obgleich doch gar keiner Schuld bewusst - vor Schreck Deckung sucht. Greers Beitrag zum Feminismus ist ein Beispiel dafür, dass man gelegentlich übers Ziel hinausschießen mußte, wenn man etwas erreichen wollte. Die Wut, die aus Der weibliche Eunuch spricht, könnte auch einmal historisch sein.
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Alice Schwarzer Der kleine Unterschied (1975) 1975 klärte Alice Schwarzer über die Folgen der vermeintlichen „sexuellen Befreiung“ auf. Sie zeigte in 14 Einzelinterviews mit Frauen aus allen Schichten und unterschiedlichen Alters, dass das Ehe- und vor allem das Geschlechtsleben für die Frauen offensichtlich dasselbe war wie Freiheitsberaubung. Es stellte sich rasch heraus, dass das nicht nur in deutschen Schlafzimmern der Fall war, sondern in allen Schlafgemächern Europas. Schwarzers Buch wurde ein internationaler Bestseller. Das, was sie dokumentierte, traf den Nerv der Zeit. Das Buch animierte sogar zahllose Frauen in Deutschland und Frankreich, sich zu „Selbsthilfegruppen“ zusammenzutun - einer bis dato vollkommen unbekannten Einrichtung, von der im Anhang des Buches vorsichtshalber erklärt wurde, was darunter eigentlich zu verstehen sei ... In den sechziger Jahren war die Pille auf den Markt gekommen. Dadurch wurde praktisch über Nacht ein völlig neuer Umgang mit Sexualität möglich. Doch weder Männern noch Frauen gelang es, ihr Rollenverhalten entsprechend zu verändern. Statt dessen gaben sie sich Illusionen hin. Männer glaubten, dass Frauen, wenn die Angst vor Schwangerschaft sie nicht mehr zurückhält, nicht nur jederzeit für Sex verfügbar sind, sondern ihn auch wollen. Frauen träumten den großen Traum, dank der Pille nicht nur über die Zahl ihrer Kinder, sondern vor allem über ihr Leben freie Entsche idungen treffen zu können. Doch der graue Ehealltag und traditionelle Männer- und Frauenbilder ließen sich von einer kleinen Pille nicht so einfach aus dem Feld schlagen. Schwarzer dokumentierte das Grauen im Schlafzimmer: Zu Tode gelangweilte Hausfrauen vegetierten in emotionaler Ödnis vor sich hin. Studentinnen mit emanzipatorischen Ansprüchen versuchten, ihren erschrockenen Freunden ihre Bedürfnisse zu erklären. Mädchen fanden sich mit einer beklagenswert unsensiblen Entjungferung ab, von der sie (nicht ganz zu Unrecht) annahmen, sie entspräche dem üblichen Procedere. Außerhalb des Schlafzimmers sah es auch nicht - 201 -
viel besser aus: Verheiratete Frauen empfanden ihren Wunsch nach einem Halbtagsjob als geradezu utopisch und brachten nur mit Mühe den Mut auf, zu sagen, was sie wollten. Den pädagogischen Dauerton des Buchs kann man zwar inzwischen kaum noch aushallen, aber wer heute noch einmal hineinguckt, wird erkennen, dass es sich gelohnt hat. Die Welt der Partnerschaften und Ehen, die Schwarzer dokumentiert, darf sich zumindest in der Öffentlichkeit nicht mehr blicken lassen. Allerdings ist heute in der Geschlechterdebatte die didaktische Verve der siebziger und achtziger Jahre out: die Medien reagieren eher allergisch auf pädagogisch eingefärbte Verbesserungskonzepte. Die Männer haben die Nase voll davon, sich von den Frauen sagen zu lassen, wie sie sich zu benehmen haben, sei es im Bett oder in der Küche, und sie trauen sich sogar wieder zu sagen: »Männer sind so.« Das wirkt entlastend, denn nach etlichen Jahren Spülmittel testender Väter in der Werbung darf Mann nun endlich mal bekennen, dass er putzen eigentlich ziemlich blöd findet. Die Siebziger-Jahre-Utopie von der grenzenlosen Erziehbarkeit der Geschlechter ist jetzt ins Gegenteil gekippt. Aber diese rigorose antipädagogische Haltung dürfte auch noch nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Denn in den vergangenen 25 Jahren haben Männer und Frauen gehörig dazugelernt - wer das bezweifelt, sollte noch einmal einen Blick in den Kleinen Unterschied werfen.
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ZIVILISATION Als die Fahrstuhltür sich öffnet, sehen Sie mit einem kurzen Blick, dass schon vier andere Personen im Aufzug stehen. Es wird also ziemlich eng. Aber wenn die anderen etwas rücken, könnte es gehen. Jetzt beginnt ein magisches Spiel. Als hätten sich die Beteiligten vorher heimlich abgesprochen und die Szene hundertmal geprobt, rückt jeder an einen passenden Platz. Der Mann rechts hinten schiebt seine Supermarkttüten etwas zur Seite, dann tritt die vor ihm stehende Frau einen Schritt zurück und achtet darauf, ihren Hintermann nicht mit ihrem Rucksack zu erdrücken. Schon ist Platz für Sie da, Sie steigen ein, die Türen schließen sich. Das Ganze ist wortlos abgelaufen, fast ohne Blickkontakte und ganz ohne Körperberührungen, obwohl wirklich nicht gerade viel Platz ist. Weder hat jemand gesagt: »Junge Frau, wollen Sie nicht etwas näher an mich rücken, dann haben die anderen mehr Platz«, noch ist jemand auf die Idee gekommen, sich breit vor Ihnen aufzubauen und zu sagen: »Hier ist kein Platz mehr«. Beim nächsten Stockwerk muß der Mann mit den Supermarkttüten aussteigen. Das merken die Mitfahrenden daran, dass er sich bückt, um die Tüten in die Hand zu nehmen. Die Rucksackfrau geht etwas zur Seite, auch Sie müssen Platz machen, und der SupermarkttütenMann verläßt den Lift. Ein neuer Mitfahrer steigt ein, wieder findet dasselbe ziels ichere, unauffällige Rücken statt, bis alle wieder irgendwo richtig stehen. Aber was ist das denn jetzt? Der Neueinsteiger riecht ganz entsetzlich nach Schweiß! Doch sagt jetzt jemand etwa: »Puh! Könnten Sie nicht mal Ihr Hemd wechseln?« Oder hält sich einer der Fahrgäste demonstrativ die Nase zu? Beides würde unter den gegebenen Umständen weit übler auffallen als der penetranteste Körpergeruch, und deshalb läßt sich keiner etwas anmerken. Fahrstuhlfahrten sind Ereignisse, bei denen einander vollkommen fremde Personen auf engstem Raum zusammengepfercht werden. Eigentlich müsste das reichen, um Fahrstuhlfahrten zu besonders - 203 -
konfliktanfälligen Situationen werden zu lassen, aber das genaue Gegenteil ist der Fall. Jeder, der einen Fahrstuhl betritt, kann sich darauf verlassen, dass diese unpersönlichen Begegnungen unter Fremden auf engstem Raum vollkommen reibungslos und unauffällig ablaufen werden (vorausgesetzt, die Technik spielt mit). Das macht die Fahrstuhlfahrt zu einem Musterbeispiel der westlichen Zivilisation. Und das ist sicher kein Zufall, denn die westliche Zivilisation wurde zu Beginn der Neuzeit erfunden, wie Norbert Elias gezeigt hat, um den Umgang mit Fremden auf relativ engem Raum für alle Beteiligten erträglich zu gestalten. Seitdem der Ritter im 15. Jahrhundert seine Burg verließ und am Königshof Manieren lernen mußte, trennt die westliche Zivilisation persönliches von unpersönlichem Verhalten. Die Trennung läuft durch jeden zivilisierten Menschen und teilt ihn in ein authentisches Ich und eine soziale Rolle. „Zivilisiertes“ Verhalten bedeutet, Fremde nicht mit höchstpersönlichen Belangen zu belasten bzw. belästigen. Statt dessen gibt es Konventionen, Manieren, Höflichkeit, Selbstkontrolle, Etikette und lauter andere Regeln für den Umgang mit Menschen. Man schnappt die meisten davon auf, ohne sich darüber bewusst zu sein, und man beherrscht sie, ohne darüber nachdenken zu müssen. Der zivilisierte Alltag besteht aus unzähligen einstudierten und abgesprochenen Szenen. Aber man sieht dem Alltag seine Dramaturgie nicht an. Oder ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Sie sich beim Fahrstuhlfahren in einem festgelegten Script ohne Text, aber mit gelungener Choreographie befinden und nacheinander die Rollen Einsteigender, Mitfahrender und Aussteigender übernehmen? Nein. Das ist Zivilisation: Alltag als routiniert ablaufendes Theater, dem man nicht anmerkt, dass es Theater ist. In den meisten Fällen läuft Alltag in der Zivilisation so reibungslos ab, dass niemand merkt kein Mitspieler und kein Zuschauer -, dass er sich ständig in kleine Inszenierung begibt, in denen er Rollen spielt. Die Fahrstuhlfahrt ist das Paradebeispiel für diese „zivilisierte“ Gleichzeitigkeit von Inszenierung und Zufälligkeit. Wer über längere Zeit von oben in eine Fahrstuhlkabine sehen könnte, würde zunächst staunen, mit welcher Leichtigkeit die Passagiere hin und her gleiten, ohne anzuecken, aber nach einer Weile würde er erkennen, dass das, was so mühelos aussieht, das Ergebnis einer heimlichen Absprache - 204 -
sein muß, weil immer wieder das gleiche passiert. Es existiert nämlich ein Drehbuch, und es trägt den Titel: Zivilisation. Im Unterschied zu einem „echten“ Fahrstuhl hat der Zivilisationsfahrstuhl keine Stockwerkanzeige. Den meisten Menschen ist das egal, weil sie ihr ganzes Leben im Zivilisationsfahrstuhl verbringen werden und nicht die Absicht haben, jemals „auszusteigen“. Aber dann gibt es Mitfahrer, die plötzlich alle anderen in hellen Aufruhr versetzen und rufen: »Es geht abwärts mit unserem Zivilisationsfahrstuhl!« Der berühmteste dieser Ausrufer, dessen Rufe bis heute nachhallen, war Jean-Jacques Rousseau. Rousseau setzte mit seiner Kritik an der Zivilisation treffsicher an deren Kernpunkt an: an dem Umstand, dass die Zivilisation zwischen Identität und sozialer Rolle unterscheidet. Rousseau (der übrigens das Theater haßte) ist der geistige Vater all jener zivilisationskritischen Positionen der modernen Gesellschaft, in denen der Verlust von Authentizität beklagt wird: Er bringt die europäische Kultur auf die Idee, von „Selbstverwirklichung“ zu träumen, sich vorzustellen wie es wäre, „endlich Ich“ zu sein, an „Entfremdung“ zu leiden und sich den „Zwängen der Gesellschaft zu entziehen. Rousseaus Gegenwelt zur Zivilisation ist die Natur. Während man solcherart rousseauistisch konditioniert im Zivilisationsfahrstuhl einen Landschaftsgarten anlegt, bewegt sich der Fahrstuhl auf das Jahr 1900 zu. Nun macht es sich wieder einmal bemerkbar, dass es keine Stockwerkanzeige im Zivilisationsfahrstuhl gibt, denn plötzlich kommen aus zwei Ecken gleichzeitig Rufe: »Abwärts, die Herrschaften!!« und »Aufwärts, die Herrschaften!!« Die Verwirrung entsteht, weil der Zivilisationsfahrstuhl inzwischen schneller geworden ist. Einigen Mitfahrenden wird von der Fahrt ganz schwindelig. Andere werden bleich oder Künstler. Man erklärt, sie seien die Opfer einer Erkrankung der Zivilisation: der Dekadenz. Der konservative Kulturkritiker Oswald Spengler verkündet nun, der Untergang des Abendlandes (1918-1922) stünde bevor. Bei Kulturpessimisten gilt Dekadenz als ein Zeichen für den Verlust von Vitalität. Man verabreicht der Jugend Bircher-Müsli und rät ihr, zur Abhärtung nackt auf feuchten Wiesen zu turnen. In den - 205 -
Künstlerkreisen der Avantgarde und im Milieu der Großstädte passiert das genaue Gegenteil: Hier feiert man die Dekadenz als den Ausdruck eines zivilisatorischen Höhenflugs. Wie zum Beispiel -» Thomas Mann, für den Dekadenz zeitweilig der Inbegriff von ästhetischer Verfeinerung und Vergeistigung war. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts reißt im deutschen Zivilisationsfahrstuhl das Seil. Er stürzt in die Tiefe. Merkwürdigerweise bekommt ein Großteil der Mitfahrer den Absturz erst mit, als sich die Trümmer der Kabine mehrere Meter in den Erdboden gebohrt haben. Angesichts der nun nicht länger zu übersehenden Leichenberge verbreitet sich nach der Katastrophe erneuter Zivilisationspessimismus. Dann wird den Überlebenden allmählich klar, was passiert ist: Die Katastrophe basierte keineswegs auf Materialermüdung der Zivilisation, sondern auf einem Akt der Sabotage. Für die Zukunft weiß man, dass die Zivilisation keine Garantie gegen Abstürze ist. Aber man weiß auch, dass man, um Abstürze in die Barbarei zu verhindern, unter anderem auf eines angewiesen ist: auf die Zivilisation.
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Baldassare Castiglione Das Buch vom Hofmann (1508-1516) Castigliones Buch vom Hofmann war die Pflichtlektüre an allen europäischen Renaissance-Höfen. Die Oberschichten lernten daraus Umgangsformen. Castiglione hatte den Ratgeber in Dialogform geschrieben. 19 Männer und vier Frauen treffen sich am Hof von Urbino und diskutieren an mehreren Abenden, was den perfekten Hofmann ausmacht. Der Herzog Lodovico da Canossa, ein Freund des Humanisten Erasmus von Rotterdam und des Malers Raffael, begann zunächst etwas zaghaft: »Ein Höfling sollte wohl von edlem Geblüt sein und aus einer angesehenen Familie stammen. Er sollte ein Soldat sein. Er muß Mut besitzen und sich im Kampf beherzt zeigen. Das bedeutet aber nicht, dass er sich auch in Geselligkeit so grobschlächtig verhalten darf, als befände er sich auf dem Schlachtfeld. Denn in der Geselligkeit sind stets auch Damen anwesend, und die mögen es nicht, wenn man sich ihnen gegenüber verhält wie ein Klotz. Wer sich in Gegenwart der Frauen nicht ebenso höflich, bescheiden und zurückhaltend verhält wie er im Antlitz des Feindes kämpferisch, angriffslustig und roh sein kann, sollte sich nach getanem Kampf lieber zusammen mit seinen Waffen in der Waffenkammer wegschließen lassen.« Nachdem sich die Heiterkeit gelegt hatte, ergriff Bernardo Bibbiena das Wort und sagte mit verstecktem Grinsen: »Ich denke, ein Höfling muß ein hübsches Gesicht und einen wohlgeformten Körper haben. Das hübsche Gesicht habe ich ja - weshalb die Frauen so sehr hinter mir her sind - aber meine Beine ... ! Was kann ich bloß tun, damit meine Beine ansehnlicher werden? Sagt mir, wie der perfekte Höfling aussehen muß!« Nach einem weiteren Ausbruch allgemeiner Heiterkeit erklärte der Herzog: »Er sollte weder zu groß noch zu klein sein, denn in beiden Fällen wird man ihn anstarren, als handle es sich um ein Monster. Dann sollte er gut proportioniert sein, nicht zu dick und nicht zu dünn, - 207 -
und kräftig genug, um alle Waffengattungen beherrschen zu können. Er sollte zur Stärkung seines Körpers ein paar Sportarten lernen: Ringen, Reiten jagen, Schwimmen, Springen, Falkenjagd, vielleicht auch Laufen und Steinwurf. Tennis ist übrigens ein vorzüglicher Sport für den Hofmann«, fügte der Herzog mit amüsiertem Blick auf Bernardo Bibbiena hinzu, »denn hier kann er zeigen, wie gut er durchtrainiert ist.« »Und sicherlich muß er tanzen können, ohne dass es gestelzt oder affig aussieht«, warf jemand ein. »Das ist richtig«, bestätigte der Herzog, »denn der Hofmann soll sich ja in Gesellschaft von Frauen zu benehmen wissen. Deshalb muß er auch lernen, Konversation zu treiben. Er kann sich die Redetechnik von den antiken Rednern abgucken, aber die beste Rhetorik nützt nichts, wenn man nichts zu sagen hat. Also braucht der Höfling auch eine Menge Wissen.« »Aber wird er, wenn er so gelehrt redet, überhaupt von allen verstanden werden können?« fragte Signor Morello. Er dachte an die Damen, war aber zu höflich (!), das auszusprechen. »Aber natürlich! Denn der vollendete Hofmann kann sich immer verständlich ausdrücken. Eloquent muß er sein, aber auch dichten soll er können.« »Dichten«, murmelte der Signore Caspare, den schon seit langem Bedenken quälten, leicht angeekelt. »Fehlt nur noch, dass der Hofmann anfängt, Musikinstrumente zu spielen. Da haben wir uns dann ja bald ein paar schöne verweibischte Exemplare unseres Geschlechts herangezogen!« Jetzt wurde der Herzog zu so später Stunde noch einmal ganz lebhaft. »Der Hofmann muß ein wahrer Virtuose der Instrumente sein! Aber was hat Musik mit Verweibischung zu tun? Wißt Ihr denn nicht, dass der ganze Kosmos durch die Musik der Himmelssphären in Bewegung gehalten wird? Schon Platon und Aristoteles sagten, dass ein gut erzogener Mann auch ein Musiker sein muß.« Und dann fügte der Herzog noch hinzu - als triebe ihn eine gemeine Lust, den Signore Caspare zu provozieren: »Natürlich muß der Hofmann auch malen und zeichnen können.« Signor Caspare schnaufte verächtlich. - Es war spät geworden, und man vertagte die Fortsetzung der Diskussion auf - 208 -
den kommenden Abend. Am nächsten Tag hatte Federico Fregoso das Wort. »Heute will ich über das Verhalten des Hofmanns gegenüber seinem Prinzen oder Fürsten sprechen. Denn es ist nämlich so, dass der Höfling all seine Begabungen, Ziele und sein gesamtes Verhalten dem Wohle seines Prinzen unterordnen muß.« »Klingt nach einem Speichellecker erster Güteklasse«, murmelte Pietro da Napoli. »Ihr mißversteht mich. Wenn ich sage, der Höfling solle seinem Prinzen gefallen, so meine ich damit nicht, dass er ein Heuchler sein soll. Natürlich muß er sich schon verstellen können, denn es ist grässlich, wenn er seinem Fürsten schlecht gelaunt oder melancholisch unter die Augen tritt.« »Der Hofmann muß also eine Rolle spielen?« »So ist es. Denn er muß sich immer seiner Wirkung bewusst sein.« »Und wie muß sich der Höfling gegenüber seinesgleichen benehmen? Immerhin hat er mit ihnen ständig zu tun.« »Zunächst sollte er lernen, die Kleiderordnung zu durchschauen. Der, der die teuerste Kleidung trägt, ist nicht immer der wichtigste Mann«, antwortete Federico. »Wie muß ein Höfling denn überhaupt gekleidet sein?« fragte Magnifico Giuliano. »Das ist schwierig zu sagen. Er sollte nicht zu modisch sein - nicht wie die Franzosen, die immer aussehen wie die Gecken. Aber er sollte auch nicht so schlecht angezogen sein wie die Deutschen. Es gefällt mir gut, wie sich die Spanier kleiden, denn ihre schwarze Kleidung ist schlicht.« »Aber wenn es um die Wirkung geht, die ein Höfling haben wird, gibt es noch etwas sehr wichtiges«, fuhr er fort. »Der Höfling muß sich seine Freunde sehr sorgsam wählen. Denn er wird immer auch nach den Leuten beurteilt werden, mit denen er sich abgibt. Wer mit den falschen Leuten gesehen wird, kann seine Laufbahn getrost vergessen.« »Er sollte daher auch vermeiden, Scherze auf Kosten anderer zu machen«, sagte Bernardo. »Es ist ja nicht sehr komisch, zu einem - 209 -
Mann, der gerade im Gefecht seine Nase verloren hat, zu sagen: „Und wo tragt Ihr nun Eure Brille?“ Es ist eine wahre Kunst, witzig und amüsant zu sein, ohne dabei geschmacklos zu werden. Der Hofmann muß sie beherrschen. Seine Scherze sollten auch nie derb sein. Und sie dürfen, sofern sie das weibliche Geschlecht zum Anlass von Neckereien nehmen, niemals dessen Ehre verletzen.« »Aber haben Frauen, diese unvollkommenen Kreaturen, denn überhaupt eine Ehre?« wandte Signor Ottaviano Fregoso halb im Scherz ein. »Aber ich bitte Euch!« rief Giuliano de Medici, jüngster Sohn des großen Lorenzo de Medici aus Florenz. »Ziemt es sich für einen Höfling, die Tugend der Frauen zu hinterfragen? Wir sind uns doch wohl einig, dass der Hofmann sich gegenüber Frauen nur mit dem größten Respekt verhalten sollte. - Aber das haben wir nun davon, dass wir uns den perfekten Hofmann ausgemalt haben: Da ist es ja nicht verwunderlich, dass die Frauen nun dagegen abfallen. Deshalb schlage ich vor, dass wir diesem Mißstand morgen abend Abhilfe schaffen. Wir wollen uns dann Gedanken machen, wie die vollendete Hofdame aussehen soll.« Damit wurde das Gespräch für diesen Abend beendet. Die Höflinge zogen sich zurück und ließen sich das Bild des Hofmanns durch den Kopf gehen. Ob sie selbst auch nur in die Nähe dieses Ideals kämen? Man konnte sich zum Experten auf allen erdenklichen Gebieten machen: der Waffenkunde, dem Sport, der Dichtung, Konversation und Musik, dem Tanz. Man konnte lernen, sich geschickt zu kleiden. Man konnte beherzigen, dem Prinzen stets froh gelaunt - aber auch nicht zu aufgekratzt - unter die Augen zu treten. Man konnte den richtigen Umgang wählen. Aber wie viel Aufmerksamkeit würde das stets bedeuten! Es würde ständige Beobachtung erfordern: die der anderen und die der eigenen Person. Stets müsse man in der Lage sein, die Wirkungen seines Handelns voraussehen zu können. Nie dürfe man unachtsam sein. So, als wäre man Schauspieler und Regisseur zugleich. Und selbst wenn einem das alles gelänge - was hatte der Herzog Lodovico am ersten Tag gesagt? Die wahre Kunst des Höflings sei die - 210 -
Mühelosigkeit, die sprezzatura: das war die hohe Kunst, die Selbstinszenierung so aussehen zu lassen, als sei sie bloße Spontaneität. Das ganze Wissen und Können nütze dem Höfling nichts, wenn er es bloß mit dem Eindruck bleierner Bemühtheit zu präsentieren wisse. Leicht und natürlich und grazil müsse all das letztlich wirken, was das Ergebnis mühevoller Selbstdisziplinierung war.
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Robert Burton Die Anatomie der Melancholie (1621) Sie ist der Ozean des Leidens und der Gipfel allen menschlichen Mißgeschic ks. Keine körperliche Qual kommt ihr gleich, keine Folter, keine heißen Eisen. Keine je von einem Tyrannen erdachte Marter reicht an die Schmerzen und Torturen heran, die sie verursacht. Die Rede ist von der ersten Zivilisationskrankheit Europas: der Melancholie. Die leidenschaftliche Beschreibung stammt vom Verfasser der berühmtesten Darstellung des Leidens, von dem englischen Geistlichen Robert Burton. Über viele Jahre hinweg hatte Burton an dem mehr als tausend Seiten umfassenden Werk gearbeitet, das sofort zum Bestseller wurde. Am Ende hatte er ein nahezu vollständiges Panorama menschlicher Gemütsverfassungen geschaffen und dabei so gut wie das gesamte verfügbare Wissen seiner Zeit verarbeitet. Die Anatomie beschäftigt sich mit medizinischen, pharmazeutischen, psychischen und psychiatrischen Gegenständen, aber sie ist ebenso ein Sammelsurium philosophischer, literarischer, botanischer, alchemistischer, historischer und geographischer Erkenntnisse. Burton belegt nahezu jede seiner Beobachtungen durch ein Zitat - zumeist aus antiken Quellen. Er demonstriert damit eine Belesenheit, die schon fast unheimlich ist. Wahrscheinlich wird heutzutage niemand die Anatomie mit ihrer geradezu überwältigenden und etwas sonderbaren Gelehrtheit vollständig lesen wollen. Es gibt aber (auch in deutscher Übersetzung) gute gekürzte Ausgaben. Und die lohnt es sich zu lesen. Denn nirgendwo sonst wird über Verzweiflung, Leid und Krankheit auf so skurrile, witzige und exzentrische Weise berichtet wie in der Anatomie der Melancholie . In Zeiten der psychologischen Feineinstellung wirkt die Anatomie auch deshalb besonders bizarr, weil ihr eine vormoderne Vorstellung von der Psyche zugrunde liegt. Im 17. Jahrhundert kannte man noch keinen psychischen Innenraum. Die Idee der Melancholie basierte auf dem Welt- und Menschenbild - 212 -
der Renaissance. Nicht immer bedeutete Melancholie gleich eine Krankheit. In ihrer gewöhnlichen Erscheinungsform bezeichnete die Melancholie eines der vier Temperamente des Menschen. Sie bestimmte die mentale Veranla gung einer Person. Die Lehre von den vier Temperamenten war bis ins 18. Jahrhundert das Äquivalent zur modernen Psychologie. Sie brachte die Psyche mit den flüssigen Bestandteilen des Menschen in Verbindung: seinen Körpersäften. Das waren die vier Grundsäfte: die schwarze Galle, der Schleim, das Blut und die gelbe Galle. Jedem Saft war ein Temperament zugeordnet. Überwog ein bestimmter Saft in einem Menschen (und die Säfte befanden sich nur selten im idealen Gleichgewicht), dann sorgte das für die Grundstimmung des Betreffenden: Wer zu viel schwarze Galle hatte, war ein Melancholiker, wer zu viel Schleim hatte, war ein Phlegmatiker, wer zu viel Blut hatte, war ein Sanguiniker, und wer zu viel gelbe Galle hatte, war ein Choleriker. Da der Körper des Menschen (der Mikrokosmos) die Welt (den Makrokosmos) im kleinen spiegelte, waren jedem Temperament ein Element und zwei Qualitäten zugeordnet: dem Melancholiker entsprach die Erde mit den Eigenschaften kalt/trocken, dem Phlegmatiker das Wasser mit den Eigenschaften kalt/feucht, dem Sanguiniker die Luft mit den Eigenschaften warm/feucht und dem Choleriker das Feuer mit den Eigenschaften warm/trocken. Die Melancholie wurde erst krankhaft, wenn die schwarze Galle, die sich in der Milz konzentrierte, in allzu großen Mengen im Körper überwog. Oder wenn sie zu dickflüssig bzw. zu sauer, und damit „verdorben“, war. Weil die Eigenschaften kalt/trocken den Grundqualitäten alles Lebendigen (warm/feucht) diametral entgegengesetzt waren, konnte sich die Melancholie schnell äußerst ungesund auswirken. Dann befiel die Betroffenen ein nervöses oder psychisches Leiden unterschiedlich schwerer Ausprägung. Unter Umständen konnte die Melancholie sich bis zum Wahnsinn steigern. Sie konnte gar mit Epilepsie enden. Ein besonderes Krankheitsbild lag vor, wenn das Blut durch die schwarze Galle verdorben worden war. Dann wurden die armen Betroffenen von ungesunden Heiterkeitsausbrüchen gepackt und mußten ständig über alles lachen. Das war die „Lach-Melancholie“. Burtons Anatomie beschäftigt sich mit den krankhaften - 213 -
Ausprägungen der Melancholie. Das Erstaunliche ist, wie modern die Krankheit wirkt, die Psyche und Körper in Mitleidenschaft zieht. Heute würden wir die Melancholie zu den psychosomatischen Erkrankungen zählen. Wenn man bei Burton über die Symptome und die Ursachen der Krankheit liest, fühlt man sich unwillkürlich an all jene komplizierten Krankheitsbilder unbestimmter Ursache erinnert, die heute den gestreßten Europäer in die Arztpraxen und die Kosten des Gesundheitswesens in die Höhe treibt. Die Patienten fühlen sich lustlos, haben keinen Appetit oder essen zu viel, sie leiden unter Blähungen oder einem niedrigen Blutdruck, sie fühlen sich schwindelig, haben Ohrgeräusche oder fühlen sich benommen, sie leiden unter Kopfschmerzen oder Magenbeschwerden, unter Angstträumen oder Schlaflosigkeit, sie frieren oder schwitzen, sie riechen übel aus dem Mund und müssen häufig aufstoßen, sie sind niedergeschlagen und freudlos, der Teint ist fahl und bleich, sie haben Verstopfung, leiden an Kurzatmigkeit, sind hypochondrisch oder pervers. Die Ursachen der Erkrankungen können überall liegen: Gott kann das Leiden verordnet haben; aber auch die Konstellation der Sterne kann dafür verantwortlich sein. Das Alter kann Melancholie verursachen, oder sie kann vererbt sein; sie kann durch falsche Ernährung hervorgerufen werden, durch zu viel oder durch zu wenig Essen; durch chronische Verstopfung, unregelmäßige Menses oder sexuelle Enthaltsamkeit. Schlechte Luft kann dafür verantwortlich sein, Überanstrengung genauso wie Trägheit. Zu wenig Schlaf (oder zu viel) können Melancholie auslösen; eine lebhafte Phantasie, Kummer, Angst, Schande, Neid, Haß, Wut, Armut, Sorgen, Ehrgeiz, Spielsucht und maßloser Lerneifer können krankmachen. Eine der häufigsten Ursachen für die Melancholie ist die Erkrankung an -» Liebe: Wer ihr zum Opfer fällt, leidet Qualen, die schlimmer sind als die Martern der spanischen Inquisition. Es gibt noch andere Ausprägungen der Krankheit. In diesen Fällen wäre heute eine Einweisung in die Psychiatrie fällig. Die ist dann ratsam, wenn die Patienten immerfort Selbstgespräche führen, in Hohngelächer ausbrechen, Schreie und unartikulierte Laute ausstoßen, Gesichter schneiden, unter Paranoia leiden, Stimmen hören, - 214 -
halluzinieren oder abwechselnd munter und niedergeschlagen (manischdepressiv) sind. Oft sind die Melancholiker im höchsten Maße selbstmordgefährdet. Es ist erstaunlich, wie modern das Krankheitsbild der Melancholie trotz seiner seltsam anmutenden Verankerung in der „Säftetheorie“ letztlic h ist: Sie ist die Summe der Symptome, die durch das verursacht wird, was heute „Streß“ heißen würde. Burton sagte, dass er eine Krankheit beschreibe, die ihre Ursachen überall habe und von der die gesamte Gesellschaft befallen sei. Die ganze Welt ist verrückt, wir sind alle Melancholiker, kommentiert Burton im Tonfall eines Zivilisationspessimismus, der nie wieder so optimistisch klang wie in der Anatomie der Melancholie.
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Molière Komödien (1659-1673) An drei Tagen der Woche können sich die obersten Kreise der Pariser Gesellschaft des 17. Jahrhunderts im Theatre Palais Royal den Spiegel vorhalten lassen. Dann wird eine Gesellschaftskomödie des Schauspielers und Theatermanagers Molière aufgeführt. Darin geht es um List und Betrug, um Täuschungen und Intrigen, um Hypochondrie und Ehrgeiz, um Rache und Ränke, um affektiertes Gebaren und um die Scheinheiligkeit der Interaktion am Hofe. Das Publikum kommt mit Begeisterung, nicht zuletzt, weil Molière die Gunst des Königs, Ludwig XIV, genießt. Und es amüsiert sich köstlich, wenn die vertraute Welt der Etikette, der Intrigen, der Schmeichelei und der Eitelkeit am Hofe und den Salons ins Lächerliche gezogen wird. Molière - eigentlich Jean Baptiste Poquelin - hatte sich sein Pseudonym zu Beginn seiner Laufbahn als Schauspieler zugelegt. Vermutlich wollte er seinem Vater, einem angesehenen Innendekorateur, der den Hof belieferte, die öffentliche Schmach ersparen, einen schauspielernden Sohn zu haben. Die Schauspielerei galt als so anrüchig, dass die Kirche die Schauspie ler exkommunizierte. Molière konnte nach seinem Tod (der ihn auf der Bühne ereilte, ausgerechnet während er sein Stück Der eingebildete Kranke spielte) erst auf Intervention des Königs in geweihter Erde begraben werden - und auch das nur ohne große Zeremonie, im Dämmerlicht des Morgengrauens. Molière begann seine Karriere als Mitglied einer Schauspielertruppe. Erst nach jahrelanger mühseliger Herumreiserei durch die südfranzösische Provinz gelang es ihm bei einer Vorführung, des Königs Wohlwollen zu gewinnen. Von nun an genoß Molière des öfteren das Privileg, dem König Stücke im Louvre oder in Versailles vorspielen zu dürfen. Ihm wurde auch die zweifelhafte Ehre zuteil, auf Geheiß Seiner Majestät innerhalb von fünf Tagen ein Stück zu schreiben und einzustudieren (Die Liebe als Arzt, 1665). Ludwig XIV. übernahm sogar die Patenschaft für den ältesten Sohn seines Hofkomödianten. Molière heiratete die Schwester seiner Ex- 216 -
Geliebten, aber man munkelte, es handle sich in Wirklichkeit um deren Tochter - und, dass Molière der Vater sei. In Molières Komödien ist die Kultur des Hofes und der Salons, der honnetes hommes, der Preziösen und der Koketten - und derer, die es gern sein würden -Gegenstand der Satire. Die Manieren werden lächerlich - aber sie werden nicht äl cherlich gemacht. Die Pariser Society lacht über die Tölpel auf der Bühne, die gern vornehm wären, aber nicht wissen, wie es geht, über die Einfaltspinsel vom Lande, die sich mit burleskem Schick blamieren, über die Dienerschaft, die mehr oder weniger geglückt ihre Herrschaft nachäfft, und über die Bürgerlichen, die gerne adelig wären und Unsummen für Tanz-, Gesangs-, Rhetorik- und Fechtstunden aus dem Fenster werfen und sich dabei lächerlich machen (Der Bürger als Edelmann, 1687). Das Pariser Publikum hat seinen Spaß, weil es sich in der Gewißheit wiegen kann, selbst die hohe Kunst der Etikette zu beherrschen. In Die lächerlichen Preziösen (1659) nimmt Molière das übertriebene Raffinement der Galanterie aufs Korn. Die Bezeichnung „Preziosität“ bezog sich auf die Kunst der vornehmen Selbststilisierung. Dabei wurden die Körpergesten und die Sprache in unvorstellbare Höhen der Verfeinerung getrieben. Dass diese Veredelung der Etikette auch schon mal schiefgehen und statt Eleganz Komik erzeugen konnte, lag auf der Hand. Molière zeigte, wie schmal der Grat zwischen beiden Seiten war. Die beiden Möchtegern-Preziösen vom Land haben sich durch fleißige Lektüre der galanten Romane von Madame de Scudery für das Leben in der Metropole gewappnet. Gerüstet mit allerlei albernen Vorstellungen über gutes Benehmen glauben sie, dass ihnen nun die mondäne Welt offensteht. Als sich zwei Edelleute für die naiven Schönheiten vom Lande interessieren, erteilen die Mädchen den Männern jedoch eine Abfuhr. Die Aristokraten scheinen ihnen nicht vornehm genug - denn die beiden Herren benehmen sich einfach wie normale Menschen. Das verwirrt die Mädchen, die Eleganz mit Affektiertheit verwechseln. Nun erteilen die Edelleute ihnen eine Lektion: Sie staffieren ihre beiden Diener als preziöse Grafen a la mode aus und geben ihnen die Aufgabe, so zu tun, als seien sie EdelMänner. Das Ergebnis ist natürlich fürchterlich. Der Diener Mascarille hält in einer Sänfte Einzug, verbreitet sich über Insiderwissen der - 217 -
Society und über den letzten Schrei der Pariser Mode, ergeht sich in abgedroschenen Komplimenten und deklamiert ein paar holpr ige selbstgedrechselte Zeilen, als handle es sich um die schönsten Gedichte der Weltliteratur. Als ihm allmählich die Themen auszugehen drohen, wird er glücklicherweise durch das Erscheinen des zweiten Dieners erlöst. Die Mädchen vom Lande sind tief beeindruckt von so viel Stil. Schließlich finden die beiden Edelleute, dass gegen so viel geziertes Getue nur noch eine derbe Affektentladung hilft: Die Aufdeckung der Diener als falsche Grafen endet in einer Prügelei. Die Mädchen sind blamiert. In Molières Komödien werden störrische Väter durch die List ihrer Kinder hinters Licht geführt. Personen, die am Hofe leben, werden zum Gegenstand des Spotts (Die Plagegeister, 1661). Gewissenlose Heuchler werden demaskiert (Tartuffe, 1664). Der Blick des Publikums ist erbarmungslos. Am Ende jedes Stücks sind alle, die sich der Eitelkeit, der Leichtgläubigkeit, der Heuchelei oder des Intrigantentums schuldig gemacht haben, vor aller Öffentlichkeit bloßgestellt. Darin ähnelt die Theater-Bühne des Palais Royal der Bühne der Königspaläste. Die höfische Gesellschaft um Ludwig XIV. ist ein gigantisches Schauspiel. Dort dienen die großen Schlösser der Königs, der Louvre und Versailles, als Bühnen. Star der Aufführungen ist der König selber. Das Schauspiel beginnt morgens um acht Uhr mit dem Lever, dem Aufstehen des Königs. Privilegierte Adelige dürften mit verteilten Rollen mitspielen und dem König etwa den linken oder rechten Ärmel des Nachthemds abstreifen. Der überwiegende Teil des Adels spielt das Publikum, das die Ehre hat, zuzusehen. In der höfischen Gesellschaft steht jeder fast immer im Rampenlicht. Hier ist jeder den Blicken und der Beobachtung der anderen ausgeliefert. Und hinter den Kulissen wird gelästert. Spott schärft die Wahrnehmung für das eigene Verhalten und den Blick für die Fehler der anderen. Aber nur in der Komödie Molières lacht es sich richtig unbeschwert. Denn diesmal, da vorn auf der Bühne, hat es noch mal jemanden anderen erwischt. Und es gibt keine Möglichkeit des Rückzugs. Am Hof sind die Blicke der Welt unentwegt auf jedes Mitglied der Gesellschaft gerichtet, so wie die Augen des Publikums für die Dauer der - 218 -
Vorstellung die Bühne im Blick behalten. Deshalb muß man sich hier wie dort an die Spielregeln halten. Eine Figur wie der Menschenfeind Alceste in der Komödie Der Misanthrop (1666) wird zur Lachnummer, weil er gegen die Gesetze des Hofes Sturm läuft. Er will aufrichtig sein. Alceste weigert sich, ein schlechtes Sonett zu loben oder einen Richter zu bestechen, und er besteht darauf, seiner Geliebten unverblümt zu sagen, was ihm an ihr mißfällt. In seiner Raserei gegen Schmeichelei, Unaufrichtigkeit und Eigennutz macht er sich nicht nur äußerst unbeliebt, sondern auch vollkommen lächerlich. Ein Mann von Welt, sagt Alcestes Freund Philinte, muß die äußeren Umgangsformen wahren können - es sei unangebracht und wirke komisch, wenn man seinen Stimmungen und Überzeugungen freien Lauf ließe. Aus Philinte, dem raisonneur, spricht der gesunde Menschenverstand und die Einsicht in die Gesetze der höfischen Interaktion. Der geradlinige Alceste war für Molière ein Objekt des Spotts. Knapp hundert Jahre später empörte das - Rousseau: Im Geiste seiner Zivilisationskritik monierte er, dass Molière eine wahrlich aufrechte Person den Spielregeln einer korrupten Gesellschaft geopfert hatte.
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Jean-Jacques Rousseau Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste (1750) Rousseaus Freund Denis Diderot sitzt in Vincennes im Gefängnis. Man hat ihn im Turm des Schlosses in Haft gesetzt, weil er in seinen Schriften subversive Gedanken verbreitet. Zur Hafterleichterung erlaubt man Diderot, im Park spazierenzugehen und gelegentlich Besuche zu empfangen. Rousseau macht sich mehrmals in der Woche von Paris auf den Weg nach Vincennes, um im Park der Anlage mit seinem Freund über die Zukunft der Gesellschaft zu philosophieren. An einem dieser Nachmittage im Jahr 1749 ist Rousseau erneut unterwegs. Es ist ein ungewöhnlich heißer Tag im Oktober. Das Laufen ni der stechend heißen Sonne ist sogar für einen geübten Wanderer wie Rousseau ermüdend. Um sich zur Langsamkeit zu zwingen, hat sich Rousseau angewöhnt, während des Gehens zu lesen. Er hat die Zeitschrift Mercure de France bei sich. Beim Durchblättern entdeckt Rousseau die Ausschreibung für die jährliche Preisfrage der Akademie von Dijon. Die Akademie fragt nach dem moralischen Wert kultureller Errungenschaften: »Hat der Fortschritt der Wissenschaften und Künste zum Verderb oder zur Veredelung der Sitten beigetragen?« Rousseau hat die Worte kaum gelesen, da ist er schon wie elektrisiert. Er bricht auf der Straße zusammen, fängt an zu weinen, muß sich eine Weile setzen - so erschüttert ist er von der Idee, die ihm da plötzlich gekommen ist. Es eröffnet sich ihm eine neue Welt. In diesem Moment, auf der staubigen Landstraße zwischen Paris und Vincennes, im gleißenden Licht der Nachmittagssonne, ist der einflußreichste Zivilisationskritiker der modernen Gesellschaft geboren - überwältigt von seinen Gefühlen natürlich. Rousseau erzählt diese Episode in seiner Autobiographie und spart, wie immer, weder an Pathos noch an rhetorischer Raffinesse. Er kommt bebend vor Aufregung bei Diderot an. Der ermutigt ihn, sich an der Ausschreibung zu beteiligen. Rousseau beantwortet die Frage der Akademie - die etwas ganz anderes erwartet hatte - mit einer - 220 -
klaren Entscheidung gegen Kultur. Er bringt zum ersten Mal die These zu Papier, die ihn berühmt gemacht hat. Die lautet: Als der Mensch im Einklang mit der Natur gelebt habe, sei er gut und glücklich gewesen, doch der zivilisatorische Fortschritt habe den Menschen moralisch verdorben, unglücklich gemacht und seiner Freiheit beraubt. Rousseaus Schrift mit dem Titel Discours sur les siences et les arts (Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste] gewinnt den ersten Preis. Rousseau ist über Nacht ein Star. Er wird der Verkünder des einfachen Lebens auf dem Lande, des Gefühls und der Aufric htigkeit, der romantischen Liebe und der Freiheit des Individuums. Er ist die Stimme der Aufklärung, die das Gegenprogramm zum zivilisatorischen Fortschritt verkündet und dabei dem Gebrauch der Vernunft die Ideale des Gefühls und der Moral gegenüberstellt. Die Zivilisation - das ist für Rousseau die Kultur der Großstadt: das Leben der Reichen und Gebildeten im Ancien Regime und die Kultur des Hofes. Zivilisation ist der Zwang zu Höflichkeit und Verstellung, und das ist jene Kultur, die kritische Nörgler züchtet wie Diderots Rameau. Zivilisation sind für Rousseau Vermassung und Hektik und Luxus und Lüge und Gefühlskalte und Einsamkeit in der Masse und viel zu viel Reflexion. Die Natur - das ist ein Leben in Harmonie und Einfachheit. Ein Leben der Einsamkeit, der Ruhe, der Herzlichkeit des Umgangstons, der Aufrichtigkeit, der wahren Freundschaften und der Liebe (Die neue Heloise). Das ist die Welt der gesunden Ernährung, die Zivilisationskrankheiten verhindert und die Medizin überflüssig werden läßt. Hier schweift das Auge über die schöne Landschaft, hier erholt sich das Gemüt und hier feiert man lustige, rustikale Feste in herzlichem Beisammensein ohne Pomp und Etikette. Hier ist der Mensch er selbst, nur hier kann er authentisch sein. Rousseaus Ideal ist der „edle Wilde“, der zwar einfältig, aber in seiner Arglosigkeit nie falsch ist. Rousseau hasst Bücher. Seinem Musterkind Emile wird das Lesen in den ersten zwölf Jahren seines Lebens untersagt. Aber hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Denn hätte Rousseau seine Ideen nicht in Buchform veröffentlicht, wären sie nie über ganz Europa verbreitet worden. Niemand hätte dann heute die leiseste Ahnung, wer Rousseau war. Das Gefühl dieses Selbstwiderspruchs führte bei Rousseau zu - 221 -
einem ausgeprägten Selbsthaß und zu dem Bedürfnis, sich ständig rechtfertigen zu müssen. Er schrieb daher seine Bekenntnisse mit der Beteuerung, er wolle schonungslos ehrlich sein. Die Autobiographie ist eine gnadenlose Selbstentblößung. In der Erinnerung an seine eigenen moralischen Fehltritte zerfließt Rousseau allerdings vor Selbstmitleid. Man wird bei der Lektüre den Eindruck nicht los, dass Rousseau immer versucht, ständig den anderen dafür die Schuld in die Schuhe zu schieben, dass er selber nicht aufrichtig handeln konnte. Bei einer Lesung aus den Bekenntnissen in einem Pariser Salon war das Publikum so entrüstet über das, was Rousseau ihnen gestand, dass es zu einem Tumult kam und die Polizei weitere Veranstaltungen verbieten mußte. Natürlich verabscheut Rousseau, der Apostel der Aufrichtigkeit, auch das Theater. Denn im Theater bringt man die Kunst der Verstellung und das Spielen von Rollen zur höchsten Vollendung. Im Theater hängt alle Wirkung davon ab, dass man nicht authentisch ist das gilt nicht nur für die Schauspieler, die Rollen spielen, sondern auch für das Publikum, das sich genüsslich darauf einläßt, auf der Bühne eine Täuschung präsentiert zu bekommen, die nicht „echt“ ist. Das Theater ist für Rousseau der Inbegriff der verdorbenen Sitten - die schlimmste aller denkbaren Künste. Aber auch in diesem Punkt muß sich Rousseau insgeheim deprimiert eingestehen, dass er etwas ganz anderes tut, als er sagt. Denn Rousseau schrieb für das Theater und für die Oper. Eine kleine Oper wurde sogar vor dem König aufgeführt. Fast hätte Ludwig XV. ihrem Schöpfer dafür eine Pension gezahlt, aber Rousseau konnte nicht zur Audienz erscheinen, weil er befürchtete, er könne sich während der Zeremonie wegen eines eingebildeten Blasenleidens in die Hose pinkeln. Rousseaus Plädoyer für ein Leben nach der Maxime „Sei du selbst“ brachte ihn in eine paradoxe Situation. In dem Versuch, seine eigene Aufrichtigkeit zu überprüfen, beobachtete Rousseau nicht nur sich selbst, sondern auch seine Umwelt. Nur so konnte er versuchen zu sehen, ob er (im Unterschied zu den anderen) authentisch ist. Es hat ja keinen Sinn, immer nur sich selbst zu beobachten, um zu sehen, ob man authentischer ist als man selbst. Aber während Rousseau seine Umwelt immer genauer unter die Lupe nahm, um sich seiner eigenen Aufrichtigkeit zu vergewissern, glaubte er immer häufiger, dort - 222 -
Mißgunst, Neid und Verstellung zu erkennen. Schließlich bildete er sich ein, man habe sich gegen ihn verschworen: Jeder Briefträger und jeder Wanderer, der Rousseau freundlich zunickte, mußte zu dem Komplott gehören, das Europa (!) gegen ihn angezettelt hatte. Zum Schluss bezog Rousseau dann auch noch Gott in die Verschwörung gegen ihn mit ein: Die ganze Welt und der Himmel intrigierten gegen Jean-Jacques Rousseau. Rousseau ist der Begründer der modernen Kulturkritik. Für Rousseau bringt die Zivilisation kein besseres Leben, sondern das Gegenteil. Kultur bedeutet Übel, Kälte, Argwohn und Verstellung. Die Zivilisation beraubt den Menschen seiner natürliche Güte und seiner Freiheit. Rousseau bewegt sich zwischen einfachen Gegensätzen: Kultur gegen Natur, Stadt gegen Land, Hoffeste gegen Bauernfeste, Schein gegen Aufrichtigkeit, Unmoral gegen Moral, Verfall gegen Gesundheit, Luxus gegen Einfachheit, Masse gegen Einsamkeit, Egoismus gegen Mitleid, Lesen gegen Holzhacken, Sahne-Baisers gegen Haferflocken. Das Gute zentriert sich am „Natürlichen“. Allerdings hat Rousseau das berühmte »Zurück zur Natur« nie gesagt. Dennoch mußte sich Rousseau die Gemeinheit eines Kollegen gefallen lassen: Der große Rationalist der Aufklärung, Voltaire, reagierte allergisch auf Rousseaus anti-intellektuelle Haltung. Voltaire kommentierte gehässig, man bekomme wirklich Lust, wieder auf allen vieren zu gehen, wenn man Rousseau läse. Rousseau kommt uns bekannt vor. Sein Geist weht durch die Ökoläden und die Praxen der Naturheilkundler, durch die Selbstverwirklichungsseminare und durch die Hartkäse-Workshops im Allgäu. Rousseaus Erbe inspiriert Vorstellungen von der „Vermassung“ der Großstädte, von der „Entfremdung“ des eigenen Lebens durch gesellschaftliche „Zwänge“, vom Bemühen, „du selbst“ zu sein, und von der zwischenmenschlichen „Kälte“ in der Gesellschaft. Mit Rousseau im Rücken läßt sich moralische Empörung über medizinische oder naturwissenschaftliche Forschungen zum Ausdruck bringen, ohne dass man sich die Mühe machen muß, sachlich informiert zu sein. Und Rousseaus Vermächtnis tropft dem Feriengast von den Fingern, der im Juli oder August auf der Terrasse des südeuropäischen Ferienhauses das Olivenöl mit einer dicken Scheibe Bauernbrot von einem Teller aufwischt, den er anschließend - 223 -
in einer angeschlagenen Emailleschüssel abwaschen muß, für die er das Abwaschwasser umständlich auf einem Gaskocher erhitzt hat.
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Denis Diderot Rameaus Neffe (1761/1762) Rameaus Neffe ist ein unangenehmes Geschöpf. Er ist ein Zyniker und voller Häme. Er wirkt furchtbar überlegen. Man hat die ganze Zeit den Eindruck, er wüsste etwas, was andere nicht wissen. Rameau nervt. Der Ich-Sprecher des Dialogs in Rameaus Neffe, ein Philosoph wie Diderot, trifft ihn eines Tages in einem Pariser Kaffeehaus. Rameau, der Neffe des berühmten Komponisten Jean-Philippe Rameau, ist ein Exzentriker. Er ist pockennarbig, vital und laut, ein gescheiterter Künstler, der im Schatten seines berühmten Onkels steht. Aber dort, wo Rameaus artistische Ader versagt hat, triumphiert seine Begabung zum Lebenskünstler. Er schlägt sich auf Kosten anderer durchs Leben, hat sich jahrelang an den Tafeln der Reichen durchgefressen, deren Töchter verführt und war sich für keine Schmeichelei zu schade, wenn sie ihm einen Vorteil bringen konnte. Er hat eine große Klappe. Wenn er glaubt, dass ein Vorteil dabei herausspringt, hält er allerdings seinen Mund. Als der Philosoph Rameau begegnet, hat der gerade eine Pechsträhne. Er ist von der Tafel seines Gönners, Bertin geflogen, weil er den Bogen mal wieder überspannt und den Hausherrn verärgert hat. Rameau hat die furchtbare Angewohnheit, seine ungeheure Redegewandtheit mit pantomimischen Einlagen zu untermalen, die so genial wie absurd sind: Dann beginnt er plötzlich zu grimassieren, verdreht seinen Körper, dass man das Gefühl bekommt, er würde sich alle Knochen brechen, windet sich und wirbelt auf so phantastische Weise herum, dass einem schwindelig davon wird. So biegsam wie Rameaus Körper ist sonst nur noch seine Moral. Daraus macht Rameau nicht den geringsten Hehl. Wenn er dem philosophischen Zuhörer seine Lebensweisheiten unterbreitet, tun sich moralische Abgründe auf: Die Welt, sagt Rameau, ist voll von Reichen, die gar nicht merken, wenn man bei ihnen schmarotzt, sie wimmelt nur so von Schöngeistern, deren Eitelkeit ihre Begabung bei - 225 -
weitem übersteigt. Warum soll man das nicht ausnutzen? Warum soll man nicht lügen, Meineide schwören und Gerüchte verbreiten, nassauern und ein gutes Leben führen, wie so viele andere auch? Moral bringt einen auch nicht weiter, lautet Rameaus nüchternes Fazit. Aber im nächsten Moment wandelt sich Rameaus Stimmung, und er behauptet mit einem Anflug des Selbsthasses, sich Aufrichtigkeit nicht leisten zu können. Er unterrichtet mit Todesverachtung den unbegabten Nachwuchs der Reichen im Klavierspiel, ohne selbst viel davon zu verstehen. Er läßt dann das Geklimper am Klavier über sich ergehen, macht derweil der Mutter den Hof, lobt „das Genie“ ihres vollkommen unbegabten Kindes und kassiert das Honorar. Er spielt den Spaßvogel bei den Reichen und weiß, dass sie ihn dafür verachten. Was soll's, sagt sich Rameau und wird wieder hämisch, ich verachte sie ja auch, aber so komme ich wenigstens zu einem vorzüglichen Essen. Dann erzählt er, wie er Komplimente macht: Eine Dame gibt dummes Zeug von sich, Rameau klatscht dazu in die Hände, hüpft vor Entzücken hoch und nieder und ruft aus: »Nein! wie feinsinnig! Wo nehmen die Frauen das nur her!« So etwas brächte einen in der Gesellschaft nach vorn. Rameau hat Humor. Der erschütterte Philosoph wirft Rameau vor, er sei der Skla ve seiner Eitelkeit und ein Schmarotzer der Gesellschaft. Jemand, der sich selbst nicht treu und der nie aufrichtig ist. Aus dem Philosophen spricht die Stimme der Moral und der Vernunft. Er vertritt die Position des aufgeklärten, moralisch handelnden Individuums. Wäre Rameau nicht glücklicher, wenn er dem Luxus, dem Ansehen und der Bequemlichkeit entsage? »Wäre es nicht besser, sich zu einem bescheidenen Leben zu bekennen und frei von den Verpflichtungen des sozialen Lebens zu sein?« fragt der Philosoph. »Um Himmels willen!« entgegnet Rameau fröhlich, »wie beschwerlich das wäre! Beeren von der Tafel der Natur pflücken, statt die Delikatessen unserer besten Köche und Pastetenbäcker vorgesetzt zu bekommen? Wie furchtbar! Ich brauche ein Bett, eine gute Tafel, ein warmes Kleid im Winter, ein kühles Kleid im Sommer, Ruhe und Geld und viele andere Dinge mehr, die ich lieber dem Wohlwollen schulde, als sie durch Arbeit zu erwerben.« Rameau löst eine Mischung aus Abwehr und Interesse aus. Am - 226 -
Ende überwiegt die Faszination. Er ist faszinierend, weil er sich nicht die geringste Mühe gibt, aufrichtig und authentisch zu sein. Rameau ist nie „er selbst“. Er ist die Verkörperung von Distanz. Rameau behält immer Abstand. Wenn Rameau ein bisschen darüber klagt, dass er sich verstellen muß, weil die Gesellschaft nicht zuläßt, dass er sein wahres Gesicht zeigt, ist selbst diese Klage nicht aufrichtig. Rameau spielt auch noch seine Freimütigkeit. Rameau schlüpft in jede Rolle, windet sich wieder heraus und hinein in die nächste. Er steht am Rande und sieht zu, während andere vergeblich versuchen, die Kluft zwischen Ich und sozialen Rollen zu überwinden, und unglücklich dabei werden. Rameau verzweifelt daran nur kurz. Dann reflektiert er sich aus der Misere raus. Desgleichen verfährt er mit Fragen der Moral. Rameau springt und hampelt herum und zeigt damit, dass es für ihn immer einen neuen, anderen Standpunkt gibt. Was dort gut ist, ist es längst nicht mehr, wenn man es von einem ganz anderen Punkt aus betrachtet! Rameau steht bereits dort, wo die moderne Gesellschaft im 19. Jahrhundert Beobachter postiert, die das ganze soziale Theater beobachten: Das sind die Intellektuellen. Ihnen fällt es von nun an zu, Gesellschaft mit Distanz beobachten und unablässig mit kritischen Kommentaren zu versehen. Rameau, der zu allem auf Distanz geht vor allem zu sich selbst -, ist der noch nicht ganz ausgereifte Prototyp dieser Spezies: distanziert, zynisch, mitunter larmoyant, dann wieder wie elektrisiert, immer reflektiert - und furchtbar anstrengend für seine Umwelt.
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Thomas Mann Buddenbrooks (1901) Buddenbrooks. Verfall einer Familie ist die Geschichte des Niedergangs einer Lübecker Kaufmannsfamilie. In den ersten Jahren seiner schriftstellerischen Laufbahn war Thomas Mann vom Phänomen der Dekadenz fasziniert. Er sah darin nicht, wie die konservativen Kulturkritiker seiner Zeit, ein Anzeichen von Verfall, sondern, im Gegenteil, ein Zeichen von Kultur. Für Mann war Dekadenz Verfeinerung und ästhetische Vervollkommnung. Hätte es nicht von Zeit zu Zeit Verfallssymptome gegeben, wäre die Menschheit seit der Urzeit keinen Schritt weitergekommen, sagte er. Das Paradebeispiel für Thomas Manns Faszination an der Dekadenz ist sein erster Roman. Mann beschreibt darin, wie in vier Generationen die Fähigke iten, sich im Alltag zu bewähren, abnehmen, während umgekehrt dazu in jeder Generation die inneren Dimensionen der Figuren wachsen. Wer nun allerdings fürchtet, Buddenbrooks sei eine triste Lektüre, bei der man es ständig mit kränkelnden Personen zu tun hat, sei schnell beruhigt. Buddenbrooks ist ein Roman, der vor Lebendigkeit nur so sprüht: Er zeigt eine Galerie schillernder Figuren, die Mann mit unbestechlichem Blick und feinem Humor für alle Zeiten unvergesslich gemacht hat. Die Handlung des Romans spie lt im 19. Jahrhundert, zwischen 1835 und 1877. Die Familienmitglieder der Buddenbrooks stammen aus vier Generationen: es sind l. der alte Johann Buddenbrook, 2. der Sohn des Firmengründers, Jean Buddenbrook, 3. dessen vier Kinder Thomas, Christian, Antonie (genannt Tony) und Clara und 4. Thomas Buddenbrooks Sohn Hanno. Der alte, aber rüstige Johann Buddenbrook birst förmlich vor Vitalität. Er ist ein Kaufmann vom alten Schlage, ein geschickter Geschäftsmann und ein Pragmatiker, voller Tatkraft und Lebensmut. Siebzigjährig, mit rosigem Teint, und gesund und munter, präsidiert Johann als würdevoller Patriarch seiner Familie. Gelegentlich fällt er ins Joviale und spricht dann Plattdeutsch. Obwohl er der neuen Zeit - 228 -
aufgeschlossen gegenübersteht, wirkt Johann ein wenig altmodisch, und das liegt nicht zuletzt daran, dass er seinem Kleidungsstil von vor fünfzig Jahren treu geblieben ist. Er stirbt, kurz nachdem er die Firma seinem Sohn übergeben hat, den undramatischen Tod einer Person, die offenbar nicht gewillt ist, sich lange mit Kranksein zu beschäftigen. Johanns Sohn Jean, dem Konsul, fehlt der unbekümmerte Lebensmut seines Vaters. Seine Statur ist schmaler als die des alten Johann, und er wirkt ernster und belasteter. Jean arbeitet mit zusammengebissenen Zähnen. Er ist nicht Kaufmann geworden, weil er sich dafür besonders eignet, sondern weil es die Pflicht gegenüber der Familie verlangt. Er neigt zu depressiven Verstimmungen; er leidet an nervösen Krankheiten wie Schwindel und Herzklopfen und altert schnell und sichtlich. Zunehmend verunsichert vom Leben beginnt er, innere Zuflucht in der Religion zu suchen. In seiner protestantischen Frömmelei veranlasst er morgens und abends Bibellesungen, öffnet Missionaren aus aller Welt Tür und Tor und beköstigt die geistlichen Herren mit spendabler Geste. Seiner Tochter Tony gehen die Glaubensbrüder derart auf die Nerven, dass sie sich bei passender Gelegenheit an deren Gefräßigkeit rächt. Sie tischt einem ahnungslosen Prediger aus Übersee eine lokale Delikatesse auf, die nur derjenige herunterkriegt, der gewohnt ist, sie von Kind an vorgesetzt zu bekommen. In der Suppe, die im wesentlichen Sauerkraut enthält, schwimmen außerdem Schinken, Kartoffeln, saure Pflaumen, Backbirnen, Blumenkohl, Bohnen, Rüben und ein paar andere Dinge. Vielleicht ist Tonys Menüplan auch eine versteckte Rache am Vater, denn der hatte sie gezwungen, eine Ehe einzugehen, die Tonys guten Ruf ruiniert hat. Jean ist in beruflicher Hinsicht nicht erfolgreicher als in seiner Wähl eines Schwiegersohnes. Er stirbt bereits im Alter von 55 Jahren an einem Schlaganfall. Sein Sohn Thomas leidet schon als junger Mann an einer Lungenblutung und wird zur Kur geschickt. Er ist empfindlich und nicht besonders vital, aber ein Perfektionist und wird durch seinen eisernen Willen zu Höchstleistungen angetrieben. Rastloser Ehrgeiz und enorme Selbstdisziplin bescheren Thomas zunächst großen Erfolg: Die Geschäfte der Firma gehen so gut wie seit Jahrzehnten nicht mehr, er wird zum Senator gewählt, und der Name Buddenbrook - 229 -
gewinnt über die Grenzen Lübecks hinaus an Ansehen. Als prestigefördernde Maßnahme baut Thomas ein neues, prächtiges Haus, von dem es, kaum dass das Fundament gelegt ist, heißt, es sei das schönste Haus der Stadt. Aber all die Anstrengungen zehren an Thomas' Kräften: Mit 42 Jahren ist sein Körper ausgelaugt und sein Geist ausgebrannt. Nun beginnen die Geschäfte schlechter zu gehen, die Firma macht Verluste. Unter der Maskerade tadelloser Kleidung, auf die Thomas peniblen Wert legt, verbirgt sich am Ende ein vollkommen erschöpfter, entmutigter Mann. Er stirbt im Alter von 49 Jahren. Geschwächt durch eine Zahnoperation bricht er auf der Straße zusammen. Er endet im wahrsten Sinne in der Gosse; kopfüber fällt er auf den Gehweg: das Gesicht im eigenen Blut, den Pelz bespritzt von Kot und Schneematsch und die weißbehandschuhten Hände in einer Pfütze. Christian, sein jüngerer Bruder, ist ein klassischer decadent. Er lebt das Leben eines Bohemien und ruiniert durch seine LebemannAllüren beinahe die Firma. Er neigt zur Hypochondrie: Manchmal ist ihm, als könne er nicht schlucken. Dann befällt ihn ein neuralgischer Schmerz auf der linken Körperhälfte. Angeblich sind die Nerven dort zu kurz. Die Diagnose lautet später Gelenkrheumatismus. Schon als junger Mann geht ihm das Haar aus. Er ist hager und bleich, hat OBeine und schneeweiße Hände. Seine Versuche, im Geschäftsleben Fuß zu fassen, erweisen sich als wenig erfolgreich. Statt dessen begeistert er sich für das Theater und liebäugelt mit dem unbürgerlichen Leben der Schauspieler. Ohne selbst künstlerisch begabt zu sein, kokettiert Christian in der Pose des Künstlers und macht sich damit gesellschaftlich unmöglich. Mit zunehmendem Alter nehmen seine nervösen Leiden zu. Wahnideen und Zwangsvorstellungen überfallen ihn. Christian endet in einer Nervenheilanstalt. Tonys Schicksalsschläge neigen schon fast ins Groteske, aber sie trägt sie mit Fassung. Sie begeht den größten Fehler ihres Lebens, als sie auf Drängen der Familie auf ihre Jugendliebe Morten Schwarzkopf verzichtet. Das wäre vielleicht ihre Rettung aus der Familienmisere gewesen: immerhin ist Morten angehender Arzt. Statt dessen heiratet sie auf Drängen ihres Vaters den unangenehmen Bendix Grünlich. Die Ehe ist ein Fiasko. Nachdem Grünlich Bankrott gemacht hat, kehrt - 230 -
Tony ins Elternhaus zurück und wird geschieden. Um die gesellschaftliche Schande wieder gutzumachen, heiratet Tony zum zweiten Mal. Diesmal heißt der Mißgriff Alois Permaneder und stammt aus München. Permaneder schätzt ein gemütliches Leben, er lebt von einer kleinen Mieteinnahme, ernährt sich von Schweinshaxen und trinkt Bier. Tony erleidet eine Fehlgeburt und ertappt ihren Ehemann dabei, wie er sie mit dem Dienstmädchen betrügt. Tony kehrt zum zweiten Mal in die Familie nach Lübeck zurück. Clara ist schon als junges Mädchen so gottesfürchtig wie ihr Vater. Sie ist eine unliebenswürdige, humorlose Gestalt, die die Angewohnheit hat, beim Sprechen ihre Stimme nicht zu heben und als stille Verkörperung des ewigen Vorwurfs durchs Leben zu huschen. Sie erkrankt an Gehirn-Tuberkulose und stirbt 26jährig. Thomas' Sohn Hanno überlebt nur mit Mühe die Geburt. Es hat von Anfang an den Anschein, als beabsichtige Hanno nicht, sich länger auf dieser Welt aufzuhalten. Als Säugling überlebt er nur schwer einen Brechdurchfall, auch das Zahnen erweist sich als Quälerei, die Hanno fast das Leben kostet. Er lernt erst spät unter großer Kraftanstrengung Laufen und Sprechen. Hanno ist ein schmales, hochaufgeschossenes Kind mit dünnem Haar und schlechten Zähnen. Aber er ist außergewöhnlich musikalisch begabt. Wenn es um Musik geht, lebt Hanno plötzlich auf. Er schwärmt für Wagner. Hanno bleibt ein kränkliches Kind und ermüdet schnell. Im Alter von sechzehn sagt er, er wolle sterben. Er habe gehört, wie der Pastor gesagt habe, er stamme aus einer verrotteten Familie, erzählt Hanno einem Schulkameraden. Kurze Zeit darauf stirbt er an Typhus. Hanno, dem kleinen Künstler mit seiner ästhetischen Wahrnehmung, gehören die größten Sympathien des Erzählers.
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Theodor W. Adorno und Max Horkheimer Dialektik der Aufklärung (1947) Die Dialektik der Aufklärung ist eine Zivilisationskritik. Das Buch, das die deutschen Intellektuellen der Nachkriegszeit so bewegt hat, wie wenig andere, war in den vierziger Jahren in Los Angeles entstanden. Dorthin hatte die Emigration Horkheimer und Adorno verschlagen, nachdem ihnen 1933 die Lehrerlaubnis am Frankfurter Institut für Sozialforschung entzogen worden war. Die Zeit in Amerika stellte sich für Adorno als eine Art Kulturschock heraus. Der vornehme und privilegierte Sohn aus dem deutsch-jüdischen Großbürgertum, der gerade aus einem Land geflüchtet war, in dem die primitiven Nazis die Macht übernommen hatten, stellte nun fassungslos fest - wenige Kilometer von Hollywood entfernt -, in einer ziemlich geistlosen Kultur gelandet zu sein. Man weiß nicht genau, welcher Motivation Adornos öffentlicher Hilfsaufruf entstammte, in dem er verkündete, der ebenfalls emigrierte Philosoph Ernst Bloch (Das Prinzip Hoffnung, entstanden 1938 bis 1947) habe seinen Job als Tellerwäscher verloren: War es ein Scherz? (Bloch war nicht amüsiert.) Wollte er Bloch in einer Notlage helfen? (Es stellte sich heraus, dass es Bloch so schlecht nun auch wieder nicht ging.) Oder wollte Adorno einfach seiner Verachtung für den Pragmatismus des American Way of Life Ausdruck geben? Aus der Konfrontation mit der amerikanischen Kultur auf der einen Seite des Ozeans und der Erfahrung des Nationalsozialismus auf der anderen Seite erwuchs die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Fortschritt der Zivilisation. Die Antwort, die Adorno zusammen mit Horkheimer fand, lautete, dass der westlichen Zivilisation so etwas wie ein Selbstzerstörungsmechanismus eingebaut war: die Dialektik der Aufklärung. Eingängige Formulierungen wie diese findet man sonst eher selten bei Adorno: Seine Prosa ist berüchtigt für ihre Unverständlichkeit. »Ein gewundenerer, abstruserer und blumig-unverständlicherer Stil ist - 232 -
kaum vorstellbar«, kommentie rte ein amerikanischer Intellektueller. »Er kann wohl nur einem einzigen Zweck absichtlich dienen, nämlich den höchsten Standard von Verwirrung zu halten.« Andererseits konnte Adorno aber auch sehr deutlich werden: Von ihm stammt der berühmte Ausspruch: »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch.« In der Dialektik der Aufklärung argumentieren Adorno/Horkheimer, die Zivilisation sei mißlungen. Der Fortschritt der Zivilisation sei in Wirklichkeit ein dialektisches Verhältnis zwischen Mythos und Aufklärung: Während der antike Mythos versucht hatte, die Natur zu bändigen und Aufklärung zu schaffen, schaffte die Entzauberung der Welt durch die Aufklärung heimlich ihre eigenen neuen Mythen. Als Adorno und Horkheimer die Dialektik der Aufklärung schrieben, gab es ein aktuelles Beispiel für das, was sie meinten: die pseudo-rationale Begründung der irrsinnigen „Theorie“ der Nazis im irrationalen Mythos der „Überlegenheit“ der germanischen Rasse. Die westliche Kultur hatte seit dem 18. Jahrhundert ihre ideologische und moralische Weiterentwicklung an den vernünftigen Gebrauch des Verstandes gekoppelt. Aber die Rationalisierung durch die Aufklärung hatte aus sich heraus ihr Gegenteil erzeugt. In der Mitte des 20. Jahrhunderts war die europäische Zivilisation zur Barbarei geworden. Das totale Vertrauen auf Vernunft war selbst unvernünftig geworden. Der Gebrauch des Verstandes hatte nicht davor haltgemacht, auch noch der Irrationalität etwas Rationales abzugewinnen. Die Vernunft hatte der Unberechenbarkeit Tür und Tor geöffnet: Der letzte beängstigende Beweis dafür war der systematische Irrsinn des Nationalsozialismus. Denn das Entsetzliche der Mord- und Terrormaschinerie des Hitlerfaschismus war ja, dass sie erst unter der oberflächlichen Aufrechterhaltung von bürgerlicher Ordnung und Rationalität möglich geworden war. Der absolute Nullpunkt der westlichen Zivilisation, die Mordfabrik Auschwitz, war zugleich der Kulminationspunkt der westlichen Zivilisation. Adorno setzte seine Hoffnungen für die Gesellschaft nicht auf Rationalität, sondern auf Kunst und Kultur. Er dachte dabei an die Kunst der Avantgarde, die er der Massenkultur des 20. Jahrhunderts gegenüberstellte. Der Vormarsch der neuen Massenmedien, die Adorno in Amerika kennengelernt hatte, war für ihn ein eher - 233 -
grauenhaftes Erlebnis. Der Film, das Fernsehen, das Radio und die populäre Musik waren Anzeichen eines neuen Mythos aus dem Erbe der Aufklärung. Pessimistisch stellten Adorno/Horkheimer fest, die neuen Medien produzierten Kunst wie Massenware oder fast food: standardisiert, leicht konsumierbar, immer gleich und erwartbar, so dass sich die kulturproduzierenden Großkonzerne, die »KulturIndustrie«, ihrer Dauerkunden sicher sein konnten. Die Unterhaltungskultur befriedigte auf die Dauer so wenig, wie ein Hamburger satt macht. Leicht angeekelt beurteilten die Autoren die Unterhaltungskultur als eine Art Einheitsbrei, der alle, die davon äßen, ihrer Individualität, Selbständigkeit und Fähigkeit zu denken beraube. Adorno/Horkheimer vertraten damit die Gegenposition zu Walter Benjamin, der mit seinem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) den neuen Medien in der Gesellschaft (gemeint waren damals die Photographie, der Film und das Tonband) eine hoffnungsvolle Zukunft vorausgesagt hatte. Wenn man Adorno/Horkheimers pessimistische Kommentare über Massenkultur liest, erinnert man sich plötzlich, dass es einmal eine Zeit gab, in der es als ein Zeichen von Bildung galt, wenn man keinen Fernseher besaß. Adorno/Horkheimers Blick auf die Zivilisation der westlichen Welt des 20. Jahrhunderts ist eher düster. Im Rückblick sahen sie die Barbarei des Nationalsozialismus und in der Zukunft eine Massengesellschaft, in der die Freiheit des Individuums der Manipulation der Kulturindustrie geopfert werden würde. Zur gleichen Zeit saß ein anderer aus dem Nazi-Deutschland geflüchteter Jude im Exil in London und dachte über die Zivilisation nach. Norbert Elias kam aber zu einem ganz anderen Ergebnis als Adorno und Horkheimer. Elias verfolgte die europäische Zivilisation bis zu ihren Ursprüngen in der frühen Neuzeit. Elias ermöglichte es zum ersten Mal, sich sachlich darüber zu verständigen, was unter „der europäischen Zivilisation eigentlich zu verstehen ist. Sein Buch über den Prozeß der Zivilisation gehört zu jenen theoretischen Meilensteinen, die wahre Ehrfurcht einflößen können, weil darin quasi im Alleingang und in einer klaren, verständlichen Sprache - eine Idee entwickelt wird, die Kulturgeschichte gemacht hat.
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Norbert Elias Über den Prozeß der Zivilisation (1939) 1. Es ist unziemlich, sich die Nase mit dem Tischtuch zu schneuzen, denn die Tischdecke ist zum Abwischen der Hände da. 2. Wenn du dir die Nase geputzt hast, zieh das Taschentuch nicht auseinander und schau hinein, als seien Perlen und Rubinen aus deinem Gehirn gefallen. 3. Während des Essens ist es unmanierlich, über oder auf den Tisch zu spucken. 4. Siehst du auf der Straße einen Freund, der uriniert, sprich ihn nicht an. 5. Das Verunreinigen des Treppenhauses mit Fäkalien ist nicht erlaubt. 6. Teilst du dir mit jemandem, der dir unbekannt ist, das Bett, beachte beim Aus- und Anziehen die Gesetze des Anstands. 7. Übergib dich ruhig, wenn du mußt, aber iß das Erbrochene nicht wieder auf. Dies ist nicht die Hausordnung eines Irrenhauses. Dies sind Benimmregeln für den europäischen Adel des 15. und 16. Jahrhunderts. Sie werden - neben vielen weiteren Beispielen - in einem der berühmtesten soziologischen Werke des 20. Jahrhunderts zitiert: in Norbert Elias' „Über den Prozeß der Zivilisation.“ Elias zeigt in seinem Buch über die Geschichte der westlichen Zivilisierung, dass es in Europa nicht immer „zivilisiert“ zuging. Als Elias in der British Library in London die Benimm- und Etikettebücher aus dem Ende des Mittelalters bis zum 19. Jahrhundert verglich, stellte er fest, dass sich das Verhalten bei Tisch, die Einstellung zu den natürlichen Bedürfhissen und zur Gewaltbereitschaft allmählich verändert hatten: Zum Beispiel hatten die Tischregeln zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert erheblich an Niveau gewonnen. Dass man ein Stück Fleisch, von dem man bereits abgebissen hat, - 235 -
nicht wieder in die Schüssel legt, war für einen Ritter, der an einer Tafel an einem der großen Feudalhöfe speiste, nicht selbstverständlich. Gutes Benehmen war im Mittelalter noch nicht erfunden. Die Rede ist hier nicht von den einfachen Ständen, sondern von den Oberschichten. Die Tischsitten waren verheerend: Man aß mit den Händen, wischte sie sich an der Kleidung ab und warf die abgenagten Kochen unter den Tisch. Die Einstellung zu den natürlichen Bedürfhissen war lax: Es war nicht ungewöhnlich, sich in Gegenwart anderer Personen zu erleichtern. Es gab keine Privatsphäre, und Sex fand gelegentlich in Gegenwart anderer statt. Die Bereitschaft zur physischen Gewalt war allgegenwärtig. Die Schwelle für das, was als peinlich empfunden wurde, war extrem niedrig. Es kam vor, dass man sich fast nackt, d.h. nur mit einem übergeworfenen Leinenhemd, auf den Weg von zu Hause in die Badestuben begab. Als Elias die Benimmbücher aus vier Jahrhunderten las, stellte er fest, dass das Alltagsleben der Europäer immer stärker kontrolliert worden war. Der Druck kam von zwei Seiten: von außen - durch die Gesellschaft - und von innen - durch eine zunehmende Selbstkontrolle des eigenen Verhaltens. Was im Mittelalter erlaubt war - sei es zu Tisch, zwischen den Geschlechtern oder in Form ungebremster Angriffslust -, würde im 21. Jahrhundert Entsetzen und Peinlichkeit hervorrufen. Seit dem Beginn der Neuzeit sind das Essen, Trinken, Schlafen, Urinieren, Defäkieren, Kopulieren, das Naseputzen, Spucken und der Impuls zur Aggressivität durch strengere und kompliziertere Regeln geregelt worden. Der Ritter lernte, das Fleisch mit der Gabel zu essen statt mit den Händen. Er lernte, seine Notdurft nicht in Anwesenheit von Frauen zu verrichten. Er lernte auch, ein Taschentuch zu benutzen und das Essen nicht auf oder unter den Tisch zu spucken, wenn es ihm nicht schmeckte. Er gewöhnte sich an, die Frauen am Hofe nicht derb anzufassen und bei einem Streit seinem Kontrahenten nicht sofort die Nase einzuschlagen. Der Ritter und seine Nachkommen lernten, sich zu benehmen und ihre Triebe zu beherrschen. Sie wurden zivilisiert. Ihnen wurden Manieren beigebracht. Sie lernten Höflichkeit und Anstand. Während sich mit der Zeit die Regeln verfeinerten, die das soziale - 236 -
Miteinander bestimmten, mußte das Gröbste langsam gar nicht mehr von außen geregelt werden. Bestimmte Einstellungen zu den Körperfunktionen und zur Gewaltbereitschaft wurden allmählich verinnerlicht. Denn im gleichen Maße, wie sich Regeln für das Essen, Schlafen und Defäkieren bildeten, stieg die Schwelle der Scham und für das, was als peinlich oder ekelhaft empfunden werden mußte. Allmählich wurde eine Art der automatischen Selbstbeherrschung und Affektkontrolle in bestimmten Situationen zur zweiten Natur des Europäers. Die sozialen Verbote wurden verinnerlicht. Der Affektund Triebhaushalt wurde durch eine Art historisch angeeignetes ÜberIch kontrolliert. Allmählich überwachte man auch dann sein Verhalten, wenn eigentlich gar keine unmittelbare Notwendigkeit dafür bestand: nämlich wenn man allein war. Elias zeigte, dass unsere Affekte, unsere Schamhaftigkeit, unsere Emotionen und unsere gesamte Gefühlswelt nicht immer dieselben waren. Unsere „natürlichen“ Impulse sind das Ergebnis eines langen komplizierten historischen Prozesses der Zivilisation. Im Laufe der Geschichte hat sich die psychische Struktur des europäischen Menschen verändert. Elias bezeichnet diese histor ische Wandlung von Persönlichkeitsstrukturen über mehrere Generationen als Psychogenese. Wie war das möglich? Warum begann der Ritter mit der Gabel zu essen statt mit den Fingern? Warum lernten seine Nachfahren Konflikte nicht mit Gewalt, sondern mit Verhandlungsgeschick auszutragen? Elias beschreibt, wie die langfristigen Veränderungen in der Psyche begleitet waren von tiefgreifenden Veränderungen in den Machtordnungen Europas. Ein entscheidender Begriff ist die Verhöfischung. Mit Beginn der Neuzeit verlagerte sich das Machtmonopol auf einige wenige europäische Zentren: die Höfe des Absolutismus. Immer mehr Macht konzentrierte sich auf immer weniger Personen. Musterbeispiel war der Hof Ludwig XIV. Sogar der Garten von Versailles war so angelegt, dass hier der König im Mittelpunkt stand: Alle Alleen laufen zentralperspektivisch auf das Staatsgemach des Königs zu: das ist Zentrum der Macht. Wer jetzt an den Pfründen beteiligt werden wollte, d.h. an Geld und Ämtern, mußte zum Zentrum der Macht ziehen: an den Hof. - 237 -
Umgekehrt war aber auch der Herrscher auf seine Untertanen angewiesen. Am Hofe entstand ein Netzwerk aus Abhängigkeiten, das Elias den Königsmechanismus nennt. Der König vergab Privilegien an den Adel, der seine Macht nur so lange stärkte, wie er vom König Privilegien erwarten konnte. Deshalb durfte der König keine Fraktion zu stark werden lassen. Er konnte sich die Konkurrenz unter den Adeligen am Hofe zunutze machen, indem er ihre Machtbefugnisse gegeneinander abwog. Der Königsmechanismus ist die Kunst, ein instabiles Gleichgewicht zu halten. Am Hof war der gesellschaftliche Druck enorm. Es wurde wichtig, bestimmte Leute nicht zu verärgern, und notwendig, Rücksicht zu nehmen. Man sollte jemandem, mit dem man an derselben Tafel speisen muß, nicht vorher ein blaues Auge schlagen, auch wenn er ein Kontrahent ist. Es wurde unerträglich, das Treppenhaus als Abort zu benutzen, wenn, wie am Hof von Versailles, Tausende von Personen zusammenlebten. Es war unvermeidlich, das Verhalten der anderen genau zu beobachten. Ebenso mußte man lernen, die Wirkung seines eigenen Verhaltens auf andere stets im Auge zu behalten. Aus dem Ritter wurde der Höfling. Das einschlägige Werk, von dem die Höfe ganz Europas lernten, wie man sich benehmen mußte, war „Das Buch“ von Hofmann. Allmählich sackten die guten Manieren, über die man sich am Hofe verständigt hatte, in untere Schichten durch. Weil Benimm bis ins 19. Jahrhundert eine Zugangsvoraussetzung zu den Zentren der Macht war und auch weil man sich durch das richtige Verhalten den höheren Schichten annähern konnte, kopierten die weniger privilegierten Schichten das Verhalten der Oberschichten. Dann wurde ehemals feines Verhalten vulgär. Um sich als Elite weiter abgrenzen zu können, wurde das kultivierte oder zivilisierte Verhalten noch weiter verfeinert. Das führte dann schließlich zu einer Nuancierung des Verhaltens, in der nur noch derjenige wahrhaft vornehm ist, der wusste, wie weit man sich über die Regeln hinwegsetzen darf. »Nur wer die Form beherrscht, darf mit ihr spielen«, lautet die Formel dafür im Knigge. Der große Meister dieser Kunst, die Grenzen zu überschreiten, ohne dabei aus dem Rahmen zu fallen, war der Engländer Oscar Wilde, der am Ende des 19. Jahrhunderts mit seinen bissigen Gesellschaftskomödien berühmt wurde. - 238 -
Man kann heute auf den ersten Blick den Eindruck haben, die europäische Kultur der Nachkriegszeit würde Elias' Theorie Lügen strafen: Unser Alltag könnte gar nicht informeller sein - man geht in Kordhosen ins Konzert und im Sommer halbnackt zur Arbeit, und man bekommt täglich 318 mal die Türe vor der Nase zugeschlagen. Weil man nicht weiß, wie man sich richtig benimmt, belegt man für viel Geld Seminare, die einem erklären, dass man sich das Baguette im Restaurant lieber nicht wie eine Butterstulle schmieren sollte. Sex ist öffentlich und mehr oder weniger tabubefreit. Die SelbsthilfeLandschaft mit Rebirthing-Kursen, afrikanischem Improvisationstanz und Urschreiseminaren läßt nicht gerade den Eindruck zu, es existiere eine besonders hoch entwickelte Peinlichkeitsschwelle. Erst auf den zweiten Blick kann man erkennen, wie sehr die Befreiung von Zwängen wiederum Zwängen unterliegt. Die Informalisierung des gesellschaftlichen Lebens in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts hat die Zwänge nicht aufgehoben. Im Gegenteil sie basiert auf Zivilisiertheit. Bauchnabelfreie T-Shirts stellen keine ernsthafte Herausforderung an männliche Affektkontrolle dar. Und gelegentlich hat sich der gesellschaftliche Zwang zur Selbstkontrolle in den Zwang zur Selbstbefreiung verwandelt. »Arbeite an dir selbst!« lautet die Devise dann.
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PSYCHE Nicht zu allen Zeiten hatten die Menschen eine „Psyche“ - sie hatten eine „Seele“. So nannte man in der Antike und in der christlichen Philosophie des Mittelalters die Innenausstattung des Menschen. In der Antike wie im Christentum war die Seele unkörperlich und konnte herumwandern. Im Christentum war die Seele das Ebenbild Gottes, der sie dem Menschen eingehaucht hatte. Die Seele hatte ihren Sitz im Körper, nach dem Tode des Menschen strebte sie zurück zu Gott - es sei denn, es handelte sich um eine böse Seele, die dann in die ewige Verdammnis eingehen mußte. Die Seele war unsterblich, im wesentlichen unveränderlich und unteilbar. Es stand überhaupt nicht zur Debatte, dass sie sich in der Realität bewähren können mußte, denn sie gehörte ins Reich der Metaphysik. Niemand im 21. Jahrhundert könnte auch nur einen Tag lang überleben, wenn er eine „Seele“ hätte. Um in einer sich ständig verändernden Umwelt überleben zu können, braucht der moderne Mensch eine Innenausstattung, die wandelbar, hochflexibel, individuell und anpassungsfähig ist: das ist die Psyche. Die Psyche wird zusammen mit der Modernisierung der Gesellschaft im 18. Jahrhundert erfunden. Man erklärt seelische Vorgänge jetzt als naturwissenschaftliche Phänomene: Thomas Hobbes zum Beispiel stellt sich vor, bewegte Objekte in der Außenwelt würden in Form einer Kettenreaktion über die Sinnesorgane ins Innere des Menschen vordringen und dort Empfindungen oder Gedanken hinterlassen. John Locke, der nicht nur der Vater der Demokratie, sondern auch der Vordenker der modernen Psychologie ist, lehnt es ab, sich überhaupt noch über das Wesen der Seele zu äußern. Er erklärt psychische Phänomene statt dessen - ganz modern - als Folgeerscheinungen von Wahrnehmungen: Bei Locke gerät die Psyche in Bewegung und wird individuell; sie ist jetzt weit entfernt davon, eine ewige Substanz zu sein, sondern setzt sich aus Bewußtseinsvorgängen zusammen, die durch Sinneseindrücke zustande kommen. Im 18. Jahrhundert ist die Seele zur Psyche geworden. Die Psyche - 240 -
hat gegenüber der Seele den unschätzbaren Vorteil, sich an ihre Umwelt anpassen zu können - oder, je nach Standpunkt, den unglaublichen Nachteil, sich an ihre Umwelt anpassen zu müssen. Dennoch ist sie die ideale Innenausstattung für den Menschen in einer Welt, die sich ständig verändert. Für den modernen Menschen ist es unabdingbar, über eine Psyche verfügen zu können, die Wandel mitmacht. Aber eine Psyche zu haben, bedeutet nicht, dass das Leben dadurch einfacher wird. Im Gegenteil, jetzt muß der Mensch ständig zwischen innen und außen ausgleichen. Er ist vor die Zumutung gestellt, die Psyche durch permanenten Druckausgleich zwischen innen und außen einigermaßen in ihrem anfälligen Gleichgewicht zu halten.
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Michel de Montaigne Essais (1580-1588) Montaigne ist unser erster Zeitgenosse. Mit ihm verabschiedet sich der Mensch des Mittelalters aus der europäischen Kultur, und der moderne psychologische Mensch betritt die Bühne. Er verkündet sein Recht, für sich selbst herauszufinden, wer dieser Mensch ist, der er selbst ist. Er stellt Fragen wie diese: »Wer bin ich?«, »Was ka nn ich aus mir machen?« und: »Wie sieht die Welt aus, wenn sie von mir aus gesehen wird?« Montaigne stammte aus einer wohlhabenden Familie aus der Gascogne. Mit zwei Jahren wurde er von seinem Vater in die Obhut eines deutschen Hauslehrers gegeben, der kein Wort Französisch sprach. Das war ganz im Sinne des väterlichen Erziehungskonzepts, denn Montaignes Muttersprache sollte Latein sein. Bis zu seinem sechsten Lebensjahr lernte er daher kein Wort Französisch, und sogar seine Mutter und die Dienerschaft mußten sich - so gut sie es eben konnten - auf Latein mit dem Sproß der Familie unterhalten. Montaigne schlug eine juristische Laufbahn ein, aber als er im Alter von 35 Jahren den Familiensitz erbte, zog er sich aus dem öffentlichen Leben zurück. Von nun an verbrachte er die meiste Zeit des Tages in seiner Bibliothek im Turm des Anwesens, wo ihn niemand störte, studierte die Werke der Antike und begann seine Essais zu schreiben. Er begründete damit das Genre des Essays: einer kurzen, informellen und persönlich gefärbten Abhandlung, die so gut wie jedes Thema zum Gegenstand haben kann. Das Thema der Essais von Montaigne ist ihr Autor. Oft sind die Überschriften zu den mehr als 100 Essays wie falsche Fährten; so handelt beispielsweise das Kapitel „Über die Kutschen“ von der Neuen Welt, so dreht sich der Essay „Über einige Vergil-Verse“ um Sex und „Eine Sitte auf der Insel Kos“ um Selbstmord, und so erfährt man auf den Seiten „Über den Dünkel“ viel über Montaignes körperliche und geistige Veranlagungen. Montaignes Essays eignen sich gut zur ausschnittsweisen Lektüre. - 242 -
Auch dann wird man einen umfassenden Eindruck bekommen - aber wer den Ehrgeiz hat, Montaigne wirklich auf die Spur zu kommen, muß schon alles lesen. Denn nur aus der Totalität der ständig wechselnden Blickwinkel entsteht das Ich, das Montaigne beobachtet. »Ich beschreibe mich von oben und unten, von vorne und hinten, von rechts und von links«, erklärt Montaigne. Das macht seine Essays modern, denn Montaigne dreht und wendet sich vor seinem inneren Auge, wie ein Gegenstand, der aus immer neuen Perspektiven gesehen werden muß, um zu zeigen, wie wechselhaft, vielgestaltig und komplex das Objekt der Beobachtung ist: sein eigenes Ich. Montaigne kommt uns bekannt vor, weil er, wie jeder moderne Mensch, damit beschäftigt ist, sich selbst in der Welt zu bestimmen. Dabei gilt den Lebensformen ein besonders Interesse, weil der „lifestyle“ die einfachste Form ist, in der jeder Mensch versuchen kann, seiner Einzigartigkeit Ausdruck zu verleihen. Deshalb wird Montaigne nicht müde festzuhalten, wie er lebt: was er tut, was er mag, was er kann, was er verabscheut. »Ich kann am Tage nicht schlafen; ich kann zwischen den Mahlzeiten nichts zu mir nehmen und auch früh nicht frühstücken; ich kann mich nicht schlafen legen, ohne dass nach dem Abendessen eine längere Zeit - etwa drei Stunden vergangen ist; ich kann den Beischlaf nur vor der Nachtruhe und nicht im Stehen ausüben; ich kann durchgeschwitzte Sachen nicht anbehalten: ich kann zum Durstlöschen nicht reines Wasser und nicht reinen Wein trinken, ich kann nicht ohne Hut gehen, und ich kann mir die Haare nicht nach dem Essen schneiden lassen; es würde mir ebenso schwer werden, keine Handschuhe anzuhaben, wie ohne Hemd zu gehen, oder nach dem Essen und früh beim Aufstehen mich nicht zu waschen, und keinen Betthimmel und keine Bettvorhänge zu haben: als ob das alles notwendige Dinge wären.« Als erster aufmerksamer Selbstbeobachter der europäischen Kultur ahnte Montaigne aber auch schon den Haken bei der Sache. Denn die Beobachtung des Ich kann nur vom Ich aus unternommen werden. Sie ist deshalb immer selbstreferenziell. Woher will ich dann wissen, fragte Montaigne, dass ich es bin, der mit meiner Katze spielt - und nicht sie mit mir?
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Laurence Sterne Tristram Shandy (1759-1767) Im allgemeinen wird behauptet, -» Freud hätte das Unbewußte entdeckt. Freud, der sonst nicht gerade zurückhaltend war, wenn es darum ging, seine Verdienste um die Psychoanalyse zu betonen, beurteilte diesen Punkt etwas bescheidener: Er habe das Unbewußte nicht entdeckt, sondern nur das wissenschaftliche Instrumentarium geliefert, um es zu beobachten - in der Literatur habe man immer schon gewusst, dass es das Unbewußte gibt. Freud hatte vollkommen recht: eine der komplexesten Thematisierungen des Unbewußten vor Freud stammt von Laurence Sterne. Sterne war Landgeistlicher und eine ziemlich bizarre Erscheinung. Nachdem er beispielsweise die Nacht auf „Crazy Castle“, dem Landsitz eines benachbarten Landadeligen, mit dem Club der „Demoniacs“ zugebracht hatte, begab er sich morgens in gelben Filzpantoffeln, lilafarbener Hausjacke und ohne Perücke an seinen Schreibtisch. Seine Frau befand sich derweil in der Irrenanstalt vermutlich als Folge fortwährender Ehezerwürfnisse -, und seine Mutter war (irrtümlicherweise) wegen Landstreicherei verhaftet worden. Exzentrischer als dieses Szenario ist nur noch der Roman, der Sterne schlagartig berühmt machte. Kein Mitglied der Londoner society konnte es sich leisten, den merkwürdigen Landpfarrer nicht bei sich zu empfangen, zumal sich herausstellte, dass Sternes Konversationskünste nicht weniger geistreich waren als das Buch, das er geschrieben hatte. Sterne wurde sogar dem König präsentiert, und der berühmte Maler der englischen Aristokratie, Joshua Reynolds, malte ein Portrait von ihm. Sternes Roman ist wirklich seltsam. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine fiktive Autobiographie, aber nichts ist darin so, wie man es herkömmlicherweise von einem Roman kennt. Da gibt es mitten im Text eine marmorierte und mehrere le ere Seiten, da sind die Kapitel 18 und 19 des letzten Bandes zunächst ausgespart, um sie dann - 244 -
zwischen den Kapiteln 25 und 26 einzufügen, da folgt das Vorwort auf Seite 200, da bricht der Erzähler mitunter mitten im Satz ab und füllt mehrere Zeilen hintereinander mit Sternchen oder mit Gedankenstrichen. Das alles macht Tristram Shandy zu einer ziemlich schwierigen, verwirrenden Lektüre. Um zu verstehen, worin der Witz des Buchs überhaupt besteht, muß man erst einmal wissen, dass die Geschichte grundsätzlich auf der Unterscheidung zwischen zwei Ebenen beruht: Zum einen gibt es die Ebene dessen, was erzählt werden soll: Das ist, wie im Falle einer ganz normalen Autobiographie, die Lebensgeschichte des Titelhelden, Tristram. Aber in diese Ebene dringt nun ständig der Vorgang des Erzählens selbst. Das bedeutet, dass der Ich-Erzähler Tristram sich selbst beim Erzählen seiner Lebensgeschichte stört, weil ihm permanent Dinge einfallen, die er eigentlich erst erzählen müsste, bevor er weiter erzählen kann. Das zeigt sich bereits auf den ersten Seiten: Eigentlich will der Erzähler Tristram seine Lebensgeschichte beginnen, indem er den Anfang aller Anfänge wählt. Da er die klassische Anweisung des Horaz, „ab ovo“ zu beginnen, wörtlich nimmt, fängt er also mit seiner Zeugung an. Aber schon fällt ihm ein, dass auch seine Zeugung noch eine Vorgeschichte hat, die es zu berichten gibt. Weil auch diese Vorgeschichte wiederum des Kommentars bedarf, wandert er in seiner Geschichte immer weiter nach hinten und mäandert allmählich durch ein Labyrinth liegengelassener und wiederaufgenommener Geschichten, die an Skurrilität und Bizarrerien kaum zu übertreffen sind. Gelegentlich unterbricht er sich sogar mitten im Satz und läßt eine angefangene Geschichte über die Länge einiger Kapitel förmlich in der Luft hängen, um zunächst viele neue Gedanken zu verfolgen. Insofern hat Tristram Shandy keine fortschreitende Handlung im herkömmlichen Sinne zu bieten. Unter Aufbringung einer gehörigen Portion Unverzagtheit lassen sich jedoch zwei „Erzählstränge“ unterscheiden. Der erste dreht sich um Tristrams Kinderstube, der zweite um die Abenteuer von dessen Onkel Toby. In beiden Geschichten wimmelt es nur so vor Zweideutigkeiten und Mißverständnissen. Tristrams Geschichte ist eine Verkettung von Unfällen. Bereits die Zeugung verläuft äußerst unglücklich, weil die Mutter den Vater im - 245 -
entscheidenden Moment mit der Frage irritiert, ob er auch nicht vergessen habe, die Standuhr aufzuziehen. Bei der Geburt wird Tristrams Nase durch Dr. Slops unsachgemäßes Hantieren mit der Geburtszange eingedrückt. Die nächste Katastrophe im Leben des Helden tritt bei seiner Taufe ein, bei der das Kind aufgrund der Dummheit des Hausmädchens statt des edelsten aller Namen, Trismegistus (griech.: der Dreimalgrößte), den traurigen Namen Tristram erhält. Und schließlich ist dasselbe Hausmädchen schuld daran, dass Tristram durch ein heruntersausendes Schiebefenster an einem entscheidenden Körperteil bedenklich verletzt wird. Auch Onkel Toby ist durch einen tragischen Schicksalsschlag gebeutelt, der die Aufmerksamkeit des Lesers auf ein heikles Körperteil lenkt, obwohl der Erzähler sich alle Mühe gibt, so zu tun, als gäbe es nichts Verfängliches an der Sache. Onkel Toby ist bei der Belagerung von Namur an delikater Stelle nahe der Leistengegend verletzt worden. Um mit diesem Trauma fertig zu werden, baut er eine maßstabsgetreue Nachbildung der Stadt Namur und entwickelt ein geradezu obszessives Interesse an Festungskunde und den Strategien der Verteidigung und Belagerung. Onkel Tobys Steckenpferd (hobby horse) findet sogar noch ein paralleles Betätigungsfeld - nur fragt man sich, ob das unter den gegebenen Umständen eine so gute Idee ist. Gemeint ist die Belagerung der Witwe Wadman. Die erfolgreiche Werbung um die Dame scheitert dann auch an einem Mißverständnis, denn als die Witwe Onkel Toby aus nicht ganz uneigennützigen Motiven fragt, wo ihm denn nun genau seine Verletzung in der Leistengegend zugefügt wurde, ist Toby von ihrem Mitgefühl schier überwältigt, kramt in aller Arglosigkeit die Karte von Namur hervor, und zeigt ihr darauf die genaue Stelle, an der er seine Verletzung erhalten hatte. Erst als sein Diener, Colonel Trim, über die wahren Motive der Witwe aufklärt, ist Toby einigermaßen desillusioniert. Tristram Shandy ist ein Roman über die Kollision von Sprache und Bewußtsein. Weil dem Erzähler während des Erzählens ständig neue Gedanken in den Kopf kommen, ruinieren die fortlaufenden IdeenAssoziationen allmählich den zu schreibenden Text und verwandeln ihn in eine (scheinbare) Trümmerlandschaft. Das Denken ist schneller als das Schreiben. Deshalb hat es der Erzähler bald mit einem Text zu tun, der das, was immer noch auch erzählt werden muß, in Form einer - 246 -
gewaltigen und ständig wachsenden Masse vor sich herschiebt. Aus diesem Dilemma gibt es einen Ausweg: den Abbruch von Kommunikation bzw. den Ausstieg aus der Verständigung durch Sprache und den Einstieg in die Sprache der Psyche. Die Sprache der Psyche bedeutet im 18. Jahrhundert die Sprache der Sentimentalität, des Gefühls. Die Sprache des Gefühls ist wortlos, aber nicht weniger eloquent, denn sie bedient sich eines vielsagenden Mediums: des Körpers. Der stumme Händedruck, das beredte Schweigen, die stille Träne, der vielsagende Blick, der verwirrte Abbruch der Rede kommen ohne Worte aus. Aber sie sind dafür um so eindrucksvoller, weil in diesen Gesten die Seele (die Psyche) selbst spricht. Natürlich kann sich Sterne nicht der Körpersprache bedienen - wie sollte das in einem Text auch möglich sein? Deshalb weicht er auf andere Möglichkeiten aus. Dazu gehören die seltsamen Phänomene: die abgebrochenen Sätze, die leeren Seiten und die vielsagenden Sternchen und Gedankenstriche. Sie funktionieren wie Körpersprache: sie sind vielsagende Wortlosigkeit. Aber auch Zweideutigkeiten faszinieren den Erzähler, weil darin das Bewusstsein die Sprache sabotiert. Eine Zweideutigkeit benutzt zwar Sprache, aber das, was man dann versteht, wurde mit den benutzten Worten gar nicht gesagt. Wie im Fall der „Nase“. Die Nase, wie gesagt, wurde Tristram bei seiner Geburt irgendwie lädiert. Die Nase? Glauben Sie etwa, es war die Nase?! - Der Erzähler reitet derart penetrant darauf herum, dass er Nase meint, wenn er Nase sagt, bis jeder Leser an der Aufrichtigkeit der Beteuerungen zweifeln muß. Ist nicht vielleicht etwas ganz anderes damit gemeint? Etwas Unaussprechliches sogar? Sterne spielt mit diebischer Freude mit diesem Effekt, der den Leser - ob der nun will oder nicht - in die paradoxe Lage bringt, bei „Nase“ schließlich an „Geschlechtsorgan“ zu denken. Für Freud wäre der Fall klar: Es ist das Unbewußte des Lesers, das sich in solchen Fällen bemerkbar macht und die Semantik ruiniert. Freud hat solche Störungen von Kommunikation durch das Unbewußte selbst beschrieben. Er nannte sie „Fehlleistungen“ - in der Alltagssprache besser bekannt als Freudsche Versprecher.
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Robert Louis Stevenson Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde (1886) Im nebligen London des späten 19. Jahrhunderts gehen seltsame Dinge vor. Als der Anwalt Mr. Utterson eines Nachmittags mit seinem Bekannten, Mr. Enfield, durch London spaziert, kommen die beiden Gentlemen an einer unscheinbaren Tür vorbei. Mr. Enfield weiß von einem Vorfall zu berichten, der mit dieser Tür zu tun hat. Vor einiger Zeit lief er frühmorgens durch die vom Gaslicht matt erleuchteten Straßen der Metropole, als etwas Seltsames geschah: Aus zwei aufeinandertreffenden Nebenstraßen rannten plötzlich ein Mann und ein Mädchen mit solcher Wucht ineinander, dass das Kind, vor Schreck, schreiend am Boden liegen blie b. Statt sich um die Kleine zu kümmern, trampelte der Übeltäter einfach über sie hinweg und rannte weiter. Er hätte sich wohl aus dem Staub gemacht, wäre er nicht von Mr. Enfield verfolgt und beim Kragen gepackt worden. Der Tumult hatte inzwischen einige Leute aus dem Schlaf gerissen, die ihrer Empörung Luft machten, während der Täter, ein gewisser Mr. Hyde, ungerührt daneben stand. Hyde, der irgendwie grässlich wirkte, ohne dass Enfield beschreiben konnte, warum, bot den Eltern des Mädchens zur Entschädigung Geld an. Um es zu besorgen, verschwand er hinter jener geheimnisvollen Tür. Schließlich kehrte er mit einem Scheck zurück, der nicht mit dem Namen „Hyde“, sondern mit der Unterschrift einer stadtbekannten Persönlichkeit unterzeichnet war. Mr. Enfield will seinem Freund nicht verraten, wie dieser Name lautete. Aber wir ahnen längst, wer den Scheck unterschrieben hat: Dr. Jekyll natürlich. Denn Dr. Jekyll gehört zu jener Sorte experimentierfreudiger Wissenschaftler in der Literatur des 19. Jahrhunderts, die die schlechte Angewohnheit haben, so lange merkwürdige Tinkturen zu mischen, bis es ihnen gelungen ist, sich mittels eines selbstgebrauten Elixiers in eine andere Gestalt zu verwandeln: in Mr. Hyde. - 248 -
Bereits in früher Jugend hatte Dr. Jekyll das Gefühl gehabt, dass unter der Oberfläche seiner respektablen Erscheinung eine dunkle Seite verborgen sei. Dieses zweite Ich meldete jedoch moralisch fragwürdige Bedürfnisse an, die die gewissenhafte Seite unbedingt unterdrücken mußte. Wissenschaftlicher Ehrgeiz, gepaart mit Leidensdruck, brachten Jekyll nun auf die Idee, eine Mixtur zu brauen, die seine dunkle Seite befreien würde. Die Verwandlung gelingt. Zwar ist sie von furchtbaren Schmerzen begleitet (und ähnelt darin einer Geburt) und transformiert Jekyll außerdem in eine hässliche, geschrumpfte Gestalt, aber sie läßt ihn auch zu jener ersehnten Person werden, die kein Gewissen und keine Moral kennt. Jekyll wird zu Hyde: unbeschwert, verantwortungslos, böse und triebhaft. Mit der Zeit gewinnt Hyde die Oberhand über Jekyll. Die Rückverwandlungen werden immer schwieriger, und Hyde wird immer hemmungsloser. Nachdem Hyde im Affekt einen Mann erschlagen hat, beschließt Jekyll, sich das Leben zu nehmen, weil er ahnt, dass nur auf diese Weise dem verworfenen Treiben seiner bösen Unterseite, Hyde, ein Ende bereitet werden kann. Stevensons Erzählung wurde kurz nach ihrem Erscheinen ein Bestseller. Das viktorianische Lesepublikum, das gewöhnt war, sich hinter moralischer Unanfechtbarkeit zu maskieren, las fasziniert, wie ein respektabler, gesellschaftlich angesehener Mann hinter verschlossenen Türen zum Verbrecher und Schurken mutierte. Erstaunlicherweise ahnte aber der größte Teil des Publikums bis zur Auflösung des Falls nach der Hälfte der Erzählung nicht im geringsten, dass Jekyll und Hyde (engl. hide: Versteck) ein und dieselbe Person waren. Die Leser konnten sich noch nicht vorstellen, dass ein integer wirkender Mann wie Dr. Jekyll einen so dunklen Fleck auf seiner Seele haben sollte. Erst Freud hat uns erklärt, dass je de Psyche eine dunkle Seite hat: das Unbewußte. Inzwischen kann sich jeder vorstellen, dass es eine beobachtete Seite der Psyche gibt und eine unbeobachtete: Freud zufolge schlummert in jedem von uns unter der Oberfläche des Dr. Jekyll ein Mr. Hyde: jene triebhafte, unreflektierte Seite der Psyche, die Freud das »Es« nennt - im Unterschied zur Seite des sozialen Gewissens, dem »Über-Ich«, das Dr. Jekyll verkörpert. - 249 -
Das Beeindruckende an Stevensons Erzählung ist, dass die unheimliche Doppelgängergeschichte in groben Zügen eine Vorwegnahme dessen ist, was Freud als Modell der Psyche knapp zwei Jahrzehnte später präsentierte. Aber nicht allein deshalb lohnt sich die Lektüre, sondern vor allem auch wegen der atmosphärischen Beschreibungen Londons. Das labyrinthische Gewirr der Straßen, in die Mr. Hyde verschwindet, wenn er durch die geheimnisvolle Tür schlüpft, ist eine unwirkliche Stadtlandschaft. Hier lösen sich die Konturen der Dinge auf, wenn der Nebel durch die Gassen kriecht und nur noch das trübe Gaslicht der Laternen fahles Licht spendet. Das ist die gespenstische Landschaft des Unbewußten.
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Sigmund Freud Die Traumdeutung (1900) Die schwerste Arbeit des Tages wird in der Nacht geleistet. Sie findet nicht etwa in den Containerterminals der Häfen in aller Welt statt, sondern im eigenen Bett. Das, was dort - im wahrsten Sinne im Schlaf - bewältigt werden muß, sind die mühsamen Rangier- und Sortierarbeiten unserer Psyche. Wir können von diesen Mühen nur Kenntnis erlangen, wenn wir unsere Träume beobachten. Erst wenn wir uns in diese schattigen Regionen vorwagen, können wir erkennen, was in unserer Seele wirklich vorgeht und wer wir wirklich sind. Dann sehen wir, dass sich in den Träumen unsere geheimsten Wünsche offenbaren - und dass diese Träume vor allem eines sind: Wunschbilder von ungehemmter Sexualität. So lauteten die unerhörten Behauptungen, mit denen Sigmund Freud zu Beginn des 20. Jahrhunderts allgemeine Bestürzung unter seinen Zeitgenossen auslöste. Freuds Feststellung war in der Tat ungeheuerlich; denn er erklärte mit anderen Worten: Erstens, der Schlüssel zu unserem Ich liegt an einem Ort, zu dem wir selbst keinen (unmittelbaren) Zugang haben - im Unbewußten. Nur auf Umwegen und mit Hilfe etwas dubioser Informationskanäle - nämlich mittels der Beobachtung unserer Träume - können wir etwas über uns in Erfahrung bringen. Und zweitens, die Beobachtung unseres Unbewußten bringt ans Tageslicht, dass alle Handlungen - und letztlich alle kulturellen Errungenschaften des Abendlandes - nicht vernünftiger Überlegung und sorgsamer Erkenntnissuche entspringen, sondern einzig und allein dem verdrängten Bedürfnis nach Triebbefriedigung. Das, was Freud da behauptete, war für die Zeitgenossen des beginnenden 20. Jahrhunderts ebenso verwirrend wie schockierend. Die Traumdeutung, die zu einem der einflußreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts wurde, stieß zunächst auf erbitterten Widerstand. Das war eigentlich kein Wunder, denn für die abendländische Tradition stellte Freuds Psychoanalyse in gewisser Weise eine Zumutung dar. - 251 -
Freuds Beschreibung der Seele des Menschen lenkte die Aufmerksamkeit ausgerechnet auf das, was man bisher unter den Randzonen des Menschseins verbucht hatte: auf Nicht-Wissen, auf Irrationalität und auf Sex. Das Unbewußte - nicht das Bewusstsein sei die Seite unserer Psyche, die unser ganzes Denken und Fühlen bestimme. Freud fand hierfür ein anschauliches Bild, das berühmt geworden ist: »Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus.« Das, was die abendländische Philosophie bisher als herausragende Eigenschaften des Menschen behandelt hatte - seine Fähigkeit zu denken und zu reflektieren, seine Rationalität und vor allem sein Bewusstsein -, enttarnte Freud nun lediglich als die Spitze eines Eisberges. Das Bewusstsein war demnach nur der Teil unserer Psyche, den wir selbst sehen können; aber unter der Oberfläche des trügerisch stillen Meeres unserer bewussten Handlungen und Gedanken verbarg sich ein gigantischer Koloss, dessen Form und Gestalt wir kaum erahnen können: das Unbewußte. Freud stellte deshalb auch die Maximen der Erkenntnissuche auf den Kopf. Denn die Aufklärungsarbeit der Psychoanalyse nimmt nicht das Licht am Ende der Dunkelheit in den Blick (so wie die Philosophie der Aufklärung), sondern taucht in das Dunkel der Nacht ab, um aus den Tiefen der Psyche versunkene Schätze zu bergen: die Träume und die darin verborgenen Gedanken. Freud, der um die Jahrhundertwende in Wien als Neurologe praktizierte, war auf das Phänomen des Traumes aufmerksam geworden, als seine Neurose-Patientinnen im Verlauf der therapeutischen Gespräche ständig auf ihre Träume zu sprechen kamen. Im folgenden führte Freud eine Selbstanalyse durch, entschlüsselte dabei etliche seiner eigenen Träume, überwand eine Lebenskrise und konstatierte, dass Träume nicht einfach wirres Zeug sind, sondern der Schlüssel zur Seele des Menschen. Als Freuds erstes großes Werk, Die Traumdeutung, dann 1899 beim Verleger vorlag, ließ jener in weiser Voraussicht das Publikationsdatum 1900 drucken: Als habe er geahnt, dass er ein epochemachendes Werk vor sich hatte, das dieses besondere Datum verdient hatte. Die Traumdeutung ist eine Mischung aus theoretischer Grundlagenarbeit, Autobiographie Freuds und Beschreibung von über 200 Träumen - etwa ein Viertel davon sind Freuds eigene. Im - 252 -
wesentlichen erklärt Freud folgendes: Träume sind die Erfüllung verdrängter oder unterdrückter Wünsche, die sich der Träumende untersagen muß. Allen geheimen Wunschträumen liegt ein erster kindlicher Ur-Wunsch zugrunde, der unerfüllt geblieben ist: das inzestuöse Verlangen des Kindes nach dem Elternteil des anderen Geschlechts. Dieser Wunsch ist von einem zweiten Wunsch begleitet, nämlich dem, den gleichgeschlechtlichen Elternteil als potentiellen Konkurrenten aus dem Weg zu räumen. Freud nannte diese Konstellation, nach dem Drama des antiken Dichters Sophokles, den „Ödipuskomplex“ Dieser unerfüllbare und verdrängte DoppelWunsch - von dem Freud zufolge jeder Mensch im Alter von fünf Jahren heimgesucht wird - versucht nun ständig, sich wieder bemerkbar zu machen. Besonders die Nächte - diese Zeiten dunkler Bewußtlosigkeit - scheinen dem alten Wunsch aus Kindertagen günstig. Aber wer träumt und seinen Traum erinnert, merkt nicht viel von dem darin versteckten Wunsch nach hemmungsloser Triebbefriedigung. Freud hat eine Erklärung dafür. Denn auch noch im Traum gibt es eine Zensur, die verhindert, dass die dunkle, triebhafte Seite der Psyche ganz ins Bewusstsein des Schläfers dringt. Deshalb sind Träume so rätselhafte Gebilde, die scheinbar keinen Sinn haben. Im Traum ziehen die heimlichen Wünsche sozusagen Tarnkleidung an. Weiß man aber erst einmal (mittels der Psychoanalyse) die Träume zu deuten, erkennt man ihre Botschaften aus der Seele des Menschen. Inzwischen haben wir uns ebenso an Freud gewöhnt, wie seine Thesen im einzelnen gehörig revidiert worden sind. Aber Freud geistert durch unsern Alltag. Niemand - es sei denn, er hat Kommunikationstheorien gelesen - wird das Verhalten einer Person ohne weiteres den Strukturen von Kommunikation zuschreiben, statt ihrer Psyche. Die gängigen Vorstellungen davon, warum jemand so ist, wie er ist, sind ohne Freud gar nicht denkbar. Auch wenn wir anders als die Zeitgeist-Milieus der sechziger und siebziger Jahre nicht mehr der Meinung sind, dass es zum guten Ton gehört, eine Analyse zu machen, sind wir in gewisser Weise alle „Freudianer“. Denn auch wem der „Ödipuskomplex“ suspekt erscheint wird sicherlich nichts gegen die Behauptung einzuwenden haben, dass man - 253 -
die Motive seines Handelns nie ganz durchschauen kann, weil das Bewusstsein einen blinden Fleck hat: das Unbewußte. Vielleicht wird er sogar dazu neigen, seinen Träumen gewisse Aufmerksamkeit zu schenken, statt sie sofort nach dem Aufwachen als neuronalen Müll aus dem Bewusstsein zu entsorgen. Vermutlich wird er auch geneigt sein, retrospektive Detektivarbeit zu leisten, und sich über seine Kindheit und sein Verhältnis zu seinen Eltern Gedanken machen, um herauszufinden, wer er ist. Er wird sicher auch der Meinung sein, dass Sexualität eines der menschlichen Grundbedürfnisse ist und dass es auf die Dauer nicht gesund ist, seine Bedürfnisse zu unterdrücken. Er wird, falls er auf etwas angesprochen werden sollte, das sich momentan seiner Aufmerksamkeit entzogen hat, erklären: „das habe er verdrängt. Und er wird sicherlich versucht sein, einem (Freudschen) Versprecher besondere Bedeutung zuzugestehen, statt ihn als eine bloße Fehlschaltung in der Schaltzentrale „Gehirn“ zu behandeln - wie das Neurolinguisten längst tun. Freud ist einer der umstrittensten und wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts. Hinsichtlich seiner Breitenwirkung kann der Traumdeutung wohl nur Karl Marx' „Das Kapital“ das Wasser reichen. Niemand hat die Theoriebildung in allen sozialen Disziplinen nachhaltiger beeinflusst als Freud. Vielem von dem, was er gesagt hat, ist inzwischen widersprochen worden. Aber Freud hat uns eine ebenso atemberaubende wie abenteuerliche Idee hinterlassen: Nicht das, was wir über uns wissen, macht uns zu dem, was wir sind, sondern das, was wir über uns nicht wissen!
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Marcel Proust Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913-1927) »Ich bin vielleicht strohdumm, aber ich kann nicht verstehen, wie ein Herr dreißig Seiten darauf verwenden kann, um zu beschreiben, wie er sich in seinem Bett dreht und wendet, bevor er einschlafen kann.« Das schrieb der Verleger, dem Proust das Manuskript des ersten Bandes seines siebenteiligen Romanzyklus angeboten hatte. Bei nachfolgenden Krit ikern fiel das Urteil weit weniger respektlos aus. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (A la recherche du temps perdu) zählt zu den großen Werken der Literatur der Moderne. Aber ungeachtet dessen haben entmutigte Leser insgeheim immer wieder dasselbe gedacht wie einst jener enervierte französische Verleger. Prousts Roman gehört zu den Büchern mit der größten LeserAbbruchrate. Das liegt jedoch nicht daran, dass diese scheiternden Leser „strohdumm“ sind, sondern daran, dass Proust-Lektüre alles andere als einfach ist. Die Herausforderungen, die sie stellt, sind gewaltig: Da hat man es zunächst einmal mit einem Romanwerk zu tun, das ziemlich abschreckende 4000 (!) Seiten umfaßt. Auch der komplizierte Stil mit seinen berüchtigten überkomplexen Sätzen von geschliffener Eleganz ist nicht gerade leichte Kost. Doch die wohl größte Komplikation besteht darin, dass es keine Handlung im konventionellen Sinn gibt. Der Roman beschreibt die Suche eines Bewußtseins nach sich selbst. Alles, was als Außenwelt vorkommt, wird konsequent durch die Perspektive der Innenwelt des IchErzählers gefiltert. Das liest sich nicht sehr schnell und stiftet mitunter ein gehöriges Maß an Verwirrung. Aber die Suche ist nicht nur ein Werk der Superlative hinsichtlich der Schwierigkeiten, die ihre Lektüre bereitet, sondern auch im Hinblick auf die Leselust, die sie hervorrufen kann. Es gibt in der europäischen Literatur nichts mit Proust Vergleichbares. Wenn der Ich-Erzähler Marcel mit atemberaubender Langsamkeit sein Bewusstsein entfaltet, ähnelt dies dem Wunder einer sich allmählich - 255 -
in Wasser entfaltenden Papierblume. Wie kostbare Schätze werden Seite um Seite Erlebnisse und Eindrücke aus den Tiefen des Bewußtseins geborgen und in Bildern von überwältigender Poesie vor Augen geführt. Wer sich erst einmal über die ersten 200 Seiten gekämpft hat, wird leicht süchtig. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist ein Roman über die Zeit: Über das Vergessen und das Erinnern und über die Frage, wie man dem unaufhörlichen Zerrinnen von Zeit - und damit der Vergänglichkeit und der Gewohnheit - entkommen kann. Die Antwort lautet: durch die Erinnerung. Prousts Begriff der Erinnerung hat nun allerdings nichts mit jener Gedächtnisleistung zu tun, die wir im Alltag benötigen und der man sich selbst mittels Post-it-Zettelchen auf die Sprünge helfen kann. Erinnerung bei Proust ist kein absichtlich herbeigeführter Vorgang des Bewußtseins. Sie passiert zufällig, tritt plötzlich ein, ohne dass man es vorher wissen kann. Ein Sinnesreiz löst sie aus: der Geschmack eines Kuchens oder der Geruch von Flieder. Die Empfindung setzt eine Kette von Assoziationen in Gang und eröffnet ungeahnte Horizonte des Inneren. Sie versetzt den, der sie durchlebt, in Ekstase. Sie ist eine Qualität der Psyche, die in seltenen Momenten aufleuchtet. Sie bedeutet nicht weniger als Glück, Schönheit und künstlerische Inspiration. Proust hatte sich zu seinem Begriff der Erinnerung durch die Theorie des subjektiven Zeitempfindens inspirieren lassen, die der Philosoph Henri Bergson zur selben Zeit formuliert hatte: Bergson unterschied das subjektive, nicht-lineare Zeitempfinden von der Chronologie der linearen, meßbaren Zeit. Er verstand die Eigenzeit des Bewußtseins als nicht weiter zerlegbares Zeitgefühl und nannte sie „reine Dauen (duree). In der reinen Dauer verschwindet die Vergangenheit nicht einfach und geht „verloren“ wie in der chronologischen Zeit, sondern ergießt sich unaufhörlich in die Gegenwart, um sie zu bereichern. Auch bei Proust erreicht die Vergangenheit die Gegenwart. Aber was bei Bergson einem gemächlich dahinströmenden Fluss ähnelt, hat bei Proust die Qualität eines überraschend auftauchenden Wasserfalls. Das Erscheinen einer sogenannten unwillkürlichen Erinnerung“ bei Proust ist dramatisch: Sie bricht spontan ins Bewusstsein ein und - 256 -
überwältigt durch die Totalität der Erinnerungen, die sie urplötzlich freilegt. Einer derartigen Erinnerung verdankt die europäische Literatur ihr berühmtestes Gebäckstück: die Madeleine. Die Episode ist berühmt, nicht zuletzt, weil sie den Vorteil hat, bereits auf den ersten 100 Seiten des Romans vorzukommen: Als die Mutter dem (erwachsenen) IchErzähler eines Wintertages eine Madeleine und eine Tasse Lindenblütentee serviert, setzt das Geschmackserlebnis des in den Tee getauchten Gebäcks die ganze, verloren geglaubte Kindheit frei. Denn während sich der Geschmack von Tee und Biskuit auf der Zunge entfaltet, steigt für Marcel wie aus dem Nichts eine versunkene Welt auf: Längst vergessene Erinnerungen an das Dörfchen Combray, in dem die Familie ihre Ferien verbrachte, werden zu einem Kaleidoskop der Vergangenheit. In solchen Momenten des Erinnerns - in denen weit zurückliegendes zum zweiten Mal erlebt wird und in denen Vergangenheit und Gegenwart in einem kurzen Augenblick zusammenfallen, gelingt subjektiv gesehen - der Ausstieg aus dem Fluss der chronologischen Zeit. Diese Erkenntnis führt schließlich zu dem Entschluss des IchErzählers, die qua Erinnerung wiedergefundene Zeit dauerhaft festzuhalten, und zwar in Gestalt eines Romans über die Erinnerung. Wenn Zusammenfassungen von Romanen an sich immer schon schwierig sind, weil ein literarischer Text nie allein die Summe dessen ist, was darin passiert, stellt die Proust-Zusammenfassung eine Art Krönung des Problems dar. Das Dilemma ist bestens bekannt und beliebter Gegenstand der intellektuellen Satire. Bekanntestes Beispiel ist „The All-England Summarize Proust Competition“ der englischen Komikertruppe Monty Python. Im Sketch wird den Wettbewerbsteilnehmern die Aufgabe gestellt, Prousts Werk in fünfzehn Sekunden zusammenzufassen - und zwar in den be iden markantesten Kostümierungen Marcels: im Badeanzug und in Abendkleidung. Der beeindruckendste Beitrag ist die Darbietung eines walisischen Männerchors, dem es gelingt, den Satz »Proust schrieb in seinem ersten Buch über die ...« in Form eines komplizierten Fugengesanges zum besten zu geben. - In der Sphäre der Real-Satire hält momentan der Franzose Gerard Genette den Rekord mit den drei Worten: »Marcel wird Schriftsteller.« Wer selbst das dringende - 257 -
Bedürfnis verspürt, dem noch etwas entgegenzusetzen, hat im Internet Gelegenheit dazu unter: http://tempsperdu.com/summ.shtml. Von derart entmutigenden Vorbildern nicht verschreckt, wird im folgenden ein zwischen fliederfarben und mauve changierender „roter Faden“ des siebenteiligen Romans gesponnen. Der erste Band, mit dem Titel In Swanns Welt, beginnt mit Erinnerungen an Marcels Kindheit: an die Sommerferien, die er alljährlich mit seinen Eltern in Combray verbrachte. Die einzige Erinnerung, die Marcel anfänglich aus dieser Zeit geblieben ist, ist das Drama des verwehrten Gute-Nacht-Kusses. Immer wenn ein Freund des Hauses, Monsieur Swann, abends zu Besuch kam, wurde der damals Zehnjährige zu Bett geschickt, ohne noch einmal den ersehnten Gute-Nacht-Kuß von seiner Mutter bekommen zu haben. Der wiederholte Entzugsmütterlicher Aufmerksamkeit löst ein lebenslanges Trauma aus und macht sich in Marcels zukünftigen Beziehungen zu Frauen in Form von Verlustängsten und Eifersuchtsattacken bemerkbar. Während die Gute-Nacht-KussEpisode zunächst die einzige Erinnerung an Kindertage ist, führt der Genuss der berühmtem Madeleine dazu, dass plötzlich die ganze Kindheit mit den dazugehörenden Personen und Orten wieder lebendig wird: die geliebte Großmutter, das eigensinnige Hausmädchen Francoise, die hypochondrische Tante Leonie, die Weißdornhecke, die Kirche von Combray ... Der zweite Teil des ersten Bandes trägt den Titel „Eine Liebe von Swann“. Er beschreibt die Liebesgeschichte zwischen dem Kunstkenner Swann und der schönen Odette de Crecy, einer Frau von äußerst zweifelhaftem Ruf. Die beiden sind sich im Salon der Madame Verdurin begegnet, dem Salon des Großbürgertums, der, neben dem aristokratischen Salon der Guermantes, einen der beiden sozialen Brennpunkte des Romans repräsentiert. Swann verdächtigt Odette, ihn zu betrügen, und leidet furchtbar unter Eifersuchtsattacken. Als sich die Liebe schon wieder abgekühlt hat, heiratet er sie. - „Eine Liebe von Swann“ eignet sich vielleicht am besten zur selektiven Proust-Lektüre für Einsteiger: Es handelt sich um eine in sich geschlossene Geschichte, aus der Zeit vor der Geburt des Erzählers, die von allen Teilen der Suche noch am ehesten konventionellen Leseerwartungen entspricht. - 258 -
Band zwei trägt den Titel Im Schatten junger Mädchenblüte. Der pubertierende Marcel macht seine ersten erotischen Erfahrungen und verliebt sich unsterblich in die Tochter der Swanns, die zickige Gilberte, die er zum Spielen auf den Champs Elysées trifft. Siebzehnjährig fährt der (wie Proust) schwer an Asthma leidende Marcel mit seiner Großmutter in das Seebad Balbec an der Küste der Normandie. Dort schließt er Freundschaft mit Robert de Saint Loup, einem umwerfend attraktiven jungen Mann, der viel später, trotz homosexueller Neigungen, Gilberte heiratet. Marcel begegnet auch Roberts Onkel, dem Baron de Charlus, für den seine Homosexualität fatale Folgen haben wird. Vor allem aber macht Marcel in Balbec die Bekanntschaft seiner großen Liebe, Albertine. Er sieht sie zunächst an der Uferpromenade in Begleitung ihrer Freundinnen. Marcel ist ganz hingerissen von den schönen, sportlichen und modernen jungen Mädchen. In Band drei, Die Welt der Guermantes, ist Marcel mit seinen Eltern in Paris umgezogen. Sie wohnen jetzt in einer Wohnung im Stadtpalais der Guermantes. Marcel verliebt sich (wie gewöhnlich) von fern in die Herzogin de Guermantes. Als er sie endlich trifft, ist er (wie gewöhnlich) enttäuscht. Mittelpunkt des sozialen Lebens und ständiger Gesprächsstoff der Salons ist die Affäre um den jüdischen Hauptmann Dreyfus, der 1894 wegen angeblichen Hochverrats auf die Teufelsinsel deportiert worden war und dessen Schicksal in den neunziger Jahren eine innenpolitische Krise in Frankreich heraufbeschwor. Das Hauptthema des vierten Bandes, Sodom und Gomorra, ist Homosexualität. Zu Beginn kommt Marcel durch einen Zufall hinter das Geheimnis des Baron de Charlus, der sich allmählich durch eine Affäre zugrunde richtet. Marcel, der inzwischen Albertine wiedergetroffen hat, verdächtigt sie, lesbisch zu sein. In Band fünf, Die Gefangene, hat Marcel Albertine zu sich nach Paris geholt. Sie lebt in seiner Wohnung. Wenn Albertine ausgeht, läßt er sie eifersüchtig überwachen. Angesichts des besitzergreifenden Verhaltens von Marcel flüchtet Albertine eines Morgens aus der Wohnung. - 259 -
Im nächsten, dem vorletzten Band, Die Entflohene, beauftragt Marcel seinen Freund Robert, Nachforschungen über Albertine anzustellen, um sie zurückzuholen. Marcel erfährt schließlich, dass Albertine bei einem Reitunfall tödlich verunglückt ist. Im siebten und letzten Band, Die wiedergefundene Zeit, ist der Erste Weltkrieg ausgebrochen. Nach dem Ende des Krieges besucht Marcel eine Matinee beim Prinzen de Guermantes. In der Bibliothek des Hauses offenbart sich ihm plötzlich die Einsicht, dass die Flüchtigkeit der Zeit durch die Erinnerung aufgehoben werden kann. Marcel will dieser Erkenntnis Dauer verleihen und beschließt, einen Roman zu schreiben. So schließt sich Prousts Roman am Ende zum Kreis: Marcel wird jenen Roman schreiben, dessen Lektüre der Leser gerade im Begriff steht, zu beenden.
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SHAKESPEARE Shakespeare hat den Sprung ins 21. Jahrhundert geschafft. Der große englische Dichter aus der Zeit Elisabeths I. hat die Hürde der Mediengesellschaft locker genommen. Shakespeare ist der am häufigsten verfilmte Autor in Hollywood. Und das ist doch wirklich ein Wunder, denn seine Dramen waren ursprünglich für ein Publikum geschrieben, das weder lesen noch schreiben konnte - geschweige denn wusste, wo Amerika liegt. Wer hat noch nie einen Liebesfilm gesehen, der tragisch endet? Oder ein Eifersuchtsdrama? Oder einen Film über eine Familientragödie? Oder einen, in dem ein umwerfend attraktiver Held einen Rachefeldzug gegen die Gesellschaft antritt? Die meisten Hollywoodfilme haben ihr Handlungsgerüst von Shakespeare abgeschrieben: Romeo und Julia gibt das Grundmuster für die tragische Liebesgeschichte vor, Othello für das Eifersuchtsdrama, König Lear für den Generationenkonflikt in der Familie, und Hamlet für jeden amerikanischen Actionfilm, in dem ein intelligenter Held zum Rächer wird. Hamlet steht sogar auf Platz zwei der Liste der am häufigsten verfilmten Stoffe der Weltliteratur. (Auf Pla tz eins steht das Frau-steigt-auf-durch-den-Mann-Schema der Cinderella -Story wie in Pretty Woman.) Wer in der westlichen Kultur groß geworden ist, kennt Shakespeare, auch wenn er ihn nie gelesen hat. Was Shakespeare heute bedeutet, brachte bereits vor 200 Jahren -» Jane Austen auf den Punkt. »Shakespeare lernt man kennen, ohne zu wissen wie. ... Seine Gedanken und Schönheiten sind überall verstreut; man berührt sie überall; man ist instinktiv mit ihnen vertraut« (Mansfield Park, 1814). Irgendwie schnappt je der irgendwann mal etwas von Shakespeare auf. Die Beobachtung ist auch heute noch aktuell, und dabei ist es kein Zufall, dass sie vor zwei Jahrhunderten von einer Frau gemacht wurde. Im europäischen Bildungssystem um 1800 war es für Frauen genauso wahrscheinlich, Shakespeare zu lesen, wie für die meisten Schüler im 21. Jahrhundert - genauer gesagt: es war eher unwahrscheinlich. Aber trotzdem streift man Shakespeare in der - 261 -
heutigen Kultur genauso häufig und beiläufig wie vor 200 Jahren und vermutlich meistens, ohne zu wissen, dass man es tut: Titanic ist eine Romeo-und-Julia -Verfilmung, eine internationale Modefirma wirbt mit einem Shakespearezitat, und wer kennt nicht mindestens eines der folgenden „geflügelten Worte »Die ganze Welt ist eine Bühne«, »Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage«, »viel Lärm um nichts«, »mit einem lachenden und einem weinenden Auge«, »es ist etwas faul im Staate Dänemark«, »das ist der Anfang vom Ende« oder »last not least«? Alles Shakespeare. Shakespeare ist ein Name der Superlative: Kein Dichter wird häufiger gelesen, zitiert, übersetzt, aufgeführt, verfilmt, vertont und erforscht. Längst haben auch die außereuropäischen Kulturen Shakespeare für sich entdeckt und selbstbewußt auf die Erfordernisse der eigenen Kultur zugeschnitten. Shakespeares Dramen sind in über 80 Sprachen übersetzt. Wer möchte, kann beispielsweise Hamlet auch in Jakut lesen, der Sprache des Nomadenvolks aus dem nordöstlichen Sibirien. Shakespeare kennt keine Grenzen. Er ist Hochkultur und Popkultur. Er ist der Klassiker der großen Staatstheater und der Laienspielgruppen, er fasziniert Feministinnen ebenso wie die Vertreter des konservativen Kultur-Establishments, und er animiert das Bildungsbürgertum zu würdevoller Besinnlichkeit genauso, wie er Arnold Schwarzenegger dazu bringt, action zu machen - wie im Film The Last Action Hero, in dem Hamlet einen Auftritt hat. Shakespeare ist im 2I.Jahrhundert angekommen. Er gedeiht in den modernen Medien: Er füllt die Kinos, kassiert Oscars (Shakespeare in Love) und dient einer Internet-Suchmaschine dazu, mit dem stellvertretenden Suchwort „Shakespeare“ für ihre Leistungsfähigkeit zu werben. Shakespeare überlebt im Klima des Multikulturalismus, weil Othello oder -» Der Sturm für ein Studententheater in Hildesheim genauso spannend sind wie für eine experimentelle Bühne in Kapstadt. Shakespeare erträgt sogar die Vielfalt der Möglichkeiten im wissenschaftlichen Betrieb und inspiriert Literaturwissenschaftler an vorderster Theoriefront genauso wie die tapferen Fackelträger der Literaturkritik des 18. Jahrhunderts.
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Das Leben So unerschöpflich wie Shakespeares Dramen ist sonst nur noch die Mythenbildung um das Leben des großen Dichters. Shakespeare ist ein großer Unbekannter. Wer eine Biographie über den elisabethanischen Dichter schreiben möchte, kann sich auf eine Handvoll mehr oder weniger gesicherter Fakten berufen. Ansonsten muß er sich von einer Hypothese zur nächsten hangeln. Alles, was man über Shakespeare mit einiger Sicherheit sagen kann, ist dies: Er war der Sohn eines Handschuhmachers aus Stratford, heiratete achtzehnjährig die acht Jahre ältere Anne Hathaway, wurde Vater von zwei Töchtern und einem Sohn und vermachte seiner Frau in seinem Testament merkwürdigerweise sein »zweitbestes Bett«. Zur Vervollständigung der Daten tragen einige juristische Dokumente aus London bei, auf denen man mit einiger Phantasie und viel gutem Willen die Unterschrift Shakespeares erkennen kann. Und als sei das alles nicht schon schlimm genug, existiert nur ein einziger Kommentar aus der Feder eines Zeitgenossen, der von Shakespeares Existenz zeugt: Es handelt sich um den gehässigen Seitenhieb eines alkoholkranken Dramatiker-Kollegen, der Shakespeare als Plagiator beschimpft ... Für einen Biographen ist das Nichtvorhandensein von Quellen natürlich eine Katastrophe. Oder aber ein gefundenes Fressen! -Was hat man Shakespeare nicht alles angedichtet, seit man im 19. Jahrhundert begann, seine Biographie zu schreiben: Da sollte Shakespeare ein Dorfschullehrer gewesen sein oder ein Soldat, der in den Niederlanden gekämpft hat. Vielleicht war er ein Experte des Gartenbaus oder ein Jurist, oder gar ein Arzt? War er etwa für Ihrer Majestät Königliche Marine zwangsrekrutiert worden? Immerhin hatte diese Version den Vorteil, dass der große Shakespeare dann an der größten Seeschlacht der englischen Geschichte - der Vernichtung der spanischen Armada - mitgewirkt haben würde. Andererseits hatte auch die Hypothese, Shakespeare habe mit Francis Drake die Erde umsegelt, ihren unleugbaren Reiz. Beliebt war auch die Anekdote, der zufolge der junge Shakespeare als Wilderer erwischt worden war und - 263 -
nach London flüchten mußte. Dort habe er dann den Weg zur Bühne gefunden, als er, um sich Geld zu verdienen, als Pferdehalter vor den Theatern jobben mußte. Als die Wilderer-Anekdote zu Beginn des 18. Jahrhunderts erfunden wurde, entsprach sie ziemlich genau der zeitgenössischen Vorstellung von einer unterhaltsamen Romanhandlung. Shakespeare erweist sich in seinen Dramen als Experte auf so unermesslich vielen Gebieten, dass Biographen schnell auf den Gedanken kamen, dieses Werk habe unmöglich der Sohn aus der Provinz schreiben können, der auf der örtlichen Volksschule lediglich holpriges Latein beigebracht bekommen hatte. Shakespeare weiß alles. In seinen Schauspielen beweist er, dass es nichts gibt, was er nicht kennt: europäische Geschichte, italienische Kultur, Jagen und Falknerei, Seefahrt, Rechtsprechung, Gartenbau, das Leben am Königshof, Musik, Malerei, Wappenkunde, die Indianer Südamerikas, Astronomie, Freimaurer, die Bibel, Medizin, Angeln usw. usw. usw. War Shakespeare also gar nicht der Shakespeare aus Stratford? Da sich kaum etwas über Shakespeares Leben stichhaltig beweisen läßt, konnte man auch alles andere behaupten: War der Dramatiker, der alles wusste, in Wirklichkeit der Universalgelehrte Francis Bacon? War er ein Mitglied des Hochadels - zum Beispiel der Earl of Oxford? Verbarg sich hinter dem Dichter gar das Pseudonym der großen Königin Elisabeth II.? Schrieb der Verfasser der Anatomie der Melancholie Robert Burton heimlich Theaterstücke unter dem Namen „Shakespeare“? Oder inszenierte der hochtalentierte englische Dramatiker Christopher Marlowe, der ständig mit dem Gesetz in Konflikt kam, seine Ermordung, um alias „Shakespeare“ in Ruhe weiter dichten zu können? Insgesamt stehen 24 Einzelkandidaten zur Auswahl - hinzu kommen noch diverse Versionen, in denen „Shakespeare“ der Deckname einer Geheimorganisation sein soll. Die Kontroverse um die Frage „Wer war Shakespeare wirklich?“ wurde seit ihren Ursprüngen im 19. Jahrhundert mit großer Erbitterung geführt. Die Grenzen des Anstands und des guten Geschmacks waren schneller überwunden als das Problem, dass jede These auf wackeligen Füßen stand. Gegner der Behauptung „Shakespeare war Bacon“ sahen sich bestätigt, als deren - 264 -
Befürworterin, die verdächtigerweise auch noch Delia Salter Bacon hieß, ihr Leben in geistiger Umnachtung beschloss. Und was dem Verfechter der Annahme „Shakespeare war Oxford“ von seilen seiner Widersacher blühte, kann man nur erahnen: John Thomas Looney hieß der arme Kerl, der den Earl of Oxford für Shakespeare hielt - und „loony“ heißt zu deutsch: »Bekloppter«. Bis heute ist die Shakespeare-Biographie ein buntes Feld geblieben, das der Fremdenverkehrsverband in Stratford argwöhnisch beäugt. Immerhin schleust der „Verein zur Erhaltung des Geburtsortes von Shakespeare“ jährlich über eine Million Touristen durch ein paar alte Häuser, die mit Shakespeare nicht wirklich etwas zu tun haben - und verdient viel Geld dabei. Sollte sich herausstellen, dass Shakespeare in Mailand oder Maidstone geboren wurde, würde das den Zusammenbruch der Infrastruktur einer ganzen Region bedeuten, die jetzt vom Shakespeare-Tourismus lebt. Nicht zuletzt hat Shakespeare den Sprung ins 21. Jahrhundert geschafft, weil er nicht nur Kultur ist, sondern auch ein Wirtschaftsfaktor. Mit Shakespeare läßt sich Geld machen: in Stratford, in Hollywood, in den Theatern der Welt und in der Werbung.
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Die Stücke Shakespeares Bühnenstücke werden in vier Gattungen unterteilt: die Tragödien (wie Hamlet), die Komödien (wie Was ihr wollt), die Historien (wie Heinrich IV.) und die Romanzen (wie Der Sturm). Am Ende einer Tragödie sind alle tot, am Ende einer Komödie sind alle verheiratet, am Ende einer Historie wird jemand gekrönt und jemand anderes dafür getötet, am Ende einer Romanze wird alles gut, und davor war auch schon alles unwahrscheinlich. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entdeckte die deutsche Intelligenz einen Seelenverwandten: Hamlet (1601). Der dänische Prinz wurde zum Idol einer ganzen Generation junger bürgerlicher Männer auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Besorgte Stimmen sprachen von einem regelrechten „Hamletfieber“, dem die bereits zuvor durch das Werthervirus geschwächte Jugend nun anheim gefallen war (-»Die Leiden des jungen Werthers). Der tiefgründige Hamlet spiegelte das eigene Lebensgefühl der Generation zwischen Aufklärung und Romantik: den Weltschmerz. Die geistige Elite geheimniste Eigenschaften in die Figur hinein, die sie vor allem an sich selbst wahrnehmen konnte: die Zerrissenheit zwischen Denken und Handeln, Innen und Außen, „Menschsein“ und Zivilisation. Für die kritischen Grübler aus der Zeit des Umbruchs sah Hamlet aus wie einer von ihnen: hin- und hergerissen zwischen Weltflucht und planlosem Tatendrang. Die Verklärung der Hamlet-Figur zum melancholischen Zweifler geschah maßgeblich durch die Hamletinterpretation in Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96). Darin verbreitet sich der Titelheld Wilhelm unermüdlich über den Charakter der Shakespeareschen Gestalt. Er steigt der Figur bis in die letzten Windungen ihrer Seelenregungen nach und erfindet dabei einen Hamlet, der zur Ikone des romantischen Weltgefühls taugt. Wilhelms Hamlet ist ein in sich zerrissener und von Selbstzweifeln geplagter Einzelgänger, der zur Tat schreiten will und es nicht kann, weil er sich selbst das größte Hindernis ist. - 266 -
Wilhelm Meisters bzw. Goethes Version hat die gesamte HamletRezeption des 19. Jahrhunderts nachhaltig geprägt. Und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in England, weil der englische Dichter und einflußreichste Shakespeare-Kritiker seiner Zeit, Samuel Taylor Coleridge, Goethes Roman im Reisegepäck von seiner Studienzeit in Göttingen mit zurück nach England brachte. Bis heute ist „Hamlet der Zauderer“ der Klassiker unter den Interpretationen. Sie wird immer noch beharrlich deutschen und englischen Schulkindern beigebracht. Dabei hätte Hamlet wirklich etwas Besseres verdient. Denn bei genauem Hinsehen ist Hamlet eine der attraktivsten, lebendigsten, witzigsten und intelligentesten Gestalten der Weltliteratur. Hamlet ist der junge dänische Prinz, dem um Mitternacht der Geist seines Vaters auf den Zinnen der Burg von Elsingor erscheint. Der geisterhafte Vater eröffnet Hamlet, er sei von seinem Bruder Claudius ermordet worden, und fordert ihn auf, das Unrecht zu rächen. Wenn der Geist recht hat, würde das bedeuten, dass der jetzige König Claudius (Hamlets Onkel) den Thron durch ein Verbrechen an sich gebracht hat. Zu allem Übel okkupiert König Claudius nun noch die Witwe seines Bruders, Gertrude (also Hamlets Mutter), und heiratet sie. Hamlet kann sich nicht sofort entscheiden, Rache zu nehmen. Er mimt statt dessen aus taktischen Gründen den Wahnsinnigen und inszeniert ein Theaterstück („Die Mausefalle“), das Claudius der Tat überführt. Im Affekt will Hamlet nun Claudius erstechen, erwischt aber aus Versehen den Hofbeamten Polonius. Durch eine tragische Verkettung gegenseitiger falscher Unterstellungen treibt Hamlet seine Geliebte, Ophelia, in den Selbstmord. Ophelias Bruder Laertes will sich an Hamlet rächen. Er verabredet mit König Claudius, Hamlet in einem Duell zu töten. Die Tragödie endet mit einer von Leichen übersäten Bühne. Hamlet ist eine so komplexe Figur, dass jede Zeit sich aufgefordert fühlt, an ihr zu überprüfen, wie intelligent sie selber ist. Jede Zeit testet ihre besten Theorien und thematisiert ihren eigenen Zeitgeist an Hamlet. Der zweite große Klassiker der Hamlet-Interpretationen stammt aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie probierte die einflußreichste Theorie der Moderne an dem ahnungslosen - 267 -
Dänenprinzen aus: die Psychoanalyse. Hamlet landete auf der Couch und bekam einen Ödipuskomplex diagnostiziert. Warum zögert Hamlet so lange, den Tod seines Vaters zu rächen? Nicht, weil er ein unentschlossener Grübler ist, sondern weil ihn ein Schuldkomplex quält. Denn freudianisch gesprochen war der frühkindliche Hamlet in seine Mutter verliebt gewesen, hatte seinen Vater als Rivalen angesehen und sich immer schon heimlich gewünscht - jener möge sterben. Nun, da Claudius für den Tod des Vaters gesorgt hatte, kamen die verdrängten Erinnerungen mitsamt Schuldgefühlen hoch und hinderten Hamlet zu tun, was getan werden mußte. - Eine Zeitlang klang das sehr plausibel. Die neueste und modernste Hamle t-Interpretation erklärt die Unentschiedenheit des dänischen Prinzen als logisches Problem und testet dabei die Erkenntnistheorie auf dem Stand des 21. Jahrhunderts. Sie entdeckt Paradoxien und ist - wie sich das bei der Rekonstruktion logischer Probleme nicht vermeiden läßt - ebenso spitzfindig wie faszinierend. Sie besagt: Hamlet, diese Intelligenzbestie, kann nicht handeln, weil er viel zu viel durchschaut und sich dadurch selber lahm legt. Hamlet ist so unerschöpflich, dass man alles mit ihm machen kann. Im Jahr 2000 wurde Hamlet „hip“. Die jüngste Verfilmung von Michael Almereyda befreite das Drama mit erfrischender Hemmungslosigkeit von alteuropäischem Bildungsmief und verlegte Schloß Elsingor in das heutige New York. Jung-Star Ethan Hawke spielte Hamlet und trug, wie ein Rapper, ständig eine Wollmütze, Ophelia erschien im bauchnabelfreien T-Shirt, der Geist verschwand in einem Pepsi-Getränkeautomat, der Soundtrack spielte Chill-out, Hamlet war Videofilmer und sprach seinen großen Monolog »Sein oder Nic htsein«, während er zwischen den Regalen einer Videothek auf und ab ging. Hamlet, willkommen in der Mediengesellschaft! So attraktiv wie Hamlet ist sonst bei Shakespeare nur noch der kühle Stratege Hai (Prinz Heinrich) aus dem Historie ndrama Heinrich IV (1.Teil 1596/97, 2. Teil 1597/98). Aber vermutlich hat niemand unter den Shakespeare-Lesern mit durchschnittlicher Kenntnis des Werks je etwas von Hai bzw. Prinz Heinrich gehört. Dass Hai immer übersehen wird, ist kein Wunder, steht er doch im Schatten der (im wahrsten Sinne des Wortes) gewichtigsten Figur bei Shakespeare: Falstaff, dem - 268 -
Säufer mit dem fetten Bauch. Falstaff ist die populärste Figur Shakespeares. Die männlichen Literaturkritiker und -Wissenschaftler lieben Falstaff, weil er so vital ist; die englische Volkskultur ehrt Falstaff mit Nippesfiguren und Kneipenschildern, und der italienische Komponist Verdi schrieb ihm zu Ehren eine Oper. Falstaff sprüht vor Energie und Vitalität. Er verkörpert den Körper. Der kugelrunde Falstaff ist eine Welt für sich. Nichts wird hier mit gewohntem Maß gemessen - wie sollte das auch möglich sein, wo doch Falstaffs tonnenförmige Leibesmitte alles sprengt. Dort, wo Falstaff herumpoltert, herrscht fröhliche Anarchie. Hier wird hemmungslos gefressen und gesoffen und - falls dann noch was geht - gehurt. Hier werden aus dem Stegreif irgendwelche Geschichten erzählt - unabhängig davon, ob sie stimmen oder nicht. Hauptsache, es handelt sich um gute Geschichten. In Falstaffs Welt ist das Leben ein Fest. Der Alltag ist ein ewiges, lustiges Spiel mit vertauschten Rollen. Falstaffs Welt liegt jenseits der Normalität. Sie sprengt alle Grenzen, wie Falstaffs Wampe die Nähte seiner Jacke nach einem anständigen Gelage. Falstaff ist der Karneval, der die Welt auf den Kopf stellt. Falstaff ist außerdem ein Meister der Dramaturgie. Als solcher wird er Hals Lehrer, denn Hai, der spätere König Heinrich V, lernt von ihm, was man wissen und können muß, um regieren zu können. Die Schule, die er dabei besucht, hat nichts mit dem zu tun, was man sonst unter Fürstenausbildung versteht. Hai besucht Falstaffs Kneipen. Hier beobachtet er nicht nur seine späteren Untertanen, sondern erhält durch Falstaff auch die eine und andere Lektion in strategischer Gesprächsführung. Dass Kalkül und Taktik zum Zweck des Machterhalts höchst nützlich sein konnten und dass ein Regierender beides beherrschen mußte, konnte man seit Machiavelli wissen. Hai lernt seine Lektion: Als er am Ende des zweiten Teils des Dramas der neue König geworden ist, verstößt er seinen alten Saufkumpan Falstaff. Er weiß, dass er sich als Herrscher keine Trunkenbolde als Freunde und schon gar nicht Sentimentalität leisten kann. Ein Herrscher, der an seiner Sentimentalität zugrunde geht, ist König Lear (1605/06) aus der gleichnamigen Tragödie. Lear begeht den größten Fehler, den ein Herrscher begehen kann: Er versucht, sich - 269 -
seine Macht durch Liebe bestätigen zu lassen. Lear ist alt. Er hat genug vom Regieren und möchte sein Reich nun unter seinen drei Töchtern Goneril, Regan und Cordelia aufteilen. Diejenige, die ihre Zuneigung zum Vater in den leuchtendsten Farben ausmalen kann, soll den größten Anteil des Reichs bekommen. Goneril und Regan sind hemmungslos genug, ihrem Vater den Gefallen zu tun, und schmeicheln ihm ungeniert. Cordelia, die als einzige ihren Vater aufrichtig liebt, drückt ihre Gefühle in schlichten Worten aus. Der eitle Lear ist enttäuscht und enterbt seine jüngste Tochter, während er sein Reich unter den beiden älteren aufteilt. Goneril und Regan demonstrieren ihre neue Macht, indem sie ihren Vater so gut wie entmündigen. Von nun an verliert Lear alles, was er je hatte: seine Macht, seine Gefolgschaft, seine militärische Befehlsgewalt, seinen Besitz, seine Kle ider und schließlich seinen Verstand. Lears Tiefstand ist erreicht, als der alte wahnsinnige Mann - in einer der pathetischsten Szenen des gesamten Theaters - in Begleitung seines Hofnarren über eine sturmgepeitschte Heide stolpert. Die Szene hat noch heute eine gewaltige Wirkung. Auch wer die Ordnungsvorstellungen des Weltbilds des 16. Jahrhunderts nicht kennt, wird verstehen, dass es sich hier um die düstere Vision von der Welt im Chaos handelt: Die Natur ist in Aufruhr, weil ein ehemals mächtiger Herrscher auf seine bloße menschliche Existenz reduziert worden ist. König Lear ist eine finstere Tragödie, in der sich das Schauerliche immer am Rande des Grotesken bewegt. Nach Lears Fehlentscheidung gibt es keine Hoffnung auf ein gutes Ende. Lears Töchter sterben, ebenso wie ihr Vater, der gramgebeugt seine frühere Blindheit erkennt. Ausgerechnet sein Wahnsinn hat Lear hellsichtig werden lassen: Er mußte erst seinen Verstand verlieren, um erkennen zu können. In König Lear ist die Welt auf den Kopf gestellt: Die Kinder regieren den Vater, der König wird zum Narren, der Narr ist im Besitz der Weisheit, der Idiot fuhrt den Blinden, und im Wahnsinn liegt das Wissen. Lears Scheitern ist von so gigantischem Ausmaß, dass es Achtung einflößt. Mit einer Blindheit ganz anderer Art ist ein weiterer großer - 270 -
Shakespeare-Charakter geschlagen: Othello ist blind vor Eifersucht (1603/04). Der Schwarze Othello, ein hochdekorierter General, hat die Venezianerin Desdemona geheiratet. So sehr die beiden ihre Hautfarbe unterscheidet, so sehr verbindet sie ihre gegenseitige Liebe. Im Paradies des Eheglücks naht der Teufel in Gestalt des Schurken Jago. Er gehört zu jenen hochintelligenten Bösewichtern der Weltliteratur, die in ihrer abgrundtiefen Verworfenheit noch so brillant sind, dass sie genauso faszinieren wie die großen Helden. Der ehrgeizige Jago fühlt sich von Othello benachteiligt. Aber die Intrige, die Jago aus Rache anzettelt, steht in keinem Verhältnis zum Gefühl seiner angeknacksten Eitelkeit. Das, was Jago nun in Gang bringt, scheint allein von dem Wunsch beseelt zu sein, in möglichst kurzer Zeit mit möglichst wirksamen Mitteln so viele Personen wie möglich zu Schaden kommen zu lassen. Jagos perfider Plan besteht darin, Othello das Kostbarste zu zerstören, was er besitzt: seine Liebe zu Desdemona und sein Vertrauen in ihre Liebe zu ihm. Jago will Othello durch Eifersucht zerstören. Er will ihm weismachen, Desdemona betrüge ihn mit einem anderen. (Für die Rolle des vermeintlichen Liebhabers hat Jago übrigens seinen Rivalen Cassio vorgesehen, den er also in die Affäre mit hineinzieht, um ihn ebenfalls zu vernichten.) Der hinterhältige Intrigant geht mit großem Manipulationsgeschick ans Werk. In kürzester Zeit hat Jago mit klugen Schachzügen die Szenerie entworfen und hält nun sämtliche Fäden in der Hand. Othello, Cassio, Desdemona und Jagos eigene Frau spielen mit, ohne die leiseste Ahnung zu haben, dass sie Teil eines hinterlistigen Doppelspiels sind. Jago schürt so lange Othellos Misstrauen, bis dem ernsthafte Zweifel an Desdemonas Treue kommen müssen. Am Ende tötet Othello - der vor Eifersucht nichts mehr klar sieht - Desdemona und bringt sich dann selber um, als er (zu spät) erkennt, dass seine Frau ihn nie betrogen hat. Im krassen Gegensatz zur überwältigenden Tragik der Handlung steht das geradezu lächerliche corpus delicti, von dem alles abhängt: Desdemonas Taschentuch. Jago hat es Cassio untergejubelt, um Othello den sichtbaren Beweis für das zu erbringen, was sich partout nicht sichtbar machen läßt, weil es eben aus der Luft gegriffen ist. So ist die ganze Handlung von der Frage bestimmt: Wo ist gerade das - 271 -
Taschentuch? Für Othello wird es zum Sinnbild für Desdemonas Ehebruch. Je öfter es Othello unter die Augen - bzw. in den Sinn kommt, desto größer wird seine Gewißheit, seine Frau habe ihn betrogen. Mit anderen Worten: Je öfter Othello das Taschentuch sieht, desto öfter sieht er etwas, was gar nicht existiert. Othello ist das Eifersuchtsdrama per se, weil es den paradoxen Mechanismus der Eifersucht durchleuchtet: Eifersucht macht blind, weil man etwas sieht, das gar nicht existiert. Auch die Liebe macht bekanntlich blind. Um so mehr, wenn man ein Liebesgift auf die Augenlider geträufelt bekommen hat, das einen mit blinder Lust benebelt. So geschieht es der Elfenkönigin Titania in der Komödie Ein Sommernachtstraum (1595). Titania und ihr Ehemann, der Elfenkönig Oberon, hatten einen Ehekrach. Um Titania zu zeigen, wer der Herr im Haus (bzw. im Wald) ist, hat Oberon seinen dienstbaren Geist, Puck, damit beauftragt, seiner Frau im Schlaf das besagte Liebesgift zu verabreichen. Es wird dafür sorgen, dass Titania sich nach dem Erwachen in das erstbeste Wesen verliebt, das ihr dann über den Weg läuft. Fürchterlicherweise ist das ein Esel. Genauer gesagt ist es der in einen Esel verzauberte Weber Bottom, dessen fragwürdige Schönheit die beduselte Titania nun förmlich blendet. Da der Esel nicht nur ein sehr unedles Tier ist, sondern seit der Antike auch als Sinnbild für Potenz galt, ist ziemlich klar, worauf die Affäre zwischen der Elfenkönigin und dem Esel alias Bottom hinausläuft: auf ein sodomitisches Verhältnis, aus dem Titania zutiefst beschämt und Bottom zutiefst verwundert erwachen. Shakespeares Komödie entfuhrt in einen Zauberwald, der von reizenden Elfen bevölkert ist und in dem merkwürdige Kobolde ihre Spaße treiben. In der Nacht, in der Puck mit seinem Liebesgift unterwegs ist, dreht sich alles um eines: verbotene Gelüste. Titanias Liebesvergiftung ist erst der Auftakt zu einer Beinahe-Sexorgie, in deren Verlauf die beiden Liebespaare Demetrius/Helena und Lysander/Hermia unter anderem Sex zu dritt und Partnertausch in Betracht ziehen. Der Sommernachtstraum, den Shakespeares Liebespaare träumen, ist jener, aus dem die europäische Kultur 300 Jahre später jäh erwacht: - 272 -
Im Jahre 1900 nämlich, in dem Sigmund Freud erklärt, dass wir unsere Träume beobachten müssen, um unsere geheimsten Lüste und Wünsche sehen zu können. Um Sex geht es immer auch in Shakespeares Komödien - um „Sex“ im Sinne von „Geschlecht“, wie die englische Bedeutung des Wortes unter anderem lautet. In den Komödien geht es um Liebe und um die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Dabei wird häufig eine dramaturgische Finesse verwendet: die „Hosenrolle“. Das ist gemeint, wenn eine Frauenrolle die Verkleidung als Mann vorsieht. Auf der Bühne der Shakespeare-Zeit wurden alle Rollen (auch die der Frauen) von Männern gespielt. Wenn dann eine Frauen-Rolle, wie im Fall von Viola in der Komödie Was ihr wollt (1600/01), die Verwandlung in einen Mann vorsah, sahen die Zuschauer einen Mann, der eine Frau spielt, die einen Mann spielt. Das klingt verwirrend und das sollte es auch sein. Denn natürlich dient der Geschlechtertausch dazu, allerhand Verwechslungen herbeizuführen. Er sorgt dafür, dass eine Weile das Chaos unter den Liebespaaren ausbricht, bevor sich die Komplikationen im Wohlgefallen der erlösenden Hochzeiten am Happy End auflösen. Die vornehme Viola hat gerade einen Schiffbruch überlebt und beschließt, sich als Mann zu verkleiden, um als Page „Cesario“ an den Hof des Herzogs Orsino zu gehen. Prompt verliebt sie sich in ihren Herrn. Der aber liebt Olivia, die jedoch nichts von ihm wissen will. Olivia verliebt sich nämlich in „Cesario“ (alias Viola)! Liebeskandidat Nummer vier ist Violas totgeglaubter Zwillingsbruder Sebastian, der natürlich doch noch lebt und genauso aussieht wie Vio la und der nun ständig mit Viola/Cesario verwechselt wird, während Viola/Cesario für Sebastian gehalten wird. Der Effekt der Hosenrolle sind homoerotische Flirtszenen: Olivia flirtet mit Viola/Cesario, weil sie glaubt, sie/er sei ein Mann; und in Wie es euch gefällt bemüht sich Orlando mit der Intuition wahrer Liebe um den Jüngling Ganymed, weil sich hinter dessen Verkleidung seine Geliebte Rosalind verbirgt. Natürlich gelingt Shakespeare das Kunststück, diese verzwickte Konstellation so auf die Bühne zu br ingen, dass sie zwar verwirrend ist, aber niemals verworren. - 273 -
Zusätzlichen Pep erhält Was ihr wollt durch die Bemühungen des humorlosen Hofbeamten Malvolio, der es in einem Anfall von Selbstüberschätzung auf seine Herrin Olivia abgesehen hat. Zur (Schaden-) Freude aller Anwesenden (einschließlich des Theaterpublikums) wird der eingebildete Malvolio zur Strafe einer herben Demütigung unterzogen. Er macht sich zum Gespött des Hofes, als er seiner Angebeteten mit gekreuzten Sockenhaltern über gelben Strümpfen entgegentritt. Die findet das - anders als Malvolio erwartet - nicht betörend, sondern idiotisch und glaubt, Malvolio hätte den Verstand verloren. Deshalb wird er zum Spaß einer höchst entwürdigenden „Heilung“ unterzogen, die im wesentlichen daraus besteht, ihn in eine dunkle Kammer zu sperren und dort zu vergessen. Malvolio, der Spaßverderber mit selbstgerechtem Überlegenheitsgefühl, ist Shakespeares Verkörperung eines Puritaners. Shakespeare verfährt gnadenlos mit ihm, und das ist kein Wunder. Denn die sittenstrengen Puritaner waren die entschiedensten Feinde der Theaterkultur um 1600. So unsympathisch wie Malvolio ist auch Shakespeares Shylock aus der Komödie Der Kaufmann von Venedig (1596/97). Er ist eine der berühmtesten Verkörperungen eines Juden in der Weltliteratur. Shylock ist übrigens nicht mit dem „Kaufmann von Venedig“ gemeint. Der Titelheld ist Antonio, ein etwas schwermütiger junger Mann und der beste Freund eines gewissen Bassanio. Bassanio braucht Geld, um Porzia heiraten zu können. Antonio beweist Bassanio seine Freundschaft, indem er ihm Geld leiht. Allerdings ist Antonios Vermögen gerade in Form von Waren auf hoher See unterwegs, und deshalb muß er selber einen Kredit aufnehmen. Er wendet sich deshalb an den Wucherer Shylock, der Geld gegen Zins verleiht. Darin unterscheidet er sich von Antonio, für den das Verleihen von Geld ein Freundschaftsdienst ist, der nicht der Bereicherung dient. Entgegen seinen Prinzipien ist der Jude bereit, Antonio 3000 Dukaten zur Verfügung zu stellen, ohne Zinsen dafür zu nehmen; allerdings verlangt er eine Sicherheit. Shylock kommt auf die perfide Idee, Geld gegen Menschenfleisch einzutauschen, und fordert ein Pfund von Antonios hellem Fleisch, falls Antonio seine Schulden bis in spätestens drei Monaten nicht bezahlen kann. Antonio glaubt nicht, Shylock könne das ernst meinen, und läßt sich auf den Handel - 274 -
ein. Als Antonios Schiffe (scheinbar) untergegangen sind und er seine Schulden nicht bezahlen kann, wetzt Shylock schon das Messer. Er besteht auf der Einhaltung der Abmachung - auch wenn er mit dem Fleisch Antonios nicht viel mehr anfangen kann, als Fische damit zu ködern. Auf der folgenden Gerichtsverhandlung taucht Porzia auf (die sich als Richter verkleidet hat) und kann Antonio durch einen Trick in der Rechtsauslegung in letzter Sekunde retten. Shylock wird dazu verurteilt, die eine Hälfte seines Vermögens an Antonio abzutreten, während er die andere behalten darf, sofern er zum Christentum übertritt. Für Shakespeares Theaterpublikum im 16. Jahrhundert war ziemlich klar, von welcher Körperstelle das Pfund Fleisch abgeschnitten werden würde: Shylock hat es auf Antonios Männlichkeit angesehen. „Flesh“ (Fleisch) war im elisabethanischen Englisch eine Zote für das männliche Genital. Und wenn die Rede davon ist, dass ein Jude einem Christen „ein Pfund Fleisch“ abschneiden wolle, würden die meisten Zeitgenossen an den jüdischen Ritus des Beschneidens denken. Im Bewusstsein der meisten christlichen Zeitgenossen kam das einem Akt der Kastration gleich. Ist Shylock, der Wucherer, ein bösartiger Jude? Ist Antonio, der gutmütige Freund, die Verkörperung der christlichen Tugend der Brüderlichkeit? Ist Shakespeares Drama antisemitisch? Oder ist es eine Kritik am Antisemitismus? Die Frage läßt sich nicht ohne weiteres beantworten. Zwar sagt Shylock in einer berühmten und bewegenden Rede, er habe das Recht, so behandelt zu werden, wie alle anderen Menschen auch, aber zugleich spielt Shakespeare in dem Stück mit den heimlichen Ängsten seines Publikums und bediente dessen Antisemitismus. Im England des 16. Jahrhunderts war Antisemitismus, wie überall in Europa, fest im Denken der meisten Christen verankert. Bevor die Aufklärung das Bewusstsein für einen gemeinsamen Nenner „Menschlichkeit“ schuf und die ganze Menschheit zu Brüdern erklärte (Lessing), hinderte nichts den Großteil der christlichen Bevölkerung daran, Mythen zu glauben wie jene, dass Juden Brunnen vergiften, Kannibalismus betreiben oder gar christliche Kinder schlachten. Shakespeares Komödie über den Juden Shylock entstammt dieser Kultur. Das Bemerkenswerte ist aber, dass das Stück auf höchst komplexe Art sämtliche Vorurteile des - 275 -
Antisemitismus verdichtet: den angeblichen „Geiz“, „Wucher“, „Kannibalismus“ (symbolisiert als Abschneiden des Fleisches), die „Rechthaberei“ und das „Außenseitertum“ der Juden - und am Ende immer noch offen läßt, was über Shylock eigentlich zu denken ist. Macbeth gehört zu den Tragödien, die Shakespeare den Ruf eingebracht haben, in seinen Dramen fließe das Blut nur so in Strömen. In Macbeth geht der Titelheld förmlich über Leichen und mutiert vom tapferen Feldherrn zum König von Schottland. Der fatale Auslöser für die Kaskade der Gewalt, die auch unschuldige Frauen und Kinder nicht verschont, ist eine uneindeutige Prophezeiung von drei Hexen, der Macbeth seine eigene Auslegung gibt: Er glaubt, das Schicksal habe ihn zum König bestimmt. Animiert durch seine Ehefrau, die berühmt-berüchtigte Lady Macbeth, ermordet Macbeth daraufhin den rechtmäßigen König und macht sich damit eines entsetzlichen Verbrechens schuldig. Lady Macbeths Ehrgeiz übertrifft noch den ihres Mannes. Vor allem hat sie weniger Skrupel. Aber weil sie sich - wie sie in ihrem berühmten Monolog phantasiert - eben nicht „entweiben“ kann, bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihren eigenen Ehrgeiz auf ihren Ehemann zu projizieren. Der Königsmord entpuppt sich als unselige Tat, die weitere Katastrophen nach sich zieht. Macbeth plagen die Zweifel und Ängste, Lady Macbeth verliert über der Tat den Verstand. Eine der berühmtesten Szenen aus Shakespeares Dramen ist die Szene, in der sie schlafwandelnd versucht, ihre mit symbolischem Blut befleckten Hände zu reinigen. Das Unrecht bleibt aber an ihr haften, denn es gibt keinen „sauberen Weg“, auf dem man auf unrechtmäßige Weise an die Macht kommen kann. Der Sturm, der Shakespeares Romanze (1611) ihren Namen gab, war in Wirklichkeit ein Hurrikan. Shakespeare war zu dem Stück durch den Bericht einer Schiffskatastrophe vor der Küste Amerikas inspiriert worden: 1609 hatte ein englischer Segler auf dem Weg nach Virginia Schiffbruch erlitten; zwei Jahre später tauchten die längst totgeglaubten Schiffbrüchigen an der Ostküste Nordamerikas wieder auf- sie hatten auf den Bermuda-Inseln mehr als ein Jahr lang als eine Art Robinson-Gesellschaft überlebt. In London war die Sensation bald - 276 -
in jedermanns Munde. Sie diente Shakespeare als Vorlage für die erste Szene der Romanze: Ein Schiff wird im Sturm auf eine Insel geworfen, auf der Prospero, der verbannte Herzog von Mailand, mit seiner Tochter Miranda lebt. Prospero praktiziert die Kunst der Weißen Magie (das ist die Zauberei, die guten Zwecken dient, im Unterschied zur teuflischen Schwarzen Magie). Das Wüten der Winde und des Wassers geht auf sein Konto: denn auf dem gestrandeten Schiff segelte Antonio, Prosperos Bruder, der ihm einst die Macht entrissen und ihn in die Verbannung geschickt hat. Nun hat Prospero dank seiner magischen Mächte den Spieß umgedreht und dafür gesorgt, dass Antonio samt den übrigen Schiffbrüchigen ihm ausgeliefert ist. Auf der Insel regiert Prospero mit den Mitteln der Zauberei. Dabei helfen ihm der Geist Ariel und der wilde Inselureinwohner Caliban. Sie erschrecken die Fremden, indem sie ihnen Trugbilder vorgaukeln, und versetzen sie in Angst, Verwunderung und Verzweiflung. Der Höhepunkt von Prosporos Zauberkunst ist die Aufführung eines wundersamen Schauspiels, das Prospero von seinen dienstbaren Geistern spielen läßt. Prospero ist ein großer Magier und ein Meister der Illusionserzeugung. Darin ähnelt der große Insel-Zauberer dem großen Zauberer des Theaters: seinem Erschaffer William Shakespeare, der sein Publikum seit 400 Jahren verzaubert.
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MODERNE In dem Zimmer ist es dämmrig. Das heruntergelassene Rollo und die zur Hälfte zugezogene Gardine dämpfen das gle ißende, weiße Sonnenlicht. Nur ein einziger, feiner Strahl geht durch einen Spalt auf das Marmorpodest, auf dem die große Azalee steht. Im fahlen Licht tanzt etwas Staub. Der Rest des Raumes liegt in würdevoller Ruhe: Dort ist die Ecke mit der rubinroten Ottomane, auf der sich die Ruhekissen mit chinesischen Motiven türmen, daneben die beiden prächtigen Ohrensessel in Ockergelb. In der gegenüberliegenden Ecke, auf dem schwarzglänzenden Flügel, stehen Chrysanthemen. Rechts, auf einer Säule aus geschnitztem Ebenholz, befindet sich eine Voliere mit einem Singvogel. Auf dem Kaminsims prangen eine goldene Uhr, ein silberner Pokal und zwei Engelsfiguren aus Messing, die Kerzen halten. Vor dem Kamin überdeckt ein imposantes Bärenfell einen Teil des purpurroten Orientteppichs. An den Zimmerwänden, die mit einer braunen Damasttapete bespannt sind, hängen historische Jagdwaffen, ein Geweih und eine große Weltkarte. Zwischen 1900 und 1915 kommt ein Entrümpelungsunternehmen und transportiert den ganzen Plunder ab. Jemand reißt die Tapeten von den Wänden und die Vorhänge von den Fenstern, möbliert den Raum mit drei funktionalen Sesseln aus Chrom, Leder und Holz, bebildert die Wand mit einem schwarzen Quadrat, öffnet die Fenster und verursacht fürchterlichen Durchzug. Die Moderne hält Einzug. In den Kulturwissenschaften unterscheidet man einen historischen Begriff „Moderne“ und einen ästhetischen Begriff „Moderne“. Die historische Moderne beginnt mit der Aufklärung im 17. Jahrhundert. Ihr Erbe aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Psychologie und Kultur reicht bis heute. Die ästhetische Moderne ist die von der Kunst ausgehende Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (ca. 1890-1930). Ihr Thema ist die komplette Veränderung der Wahrnehmungsweisen in der modernen Umwelt des 20. Jahrhunderts. Um die Moderne des 20. Jahrhunderts geht es in diesem Kapitel. - 278 -
Die Moderne ist der vollständige Bruch mit dem Bestehenden. Sie ist die Absage an das Tradierte und der Versuch der Neuformierung aller Werte. Seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird die westliche Kultur von so tiefgreifenden technologischen und kulturellen Veränderungen erschüttert, dass von nun an zwischen allem, was der Vergangenheit angehört, und allem, was modern ist, ein Graben liegt. Plötzlich kann man per Telefon mit Menschen sprechen, die sich meilenweit entfernt aufhalten, und man kann über Hunderte von Kilometern in Windeseile Nachrichten telegraphieren. Man kann mit dem Fahrrad und dem Auto Distanzen in einem Bruchteil der Zeit hinter sich bringen, die man zu Fuß oder mit dem Pferd dafür gebraucht hätte. Man hat endlich geschafft, die Luft zu erobern, und überquert mit dem gigantischen Luftschiff „Graf Zeppelin“ und klapprigen Flugzeugen den Atlantik. Man kann dank der Entdeckung von Röntgenstrahlen ins Innere des Menschen blicken, ohne der Oberfläche der Haut auch nur den kleinsten Kratzer zuzufügen. Man geht ins Kino und sieht dort parallel zum eigenen Leben eine andere Wirklichkeit in Bildern ablaufen. Man besteigt die Lifte in amerikanischen Wolkenkratzern und schießt innerhalb weniger Minuten Hunderte von Metern in die Vertikale. Die neuen Technologien lassen Distanzen schrumpfen und machen das Leben schneller. Und während so der Alltag täglich vor Augen führt, dass die Dimensionen von Raum und Zeit nicht mehr das bedeuten, was sie einmal bedeutet haben, bestätigt Albert Einsteins Relativitätstheorie, dass Raum und Zeit keine unverrückbaren Konstanten sind, sondern vom Standpunkt des Beobachters abhängen. Zur selben Zeit verändern sich auch alle Beziehungen der Menschen untereinander: die zwischen Männern und Frauen, Eltern und Kindern und Fremden und Bekannten. Frauen verlassen die Familie und gehen auf die Straße, um für ihre Rechte zu demonstrieren. Ihre Töchter ergreifen Berufe. Auf den Straßen der europäischen Großstädte kann man nicht länger auf den ersten Blick unzweifelhaft erkennen, welchen sozialen Rang ein Mann hat, indem man sich seine Kle idung ansieht. Das Straßenbild verwirrt den Betrachter jetzt durch die Unzahl vieler schwarzer, industriell gefertigter Anzüge „von der Stange“, hinter denen die Identität ihrer Träger mehr oder weniger - 279 -
versteckt bleibt. In den modernen öffentlichen Verkehrsmitteln, wie der Straßenbahn oder dem Omnibus, treffen wildfremde Leute auf engstem Raum aufeinander, die nichts miteinander zu tun haben. Die Benutzer der öffentlichen Verkehrsmittel lernen, sich mit Menschen einen Raum zu teilen und undurchschaubare Fremde anzublicken, ohne mit ihnen zu sprechen. Die Passanten der Metropolen machen die Erfahrung der Moderne per se: Sie empfinden die Einsamkeit und das Isoliertsein in der Masse. Sie erleben Anonymität. Aber auf der anderen Seite ist es nun - zumindest in den Kreisen der aufgeschlossenen Künstler und Intellektuellen - auch möglich, mit Freunden offen über intime Themen zu sprechen, die noch vor 20 Jahren keinem Menschen über die Lippen gekommen wären. Der Ort der Moderne sind die Großstädte der westlichen Welt: New York, London, Paris, Berlin. Die Moderne ist eine internationale Bewegung. Sie ist eine urbane (großstädtische) Bewegung, weil das Leben in den Städten das sichtbar macht, was als Quintessenz der modernen Gesellschaft erfahren wird: Im Strom der Millionen von Fremden erlebt man die Hektik und das rasante Tempo des modernen Lebens. Man erfährt im Tumult der Stadt den permanenten Wechsel der Sinnesreize und die Flüchtigkeit zersplitterter Eindrücke. Das Leben ist schnell, laut und undurchschaubar geworden, und man droht, darin unterzugehen wie der Passant im Strom der Massen. Schon das Überqueren der belebten Straße führt vor Augen, dass das moderne Leben ungeheure Risiken birgt. Die einzige Sicherheit, die man jetzt noch haben kann, ist, dass es keine Sicherheit gibt. Die Moderne ist das Bewusstsein davon, in einer Zeit der Orientierungslosigkeit, der Fragmentierung und des Chaos zu leben. Nirgends mehr gibt es einen Fixpunkt, an den man sich halten kann. Die Welt erscheint atomisiert in unendlich viele flüchtige Momente. Weil es im Außen keinen Halt mehr gibt, wird das von seiner Umwelt abgekoppelte Indiv iduum auf sich selbst zurückgeworfen. Der einsame, entwurzelte und ziellos durch die Stadt herumirrende Außenseiter wird zur zentralen Figur der modernen Literatur. Die Erfahrung des modernen Lebens lehrt den einzelnen, dass er sich seine eigene Sicherheit konstruieren muß. Da ist natürlich der Abgrund, an dem ein Sinnloch gähnt, nicht fern. Daran kann man entweder verzweifeln, oder man kann einfach erklären, dass es gar keinen Sinn - 280 -
gibt. Den extremsten Ausdruck findet die Systematis ierung des Unsinns in den Aktionen der Dadaisten wie Kurt Schwitters oder Tristan Tzara, die ihr verwirrtes Publikum mit unverständlichen Lautgedichten schockierten. Demselben tiefen Misstrauen in die Verfügbarkeit von Sinn entstammt auch die Kunst des Franzosen Marcel Duchamp, der Gebrauchsgegenstände wie den Flaschentrockner zu Kunstwerken erklärte. Die aufmerksamsten Beobachter ihrer Zeit, die Literaten und Künstler der Moderne, erkannten, dass sich zu Beginn des Jahrhunderts das Bewusstsein einer ganzen Generation wandelte. Virginia Woolf verkündete in einem vielzitierten Satz gar, um 1910 habe sich der menschliche Charakter verändert. Ihre Datierung bezog sich auf die Ausstellung der Post-Impressionisten in London, in der, unter anderem, Bilder von van Gogh und Cezanne ausgestellt worden waren. Während van Goghs Sonnenblume und Cezannes Stillleben inzwischen zu den beliebtesten Motiven auf Grußkarten gehören, waren die Bilder für die Ausstellungsbesucher zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer noch ziemlich gewöhnungsbedürftig. Woolf meinte mit ihrer Bemerkung: Mit der Erfahrung der Moderne veränderte sich die Wahrnehmung. In der Moderne verschwinden alle universal verbindlichen Gesetze. Es schwindet die Möglichkeit, einen allgemeingültigen Standpunkt einzunehmen. Es gibt nicht länger eine Realität, sondern es gibt unterschiedliche Perspektiven. Es gibt nur noch viele, nicht koordinierbare Wahrnehmungen von unzähligen, isolierten Individuen. Realität ist nun eine Frage des Standpunktes. Und um Realität einigermaßen angemessen begreifen zu können, muß man in der Lage sein, seine Perspektive zu verändern und die Kontexte zu wechseln. Deshalb zertrümmert die Malerei im Kubismus das Prinzip der Zentralperspektive. Deshalb entdecken Künstler die Collage und setzen aus Dingen, die nicht zusammengehören (z.B. Zeitungspapier, Holz und Farbe), neue Einheiten zusammen. Deshalb löst sich das Erzählen im Roman im ständigen Perspektivenwechsel der Bewusstseinsströme der Figuren auf. Die Moderne ist die Entdeckung der Komple xität der Welt. Irgendwann zwischen 1900 und 1915 dringt ins Bewusstsein der westlichen Welt, dass die Welt keine Ordnung hat, die man in ihrer - 281 -
Ganzheit verstehen kann. Da wird es dann unerträglich, in einem Zimmer wohnen zu müssen, das den Anschein hat, die ganze Welt sei darin versammelt. Nur solange man im 19. Jahrhundert noch annehmen konnte, die Welt habe eine Ordnung, die man in ihrer Ganzheit begreifen kann, wirkte ein unübersichtlicher Wohnraum, der alle Farben des Regenbogens, sämtliche Naturschätze der Erde, Möbelstile aus sechs Epochen und Kostbares aus Abendland und Orient versammelte, nicht wie das schiere Chaos, sondern sehr gemütlich. Und so wie in den Häusern der Großstädte die schweren Samtvorhänge fallen und die Ottomanen und Messingleuchter zur Haustüre herausgetragen werden, trennen sich die Dichter und Literaten von der Tradition des erzählenden Romans des 19. Jahrhunderts und beginnen, mit völlig neuen Formen zu experimentieren.
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Virginia Woolf Mrs. Dalloway (1924) Mrs. Dalloway gehört zu den großen Klassikern der literarischen Moderne. Die Lektüre empfiehlt sich für alle, die sich bisher noch nicht an die Literatur der Avantgarde gewagt haben. Oder die verständlicherweise vor der Komplexität des Ulysses kapituliert haben. Oder die auf der Suche nach der verlorenen Zeit eingeschlafen sind. Woolfs Roman beschreibt (wie James Joyce' Ulysses) die Ereignisse eines einzigen Tages. Es ist ein Sommertag im Juni des Jahres 1923. Die Titelheldin ist Clarissa Dalloway. Sie ist 52 Jahre alt, gerade von schwerer Krankheit genesen, Mutter einer beinahe erwachsenen Tochter und Ehefrau eines angesehenen Politikers. Sie verlässt am Morgen ihr Haus im eleganten Londoner Stadtteil Westminster, um die Blumen für den Empfang zu kaufen, den sie am Abend geben wird. Clarissa macht ihre Besorgungen, sie spaziert durch Regent's Park, sie weist das Personal an, das Silber zu putzen, sie bessert ihr Abendkleid aus, sie bekommt überraschenden Besuch von ihrer alten Jugendliebe Peter Walsh, sie empfängt am Abend ihre Gäste. Auf der Ebene des äußerlich sichtbaren Geschehens passiert eigentlich nicht besonders viel. Aber das ist Programm. Denn die Literatur der Moderne verzichtet auf eine fortschreitende Handlung und auf sich allmählich entwickelnde Helden - so wie man es aus den großen erzählenden Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts kennt. In der Moderne -wird statt dessen versucht, die Welt so zu beschreiben, wie man sie jetzt wahrnimmt: in ihrer ganzen chaotischen Unübersichtlichkeit. Deshalb wirken Romane wie Mrs. Dalloway auf den ungewohnten Leser ein bisschen so, als würde darin einiges nicht zusammengehören und ab und zu etwas fehlen. Der Eindruck stellt sich ein, weil in den modernen Romanen die übersichtliche Perspektive eines ordnenden Erzählers verschwindet. Jetzt setzt sich das Geschehen (wie in „Ulysses“ oder „Berlin Alexanderplatz“) nur noch aus den ständig wechselnden Blickwinkeln vieler unterschiedlicher Sichtweisen zusammen. - 283 -
Zu Beginn des Romans tritt Mrs. Dalloway aus ihrer Haustüre. Während sie in den Tumult der Londoner Straßen taucht, driftet sie in ihren Gedanken in Erinnerungen zurück in ihre Jugendzeit. Mrs. Dalloway schreckt plötzlich auf und wird jäh in die Gegenwart zurückgeholt, als Big Ben im Glockenturm der Houses of Parlament die Uhrzeit schlägt. Dann versinkt sie erneut in Erinnerungen, dann denkt sie an ihre bevorstehende Party am Abend. Plötzlich trifft sie einen Bekannten auf der Straße und wird wieder in die Gegenwart geholt. Und so weiter. Dieses Hin- und Hergleiten zw ischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verwandelt Clarissas Spaziergang durch London in einen Gang durch ihr Bewusstsein - in einen Gedanken-Gang. Die bedeutsamen Bewegungen finden im Inneren des Kopfes statt. Auf diesem Wege erfahren wir von Clarissas Jugend, ihrer Ehe, ihrem Verhältnis zu ihrer Tochter, von ihrer gerade überstandenen schweren Krankheit, von ihren Ängsten und Freuden, ihrem Gefühl der Isolation und ihren Sehnsüchten. (Die Erzähltechnik nennt man Bewusstseinsstrom bzw. stream of consciousness.) Die Gegenfigur zu Clarissa ist der ehemalige Soldat Septimus Smith. Septimus leidet unter einem Bombentrauma. Die Erlebnisse der Schützengräben des Ersten Weltkrieges haben Septimus' Psyche so nachhaltig zerstört, dass er nicht mehr in der Lage ist, „richtig“ wahrzunehmen. Septimus lebt daher in einem rätselhaften Reich zwischen Wahnsinn und Normalität, in dem die Vögel griechisch sprechen und die Wolken am Himmel Schafe sind. Im Unterschied zu jedem „normalen“ Individuum in der Moderne, für das seine Umwelt immer undurchschaubarer wird, glaubt Septimus, die Bedeutung der Welt erfaßt zu haben. Das ist möglich, weil er in seiner zerrütteten Wahrnehmung in der Lage ist, Dinge miteinander in Verbindung zu setzen, die in keinerlei logischem Zusammenhang stehen. Er verkörpert - so wie der blinde Seher in T. S. Eliots Gedicht Das wüste Land - eine Idee der Moderne, der zufolge nur noch derjenige Bedeutungen erkennen kann, der eigentlich gar nicht klar sehen kann. Wie in Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit geht es in Mrs. Dalloway um die Unterscheidung von innerer Zeit des Bewußtseins und äußerer Zeit der Uhren. Daher zieht sich wie ein roter Faden das stündliche Läuten Big Bens durch den Roman. Es erinnert daran, dass innere und äußere Zeit unterschiedlich sind. Im - 284 -
Bewusstsein wird Zeit anders erfahren als das Ticken der Uhr. Hier kann die Zeit aufgehalten werden: Gefühle können die Zeit stillstellen, wenn ein außergewöhnliches Moment besonders intensiv erlebt wird. Oder man kann die Vergangenheit in die Gegenwart holen, indem man eine Erinnerung noch einmal durchlebt. Man kann aber auch in die Zukunft vordringen und sich Dinge vorstellen, die noch gar nicht passiert sind. Im Zeiterleben des Bewußtseins erhält Zeit eine besondere Qualität, die die mathematisch messbare der Uhren nicht hat. Diese qualitativ gesteigerte, innere Zeit ist für Woolf von besonderer Bedeutung (wie auf unterschiedliche Art auch für Proust und Joyce). In einer Welt, in der alles im Fluss ist, in der es keine Sicherheit gibt und in der Sinn nur noch derjenige findet, der (wie Septimus) seinen Verstand verloren hat, bleibt dem einzelnen als Rettungsinsel nur noch das Erleben kurzer, extrem intensivierter Momente als Äquivalent zur Erkenntnis. Mrs. Dalloway ist ein komplizierter Roman über die Frage nach Sinn, Bedeutung und Identität. Am Ende steht das gelungene Fest Clarissas, in das jäh die Nachricht des Selbstmords von Septimus einbricht. Während Septimus sterben muß, weil seine tieferen Einsichten in den inneren Zusammenhang der Welt nichts als Wahnsinn sind, ist es Clarissa gelungen, auf eine schlichte Weise einen Zusammenhang herzustellen: in Gestalt ihres Festes. Denn das Fest ist ein Ereignis, das Menschen zu einer Einheit zusammenbringt. Clarissa versammelt auf ihrem Fest die wichtigsten Vertreter der englischen Gesellschaft. Für einige wenige Stunden ist es ihr gelungen, einen Mikrokosmos - eine geschlossene Welt im kleinen zu schaffen. Mrs. Dalloway ist nicht gerade eine einfache Lektüre, aber das ist die Literatur der Moderne generell nic ht. Woolfs Roman eignet sich aber ganz gut zum Einstieg, weil er auf seinen überschaubaren 200 Seiten die wichtigsten Merkmale der Literatur der Moderne versammelt: Erstens ist Mrs. Dalloway ein Großstadtroman. Zweitens ist er wie große Abschnitte in James Joyce' Ulysses in der Technik des Bewusstseinsstroms geschrieben. Drittens steht wie bei Marcel Proust die Unterscheidung von äußerer Zeit der Uhren und innerer Zeit des Bewußtseins an zentraler Stelle. Viertens beschreibt er (wie T. S. Eliots Figur Tiresias) beschädigtes Sehen als Möglichkeit des - 285 -
Erkennens. Und fünftens ist Virginia Woolf wie fast alle modernen Künstler der Meinung, dass es nur eine Möglichkeit gibt, in einer fragmentierten Welt Einheit zu schaffen: Durch die eigene hochindividuelle Wahrnehmung, mit der man sich die Welt immer wieder selber neu zusammensetzt.
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T. S. Eliot Das wüste Land (1922) Das wüste Land (engl.: The Waste Land) ist das berühmteste Gedicht aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es erschien 1922 im selben Jahr wie der bedeutendste Roman der Moderne, James Joyce' Ulysses. Dieses zweifache Auftauchen von zwei Giganten der literarischen Moderne zum selben Zeitpunkt hat dem Jahr 1922 in der Literaturgeschichte eine fast mythische Weihe verliehen. Thomas Stearns Eliot, dessen Vornamen man auf die Anfangsbuchstaben „T. S.“ kürzt, war Amerikaner mit Wahlheimat in England. Im Sommer 1914 hatte er als Student eine Studienreise nach Europa unternommen. In London war er dann dem „Godfather“ der Avantgarde-Lyrik, seinem Landsmann Ezra Pound, begegnet. Pound, der nicht gerade leicht zu beeindrucken war, las einige Gedichte von Eliot und stellte fasziniert fest, dass der sich, fernab der Zirkel der literarischen Eliten, „modernisiert“ hatte. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs blie b Eliot in England. In den nächsten Jahren gelang es ihm sogar, sich Zugang zu den eleganten Kreisen der englischen Intellektuellen zu verschaffen. Dazu gehörte unter anderem die Bloomsbury-Gruppe um Virginia Woolf, in deren Verlag 1918 einige von Eliots Gedichten gedruckt wurden. Der stets makellos gekleidete Eliot, der beim Sprechen umständlich nach Worten suchte und gelegentlich etwas gehemmt wirkte, erschien in seiner Wahlheimat mitunter englischer als die Engländer. Er gewöhnte sich an, mit britischem Akzent zu sprechen, trat in die anglikanische Kirche ein und nahm schließlich auch die britische Staatsbürgerschaft an. Das wüste Land ist ein so kompliziertes Gedicht, dass es jeden unvorbereiteten Leser nach der ersten Lektüre vollkommen ratlos zurücklassen wird. In jedem Fall sollte man versuchen, es einmal im englischen Original zu lesen (und sich bei mittelprächtigen Englischkenntnissen damit trösten, dass auch Menschen, die fließend Englisch sprechen, zu Beginn nicht viel mehr verstehen). Einen ganz wesentlichen Zugang erhält man zu Eliots Gedicht nämlich über seinen Klang. Die zeitgenössischen Kritiker verglichen den Rhythmus - 287 -
der Verse mit dem Jazz der zwanziger Jahre. Es gibt auch eine Sprechaufnahme, in der Eliot sein Gedicht selbst vorliest: Im Internet findet man sie z.B. unter www.englisch.uga.edu/ ~232/eliot.taken.html. Eliot bezeichnete sein Gedicht selber einmal als eine Art »rhythmisches Gemecker« („a little piece of rhythmical grumbling“). Das war mehr als eine Untertreibung für einen Text, der so schwierig ist, dass er seit mehr als einem halben Jahrhundert Verwirrung in den Literaturseminaren auf der ganzen Welt stiftet. Das „Gemecker“ ist eine Zivilisationskritik. Das wüste Land ist eine düstere Vision von der Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es ist eine pessimistische Antwort auf die Erschütterungen der westlichen Zivilisation in den beiden ersten Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts. Es bringt die Verzweiflung über die Unverständlichkeit der modernen Gesellschaft und über den Schock des Ersten Weltkriegs zum Ausdruck. Eliot setzte eine Art Trümmerlandschaft der europäischen Kultur in Szene. Deshalb besteht das Gedicht aus Wortfetzen und Satz-Fragmenten: Es ist eine Versammlung von vielen unterschiedlichen Stimmen, die ebenso abrupt einsetzen wie abbrechen und von denen keine „den Ton angibt“. Es ist auch die Ansammlung einer schier unübersehbaren Fülle von Anspielungen auf die großen Werke der europäischen Geistesgeschichte: Sie reichen von Ovid über Augustinus bis zu Shakespeare und Wagner. Um dem Leser auch nur die geringste Chance zu geben, die Zitate erkennen zu können, fugte Eliot dem Gedicht vorsichtshalber ein siebenseitiges Anmerkungskapitel bei. Eliots langes, 433zeiliges Gedicht ist in fünf Abschnitte unterteilt. Der erste Teil („Das Begräbnis der Toten“) beginnt mit der melancholischen Erinnerung einer Frau an eine fröhlichere Zeit, geht dann in eine Liebesszene über und beschreibt anschließend den Besuch bei einer Kartenleserin. Er endet mit der düsteren Szenerie eines gespenstischen Passantenstroms in London. Der zweite Teil („Eine Schachpartie“) beginnt mit der Parodie eines berühmten Monologs aus Shakespeares Drama Antonius und Kleopatra. Hier wird eine vornehme Dame beschrieben, die sich über die Zurückhaltung ihres Verehrers erregt. Anschließend kommen zwei Frauen aus dem Volk zu Wort, von denen die eine ihren Mann - 288 -
betrogen hat und eine Abtreibung hatte. Im dritten Teil („Die Feuerpredigt“) schildert der blinde Seher Tiresias eine trostlose Liebesszene zwischen einer Sekretärin und einem mit Furunkeln übersäten jungen Mann; darauf folgt als Gegenbild die romantische Themsefahrt der englischen Königin Elisabeth I. mit ihrem Liebhaber. Tiresias ist die wichtigste Figur des Gedichts. Er ist ein blinder Seher, ein Wesen aus Mann und Frau. Jenseits der Grenzen von Raum und Zeit navigiert er zwischen Antike und moderner Großstadt. Auf wundersame Weise ist Tiresias in der Lage, Dimensionen zur Einheit zu bringen, die im logischen Denken des Abendlandes unvereinbar sind. Darin liegt seine zentrale Bedeutung in Eliots Vision einer kulturellen Landschaft ohne erkennbare Einheit. Der vierte Teil („Tod durchs Wasser“) thematisiert den Tod als Vorläufer des Neuanfangs. Der fünfte Teil („Was der Donner sprach“) beschreibt eine Reise durch eine öde, steinige Landschaft, in der ein Gewitter grollt, das jedoch keinen Regen bringt; erst am Schluss folgt die Ankündigung von Regen. Das Gedicht endet mit der dreifachen Wiederholung des heiligen Hindi-Wortes Shantih (Frieden). Alle fünf Teile sind durch die wiederkehrenden Motive der Unfruchtbarkeit, des Verfalls und der Isolation miteinander verbunden. Abgesehen von einer tristen Grundstimmung gibt es keinen erzählerischen Zusammenhang der Themen: Die Episoden setzen ein und hören wieder auf, Stimmen fangen an zu sprechen und brechen wieder ab. Daraus resultiert die „Unverständlichkeit“ des Gedichts. Wenn erst einmal klar geworden ist, dass The Waste Land die Fragmentierung der modernen Welt zum Ausdruck bringt, versteht man zwar noch nicht jede einzelne Zeile des Gedichts, aber man versteht zumindest, warum es so schwer zugänglich sein muß. T. S. Eliot bekam 1948 den Literaturnobelpreis. Heute ist den meisten der Name eines Musicals ein Begriff, für das ein Stück von T. S. Eliot die Vorlage lieferte. Eliots Stück trägt den Titel Old Possum's Book of Practical Cats - aber es ist viel besser bekannt unter dem Titel Cats.
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Thomas Mann Der Zauberberg (1924) Hans Castorp, der 23jährige Sproß einer Hamburger Kaufmannsfamilie, besucht seinen an Tuberkulose erkrankten Vetter Joachim Ziemssen im Lungensanatorium „Berghof“ in Davos. Aus dem geplanten dreiwöchigen Aufenthalt werden schließlich sieben Jahre. Und allmählich versinkt Hans Castorp tiefer und tiefer in der entlegenen Welt in den Schweizer Alpen, in der nichts so ist wie im heimatlichen Hamburg, wo Castorp eigentlich eine Laufbahn als Ingenieur einschlagen sollte. Er versinkt in einem Meer der Zeit - so, wie das Sanatorium „Berghof“ in den Massen des Schnees, der jedes Jahr immer länger liegen bleibt und der den Zauberberg in ein eisiges Reich verwandelt, in dem fiebrige Kranke auf den Tod warten. Die Idee zum Roman entstand 1912, während eines Besuchs in Davos, wo Thomas Manns Frau, Katia, für einige Monate wegen Tuberkulose behandelt werden mußte. Als Mann eine Erkältung bekam, rieten ihm die Ärzte, den Infekt im Sanatorium auszukurieren. Aber Mann verließ den Berg und begann daheim eine Erzählung über seine dortigen Eindrücke zu schreiben. In den folgenden sieben Jahren wuchs diese Geschichte zu einem der schönsten Romane der Moderne. Der Zauberberg ist der Roman über das Ende der bürgerlichen Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg. Das Bild, das Mann für das Sterben der in Traditionen verwurzelten europäischen Gesellschaft fand, ist die Welt des Sanatoriums. Hier, in den Höhen der Bergwelt, wo die Luft schon dünn wird, versammeln sich betuchte Kranke aus ganz Europa. Sie kommen aus England, Italien, Rußland oder Deutschland, um ihre Tuberkulose zu kurieren, beobachten den Verfall anderer sterbender Patienten und ahnen, dass ihnen in absehbarer Zeit dasselbe Schicksal bevorstehen wird. Auch wer noch nicht todgeweiht ist, verbringt die meiste Zeit des Tages in der Horizontalen, nämlich in der Liegekur. Und ähnelt darin einem Toten. Der Alltag im Sanatorium beschränkt sich im wesentlichen auf vier - 290 -
Dinge: Essen, Konversation, Liegekur und medizinische Versorgung (ungefähr in dieser Reihenfolge, wobei sich das primäre Interesse an Nahrungsaufnahme bzw. Gesprächen je nach individueller Bedürfnislage umkehren kann). Zu den reichhaltigen fünf Mahlzeiten des Tages versammeln sich die Gäste im Speisesaal an sieben Tischen. Die Sitzordnung wird von der Hausverwaltung bestimmt. So ergeben sich je nach Zusammenstellung der Personen feine Abstufungen - wie zum Beispiel die zwischen dem „guten“ und dem schlechtem Russentisch. Oder es entstehen Kombinationen von reizbaren Menschen unterschiedlicher Bildungsniveaus - wie jene zwischen Hans Castorp und Frau Stör in ihrer schottischen Wollbluse, die die Angewohnheit hat, Fremdwörter zu benutzen, von denen sie nicht weiß, was sie bedeuten. Das Leben auf dem Zauberberg ist Warten. Man wartet auf die nächste Mahlzeit, auf die erlösende Nachricht der Ärzte zur Entlassung oder auf den Tod. Zu den wenigen Geräuschen, die die Totenstille des entlegenen Bergortes durchbrechen, gehört der ungesund klingende Husten der dahinwelkenden Kranken. Bis weit ins Frühjahr hinein versinkt der „Berghof“ unter einer gigantischen Schneedecke. Dann wird die Welt des Sanatoriums zu einem nach außen ganz abgeschlossenen Bereich. Nur tief unter der Oberfläche der eisigen Schneemassen bleibt die Stimmung der Kurgäste fiebrig und angespannt: Alle Patienten sind permanent damit beschäftigt, ihre Körpertemperatur zu überwachen. Der Zauberberg ist ein zugleich explosives und kaltes Zwischenreich zwischen Leben und Tod. Der Held Hans Castorp verlängert seinen Aufenthalt nicht zuletzt aufgrund der Anwesenheit der Russin Clawdia Chauchat. In einer Faschingsnacht weiht sie ihn in die Geheimnisse der Liebe ein. Das Kapitel (das ungefähr zur Hälfte in französischer Sprache verfasst ist) trägt in Anspielung auf den Hexenberg in Goethes Faust den Titel »Walpurgisnacht«. Als Mme. Chauchat abreist, bleibt Castorp zum Trost immerhin die Röntgenaufnahme ihres tuberkulö s angegriffenen Brustkorbs. Neben Mme. Chauchat übt aber auch die morbide Welt des Sanatoriums auf Castorp einen unwiderstehlichen Reiz aus. Um auf dem „Berghof“ bleiben zu können, entwickelt Castorp erstaunlicherweise eine leichte Symptomatik der Tuberkulose. - 291 -
Während Mme. Chauchat Hans Castorp in die Liebe eingeführt hat, trägt ein anderer Gast, der Italiener Settembrini, für dessen weitere Persönlichkeitsentwicklung Sorge. Der äußerlich etwas abgewetzt wirkende Settembrini macht sein ärmliches Äußeres durch den Reichtum seiner Bildung wett. Settembrini glaubt an den Gebrauch der Vernunft im Geiste der Aufklärung und vertritt demokratische Grundprinzipien. In endlosen Gesprächen erörtert er die großen Themen der abendländischen Kultur. Castorp lauscht seinem Lehrmeister fasziniert. Insofern als Der Zauberberg die geistigen Zustandsveränderungen seines jungen unbedarften Helden beschreibt, steht der Roman in der Tradition des Bildungsromans des 18. Jahrhunderts. Bildung bedeutet im klassischen Bildungsroman „die moralische und geistige Bildung zum Menschen“ bzw. „Persönlichkeitsbildung“: Es geht darin um die allmähliche Aufklärung eines jungen Menschen durch einen Lehrer; am Ende steht dann die eigene Erkenntnisfähigkeit und der Eintritt in die Welt. Aber im Fall von Hans Castorp hat seine Persönlichkeitsbildung ihre Tücken, denn nur wenig von Settembrinis aufgekratztem Gerede verschafft ihm wirkliche Erkenntnisse. Nach einiger Zeit bekommt Settembrini die Gesellschaft eines intellektuellen Gegenspielers: Leo Naphta. Naphta, ein Jesuit jüdischer Herkunft von bemerkenswerter Hässlichkeit, vertritt im Unterschied zu Settembrinis bürgerlich-demokratischen Ansichten eine komplizierte Position zwischen mittelalterlicher Philosophie und Volksdiktatur. Die gereizten Auseinandersetzungen der beiden Gelehrten über Philosophie, Weltgeschichte und Weltpolitik, bei denen Hans Castorp als Zuschauer fungiert, stiften gleichfalls eher Verwirrung, als dass sie Castorps Aufklärung dienen. Meistens stimmt er abwechselnd jeweils dem einen und dann dem anderen der beiden Kampfhähne zu. (Als lebendiges Vorbild zur Figur des Naphta diente Mann der Philosoph und Kritiker Georg Lukacs, der sich allerdings selber darin nicht wiedererkannte.) Verwirrung stiftet auch das erneute Erscheinen von Mme. Chauchat in Gesellschaft des holländischen Kaffeehändlers Mynheer Peeperkorn. Mit seinem roten Gesicht und seinem jovialen Auftreten ist der stämmige Peeperkorn im Unterschied zu den beiden schmächtigen Intellektuellen Settembrini und Naphta die - 292 -
Verkörperung von Vitalität. Er trinkt Unmengen von Wein und Kaffee, haut mit der Faust auf den Tisch und spricht in abgehackten, markig klingenden Sätzen. Nach überstandener Eifersuchtsattacke findet Castorp nun in dem unintellektuellen, freundlichen, aber despotisch auftretenden Peeperkorn ein neues Vorbild. Peeperkorn begeht Selbstmord, als er seine Vitalität durch Krankheit angegriffen sieht. (Zur Figur des Peeperkorn hatte sich Thomas Mann durch den Dramatiker Gerhart Hauptmann inspirieren lassen. Hauptmann schrieb unter anderem Die Weber.) Die Wortgefechte zwischen Settembrini und Naphta gipfeln schließlich in einem realen Duell, bei dem sich Naphta selbst erschießt. Am Schluss des Romans bricht in das Warten und die Stille des Zauberbergs das Getöse des Ersten Weltkriegs. Das große Finale findet in den Schützengräben statt. Dorthin hat es Hans Castorp nach sieben Jahren auf dem Zauberberg verschlagen. Es bleibt am Ende des Romans ungesagt, ob Hans Castorp als Soldat fällt oder nicht. Seine Spur verliert sich im Kriegsgetümmel. Mit diesem Ende unterscheidet sich Manns Bildungsroman von seinen klassischen Vorgängern. Denn während dort am Ende immer der Held steht, der jetzt weiß, wer er ist, und dessen Persönlichkeit Konturen bekommen hat, bleibt von Hans Castorp nichts übrig. Der letzte Blick auf den Helden des Buches gleicht einem an Unscharfe zunehmenden Bild, in dem sich am Ende alle Umrisse aufgelöst haben. Mit dem Ende der bürgerlichen Gesellschaft, deren Sterben auf dem Zauberberg begonnen hat, verschwindet auch das bürgerliche Subjekt. Thomas Mann bezeichnete den Zauberberg als „Zeitroman“. Gemeint ist damit zweierlei: Zum einen ist Der Zauberberg die Beschreibung einer bestimmten Zeit (also ein Epochenroman), zum anderen ist es ein Roman über das individuelle Erleben der Dimension von Zeit. In der zweifachen Verwendung des Zeitbegriffs zeigt sich noch einmal die Grundstruktur des Romans, der zum einen den Untergang einer ganzen Kultur schildert (im Bild des Sanatoriums) und zum anderen das Verschwinden des bürgerlichen Subjekts thematisiert (am Beispiel des Hans Castorp). Die erste Bedeutung des Zeitbegriffs ist leicht verständlich; sie besagt: Mann beschreibt das historische Ende der bürgerlichen - 293 -
Gesellschaft. Das ist die Krankengesellschaft des Sanatoriums. Die zweite Bedeutung ist etwas komplizierter. Hier geht es darum, wie Zeit wahrgenommen wird. Auf dem Zauberberg, dort, wo es auch im Frühsommer gelegentlich schneit und wo man Jahre damit verbringt, sich zwischen Speisesaal und Liegekur hin und her zu bewegen, gewinnt Zeit ganz neue Bedeutung. Bereits am ersten Tag stellt Castorp entrüstet fest, dass man hier oben mehr Zeit verbraucht als sonst wo: Drei Wochen im Sanatorium sind wie ein Tag im „Flachland“. Aber je länger er auf dem Zauberberg lebt, desto mehr verliert er selbst den Sinn für Zeit: er liest keine Zeitungen mehr und vergisst immer häufiger, seine Uhr abends aufzuziehen. Diese Zeitentrücktheit ist der Ausdruck dafür, dass der Zauberberg ein eigenartiges Zwischenreich ist, innerhalb dessen dem Individuum allmählich sämtliche Orientierungspunkte aus dem Blick geraten. Einmal, als er schon über ein Jahr auf dem „Berghof“ lebt, unternimmt Hans Castorp eine Skifahrt. Der Winter hat den Berg unter enormen Schneemassen begraben, es schneit ständig. Im lautlosen Schneefall versinkt die Landschaft im nebligen Nichts, die Konturen der Gipfel lösen sich auf. Es gibt keine Wege, die Welt ist ein Chaos aus weißer Finsternis. Nirgends gibt es Orientierungspunkte. Ausgerüstet mit einer Tafel Schokolade und einer kleinen Flasche Portwein dringt Castorp in diese geisterhafte Landschaft ein. Er gerät in einen Schneesturm, bewegt sich im Kreis und kommt in Lebensgefahr. Halb erfroren, erschöpft und leicht angetrunken sucht Castorp Unterschlupf vor einer Hütte. Er beginnt zu träumen, vergisst die Zeit und landet in einer imaginären Grenzlandschaft: irgendwo zwischen Leben und Tod, Wachsein und Traum, Kultur und Natur, Zeitlichkeit und Zeitentrücktsein. Diese Episode aus dem berühmten Schneekapitel des Zauberbergs ist das Herzstück des Romans. Hier versammeln sich alle wichtigen Motive: die im Schnee abgekapselte Welt des Sanatoriums, die Konfusion des Helden, der nach Orientierungen sucht, die Auflösung von Formen, die Nähe von Leben und Tod und der Verlust eines Begriffs von Zeit als Indiz einer sich unaufhaltsam auflösenden Existenzform.
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Franz Kafka Der Prozeß (1925) »Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.« So lautet einer der berühmtesten Romananfänge der modernen Literatur. Jeder, der diesen Satz liest, weiß, dass sich hier eine Situation anbahnt, aus der es keinen Ausweg geben wird: Die Verhaftung wird sich nicht als ein Spaß der Kollegen aus der Bank entpuppen. Die Wächter, die morgens K´s Zimmer betreten - statt der Köchin, die sonst das Frühstück bringt - werden nicht plötzlich beginnen, prustend zu lachen und ausrufen: »Das war ein Scherz! Nun seien Sie mal kein Spielverderber, Herr K.!« Weder die Vorlage der „Radfahrerlegitimation“ noch der Geburtsurkunde wird dazu fuhren, dass sich das Ganze als Verwechslung herausstellt. Und auch K´s Beschluss, nicht weiter mit seinen Wächtern zu diskutieren, sondern mit deren Vorgesetzten, wird nicht damit enden, dass sich seine Verhaftung als böser Spuk herausstellt. Kafkas Roman Der Prozeß führt in eine alptraumartige Welt. Die Hauptfigur des Romans, Josef K., gerät in die Mühlen eines übermächtigen „Gesetzes“. Was dieses Gesetz besagt oder wer es repräsentiert, wird im Laufe des Romans nicht aufgelöst. Es bleibt auch völlig unklar, aufgrund welcher Verfehlung K. sich eines morgens in seinem Schlafzimmer den Wächtern gegenüber sieht. Dass es sich nicht um eine gewöhnliche Verhaftung handelt, wird deutlich, als man K. weiter gestattet, seiner alltäglichen Lebensweise zu folgen: Er geht weiter zur Bank, wo er einen höheren Posten bekleidet, und er behält sein Pensionszimmer bei seiner Zimmerwirtin Frau Grubach. Wenige Tage nach seiner Verhaftung teilt man K. mit, dass er sich am Sonntag zur Untersuchung seiner Angelegenheit an einem bestimmten Ort einzufinden hat. K. begibt sich in die angegebene Straße. Sie befindet sich in einer ärmlichen Gegend mit trostlosen Mietshäusern, aus deren Fenstern Menschen lehnen. Das - 295 -
Untersuchungsgebäude entpuppt sich als weitläufiges Mietshaus. K. irrt durch die Flure und wird von eilfertigen Bewohnern von einer Etage zur nächsten geschickt. Schließlich landet K. in einem überfüllten Zimmer, in dem man ihn bereits erwartet. Hier wird er Gegenstand einer absurden Verhandlung. In einer bombastischen Rede verkündet K. seine Nichtachtung des Gerichts, aber die eindrucksvolle Wirkung seiner Worte wird durch das Kopulieren zweier Zuschauer jäh zunichte gemacht. In der nächsten Woche wartet K. auf eine zweite Vorladung. Als er sie nicht erhält, geht er unaufgefordert am Sonntag in dasselbe Gebäude. Dort teilt man ihm mit, dass heute keine Verhandlung stattfindet. K. kann aber der Gerichtsdiener überreden, ihm die Kanzleien des Gerichts zu zeigen. Die Schilderung der Kanzleien trägt jene eigentümliche Handschrift Kafkas, die dazu geführt hat, dass man das Adje ktiv „kafkaesk“ verwendet, wenn man eine unheimliche oder bedrohliche Atmosphäre beschreiben will, in der sich klaustrophobische Enge, labyrinthische Unübersichtlichke it mit schriller Absurdität mischen. Die Kanzleien befinden sich auf dem Dachboden des Mietshauses. Nur ein mit kindlicher Handschrift geschriebener Zettel weist auf sie hin. K. betritt einen langen Gang, von dem rechts und links Holzverschläge abgehen, in denen die Beamten arbeiten. Die Luft ist heiß und stickig. Im Gang sitzen auf zwei Holzbänken kläglich wirkende Leute, die auf K. einen zutiefst gedemütigten Eindruck machen. Es sind Angeklagte, wie K. Als K. nach einer deprimierenden Unterhaltung mit einem von ihnen, fluchtartig die Kanzleien verlassen will, findet er den Ausgang nicht mehr. Er hat in dem Wirrwarr der Gänge völlig die Übersicht verloren. Die Beklemmung des Augenblicks steigert sich zu Schwindel und Übelkeit. Schweiß rinnt ihm von der Stirn, seine Haare hängen ihm ins Gesicht. Eine junge Frau nimmt sich seiner an und erklärt ihm, dass jedem, der zum ersten Mal die Kanzleien betrete, schwindlig werde. K. fühlt sich, als sei er seekrank. Der Boden unter seinen Füßen beginnt zu schaukeln. Stimmen schwellen zu einem schrillen, sirenenartigen Ton an. Nur gestützt erreicht K. die Ausgangstür. Dort bekommt er endlich wieder Luft. Seine Begleiter, die nur an die Kanzleiluft gewöhnt sind, erleiden hier beinahe einen Sauerstoffschock. K. muss die Tür schnell hinter sich schließen, damit - 296 -
sie wieder atmen können. Alle Versuche K`s, in das Verfahren gegen ihn einzugreifen, scheitern. K´s Umwelt signalisiert ihm die Aussichtslosigkeit und Hoffnungslosigkeit seiner Situation. Ein Onkel sagt wenig ermunternd: »Einen solchen Prozeß haben, heißt ihn schon verloren haben.« Ein eingeschalteter Mittelsmann, der Maler Titorelli, klärt K. darüber auf, dass das Gericht nie von der Schuld des Angeklagten abzubringen sei. Eigenartigerweise weiß jeder, dem K. begegnet, von seiner Verhaftung. Ständig wird K. daran erinnert, verhaftet und in irgendeiner Weise schuldig zu sein. Das trennt ihn von seiner Umwelt und führt sehr bald zu seiner völligen Isolation. Nachdem der Prozeß ein Jahr lang geführt worden ist, betreten eines Abends um neun zwei Herren K´s Wohnung. Sie sind mit seiner Exekution beauftragt. Man bringt K. aus der Stadt, entkleidet seinen Oberkörper und tötet ihn, indem man ihm ein Messer in die Brust stößt und dort zweimal dreht. Mit seinen Beschreibungen unverständlicher institutionalisierter Macht gilt Kafka als der bedeutendste Darsteller der modernen Bürokratie: Er beschreibt die Unsichtbarkeit der Instanzen, das Labyrinth der Räume, das Protokollieren der kleinsten Details, das Verwischen der Zuständigkeiten und die restlose Auflösung der Bedeutung des einzelnen in dieser Maschinerie der Macht. Aber jenseits dieser Ebene entzieht sich Kafkas rätselhafte Romanwelt beharrlich einer abschließenden Deutung. Jeder Versuch, Kafka zu interpretieren, ist in gewisser Weise vergleichbar mit K´s Versuch, das Gesetz zu verstehen. Die Antwort auf die Frage »Was ist das Gesetz?« lautet paradoxerweise: »Das Gesetz ist das Gesetz«. Um das Gesetz verstehen zu können, muss K. also ins Gesetz vordringen (deshalb sucht K. beharrlich seine Orte auf), aber je weiter er sich vorarbeitet, desto aussichtsloser wird es, es zu verstehen. Ganz ähnlich ist es mit der Kafka-Interpretation. Die Suche nach Bedeutung wird zum Selbstzweck: Am Ende einer mühsamen Spurensuche kommt man zu der Erkenntnis: es gibt gar keine. Den Begriff „Schuld“ zu deuten (theologisch, existenzialistisch oder psychoanalytisch), macht keinen Sinn. Kafkas Romane kann man sich vorstellen wie die Bilder des Expressionismus. Sie zertrümmern die Formen der Wirklichkeit bis zur Unkenntlichkeit. - 297 -
Kafka war Jude, lebte in Prag und gehörte dort zur deutschsprachigen Bevölkerung. In seinen Tagebüchern richtete er ständige selbstzerstörerische Anklagen gegen sich selbst. Er litt darunter, als Jurist für eine Versicherungsanstalt in Prag arbeiten zu müssen, und entfloh seinem bürgerlichen Alltag Abend für Abend, wenn er nach Dienstschluß seine Romane und Erzählungen schrieb. Als er 1924 im Alter von 41 Jahren an Tuberkulose starb, hinterließ er seinem Freund Max Brod den gigantischen Nachlass seiner unveröffentlichten Manuskripte (darunter auch die drei Romane Der Prozeß, Das Schloß und Amerika), Tagebücher und Briefe, mit der Bitte, sie nach seinem Tod zu vernichten. Brod hielt sich glücklicherweise nicht an Kafkas Anweisung.
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Alfred Döblin Berlin Alexanderplatz (1929) Im Jahre 1927 ist der Alexanderplatz in Berlin eine Großbaustelle. Man baut dort die Untergrundbahn. Eine Dampframme schlägt mit ohrenbetäubendem Krach Planken in den Boden. Passanten sehen staunend zu. Dann eilen sie weiter über die provisorisch mit Holzplanken befestigten Gehwege und irren durch das unübersichtliche Gewirr der Umleitungen: Sie suchen den verlegten Bahnhofseingang und die Geschäfte, die ein paar Meter weiter umgezogen sind. Der Alexanderplatz ist das schiere Chaos: Hier ist es laut und unübersichtlich - aber auch faszinierend. Hier sind Häuser abgerissen und die Straßendecke aufgebrochen worden. Doch nach der Zerstörung des Alten wird jetzt auch gebaut und konstruiert. Hier ist alles in Bewegung: vital und dynamisch. Die Großbaustelle Alexanderplatz ist der Knotenpunkt von Döblins Roman: Sie ist der symbolische Ort für die tiefgreifenden Umwälzungen der Gesellschaft der Weimarer Republik. Die Veränderungen in allen Lebensbereichen erfährt man in den Großstädten wie die Erschütterungen der Dampframme auf dem Alexanderplatz. In der Moderne hat das tägliche Leben alle Spuren von Beschaulichkeit verloren. Die Künstler und Literaten der Moderne stellen mitgerissen fest, dass das Erleben der Umwelt permanente Reizüberflutung ist. Der Alltag hämmert mit ständigen Sinneseindrücken auf die Menschen ein. Das ist zwar anstrengend, aber das Pulsieren des modernen Lebens führt bei den Dichtern und Malern des Expressionismus nicht zum Kulturpessimismus, sondern zum Bewusstsein einer faszinierenden Komplexität der modernen Welt. Das, was als spezifisch modern empfunden wird: das Tempo und die Unübersichtlichkeit der Wahrnehmungen, eröffnet ästhetisches Neuland. Döblins Roman über das Berlin der Weimarer Republik ist der berühmteste Großstadtroman der deutschsprachigen Moderne. Er wird häufig mit James Joyce's Ulysses und John Dos Passos' Manhatten Transfer (1925) verglichen. In den achtziger Jahren wurde er in einem - 299 -
legendären Fernsehvierzehnteiler unter der Regie von Rainer Werner Fassbinder verfilmt. Die Großbaustelle am Alexanderplatz ist auch schon deshalb der Mittelpunkt des Romans, weil sich daran zeigen lässt, wie Döblin seinen Roman konstruiert hat. Döblin baut nämlich in seinem Roman Berlin aus Sprache und Texten. Er schichtet so lange so viele unterschiedliche Materialien auf- und gegeneinander, dass am Ende der Eindruck der Totalität der Stadt entsteht. So besteht der Text (neben der darin erzählten Geschichte des „kleinen Mannes“ Franz Biberkopf) aus einer überquellenden Fülle hineingeschriebener Lieder, Wahlreden, juristischer Texte, Verordnungen von Behörden, Reimen, Wettervorhersagen, Reklametexten, Statistiken, Auszügen aus Büchern, Bibelparaphrasen, Sprichwörtern, medizinischen Erläuterungen, Erklärungen physikalischer Gesetzmäßigkeiten etc. Diese Texte unterbrechen permanent den eigentlichen Verlauf der Handlung. Das Bauprinzip ist das einer Collage, bei der Materialien auseinandergerissen sind und mit Stoffen in Verbindung gebracht werden, die eigentlich nicht zusammengehören. Tatsächlich nahm Döblin das Prinzip der Collage bei seiner Arbeit am Buch phasenweise ganz wörtlich: Er sammelte Zeitungstexte, Ansichtskarten und Dokumente und klebte sie in sein Manuskript. Das ständige Wechseln der Bilder und Stimmen im Roman kopiert die permanente Ablenkung der Wahrnehmung und das Durcheinander der Geräusche in der Großstadt der Moderne. Diese programmatische Konfusion macht Döblins Roman zu einer schwierigen Lektüre. Sie erfordert - so wie das Leben in der Großstadt für all jene, die darin nicht zu Hause sind - ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit. Aber selbst bei größter Konzentration läuft man immer noch Gefahr, im Gewirr der Szenen, Bilder und Stimmen gelegentlich die Orientierung zu verlieren. Da geht es einem dann wie dem Held des Romans, Franz Biberkopf, der versucht, »Berlin zu erobern«, der sich in der Metropole aber gar nicht zurechtfindet und sich daher in der Unterwelt der Ganoven verirrt. Franz Biberkopf ist ein vierschrötiger Mann aus dem Volk. Er ist Anfang Dreißig, ein ehemaliger Zementarbeiter und Möbelpacker, mit einem Hang zur Gewalttätigkeit. Er ist zu Beginn des Romans aus dem Gefängnis in Tegel entlassen worden, wo er eine vierjährige - 300 -
Strafe wegen Totschlags seiner Geliebten Ida abgesessen hat. Nun hat Biberkopf zwar die Strafe abgebüßt, aber er hat nicht die geringste Einsicht in die Schuldhaftigkeit seines Handelns. Nach vier Jahren hinter Gefängnismauern schwirrt ihm der Kopf, als er in den Tumult der Großstadt Berlin eintaucht. Und obwohl ihn das Chaos der Stadt zutiefst verunsichert, beginnt Biberkopf sein neues Leben in Freiheit mit der Haltung eines sich selbst überschätzenden Angebers. »Mir kann keener«, lautet sein dummdreistes Motto. Biberkopf will jetzt anständig bleiben. Aber das gelingt ihm nicht. In seinen Bemühungen, Fuß zu fassen, scheitert er dreimal hintereinander mit jeweils steigender Dramatik. Das Schema des Fehlschlags ist jedes Mal dasselbe: Biberkopf beginnt strotzend vor Selbstbewusstsein, bekommt einen Dämpfer verpasst, fällt in sich zusammen und berappelt sich erneut. Das wiederholt sich so lange, bis Biberkopf im Irrenhaus landet, dort einen symbolischen Tod stirbt, anschließend seine Dummheit einsieht und zu einem neuen Menschen wird.
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Robert Musil Der Mann ohne Eigenschaften (19301932) An diesem Roman hat Robert Musil zwanzig Jahre gearbeitet. Bis zu zwanzigmal veränderte er einzelne Kapitel. Manche schrieb er noch um, als schon die Druckfahnen vorlagen. Die meiste Zeit war er in dringender Geldnot. Er starb, bevor das Ende seines gigantischen Projekts auch nur annähernd in Sicht war. Musil hinterließ ein ehrfurchtgebietendes Roman-Ungeheuer, das ihn in die gleiche Reihe stellt mit James Joyce und Marcel Proust. Der Mann ohne Eigenschaften ist ein gewaltiger Roman, der den gesellschaftlichen und ideologischen Kosmos der untergehenden Welt des kaiserlichköniglichen Österreich beschreibt. Der Mann ohne Eigenschaften ist aber auch ein etwas abschreckendes Werk. Die zwei Teile, die noch zu Lebzeiten Musils veröffentlicht wurden, umfassen über 1000 Seiten. Aber das ist noch nicht einmal das Schlimmste. Was das unbeschwerte Lesevergnügen mitunter etwas belasten kann, ist der Umstand, dass es auf diesen 1000 Seiten keine zusammenhängende Handlung gibt. Der Roman ist schwierig zu lesen, denn an die Stelle des epischen Erzählens tritt die intellektuelle Reflexion: Erörterungen, Gespräche und Gedanken aus der Perspektive der Romanpersonen und essayistische Einschübe aus der Perspektive des Erzählers. Die meisten Romane, die man heute auf den Büchertischen der Buchhandlungen findet, entwickeln eine allmählich fortschreitende Handlung. Sie halten sich dabei an einen logischen Aufbau. Manchmal gibt es Vor- und Rückblicke, die das Ganze etwas komplizieren können, aber es gibt immer einen roten Faden. Wer heute ein Creative-writing-Seminar besucht, wird darin beigebracht bekommen, dass eine Geschichte einen Anfang, einen Höhepunkt und ein Ende haben muss. Diese Erzählkonvention ist unschlagbar, wenn es darum geht, Wirklichkeit verständlich zu machen. Die großen Schriftsteller der Moderne lösten sich jedoch von dem - 302 -
Modell des linearen Erzählens. Robert Musil erklärte (wie seine schreibenden Kollegen Joyce, Proust und Woolf), dass dieses Erzählen eine unangemessene Art ist, wenn man die Komplexität der Welt beschreiben will. Die moderne Welt ist so unüberschaubar vielgestaltig, dass man sie sich nicht als eine auf einer Schnur aufgezogene Reihe von Ereignissen vorstellen kann, sondern eher wie eine unendliche Fläche miteinander verwobener Fäden. Der Mann ohne Eigenschaften spielt im Jahre 1913, im Wien des kaiserlich-königlichen Österreich, das Musil „Kakanien“ nennt. Im Zentrum der Handlung steht die sogenannte „Parallelaktion“. Dies ist eine groß angelegte Aktion, deren Ziel darin besteht, auf irgendeine Weise dem bevorstehenden 30jährigen Regierungsjubiläum des deutschen Kaisers Wilhelm II. im Jahre 1918 eine Aktion entgegenzusetzen, die das 70jährige Regierungsjubiläum des österreichischen Kaisers Franz Josef feierlich zur Geltung bringt. Musil, der den Roman zwölf Jahre später begann - mit der Kenntnis dessen, was 1918 wirklich geschehen war -, hatte es natürlich darauf abgesehen, die Ironie des Unternehmens augenfällig zu machen: Die einzige „Parallelaktion“, die 1918 in der historischen Wirklic hkeit stattgefunden hatte, war die preußischösterreichische Gemeinschaftsaktion „Erster Weltkrieg“, und sie hatte just in jenem Jahr das Ende der beiden Monarchien zur Folge. Während die europäische Geschichte in Wirklichkeit also auf die Katastrophe des Ersten Weltkriegs hinsteuerte, beginnen die Vorbereitungen der Parallelaktion unter Leitung des Grafen Leinsdorf eher schleppend. Man weiß nämlich nicht so richtig, worin die Parallelaktion eigentlich bestehen soll. Das einzige, was klar ist, ist, dass sie eine große Idee vertreten und in irgendeiner Weise dazu geeignet sein muss, „das große Ganze“ symbolfähig zu umspannen. Sekretär des Komitees zur Planung der Aktion wird Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften. Er hat zu Beginn des Romans für ein Jahr Ferien vom Alltag genommen. Dadurch eröffnet sich für Ulrich nun ein grenzenloser Horizont von unendlichen Möglichkeiten, was seiner Eigenschaft als sogenannter „Möglichkeitsmensch“, der nicht zwischen Entweder und Oder entscheidet, entgegenkommt. Die Sitzungen zur Vorbereitung der Parallelaktion finden im Salon von Ulrichs Cousine, genannt Diotima, statt. Trotz endloser - 303 -
Diskussionen über den Sinn und Zweck der Aktion kann niemand sagen, worin der Inhalt der Parallelaktion eigentlich bestehen soll. Und dies, obwohl die Versammlungen zu einer Art Bestandsaufnahme sämtlicher am Beginn des Jahrhunderts zur Verfügung stehender Ideologien werden. Weltanschauliche Konzeptionen gibt es genug was aber der Wiener Gesellschaft zum Zeitpunkt ihres nahenden Endes nicht mehr gelingt, ist, die eine leitende, symbolfähige Idee zu finden. Musils Mann ohne Eigenschaften kann sich des Prädikats rühmen, der ungelesenste Roman deutscher Sprache zu sein. Wer sich dennoch daran wagt, wird ein faszinierendes Universum entdecken. Darin leben eindrucksvolle Gestalten wie der wahnsinnige Mädchenmörder Moosbrugger oder der General Stumm von Bordwehr, der glaubt, er könne mit militärischem Drill Ordnung in das Durcheinander aller denkbaren Ideologien bringen. Und ein Bibliothekar, der nie liest, weil er nur so den Überblick über alle Bücher behält, die sich in seiner Obhut befinden.
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Samuel Beckett Warten auf Godot (1952) Warten auf Godot war das Theaterstück, mit dem Samuel Beckett berühmt wurde. Es gehört zum sogenannten „Theater des Absurden“. „Absurd“ bedeutet in diesem Zusammenhang nicht - wie in der Umgangssprache - „lächerlich“, sondern bezieht sich auf die Frage nach dem Sinn und Unsinn der menschlichen Existenz. Weil das Theater des Absurden diese Frage nicht mehr eindeutig klären kann, werden die Dramen des Theaters des Absurden zu einer eigenartigen Mischung aus abgrundtiefem Pessimismus und groteskem Humor. Samuel Beckett stammte aus Irland. Als junger Mann war er nach Paris gegangen, der Stadt mit magischer Anziehungskraft für die Künstler der Moderne. Dort befreundete er sich mit James Joyce; aber er wurde nicht - entgegen einer sich hartnäckig haltenden Anekdote dessen Sekretär. Ende der dreißiger Jahre machte Beckett Frankreich zu seiner Wahlheimat. Obwohl Becketts Muttersprache Englisch war, schrieb er die meisten seiner Stücke und Romane in Französisch. Die Handlung von Warten auf Godot ist mit einem Wort erzählt: Warten. Beckett sprengte mit diesem Stück alle konventionellen Erwartungen an das Drama: In Warten auf Godot passiert nichts; es gibt keine tiefgründigen Charaktere, sondern clowneske Figuren; und anstelle der großen Monologe wird hier eine Sprache gesprochen, die oberflächlich den Eindruck hinterlässt, als sei es unverständliches Gefasel. Zwei Mariner, Vladimir und Estragon, warten auf einer Landstraße, neben einem kleinen Baum, auf jemanden namens Godot. Sie wissen nicht, was sie von Godot wollen, sie wissen nicht, wer er ist und wie er aussieht, ob er jemals kommen wird, und sie sind sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt existiert. Vladimir und Estragon vertreiben sich die Zeit mit Reden. Doch ihre Versuche, miteinander zu sprechen, scheitern unaufhörlich: Sie reden aneinander vorbei, produzieren Missverständnisse, unterbrechen einander, wiederholen sich, wechseln abrupt das Thema oder behandeln Fragen wie - 305 -
Aussagen. Sie verhalten sich so, als würde man unaufhörlich an das Ende einer Sackgasse stoßen, feststellen, dass es hier nicht weiter geht, umkehren, einen neuen Anlauf nehmen, um dann festzustellen, dass es hier nicht weiter geht, wieder umkehren, usw. Während Vladimir und Estragon warten, und dabei auch kurz in Betracht ziehen, sich das Leben zu nehmen, erscheint ein zweites Paar: Es sind der despotische Pozzo und sein Sklave, Lucky. Pozzo führt Lucky an einem langen Strick und kommandiert ihn erbarmungslos herum. Er befiehlt ihm zu tanzen und laut zu denken. Nachdem Pozzo und Lucky die Bühne wieder verlassen haben, erscheint ein Junge, der verkündet, Godot würde heute nicht kommen können, dafür aber bestimmt morgen. Am nächsten Tag ist alles wie zu vor. Vladimir und Estragon warten wieder auf der Landstraße unter dem mickrigen Bäumchen, das diesmal vier bis fünf Blätter trägt. Sie führen ihre Gespräche, die in Sackgassen enden, denken an Selbstmord, bekommen Besuch von Pozzo, der jetzt blind, und Lucky, der jetzt stumm geworden ist. Sie fragen sich, ob gestern wirklich erst gestern war, und erfahren von dem Jungen, Godot würde nicht heute kommen, aber bestimmt morgen. Am Ende des zweiten Tages bzw. Aktes ist klar, dass jede Fortsetzung in Gestalt eines dritten Tages/Aktes nichts Neues bringen wird. Sie liefe nur auf Wiederholung dessen hinaus, was bereits (nicht) passiert ist. Vladimir und Estragon ble iben, wo sie sind, bleiben, wie und was sie sind, lernen nichts, finden nichts, verändern nichts, bekommen nichts, erkennen nichts und warten auf Godot. Als Warten auf Godot vier Jahre nach der Uraufführung in Paris (1953) den Insassen des San-Quentin-Gefängnisses bei San Francisco vorgespielt wurde, glaubten die Häftlinge, es sei für sie geschrieben worden. Jedenfalls wussten sie auf Anhieb etwas mit dem Stück anzufangen, das den Besuchern progressiver Theater in den europäischen Großstädten Rätsel aufgab. Wer oder was ist Godot? Ist Godot vielleicht Gott? Immerhin gibt es genug religiöse Anspielungen in Becketts Stück, um auf die Idee kommen zu können, die beiden heruntergekommenen Gestalten warteten auf ihre spirituelle Erlösung. Oder ist Godot vielleicht der - 306 -
Tod? Oder ist Godot vielleicht das Ziel am Ende der Suche nach Sinn? Oder ist Godot vielleicht die Hoffnung? Oder ist Godot vielleicht gar nichts? Die Häftlinge von San Quentin waren der Meinung, Godot sei „das Draußen“: Etwas, worauf man ewig wartet und das sich, wenn man es endlich bekommen hat, als herbe Enttäuschung entpuppen wird. Als Beckett gefragt wurde, ob er sagen könne, wer oder was Godot sei, antwortete er: »Wenn ich das wüsste, hätte ich das im Stück gesagt«. Nichts spricht dagegen, Godot für das zu halten, für was man es hält: Gott, Erkenntnis oder die Freiheit jenseits der Gefängnismauern. Aber nichts spricht dagegen, es auch für alles mögliche andere zu halten. Man kommt dem, was Godot ist, am nächsten, wenn man es als unendliche Offenheit von Sinn bezeichnet. Vladimir und Estragon bewegen sich in Zirkeln. Das, was sie tun, hat weder einen erkennbaren Anfang noch ein Ende. Dem ersten Tag sind viele identische Tage vorausgegangen, dem zweiten Tag werden viele identische Tage folgen. Godot wird nicht kommen - jedenfalls nicht, solange Vladimir und Estragon warten. Ihr Warten ähnelt dem Lied, das Vladimir zu Beginn des zweiten Akts singt: Ein Hund kam in die Küche und stahl dem Koch ein Ei. Da nahm der Koch den Löffel und schlug den Hund zu Brei. Da kamen die anderen Hunde und gruben ihm ein Grab. Und setzten ihm einen Grabstein, worauf geschrieben stand: Ein Hund kam in die Küche und stahl dem Koch ein Ei. Da nahm der Koch den Löffel und schlug den Hund zu Brei. Da kamen die anderen Hunde und gruben ihm ein Grab. Und setzten ihm einen Grabstein, worauf geschrieben stand: Ein Hund kam in die Küche und stahl dem Koch ein Ei. Usw. So wie das Lied die Bedingungen seiner Existenz fortlaufend selbst herstellt, verhält es sich auch mit dem Warten von Vladimir und Estragon. Sie warten, weil sie warten. Samuel Beckett, der 1969 den Literaturnobelpreis erhielt, markiert den Endpunkt der Moderne. Warten auf Godot beantwortet sich die Frage nach Sinn und Zweck des Wartens dadurch, dass sie gestellt wird. Dieses Zirkulieren des Sinns um sich selbst (das an die Bilder von Escher erinnert) gilt als eines der Erkennungszeichen der Postmoderne. Aber es bleibt bei Beckett immer noch eine nostalgische Hoffnung, dass das Warten vielleicht doch einen bestimmten Sinn haben könnte. Deshalb trägt es einen Namen: Godot. - 307 -
TRIVIALKLASSIKER Es gibt Helden und Heldinnen in der Literatur, die jeder kennt. Auch, wenn man die Bücher nicht gelesen hat. Denn Frankenstein, Dracula, Sherlock Holmes, Winnetou und Scarlett O'Hara verdanken ihren Bekanntheitsgrad ebenso dem Kino und dem Fernsehen wie der Popularität der Romane, in denen sie in Erscheinung treten. Graf Dracula sieht zwar alt aus gegen Hannibal Lecter, und Sherlock Holmes wirkt im Vergleich zu James Bond wie Pfeifentabak gegen Martini. Winnetou erinnert auch eher an einen verkleideten Oberstudienrat auf einem Kostümball in Wuppertal als an den, der mit dem Wolf tanzt. Und die grüne Abendrobe, die sich Scarlett aus einer Gardine schneidert, hat nicht die geringste Chance gegen Julia Roberts' Pretty-Woman-Look im kornblumenblauen Ministretchkleid. Die alten Helden und Heldinnen aus den populären Klassikern wirken ziemlich bieder im Vergleich zu Hollywoods jüngeren ZeitgeistIkonen. Aber würden wir ohne sie auskommen? Sagen Sie bloß nie: »das Monster Frankenstein«! Sagen Sie immer: »Frankensteins Monster«! Frankenstein ist nämlich nicht der Name des Monsters, sondern der Name seines Erschaffers, des ehrgeizigen Schweizer Naturwissenschaftlers Dr. Victor Frankenstein. Das Monster hat gar keinen Namen. Aber seine Präsenz im Roman Frankenstein (1818) ist so überwältigend, dass das Wesen ständig mit dem Titel des Buches identifiziert wurde. Die vielen phantasievollen Verfilmungen des Stoffs haben ihren Teil dazu beigetragen, Geschöpf und Schöpfer durcheinanderzubringen. „Frankenstein“ ist sprichwörtlich geworden für „Monster“. Der Roman Frankenstein war die Schöpfung einer neunzehnjährigen Frau: der Engländerin Mary Wollstonecraft Shelley. Alles an Frankenstein ist spektakulär: die Herkunft und Lebensgeschichte seiner Autorin, die Entstehungsgeschichte des Textes und natürlich die Geschichte selbst. Mary Shelley war die Tochter -» Mary Wollstonecrafts, der Begründerin des Feminismus. Mit knapp sechzehn brannte Mary Shelley mit dem prominenten Dichter der englischen Romantik Percy Bysshe Shelley durch. Shelley war zu - 308 -
diesem Zeitpunkt 22 Jahre alt, verheiratet, Vater eines Kindes, und seine Frau erwartete wieder Nachwuchs. Den Sommer 1816 verbrachten Mary und Percy, zusammen mit Marys Halbschwester, Claire, am Genfer See. In ihrer Nachbarschaft wohnte der berühmtberüchtigte Dichter Lord Byron, mit dem Claire ein Verhältnis hatte. In diesem Sommer war das Wetter besonders scheußlich: Es regnete in Strömen, und nachts erhellten gewaltige Blitze sekundenlang den Himmel. Das Wetter passte zum stürmischen Innenleben der nervösen, aufgewühlten jungen Romantiker, die sich Gespenstergeschichten vorlasen und Halluzinationen hatten, während draußen das Unwetter tobte. (Das Szenario hat Ken Russell 1986 zu dem Film Gothic inspiriert.) An einem dieser stürmischen Abende schlug Byron vor, selber Gespenstergeschichten zu schreiben. Während Mary erst gar nichts einfiel, lieferten die anderen halbherzige Beiträge ab: über eine Frau mit Totenkopf, die durchs Schlüsselloch sieht ... Erst ein paar Tage später hatte Mary einen Alptraum. Im Halbschlaf, beim Einschlafen, sah sie es plötzlich vor sich: Dr. Frankenstein und sein grässliches Monster. Ein Mythos war geboren. Die Geschichte beginnt am Nordpol. Eines Tages sieht der Polarforscher Robert Walton mitten im Packeis von fern ein monströses menschenähnliches Wesen in einem Hundeschlitten über das Eis jagen. Am nächsten Tag nimmt die Mannschaft einen halberfrorenen Mann an Bord. Es ist Dr. Frankenstein. Die Arktis ist die letzte Station einer endlosen Hetzjagd, von der nicht ganz klar ist, wer wen jagt: ob Dr. Frankenstein seine grässliche Kreatur hetzte oder das Monster seinen Erschaffer um die halbe Welt gescheucht hat. An Bord des Schiffes erzählt Dr. Frankenstein Walton nun seine Geschichte. Als junger Forscher kam er, vom Ehrgeiz getrieben, auf die Idee, einen Menschen zu erschaffen. Nach jahrelangen Experimenten fand er das „Elixier des Lebens. Die erstaunliche Formel ermöglichte ihm, einen aus Leichenteilen zusammengestückelten Riesen zum Leben zu erwecken. Als Dr. Frankenstein erkannte, was er erschaffen hat, kamen ihm Gewissensbisse. Er war daher erleichtert, als seine Kreatur eines - 309 -
Tages aus dem Labor verschwunden war. Das Monster trieb sich nun auf dem Lande herum, suchte Anschluss an die Zivilisation und las Plutarch, Miltons Verlorenes Paradies und Goethes Leiden des jungen Werthers. Es sah aber so unglaublich grässlich aus, dass ihm seine Bildung nicht so recht nützte: Wo es auftauchte, fielen die Frauen in Ohnmacht, rannten die Kinder kreischend davon und griffen die Männer instinktiv nach den Mistforken. Das vereinsamte Ungeheuer verlangte von Dr. Frankenstein, ihm eine Partnerin zu erschaffen, die ebenso hässlich wäre wie er selbst. Dr. Frankenstein dachte mit Grausen daran, was passieren würde, wenn die beiden Monster kleine Monster zeugen würden, und entschied, dass es kein weibliches Pendant geben dürfe. Aus Wut und Enttäuschung darüber, ein Außenseiter zu sein, der Zuneigung sucht, aber nur Horror hervorruft, beschloss die Kreatur, seinen Erschaffer zu vernichten. Sie tötete alle Menschen, die Dr. Frankenstein liebte: dessen Bruder, dessen Freund und dessen Braut. Dr. Frankenstein schwor, sein Monster so lange zu verfolgen, bis einer von beiden stürbe. Die Jagd endet am Nordpol. Dr. Frankenstein stirbt vor Erschöpfung in den Armen des Forschers Walton. Das Ungeheuer kündigt an, sich selbst zu verbrennen. Schlussbild: Frankensteins Monster treibt auf einer Eisscholle davon und verschwindet in der Dunkelheit der Nacht. Während der stürmischen Sommernächte 1816 brachten sich die romantischen Engländer am Genfer See in schaurig-schöne Stimmung, indem sie gruselige Themen diskutierten. Unter anderem sprach man über die Möglichkeiten, künstliches Leben zu erzeugen. Man redete über die Experimente des italienischen Anatomieprofessors Luigi Galvani, der vor einigen Jahren beobachtet hatte, dass tote Frösche anfingen zu zucken, wenn er sie mit der elektrostatisch aufgeladenen Klinge seines Skalpells berührte. Auch jenes seltsame Experiment des Dr. Erasmus Darwin fand Beachtung, in dem es ihm gelungen war, ein Stück Nudel dazu zu bringen, sich zu bewegen (er war der Großvater von Charles Darwin). Nach den neuesten wissenschaftlichen Theorien schien Elektrizität eine entscheidende Rolle zu spielen, wenn man beabsichtigte, leblose Materie zu beleben. Im 16. Jahrhundert hatte der berühmte Schweizer Arzt Paracelsus noch geglaubt, er könne einen kleinen Menschen (homunculus) aus in Pferdemist vergrabenem Sperma und Blut - 310 -
erschaffen. Mary Shelley blieb begreiflicherweise etwas ungenau in Bezug auf die Mittel, mit denen Frankenstein sein Geschöpf zum Leben erweckt. Aber offenbar schwebte ihr eine Kombination aus Elektrizität, göttlichem Funken und Genialität vor. Deshalb gab sie ihrem Roman den Untertitel „Der moderne Prometheuse Dem antiken Mythos zufolge hatte Prometheus den Menschen das Feuer (und damit die Zivilisation) gebracht. Zur Strafe dafür wurde er vom Göttervater Zeus an einen Felsen geschmiedet, wo ihm nun Nacht für Nacht ein Adler die Leber ausfraß, die tagsüber wieder nachwuchs. In einer zweiten Version des Mythos hatte Prometheus Menschen aus Ton geschaffen. Im Laufe der Zeit flössen beide Mythen zusammen und wurden zu einer Geschichte, in der Prometheus seine Tonfiguren durch eine Flamme zum Leben erweckt hatte. Die Romantik entdeckte den Menschenerschaffer Prometheus als Symbol für den schöpferischen Künstler. Man sah im Künstler nicht länger jemanden, der die Welt nachahmt, sondern den, der sie neu erschafft. Das Schreiben galt als einen kreativer Akt (lat. creatio: Schöpfung). Der Künstler wurde zum gottähnlichen Schöpfer. Die entsprechende Bezeic hnung für diese außergewöhnliche Fähigkeit einzelner Personen lautete: „Genie“. Das Genie war begnadet, die Welt durch einen Akt der Kreativität neu zu erschaffen. Mary Shelley setzte an die Stelle des romantischen Künstler-Genies den Forscher. Ihr moderner Prometheus ist kein Dichter, sondern der größenwahnsinnige Naturwissenschaftler Dr. Prankenstein. Sie schuf damit das Bild einer Naturwissenschaft, die an die Stelle Gottes getreten ist, aber der ihre eigenen Schöpfungen schauderhaft missraten. Darin liegt die anhaltende Faszination des FrankensteinMythos. Bekanntlich schreckt Hollywood vor nichts zurück. Es ist deshalb kein Wunder, dass in den siebziger Jahren Frankenstein und Dracula als Horror-Duo im Film auftraten. Bram Stokers Dracula (1897) gehört sicherlich zu den bekanntesten ungelesenen Büchern aller Zeiten. Stoker schrieb zwar nicht die erste Vampirgeschichte, aber die mit Abstand berühmteste. Stokers blutsaugender Graf Dracula hat einen historischen - 311 -
Vorfahren: Vlad Dracula, jenen grausamen Herrscher, der im heutigen Rumänien während des 15. Jahrhunderts sein Unwesen trieb. Vlad hatte, neben vielen anderen schlechten Charakterzügen, die Angewohnheit, Menschen zu pfählen, was ihm den Beinamen „Vlad, der Pfähler“ eintrug. Vlad pfählte eigentlich jeden, der ihm über den Weg lief. Er wurde nicht müde, sich immer wieder neue geometrische Anordnungen seiner Pfahl-Wälder aus zigtausenden von Gepfählten auszudenken. Als Vlad aus seinem Reich vertrieben wurde und in Ungarn Asyl suchen musste, gingen ihm die Untertanen aus, die er pfählen konnte. Er pfählte stattdessen Mäuse und Vögel. Noch heute kann man Draculas Schloß in den Karpaten besichtigen. Seine Berühmtheit verdankt es aber ebenso Bram Stokers Untoten „Graf Dracula“ wie dem schaurigen Treiben von Vlad, dem Pfähler. Stokers Roman beginnt mit der Ankunft des englischen Rechtsanwalts Jonathan Harker in Transsilvanien. Harker soll sich dort mit seinem Geschäftspartner Graf Dracula treffen, für den er in London ein Haus gekauft hat. Bald nach seiner Ankunft im Dorf unterhalb des Schlosses wird klar, dass Harkers Käufer kein gewöhnlicher Kunde ist: Schon die bloße Erwähnung des Grafen lässt den Wirt vor Angst erstarren. Die Dorfbewohner bekreuzigen sich, wenn der Name „Dracula“ fällt. Man drückt Harker Knoblauch und Kruzifixe in die Hand. Eine gespenstische Kutschfahrt bringt ihn zum Gruselschloss des Grafen. Das Mondlicht bricht durch die jagenden Wolken, in der Ferne heule n die Wölfe, flackerndes Kerzenlicht wirft unheimliche Schatten an die hohen Wände des alten Gemäuers. Harkers Gastgeber Graf Dracula entpuppt sich als ein älterer Herr von steinerner Gesichtsfarbe, der schlecht riecht, weder isst noch trinkt und nachts wie eine Eidechse an der Wand seines Schlosses hinunterhuscht. In der Dunkelheit der Nacht sucht er sich seine Opfer, deren Blut ihn seit 200 Jahren befähigt, sein Leben halbtags fortzusetzen. Der Biß geht gezielt in die Halsschlagader und hinterlässt zwei winzige rote Punkte auf dem Hals der Opfer. Harker entkommt selbst nur knapp der Verführung durch drei weibliche Vampire. Verwirrt muss sich der anständige Engländer eingestehen, dass die drei Verführerinnen mit ihren blutroten Lippen eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn ausüben. Kurz darauf kommt er hinter das Geheimnis seines gruseligen Gastgebers. Er - 312 -
entdeckt den Grafen wie tot in einer Holzkiste in der Gruft des Schlosses liegen. Während Harker nervlich zerrüttet in einem Krankenhaus in Budapest landet, reist Dracula nach England und treibt nun dort sein Unwesen. Sein begehrtes Opfer ist die reizende Lucy Westenra. Lucy ist der Idealtyp der bürgerlichen Braut, deren arglose Unschuld die Wirkung eines Aphrodisiakums hat. Sie kann sich immerhin rühmen, drei Männern den Kopf verdreht zu haben. Lucy wird aufgrund der nächtlichen Küsse des Grafen immer blasser. Ihr ratloser Arzt, Dr. Seward, holt sich Unterstützung. Er bittet seinen Lehrer, den großen Professor van Helsing aus Amsterdam, zu Hilfe. Der allwissende van Helsing ahnt sofort, welche dunklen Kräfte hier im Spiel sind, und versorgt die blasse Lucy mit enormen Mengen von Knoblauch. Doch weder das, noch die drei Bluttransfusionen, die Lucy nacheinander von ihren drei Verehrern erhält, können die bleiche Schöne retten. Sie stirbt und treibt nun ihrerseits ihr Unwesen als weiblicher Vampir. Aus der keuschen Jungfrau ist eine wollüstige Blutsaugerin geworden. Unter der Leitung Prof. van Helsings soll die Untoten Lucy nun in eine anständige Leiche verwandelt werden. Dazu muss ihr ehemaliger Verlobter einen Pfahl durch Lucys Herz rammen. Man braucht nicht viel Phantasie, um bei der Szene, in der Lucys Verlobter seinen Pfahl in den sich aufbäumenden Körper treibt, an einen gewaltsamen Geschlechtsakt zu denken und um zu erkennen, dass es sich hierbei um eine „Penetration“ (lat.: Durchdringung) handelt. Das nächste Opfer ist Mina. Sie ist die idealtypische Verkörperung der mütterlichen Frau mit Herz und Verstand. Mina ist die Ehefrau Jonathan Harkers, der sich inzwischen von seinem Schock erholt hat und nach England zurückgekehrt ist. Ihre Verführung durch Graf Dracula lässt an Zweideutigkeiten ebenfalls nichts zu wünschen übrig. Die Vereinigung von Dracula und Mina findet im Ehebett und in Anwesenheit ihres (bewusstlos gemachten) Ehemannes statt. Sie endet damit, dass Dracula sein Hemd aufreißt, Minas Kopf gewaltsam auf seine Brust drückt und sie zwingt, aus einer Wunde sein Blut zu trinken. Die Szene kommt einem erzwungenen oralen Geschlechtsverkehr ziemlich nahe. - 313 -
Schließlich wird es Dracula aufgrund des emsigen Treibens Professor van Helsings in England zu ungemütlich. Er kehrt in seine Heimat zurück. Dort spürt ihn der Professor auf und rammt ihm einen Pfahl durchs Herz. Mina wird von ihrem drohenden Schicksal, ein Vampir zu werden, befreit, und dem Treiben des Grafen ist für alle Zeiten ein Ende gemacht. Bram Stokers Dracula ist ein Roman über verdrängte Sexualität und erotische Phantasien. Er entstammt dem sexualfeindlichen Geist des spätviktorianischen England. Die Bedrohung, die von dem blutsaugenden Grafen Dracula ausgeht, ist erotischer Art. Denn der Vampir, der sich nachts über unbescholtene Frauen hermacht, und auch Männer nicht vor seinem Kuss verschont, untergräbt die strengen Regeln der Sexualmoral des späten 19. Jahrhunderts. Dracula treibt seine homoerotischen Spielchen mit Männern und korrumpiert die beiden beliebtesten Idole der viktorianischen Gesellschaft: die Jungfrau und die Mutter. Er verwandelt züchtige Jungfrauen wie Lucy in lüsterne Verführerinnen, und er bringt mütterliche Frauen wie Mina dazu, Fellatio zu praktizieren. Wenn Graf Dracula im prüden viktorianischen England um Mitternacht seine Gruft verließ, stiegen mit ihm die Geister der unterdrückten und verdrängten Sexualität aus ihren Gräbern. Woher stammen die Verletzungen am Hals von Ferguson junior? Ist seine Stiefmutter ein Vampir? Der berühmte Meisterdetektiv Sherlock Holmes kann in seinem Fall Der Vampir von Sussex über derartigen Unsinn nur müde den Kopf schütteln. Sherlock Holmes ist das Masterbrain der Kriminologie: Mit dem Blick eines Adlers und dem unbestechlich logischen Vorgehen einer Denkmaschine löst Holmes jeden noch so schwierigen Fall. Deshalb ist sein überforderter Kollege Lestrade von Scotland Yard ein regelmäßiger Gast in Holmes' Londoner Domizil in der Baker Street 221b. Sherlock Holmes ist die Erfindung des schottischen Arztes Sir Arthur Conan Doyle. Weil Doyles Praxis nicht besonders gut lief, schrieb er zum Zeitvertreib und als zusätzliche Geldquelle Kurzgeschichten. Als Vorbild für die Figur seines berühmten Detektivs diente ihm sein ehemaliger Medizinprofessor Dr. Joseph Bell. Bell konnte wildfremden Personen auf den Kopf zusagen, woher - 314 -
sie stammten, was sie beruflich taten usw. Er sah sich einfach nur genau an, wie schmutzig ihre Schuhe waren, wie sie sprachen, wie sie sich bewegten, und achtete auf kleinste Details. Er verblüffte seine Studenten an der Universität von Edinburgh immer wieder aufs neue, wenn er unbekannte Patienten mit Sätzen begrüßte wie: »Haben Sie sich in England schon wieder gut eingelebt, seit Sie Ihren Dienst in der Britischen Armee in Indien beendet haben?« Als Doyle 1887 seine erste Sherlock-Holmes-Geschichte „A Study in Scarlet“ geschrieben hatte, wollte sie zunächst niemand veröffentlichen. Aber als er seinen Detektiv vier Jahre später am Wasserfall im schweizerischen Reichenbach abstürzen ließ, war Holmes so populär geworden, dass die Leser auf energischste protestierten und Sherlock Holmes ins Leben zurückkehrten musste. Insgesamt entstanden zwischen 1887 und 1927 vier Romane und 54 Kurzgeschichten. Sherlock Holmes ist ein Exzentriker erster Güteklasse. Wenn er nicht mit einem seiner Fälle beschäftigt ist, experimentiert er in seinem Labor mit übel riechenden chemischen Substanzen. Oder er verfasst seltsame Bücher über die 140 unterschiedlichen Erscheinungsformen von Zigaretten- und Zigarrenasche (mit farbigen Illustrationen der Asche). Holmes beherrscht verschiedene Kampfsportarten: Boxen, Fechten und die asiatische Technik baritsu. Zu Hause trägt der Meisterdenker einen Morgenmantel, aber berühmt geworden ist er mit seinem Tweedcape und vor allem mit seinem Hut. Die Kopfbedeckung heißt im Englischen deerstalker und in der offiziellen deutschen Übersetzung: „Sherlock-Holmes-Mütze“. Holmes' Attribute sind seine Lupe und seine Pfeife. Und Holmes hat ein Laster. Dies allerdings ist so bedenklich, dass es die zahllosen Sherlock-Holmes-Verfilmungen verständlicherweise verschwiegen haben. Holmes ist nämlich kokainsüchtig. Die Methode, mit der Holmes jeden Kriminalfall löst, besteht aus der Kombination von drei Dingen: Wissen, Beobachtung und Schlussfolgerung. Erstens verfügt Holmes über eine ungeheure Menge von Kenntnissen aus allen möglichen Bereichen. Er weiß über alles Bescheid, was bei der Aufklärung eines Mordes nützlich sein könnte. Zweitens vertritt Holmes die Ansicht, dass nichts zu banal ist, um - 315 -
bedeutungsvoll sein zu können. Auch dem kleinsten Detail muss Aufmerksamkeit geschenkt werden, weil es möglicherweise höchst wichtig sein könnte. Deshalb kriecht Holmes über Teppiche, sammelt Flusen ein und nimmt alles genau unter die Lupe. Drittens zieht Holmes erst dann seine Schlüsse, wenn er sich ein akkurates Bild der Lage gemacht hat. Keine Beschreibung von Sherlock Holmes ist vollständig ohne die Erwähnung seines Freundes und Mitbewohners Dr. Watson. Mit Watson teilen wir Leser das ungläubige Staunen über die scheinbar hellseherischen Kräfte Holmes', die sich am Ende immer wieder als reine Logik entpuppen. Das Kriminalisten-Duo aus allwissendem Alleskönner (Holmes) und intelligentem Assistenten (Watson) ist eine klassische Konstellation geworden: Die eine Figur weiß und sieht alles - ihr gehört unsere Bewunderung. Die andere Figur weiß und sieht genauso wenig wie wir - aber durch ihre Fragen finden wir allmählich heraus, was wir selbst alles übersehen haben. Wir kennen die Rollenverteilung aus unzähligen Krimis und Thrillern. Sie taucht auch in der Kombination des weisen Bruder William von Baskerville und des jungen Adson von Melk in Umberto Ecos Der Name der Rose auf. Mein Nachbar Robert hasst Krimis. Er hält sie für trivial und behauptet, es passiere ohnehin immer nur dasselbe. Robert irrt. Zwar passiert tatsächlich immer dasselbe, aber das geschieht auf ziemlich intelligente Weise. Krimis sind nicht halb so banal wie ihr Ruf. Denn, ob man es glaubt oder nicht, die Gattung Krimi ist eine besonders anschauliche Inszenierung der Erkenntnistheorie auf dem Stand des 21. Jahrhunderts. Was der Krimi mit Erkenntnistheorie zu tun hat, ist nicht ganz einfach zu verstehen, aber die Hürde ist der Preis für das gute Gewissen bei zukünftiger Krimilektüre. Die moderne Erkenntnistheorie besagt, dass jede Erkenntnis von einem blinden Fleck begleitet ist. Mit anderen Worten, es gibt kein Sehen ohne Nicht-Sehen. Genau das führt uns das Paar Holmes/Watson vor: dem Alleswisser Holmes folgt der ahnungslose Watson stets wie sein blinder Fleck. Ohne Watson kein Holmes oder: ohne Blindheit keine Erkenntnis. Im Unterschied zur Theorie, der zufolge es nie eine endgültige Erkenntnis geben kann, weil es immer noch etwas gibt, was man nicht - 316 -
gesehen haben kann, leistet sich der Krimi die Fiktion des „gelösten Falls“. Im Krimi ist am Ende immer alles geklärt. Dann sind die blinden Flecken ausgeleuchtet, und man weiß, wer der Täter war, und man •weiß sogar, warum er oder sie es getan hat. Am Ende des Krimis gibt es keine offenen Fragen mehr. Aber wahre Krimifans ahnen, dass das nicht stimmen kann. Sie wissen, dass es ein Meer ungelöster Fragen gibt - in hunderten von weiteren Krimis, die es zu noch lesen gilt. Frauen wie Scarlett O'Hara aus Margaret Mitchells Vom Winde verweht (1936) haben das gnadenlose Urteil Sherlock Holmes' über das weibliche Geschlecht geprägt. Denn wenn Holmes Frauen in den Sinn kommen (aber das geschieht nicht besonders häufig), denkt er an verwirrende weibliche Widersprüchlichkeit, die für ihn an Unzurechnungsfähigkeit grenzt. Erstaunlicherweise ist Holmes auf diesem Auge aber ziemlich blind: Denn er sieht nicht, dass weibliche Widersprüchlichkeit keine weibliche Eigenschaft ist, mit der Frauen auf die Welt kommen, um ihren Mitmenschen dann fortan damit auf die Nerven fallen. Frauen wie Scarlett, die Südstaatenschönheit und hammerharte Geschäftsfrau, wirken - widersprüchlich, weil sie zwei konventionelle Rollenerwartungen erfüllen, ohne für eine davon besonders begabt zu sein. Vom Winde verweht ist der größte amerikanische Bestseller aller Zeiten. Mit der Besetzung von Vivien Leigh als Scarlett und einem ölig pomadierten Clark Gable als Rhett Butler wurde auch die Verfilmung (1939) zu einem der großen Klassiker des HollywoodKinos. Der Roman spielt vor der historischen Kulisse des amerikanischen Bürgerkriegs in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Er beschreibt das Ende einer Ära: den Untergang der Welt der Pflanzer-Aristokratie in den Südstaaten, die mit ihren Baumwollplantagen reich geworden waren und in den vornehmen Plantation-Homes residierten, die aussahen wie griechische Tempel. Aber natürlich ist der Roman vor allem ein Liebesroman um Scarlett O'Hara und Rhett Butler. Scarlett ist auf dem herrschaftlichen Südstaaten-Anwesens Tara aufgewachsen. Während sie anfänglich noch als die verwöhnte - 317 -
Tochter aus wohlhabenden Verhältnissen auftritt, zeigt sich mit Ausbruch des Krieges eine Seite an ihr, die unter normalen Bedingungen hinter der Maske konventioneller Weiblichkeitsrollen verborgen geblieben war. Im Krieg lernt Scarlett zu handeln wie ein Mann: Sie verwandelt sich in eine tüchtige Unternehmerin, deren knallhartes Verhandlungsgeschick ihr Respekt und Erfolg einbringt. Zum Erfolg trägt aber auch bei, dass Scarlett vordergründig immer noch alle Konventionen erfüllt, die die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts für Frauen vorgesehen hat. Hinter der Fassade der konventionellen Frau verbirgt sich die souveräne Geschä ftsfrau. Während sich die Trennung von Rolle und Realität im geschäftlichen Bereich als erfolgreich erweist, ruiniert der Widerspruch zwischen Erwartungen und gelebter Wirklichkeit Scarletts Liebesleben. Denn obwohl Scarlett zwar handelt wie ein Mann, träumt sie die romantischen Träume der Tochter aus gutem Hause, für die irgendwann einmal ein Ritter vorbeigeprescht kommen muss. Diesen Ritter glaubt Scarlett in der Person des etwas fad wirkenden Pflanzers Ashley Wilkes entdeckt zu haben. Ashley zieht Scarle tt jedoch eine andere vor. Dann taucht - quasi in Scarletts blindem Fleck - der hinreißende Außenseiter Rhett Butler auf. Er ist der einzige Mann, der Scarlett gewachsen ist, weil er - genau wie sie - herkömmliche Erwartungen an soziale Rollen nur bedingt erfüllt. Wunderbarerweise verliebt er sich in Scarlett, aber die hängt weiterhin ihrem Mädchentraum vom Pflanzer-Ritter nach und denkt an Ashley. Damit treibt Scarlett ihr Lesepublikum allmählich in die Verzweiflung bzw. gierig weiter durch die 1000 Seiten des Romans, weil keine Leserin verstehen kann, warum Scarlett den unwiderstehlichen Rhett verschmäht. Die Leserin weiß genau, was sie selber tun würde - wäre sie an Scarletts Stelle. Insgeheim ahnt sie natürlich, dass Scarlett und Rhett zusammenkommen werden, aber sie kann kaum erwarten, bis es soweit sein wird. Als Vom Winde verweht nach den Zweiten Weltkrieg in die deutschen Kinos kam, waren der Film und der Roman ein gigantischer - 318 -
Erfolg. Das lag unter anderem auch daran, dass die Frauen der Nachkriegszeit eine bestimmte Erfahrung von Weiblichkeit mit Scarlett teilten: Den Frauen der Nachkriegszeit war die Aufgabe zugefallen, „zusammenzuhalten“, was immer an Familie oder Besitz in den Trümmern des Krieges übrig geblieben war. Sie waren mit der Bewältigung einer Katastrophe im Alltag beschäftigt, und sie wussten, dass sie handeln konnten wie Männer. Aber wie Scarlett erfuhren sie den Widerspruch von der Realität, in der sie handelten wie Männer und konventionelle Rollenerwartungen an die Frauen der fünfziger Jahre erfüllen wollten. Heutzutage haben die Winnetou-Verfilmungen mit Pierre Brice in der Hauptrolle den Kultstatus von orangefarbenen Flokatiteppichen. Früher einmal war Karl May für Generationen von Lesern die Einstiegsdroge. Mit Karl May lernte man nämlich lesen - und zwar richtig, so wie ein Erwachsener: Man las zum ersten Mal in seinem Leben dicke Bücher mit kleiner Schrift ohne Bilder. Hinter all jenen, die mit zehn Jahren den ersten Band von Winnetou (1893) aufschlugen, verschloss sich für immer eine Tür. Von nun an führte kein Weg zurück an das Regal, auf dem Trixie rettet sieben Kätzchen und Der tapfere Ritter Heribert standen. Schon von außen wirkten die Romane mit ihren flaschengrünen oder burgundroten Einbänden wie der Inbegriff eines Erwachsenen-Buches. (Aus der kindlichen Perspektive konnte man nämlich noch nicht erkennen, dass sie in Wirklichkeit so aussahen wie die Werke repräsentativer Bibliotheken aus Buchattrappen.) Karl May lesen war wie durch die Prärie reiten: man las und las und las. Hunger, Durst und geistige Ödnis konnten einem nichts anhaben. Auch wenn einem der Kopf vor Müdigkeit schon auf die Brust sank man las trotzdem weiter. Winnetou eröffnete eine neue Welt: Am Ende des strapaziösen Ritts durch die endlosen Weiten weitschweifiger Beschreibungen, und auch nachdem man das kaum zu bewältigende Gelände des Gefühlspathos hinter sich gebracht hatte, war ein neues Territorium erschlossen - die Welt des Lesens. Winnetou faszinierte Heranwachsende, weil darin Erwachsenenthemen so behandelt wurden, dass man sie auch schon als Viertklässler verstehen konnte. Große Begriffe der abendländischen Kultur wie Liebe, Haß, Verrat, Freundschaft und Tod - 319 -
kamen einem plötzlich so vertraut vor wie das Leben auf dem Pausenhof. Und auch die weiten Landschaften, in denen Indianer weiße Siedler attackieren, wirkten so heimelig wie die Lüneburger Heide. Es gibt Leute, die behaupten, es seien vor allem die vielen phallischen Marterpfähle, die das heranwachsende Lesepublikum besonders ansprächen - das lassen wir mal dahingestellt. Zweifellos jedoch erfüllten Karl Mays phantasievoll gestaltete Wildwest-Epen alle möglichen kindlichen Sehnsüchte nach Abenteuer, fremden Ländern und Heldentum. Das neugierige jugendliche Gemüt auf Entdeckungsreise schreckte auch nicht vor der hemmungslosen Sentimentalität der Indianeridyllen zurück. Außerdem befriedigte die Figur des Ich-Erzählers und Alleskönners Old Shatterhand sämtliche infantilen Überlegenheitsphantasien - übrigens auch die von Karl May selbst: Denn mit dem glorreichen Old Shatterhand hatte sich May, nach seiner eigenen missratenen Vergangenheit als gescheiterter Hilfslehrer und Kleinkrimineller, ein eigenes Wunsch-Ich zurechtgezimmert. Old Shatterhand („Schmetterhand“), ein aus Deutschland stammender Vermesser für die Eisenbahn durch den Wilden Westen, erhält diesen merkwürdigen Beinamen, weil er einen fiesen Kerl mit bloßer Faust hinstrecken kann. Das ist toll. Wenig später kommt es zu Reibereien mit Indianern - wodurch Old Shatterhand den edlen Apachenkrieger Winnetou kennenlernt. Winnetou ist ein derart makelloser Held, dass man den Eindruck erhält, er habe auch noch saubere Fingernägel, nachdem er vier Tage durch die Prärie geritten ist. Old Shatterhand und Winnetou bekämpfen sich erst einmal ordentlich, bevor sie Blutsbrüderschaft schließen - so wie jedem echten Knabenbündnis die Prügelei auf dem Schulhof vorausgeht. Dann verliebt sich auch noch die Schwester Winnetous (Nscho-tschi) in den weißen Helden und stirbt aber, bevor es zu Komplikationen kommen kann. Im zweiten und im dritten Teil von Winnetou passiert auch allerlei, und am Ende stirbt Winnetou unter den Klängen eines von Old Shatterhand eigens komponierten „Ave Maria“, das ein Chor von Siedlern feierlich zum Vortrag bringt. Das ist alles sehr traurig. Am traurigsten ist aber, dass ich Winnetou gelesen habe, als ich, zehnjährig, über die besten Lernkapazitäten - 320 -
meines ganzen Lebens verfügte und noch nach 25 Jahren weiß, dass Old Shatterhand zwei Gewehre hatte, von denen das eine „Henrystutzen“ hieß - aber fast alles vergessen habe, was in einem der größten Romane der Weltliteratur, in Tolstojs Anna Karenina passierte, den ich viele Jahre später las.
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KULTBÜCHER Ein Kultbuch ist ein Buch, das in Ihrem Bücherregal steht, ohne dass Sie die leiseste Ahnung haben, wie es dorthin gekommen ist. Ein Kultbuch ist auch ein Buch, das Sie einmal besessen und vor ewigen Zeiten verliehen haben. An wen? Sie erinnern sich nicht mehr. Aber es wäre ohnehin sinnlos, den Entleiher zu bitten, es bei Gelegenheit doch mal wieder mitzubringen. Denn Gerd (dem haben Sie es nämlich geliehen) hat es damals gleich weiter an Burkhard verliehen und Burkhard hat es verschlungen und Maria in die Hände gedrückt und Maria hat es total begeistert Klara aufgedrängt. Klara las die erste Seite, und fand es blöd. Sie packte es in die Kiste zu den zerknickten, speckigen Taschenbüchern, die sie demnächst auf dem Flohmarkt verkaufen würde. Dort hat es vor vier Monaten ein chinesischer Student der Zahnmedizin gekauft. Zusammen mit dem resedagrünen Toaster für drei Mark. Kultbücher führen mühsame, abenteuerliche und tragische Existenzen. Sie stammen aus den Randzonen des Literaturbetriebs. Von dort kämpfen sie sich in die Herzen der Leser und Leserinnen. Sie stammen von Autoren, die niemand vorher kannte, von namenlosen Schreibern, die zu allem Übel irgendetwas Schräges mit ihrem Leben angestellt haben. Kultbücher erscheinen bei obskuren Verlagen, die sich keine Werbeabteilung leisten können. Deshalb sind lustige, bunte „Kultbücher“, die vom Verlag beschwingt so genannt werden, meistens keine Kultbücher, sondern lustige, bunte Bücher. Die Leser, die ein Buch zum Kultbuch machen, tun das, um sich von jenen zu unterscheiden, denen das Kultbuch zie mlich egal ist. Kultbücher ziehen Grenzen. Es gibt Kultbücher für Grafiker, für Architekten, für Indologen, für Kunsthistoriker, für Anglisten, für Köche, für mich und meine Freunde, usw. Diese Kultbücher sind feine Erkennungszeichen, und gelegentlich haben sie den Rang von Statussymbolen. Aber dann gibt es noch die „richtigen“ Kultbücher. Sie haben die Zeit in Bewegung gesetzt, Unruhe geschaffen und die Spuren von Erschütterungen hinterlassen. Sie waren Kultbücher, bevor man - 322 -
überhaupt wusste, was das war, wie Goethes Leiden des jungen Werthers, oder sie haben eine ganze Generation um sich geschart, wie J. D. Salingers Fänger im Roggen. Sogar Dr. Frankensteins Monster las das Buch, das eine Jugendrevolte auslöste: Johann Wolfgang Goethes Leiden des jungen Werthers (1774). Der Roman versetzte die Jugend ganz Europas in Aufruhr - allerdings spielte sich der Tumult dann eher im Gefühlsleben der Leser ab, statt in Form einer Rebellion gegen die Gesellschaft. Obwohl die Kommerzialisierung des Buchmarktes in Deutschland gerade erst begonnen hatte, erkannten findige Unternehmer, dass sich mit dem „Werther „ jede Menge Geld verdienen ließ - und zwar nicht bloß in Buchform. Sie brachten ein „Werther“-Parfum auf den Markt, dekorierten Gebrauchsgegenstände mit „Werther“-Motiven und verkauften Schattenrisse und Zeichnungen mit den ergreifendsten Szenen des Romans. Das Publikum war beglückt und weinte gerührt beim Anblick Werthers, der vor Lotte kniet. Die Leiden des jungen Werthers ist die Geschichte eines jungen bürgerlichen Intellektuellen über das Leiden an der Liebe und an der Gesellschaft. Werther reist in eine ländliche Kleinstadt, um dort Erbschaftsahngelegenheiten zu regeln. Von dort schreibt er Briefe an seinen Freund Wilhelm. Die Entfernung von der Stadt und das Erleben der Natur werden zur Selbstoffenbarung. Schwärmerisch beschreibt Werther die Schönheit der Natur. Er durchwandert Wald und Wiesen, öffnet sein Herz und weint ein paar Tränen. Derart feinfühlig gestimmt, horcht Werther auf die Regungen seiner Seele. Er spürt jeder Bewegung des Gemüts bis ins kleinste nach und entdeckt im Inneren der eigenen Person eine faszinierende Fülle an Emotionen. Das Ich entfaltet sich als eine kleine Welt für sich. Diese Welt wird in all ihren Facetten erkundet. Es offenbart sich ihm eine Gefühlslandschaft, die so vielseitig ist, dass sie die Gesellschaft ersetzen kann. Werthers Ausflüge in die Natur sind ein Rückzug aus der Gesellschaft und eine Entdeckung des eigenen Ich. Kurz nach seiner Ankunft lernt Werther ein junges Mädchen, Lotte, kennen. Lotte ist der Inbegriff natürlicher Anmut und Tugend. Alles, was Werther an Lotte fasziniert, kommt in einem einzigen Bild zum Ausdruck: Es ist die berühmte Szene, in der Lotte - gekleidet in ein - 323 -
schlichtes weißes Kleid - Schwarzbrot für ihre jüngeren Geschwister schneidet. So ist Lotte: mütterlich und mädchenhaft unschuldig, rein, unverfälscht und natürlich. Deshalb muss sie auch Schwarzbrot schneiden - im Unterschied zum Weißbrot, das an den Tafeln des dekadenten Adels gegessen wird. Zwischen Werther und Lotte entspinnen sich die zarten Bande einer empfindsamen Liebe. Gemäß dem zeitgenössischen Ideal verstehen die Liebenden nicht nur, was der andere sagt oder denkt - jeder kann sogar synchron mitfühlen, was der andere gerade empfindet. Dafür braucht man kaum noch Worte - und manchmal reicht sogar nur ein einziges aus, um dem anderen einen Blick in die eigene übervolle Seele zu geben. So wie in der zweiten berühmten Episode des Buchs, der „Klopstock-Szene“. Werther und Lotte versinken gerade im Anblick eines Wolkenbruchs nach einem Sommergewitter, als Lotte ihre Hand auf Werthers legt und rätselhaft sagt: »Klopstock«. Werther versteht das sofort. Denn er hat, wie jeder gebildete Mensch des 18. Jahrhunderts, Klopstocks berühmte Ode Die Frühlingsfeier gelesen, an die Lotte dachte. Und er weiß, dass de r Name Friedrich Gottlieb Klopstocks der Inbegriff der andächtigen Naturbetrachtung ist. Klopstocks Gedichte lösten ganze Kaskaden an Gefühlsregungen bei den Lesern aus. Werther versteht, was Lotte fühlt - nämlich zu viel, um viele Worte darum zu machen. Aber natürlich ist die ganze Szene hochgradig widersprüchlich, denn um auszudrücken, dass man zu viel fühlt, um es noch in Worte zu fassen, zitiert man einfach Literatur. Werther und Lotte können sich verständigen, wenn die Sprache versagt, weil sie dasselbe gelesen haben. Dem Gleichklang der Seelen zwischen Werther und Lotte steht allerdings ein ganz reales Hindernis im Wege, denn Lotte ist bereits verlobt. Als der Verlobte, Albert, von einer Reise zurückkehrt, tritt Werther in die Dienste eines adeligen Gesandten in einer anderen Stadt ein. Dort beobachtet er angewidert das Zeremoniell und das Konkurrieren um Beförderungen am Hofe. Als man ihn dann auch noch aus einer aristokratischen Tischgesellschaft herauswirft, weil er dort - als Bürgerlicher - nichts verloren hat, quittiert Werther seinen Dienst. Es treibt ihn zurück zu Lotte, die inzwischen Alberts Frau geworden ist. Werthers Stimmung verdüstert sich nun zunehmend, er versinkt in - 324 -
Verzweiflung und sieht schließlich keinen anderen Ausweg mehr aus seiner Lage, als sich das Leben zu nehmen. Nach einer letzten leidenschaftlichen Begegnung mit Lotte schießt er sich in die rechte Schläfe. Man findet ihn vor seinem Schreibtisch liegen, auf dem Lessings Drama Emilia Galotti aufgeschlagen liegt. Die Wirkung des schmalen Briefromans war überwältigend. Eine ganze Generation deutscher, französischer und englischer junger Erwachsener fiel ins „Wertherfieber“. Die Männer kleideten sich wie Werther in braune Stiefel, gelbe Weste und blauen Rock. Beide Geschlechter identifizierten mit dem Lebensgefühl à la Werther und begannen, wie Werther zu empfinden. Die Wirkung trat schon während der Lektüre ein. Denn genauso, wie Werther permanent von seinen eigenen Gefühlen überwältigt ist, wurde bereits das Leseerlebnis zum Wertherfeeling. Man stellte bebend eine tiefe Ergriffenheit an sich fest, und wenn man versuchte, die innere Erschütterung zu Papier zu bringen, klang das meistens so, als stammten die Worte aus Werthers Feder: »Da sitz ich mit zerflossnem Herzen, mit klopfender Brust, und mit Augen, aus welchen wollüstiger Schmerz tröpfelt«, schrieb zum Beispiel der Dichter Christian F. D. Schubart. Weniger harmlos als diese Versuche, Werthers Gefühle zu kopieren, war, dass einige Leser glaubten, es dem unglücklichen Helden bis zum bitteren Ende nachtun zu müssen. Sie nahmen sich nach der Lektüre das Leben. Das „Werther-Fieber“ grassierte in einer Zeit, in der halb Europa von einem Kult um Gefühle ergriffen war. Die Bewegung, die entscheidende Impulse aus Frankreich (Rousseau) und England (Shaftesbury) bekommen hatte, ging vom Bürgertum aus. Sie beruhte auf der Vorstellung, dass nur der aufrichtig fühlende Mensch die Grundlage einer moralisch einwandfreien Gesellschaft sein könnte, die durch Mitgefühl zusammengehalten würde. Gelegentlich wurde die Kult ivierung des Gefühls jedoch furchtbar übertrieben: Man versuchte fieberhaft, das eigene Herz zu rühren, und brach ständig in Tränen aus. In Deutschland gab man der Bewegung den Namen „Empfindsamkeit“, in England sprach man von „Sensibility“, in Frankreich von „Sensibilité“. Werthers seelische Erschütterung traf genau in diese Stimmung. Sie machte ihn zu einem Vorbild für eine ganze Generation. Aber im Grunde stellte der Werther-Kult eine - 325 -
ungeheure Paradoxie dar, denn er lief darauf hinaus, dass man das eigene aufrichtige Empfinden als Werther-Kopie herstellte. In Deutschland faszinierte Werther noch aus einem anderen Grund. Werther wurde zur Identifikationsfigur der deutschen bürgerlichen Intellektuellen, weil er nicht nur ein unglücklic h Liebender war, sondern auch eine tiefe Unzufriedenheit mit der Gesellschaft zum Ausdruck brachte. Werther ist, wie das gesamte gebildete Bürgertum des 18. Jahrhunderts, von allen wichtigen Funktionen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen. Sein Rauswurf aus der (Tisch-)Gesellschaft des Adels ist das passende Bild für diese Misere des deutschen Bürgertums. Alle wichtigen Aufgaben lagen im kleinstaatlich regierten Deutschland in den Händen des Adels. Weil das gebildete Bürgertum weder über Macht noch Öffentlichkeit verfügte, verschaffte es sich seine Freiheit nicht auf politischem Wege, sondern durch den Rückzug aus der Öffentlichkeit und durch die Idee der „inneren Freiheit. Das deutsche Bürgertum rettete sich von den Tafeln des Adels, an denen es nicht willkommen war, in die „Innerlichkeit“. Man hat in diesem kulturellen Sonderweg, der das deutsche Bürgertum, im Unterschied zum englischen und französischen, entpolitisierte, den Ursprung der polit ischen Apathie der Weimarer Republik gesehen, die in die Katastrophe des NS-Regimes führte. Die Leiden des jungen Werthers basierte auf realen Ereignissen: Zwei Jahre vor der Niederschrift hatte sich Goethe, während eines Aufenthaltes in Wetzlar, in Charlotte Buff (alias Lotte) verliebt, die jedoch bereits mit einem Christian Kestner verlobt war. Einige Wochen, nachdem Goethe seelisch zerrüttet aus der DreiecksKonstellation geflüchtet war, erschoss sich in Wetzlar ein junger Mann, Karl Wilhelm Jerusalem. Jerusalem hatte an unerwiderter Liebe gelitten und war - wie Werther - aus einer Adelsgesellschaft ausgeschlossen worden. Goethe floh indessen in den Haushalt der bekannten Verfasserin der Geschichte des Fräuleins von Sternheim, Sophie von La Röche, und verliebte sich in eine ihrer Töchter - aber auch die war ein Jahr später mit einem anderen verheiratet. Nun endlich war das Maß des Leidens voll und die Erzählelemente komplett, und Goethe schrieb den Werther in nur vier Wochen nieder. Wenn es ein Kultbuch aller Kultbücher gibt, dann ist es dieser Jerome D. Salingers Der Fänger im Roggen (1951). Eigentlich ist Der - 326 -
Fänger im Roggen ein historisches Kultbuch: einst die rebellische Lektüre von Generationen von Heranwachsenden, heute staatlich abgesegneter Teil des Lektürekanons für den Englischunterricht und Gegenstand von Klausuren in der Oberstufe. Der Fänger im Roggen hatte den idealen Start eines Kultbuchs: Es stammte von einem unbekannten, etwas seltsamen Schriftsteller, es löste überhaupt keine Begeisterung auf seilen der Kritiker aus, und es schaffte nach zwei Wochen den Sprung auf die Bestsellerliste der New York Times. In den folgenden Jahrzehnten wurde Salingers Roman zum meistgelesenen und zugleich zum meistzensierten Buch an amerikanischen Colleges. Das, was die jugendlichen Leser an dem Buch liebten, die authentische, rotzige Sprache des aufsässigen siebzehnjährigen Ich-Erzählers Holden Caulfield, empfanden Lehrer und Eltern als höchst ungeeignet für die Erziehung ihrer Schüler und Kinder. (Der flapsige Ton klingt für verwöhnte Ohren im 21. Jahrhundert gelegentlic h so, als würde jemand „knorke“ sagen und „cool“ meinen.) 1980 gewann Der Fänger im Roggen düsteren Ruhm durch eine Tragödie in der Popkultur: Ein verwirrter Fan erschoss John Lennon und erklärte, Salingers Roman habe ihn zu der Tat inspiriert. Aber bereits kurz nach der Veröffentlichung passierte das Beste, was einem Kultbuch passieren kann. Sein Autor wurde wunderlich, um nicht zu sagen ein Freak. Salinger ist eines der größten Rätsel der amerikanischen Öffentlichkeit: Er ist buchstäblich verschwunden. Kurze Zeit nach seinem großen Erfolg zog sich Salinger auf ein Anwesen in New Hampshire zurück und versackte in asiatischen Religionen. Er bestand nun darauf, dass sein Portrait von den Schutzumschlägen seiner Bücher verschwand, verhängte die Seitenscheiben seines Jeeps und ward nicht mehr gesehen. Salinger hüllte sich in ein nicht zu überhörendes Schweigen, dem seitdem die ganze amerikanische Nation fasziniert lauscht. Soviel Aufmerksamkeit bei soviel Abwesenheit wird sonst nur Gott zuteil. Da pilgern nun seit Jahrzehnten die Jünger ins ländliche Cornish im Bundesstaat New Hampshire, nur, um einmal dieselbe Luft zu atmen und durch denselben Morast zu waten wie jener Geist, der sich beharrlich in Unsichtbarkeit hüllt. Angeblich lebt der 1919 geborene Autor noch, und angeblich schreibt er auch noch (unsterblich und - 327 -
unerschöpflich wie Gott). Allerdings ist seit 40 Jahren keine neue Zeile mehr von ihm veröffentlicht worden. Zum Schreiben, hat man gehört, begäbe sich Salinger in einen Bunker auf seinem Privatgelände. Und das Buch, um das es geht? Holden Caulfield, der todunglückliche, rebellische und verletzliche junge Held und IchErzähler, ist in einem Sanatorium gelandet und schreibt sich von der Seele, wie es dazu kam. Holden ist zum vierten Mal aus einem Eliteinternat geflogen. Anstatt sofort zu seiner Familie zurückzukehren, treibt er sich noch drei Tage in New York herum. Holden ist ein intelligenter, aber vollkommen unreifer junger Mann. Auf seiner Odyssee durch die Großstadt unternimmt er fürchterlich linkische Versuche, sich wie ein Erwachsener zu benehmen: Er bestellt Alkohol und bekommt natürlich nur Cola; er lässt sich eine Prostituierte auf sein Zimmer kommen und ist viel zu nervös, um etwas anderes mit ihr zu machen als smalltalk; er hat ein date mit einer Freundin und macht ihr den kindischen Vorschlag, sie zu heiraten; und er betrinkt sich bis zur Besinnungslosigkeit, weil er überhaupt keinen Alkohol gewohnt ist. Holden Caulfield ist die große literarische Verkörperung des (männlichen) Jugendlichen der Nachkriegsgeneration auf der Suche nach seiner Identität. Aber Holden Caulfield ist nicht nur ein Opfer der Pubertät, die zu allen Zeiten dieselben Probleme hat. Er ist auch der unglückliche Held einer neuen Generation. Darin lag jahrzehntelang seine Faszination. Holdens Irrweg durch das riesige New York ist der Ausdruck der Orientierungslosigkeit in einer neuen Gesellschaftsform, die den Bruch mit Traditionen vollzogen hat: der Postmoderne. Holden navigiert nervös durch seine Umwelt und ruft ständig irgendwelche Leute an, in der Hoffnung, Menschen zu finden, die ihn verstehen. Er ist wie jedes postmoderne Individuum auf der Suche nach Orientierungspunkten. Holden sucht irgend jemanden oder irgendeine Institution, an die er sich halten kann: die Familie, die Schule, die Lehrer, die Kumpels, die Freundin, die Ehe, die Anonymität der Gesellschaft. Und wo landet er? Mit einem Nervenzusammenbruch im Sanatorium beim Psychiater. Holden Caulfield ist als ein moderner Nachfolger von Huckleberry Finn bezeichnet worden. Beide Helden sind junge, wurzellose und - 328 -
rebellische Außenseiter auf der Suche nach ihrem Glück; und beide üben mit ihrer unverblümten Ausdrucksweise harsche Kritik an der Gesellschaft. Doch gibt es einen wesentlichen Unterschied: Huck entkommt der Zivilisation und geht in den Wilden Westen, Holden landet im Sanatorium. Das ist der Witz des Buches: Die westliche Gesellschaft in der Mitte des 20. Jahrhunderts bietet keine zivilisationsfreie Zone, in die man sich absetzen kann, wenn man in der Gesellschaft nicht zurechtkommt. Da bleiben dann nur zwei Fluchtwege: entweder man geht zum Analytiker oder man „steigt aus“. Aussteigen war das, was in den fünfziger Jahren die Beat Generation tat, die Vorgänger der Hippies. Ihr Oberguru, Jack Kerouac, schrieb das große Kultbuch dazu: Unterwegs (1957). Die selbsternannten „Beats“ oder „Beatniks“ waren eine Gruppe angehender Schriftsteller aus Greenwich Village und San Francisco. Zu ihnen gehörten Kerouac, Allan Ginsberg und William S. Burroughs. Die Beats waren gegen alles, was auch nur im leisesten Verdacht stand, bürgerlich zu sein. Die Bezeichnung „beat“ sollte einen Zustand allgemeiner Niedergeschlagenheit zum Ausdruck bringen, der die Beats überfiel, wenn sie an die amerikanische Mittelklasse dachten (feeling beaten down). Beats verweigerten sich sämtlichen sozialen Konventionen. Sie hassten eine feste Anstellung und verabscheuten alles, was das Leben sicher und komfortabel macht. Sie übernahmen Gelegenheitsjobs und liebäugelten mit einer Existenz in selbstgewählter „Armut“. Sie zogen sich für die Verhältnisse der fünfziger Jahre „schlampig“ an und trugen Khakis und bretonische Fischerhemden, sie benutzten einfache Glühbirnen ohne Lampenschirme, sie schliefen auf Matratzen ohne Bettgestell, und sie konnten abstrakte Kunst betrachten, ohne sofort in Ohnmacht zu fallen. Beats nahmen am Konsumrausch der fünfziger Jahre nicht teil - es sei denn, es handelte sich um den Konsum von Frauen, Marihuana und Alk ohol. Sie prägten ein eigenes Vokabular, dessen Überbleibsel man noch heute gelegentlich zu hören bekommt: Beats waren auf der Suche nach ständigen kicks, und sie waren hip. Das Leben sollte so sein wie der Jazz - genauso schnell, unmittelbar und vital; eine direkte, spontane und kollektive Erfahrung. Deshalb war mit dem Namen der rebellischen Aussteiger auch der „beat“ des - 329 -
Jazz gemeint. Jack Kerouac, King oft he Beats, schrieb das Buch zur Bewegung für die Jugend ab zwanzig. Unterwegs ist die stark autobiographisch gefärbte Chronik von vier Reisen durch die USA. Sie führen den Schriftsteller Sal Paradise (alias Jack Kerouac) und seinen Freund Dean Moriarty kreuz und quer über den nordamerikanischen Kontinent. Moriarty war im wirklichen Leben Neal Cassady, ein Mitglied der Beat-Community. Er war dafür berüchtigt, in kürzester Zeit den Hass aller Anwesenden auf sich zu ziehen. Im Roman ist der charismatische, aber vollkommen sozialunverträgliche Moriarty die ultimative Verkörperung des Lebensgefühls der Beats: überdreht, kompromisslos, rücksichtslos, hedonistisch, und von überwältigender Lebensgier. Die Gegenwelt zur bürgerlichen Existenz lag im wahrsten Sinne auf der Straße. Die Befreiung von allem, was beengte, fand in der unendlichen Weite des Landes statt. Die ziellosen Reisen durch die USA waren Visionen des amerikanischen Traums: von unbegrenzten Möglichkeiten, von Freiheit und Mobilität. Kerouacs Roman machte das Trampen zum Kult, den Road-Movie populär und das Reisen zum Teil der Jugendkultur. In Europa kaufte sich die nächste Generation in den Sommerferien ein Interrail-Ticket und machte sich auf den Weg von Kopenhagen nach Athen. Wer unter 25 Jahre alt war, war unterwegs, alle anderen saßen auf dem Sofa und sahen fern. Im wahren Leben des Kultautors Jack Kerouac fiel gelegentlich ein leichter Schatten über den großen Freiheitsund Unabhängigkeitsmythos. Die Ausflüge in das Leben als Wandervogel endeten meistens damit, dass Jack total erschöpft nach Hause zurückkehrte, um sich dort von den Strapazen eines nicht-sesshaften Lebens zu erholen. Die grenzenlose Mobilität hatte durchaus ihre Grenzen: In Wirklichkeit saß Kerouac auf seinen Reisen manchmal in irgendeinem Kaff fest. Ohne einen einzigen Cent in der Tasche. Dann schickte ihm seine Mutter, die in einer Schuhfabrik arbeitete, ein paar Dollar. Das Kultbuch für die Hippies stammte aus Deutschland. Es war Hermann Hesses Der Steppenwolf (1927). In den sechziger Jahren wurde Hesse zum Prophet eines Lebensgefühls rund um AntiEstablishment, Kapitalismus-Kritik, freie Liebe und Selbstfindung per - 330 -
LSD-Trip. Auf jedem amerikanischen College-Campus erkannte man die besonders hingebungsvollen Hesse-Jünger an ihren indisch oder sonstwie esoterisch anmutenden wallenden Gewändern. Und sogar eine Rockgruppe nannte sich nach Hesses unbürgerlichem Helden: „Steppenwolf“. Nichts von alledem könnte Hesse ferner gelegen haben, als er den Steppenwolf schrieb - obwohl Hesse aufgrund seiner Lebensführung durchaus Qualitäten zum Guru der Alternativen und Aussteiger mitbrachte. Er war einer der ersten „ Aussteigen des 20. Jahrhunderts: Er reiste nach Indien und entdeckte den Buddhismus, war Vegetarier, hauste während eines Selbstexperiments eine Woche lang nackt in einer Hütte und lebte zurückgezogen in einer ländlichen Villa bei Montagnola im Tessin. Hesses Steppenwolf gehört zu den zivilisationskritischen Werken der Moderne aus der Zeit zwischen den Weltkriegen (T. S. Eliot). Harry Haller (sein Name hat dieselben Initialen wie Hermann Hesse), der selbsternannte „Steppenwolf, ist ein unglücklicher und innerlich zerrissener Mann. Er ist darin die Verkörperung einer ganzen Generation, die zwischen zwei Zeiten und Lebensformen hängt und sich in der eigenen Kultur nicht heimisch fühlt. Hesse war, wie -» Rousseau, der Auffassung, dass die Zivilisation den Menschen daran hindere, «ich selbst zu verwirklic hen. Wie Rousseau befand Hesse die westliche Kultur für zu intellektlastig. Im Steppenwolf offenbart sich deshalb die Gegenwelt zum Intellekt. Hesse beschreibt das dunkle Labyrinth der Psyche: die verwirrenden und faszinierenden Abgründe des Unreflektierten, Irrationalem, Visionären und Traumhaften. Harry Haller ist ein intellektueller Einzelgänger, der vollkommen vereinsamt in seiner Studierstube haust. Er hat sich selbst den Namen „Steppenwolf“ gegeben, weil darin sein innerstes Wesen zum Ausdruck gebracht werden soll: Er fühlt sich halb als Mensch, halb als Wolf, lebt in einer scheinbar bürgerlichen Existenz und ist doch ein Außenseiter, der nirgendwo dazugehört und sich mit dem Gedanken an Selbstmord quält. Aus dieser Misere retten Harry zwei Ereignisse: Die Begegnung mit Hermine und eine im Opiumrausch verbrachte Nacht im sogenannten „Magischen Theater. Von Hermine, einer Prostituierten, wird Harry in ungeahnte Freuden des Lebens eingeführt: Sie bringt Harry das - 331 -
Tanzen bei und stellt ihm ein Mädchen namens Maria vor, das Harrys Geliebte wird. Anschließend betritt Harry, nach Einnahme einer Droge, das „Magische Theater“. In diesem seltsamen Spiegelkabinett öffnen sich fortwährend Türen, hinter denen merkwürdige Szenen ablaufen, die Harry mit den vielen Facetten seines Ichs konfrontieren. In der Präsentation »Hochjagd auf Automobile«, zum Beispiel, wird aus sicherem Versteck auf vorbeifahrende Autos geschossen. Harry erlebt hier, dass er, der Pazifist, Lust am Töten empfinden kann. In der Abteilung »Wie man aus Liebe tötet« phantasiert Harry, Hermine läge mit einem anderen Mann in leidenschaftlicher Umarmung, und ersticht sie mit einem Messer. Allmählich lässt die Wirkung des Halluzinogens nach und Haller ist bereit, seine Lektion zu lernen: Die Psyche des Menschen besteht nicht aus zwei Seiten, sondern (wie die Erkenntnisse der Psychoanalyse, die Hesse kannte, deutlich gemacht hatten) aus unendlich vielen Teilen. Als hoffnungsvollen Ausblick in die zukünftige Bewältigung des Lebens wird Harry „das Lachern empfohlen: Er wird lernen, das Leben und die eigenen Unzulänglichkeiten mit Humor zu ertragen. Hesse gefiel es nicht besonders, wenn Pubertierende den Steppenwolf zum Kultbuch machten - immerhin beschrieb er darin die Selbstfindungsprozesse eines Mannes im fortgeschrittenen Alter und nicht die eines Jugendlichen. Aber dass Der Steppenwolf Heranwachsende so sehr faszinierte (oder fasziniert), ist kein Wunder; denn der Held des Buches befindet sich just in jener unerträglichen Position, in die es manche Menschen übergangsweise in ihrer Biographie verschlägt: am Rand der Gesellschaft, unglücklich mit sich selbst und mit dem dringenden Bedürfnis, zu erfahren, wie man von dort bloß wegkommt. Der Amerikaner Douglas Coupland schrieb das Kultbuch für das Lebensgefühl der Generation, die in den achtziger Jahren groß -wurde: der Generation X (1991). Er hat den Titel seines Buches zwar nicht erfunden, aber er hat dafür gesorgt, dass er zum Schlagwort der ersten Hälfte der neunziger Jahre wurde. Couplands Roman erzählt von drei Freunden im Alter um die Mitte - 332 -
Zwanzig: Andy Dag und Claire. Sie sind aus dem Karriere-Karussell ausgestiegen und in das Rentnerparadies Palm Springs am Rande der kalifornischen Wüste gezogen. Sie haben der Konsum-Gesellschaft der Yuppie -Kultur den Rücken gekehrt und arbeiten in Dienstleistungsjobs, für die sie hoffnungslos überqualifiziert sind den »Mc Jobs«: würdelosen Jobs mit schlechter Bezahlung, niedrigem Prestige und überhaupt keinen Zukunftsaussichten. Sie leben allein, jeder in einem Bungalow. Sie verkörpern eine seltsame moderne Existenzform: den vollständigen Rückzug ins private Leben ohne familiäre Bindungen. Die Eltern wohnen in Bundesstaaten, die man am besten per Flugzeug erreicht, und die Familie war für die drei schon immer eine Ansammlung seltsamer Unbekannter, mit denen man eine Weile gezwungen war, im selben Haus zu wohnen. Die Freunde verbringen ihre Freizeit damit, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen. Einige Geschichten sind schrill, andere sind furchtbar sentimental, und keine klingt besonders optimistisch. Andy, Dag und Claire sind in einer Kultur großgeworden, in der die prägenden Erfahrungen unweigerlich Konsum-Erlebnisse waren: TVSerien, Atari-Computerspiele, Ecstasy und MTV-Videoclips. Nun fragen sich Couplands Generation-X-Helden, ob es auch möglich ist, eine Identität zu haben, die unabhängig von dem besteht, was man besitzt. Couplands Geschichte aus Geschichten erinnert an Boccaccios Dekameron. Bei Boccaccio flüchten die jungen Aristokraten vor der Pest in Florenz aufs Land. Andy, Dag und Claire haben sich in die kalifornische Wüste abgesetzt, um dem Kapitalismus zu entkommen, dessen Viren entweder durch die Klimaanlage der Großraumbüros oder per Computer verbreitet werden. Kaum war der Begriff „Generation X“ Anfang der Neunziger in die Medien entlassen, begann eine aufgeregte Diskussion darum, wer und was das eigentlich sei. Freunde der Statistik schlugen die vollkommen unbrauchbare Definition vor, das seien jene, die zwischen 1960 und 1979 geboren -wurden. Die über Vierzigjährigen waren auch nicht besonders originell und nörgelten, die neue Generation seien ziellose, unmotivierte und arbeitsscheue Faulenzer. Und die Achtzehn- bis Dreißigjährigen, für die das Etikett gedacht war, sträubten sich gegen die Zumutung, etikettiert zu werden. Generation X bedeutete dann - 333 -
meistens irgendwas wie: „keine Chance haben, je einen anständigen Job zu bekommen“, „Scheidungskind sein“, oder „aus der Generation stammen, in der politisches Bewusstsein bedeutet, zu wissen, wann in Moskau der erste McDonalds eröffnet hat“. Coupland erklärte im Jahre 1995, »X sei nun vorbei«. Er hatte recht. Denn inzwischen war die Idee der hoffnungsvollen Aussteiger ohne Zukunft im Kapitalismus zu einer Art Markennamen geworden, mit dem sich eine Menge Geld verdienen ließ: mit Wollmützen, mit Werbung und mit lustigen TV-Serien über selbstironische Jugendliche, die Schwierigke iten haben, auf dem Arbeitsmarkt unterzukommen. Das war eine frustrierende Erfahrung für die Mitglieder der „Gen X“: Sie hatten sich an eine Grenze gewagt. Sie wollten neue Werte entdecken, die im Kapitalismus wertlos waren. Als sie sich das nächste Mal umsahen, erkannten sie, dass hinter ihnen eine hektische Horde von Werbekaufleuten, TV-Produzenten und Modemachern („The GAP“) hergerannt kam und mit Dollarscheinen herumfuchtelte. Coupland bekam lukrative Werbeverträge angeboten und lehnte dankend ab. Sein Kultbuch trägt den Untertitel »Geschichten für eine immer schneller werdende Kultur«: „Gen X“ war schon vorbei, als es „Kult“ wurde. Die Medien waren schneller.
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UTOPIE: CYBERWORLD Cyberworld - das ist heute die Welt von morgen. In der Cyberworld hat das Computernetzwerk die Welt ersetzt. Die Mitglieder der Cyberworld heißen Cybernauten. Sie sind virtuell beheimatet, kennen weder nationale noch geographische Grenzen und leben in Städten wie Telepoli oder der City of Bits. Mit den Cybernauten hat die Entwicklungsgeschichte des Menschen die Biologie hinter sich gelassen. Denn die Cybernauten sind körperlose Intelligenzen. Sie werden nicht geboren und sterben auch nicht. Ihre Existenz beginnt am Aus- und Anschalter des Cyberdecks (Computer), und sie geistern durch das elektronische Netzwerk, genannt die Matrix. Es dürfte klar sein: In diesem Kapitel geht es um Visionen von anderen Welten - um Utopien. Es hat sie zu jeder Zeit gegeben. Manche entstammten der Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft. Andere blickten düster in die Zukunft. Jede Utopie, sei sie gut oder böse, ist immer eine paradoxe Erfindung. Sie spielt mit der Vorstellung, es könne eine ferne Welt geben, die ganz anders ist als die, in der wir leben. Aber natürlich ist die fremde Welt erst verständlich, wenn sie uns so vertraut ist, dass wir sie am Gewohnten messen können. Vor einigen Jahrzehnten hätte die Überschrift zu diesem Kapite l nur „Utopie“ geheißen, oder „Anti-Utopie“, oder auch: „Sciencefiction“. Jetzt aber ist in den Visionen von anderen Welten eine weitere hinzugekommen, die Cyberworld - die in den Cyberpunk-Romanen der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts erfunden worden ist. „Utopien“ gab es schon in der Antike: Sie sind die Visionen einer besseren Welt, die es (noch) nicht gibt. Eine Anti-Utopie (Dystopie) ist das negative Gegenbild zur Utopie, mit ihr wird der Blick in die Zukunft zur reinen Schwarzseherei. Die Sciencefic tion mit ihrer Begeisterung für futuristische Errungenschaften aus Wissenschaft und Technik kennt man aus dem Fernsehen oder Kino. Der Begriff Utopie stammt von dem englischen Humanisten und - 335 -
Staatsmann Thomas More. More erfand die Bezeichnung Utopia als Titel seines kurzen, lateinisch geschriebenen Textes von der idealen Ordnung eines Gemeinwesens: einer fernen, nur mühsam erreichbaren Insel irgendwo im Meer. Utopia heißt wörtlich übersetzt Nicht-Ort. Der Begriff ist aus dem griechischen ou (nicht) und topos (Ort) zusammengesetzt und endet mit dem lateinischen Anhängsel -ia. More hatte bei seiner Wortschöpfung aber auch noch ein Wortspiel im Sinn, denn im Englischen -werden die griechischen Vorsilben ou und eu gleich ausgesprochen, und so klingt Utopia wie das griechische Eutopia, und das heißt: „guter Ort“. In Thomas Mores Utopia berichtet ein fiktiver Seefahrer, der Portugiese Raphael Hythlodeus, von seiner Entdeckung des Inselstaates Utopia. Er fand das Leben dort so herrlich, dass er gleich fünf Jahre blieb und die Insel auch nur wieder verließ, um der Welt davon zu erzählen. Hythlodeus erklärt, dass er mit Amerigo Vespucci auf den Weltmeeren gesegelt ist, bevor er Utopia entdeckte. Das war jener Seefahrer, dem Amerika seinen Namen verdankt. Es ist kein Zufall, dass More in seinem Buch Utopia die Entdeckung der Neuen Welt erwähnt. In gewisser Weise sah man im 16. Jahrhundert den neuen Kontinent als eine bessere Welt. Trotz allem, was ihre Entdecker in den folgenden Jahrhunderten darin anrichteten, galt ihnen die Neue Welt als wundersames, arkadisches Idyll. Die Seefahrer, die den neuen Kontinent betraten und dort auf eine tropische Natur und freundliche nackte Menschen stießen, glaubten, das Paradies wiedergefunden zu haben. Kolumbus ließ sich deshalb stets von einem Dolmetscher begleiten, der des Hebräischen mächtig war, damit er sich mit den Nachfahren Adams in ihrer Sprache verständigen könnte, sollte er zufällig auf sie treffen. Amerika war selbst ein Utopia: die „Neue Welt. Die aufregenden Berichte, die die zurückgekehrten Seeleute nach Europa brachten, führten so eindringlich wie noch nie zuvor vor Augen, dass es andere Möglichkeiten des menschlichen Zusammenlebens gab als die, die man in der Alten Welt kannte. Man staunte nicht nur über die Fremdheit der anderen Welt, sondern sah, über die Distanz des Ozeans, auch die eigene Welt mit anderen Augen. Diese Erfahrung von zwei möglichen Welten in einer Welt löste im 16. und 17. Jahrhundert einen regelrechten Utopie -Boom aus. Zwei der - 336 -
bekanntesten neben Utopia sind Der Sonnenstaat des italienischen Mönchs Tommaso Campanella und Neu-Atlantis des englischen Gelehrten Francis Bacon. Die zweite große Utopiewelle beginnt im 19. Jahrhundert. Die Utopien des 16. und 17. Jahrhunderts waren ferne Inseln. Man erreichte sie mit dem Schiff. Die modernen Utopien des 19. und 20. Jahrhunderts liegen nicht mehr in unerforschten Teilen der Erde, sondern in der Zukunft. Man erreicht sie auf dem Wege des Fortschritts. In der Fortschrittseuphorie des Industriezeitalters, angeheizt durch die Evolutionstheorie Darwins, beschränken sich die Entwürfe für utopische Alternativen aber nicht mehr allein auf den Bereich des Fiktionalen. Man beginnt, Utopien in die Tat umzusetzen. Sie sind von dem Glauben an die grenzenlosen Möglichkeiten der Technik, der Wissenschaft und sozialen Reformen geprägt. Die Verwirklichung alter Träume findet auf allen Ebenen statt: Man schafft sich eine angenehme Alltagswelt mit den dazugehörenden Binsenstühlen und Tapetenmustern, wie der Designer und Sozialutopist William Morris (1834-1896); man baut nach der Idee des englischen Stadtplaners Ebenezer Howard Gartenstädte für Arbeiter, in denen die gleichmäßige Verteilung von Fabriken, Wohngegenden und Grünflächen der Steigerung der Lebensqualität dienen sollen (1898); man erfindet die Cornflakes, weil man, wie John Harvey Kellogg der Meinung ist, dass das zukünftige Wohl der Welt in Amerika und dort im Magen seiner Staatsbürger beginnt, denen man daher leicht verdauliche und einfach zuzubereitende (ready to serve) Kost zur Verfügung stellen muss (1893); und man entdeckt zum wiederholten Male eine Lie blingsidee aller Utopien: die Abschaffung des Privatbesitzes. Der Verkünder dieser Utopie heißt Karl Marx und seine Utopie trägt den Namen „Kommunismus“ (1872). Das Tragische ist, dass man auf die Idee gekommen ist, sie auch zu realisieren. Während in den Visionen der Gesellschaftsplaner die Dörfer immer schöner, die Städte immer gesünder, die Kleidung immer praktischer, die Stühle immer ansehnlicher und dabei auch noch bequemer, das Essen immer verdaulicher und Rufe nach der Abschaffung des Privateigentums immer schriller werden, verstärkt sich zugleich das Misstrauen in die Realisierbarkeit einer „besseren Gesellschaft.“ Es - 337 -
wächst das Unbehagen über zu viel verordnete Glü ckseligkeit.
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Thomas More: Utopia (1516); Francis Bacon: Neu-Atlantis (1627); Tommaso Campanella: Sonnenstaat (1623) Utopia ist ein sozialistisches Paradies. Das Privateigentum ist abgeschafft. Es gibt keine sozialen Unterschiede zw ischen Besitzenden und Nicht-Besitzenden und Arbeitenden und NichtArbeitenden. Gearbeitet wird nur sechs Stunden am Tag: jeweils morgens und nachmittags drei Stunden. Dazwischen wird in großen Speisehallen gemeinschaftlich Mittag gegessen, anschließend folgt eine zweistündige Mittagsruhe. Frauen arbeiten genauso wie Männer, und es gibt Gemeinschaftshäuser mit Kindergärten. Wer krank ist, kommt in eines der hervorragenden Krankenhäuser und wird dort von kompetenten Ärzten gepflegt. Sterbehilfe ist erlaubt (nur wer Selbstmord begeht, wird ohne priesterliche Weihe in einen Sumpf geworfen). Lebensmittel werden in den großen Warenspeichern ausgegeben, und jeder bekommt ohne Gegenleistung das, was er verlangt. Da immer alles im Überfluss vorhanden ist, besteht keine Gefahr, dass jemand auf die Idee käme, sich bereichern zu wollen. Geld gibt es keines. Die Türen der Häuser bleiben stets unverschlossen. Gold und Edelsteine werden verachtet - aus Gold fertigt man Nachttöpfe und die Ketten der Sklaven. Diamanten dienen Kindern als Spielzeug, und wenn Gesandte aus anderen Ländern in ihren prächtigen, mit Edelsteinen verzierten Kostümen auftreten, wirkt das auf die Utopier etwa so, als hätten sich die Politiker auf einem EU-Gipfel Holzperlen umgehängt. Um acht Uhr abends legt man sich schlafen. Die Freizeit zwischen Arbeiten, gemeinsamem Essen und Schlafen steht der freien Gestaltung offen. Morgens, vor Beginn der Arbeit, verbringt man die Zeit gern damit, einer öffentlichen Vorlesung zu lauschen. Auf Bildung legt man großen Wert. Besondere Begabungen werden früh gefördert, ansonsten steht das Bildungsangebot des Staates jedem offen. Auch Frauen sollen sich bilden, um ihrem Ehemann eine - 339 -
gleichwertige Partnerin zu sein. (Thomas More war ein eifriger Verfechter des humanistischen Bildungsideals. Er sähe keinen Grund, warum sich Bildung nicht auch mit Weiblichkeit vertragen sollte, sagte More und ließ seine Töchter die antiken Klassiker lesen.) Wenn sich Utopia bisher ganz passabel angehört haben sollte, dann ist die nächste Regelung doch eher gewöhnungsbedürftig. Weil man es in Utopia mit der Vergeistigung des Ehestandes nämlich nicht übertreiben will, werden Braut und Bräutigam vor der Hochzeit einander im Beisein einer Anstandsperson nackt vorgestellt. So lässt sich feststellen, ob man den/die andere(n) erotisch finden kann. Sollte dies nicht der Fall sein, ist von der Ehe abzuraten, denn erstens droht dann die Gefahr des Ehebruchs, der mit drakonischen Strafen belegt ist, und zweitens verhindert der Ekel vor dem Ehepartner den Vollzug der Ehe und die Produktion von Nachkommenschaft. Die Utopier haben viel Freizeit, aber kaum Muße. Kneipen und Bordelle gibt es nicht, das Karten- und Würfelspiel sind verboten. Die Jagd ist ebenfalls nicht zulässig, denn zuzusehen, wie ein kleiner Hase von der Meute zerrissen wird, stumpft das Gefühl ab und tötet das Mitleid. Auf der Fähigkeit, sich in die Lage einer anderen Person zu versetzen, beruht jedoch zu einem wesentlichen Teil das faire Zusammenleben der Utopier. Die Utopier können sich ihr hohes Maß an Ethik nur leisten, weil es Leute gibt, die außerhalb ihrer Gesellschaft stehen. Das sind die Sklaven: zum Tode verurteilte Kriminelle aus anderen Staaten oder Menschen, die in anderen Gesellschaften als Knechte arbeiten würden, demgegenüber aber die Sklaverei in Utopia vorziehen. Sie sind so eine Art Gastarbeiter, denen es frei steht, Utopia zu verlassen, wenn sie es wünschen, und die dann mit der einen oder anderen utopischen Habseligkeit nach Hause zurückkehren dürfen. Die Religion der Utopier ähnelt der des Christentums, aber sie predigen religiöse Toleranz. Wahrscheinlich hätte More die Frage der religiösen Toleranz etwas anders gehandhabt, hätte er gewusst, was auf ihn zukommt. 1530 wurde er Lordkanzler unter Heinrich VIII. Der dickleibige König hatte gerade den Entschluss gefasst, sich seiner ersten Ehefrau (von später insgesamt sechs) zu entledigen. Aber der Papst erklärte die Scheidung als nicht rechtsgültig. Heinrich beschloss daraufhin die Trennung von Rom und ernannte sich zum Oberhaupt - 340 -
der englischen Kirche. Thomas More erkannte diese Regelung nicht an und trat demonstrativ zurück. Das kostete ihn seinen Kopf, den man aufgespießt auf der London Bridge zur Schau stellte. Die berühmte Utopie aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts stammt von dem Masterbrain der englischen Renaissance, dem Universalgelehrten Francis Bacon. Bacon - der beliebteste Kandidat für die Frage „wer war -» Shakespeare wirklich?“ -ist der Begründer der modernen Wissenschaft. Er trat an, eine vollkommene Erneuerung der Prinzipien herbeizuführen, mit denen man Wissen gewinnen sollte. In einer Zeit, in der das keineswegs ein selbstverständlicher Gedanke war, erklärte Bacon, alles gesicherte Wissen müsse auf systematischen Beobachtungen und Experimenten basieren. Es liegt daher nahe, dass Bacons utopischer Staat Neu-Atlantis (1627) eine Gemeinschaft ist, in der dem Forscherdrang so gut wie keine Grenzen gesetzt sind. Das geistige Zentrum des Staates - den Bacon auf die Inselgruppe der Salomon-Inseln verlegte, die 1567 von den Spaniern entdeckt worden waren - ist das „Haus Salomons“. Hier können Gelehrte und Wissenschaftler frei und unabhängig von staatlicher Kontrolle forschen, erfinden und experimentieren, jedoch ohne dass sie dabei je die Grenzen des Ethischen überschreiten. Es gibt gigantische Gebäude, in denen künstlich Wetter erzeugt wird, auch Regenbogen können hergestellt werden. Mit Hilfe von Mikroskopen wird Blut und Urin untersucht, und es finden Experimente an Tieren statt, deren Form, Farbe oder Größe verändert werden. Im Nahrungsmittellabor wurde ein Energy-Drink erfunden, es gibt Klang- und Parfumhäuser, Flugmaschinen und sogar Unterseeboote. Tommaso Campanella siedelte seine Utopie auf Ceylon an. Im Sonnenstaat (1623) offenbart sich Gott als Sonne. An der Spitze der Regierung befindet sich der Priester Sol. Ihm stehen die drei Verkörperungen der Macht, Weisheit und Liebe zur Seite. Der Sonnenstaat ist ein zentralistisch organisierter Staat: Es gibt nur Gemeinschaftsbesitz, den die Obrigkeit verteilt. Sogar die Paarung von Mann und Frau wird staatlich geregelt und unterliegt dem Prinzip der Optimierung von Erbanlagen (Eugenik). Der Beischlaf findet alle drei Tage statt, und zwar in einem vorher genau von Ärzten bestimmten Moment. Männer, deren Geschlechtstrieb so stark ist, dass - 341 -
sie die zweitägigen Pausen nicht aushalten, dürfen sich zwischendurch mit schwangeren oder unfruchtbaren Frauen verlustieren. Wird eine Frau nicht schwanger, übergibt man sie einem zweiten Mann. Bleibt auch dieser Versuch fruchtlos, wird sie Allgemeingut aller Männer. Es fällt heute einigermaßen schwer, sich klar zu machen, dass es sich beim Sonnenstaat um die Vision eines Idealstaates handelte. Etwas erträglicher für den Geschmack des 2I. Jahrhunderts sind die technischen Einrichtungen des Sonnenstaates: Man kann zum Beispiel Klima erzeugen, verfügt über künstliches Licht und hat Schiffe, die statt durch Segel oder Ruder durch bestimmte Mechanismen angetrieben werden.
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H.G. Wells Die Zeitmaschine (1895) London, am Ende des 19. Jahrhunderts. Eine Gruppe Wohlsituierter Herren hat es sich nach einem opulenten Abendessen vor dem Kamin gemütlich gemacht. Man diskutiert eine komplizierte Frage: Kann man sich in der Zeit so bewegen wie im Raum? Einer der Gäste sagt: »Nun, das geht schon - zumindest in Gedanken: Man kann sich erinnern, aus der Gegenwart aussteigen, wenn man geistesabwesend wird, und man kann sich seine Zukunft vorstellen ...« Aber man kann seinen Körper dabei nicht mitnehmen. Da erklärt der Gastgeber, der namenlose »Zeitreisende«, er habe eine Maschine gebaut, mit der man sich durch die Zeit bewegen könne. Was für eine Vorstellung! Den alten Griechen beim Plaudern zuhören. Oder einen Blick in die Zukunft werfen! Man könnte jetzt all sein Geld anlegen, schlägt ein junger Herr vor, und dann zu dem Punkt in der Zukunft vorschießen, an dem sich die Investition amortisiert hat. Der Gastgeber präsentiert seinen Gästen eine seltsame mechanische Vorrichtung: das kleine Modell einer Zeitmaschine. Er betätigt einen Hebel - und zum fassungslosen Erstaunen der Anwesenden ist die Zeitmaschine verschwunden! Eine Woche später treffen sich die Herren wieder zum Abendessen. Der Zeitreisende fehlt. Man hat bereits das Dinner begonnen, plötzlich öffnet sich die Tür, und der Zeitreisende erscheint, in staubiger Kleidung, auf blutdurchtränkten Socken und sichtlich zerrüttet. Er erzählt eine ganz unglaubliche Geschichte. Am Morgen desselben Tages hatte er zum ersten Mal die Zeitmaschine in Betrieb genommen. Er hatte sich auf ihren Sitz gesetzt, einen Hebel betätigt und war nach einer unangenehmen, schwindelerregenden Reise im Jahre 802701 gelandet. Die Landung löst zunächst nichts anderes aus als Panik, doch als sich der Zeit-Reisende umsieht, erkennt er, dass er sich in einer paradiesischen Idylle befindet. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, es herrscht eine angenehme Wärme, die Natur bringt eine Fülle - 343 -
wundersamer essbarer Pflanzen hervor. Im Nu ist der Zeitreisende von einer Schar kle iner Menschen umringt, die ihn neugierig und ohne Scheu mustern und anfassen. Dies sind die „Elois“: kleine, kindlichen Wesen mit dem Reiz und der Zerbrechlichkeit von Porzellanpuppen. Sie träumen unbekümmert in den Tag hinein, sind lieb und einfältig wie gutgelaunte Fünfjährige, arbeiten nie, leben in dem großen Garten, zu dem die Welt geworden ist, ernähren sich ausschließlich von dessen Früchten und kennen scheinbar keine Furcht. Sie scheinen alle Bevölkerungsprobleme überwunden zu haben: Es gibt keine Armut, keine Konkurrenz, keine Aggressivität im Kampf ums Überleben. Doch in der Nacht verwandeln sich die anmutigen Elois in Gestalten, die von Todesangst gezeichnet sind. Erst allmählich dämmert dem Zeitreisenden, dass der von den Elois bewohnte Garten Eden mit seinen silbrigen Bächen und blütenüberladenen Bäumen nur eine Seite der Welt zeigt. Wohin führen die Brunnen, die hier und dort in der Landschaft auftauchen? Dann folgt die grässliche Ernüchterung. Die Menschheit hatte sich in zwei Spezies entwickelt: Tief unter der Erde leben die Loser der Entwicklungsgeschichte des Menschen: die Morlocks. Sie leben in unterirdischen Gängen und Maschinenhallen und haben sich in ihren physischen Eigenschaften einem Leben in Dunkelheit angepasst. Es sind kalte Geschöpfe mit der ausgeblichenen weiß-gräulichen Färbung von Würmern und der Tönung von Präparaten, die in Reagenzgläsern schwimmen. Sie haben große, lidlose rötlich-braune Augen wie alle Lebewesen, die in Dunkelheit leben. Nur nachts kommen die Morlocks aus ihrer Unterwelt geklettert. Eines Tages begibt sich der Zeitreisende hinab in die Unterwelt der Morlocks, deren riesiges Tunnelsystem das Paradies untergräbt. Dort unten ist die Luft stickig. Es riecht nach frischem Blut. Auf einem Tisch liegt ein erstaunlich großes Stück rohen Fleisches. Von welchem großen Tier mag es stammen? Und dann wird dem Zeitreisenden schlagartig klar, warum die Elois in der Nacht von so entsetzlicher Angst überfallen werden. Wells' schauderhafte Anti-Utopie von zwei Menschen-Spezies, von denen die eine zu Kindern und die andere zu Kannibalen geworden ist, war eine unmittelbare Gegenreaktion auf die Fortschrittseuphorie des - 344 -
19. Jahrhunderts. Darwins Theorie der Evolution hatte die Vorstellung aufkommen lassen, die Menschheit würde sich zu körperlich und moralisch immer vollkommeneren Wesen entwickeln. Wells entwarf ein trostloses Gegenbild: Die Menschen der Zukunft würden körperlich und geistig unterentwickelte Elois und moralisch verkommene Morlocks sein. Wells verband mit seiner Vision der zwei Menschen-Gruppen aber auch eine harsche Sozialkritik. Sein gnadenloses Bild einer Unterschicht, die die Oberschicht auffrisst, war der bissige Kommentar zu der Bevölkerungstheorie des viktorianischen Bevölkerungstheoretikers Thomas Robert Malthus. Malthus vertrat die nüchterne Position, dass man die Fortpflanzung der unteren Schic hten kontrollieren müsste (weshalb man Männer und Frauen in den Armenhäusern trennte), um die Bevölkerungszahl nicht explodieren zu lassen. Zu viele Menschen bedeuteten für Malthus zu viele hungrige Mäuler. Wohin sollte das führen, wenn nicht zum Kannibalismus, fragte Malthus. Wells' Vision der zwei Spezies Mensch, von denen die eine auf der sonnigen Seite und die andere auf der dunklen Seite der Erde lebt, war die schauderhafte Vision einer Zwei-Klassen-Gesellschaft. Der Zeitreisende flüchtet mit knapper Not vor den Angriffen der Morlocks. Seine Zeitmaschine katapultiert ihn nun in eine Zukunft, in der das menschliche Leben von der Erde verschwunden ist. Ein roter Feuerball spendet trübes Licht, der Himmel ist granitgrau. Wieder wirft der Zeitreisende seine Maschine an und landet nun in einer dreißig Millionen Jahre entfernten Zukunft. Alles Leben ist von der Erde verschwunden, die verglühende Sonne wirft ihr totes Licht auf die vereisende Erde, die in Totenstille versunken ist. Das ist das Ende der Welt.
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Aldous Huxley Schöne neue Welt (1932) In Huxleys schöner neuer Welt ist niemand unglücklich. Es gibt keinen Hunger, keine Arbeitslosigkeit und keine Armut. Es gibt keine Krankheiten, keine Kriege, und überall herrscht Sauberkeit und Hygiene. Die Lebenserwartung ist hoch, und man altert, ohne dass das Alter Spuren hinterlässt. Niemand ist einsam oder verzweifelt und niemand hat Angst. Alles macht Spaß, alle sind glücklich, jeder hat Sex mit jedem, und alle konsumieren alles mögliche, weil niemand weiß, was man stattdessen tun könnte. Stellt sich wider Erwarten eine kleine Depression ein, schluckt man die Droge Soma: ein wahres Wundermittel, das nicht nur euphorisch stimmt, sondern auch beruhigt und angenehme Halluzinationen verursacht. Diese schöne Welt liegt im Jahre 2540 n. Chr. Das sind 632 Jahre, nachdem 1908 die berühmten Model-T-Autos des Automobilherstellers Henry Ford von den ersten Fließbandanlagen der Welt ihren Weg in die amerikanische Verbrauchergesellschaft gefunden hatten. Das Datum ist signifikant, denn Huxleys schöne neue Welt ist die perfekte Welt des Konsums. Ford gilt als einer der wichtigen Begründer der modernen Konsumgesellschaft. Seine Unternehmenspolitik revolutionierte die westliche Wirtschaft. Ford führte Fließbänder in den Produktionsprozess ein. So war es möglich, in kürzester Zeit Autos fertigzustellen. Das waren die legendären Model T, die ersten Autos des „kleinen Mannes“. Zugleich hob Ford die Löhne der Arbeiter über das Existenzminimum und verschaffte sich damit seine eigenen Käufer. In Huxleys Roman ist „Ford“ Gott. Man bekreuzigt sich nicht, sondern schlägt das „T“ (des Model T), und man flucht „mein Ford“ statt „mein Gott“. Die „Schöne Neue Welt“, in der sich alles dem Imperativ be happy! unterordnet, ist in Wahrheit ein Alptraum der Glückseligkeit. Huxleys Romantitel Schöne neue Welt ist längst zum Schlagwort für eine Horrorvision geworden. Die perfekte Zukunft lässt einem eher kalte Schauer den Rücken herunterlaufen, als dass sie den Wunsch weckt, darin zu leben. - 346 -
Der Titel „Schöne neue Welt“ ist ein Shakespearezitat. Es stammt aus Shakespeares Romanze Der Sturm. Dort ruft das Mädchen Miranda, das auf einer einsamen Insel groß geworden ist und außer ihrem Vater Prospero noch nie ein menschliches Wesen zu Gesicht bekommen hat, beim Anblick einer Gruppe schiffbrüchiger Europäer aus: »Oh schöne neue Welt, die solche Menschen hat!« Unter den Europäern, das wissen die Zuschauer von Shakespeares Stück an dieser Stelle bereits, befinden auch aber auch einige äußerst korrupte Exemplare. Bereits bei Shakespeare haben Mirandas Worte über die schöne neue, alte Welt einen nicht zu überhörenden zivilisationskrit ischen Unterton. Die wunderbaren immerglücklichen Menschen in Huxleys Utopie sind die Resultate genetischer und psychischer Manipulation. In der sterilen, kühlen Atmosphäre der Abteilung für Befruchtung im 34. Stockwerk des Londoner Brut- und Konditionierungs-Centers werden Retorten-Embryos auf ihr glückliches Leben vorbereitet. Die zukünftigen Bewohner der schönen neuen Welt sind schon vor ihrer Geburt auf ihre Lebensform festgelegt: Zukünftige Bergleute und Stahlwerker werden an Hitze gewöhnt, damit sie später ihre Arbeit lieben. Das macht den einzelnen glücklich und garantiert die Stabilität des Staates, weil niemand auf die Idee kommt, gegen sein Schicksal aufzubegehren. Alle Embryos werden auf ihre zukünftige soziale Position eingestellt. Es gibt fünf Kasten. Die oberste sind die Alphas: Sie verfügen über die höchste Intelligenz und übernehmen später Führungspositionen. Die unterste sind die Epsilons, ihnen wird Intelligenz entzogen, damit sie später glückliche Kläranlagenarbeiter werden. Das individuelle Schicksal entsteht im Versuchslabor. An die Stelle der Geburt tritt das „Entkorken“. Danach geraten die Babys in die Konditionierungsabteilung. Hier werden den Kleinkindern bestimmte Ängste oder Abneigungen eingebleut. So zeigt man den Babys Blumen und Bücher und setzt sie dann unmittelbar danach entsetzlichem Krach und Elektroschocks aus. Das verdirbt ihnen garantiert für den Rest des Lebens die Freude an Rosen und Literatur. Und dies ist ganz im Sinne der schönen neuen Welt: Lesen ist Zeitvergeudung, und was nützt einer Konsumgesellschaft eine Bevölkerung, die Ausflüge in die Natur unternimmt? Der Stoff zu dieser grausigen Episode entstammte nicht allein - 347 -
Huxleys Phantasie. In den zwanziger Jahren hatte der Begründer des Behaviorismus, der Amerikaner J. B. Watson, tatsächlich Kleinkinder Elektroschocks ausgesetzt. Er wollte beweisen, dass Ängste durch äußere Reize angewöhnt werden können. Watson vertrat den Standpunkt, dass die Konzentration der modernen Psychologie auf das Innere des Menschen - auf seine Gedanken und Gefühle vollkommener Unsinn war. Für Watson war der Mensch eine biologische Maschine, die auf Reize reagierte. Die Psyche des Menschen interessierte Watson nicht, denn man konnte ja ohnehin nie wissen, was im Inneren eines Menschen vorging. Stattdessen hielt er sich an das, was man sehen konnte: an das Verhalten eines Menschen in einer bestimmten Situation (engl. behavior. Verhalten). Watson war der Auffassung, dass alles Verhalten erlernt ist. »Geben Sie mir ein Dutzend gesunder Kinder«, verkündete er markig, »und ich garantiere Ihnen, dass es mir gelingen wird, aus jedem beliebigen von ihnen einen Arzt, einen Anwalt, einen Direktor oder einen Künstler - sogar einen Dieb und einen Bettler zu machen.« Haben die Kleinkinder das Watsonsche Programm durchlaufen, folgen Jahre der Dauerberieselung im Schlaf: der Hypnopädie. Hier hören die Kinder Nacht für Nacht, 150 Mal hintereinander, 12 Jahre lang: »Heutzutage ist jeder glücklich.« Die Familie ist abgeschafft. Niemand weiß so richtig, was das Wort „Eltern“ bedeutet. Der Gedanke an Schwangerschaft ist obszön. Nichts würde eine Frau tiefer sinken lassen, als schwanger zu werden, aber Ford sei Dank kann man das verhindern. Das Wort „Mutter“ spricht man lieber nicht aus. Es herrscht eine Promiskuität wie in der Kommunen der 68er Generation: jeder schläft mit jedem. Liebe ist Spaß, aber tiefe Gefühle sind nicht vorgesehen. Wer auf seinen Ruf achtet, ist lieber nicht zu lange mit demselben Partner zusammen. Lenina, die weibliche Hauptperson des Romans, lässt ernsthafte Zweifel an ihrer Moral aufkommen, weil sie bereits seit vier Monaten mit ein und demselben Mann ausgegangen ist! Eine Gegenfigur zu all den stromlinienförmigen Menschen aus der schönen neuen Welt ist der „Wilde“, John Savage (engl. savage: Wilder). Er ist in einem Indianerreservat aufgewachsen - einer mit Starkstrom eingezäunten Enklave, in der das Leben noch primitiv und dreckig ist. Aber John Savage hat Bücher gelesen -genauer gesagt: - 348 -
Shakespeare. John zitiert aus den großen Dramen des elisabethanischen Dichters, der nun (doch noch) in Vergessenheit geraten ist. Die Bewohner der schönen neuen Welt verstehen Shakespeare nicht. Als John aus Romeo und Julia vorliest, krümmt sich sein Zuhörer vor Lachen: Was für eine absurde Geschichte! Aus Liebe leiden! Was für ein köstlicher Schwachsinn! John - der eher mit den Zügen eines fanatischen Spinners ausgestattet ist als mit denen eines rettenden Helden - plant eine Revolte, die kläglich scheitert. In einer anschließenden Unterhaltung mit dem Welt-Kontrolleur klagt John sein Recht auf Unbequemlichkeit ein. »Ich will Gott, ich will Dichtung, ich will echte Gefahr, ich will Freiheit, ich will das Gute. Ich will Sünde.« »Sie verlangen das Recht aufs Unglücklichsein«, antwortet der WeltKontrolleur. »Ganz zu schweigen von dem Recht, alt und hässlich und impotent zu werden, dem Recht auf Syphilis und Krebs, dem Recht, zu wenig zu essen zu haben oder Läuse, dem Recht, jeden Tag nicht zu wissen, was einen erwartet, dem Recht, Typhus zu bekommen und gefoltert zu werden.« »Ja, das will ich«, antwortet John Savage nach einer sehr langen Pause.
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George Orwell 1984 (1949) George Orwell rotiert in seinem Grab. Fünfzig Jahre nachdem er das Symbol des totalitären Staates erfunden hatte, den Big Brother - jenen grauenhaften, unsichtbaren Beobachter, dessen gnadenlose Augen und Ohren alles sehen und hören -, war der große Überwacher zum Synonym für die pure Langeweile geworden, die sich einstellt, wenn man fremden Menschen dabei zusieht, wie sie Brot schneiden, sich zanken oder schlechten Sex haben. Orwells Big Brother ist die alles kontrollierende und unsichtbare Instanz des Totalitarismus. Er ist das Gespenst der heimlichen Überwachung, der Geist der allgegenwärtigen Angst und der Dämon der Geheimpolizei, die morgens um vier an der Haustür steht, um dich in die Folterkammer oder ins Arbeitslager zu bringen. Orwells Roman spielt im Jahre 1984. Die drei Weltmächte liegen im Dauerkrieg miteinander. England gehört zur Supermacht Oceania. London heißt „Airstrip One“. Die Regierung kontrolliert die Bevölkerung durch ständige Beobachtung, Manipulation und Gehirnwäsche. Man spricht die Propagandasprache Newspeak, in der ursprüngliche Bedeutungen ins Gegenteil verkehrt sind oder beschönigt werden (man sagt in Newspeak zum Beispiel „ungut“ statt „schlecht“). Zweck dieser Sprache ist die totale geistige Vernebelung der Bevölkerung. Die Menschen werden systematisch verroht: Kinder quengeln, damit sie zu Hinrichtungen gehen dürfen wie früher auf den Jahrmarkt. Im Kino gelten die brutalsten Szenen als besonders vergnüglich. Die Regierung operiert mit Hilfe der vier Ministerien für Frieden (zuständig für Krieg), für Liebe (zuständig für Recht und Ordnung), für Überfluss (zuständig für die marode Wirtschaft) und für Wahrheit (zuständig für Nachrichten, Unterhaltung und Kunst). Der Staat bespitzelt seine Bürger überall und ständig, verdreht die Wahrheit und verfälscht die Geschic hte. Der Held des Buches, der mittlere Regierungsangestellte Winston Smith, versucht, zusammen mit seiner großen Liebe Julia das System - 350 -
zu stürzen, und tritt einer geheimen Untergrundbewegung bei. Winston und Julia werden jedoch von der Gedankenpolizei festgenommen. Winston wird mittels grauenvoller Foltermethoden einer kompletten Gehirnwäsche unterzogen. Am Ende liebt er die Instanz, die er am meisten gehasst und die ihn nun zerstört hat: Winston liebt Big Brother. Wer Orwells Roman nicht in der Schule gelesen hat, mag dennoch das Gefühl haben, die Geschichte käme ihm bekannt vor. Vielleicht aus Terry Gilliams Film Brazil (1985), für den Orwells Roman als Vorlage gedient hat. Die beklemmende Vision eines Staates, der seine Bürger unter totaler Kontrolle hat, entstand aus den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus. Orwell hatte sich in den dreißiger Jahren dem Sozialismus zugewendet. Er stammte aus einem gutbürgerlichen, aber relativ armen Elternhaus im kolonialen Indien. Er hatte das Eliteinternat Eton in England besucht und war dort von Aldous Huxley unterrichtet worden. Orwell arbeitete eine Zeitlang als Kolonial-Beamter in Burma. Aber als ihm klar wurde, wie sehr die Bevölkerung durch die Kolonialmacht unterdrückt war, gab er seinen Posten auf und kehrte nach Europa zurück. Er begann mit einer recht eigentümlichen Wiedergutmachungsmaßnahme: Er lebte eine Weile das Leben der Unterdrückten. Orwell kleidete sich in Lumpen und zog in die Slums von London; er arbeitete als Tellerwäscher in französischen Hotels und wanderte mit Vagabunden über die Landstraßen Englands. Trotz seiner Sympathie für die ärmeren Schichten wurde Orwell nie Kommunist, und er betrachtete die Entwicklungen des Stalinismus mit blankem Entsetzen. Er schrieb 1984 auf einer Insel der Hebriden als Warnung vor totalitären Regimes wie dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus.
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Stanislaw Lem Solaris (1961) Alle, die bei Sciencefiction an die Besatzung eines Raumschiffes denken, deren Mitglieder pyjamaähnliche Uniformen aus hellblauem Trikotstoff tragen, könnten es mal mit Solaris versuchen. Solaris hat mit konventioneller Sciencefiction so viel zu tun wie Captain Kirk mit Mephisto. Stanislaw Lems Beschreibungen seltsamer Weltraumlandschaften sind pure Poesie. Der polnische Autor Stanislaw Lern ist einer der wenigen nicht englischsprachigen Sciencefiction-Schriftsteller. Seine Bücher sind inzwischen in über 36 Sprachen übersetzt. Solaris, 1972 von Andrei Tarkovski verfilmt, wird auch Leser finden, die normalerweise allergisch auf Raumschiffe und Außerirdische reagieren. Solaris ist ein Planet, der von einem riesigen gallertartigen Ozean bedeckt ist. Dieser Ozean ist wie ein riesiges Hirn: Auf eine seltsame Weise verfügt er über eine Sorte nichtmenschlicher Intelligenz. Seit Jahrzehnten versuchen Wissenschaftler von der Erde zu ergründen, womit sie es bei diesem unheimlichen Gebilde zu tun haben. Der Psychologe Kris Kelvin wird auf die Raumstation geschickt, um herauszufinden, ob eine Fortführung des Projekts überhaupt noch Sinn macht. Statt auf eine funktionierende Forschungsstation trifft Kelvin auf verwüstete Räume und zwei Kollegen, die vor Angst am Rande des Wahnsinns sind. Kelvin findet heraus, das die Kollegen von Erscheinungen heimgesucht werden, die sie mit Personen und Erlebnissen aus der Vergangenheit konfrontieren, an die eine unbewältigte Schuld geknüpft ist. Niemand weiß auf der Raumstation, ob die Geistererscheinungen der harmlose Versuch des Organismus sind, Kontakt mit den Wissenschaftern aufzunehmen, oder reiner Psycho-Terror. Während die zerrütteten Wissenschaftler sich kaum noch blicken lassen (ein dritter hat Selbstmord begangen), ackert Kelvin die Berge der Aufzeichnungen durch, die sich in Jahrzehnten - 352 -
der Forschung angehäuft haben. Das Ganze entpuppt sich jedoch als das jämmerliche Dokument einer vö lligen Unfähigkeit, etwas über den Ozean auf Solaris herauszufinden. Dann erscheint auch Kelvin ein Geist aus seiner Vergangenheit: seine Geliebte Harey, die Selbstmord beging, nachdem Kelvin sich von ihr getrennt hatte. Die Reise, die Kelvin nach Solaris unternommen hat, ist weniger eine Reise in die Ferne des Alls als eher ins Innere seines Selbst. Solaris ist eine Mischung aus Thriller, herzergreifender LiebesRomanze, Parodie auf wissenschaftliche Erkenntnisfähigkeit und moralischer Fabel über die Unzulänglichkeit des menschlichen Verstandes.
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William Gibson Neuromancer (1984) Während der Rassenkrawalle in Los Angeles 1992 hatte der amerikanischen Sender CNN eine Szene gefilmt, in der die wütende Menge die Schaufensterscheibe eines Radioladens einschmiss. Nebenan hatte ein Mackintosh-Händler seinen Laden. Niemand kam auf die Idee, dass es möglicherweise lohnender wäre, ein Apple Powerbook zu klauen als einen Sony-Walkman. Die Anekdote scheint der Urzeit des Computerzeitalters zu entstammen. Die ungeheure Bedeutung eines Computers ist längst ins allgemeine Bewusstsein gedrungen. Er ermöglicht den Zugang zu einer Welt, in der es alles jederzeit und für jeden gibt: dem Internet. Noch bevor das Internet die Bedeutung bekommen hatte, die es mittlerweile hat, erfand William Gibson in seinem Roman Neuromancer den Cyberspace. Der Cyberspace (oder „die Matrix“) ist das weltumspannende elektronische Netzwerk der Datenströme. Als riesiger Informationsspeicher gleicht der Cyberspace dem Internet. Aber im Unterschied zur Teilnahme am Internet vor dem Bildschirm ist Gibsons fiktiver Cyberspace ein virtueller Raum, in den man mit seinem Bewusstsein eindringen kann (jack in). Hier kann der Mensch seinen Körper zurücklassen und sich mittels am Kopf angebrachter Elektroden (headset) im elektronischen Land des Cyberspace bewegen. Ein simstim deck dient dazu, äußere Reize (Stimulanzen) vorzutäuschen (zu simulieren).Wenn man Pech hat, kann man beim Ausflug ins Netz gelöscht werden und wird zur Cyberspace-Leiche: zur flatline (die Bezeichnung spielt auf die horizontale Linie beim Herzstillstand auf den Monitoren der Intensivstationen an). Gibsons Cyberspace ist der Abenteuerspielplatz für die CyberspaceCowboys. Das sind Hacker, die im Auftrag großer Konzerne illegal Informationen aus dem Netz beschaffen und sich dafür in die Matrix begeben. Einer von ihnen ist Gase, der 24jährige, total heruntergekommene Held des Neuromancer. Gase gehörte mal zu den Besten. Bis er den Kardinalfehler beging und seinen Auftraggeber beklaute. Der bestrafte ihn, indem er ihn arbeitsunfähig machte und - 354 -
dafür Gase' Nervenkostüm so zerstörte, dass er von nun an nicht mehr in die Matrix eindringen konnte. Nun hängt Case in einem zwielichtigen Viertel am Rande Tokios herum, schluckt Amphetamine und schläft in einem der japanischen „coffin-hotels“, in denen billige, sargähnliche Schlafplätze stundenweise zu mieten sind. Bevor Case völlig abstürzt, rettet ihn die Cyber-Söldnerin Molly. Molly ist eines jener neuen Wesen des Cyperpunk, deren Körper durch allerhand mehr oder weniger nützliche Implantate aufgerüstet worden ist. So verfügt sie zwar über alle menschlichen Eigenschaften, aber auch über eine implantierte verspiegelte Sonnenbrille und über Skalpelle, die sie unter ihren Fingernägeln ausfahren kann. Molly holt Case im Auftrag geheimnisvoller Hintermänner ins Team einer Spezialeinheit, die ein Sicherheitssystem knacken soll. Als Honorar für seine Mitarbeit wird Case zunächst mal von seinem Nervenleiden geheilt. Den Cyberpunk fasziniert die Vorstellung von der Grenzauflösung zwischen menschlichem Körper (dem »Fleisch«) und der Maschine. Deshalb wimmelt es in diesen Romanen von Menschen (oder menschenähnlichen Organismen), die aus künstlichen Körperteilen zusammengesetzt sind. Ständig ist die Rede von Prothesen, Zähnen aus Edelstahl, Impla ntaten, plastischer Chirurgie oder genetischer Manipulation der DNA. Der erstrebenswerteste Zustand ist allerdings jener, in dem sich der Körper vollkommen aufgelöst hat. Dann ist das, was zuvor der Mensch war, zum Geist der künstlichen Intelligenz geworden, der körperlos jenseits von Raum und Zeit durch die grenzenlosen Weiten der Matrix navigiert. Die reale Welt des Cyberpunk (dort, wo es noch Menschen aus Fleisch, Blut und Edelstahlimplantaten gibt) sind die heruntergekommenen Stadtteile und Rotlichtviertel der Großstädte. Cyberpunk-Wirklichkeit, das sind die Grenzbereiche der Gesellschaft - die Subkulturen der Metropolen. Das Szenario „auf der Straße“ kombiniert Details, die nur in der verkommenen Welt des Cyberpunk zusammengehören: Hier flackert das defekte Neonlicht der Werbeschriften japanischer High-Tech-Imperien, dort geht es in die dreckigen Nebenstraßen der Rotlichtviertel, wo die Drogen aus dem Chemielabor verkauft werden. Die „Wirklichkeit“ ist eine künstliche Welt aus den glatten Oberflächen des hochglä nzenden Chroms und - 355 -
den stumpf zerkratzten Oberflächen der Resopaltische in billigen Schnellimbiss-Restaurants, den undurchsichtigen, verspiegelten Sonnenbrillen, dem Sony-Walkman und dem mobilen Telefon. Kinobesucher kennen diese von Gibson mit mikroskopischem Blick und eisiger Kälte beschriebene Welt aus Ridley Scotts Film Blade Runner. Neuromancer ist eine komplizierte Lektüre. Gibsons Sprache ist ein Dickicht aus technischem Jargon, name-dropping von modischen Markennamen und genuscheltem Slang der Subkultur. Ständig läuft man Gefahr, die Orientierung im Text zu verlieren und nicht mehr genau zu wissen, ob man sich in der Handlung gerade in der Wirklichkeit der Rotlichtviertel befindet oder in der künstlichen Welt der Matrix. Die Verwirrung ist natürlich beabsichtigt. Sie zielt auf die Frage: Was ist noch unter Wirklichkeit zu verstehen, wenn man die Unterscheidung zwischen einer realen und künstlichen Welt nicht mehr treffen kann? Und was wird dann eigentlich aus dem Menschen?
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SCHULKLASSIKER Schon für den Unterricht an den Schulen im antiken Griechenland hatte man sich auf eine Auswahl von Autoren geeinigt, die alle Schüler lesen mussten. Man las die Werke wie How-to-do-Bücher, denn das Lernziel bestand in der Vermittlung vorbildlicher Regeln, nach denen man den eigenen Umgang mit Worten formen sollte (in erster Linie mit den gesprochenen). Die Vorstellung eines Lektürekanons, den man in der Schule gelesen haben muss, um als „gebildet“ gelten zu können, stammt erst aus dem 18. Jahrhundert. Sie ist im wesentlichen eine deutsche Idee. Während Frankreich und England ihre nationale Selbstbestimmung längst hinter sich haben, schreibt man auf das Aushängeschild der Deutschen: Kultur und Bildung. Alles beginnt mit der schönen Idee der Selbstbildung des Menschen zu einem universalen Menschengeschlecht - zu Wesen, die weder durch nationale noch ständische, geschlechtliche, konfessionelle und historische Kriterien geprägt sind. Sie treffen sich auf einem gemeinsamen Nenner - gemeint ist der Gebrauch der Vernunft. Und sie sind bereit, sich zu (Menschen) zu bilden. Dazu soll das Lesen wesentlich beitragen. Zu diesem Zweck entsteht ein neuer Kanon mustergültiger Werke - die Klassiker. In diese Auswahl geht nun alles hinein, was universale Weisheiten für das universale Menschengeschlecht enthält. Die Selektion geschieht nach dem Kriterium der bleibenden Größe“. Die antiken Dichter (Homer, Vergil, Ovid) sind, wie gehabt, dabei, die drei deutschen Klassiker Goethe, Schiller und Shakespeare - Sie lesen richtig - kommen verbindlich dazu. Shakespeares nationale Vereinnahmung und Aufnahme in den Kanon der Deutschen war Folge der genialen Shakespeare-Übersetzungen durch Christoph Martin Wieland, August Wilhelm Schlegel und Dorothea Tieck. Im 19. Jahrhundert lässt sich die Utopie von einer großen Menschheitsfamilie, die sich zur gemeinsamen Lektüre von „Weltliteratur“ vereint, nicht mehr aufrechterhalten. In der Epoche der nationalstaatlichen Einigung Deutschlands soll auch die Literatur - 357 -
nationale Identität schaffen. Die Frage, wer was gelesen hat, wird zum Distinktionskriterium. Sie dient dazu, sich nach außen abzugrenzen aber auch nach innen. Bildung ist jetzt zum Erkennungszeichen des Bürgertums geworden - das ist die ironische Konsequenz der Idee der Aufklärer, die Stammbäume des Adels durch Lektürelisten zu ersetzen. An der Kenntnis der kanonischen Werke hängen jetzt Karrieren. Die Geflügelten Worte, die Georg Büchmann 1864 herausgibt, werden zu den Losungen, die man kennen muss, um an der Pforte des Bürgertums Einlass zu bekommen. Es ist gut, bei jeder passenden (oder unpassenden) Gelegenheit autorisierte Worte anbringen zu können - und seien sie auch falsch zitiert. In dieser Tradition wurden die Klassiker gelesen - wie Poesie -Alben. Sofern man sich über Inhalte äußerte, geschah das in Form einer Verständigung über universale Werte. Die Werke des Kanons waren Schatztruhen für goldene Worte und edle Gedanken. Durch mühsames Auswendiglernen konnte man allmählich in ihren Besitz kommen. Kein Wunder, dass sich Generationen von Schulkindern geradezu verpflichtet fühlten, gegenüber den Klassikern unüberwindliche Aversionen zu entwickeln. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wird alles anders. Man sieht den traditionellen Kanon als das, was er prinzipiell ist - Literatur von toten, weißen Männern -, und beginnt mit seiner Überarbeitung. Der Kanon erfährt eine drastische Öffnung für Neues. Auf den Leselisten erscheint nun Literatur, die jahrhundertelang nicht die geringste Chance gehabt hätte, kanonisch zu werden. Das Kriterium des universalen Werts wird jetzt endgültig durch die Frage nach der kulturellen Relevanz ersetzt. Jetzt hält Literatur von Frauen Einzug in den Kanon - in Amerika sind es zusätzlich auch die Werke von Afroamerikanern; in England entdeckt man die Literatur der ehemaligen Kolonien. Aber auch Trivialliteratur, Jugendliteratur und populäre Literatur - also Literatur, die nicht der Hochkultur entstammt - landen auf den Lektürelisten der Schulen und auf den Lehrplänen der Universitäten. Seit der Öffnung des Kanons ist seine Bestimmung zum Standortproblem geworden. Wer sich jetzt immer noch über unverbrüchliche Werte verständigen will, muss sich fragen: für wen und für welche Kultur gelten sie? Der klassische Kanon ist ein anderer - 358 -
als jener, der Literatur von Frauen berücksichtigt, und der Kanon für Schüler ist ein anderer als der für Germanistikstudenten. In den letzten Jahren hat sich das Kanon-Problem nicht gerade vereinfacht. Es verschärft sich dort, wo es herstammt: in den Schulen. Die Frage „Was müssen Schüler lesen?“ ist kaum noch zu beantworten. Die zuständigen Ministerien der Bundesländer stellen vorsichtshalber Listen kanonischer Literatur auf, die so lang sind, dass die Auswahl aus der Auswahl eigentlich zur Qual der Wahl werden müsste, stünde nicht von vornherein schon fest, dass nur kurze Texte unterrichtet werden können. Prominente bieten dann andere lange Listen an, und das baden-württembergische Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst fragt per Internet User nach drei Titeln ihrer Lieblingslektüre - worauf die Leser sich beschweren, drei Bücher seien zu wenig, um aus der Fülle aller ihrer Lieblingsbücher auszuwählen. Mancher Lehrer wäre schon froh, wenn seine Schüler drei Bücher läsen. Angesichts derartiger Konfusion erhebt dieses Kapitel unter dem Titel Schulklassiker keinen Anspruch auf eine Lösung. Jetzt folgt ein Klassentreffen. Nach dem Motto: An den Lessing kann ich mich noch gut erinnern, den Schiller mochte ich damals schon nicht - aber was aus dem Kleist geworden ist ...!
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Gotthold Ephraim Lessing Emilia Galotti (1772) Nathan der Weise (1779) Wer im 17. und frühen 18. Jahrhundert in Deutschland ins Theater ging, bekam kunterbunte Spektakel zu sehen. Abgesehen von den opulenten Inszenierungen französischer und italienischer Dramen, die an den Bühnen der Fürstenhöfe gespielt wurden, bestand das Theater im wesentlichen aus karnevalesken Darbietungen für das bürgerliche Publikum. Die Wandertruppen, die durch die Städte zogen und in Gasthäusern auftraten, führten Stücke auf, die Titel trugen wie: „Das große Ungeheuer der Welt“, oder: „Das Leben und der Todt des ehmals gewesenen Kayserlichen Generals Walle nstein, Hertzog von Friedland, mit Hanswursten.“ Solche Stücke, in denen haarsträubende Geschichten in schwülstiger Sprache unter dem turbulenten Einsatz von Possenreißern dargeboten wurden, erregten den Widerspruchsgeist der aufgeklärten Literaten des 18. Jahrhunderts. Sie erkannten, dass das Theater das Potential hatte, zur Bühne der Aufklärung zu werden, wenn man es erst einmal reformiert hatte. Das Theater konnte dann Bretterboden und Kanzel zugleich sein: es konnte, gemäß der Horazischen Formel „prodesse et delectare“, unterhalten und belehren. Die Theaterreform begann zunächst unter der strengen Führung des Literaturpapstes des 18. Jahrhunderts, Johann Christoph Gottsched. Aber erst Gottscheds größter Gegenspieler, Gotthold Ephraim Lessing, führte das Theater in Deutschland auf den Weg, der richtungsweisend für das deutsche Drama wurde. Wenn man sich einmal vor Augen führt, welche absurden Vorstellungen noch ein halbes Jahrhundert vor Lessing an deutschen Wanderbühnen üblich waren und dass man dagegen Lessings Dramen noch heute in den Spielplänen unterbringen kann, wird deutlich, wie ungeheuerlich neu das war, was Lessing im deutschen Schauspiel einführte. Lessing befreite das Theater von barocker Theatralik. Er verankerte die Stoffe seiner Dramen in einem zeitgenössischen Kontext (Minna von - 360 -
Barnhelm, 1767), und er machte die psychischen Konflikte der Figuren so plausibel, dass sie aus der Sicht des Publikums nachvollziehbar wurden. Lessing forderte ein deutsches „Nationaltheater“ für ein bürgerliches Publikum. Das sollte eine Bühne mit einem eigenen Schauspielhaus und einem festen Ensemble sein. Als 1765 das erste deutsche Nationaltheater in Hamburg eröffnet wurde, übernahm Lessing seine Leitung, aber er zog sich enttäuscht zurück, als der erhoffte Erfolg des Projekts ausblieb, d.h. keine Zuschauer kamen. Lessing, der trotz seiner rastlosen Textproduktionen ständig in Geldnot war, übernahm daraufhin die Stelle des Bibliothekars des Herzogs von Wolfenbüttel. Lessing ist der Begründer des sogenannten „bürgerlichen Dramas“. Die Bezeichnung ist etwas irreführend, denn das Attribut „bürgerlich“ bezieht sich nicht darauf, dass die Helden und Heldinnen der Stücke aus dem Bürgertum stammen, sondern auf den Umstand, dass sie Tugenden verkörpern, die als „bürgerliche“ Qualitäten der Welt des höfischen Adels gegenübergestellt werden. Das „Bürgerliche“ ist - mit einem in der Aufklärung aufkommenden Begriff - das „allgemein Menschlichem Zuvor konnte man sich zwar etwas unter christlichen Tugenden vorstellen, unter den Tugenden des Adels oder unter den Affekten der unteren Schichten, aber man konnte sich nicht vorstellen, dass es Qualitäten geben sollte, die alle Menschen in ihrem Menschsein miteinander teilen. Die Kategorie des „Menschlichen“ war eine Erfindung der Aufklärung, und sie fasste - theoretisch - die ganze Menschheit unter dem gemeinsamen Nenner ihrer moralischen Qualitäten zusammen. De facto gingen die Aufklärer aber davon aus, dass das „Menschliche“ etwas war, was das Bürgertum dem Adel voraus hatte. Die Verbesserung/Vermenschlichung der Welt konnte demnach nur vom Bürgertum ausgehen. In diesem Sinne geht es in dem Trauerspiel Emilia Galotti um die Konfrontation von adeligen und bürgerlichen Werten. Die Tragödie kombiniert einen Stoff aus der Antike (Livius) mit dem zeitgenössischen Topos der „verfolgten Unschuld“, den die englischen Romane von Samuel Richardson (Pamela, Clarissa) populär gemacht hatten. Emilia, die Tochter des Oberst Odoardo Galotti, hat dem Prinzen von Guastalla, Hettore Gonzaga, in aller Unschuld den Kopf verdreht, - 361 -
als sie ihm auf einer Abendgesellschaft vorgestellt wurde. Entsprechend entsetzt ist der Prinz, als er erfährt, dass Emilia bereits vergeben ist und ihre Hochzeit mit dem Grafen Appiani unmittelbar bevorsteht. Des Prinzen schurkischer Kammerherr Marinelli plant daraufhin (mit uneingestandener Mitwisserschaft des Prinzen) die Entführung der Braut, um sie seinem Herrn zuzuführen. Bei dem Überfall auf die Kutsche wird Emilias Verlobter im Kampf getötet. Emilia wird in des Prinzen Lustschloss gebracht. Als sie dort ihren Verehrer sieht, wird ihr klar, dass der vermeintlich räuberische Anschlag auf die Kutsche in Wahrheit dem Raub ihrer Unschuld gilt. Nun erscheint Emilias ehrbarer Vater im Schloß. Er befiehlt dem Prinzen, ihm seine Tochter mitzugeben, damit er sie in einem Kloster unterbringen kann. Der Prinz weigert sich jedoch, Emilia gehen zu lassen, und Emilia, die sich dem Prinzen schutzlos ausgeliefert sieht, fürchtet nun, der Verführungskunst des charmanten Prinzen zu erliegen. Sie fleht ihren Vater an, ihr seinen Dolch zu geben, weil sie sich das Leben nehmen will. Um seine Tochter vor Schande zu schützen (Selbstmord oder Verlust ihrer Tugend), ersticht Odoardo Emilia. In Lessings Tragödie verkörpern der Prinz und Emilia die Gegensatzpaare Adel/Bürgertum, Mann/Frau, Libertin/Unschuld, Macht/Ohnmacht, Tyrann/ Opfer. Die Pointe des Stücks ist aber, dass Lessing diese im 18. Jahrhundert durchaus konventionellen Zuordnungen aufbricht. Denn der Prinz ist nicht bloß ein Wüstling, sondern ein Aristokrat, der zu aufrichtigen Gefühlen in der Lage ist; und Emilia ist nicht nur die unantastbare Tugend, sondern eine junge Frau, die selber nicht glaubt, dass sie unverführbar ist. Lessings zweites berühmtes Drama, Nathan der Weise, ist ein Stück über die Tugend der Toleranz. Es spielt im Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge und handelt vom friedlichen Zusammentreffen der drei Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam. Der weise und gütige Jude Nathan kommt von einer Reise zurück und erfährt, dass seine Ziehtochter Recha nur knapp dem Flammentod entkommen ist. (Nathan war Lessings Reverenz an seinen Freund, den jüdischen Aufklärungsphilosophen Moses Mendelssohn.) Nathan hatte einst das „Christenkind“ Recha adoptiert, nachdem seine eigene Familie bei einem Pogrom getötet worden war. Jetzt ist Recha von - 362 -
einem jungen Christen, dem Tempelherrn Leu von Filnek, aus den Flammen gerettet worden. Der Tempelherr verliebt sich unsterblich in Recha und verlangt sie zur Frau. Er wird aber von Nathan abgewiesen, der ahnt, dass der Tempelherr nicht der geeignete Ehemann für Recha ist. Als der erzürnte Liebende erfährt, dass Recha eine geborene Christin ist, die Nathan zur Jüdin erzogen hat, läuft er zum Patriarchen von Jerusalem, um ihm diesen skandalösen Vorfall zu berichten. Inzwischen stellt der Sultan Saladin Nathan auf eine Probe und testet die vielgerühmte Weisheit des Juden: Nathan soll ihm erklären, welche der drei Religionen die beste sei: das Judentum, das Christentum oder der Islam. Nathan antwortet mit dem berühmten Gleichnis von den drei Ringen. Die Ringparabel war Lessing aus Boccaccios Dekameron bekannt: Ein orientalisches Königshaus besitzt einen mit einem Opal besetzten Ring, der die Eigenschaft hat, seinen Besitzer vor Gott und den Menschen in ein gutes Licht zu rücken. Er wird von Generation zu Generation vom König an seinen Lieblingssohn vererbt. In einer Generation passiert es nun, dass ein König alle seine drei Söhne gleich liebt. Er lässt also zwei Duplikate anfertigen, die vom Original nicht zu unterscheiden sind, und hinterlässt jedem seiner Söhne einen Ring. Als die Söhne feststellen, dass zwei der Ringe nicht echt sein können, soll ein Richter den Streit schlichten. Er kommt zu dem weisen Schluss, jeder der Söhne solle die Echtheit des Rings selber unter Beweis stellen: durch seine guten Taten. Nathans Antwort auf die Frage des Sultans lautet also: keine Religion ist wahren als eine andere; was allein zählt, ist das moralische Handeln. Lessing vertritt die Haltung des aufgeklärten Humanismus: Alle Menschen sind durch den gemeinsamen Nenner ihrer Menschlichkeit miteinander verwandt. Der Glaube an das allgemein Menschliche überwindet die Grenzen der Religionen. Deshalb endet das Stück mit der Vision von der großen „Menschheitsfamilie“. Es stellt sich am Ende nämlich heraus, dass Nathans jüdische Ziehtochter Recha und der junge christliche Tempelherr in Wirklichkeit Bruder und Schwester sind, und darüber hinaus die Kinder eines moslemischen Prinzen. Laut Lessings Regieanweisung sollte das Stück unter „stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen“ der Schauspieler enden: also in der brüderlichen Vereinigung der Angehörigen - 363 -
unterschiedlicher Religionen. In Nathan der Weise ist die wahre Religion die Vernunft. Sie wird durch Nathan verkörpert. Ihm verhalf die Stimme der Vernunft nach der Ermordung seiner Familie, den Moment der größten Verzweiflung zu überwinden. Er nahm die verwaiste Recha bei sich auf und stellte durch sein praktisches Handeln seine Toleranz und Humanität unter Beweis.
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Friedrich Schiller Die Räuber (1782) Kabale und Liebe (1784) Wilhelm Tell (1804) »Über ein Gedicht von Schiller, Das Lied von der Glocke, sind wir gestern Mittag fast von den Stühlen gefallen vor Lachen«, schrieb 1799 Caroline Schlegel - sie war die Gastgeberin der literarischen Salons im Hause des berühmten Shakespeare-Übersetzers August Wilhelm Schlegel. Bereits seine Zeitgenossen machten sich über das schillersche Pathos lustig. Inzwischen ist Schiller der am häufigsten parodierte deutsche Dichter. Hat denn niemand Respekt vor dem zweitgrößten deutschen Klassiker? Offen gesagt, hat Schiller, soweit man sein Werk nicht in modernen Inszenierungen auf dem Theater aufgeführt sieht, sondern unvorbereitet liest, genug zu bieten, um jeden Leser des 21. Jahrhunderts zunächst die Flucht ergreifen zu la ssen: Pathos, moralischen Dogmatismus und Sentimentalität. Man trifft auf eine Rhetorik der Merksprüche, die heutzutage recht sperrig wirkt und ans Poesiealbum erinnert: »Arbeit ist des Bürgers Zierde, / Segen ist der Mühe Preis, / ehrt den König seine Würde, / Ehret uns der Hände Fleiß.« Das ist aus der Glocke und passt wohl kaum in den Zeitgeist unserer „Spaßgesellschaft“. Und was soll man erst von einem Helden wie Wilhelm Teil halten, der fortwährend Sätze von sich gibt wie: »Das schwere Herz wird nicht durch Worte leicht«, »Ein jeder zählet nur sicher auf sich selbst«, »Der Starke ist am mächtigsten allein«, »Wer gar zu viel bedenkt, wird wenig leisten«, »Dem Schwachen ist sein Stachel auch gegeben« oder: »Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben, / Wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt«. Früher musste man über solche Losungen Besinnungsaufsätze schreiben. Vor 150 Jahren wirkte das Pathos noch ansteckend. Höhepunkt der Schillerschwärmerei im 19. Jahrhundert waren die Feiern zum 100. Geburtstag des Dichters im Jahre 1859. In über 440 (!) deutschen Städten versammelten sich Tausende, manchmal Zehntausende - 365 -
begeisterter Schiller-Verehrer. Man enthüllte Denkmäler, benannte Straßen, bekränzte Statuen, kaufte Schiller-Seife, trank aus SchillerTassen, rauchte Schiller-Zigarren und trug Spruchbänder mit den schönsten Sinnsprüchen des Dichterfürsten durch die Straßen («Freude, schöner Götterfunken ...«). Man schrieb Zeilen aus dem Lied von der Glocke auf Dampfmaschinen und stellte das Gedicht in Form lebendiger Bilder nach. Die ganze Begeisterung war von der Idee einer nationalstaatlichen Einigung getragen - Schiller vereinte die Deutschen im Geiste, als die politische Einigung Deutschlands noch nicht stattgefunden hatte (Gründung des Deutschen Reiches: 1871). Schiller war 23 Jahre alt, als sein erstes Drama aufgeführt wurde: Die Räuber (Uraufführung: Mannheim 1782). Es machte den Verfasser über Nacht zum Star und verwandelte das Theater nach der Aufführung in ein Irrenhaus: Die erschrockenen Zuschauer stießen heisere Schreie aus und reckten geballte Fäuste in die Luft, Männer fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen taumelten, der Ohnmacht nahe, gen Ausgang. Die Räuber ist ein wildes Stück. Es wird darin weder an Pathos gegeizt, noch an melodramatischen Gesten oder Schockeffekten (Psychoterror, Massenvergewaltigung in einem Nonnenkloster, gewaltsamer Feuertod eines Kindes, usw.). Im Mittelpunkt stehen die Brüder Franz und Karl Moor. Franz, der zweitgeborene und auch sonst in jeder Hinsicht benachteiligte Sohn, will das Erbe an sich bringen und damit die alte Ordnung durchbrechen. Er plant den Vaterund den Brudermord. Karl ist ein reuiger Hallodri, der in seiner Studentenzeit allerhand harmlosen Unfug getrieben hat, den er jetzt bereut. Seine Versöhnung mit dem Vater wird durch einen intriganten Streich von Franz verhindert. Der gekränkte Karl wird darauf Räuberhauptmann. Er haust als eine Art Robin Hood in den böhmischen Wäldern und begeht dort allerdings alles andere als nur gute Taten. Derweil sperrt Franz seinen Vater in ein Verließ, in der Hoffnung, er möge dort elend zugrunde gehen. Karl dagegen plagt, nach einer ganz besonders abscheulichen Aktion seiner Räuberbande, das Gewissen. Er wird sentimental und sucht in Verkleidung seine Verlobte Amalia auf. Rasant verdichtet sich die Katastrophenstimmung, und die Handlung spitzt sich auf das große Finale zu. Franz erdrosselt sich, als Karls - 366 -
Bande sein Schloß stürmt; der alte Moor stirbt vor Gram, Amalia stellt entsetzt fest, dass Karl Räuberhauptmann ist, und ruft aus »Was hab ich getan, ich unschuldiges Lamm? Ich hab diesen geliebt«, fugt dann aber, an Karl gewandt, hinzu: »Mörder, Teufel! Ich kann dich Engel nicht lassen« und wirft sich ihrem Liebsten in die Arme. Die herumstehenden Räuber entblößen nun ihre Brust, zeigen die Narben ihrer Kämpfe und erinnern Karl, dass er ihnen die Treue geschworen hat und Amalia für sie aufgeben muss. Amalia fleht daraufhin um ihren Tod, Karl tötet sie und beschließt, sich der Justiz zu stellen doch nicht ohne vorher einem Tagelöhner zu dem Kopfgeld zu verhelfen, das auf ihn ausgesetzt ist. Die Räuber ist ein Stück Konflikt zwischen zwei Brüdern, zwei Generationen und zwei Weltbildern. Die Hemmungslosigkeit der Handlung, der Sprache und der Regieanweisungen (z.B. »Franz wirft sich in seinem Sessel herum in schrecklichen Bewegungen«, »Karl wider eine Eiche rennend«, usw.) lassen sich überhaupt nur begreifen, wenn man den gesellschaftlichen Zusammenhang sieht, in dem das Drama entstand. Die Räuber entstammen dem Geist des „Sturm und Drang“ - einer Bewegung aufsässiger junger Literaten aus dem Bürgertum, deren Bezeichnung auf den Titel eines Dramas von F. M. Klinger zurückgeht. Schillers Erstlingswerk ist der rebellische Ausdruck einer ganzen Generation bürgerlicher Intellektueller, die - zumindest im Medium der Kunst - den Aufstand probten. Das Stück war eine Revolte gegen die Autorität der absolutistischen Fürstenhöfe. Deren Macht ging immerhin so weit, ihren Untertanen das unerlaubte Überschreiten der Landesgrenzen verbieten zu können. So wie Schiller, der zu vierzehn Tagen Gefängnis verurteilt wurde, weil er sich ohne Erlaubnis des Herzogs zur Aufführung der Räuber nach Mannheim begeben hatte. Schillers schmetterndes Pathos ist das Geräusch, mit dem die bürgerlichen Intellektuellen auf sich aufmerksam machten. Seine Übertreibungen entsprachen dabei proportional den maßlosen Ausschweifungen, der Prunksucht und Verschwendung, die an manchen der absolutistischen Höfe in Deutschland üblich waren. Mit den Räubern hatte sich Schiller als rebellischer Dichter einen Namen gemacht. In seinem bürgerlichen Trauerspiel Kabale und - 367 -
Liebe (Uraufführung: Frankfurt a. M. 1784) geht es um die unglückliche Liebe eines Paares unterschiedlicher Standeszugehörigkeit. Der Adlige Ferdinand liebt die bürgerliche Tochter eines Musikers, Luise Miller. Die Väter der beiden sind gegen eine Ehe, weil damit die Grenzen der Stände überschritten werden. Ferdinands Vater, der mächtige Hofbeamte, Präsident von Walter, befiehlt seinem Sohn stattdessen, die Mätresse des Herzogs, Lady Milford, zu he iraten. Um den makellosen Ruf der tugendhaften Luise zu ruinieren und sie damit für immer aus dem Herzen seines Sohnes zu reißen, klügelt er eine Intrige (eine „Kabale“) aus und missbraucht dabei seine Macht. Luises Eltern landen unter fadenscheinigen Anschuldigungen im Gefängnis. Luise wird gezwungen, einen kompromittierenden Liebesbrief an einen Höfling, Hofmarschall von Kalb, zu verfassen, der den Anschein erweckt, sie habe ein Verhältnis mit ihm. Als Ferdinand davon erfährt, glaubt er, Luise hätte ihn betrogen. Luise darf sich gegen seine Vorwürfe nicht verteidigen, und Ferdinand missversteht Luises Schweigsamkeit als Schuldeingeständnis. Luise will sich nun das Leben nehmen, wird von ihrem Vater aber daran erinnert, dass sie durch ihre gottlose Tat nicht nur Schuld auf sich, sondern auch auf ihn lädt. Im entscheidenden Moment ruft Miller mit ungebremstem schillerschem Pathos aus: »Hier ist ein Messer - durchstich dein Herz, und (indem er laut weinend fortstürzen will) das Vaterherz!« Ferdinand vergiftet nun sich selbst und Luise, die ihm, sterbend, erklärt, dass sie unschuldig ist. Schillers Trauerspiel wirft ein düsteres Bild auf die Verhältnisse am Hofe: Ferdinands Vater, der Präsident Walter, ist ein korrupter Machthaber, sein Sekretär, mit dem passenden Namen „Wurm“, ist ein intriganter Kriecher, und der Hofmarschall von Kalb in seinem »geschmacklosen Hofkleid« ist ein idiotischer Geck. Lady Milford ist eine egoistische Mätresse, die ihre guten Seiten unter der Maske der höfischen Manieren versteckt und deren Diamanten durch den Verkauf von Untertanen als Soldaten bezahlt werden. Aber trotz dieser krassen Darstellung des Adels entsteht der Konflikt in Kabale und Liebe nicht allein durch die Gegenüberstellung von (bösem) Adel und (gutem) Bürgertum: Die Tragik des Stücks basiert darauf, dass die Liebe zwischen Ferdinand und Luise der Kabale (Intrige) nicht - 368 -
gewachsen ist. Denn Ferdinand verlangt die leidenschaftliche und bedingungslose Liebe, vertraut aber selbst Luise nicht einfach blind; Luise gelingt es nicht, sich über die moralischen Gesetze des Bürgertums hinwegzusetzen. Trotz seiner sentimentalen Exzesse ist Kabale und Liebe ein modernes Stück, denn Schiller beschreibt darin die Eigendynamik von Kommunikation. Schillers letztes und berühmtestes Drama ist Wilhelm Teil (Uraufführung: Weimar 1804). Es hat das deutsche Bildungsgut um eine Fülle von Sinnsprüchen bereichert, die man noch heute gern zitiert, wenn einem mal nichts besseres einfällt: »Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt«, »Der kluge Mann baut vor«, »Früh übt sich, was ein Meister werden will«, »Die Axt im Haus erspart den Zimmermann«, »Die Milch der frommen Denkungsart« und etliche mehr. Wilhelm Teil ist ein Stück über den Freiheitskampf. Der Stoff - und die berühmte Szene mit dem Apfelschuss - stammte aus dem Nationalmythos der Schweiz über die Gründung der Eidgenossenschaft im 13. Jahrhundert: Angeblich hatte der Volksheld Teil die Schweiz von der unliebsamen Herrschaft der Habsburger befreit und in ein freies Land verwandelt. Als Schiller sich der Geschichte annahm, gab es genug aktuelle Bezüge für das Thema der Auflehnung gegen ungewollte Autorität. Die Begriffe Freiheit und Demokratie lagen in der Luft, wenngleich sie durch die jüngsten Erfahrungen der Französischen Revolution einen unangenehmen Beigeschmack bekommen hatten. Beim Ausbruch der Revolution hatte unter den aufgeklärten Geistern Europas noch euphorische Aufbruchstimmung geherrscht, aber als die Franzosen dann ihrem König und dem gesamten Adel die Köpfe abschlugen, hatte sic h die Begeisterung in Entsetzen gewandelt. Die drei Schweizer Kantone Schwyz, Uri und Unterwaiden werden von den Machthabern der Habsburger Besatzungsmacht drangsaliert. Daher beschließen ihre Volksvertreter, sich gegen die Unterdrücker aufzulehnen (Rütli-Schwur). Repräsentant der Fremdherrschaft ist der grausame Reichsvogt Hermann Geßler. In einer seiner herrischen Gesten befiehlt er seinen Untertanen, einem auf dem Marktplatz aufgestellten Hut dieselbe Ehrerbietung zu erweisen wie seiner Person. Als sich der Held des Dramas, der Jäger Wilhelm Teil, - 369 -
zusammen mit einem seiner beiden Söhne in die Stadt begibt, ahnt er von der Anweisung nichts und unterlässt es, sich vor dem Hut zu verbeugen. Die Wachen des Herzogs wollen Teil verhaften. Da taucht der Landvogt Geßler auf. Er verlangt von Teil, mit seiner Armbrust einen Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schießen - andernfalls würden Teil und sein Sohn sterben. Teil trifft den Apfel. Teil beschließt, sich an Geßler zu rächen. Er lauert dem Reichsvogt in der hohlen Gasse bei Küßnacht auf, (»Durch diese hohle Gasse muss er kommen, / Es führt kein andrer Weg nach Küßnacht«) und tötet Geßler aus dem Hinterhalt. Der Tod des Unterdrückers setzt die Befreiung der drei Kantone in Gang und endet in der Gründung eines Staates freier und gleicher Bürger. Im Teil gehört das Schillersche Pathos dem Einzelkämpfer Wilhelm Teil, dessen Akt der Selbsthilfe ein ganzes Volk befreit. Nun lag Schiller allerdings nichts ferner, als sein Publikum auf die Idee zu bringen, einen Aufstand anzuzetteln: Die Verbesserung der Gesellschaft begann für Schiller bei der moralischen Veredelung des Menschen. Dazu sollte das Drama als Anschauungsunterricht für vorbildliches Handeln dienen. Schiller war ein Aufklärer und Moralist. Er hinterließ der deutschen Kultur nicht nur eine Fülle goldener Merkregeln für den Alltag, sondern auch die idealistische Idee von der Verbesserung des Menschen durch das Theater.
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Heinrich von Kleist Der zerbrochne Krug (1803-06) Michael Kohlhaas (1808) Am 21. November 1811, nachmittags um vier Uhr, bestellten Heinrich von Kleist und seine Begleiterin, Henriette Vogel, Kaffee und Rum in einem Gasthaus am Kleinen Wannsee bei Berlin. Die beiden ließen sich Tisch und Stühle an den See bringen und liefen vergnügt zum Wasser hinunter. Henriette schwenkte ein kleines Körbchen, das mit einer weißen Serviette zugedeckt war. Sie riefen sich neckend Kosenamen zu, warfen Steine ins Wasser und spielten Fangen. Dann nahm der 34jährige Kleist eine Pistole aus dem Körbchen und erschoss Henriette Vogel, bevor er sich selber das Leben nahm. Kleists Selbstmord, dem sich seine todkranke Freundin freiwillig angeschlossen hatte, gehört zu den tragischen Highlights deutscher Dichterbiographien. Kleist starb genau so, wie er gelebt hatte: extrem. Kleist ist ein Mythos: ein ruheloser Rebell und ein intellektueller Freak. Er war von Selbstzweifeln geplagt, vom Ehrgeiz getrieben, ständig krank, und von inneren Krisen zerrissen. Gelegentlich murmelte Kleist in Anwesenheit anderer unverständliches Zeug vor sich hin und - wirkte dann etwas wahnsinnig. Zu innerer Ruhe trug nicht gerade bei, dass seine Zeitgenossen seine literarische Begabung hoffnungslos unterschätzten. Zu Lebzeiten wurde dem unkonventionellen Dichter der Romantik kaum Anerkennung zuteil. Kleist stammte aus dem preußischen Adel, hatte aber die klassische Laufbahn als Offizier verweigert. Stattdessen trat er an, das KulturEstablishment Goethe/Schiller vom Sockel zu stürzen. Er wollte der größte deutsche Dichter werden. Mit dieser Mischung aus kompromissloser Ablehnung konventioneller Lebenswege und maßlosem Ehrgeiz katapultie rte sich Kleist an den Rand der Gesellschaft. Von dort aus hat er Generationen nachfolgender deutscher Schriftsteller als Abstoßungspunkt oder als Identifikationsfigur gedient. - 371 -
Aber Kleist hat nicht nur sich selbst der deutschen Kultur hinterlassen - als idealtypische Verkörperung des romantischen Dichter-Rebells: Er bereicherte außerdem die deutsche Literatur mit Der zerbrochne Krug um eine ihrer besten Komödien. Darin geht es um einen Streitfall vor Gericht, der sich an einer Lappalie entzündet: einem zerbrochenen Krug. Der Krug - ein ehemals schönes Exemplar, wie seine Besitzerin Frau Marthe umständlich ausführt - ging entzwei, als eine gewisse männliche Person nach einem Stelldichein bei der schönen Eve durchs Fenster entwich. Für Aufklärung des merkwürdigen Falls muss der Dorfrichter Adam sorgen. Den stürzt der Rechtsfall jedoch in arge Bedrängnis, denn er kann seine RichterPerücke nicht finden. So muss er dem Prozeß ohne dieses Symbol seiner Amtswürde Vorsitzen. Aber dass Adam nun glatzköpfig - bar jeder richterlicher Hoheit - dem Gericht präsidiert, geschieht nicht zufällig: denn Adam muss sein eigenes Verbrechen aufklären. Er selbst war es nämlich, der den Krug zertrümmert hat, als er Eve - die einen anderen liebt - lüstern nachstellte. Um den Verdacht von sich abzulenken, legt Adam während der Verhandlung ständig falsche Fährten aus. Er erfindet Geschichten, erzeugt Missverständnisse und widerspricht sich selbst. Allmählich ähnelt er mehr einem Angeklagten, der etwas zu vertuschen hat, als einer Person, die darum bemüht ist, der Wahrheit auf den Grund zu kommen. Als er sich selber in die Enge getrieben hat, verurteilt Adam kurzerhand Eves Liebsten. Dies veranlasst Eve nun endlich dazu, mit der Wahrheit herauszurücken. Sie verrät, dass Richter Adam der Täter war. Das Stück behandelt die Korruption des Rechtssystems und führt den Richter als Täter vor. Auch das Motiv des Sündenfalls wird gestreift: durch die Namensgebung Adam und Eve und durch das Bild des zerbrochenen Krugs als Symbol für den Verlust weiblicher Unschuld (in der europäischen Kultur wurde die Frau häufig als Gefäß bezeichnet, in das man etwas pflanzen kann). Die Wirkung der Komödie resultiert aus seiner unglaublich modern wirkenden Schnelligkeit. Der ganze Effekt basiert auf der Paradoxie, dass Adam zwar einerseits Zeugen nicht zu Wort kommen lassen will, aber zugleich versuchen muss, die Wahrheit durch permanente Geschwätzigkeit zu vertuschen. So verwandeln sic h die Dialoge zu - 372 -
einer atemlosen Fortführung von Stockungen und Unterbrechungen. Gelegentlich hat man den Eindruck, als würde sich das Sprechen selbst überschlagen, als gäbe es nicht genug Zeit, ganze Sätze zu sprechen, und als müsse man sich deshalb mit Wortfetzen behelfen. Der Effekt ist atemberaubend und gibt der Komödie ihr mitreißendes Tempo. Berühmt wurde Der zerbrochne Krug zunächst durch eine katastrophale Inszenierung an der Hofbühne in Weimar 1808. Das Stück fiel komplett durch. Der zuständige Regisseur hatte erklärt, dem Stück fehlte es an Tempo! Er zwängte die rasante Szenenfolge der dreizehn Auftritte in das Korsett eines Dreiakters. Das verwandelte die Komödie zu einer zähen Angelegenheit. Zu allem Übel taten die Schauspieler das, was sie gelernt hatten, und deklamierten mit großer Inbrunst und bebender Stimme die Dialoge, die wie aus der Pistole geschossen kommen müssen. Kleist reagierte mit Verzweiflung. Die Anekdote ist ein schönes Beispiel dafür, dass auch sehr kluge Leute mitunter komplette Fehlurteile fällen. Denn wer hatte die Regie geführt? Der Olympier der deutschen Klassik: Johann Wolfgang Goethe. Mit der Novelle Michael Kohlhaas erfand Kleist eine Figur, die zum Sinnbild der Auflehnung des einzelnen gegen die Obrigkeit geworden ist. Einen „Kohlhaas“ nennt man jemanden, der jahrelang wegen einer Lappalie einen Prozeß führt, oder der sich gegen staatliche Willkür zur Wehr setzt. Den einen ist Kohlhaas ein Querulant, den anderen ein Held des rechtmäßigen Widerstands. Kleists Michael Kohlhaas basiert auf einer historischen Gestalt aus dem 16. Jahrhundert: Das grobe Gerüst für die Novelle lieferte die Geschichte vom Pferdehändler Hans Kohlhase, der nach einem vergeblichen Rechtsstreit um zwei Pferde in einem Akt der Selbstjustiz die Stadt Wittenberg in Brand steckte und dafür hingerichtet wurde. Der wohlhabende Pferdehändler Michael Kohlhaas reitet mit einigen seiner Pferde zum Markt in Dresden. Als er das Land des Junkers Wenzel von Tronka erreicht, wird er von einem Grenzposten aufgefordert, seinen Paß vorzuzeigen. Da Kohlhaas keinen Paß hat, lässt er zum Pfand zwei seiner Pferde in der Obhut des Landesherrn zurück. In Dresden erfährt Kohlhaas, dass die Paßforderung reine - 373 -
Willkür war. Er kehrt also zurück, will seine beiden Pferde abholen und stellt entsetzt fest, dass die edlen Tiere inzwischen zur Feldarbeit benutzt wurden. Aus den beiden prächtigen Rappen sind zwei jämmerliche Klepper geworden. Nun beginnt Kohlhaas' erbitterter Kampf um sein Recht. Das Ganze wird allmählich zu einer Lawine von Gewalt, unter der am Ende eine ganze Stadt in Schutt und Asche begraben wird: Kohlhaas verlangt zunächst, seine Pferde in wohlgenährtem Zustand zurückzubekommen. Er reicht eine Klage bei Gericht ein - die wird abgewiesen; darauf schickt er seine Frau mit einer Bittschrift zum Kurfürsten - diese wird dabei von einer Wache tödlich verletzt. Nun fällt Kohlhaas mit einer Meute von sieben Knechten in der Burg des Junkers von Tronka ein, tötet alle darin befindlichen Personen samt Frauen und Kindern und äschert das Gemäuer ein. Weil sich der Hausherr und eigentliche Übeltäter aber nach Wittenberg abgesetzt hat, erpresst Kohlhaas die Regierung und verlangt die Auslieferung des Junkers. Als das nicht geschieht, steht auch Wittenberg kurz darauf in Flammen. Inzwischen mischt sich der Reformator Martin Luther in die Angelegenheit und wirft dem amoklaufenden Pferdehändler blinde Zerstörungswut vor. Das kann Kohlhaas nicht auf sich sitzen lassen. Er trifft sich deshalb heimlich mit Luther und schildert ihm seinen Fall. Luther verspricht, eine Begnadigung zu erwirken, damit Kohlhaas seinen Prozeß um die Schindmähren erneut aufnehmen kann. Kohlhaas wird begnadigt und kann seine Klage vor Gericht noch einmal vortragen. Doch plötzlich wird die Begnadigung aufgrund geschic kter juristischer Winkelzüge wieder aufgehoben, und der Pferdehändler wird wegen Landfriedensbruchs zum Tode verurteilt. Aber kurz bevor man ihn enthauptet, darf Kohlhaas noch erfahren, dass man ihm im Fall seiner Pferde nun doch noch recht gegeben hat. Das Grundmuster der Kohlhaas-Geschichte ist heute aus dem Hollywood-Kino bekannt. Die Rede ist von jenen Filmen über Recht und Gerechtigkeit, in denen ein bisher unbescholtener Staatsbürger (zum Beispiel ein verdienstvoller Polizist) in einen Sog eskalierender Gewalt gerät. Eine Weile versucht der Held noch, sich sein Recht auf legalem Wege zu verschaffen, aber als er in ein Dickicht von Filz und Korruption gerät, und als er dann auch noch seinen Besitz und - 374 -
schließlich sogar seine Familie verliert, mutiert der Held zum rücksichtslosen Racheengel, der sich nun mit Gewalt Recht zu verschaffen sucht. Die amerikanischen Actionfilme und die Kleistsche Novelle liegen gar nicht so weit auseinander: Es geht in beiden Fällen um das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit und um das Verhältnis vom Recht des Einzelnen gegenüber der Staatsgewalt. Bei dem Rebellen Kleist, wie in den Hollywood-Filmen, gehört die Faszination dem Helden, der die Staatsgewalt bricht. Mancher Leser mag sich insgeheim wünschen, Kleist hätte Actionfilme gedreht. Denn Kleist zu lesen ist alles andere als einfach. Seine Erzählsprache ist berüchtigt für ihre Unverständlichkeit. Umständlich muss man sich durch endlose, verschachtelte Sätze kämpfen. Ein Beispiel: »Es traf sich, dass der Kurfürst von Sachsen auf die Einladung des Landdrosts, Grafen Aloysius von Kallheim, der damals an der Grenze von Sachsen beträchtliche Besitzungen hatte, in Gesellschaft des Kämmerers, Herrn Kunz, und seiner Gemahlin, der Dame Heloise, Tochter des Landdrosts und Schwester des Präsidenten, andrer glänzenden Herren und Damen, Jagdjunker und Hofherren, die dabei waren, nicht zu erwähnen, zu einem großen Hirschjagen, das man, um ihn zu erheitern, angestellt hatte, nach Dahme gereist war; dergestalt, dass unter dem Dach bewimpe lter Zelte, die quer über die Straße auf einem Hügel erbaut waren, die ganze Gesellschaft vom Staub der Jagd noch bedeckt unter dem Schall einer heitern vom Stamm einer Eiche herschallenden Musik, von Pagen bedient und Edelknaben, an der Tafel saß, als der Roßhändler langsam mit seiner Reuterbedeckung die Straße von Dresden daher gezogen kam.« Der Satz ist atemberaubend. Nicht nur, weil man am Ende keine Luft mehr hat, sondern weil Kleist darin etwas ganz Unmögliches unternimmt. Er versucht nämlich einen Film zu drehen. Man stelle sich die Szene einmal in bewegten Bildern vor, in denen Vordergrund und Hintergrund gleichzeitig sichtbar werden. Und schon versteht man alles auf Anhieb: Sonniger Tag. Musik. Kamera von oben: Zeltlandschaft im Grünen. Kamera fährt langsam herunter, in die Zelte hinein: Tische, an denen eine Hofgesellschaft speist und von Pagen bedient wird, Nahsicht auf den Kurfürsten, als Ehrengast in der Mitte der Tafel, neben ihm der Gastgeber Graf Aloysius. Herr Kunz und - 375 -
sein Gemahlin schäkern miteinander. [Geräusch von Pferdehufen]. Schnitt. Und Totale auf herannahenden Reitertross auf Landstraße.
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Joseph von Eichendorff Aus dem Leben eines Taugenichts (1826) Ausgerechnet „Taugenichts“ hieß die Figur, die die Deutschen im 19. Jahrhundert in ihr Herz schlössen. »Der Taugenichts ist eine Verkörperung des deutschen Gemüts, die liebenswürdige Type einer ganzen Nation«, erklärte Theodor Fontane die ungeheure Beliebtheit der berühmten Novelle bei seinen Zeitgenossen. Wen hatten sich die Deutschen da als Identifikationsfigur ausgesucht? Einen fröhlichen, jungen Burschen ohne Namen, der die meiste Zeit damit verbringt, Volkslieder zu singen und zu schlafen. Und der bei allem, was er treibt, mehr Glück als Verstand hat. Der junge Ich-Erzähler in Eichendorffs berühmter Novelle der Spätromantik wischt sich einmal wieder den Schlaf aus den Augen, als sein Vater, ein tüchtiger Müller, ihn verdrossen anfährt: »Du Taugenichts, da sonnst du dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde und lässt mich alle Arbeit tun! Nun geh' mal hinaus in die Welt und sorge für Dich selber!« Dies ist nun glücklicherweise just das, wonach dem jungen Faulenzer gerade der Sinn steht. Er packt also seine Geige ein und schlendert gemächlich die Dorfstraße hinunter. Kaum hat er die Felder erreicht, beginnt er auch schon fröhlich zu singen: »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt ...«. Die Zeilen sind das Leitmotiv der Novelle. Und sie haben, seitdem sie Eichendorffs Taugenichts über die Lippen kamen, unzählige deutsche Wanderer auf ihren Touren durch die Eichenwälder erfrischt. Kaum hat der Müllerssohn sein Lied zu Ende gesungen, begegnet er zwei schönen Damen, die ihn in ihrer Kutsche mitnehmen. Die Fahrt (die der Taugenichts, wie immer, schlafend verbringt) endet an einem Schloß. Dort steht der Tunichtgut zunächst verdutzt eine Weile untätig in der Gegend herum, bevor er wie aus heiterem Himmel eine Stelle als Gärtnerbursche angeboten bekommt. Die Arbeitsmoral des jungen Mannes lässt allerdings zu wünschen übrig. Kaum hat der Obergärtner - 377 -
ihm den Rücken zugedreht, legt er sich unter einen Baum, sieht den Schmetterlingen nach, raucht ein Tabakspfeifchen und träumt von der Liebe. Denn der Taugenichts hat sein offenes Herz an eine der beiden vornehmen Damen aus der Kutsche verloren: an die schöne Aurelie. Ungeachtet seiner laxen Einstellung zur Arbeit bleibt dem Taugenichts das Schicksal gewogen. Eines Morgens (er schläft natürlich noch, als ihn der Sekretär vom Schloß beehrt), wird ihm die Stelle des Zolleinnehmers angeboten. Der Posten scheint ihm günstig zumal der Held nun den ganzen Tag in einem roten Schlafrock, Pantoffeln und einer Schlafmütze auf dem Kopf in der Gegend herumsitzen kann. Als die Aussichten auf die Erfüllung seiner Liebe immer trüber werden, macht sich der Wanderbursche erneut auf den Weg in die Welt. Diesmal lockt das Land aller unbürgerlichen Sehnsüchte: Italien. Das Ziel ist ideal für einen Taugenichts, denn im Bewusstsein der Romantik steht Italien für eine Phantasielandschaft, in der das Leben sinnlich und sorglos ist. So macht sich der Hans im Glück auf den Weg dorthin. »Wo geht's denn hier nach Italien?« fragt er einen Bauern nach dem Weg. Die naive Frage lässt befürchten, dass es dem Reisenden an kosmopolitischem Format fehlt. Und siehe da: kaum hat der Taugenichts Italien erreicht, überkommt ihn auch schon das Heimweh. Übrigens hat der Taugenichts - mit seinem unverschämten Glück - die strapaziöse Reise in den Süden per Kutsche hinter sich gebracht - selbstverständlich schlafend. In Italien wird er in allerlei seltsame erotische Abenteuer verwickelt. Schließlich treibt ihn aber die Sehnsucht nach Aurelie zurück in die Heimat. Dort stellt sich dann heraus, dass Aurelie gar keine unerreichbare Gräfin ist, sondern die bürgerliche Nichte des Schloßportiers. Die Liebenden finden glücklich zueinander, und die Erzählung endet mit den beruhigenden Worten: »und es war alles, alles gut«. Eichendorffs Held ist von überwältigender Arglosigkeit. Mitunter ähnelt er eher einem fünfjähr igen Kind als einem jungen Mann. Auch wenn der Taugenichts mal gerade nicht schläft, bekommt er nicht sehr viel von seiner Umwelt mit: Er weiß beispielsweise nie so recht, wo er ist, versteht selten, was man von ihm will, und durchschaut auch nicht die erotischen Spielchen, denen er in Italien ausgesetzt ist. Aus der - 378 -
Sicht des ständig schlafenden und träumenden Taugenichts wirkt die Welt wie verzaubert: Die Natur, die er durchwandert, ist ein Idyll aus paradiesischen Gärten; und die Menschen, denen er begegnet, kennen nicht den Ernst des Lebens. Sie verkleiden sich, vertreiben sich die Zeit mit Liebeleien und singen ständig schöne Lieder. Alles wirkt heiter und unbeschwert und ziemlich naiv. Diese Idylle aus Liedern, Italiensehnsucht, Heimweh und Schmetterlingen traf das biedere Lesepublikum des 19. Jahrhunderts mitten ins Herz. Die verträumte Welt, die der Taugenichts schlafend durchreist, war genau das, wovon jeder Biedermann selber träumte. Der Taugenichts besitzt nichts, verlangt nichts, und fürchtet sich vor nichts. Er lebt einfach in den Tag hinein. Das macht die unbeschwerte Stimmung des Buches aus, die auf das Leserpublikum entlastend wirkte. Die märchenhaften Kunstlandschaften waren weit entfernt vom revolutionsanfälligen Europa. Sie hatten nichts mit der Gesellschaft Deutschlands zu tun, in der das konservative politische System nicht mehr zur beginnenden Industrialisierung passte. Wer den Taugenichts las, schloss die Augen, begann zu träumen und dachte, frei nach dem Motto des Helden „Hinaus in die Welt“: „Bloß raus aus dieser Welt“.
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Georg Büchner Dantons Tod (1835) Georg Büchner starb mit 23 Jahren an Typhus. Zuvor studierte er Medizin, verfasste vier Dramen, schrieb eine Erzählung, übersetzte Victor Hugo, forschte über das Nervensystem der Flussbarbe, promovierte, verfasste eine politische Flugschrift mit kommunistischem Inhalt, wurde steckbrieflich gesucht und floh nach Frankreich. Die Flugschrift, die Büchner zusammen mit anderen Studenten (der Gesellschaft der Menschenrechte“) heimlich gedruckt hatte, hieß Der Hessische Landbote (1834). Das Pamphlet begann mit folgender Anweisung für den Leser: Verstecke den Text, gibt ihn nur deinen engsten Vertrauten, und tue so, als seiest du gerade auf den Weg zur Polizei, wenn du damit erwischt wirst. Die Warnungen waren nicht übertrieben. Immerhin trug die Flugschrift den Titel: »Friede den Hütten, Krieg den Palästen!« Und das, was dann folgte, war auch nicht gerade staatstragend. Im Hessischen Landboten wollte Büchner der ungebildeten Bevölkerung die Augen dafür öffnen, dass sie von der adeligen Oberschicht hoffnungslos ausgebeutet wurde. Mit drastischen Zahlen-Beispielen führte er die Verschwendungssucht der fürstlichen Staatsetats vor Augen. So wollte er die steuerzahlende Landbevölkerung darüber aufklären, wie ungeheuer ungerecht die Diskrepanz zwischen arm und reich war. Bei der Verteilung des gefährlichen Flugblatts flog die ganze Gruppe um Büchner auf. Seine Mitstreiter landeten im Gefängnis und er selbst floh über die grüne Grenze nach Straßburg. Im Unterschied zum Hessischen Landboten, der die AgitationsRhetorik des Kommunistischen Manifestes vorwegnahm (das Marx und Engels vierzehn Jahre später schrieben), hat Büchners Drama Dantons Tod den zurückhaltenden Tonfall eines Doku-Dramas. Fast so, als hätte er eine Flussbarbe vor sich auf dem Seziertisch liegen, beugte sich Büchner über die Prozesse der Revolution. Büchner, der Revolutionär in spe, untersuchte die Revolution. Und natürlich gab es um 1830 nur einen Freiheitskampf, der in Frage kam, um sich mit dem - 380 -
Problem zu beschäftigen, wie eine Revolution funktioniert und was man durch sie erreichen kann: die Französische Revolution. Der Titelheld des Dramas, Georges Jacques Danton, war einer der drei Führer der Französischen Revolution. Danton war bekannt für sein Charisma und sein rhetorisches Geschick, die für seine Popularität beim Volk sorgten. Am Ende der Revolution, 1794, wendete sich allerdings das Blatt: Er landete auf Befehl seines Mitstreiters, Robespierre, dort, wo zuvor seine politischen Feinde geendet hatten - auf der Guillotine. Neben Danton standen Jean Paul Marat und Robespierre an der Spitze der neuen Republik. Marat wurde von einer gewissen Charlotte Corday 1793 erstochen, als er gerade in der Badewanne saß - die Szene wurde im selben Jahr von dem Maler Jacques-Louis David unvergesslich ins Bild gesetzt. Robespierre war ein moralgefestigter Kleinbürger und Tugendapostel, der zum diktatorischem Führer des höchsten Organs der Republik aufstieg, dem sogenannten „Wohlfahrtsausschuss“. Ihn ereilte, sechs Wochen nach Dantons Tod, dasselbe Schicksal wie unzählige seiner politischen Feinde; auch er landete unter dem Fallmesser. Die „Handlung“ von Büchners Drama erstreckt sich über die letzten vierzehn Tage vor Dantons Hinrichtung. Sie besteht im wesentlichen aus Fraktionskämpfen der Dantonisten und Jakobiner (den Anhängern Robespierres, deren Name von ihrem Versammlungsort, dem Kloster der heiligen St. Jakob, stammte). Der demagogische Robespierre versucht, in Ermangelung politischer Programme, der Republik durch Moral eine Zukunft zu geben. Es ginge um den Erhalt der Tugend, erklärt Robespierre und bestimmt wie jeder Diktator selbst, was Tugend ist und was nicht. Robespierre pervertiert die Moral, indem er sagt: Die Tugend brauche den Terror, sonst würde sich keiner an sie halten. Danton ist ein zweifelnder Revolutionär. Am Ende der Revolution verstummt der ehemalige Agitator, denn angesichts der Zeitläufe erkennt er die Bedeutungslosigkeit des einzelnen Menschen - und seine eigene: Er ergibt sich dem Räderwerk der Geschichte. Danton weiß, dass man ihn hinrichten wird, aber er versucht nicht einmal, zu entkommen. Büchners Danton ist eine moderne Figur: Er ist eine von Sinnkrisen geplagte Existenz, die zweifelt, ob das eigene Tun die Mühe lohnt. Sein Tod ist kein heldenhafter Opfertod für eine lohnende - 381 -
Sache, sondern die ernüchterte Einsicht in die Belanglosigkeit des eigenen Handelns. Trotz der Gegenüberstellung von Robespierre und Danton entzieht sich das Stück beharrlich der Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Denn auch den Despoten Robespierre plagen die Zweifel; während der zweifelnde Danton eine Karriere als ruchloser Revolutionsführer hinter sich hat. Und das manipulierbare Volk verkörpert nicht nur den dummen Mob, der orientierungslos mal hierher, mal dorthin rennt, sondern auch die bemitleidenswerte Kreatur, die hungert. Dantons Tod war nicht ein Drama im herkömmlichen Sinn. Zeitgenössische Kritiker vermissten eine richtige Handlung und eine große Idee - eine emphatisch vorgetragene Forderung nach Freiheit oder Gerechtigkeit zum Beispiel. Außerdem stand mit Danton ein „Held“ auf die Bühne, der den Sinn seines Handelns anzweifelte und insofern als idealisie rbare Heldenfigur ausfiel. All das macht aber die Modernität des Dramas aus, denn Büchner zeigte darin nicht mehr und nicht weniger als die Komplexität historischer Prozesse.
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Heinrich Heine Deutschland. Ein Wintermärchen (1844) Heinrich Heines Gedicht Deutschland. Ein Wintermärchen war bis in die siebziger Jahre - wenn man so sagen kann - ein negativer Schulklassiker. Heines boshafte Satire auf das Vaterland, dessen Zukunftsaussichten man in einem Nachttopf erblickt, brachte ihm den Ruf des „Nestbeschmutzers“ ein. Heines Wintermärchen war genau das, was man an Schulen garantiert nicht las. Sofern Heine im Schulkanon dann überhaupt vorkam, hielt man sich an die Gedichte-Sammlung, mit der er weltberühmt geworden war: Das Buch der Lieder (1827). Darin ging es nicht um Politik, sondern, etwas unverfänglicher: um unglückliche Liebe. Die Popularität der Gedichte bei dem bürgerlichen Lesepublikum des 19. Jahrhunderts basierte allerdings auf einem Mißverständnis: Denn die ironie resistenten Leser hatten überhört, dass Heines Schwelgerei in Trivialitäten stets von einem parodistischen Unterton begleitet war. Sie erkoren - betäubt von der eigenen sentimentalen Vorgestimmtheit - die Loreley (»Ich weiß nicht, was soll es bedeuten ...«) zu ihrem Lieblingslied. Für gefühlvolle Stimmung sorgten auch die Vertonungen der liedähnlichen Gedichte. Hunderte von Komponisten - darunter auch so namhafte wie Schumann, Mendelssohn Bartholdy, Liszt, Brahms und Wagner - bereiteten Heine zum musikalischen Hausgebrauch für die biedermeierliche Gemütlichkeit auf. Die Beliebtheit des „romantischen“ Heine basierte auf der Arglosigkeit des Lesepublikums, das die bissigen Zwischentöne einfach nicht heraushörte. Aber nicht zu überhören waren dann die amüsanten und weniger amüsanten Gemeinhe iten, die Heine in seiner Dichtung Deutschland, Ein Wintermärchen gegen sein Vaterland losließ. Der Untertitel Ein Wintermärchen stand in lockerer Verbindung zu der gleichnamigen Romanze von Shakespeare. Heine meinte damit: „Deutschland, ein Land im politischen Winterschlaf. Das Gedicht entstand nach einer Reise durch Deutschland, die Heine nach dreizehnjähriger Abwesenheit angetreten hatte, um seine Mutter - 383 -
in Hamburg wiederzusehen. Heine war als 34jähriger ins freiwillige Exil nach Paris gegangen. Dort hatte der liberale Kosmopolit all das gefunden, was er im rückschrittlichen Heimatland vermisste: Paris war die Bühne für die bedeutendsten Ereignisse der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, es stand im Begriff, das kulturelle Zentrum der Moderne zu werden, und es verfügte über alle Reize einer Metropole: ein öffentliches Leben, glamourösen Luxus und Sinnenfreuden. Heine, der aus dem jüdischen Großbürgertum stammte, lebte bis zu seinem Tod in Paris. Die letzten acht qualvollen Jahre davon verbrachte er fast ganz gelähmt in seiner „Matratzengruft“. Ein Kölner Gesangsverein ließ es sich nicht nehmen, den sterbenden Dichter dort mit einer Kostprobe seiner vertonten Gedichte zu beehren. Als den Sprecher des Wintermärchens (alias Heine) nach über zehn Jahren das Heimweh packt, kehrt er in ein entsetzlich matschiges Land zurück. Überall liegt Dreck auf den Landstraßen zwischen Aachen und Hamburg, und mitunter steht der Kot so hoch, dass kein Fortkommen mehr ist. Die metaphorische Schlamm-Schlacht gilt dem rückständigen Deutschland der „Restauration“ nach dem Wiener Kongress 1815. Während sich Frankreich in eine moderne, fortschrittliche Nation verwandelte, verharrte Deutschland in politischer Erstarrung. Das deutsche politische System schien auf den Stand der Kleinstaaterei des vergangenen Jahrhunderts zurückgefallen zu sein: Die Macht gehörte dem Adel und der Kirche. Jeder Versuch der Opposition von seilen der Literaten wurde durch die Zensur im Keim erstickt. Heines Schriften waren seit 1835 in Preußen verboten, das galt auch für das Wintermärchen. Es ist also kein Wunder, dass dem Reisenden bereits an der Grenze das Heimweh vergeht, als der Zoll sein Reisegepäck auf darin befindliche „gefährliche“ Schriften durchwühlt. Immerhin ist die Zensur das beste Mittel, um Deutschland in jenem Winterschlaf zu halten, den Heine attackiert. In Aachen trifft der Tourist aus Paris auf das preußische Militär. Er karikiert den Untertanengeist der sprichwörtlichen preußischen Disziplin: Die Soldaten ständen so steif herum, als hätten sie den Stock verschluckt, der sie zuvor verprügelt hat. Das Ganze erinnere ans Mittelalter: »An Edelknechte und Knappen, / Die in den Herzen - 384 -
getragen die Treu / Und auf dem Hintern ein Wappen.« Auch die Pickelhaube sehe recht schön aus, nur sei sie doch bei Gewitter etwas unpraktisch. Es folgen verbale Seitenhiebe auf die katholische Kirche, auf den Chauvinismus der Deutschen und Franzosen in der Frage „Wem gehört den Rhein?“, auf deutsche Realitätsferne (»Franzosen und Russen gehört das Land, / Das Meer gehört den Briten, / Wir aber besitzen im Luftreich des Traums, / Die Herrschaft unbestritten«) und auf deutsches Essen. Die Satire auf die Highlights heimischer Kochkunst in Form von Sauerkraut, Kohl und Bratwürsten gipfelt in einer eindeutigen Zweideutigkeit: In der deutschen Küche schmücke man die Schweine mit Lorbeerblättern. Die nächste Etappe fuhrt durchs Münsterland, wo dem Reisenden, der allmählich selber schläfrig geworden ist, im Traum der große Kaiser Barbarossa begegnet. Die folkloristische Figur des Kaisers Rotbart war für viele Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts die hoffnungsvolle Verkörperung nationaler Einheit und Freiheit. Der Reisende fuhrt die Gestalt jedoch als das vor, was sie ist: Eine Märchenfigur, mit der sich keine moderne Nation begründen lässt. Er schickt den alten Trottel deshalb wieder schlafen. Schließlich erreicht man Hamburg. In der freien Hansestadt begegnet dem Tourist aus Frankreich die Mentalität des selbstzufriedenen deutschen Mittelstandes, der es gemütlich und ruhig liebt. Sie erscheint in Gestalt der dickbusigen Schutzpatronin der Stadt, Hammonia. Die gewichtige Dame belästigt den Reisenden zwar mit plumpen Annäherungsversuchen, aber sie gestattet ihm auch einen Blick in jenen sagenhaften Zauberkessel, der die Zukunft Deutschlands zeigt - und der Heine später so viel Arger eingebrockt hat. Denn dieser Zauberkessel ist ein Nachtstuhl, aus dem es so furchtbar aus sechsunddreißig Gruben (d.h. Staaten des Deutschen Bundes) stinkt, dass dem Reisenden alle Sinne vergehen. Heines scharfzüngige Deutschland-Kritik stammte, entgegen aller Vorwürfe, nicht aus dem Munde eines „Vaterlandsverräters“, sondern eines enttäuschten Patrioten, der die heimischen Zustände mit Humor zu ertragen versuchte.
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KINDER A a, B b, C c. So sah man im 17. Jahrhundert das Verhältnis von Erwachsenen und Kindern: Kinder waren die geschrumpfte Version der Erwachsenen, die Kleinbuchstaben im Alphabet des Menschengeschlechts. Niemand wäre vor 400 Jahren auf die Idee gekommen, zu behaupten, dass die Kindheit eine Phase ist, die sich vom Erwachsenenleben völlig unterscheidet. Dass Kinder anders denken, fühlen und wahrnehmen als Erwachsene, dass sie eine eigene Phantasie haben, dass man sie kindgerecht behandeln muss, dass Eltern die Entwicklung ihrer Kinder fördern sollten und dass Kinder in die Schule gehören und nicht billige Arbeitskräfte sind - all dies sind Ideen, die in Europa erst im Laufe des 18. Jahrhunderts Gestalt annehmen. In der Antike hatten Kinder im allgemeinen den Status von Tieren (und zwar ohne Tierschützer-Lobby). Aristoteles schrieb, dem Kind fehlten alle Eigenschaften, die den Menschen über das Animalische erheben: denn Kindern mangele es an der Fähigkeit, vernünftig zu denken. Die Tötung eines Neugeborenen galt bis 374 v. Chr. nicht als Mord; und es war üblich, ungewollte Kinder, auf dem Misthaufen zu entsorgen. Nach römischem Recht entschieden die Väter darüber, ob ihre Kinder am Leben blieben oder nicht. Sieht man sich die Geschichte der Kindheit genauer an, wird klar, dass es überhaupt keine Selbstverständlichkeit ist, Kinder als etwas Kostbares, als Zukunft und Hoffnungsträger einer Gesellschaft zu sehen, so wie das in den westlichen Ländern heute im allgemeinen der Fall ist. In der europäischen Vergangenheit wurden Kinder ausgesetzt, verschenkt, verkauft, geschlagen, missbraucht, verstümmelt und auf Jahrmärkten ausgestellt, zur Prostitution gezwungen, kastriert und in die Sklaverei geschickt. Bis weit ins 19. Jahrhundert war es normal, dass Kinder genauso wie Erwachsene arbeiten. Im Mittelalter dachte man keineswegs automatisch an Unschuld, wenn man Kinder im Sinn hatte. Die Einstellung des Christentums - 386 -
gegenüber Kindern war ausgesprochen zwiespältig. Sie ließ zu, dass man Kinder als Verkörperung der Sünde und der Unschuld sehen konnte - je nach Standpunkt. Kinder waren Freuden, die von Satan stammten, der in scheußlicher Mission die Worte »Seid fruchtbar und mehret euch« in die Bibel eingeschmuggelt hatte. Kinder entstanden, wenn das Fleisch schwach wurde, kosteten Geld, plärrten die ganze Nacht, zwangen den Mann bei der Frau zu bleiben, und sie starben, kaum dass sie zur Welt gekommen waren. In Zeiten hoher Kindersterblichkeit demonstrierte die Nähe eines Neugeborenen zum Tod die Nichtigkeit des menschlichen Lebens. Kaum geboren, wurde der Mensch schon wieder zu Staub. Kinder waren laut, zornig, widerlich triebhaft, Früchte der Sünde und kamen mit Blut besudelt zur Welt. Sie waren alles andere als Unschuldsengel. Kein Wunder also, dass sie schreiend ins Leben traten. Andererseits waren Kinder Geschenke Gottes. Kinder hatten eine Seele - deshalb durfte man sie im Christentum (im Unterschied zum römischen Recht) nicht töten. Um unverheiratete Mütter daran zu hindern, ihre Kinder aus Scham oder Armut in Flüsse zu werfen, zu ersticken oder auszusetzen, eröffnete man bereits im frühen Mittelalter Findelhäuser für ungewollte Kinder. Denn hatte nicht Christus gesagt: »Lasset die Kindlein zu mir kommen, denn solcher ist das Himmelreich« (vgl. Matthäus 19,14)? In diesem Sinn war das Kind die Verkörperung des besten gläubigen Christen. Kinder standen für Reinheit, Unschuld und Tugend. Der Gottessohn wurde selbst zur Ikone kindlicher Vollkommenheit. Im 12. Jahrhundert begann man in der Kunst, Christus als kleines Menschenkind darzustellen. Das Jesuskind in der Krippe auf Stroh oder auf dem Schoß der Jungfrau Maria: das war für Jahrhunderte das ult imative Symbol kindlicher Unschuld. Die Kindheit war das Paradies auf Erden - theoretisch jedenfalls. Die Realität sah etwas anders aus. Kinder wurden ohne große Sentimentalität erzogen. Das mag zum einen daran gelegen haben, dass man nicht wagte, sehr innige Beziehungen zu Kindern zu knüpfen, weil man in Zeiten, in denen die meisten Kinder nicht älter als acht Jahre wurden, stets befürchten musste, das zu verlieren, was man am meisten liebte. Zum anderen war die Familie bis ins 18. Jahrhundert eine Arbeitsgemeinschaft und nicht ein warmer Ort der - 387 -
Geborgenheit, der für Gefühle, Intimität und menschliches Verständnis zuständig war. Und schließlich galt, dass die Familie den Staat im kleinen widerspiegelte, und dass das Kind daher seinen Eltern Gehorsam schuldetet so wie die Untertanen ihrem Herrscher zu Folgsamkeit verpflichtet waren. Im 18. Jahrhundert hat sich die Einstellung zu Kindern grundsätzlich gewandelt. Dafür gab es eine ganze Reihe von Gründen. Entscheidend war die Veränderung der Struktur der Familie. Es entstanden Manufakturen für die Dinge, die man zum Leben brauchte. So wurde das, was man bisher im Haushalt hergestellt hatte, außerhalb der Familie gefertigt. Die Familie, die vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert für die Herstellung von Brot, Bier, Kleidung, Butter etc. zuständig war, wurde zu einer arbeitsfreien Zone. Sie wurde zur Gegenwelt der Arbeit und zum Ort der Intimität und der Zuneigung. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts galt es auch unter Frauen der oberen und mittleren Stände als schick, die Kinder nicht mehr zu Ammen zu geben, sondern sie selber zu stillen. Diese frühe Bindung an das Kind konnte man sich nun emotional leisten, weil die allgemeine Kindersterblichkeit erheblich abgenommen hatte. Eine Mutter musste nun nicht ständig fürchten, dass sie mehr als die Hälfte ihrer Kinder verlieren würde, bevor sie erwachsen waren. Man hörte auch auf, Prügel als notwendigen Bestandteil der Erziehung anzusehen. Es entstand eine eigene Kinderkultur: Mittelklasse-Eltern gaben Geld für Dinge aus, die darüber hinausgingen, Kinder nur warm zu kleiden und zu ernähren. Es gab Puppentheater, Zirkus und Kinderspiele. Und es setzte sich im 19. Jahrhundert der Gedanke durch, dass alle Kinder in die Schule gehören. Damit wurden die Kinder im Alltag endgültig von der Erwachsenenwelt getrennt. In der Geschichte der Kindheit gibt es zwei große Wortführer: Der eine stammt aus dem vorrevolutionären Frankreich und heißt JeanJacques Rousseau; der andere kommt aus dem viktorianischen London und heißt Charles Dickens. Rousseau ist als Erfinder der modernen, kindgerechten Pädagogik bekannt - und dafür, dass er sich selber nicht an das hielt, was er predigte: Rousseau schickte alle seine fünf Kinder ins Waisenhaus. Dickens ist berühmt für seine rührseligen Kinderfiguren, die dafür - 388 -
sorgten, dass sich die gesamte englischsprachige Welt des 19. Jahrhunderts vorübergehend in Tränen auflöste: Oliver Twist, Little Dorrit, Pip (aus Große Erwartungen), David Copperfield, und allen voran Little Nell aus dem Roman Der Raritätenladen. Die kleine Heldin Little Nell ist für die sagenhafteste Anekdote aus der Geschichte des literarischen Fanpublikums verantwortlich. Als die letzten Kapitel des Romans geschrieben waren - der wie alle anderen von Dickens' Romanen in Form monatlicher Fortsetzungen in Zeitschriften erschien -, wurde das in New York einfahrende Schiff mit den neuesten Zeitschriftenausgaben von einer aufgeregten, ungeduldigen Menge empfangen. In unerträglicher Ungewissheit über das Schicksal der kindlichen Heldin riefen Hunderte von Wartenden dem anlegenden Schiff entgegen: »Ist sie tot?!« Ja, sie war tot. Little Nells Sterbeszene war derart rührselig, dass Oscar Wilde - nie um geistreiche Gemeinheiten verlegen - ungerührt kommentierte, man müsse schon ein Herz aus Stein haben, um beim Lesen keinen Lachkrampf zu bekommen. Die Aufregung über ein Buch wie Der Raritätenladen ist erst in jüngster Zeit übertroffen worden, als im Oktober 2000 der vierte Band von Harry Potter erschien und die Buchläden dafür bereits um Mitternacht ihre Türen öffneten.
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Jean-Jacques Rousseau Emile oder Von der Erziehung (1762) Rousseau war ein Rabenvater. Er schickte alle seine fünf Kinder ins Waisenhaus. Später schämte er sich dafür und suchte nach fadenscheinigen Entschuldigungen: Er hätte nicht genug Geld gehabt, die Kinder zu ernähren; er sei sich nicht sicher gewesen, ob seine Lebensgefährtin, die Wäscherin Therese Levasseur, die Kinder nicht von anderen Männern bekommen hatte und ob Therese überhaupt in der Lage gewesen sei, Kinder großzuziehen. Außerdem sei es wohl auch besser gewesen, den Nachwuchs nicht dem verweichlichenden Einfluss der bürgerlichen Erziehung auszusetzen, sondern ihn in den Genuss der Zucht einer öffentlichen Anstalt kommen zu lassen. Und schließlich: Wie hätte er in Ruhe schreiben sollen, wenn Kinder durchs Haus lärmen? Wer zum geistigen Vater der modernen Pädagogik werden will, kann sich eben nicht in die intellektuellen Niederungen der Erziehung seiner eigenen Kinder hinabbegeben. Rousseaus Kinder wurden zu Findelkindern erklärt und wuchsen anonym auf. Sie konnten auch nicht mehr aufgetrieben werden, als ihr Vater sich darüber beklagte, dass er nie die selige Freude verspüren durfte, seine Kinder an sein weiches väterliches Herz zu drücken. Denn - so klagt Rousseau - niemand dürfe behaupten, Jean-Jacques Rousseau sei ein herzloser Mensch und »unnatürlicher Vater« gewesen. Schließlich krönt er seine Selbstbezichtigungen mit dem Gedanken, er wäre auch gern im Waisenhaus erzogen worden! Aber wer hätte dann Emile geschrieben? Von Rousseau haben wir gelernt, dass Kinder anders sind als Erwachsene. Vor Rousseau verstand man die Kindheit als einen Zustand menschlicher Unvollkommenheit. Rousseau behandelte die Kindheit dagegen als eine lange, wichtige Entwicklungsphase, die durch verschie dene Stadien allmählich zum Erwachsensein führt. Er zeigte, dass Kinder andere Bedürfnisse haben als Erwachsene, dass Kinder anders denken und wahrnehmen. Er zeigte, dass sie aus der Erfahrung lernen müssten und nicht nach irgendwelchen dogmatischen Regeln , die sie gar nicht verstehen könnten. Er sagte, - 390 -
dass man Kinder nicht etwas abverlangen dürfe, was sie in ihrem Alter noch gar nicht leisten könnten. Kinder sollten sich entfalten wie Pflanzen, die man erst mal groß und stark werden lässt und an denen man nicht sofort beginnt, herumzustutzen, um sie in eine bestimmte Form zu bringen. Rousseau nannte sein Modellkind, an dem er sein pädagogischen Konzept illustrierte, Emile. Rousseaus Pädagogik basierte auf seiner Grundannahme, dass der Mensch von Natur aus gut sei. Erst die Gesellschaft verderbe den Menschen. Im Kind sei die natürliche Perfektion noch in Reinkultur vorhanden. Emile sollte daher so erzogen werden, dass von der natürlichen Vollkommenheit des Kindes so viel wie möglich erhalten bleibt, während er für ein Leben in der Gesellschaft fit gemacht wird. Emile wird die ersten zwölf Jahre seines Lebens nur in der Gesellschaft eines Erziehers verbringen, fernab der Gesellschaft, auf dem Lande. Er wird nicht in ein Laufwägelchen gesteckt und lernt auch nicht am Gängelband laufen. Es schadet nichts, wenn Emile sich beim Hinfallen ein paar Beulen und blaue Flecke holt, denn so lernt er nur, wieder aufzustehen. Emile wird zunächst erst einmal im wahrsten Sinne des Wortes „laufen gelassene Seine Erziehung besteht im wesentlichen darin, dass der Erzieher sich mit einschneidenden Eingriffen in seine Entwicklung zurückhält. In der Folge missverstanden Pädagogen das Gebot naturgemäßer Behandlung von Kindern gelegentlich als Aufforderung, sie jeden Morgen unter eine kalte Dusche zu stellen. Der Säugling darf sich strecken und räkeln. Emile wird nicht wie ein Paket in Leinentuch geschnürt und an einen Nagel an die Wand gehängt, um dort für den halben Tag seinem Schicksal überlassen zu bleiben und blau anzulaufen - auf dem Lande taten Frauen das tatsächlich, um in Ruhe arbeiten zu können. Bis zum zwölften Lebensjahr lebt Emile nur in Gesellschaft seines Erziehers, der ihn lenkt, ohne dass Emile das bewusst wird. Der Erzieher bleibt immer Herr der Lage. Sein Zögling lernt in dieser Zeit noch nicht lesen und schreiben. Denn bevor sein Geist ausgebildet werden darf, sollen Emiles Körper gestärkt und seine Sinne geweckt sein. Emile lernt nicht aus Büchern, sondern by doing. Die einzige Lektüre, die Emile nach dem Lesenlernen erlaubt ist, ist Daniel Defoes Robinson Crusoe, - 391 -
denn hier bekommt der Zögling das Ideal des selbstgenügsamen Lebens mit der Natur vorgeführt. Rousseaus Vorschlag entbehrt nicht einer gewissen Ironie, denn der Roman ist nun wirklich das Paradebeispiel dafür, dass die bürgerliche Gesellschaft die Natur ausschlachtet, wo es nur geht, um am Ende den Sieg der Zivilisation zu vermelden. Wahrscheinlich hat Rousseau den Roman nicht verstanden. Zwischen zwölf und fünfzehn Jahren muss man Emile dann allmählich etwas für den Geist bieten. Aber er lernt nun nicht aus Büchern, sondern auf Wanderungen durchs Grüne. Er soll jetzt die Natur beobachten, sich selber Fragen stellen und sie sich selber beantworten: Er soll selbständig denken lernen. Erst danach, im Alter von fünfzehn Jahren kann man es wagen, Emile mit der Religion und Fragen der Moral vertraut zu machen. Schließlich bringt man Emile noch mit dem anderen Geschlecht zusammen und bereitet ihn auf das Eheleben vor. Man muss betonen, dass Kindererziehung bei Rousseau Jungenerziehung heißt. Frauenerziehung war für Rousseau insofern sinnlos, weil er meinte, dass Frauen zwar denken können, aber niemals komplexe Zusammenhänge begreifen würden: Frauen blieben ewige Kinder. Ihre Bestimmung ist die Ehe und Mutterschaft. Frauen sind im wesentlichen naiv, schwach und schamhaft, und in jedem Fall steht es ihnen nicht zu, ein selbständiges Leben zu führen. Sie dienen dem Mann zur Unterhaltung und sind von ihm abhängig. Man fragt sich, wie Rousseau auf diese Idee kommen konnte. Denn wäre da nicht einst in seiner Jugend die Mme. de Warens gewesen, hätte es vielleicht nie einen Philosophen Jean-Jacques Rousseau gegeben. Als der mittellose und etwas ungebildete Lehrling Rousseau, noch nicht ganz sechzehnjährig, seine Vaterstadt Genf verlässt, deren Umgebung durchstreift und bei Bauern das Essen zusammenbettelt, trifft er eines Tages auf seine Retterin: die mildtätige und etwas exzentrische Mme. de Warens. Rousseau berichtet, dass er später gern zu jener Stelle in Annecy zurückkehrte, wo er seine Wohltäterin das erste Mal erblickte, um sich auf das Straßenpflaster zu werfen und es mit Küssen zu bedecken. (Anlässlich des 200. Jahrestages der Begegnung zwischen Rousseau und Mme. de Warens ließ die Stadt die entsprechende Stelle auf dem Gehweg mit einem goldenen Gitter - 392 -
umzäunen - die Stadtväter waren offenbar von wahrem rousseauschem Geist beseelt.) Mme. de Warens verspricht Rousseau bei dieser denkwürdigen Begegnung ein Frühstück. Daraus wird dann etwas mehr. Die Madame ist 29 Jahre alt und von edlem Geblüt. Sie war vierzehnjährig verheiratet worden, hatte eine Strumpffabrik gegründet, Bankrott gemacht und ihren Mann verlassen - mitsamt dem Tafelsilber. Sie sorgt nun dafür, dass Rousseau Bücher in die Hand bekommt und eine anständige Bildung erhält: sie schickt ihn ins Priesterseminar. Rousseau nennt sie Mama - auch noch, als er längst ihr Geliebter geworden ist. Rousseau fordert uns auf, eine Person in erster Linie nach ihren „menschlichen“ und moralischen Qualitäten zu beurteilen. Aber man sollte sich hüten, das mit Rousseau zu tun. „Menschlich gesehen“ hat Rousseau nichts wirklich Erfreuliches zu bieten. So beschuldigte er unter anderem einmal eine Hausangestellte eines Diebstahls, den er selber begangen hatte. Später tat ihm das aber doch sehr leid, und er schrieb zum Ausgleich seine Bekenntnisse, eine Art exhibitionistische Selbstoffenbarung, in der immer die anderen schuld daran sind, dass es ihm nicht gelingt, „er selbst“ zu sein. Einmal ließ er einen Freund auf der Straße liegen, als der einen epileptischen Anfall erlitt. Im Alter von siebzehn Jahren hatte Rousseau die seltsame Angewohnheit jungen Frauen auf der Straße seinen nackten Hintern zu präsentieren. Als er dabei einmal ertappt wurde, sagte er zu seiner Entschuldigung, er sei ein Aristokrat in geheimer Mission und nicht ganz richtig im Kopf. Man ließ ihn laufen. Gegen Ende seines Lebens litt Rousseau unter Verfolgungswahn und verdächtigte den schottischen Philosophen David Hume, ein Attentat auf sein Leben geplant zu gaben. In einem hellen Moment fiel Rousseau dann ein, wie irrsinnig diese Idee war; er warf sich vor Hume auf den Boden, rief aus, es täte ihm leid, und fing sicherheitshalber an zu weinen, um wirklich aufrichtig zu wirken. Der distinguierte, kluge englische Philosoph wusste vor Entsetzen nicht, wo er hingucken sollte. Rousseau ist der Prophet der Sentimentalität. Er ist der Verkünder der schönen Natur und der großen Gefühle. Mit ihm beginnt eine Phase in der französischen und deutschen Kultur, in der man ins Grüne stürmt, in der Hoffnung, dort das Gute im Menschen zu finden. - 393 -
Man läuft hinaus in die Natur, ruft „oh wie schön“, und fühlt sich danach besser. Häufig muss man auch weinen. Kinder spielen eine wichtige Rolle in Rousseaus Philosophie, weil sie noch reine, unverdorbene Natur sind. Sie sind dem besten aller Menschen, dem ungezähmten Wilden, am nächsten. Mit der richtigen Erziehung lassen sich aus ihnen später moralisch wertvolle Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft machen. Wenn eine Bürgerinitiative heute in Neubaugebieten Abenteuerspielplätze anlegen lässt oder wenn jugendliche Straftäter nicht hinter Gittern landen, sondern auf dem Bauernhof, dann stammen die Ideen dazu aus dem Erbe Rousseaus.
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Charles Dickens Oliver Twist (1838) Dickens' Helden sind Kinder. Es sind kleine, hilflose, aber auch unerschütterliche und sehr herzbewegende Geschöpfe. Sie irren durch das große, feindliche London, werden von bösen Mächten verfolgt und bleiben auf eine faszinierende Art völlig immun gegenüber allen verderblichen Einflü ssen der Gesellschaft. Dickens' Kinder sind die Verkörperung des Guten. Sie verfugen über eine moralische Unantastbarkeit, die keine Erwachsenenfigur bei Dickens hat. Zwar gibt es auch kindliche Erwachsene - Männer mit kindischen Anwandlungen sind sogar eine regelrechte Spezialität von Dickens -, aber sie gehören zu seinem Sammelsurium von grotesken Figuren und Hanswursten. Sie sorgen für die unverwechselbare, ziemlich skurrile Komik seiner Romane. Die Kinder sind dagegen rührend. Sie sind engelhafte Wesen - so überirdisch wunderbar, dass einige von ihnen am Ende des Romans sterben müssen. Sie sind kleine Tugendapostel. Sie verlaufen sich im labyrinthischen Straßengewirr der riesigen Stadt, und kommen auf wundersame Weise doch nie vom rechten Weg ab. Sie sind Waisen, einsam und verla ssen, ohne Hoffnung, ohne Freunde, aber sie bemühen sich tapfer und unbeirrbar um ihren sozialen Aufstieg. Und jene, die nicht sterben, werden am Ende dafür belohnt: mit bürgerlichem Ansehen, mit einer Familie und mit Sicherheit. Über den Schicksalen der kindlichen Helden vereinte sich die ganze englische Nation: Männer und Frauen lasen Dickens, die Mittelschichten und Königin Viktoria. Sogar die Bewohner der Slums legten ihr Geld zusammen, um sich die Gebühr der Leihbibliothek leisten zu können. Dickens erzeugte ein beispielloses Gefühl des Mitleids mit den hilflosesten Wesen der Gesellschaft: Das gab den Armen das Gefühl, verstanden zu werden, und den mitleidigen Wohlhabenden das Gefühl, ein gutes Herz zu haben. Dickens wusste, was er tat, wenn er über die Einsamkeit und die Verzweiflung der Kinder schrieb. Er hatte selbst eine Zeitlang in einer - 395 -
Fabrik für Schuhwichse arbeiten müssen, als sein Vater für einigen Monate im Schuldgefängnis gela ndet war. Charles wurde aus der Schule genommen und musste sich als Hilfsarbeiter verdingen. Der Absturz aus der Respektabilität der Mittelklasse und die Erlebnisse in Warrens' Blacking Factory müssen für den Zwölfjährigen eine so grauenhafte Erfahrung gewesen sein, dass er für den Rest seines Lebens durch sie geprägt war. Dickens ließ sie wieder und wieder in seinem Werk auferstehen: ständig tauchen unglückliche, elternlose Kinder auf, die schutzlos einer brutalen Welt ausgesetzt sind. Dieses Verlorensein des Kindes in einer feindlichen Welt ist das zentrale Motiv in Oliver Twist. Oliver ist Waise. Er verbringt die ersten Jahre seines Lebens in der Obhut des Workhouse, des Armenhauses. Dort beschränkt sich die Fürsorge darauf, den Hungertod der Insassen durch die regelmäßige Verteilung von dünnem Haferschleim hinauszuzögern. Als Olivers hungrige Kameraden bereits den gegenseitigen Kannibalismus fürchten, beschließen sie, jemand solle bei der nächsten abendlichen Essensausgabe um eine zweite Portion bitten. (Das ist eine sarkastische Anspielung auf die Vision des Bevölkerungstheoretikers Thomas Malthus, die Armen -würden sich gegenseitig auffressen, wenn man ihnen erlaubte, sich ungehindert fortzupflanzen.) Die unangenehme Aufgabe, um mehr Essen zu bitten, fällt Oliver zu. Nachdem alle Kinder ihre Schüsseln wie üblich bis auf den letzten Rest leergekratzt haben, steht Oliver auf, stellt sich vor den Vorsteher des Armenhauses und sagt: »Bitte, Sir, ich möchte etwas mehr.« Und der traut seinen Ohren nicht und ruft fassungslos nach dem Gemeindediener Mr. Bumble. Mr. Bumble wiederum trägt die Unerhörtheit erschüttert der Kommission für Armenfürsorge vor. Die Kommission für Armenfürsorge ihrerseits erstarrt zunächst in Entsetzen, bis schließlich ihr Vorsitzender als erster die Sprache wiedergewinnt und Oliver eine düstere Zukunft voraussagt: Aus dem Knaben wird nichts werden, den Jungen wird man bald am Galgen baumeln sehen. Natürlich passiert nichts dergleichen. Allerdings gerät Oliver in London in die Hände einer Diebesbande, deren Anführer der teuflische Jude Fagin ist. Zusammen mit Olivers Altersgenossen, dem „Artful Dodger“, einem begnadeten Taschendieb, soll Oliver in die - 396 -
Kunst des Stehlens eingewiesen werden. Doch die Versuche, Oliver moralisch zu korrumpieren, erweisen sich als fruchtlos. Oliver wird kein Komplize seiner kriminellen Begleiter. Im Grunde durchschaut er sogar nie so ganz ihre finsteren Absichten. Mit schlafwandlerischer Sicherheit bewegt sich Oliver durch Londons Unterwelt und bleibt völlig unschuldig. Olivers Rettung erscheint schließlich in Gestalt des gütigen und wohlhabenden Mr. Brownlow, der ihn bei sich aufnimmt. Mr. Brownlows wohltätiges Handeln gegenüber dem zerlumpten, aber anständigen Straßenjungen Oliver führte dem viktorianischen Lesepublikum vor Augen, dass Armut nicht das gleiche wie Kriminalität war. Das war nicht selbstverständlich. Die meisten von Dickens' Zeitgenossen sahen Armut als kriminellen Tatbestand an. Armenhäuser waren daher wie Strafgefangenenlager organisiert. Oliver Twist ist eine Parabel über die moralische Verantwortung der Mittelschicht für die Armen, und damit letztlich für das Wohl der Allgemeinheit. Wenn im 2I.Jahrhundert Stadtgebiete mit öffentlichen Geldern saniert werden, um die Verslumung zu verhindern, oder wenn Programme gegen die Beschaffungskriminalität von Drogenabhängigen entworfen werden, dann war Dickens der erste, der weiten Kreisen der Bevölkerung gezeigt hat, dass das gut ist. Nach weiteren Irrwegen durch die Londoner Unterwelt landet Oliver schließlich auf dem sicheren Terrain der Respektabilität: Er entdeckt seine bürgerliche Familienabstammung, wird von Mr. Brownlow adoptiert, erhält eine anständige Erziehung und genießt die fürsorgliche Liebe seiner auf wundersame Weise wiederentdeckten Tante. Die meisten von uns kennen Oliver Twist als Kinderbuch. Im 19. Jahrhundert war es ein sozialkritisches Buch. Dickens' Themen waren soziale Mißstände und die menschenverachtende Übermacht staatlicher Institutionen. In diesem Zusammenhang wirkten die Kinder noch unschuldiger und die Bürokratie noch unmenschlicher. Die Haferschleim-Episode aus Oliver Twist ist eine der berühmtesten Szenen aus Dickens' Romanen, weil sie diese Konstellation von Opfer und mächtigem Apparat besonders anschaulich macht: Hier steht der kleine, verwaiste Oliver, einsam, hilflos, unschuldig, hungrig; ihm gegenüber steht riesenhaft ein Repräsentant der staatlichen Bürokratie, - 397 -
satt, unnachgiebig, monströs in seiner Gefühllosigkeit und mit der Autorität des staatlichen Verwaltungswesens. Hier steht die reine Unschuld des Kindes, dort die verlogene Moral der Armenfürsorge. Hier der schlichte Wunsch Olivers nach der Erfüllung der Grundbedürfnisse des Lebens, dort das undurchdringliche Dickicht absurder, menschenverachtender Bestimmungen. Hier steht das ohnmächtige Opfer, ohne einen ein zigen Verbündeten in der Gesellschaft, dort die gigantische Maschinerie staatlicher Macht. Im 19. Jahrhundert veränderte sich die Alltagswelt in europäischen Großstädten auf eine für uns unvorstellbare Weise. London explodierte förmlich und wurde zu einer gigantischen Metropole. Die Einwohnerzahl wuchs von unter 900.000 um 1800 auf fünf Millionen um 1900. Die allgemeinen Veränderungen, die das mit sich brachte, waren für alle, die sie erlebten, überwältigend und beunruhigend. Dickens fand dafür ein Bild, das jeder verstehen und insgeheim nachvollziehen konnte: das des verwaisten Kindes in der riesigen, labyrinthischen Großstadt London. Oliver irrt durch London - und weiß nie, wo er sich gerade befindet. Das entsprach der Heimat- und Orientierungslosigkeit all jener, die nach London gekommen waren und dort nun ohne familiäre Bindungen lebten. Zwischen all den ihnen offenstehenden Möglic hkeiten des sozialen Aufstiegs (oder Abstiegs) wussten sie genauso wenig, wo in der Gesellschaft sie sich eigentlich befanden, wie Oliver, der nicht weiß, woher er stammt und wohin er gehört. Aus der Sicht des Kindes wuchs die Umwelt ins Gigantische und wurde bedrohlich. Das verstand jeder, den die überwältigenden Veränderungen in der Großstadt des 19. Jahrhunderts verunsicherten. Aber Dickens' unbeirrbare Kinderhelden verkündeten eine Hoffnung: die Aussicht auf schier unbegrenzte, märchenhafte Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs - wenn man nur, genau wie die Kinderhe lden, vor keiner Härte des Schicksals schlappmachte.
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Lewis Carroll Alice im Wunderland (1865) Stellen wir uns vor: Ein Spiel mit zwei (oder beliebig mehr) Mitspielern. Mindestens einer der Mitspieler muss ein Erwachsener sein, und mindestens ein anderer Mitspieler ein Kind. Das Spiel besteht daraus, dass der Erwachsene die Regeln vorgibt, nach denen gespielt wird, und dass das Kind sie stets befolgen muss. Das gilt auch, wenn die Regeln sehr streng sind, und besonders dann, wenn dem Kind der Sinn der Regeln völlig unklar bleibt. Der Erwachsene hat gewonnen, wenn das Kind gehorcht. Das Kind kann nicht gewinnen. Das Spiel ist zu Ende, wenn das Kind erwachsen ist. Das Spiel heißt: Die viktorianische Erziehung. In Wirklichkeit war die viktorianische Erziehung alles andere als ein Spiel. Sie war streng, völlig verklemmt und häufig brutal. Liest man die Schilderungen englischer Kindheiten des 19. Jahrhunderts, laufen einem Schauer den Rücken hinunter. Manchmal ähnelten die Kinderzimmer eher Zuchthäusern. Der Autor des Dschungelbuches, Rudyard Kipling, berichtet stellvertretend für viele Zeitgenossen, die Behandlung bei seinen Pflegeeltern sei »kalkulierte Folter« gewesen. Doch wenn man so tun würde, als wäre alles nur ein Spiel, würde die schreckliche Welt, in der Dinge von einem verlangt werden, die man nicht verstand, in der man angebrüllt wurde, ohne recht zu wissen warum, plötzlich erträglich. Das hatte Lewis Carroll (mit richtigem Namen: Charles Lutwidge Dodgson) begriffen. (Der italienische Regisseur Roberto Benigni hat in seinem Film Das Leben ist schön [1997] etwas ähnliches gemacht. Dort erklärt der Held Guido, der mit seinem Sohn ins Konzentrationslager deportiert worden ist, dem Kind, dass es sich bei all dem Horror nur um ein Spiel handelt, an dessen Ende es einen Panzer zu gewinnen gibt.) Lewis Carrolls Alice im Wunderland ist einer der größten Klassiker der Kinderliteratur. Zusammen mit Alice hinter den Spiegeln ist es der am zweithäufigsten zitierte Text der englischen Literatur - nach Shakespeares Stücken. Das Buch entstand während einer - 399 -
hochsommerlichen Bootsfahrt, zu der Dodgson drei kleine Mädchen, unter ihnen auch die siebenjährige Alice Liddell, eingeladen hatte. Um die Kinder zu unterhalten, begann Dodgson aus dem Stegreif eine Geschichte zu erfinden. Am selben Abend blieb er die ganze Nacht auf, um zu Papier zu bringen, was er sich ausgedacht hatte. Carroll beschrieb die Welt der Erwachsenen aus der Sicht eines Kindes. Diese Welt ist äußerst bizarr, mit seltsamen Wesen bevölkert, völlig rätselhaft und unbegreiflich. Wunderland ähnelt der rauhen Realität der Kinderzimmer des 19. Jahrhunderts. Alice landet im Wunderland, als sie unvorsichtigerweise in einen Kaninchenbau hinabklettert. Dort gibt es einen wundervollen Garten, aber auch ein Tal der Tränen, die Alice selber geweint hat und in denen sie fast ertrinkt, weil sie plötzlich geschrumpft ist. Alice begegnet einer Reihe seltsamer Figuren und vielen seltsamen Tieren, darunter einem weißen Kaninchen, einem als Briefbote verkleideten Fisch, der grinsenden Cheshire Cat, dem Mock Turtle und dem völlig irren Mad Hatter. All dies sind unzurechnungsfähige Geschöpfe, die ständig etwas an Alice zu nörgeln haben. »Ich bin wirklich noch nie in meinem Leben so herumkommandiert worden«, empört sich Alice, als ihr schließlich der Kragen platzt. Eine furchterregende Figur ist die Königin der Herzen, die zu einem Krocket-Spiel eingeladen hat. Mit schriller Stimme befiehlt sie unentwegt, irgendwelchen unschuldigen Gestalten den Kopf abzuschlagen. Später klärt ein Fabelwesen Alice darüber auf, dass die Königin niemals jemanden exekutiert, sie bildet sich nur ein, das zu tun. Angeblich hatte Dodgson die Mutter von Alice Liddell im Sinn, als er sich die Königin der Herzen ausdachte, denn Mrs. Liddell muss die Angewohnheit gehabt haben, den gesamten Haushalt zu terrorisieren, wenn ein Krocket-Spiel nicht richtig aufgebaut war. Wunderland wird von diktatorischen Herrschern regiert, deren Logik man nicht versteht und deren Handeln man nie voraussagen kann. Auf der anderen Seite geben sie völlig einleuchtende Dinge von sich, als handle es sich um tiefe Weisheiten: »Beginn am Anfang, und fahre fort, bis du ans Ende gekommen bist, dann höre auf«, sagt der König gewichtig, als das weiße Kaninchen Verse vorlesen soll. In Alice wird die für Kinder unverständliche, irrationale und unlogische Welt der Erwachsenen zur Phantasie und zum Spiel. - 400 -
Viktorianische Kinder konnten die meiste Zeit nicht verstehen, was von ihnen erwartet wurde. Das lag daran, dass sie zwei sich widersprechenden Erfahrungen ausgesetzt waren. Es gab zwei Seiten, die scheinbar überhaupt nicht zusammenpaßten: Man vergötterte Kinder wie himmlische Wesen, aber man züchtigte sie mit unerbittlicher Strenge. Bei genauem Hinsehen bedingte jedoch die eine Position die andere: Je mehr man das Kind anhimmelte, desto übler musste es auffallen, wenn es sich schlecht benahm. Die Empörung über kindliches Fehlverhalten verstärkte sich noch durch die Alltagsreligion der Viktorianer. Durch das 19. Jahrhundert wehte der Geist des Evangelikanismus. Er sorgte für den eisigen Wind der Zeit: die sprichwörtliche Sittenstrenge und die verklemmte Sexualität der Untertanen der englischen Königin Viktoria. Der Junggeselle Dodgson, der als Mathematik-Dozent in Oxford lebte, war selbst jemand, den Sexualität offenbar äußerst verschreckte. Er scheint außer Küssen nie einen anderen Sexualkontakt zu Frauen gehabt zu haben. Und die „Frauen“, die Dodgson küßte, waren meistens zwölf Jahre alt oder jünger. Dodgson hatte eine Obsession für kleine Mädchen im vorpubertären Alter. Er fotografierte in seiner Freizeit Dutzende junger Mädchen, häufig in melodramatischen Lumpen, manchmal auch nackt. Jungen konnte Dodgson nicht ausstehen. Die erste und größte Liebe seines Lebens war die Tochter eines Vorgesetzten, Alice Liddell. Zwischen ihrem fünften und elften Lebensjahr hatte Dodgson ständig Kontakt zu Alice, die mit ihrer Familie im Nachbarhaus wohnte. Doch eines Tages wurde Dodgson untersagt, das Mädchen weiter zu sehen. Alice' Mutter verbrannte alle Briefe, die sie von Dodgson erhalten hatte, und dessen Neffe vernichtete alle Passagen aus Dodgsons Tagebüchern, die Alice betrafen. Man munkelte, er habe um die Hand der knapp Zwölfjährigen angehalten. Am Ende des Fortsetzungsbandes Alice hinter den Spiegeln, den Dodgson schrieb, als er schon lange keinen Kontakt mehr zu Alic e hatte, befindet sich ein Gedicht mit 21 Zeilen, deren Anfangsbuchstaben von oben nach unten gelesen den Namen Alice Pleasance Liddell ergeben. Vladimir Nabokov, der Alice im Wunderland Anfang der zwanziger Jahre ins Russische übersetzt hatte, wurde durch Dodgsons Verhältnis zu Alice zu seinem Roman - 401 -
Lolita inspiriert. Heute erweist es sich als großer Flop, wenn man einem Kind Alice im Wunderland schenkt. Kinder des 2I. Jahrhunderts können mit dem Buch nichts anfangen. Dagegen ist Dodgsons brillantes Werk inzwischen zur gern gelesenen Lektüre von Theoretikern aller Wissenschaftszweige geworden. Die Paradoxien und Sprachspiele der Nonsens-Reime in Alice haben die beiden Bücher zu einer Goldmine für Logiker und Linguisten gemacht; die ständige Verwandlungen der Heldin eignen sich für Philosophen, um das Problem der Identität an ihnen zu untersuchen. Alke ist auch als Vorwegnahme von -» Kafka gesehen worden, weil es zeigt, wie sinnlos es in einer Welt des kalkulierten Wahnsinns ist, Sinn zu suchen; Alice gilt als Vorläufer der experimentellen Prosa der Moderne von James Joyce oder Virginia Woolf, und die französischen Surrealisten haben darin ein Traumbuch gesehen.
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Mark Twain Huckleberry Finn (1884) Huckleberry Finn kennt man in Deutschland als JugendbuchKlassiker. Das ist in den USA etwas anders. Dort galt der Roman lange nicht nur als Lausbubengeschichte für kleine Jungen, sondern war Teil der literarischen Grundausstattung eines Amerikaners. Huckleberry Finn gehörte jahrzehntelang traditionell zum Lektüreplan der High Schools. Das wurde in der Debatte über die „political correctness“ zum Problem. Denn der Klassiker des amerikanischen Schulkanons war ein Roman, in dem Afro-Amerikaner mit dem verächtlichen Wort „Nigger“ bezeichnet werden. Eltern und Schüler erklärten, das sei entwürdigend, riefen zum Boykott des Buches auf, und Huckleberry Finn landete unter Verschluß in den „Gift-Schränken der College-Bibliotheken. Zur Versachlichung der Debatte trug nicht gerade bei, dass ein gewisser John H.Wallace 1983 eine „gereinigte“ Version anfertigte. Darin war nun das Wort „nigger“ gelöscht und merkwürdigerweise - vielleicht weil er schon mal gerade dabei war, Anstößiges zu eliminieren - auch das Wort „hell“ („Hölle“). So verständlich die Empörung der betroffenen Schüler und Lehrer natürlich ist, so bizarr mutet die Kampagne gleic hzeitig an, in der vollkommen aus dem Blick geraten war, dass Huckleberry Finn eines bestimmt nicht ist: ein rassistisches Buch. Wenn das Wort „Nigger“ darin verwendet wird, geschieht dies entweder ironisch oder aus der Perspektive einer Figur, die eben dadurch gekennzeichnet werden soll, dass sie solche Ausdrücke benutzt. Huckleberry Finn ist einer der großen Klassiker der amerikanischen Literatur. Ernest Hemingway erklärte in einem oft zitierten Satz, die amerikanische Literatur beginne mit Huckleberry Finn, und er fugte hinzu: seitdem habe nie wieder jemand ein anständiges Buch geschrieben - außer ihm selbst - selbstverständlich. Huck, der Sohn eines Säufers und Landstreichers, lebt unter der Obhut der moralisch unanfechtbaren Miss Watson, die sich vorgenommen hat, aus ihrem Schützling einen respektablen Menschen - 403 -
zu machen. Eines Tages taucht Hucks gewalttätiger Vater auf, entfuhrt Huck und sperrt ihn in eine entlegene Hütte im Wald. Huck kann sich befreien und inszeniert seine Ermordung, damit weder sein Vater noch die wohlmeinende Miss Watson auf die Idee kommen, ihn aufspüren zu wollen. Huck flüchtet auf eine Insel im Mississippi, Jackson Island, wo er auf den entlaufenen Sklaven Jim trifft. Um Jims Verfolgern zu entkommen, beginnen die beiden eine Floßfahrt den Mississippi hinunter. Es ist eigentlich erstaunlich, dass Twains Roman zum Jugendbuch geworden ist, denn die Welt, die Huck auf seiner Floßfahrt nun erlebt, ist so brutal, dass man sie nicht mit pädagogisch wertvoller Lektüre assoziiert. In Hucks Realität gehört der gewaltsame Tod zum Alltag. Eine Wasserleiche schwimmt den Mississippi hinunter, Huck findet einen unbekleideten Mann, der von hinten erschossen wurde, eine Mörderbande lyncht eines ihrer Mitglieder auf dem sinkenden Dampfschiff Walter Scott - schließlich ertrinken die Täter zusammen mit ihrem Opfer -, Huck sieht mit an, wie sein Kumpel Buck in einem Massaker niedergeschossen wird, Huck wird Zeuge, wie der harmlose Säufer Boogs am hellic hten Tage auf offener Straße kaltblütig erschossen wird, und bevor Huck die beiden Schurken, den „King“ und den „Duke“, vor dem Mob warnen kann, werden die beiden dem grauenvollen Ritual des Teerens und Federns unterzogen. Alles in allem werden in Huckleberry Finn zwanzig Morde erwähnt. Huck ist ein Außenseiter der Gesellschaft. Er gehört nicht dazu, weil die entscheidenden Kriterien der westlichen Zivilisation auf ihn nicht zutreffen: Er hat keine Familie, er geht nicht zur Schule bzw. zur Arbeit und er ist nicht seßhaft. Von seinem Floß aus beobachtet der Außenseiter Huck die Gesellschaft an den Ufern des Mississippi mit Distanz. In einer Episode zeigt Huck, wie verlogen die Wohlanständigkeit der respektablen Mittelklasse im Grunde ist: Am Sonntag treffen sich zwei miteinander verfeindete Familien in der Kirche und lauschen ergriffen einer Predigt über brüderliche Liebe aber währenddessen halten sie die ganze Zeit ihre Waffen schußbereit. Am Ende des Buches kehrt Huck der Zivilisation den Rücken und geht in den noch unerschlossenen Wilden Westen. Seine Reise den Mississippi hinunter nimmt die zivilisationskritischen Kultromane aus den fünfziger und sechziger Jahren vorweg, die auf der Landstraße - 404 -
spielen - wie beispielsweise Jack Kerouacs „Unterwegs.“ Die Gattung hat im Kino überlebt: als Road-Movie. Huckleberry Finn gilt als der erste wirklich amerikanische Roman, weil er in einer Welt spielt, die nichts mehr mit der Kultur Europas zu tun hat: Er beschreibt das Leben auf dem Mississippi und an seinen Ufern in den Staaten Missouri, Arkansas und Louisiana. „Amerikanisch“ an dem Roman war auch seine Sprache: Huck, der von seiner Floßfahrt auf dem Mississippi in der Ich-Form erzählt, verwendet dabei eine Ausdrucksweise, die nicht mehr viel mit dem Englischen zu tun hatte, das man in Europa sprach. Der englische Dichter T. S. Eliot hat Huckleberry Finn neben die großen literarischen Figuren wie Odysseus, Faust, Don Quixote, Don Juan und Hamlet plaziert. Huck ist eine faszinierende Figur, weil sie zwei Dinge miteinander kombiniert, die eigentlich nicht zusammenpassen können: Er steht für die totale Unabhängigkeit von allen Normen der Gesellschaft und verkörpert zugleich ihr höchstes Gut: ihre Moral. Der vagabundierende Außenseiter Huck steht außerhalb der Gesellschaft und ist zugleich ihre gute Seele. Huck ist die große amerikanische Vision vom Individuum, in dem sich der Mythos von innerer Freiheit und von moralischer Integrität vereint haben.
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Astrid Lindgren Pippi Langstrumpf (1945) Pippi lebt allein in der Villa Kunterbunt, nur mit ihrem Pferd und dem Affen Herrn Nilsson. Ihre Haare sind karottenrot und stehen in zwei drahtigen Würsten rechts und links vom Kopf ab. Sie hat zwei Freunde, Annika und Thomas, die gegenüber Pippi erschreckend harmlos wirken und denen sie in allen entscheidenden Punkten haushoch überlegen ist, außer in gutem Benehmen - aber das ist etwas, worauf Pippi verzichten kann. Das Wundersamste an Pippi sind ihre übermenschlichen Kräfte, die sie dazu befähigen, ein Pferd in die Luft zu heben, freche Jungs auf Bäume zu schmeißen oder einfältige Polizisten zum Narren zu halten. Außerdem hat Pippi Unmengen von Geld, lebt allein, muss auf niemanden Rücksicht nehmen und ist deshalb sozial völlig ungebunden. Das scheint Pippi großen Spaß zu machen, aber man denkt mit Grauen daran, was aus Pippi wird, wenn sie erst einmal groß ist. Wer will dann noch etwas mit ihr zu tun haben? Mit einer Frau, die so stark ist, dass sie Pferde in die Luft heben kann? Pippi wurde erwachsen. Sie gründete eine Firma für schwedische Gartenmöbel und wurde Chefin eines Weltkonzerns. Das war Mitte der siebziger Jahre etwas ganz Unerhörtes, und Pippi wirkte auf ihre Umwelt ziemlich abschreckend. Pippi hatte keine Freunde. Die einzigen Kontakte, die sie hatte, waren die Verhandlungsgespräche mit den Bossen sibirischer Holzmühlen und den Einkäufern einer italienischen Bettenhauskette. Ihre Freunde aus Kindertagen lebten in anderen Welten. Annika hatte ein bisschen Kunstgeschichte studiert und dann den Chef des Universitätskrankenhauses geheiratet. Thomas war nach Indien gegangen, drogensüchtig geworden und hatte es dann doch nach Jahren geschafft, eine Bäckerei für Knäckebrot in Kalkutta zu eröffnen. Natürlic h hatte Pippi gar keine Zeit, eine Familie zu gründen, aber man muss leider auch sagen, dass sie dazu überhaupt wenig Gelegenheit hatte, weil es keinen Mann gab, der sich an sie herangewagt hätte. Dabei war Pippi eigentlich ganz nett. Dann bekam Pippi doch noch eine Tochter - mit einem der - 406 -
italienischen Bettenhaus-Vertreter, der aber nie erfuhr, dass er der Vater war. Sally, so hieß die Tochter, sollte das schwedische Gartenmöbel-Imperium übernehmen und wurde deshalb schon mal mit siebzehn nach Amerika geschickt, um dort Englisch zu lernen. Sally lernte erst mal kein Englisch, sondern verliebte sich in Greg. Greg boxte, und deshalb fing Sally auch an zu boxen. Klar, dass sie in Windeseile die beste Boxerin in ihrer Gewichtsklasse war. Sie kassierte jeden Sie g. Irgendwann einmal ging bei der Organisation eines Kampfes etwas vollkommen schief, und plötzlich mussten Sally und Greg gegeneinander antreten. Sally gewann den Kampf, und die halbe Stadt sah zu, wie Greg k.o. ging. Für Greg war die Schmach überwältigend, und nicht, weil er ein ausgemachter Chauvinist war, sondern weil es in der westlichen Kultur einfach nicht gut aussah, wenn eine Frau einen Mann besiegt. Deshalb konnte man es Greg auch nicht besonders übelnehmen, dass er Sally nun erst mal nicht begegnen wollte und die Beziehung beendete. - Inzwischen befinden wird uns in der Geschichte am Beginn des 21. Jahrhunderts. Außerdem haben wir inzwischen das Medium gewechselt, denn die Inspiration zum Verlauf der Handlung stammt aus dem amerikanischen Kinofilm Girl Fight (2000). Nach einer Weile wurde Greg jedoch klar, dass er Sally liebte, auch wenn sie besser boxen konnte als er. Also kamen die beiden wieder zusammen und fingen an, gemeinsam Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Greg gründete eine erfolgreiche Softwarefirma und Sally baute einen Ableger des schwedische Gartenmöbelimperiums an der amerikanischen Ostküste aus. Sie heirateten, bekamen drei Kinder, und zu Weihnachten kam die alte, einsame Pippi zu Besuch und brachte Lachs mit.
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Joanne K. Rowling Harry Potter (1997 ff.) Der englische Dichter W H. Auden sagte, es gebe eine Menge guter Bücher, die nur Erwachsene lesen - aber es gebe keine guten Bücher, die nur Kinder läsen. W H. Auden starb 1973, er hatte also keine Ahnung, wie recht er behalten sollte. Harry Potter ist ein Phänomen: Der erfolgreichste Bestseller aller Zeiten sorgte für anfallartiges Lesen bei Kindern, für die das Buch nur eine Möglichkeit unter vielen ist. Die Konkurrenz heißt TV, Kino, PC, Videospiel und Internet. Aber nun hat eine ganze Generation die elektronischen Medien für eine Weile vom Strom genommen und sich selbst elektrisiert, als sie die aufregende Erfahrung machte, wie beim Lesen der Funke überspringt. Sie haben lesen gelernt. Die Magie, die von den Harry-Potter-Büchern ausgeht, basiert auf einem Zaubertrank, der zwei Dinge miteinander verbindet, die sich in der Welt der in Zauberei unkundigen Muggles gegenseitig abstoßen. Joanne K. Rowling hat eine magischen Formel gefunden, die beides miteinander verbindet: Wirklichkeit und Eskapismus. Bei den Zauberern ist alles wie überall sonst auch, nur etwas anders eben. In der Welt der Zauberer geht es eigentlich ganz normal zu. Wenn die Kinder am Wochenende ins Dorf dürfen, um einzukaufen, kaufen sie - wie alle Internatskinder, die am Wochenende ins Dorf dürfen Süßigkeiten. Nur dass es eben magische Süßigkeiten sind und das Brausepulver im Magen schwebt. Und dann gibt es auch die unschlagbaren „Bertie -Botts-Bohnen aller Geschmacksrichtungen“ Was ist normaler, als dass in einer Tüte, auf der „alle Geschmacksrichtungen drauf steht, auch alle Geschmacksrichtungen drin sind? Der Schulleiter des Internats, Albus Dumledore - ein distinguierter Gentleman mit Vorliebe für Kammermusik -, hat das Problem, immer die Bohne mit dem widerlichsten Geschmack auszusuchen. Als Jugendlicher hatte er einmal eine Bertie -BottsBohne probiert und ziemliches Pech damit gehabt. Sie schmeckte nach Erbrochenem! Als er es nach Jahrzehnten mal wieder versucht, ist es - 408 -
Ohrenschmalz! Rowlings' vor Ideen nur so strotzende Hany-Potter-Welt lässt die Muggles (die Nicht-Magier) ziemlich blaß aussehen, weil sie weder Humor noch Phantasie haben. Das zaubernde Naturtalent Harry zeigt dagegen, dass Menschen, die wissen, was Phantasie bedeutet, den Sinn für das Wunderbare nicht verlieren. Zum Beispiel für das Wunderbare des Lesens. Die Muggles haben zwar keine Ahnung, was Magie ist, aber nachdem weltweit 66 Millionen Harry-Potter-Bücher verkauft worden waren, beschlossen sie, es müsse etwas geschehen. Man müsse der Magie etwas entgegenhalten. Die Muggles begannen auf eine eigene Idee zu sinnen, was natürlich ein vollkommen hoffnungsloses Unterfangen war, weil noch nie einem Muggle eine Idee gekommen ist. Man verabredete sich trotzdem an großen Tischen, konsumierte Unmengen von Kaffee aus Thermoskannen und trank Mineralwasser. Sonst passierte nichts. Plötzlich rief der geistloseste Muggle: »Kommerz!« Die Muggles fanden, das sei eine großartige Idee. Sie wurden kreativ, auf ihre Weise. Sie entwarfen emsig Harry-Potter-Bleistifte, Radiergummis, -Federtaschen, -T-Shirts, -Baseballkappen, Rucksäcke, -Unterhosen, sprechende Besen, Sammelhefte und viele andere phantastische Dinge zur Verschönerung des Alltags. Den jungen Harry-Potter-Lesern, die einmal der Magie des Lesens verfallen sind, sei gegönnt, dass sie sich durch all den JahrmarktHokuspokus nicht allzu sehr beeindrucken lassen und einfach weiter lesen - ob mit oder ohne Harry-Potter-Baseballkappe auf dem Kopf.
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DANK Wenn man ein ganzes Jahr lang in einer Wohnung über den Dächern der Stadt verschwindet, um ein Buch über Bücher zu schreiben, beschränkt sich der Horizont - trotz abwechslungsreicher Wolkenformationen - auf eines - nämlich auf Bücher. Am Ende hat man gar den Eindruck, es gebe gar nichts anderes mehr. Aber das ist glücklicherweise eine Sinnestäuschung, denn selbst Autorinnen bleiben soziale Wesen: Allen, die mir bei der Arbeit an diesem Buch geholfen haben, möchte ich dafür danken. Mein besonderer Dank gilt Dietrich Schwanitz. In seinen Seminaren und in vielen Gesprächen habe ich erfahren, was sich in Literatur entdecken lässt, wenn man Gesellschaft beobachtet. Elisabeth Bronfen danke ich für ihre großzügige Ermunterung zu einem Buch, das mit dem Thema meiner Dissertation nur sehr entfernte Verwandtschaft hat. Martina Hütter möchte ich dafür danken, dass sie das ganze Manuskript gelesen und unermüdlich Anregungen beigesteuert hat. Für ihre Expertisen, ihren Rat, ihre Kritik und ihre Bereitschaft, mich an ihren Erlebnissen mit Büchern teilnehmen zu lassen, danke ich: Susanne Doren, Johanne Förster, Werner Grave, Alexander Häusser, Nana Plesch, Kathrin Sasse, Hilmar Schulz, Helga Schwalm, Stephan Loutas, Eva Wicklein und vor allem Ulf Reichardt.
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