Susanne Konrad
Camilles Schatten Roman
Brandes & Apsel
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1. Auflage 2005 © Brandes & Apsel Verlag GmbH, Frankfurt am Main Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Volkhard Brandes, Frankfurt am Main DTP: Wolfgang Gröne, Antje Tauchmann Umschlag: MDDigitale Produktion, Petra Sartowski, Maintal Druck und Verarbeitung: Tiskarna Ljubljana d. d. Printed in Slovenia Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar ISBN 3-86099-513-8
Die erfolgreiche Klinikärztin Birgit Schindler beendet eine Affäre mit einem verheirateten Mann. Doch die angespannte emotionale Situation und ihr anstrengender Arbeitsalltag überfordern sie. Das Leben Camille Claudels zwischen der Liebe zur Arbeit und zu Auguste Rodin drängt sich in ihre Vorstellungswelt. Wie kam es zu Camilles psychischer Entgleisung? Weshalb fand sie keinen Weg aus ihrer Krise? Für Birgit verschwimmen die Grenzen zwischen Reflexion und Wahn. Die Diagnose »Sie haben eine Psychose« wirkt wie ein Schock. Ihr Selbstbewusstsein droht zu zerbrechen. Eindringlich und einfühlend zugleich wird in Camilles Schatten das Bild einer Frau gezeichnet, die gewohnt ist, selbst Diagnosen zu stellen, sich nun aber auf der Seite der Patienten wiederfindet. Erzählt wird von ihren Versuchen, in ihre Arbeit zurückzukehren, aber auch von neuen Bindungen und der Bereitschaft, mit einer veränderten Lebenssituation umzugehen. Susanne Konrad, geboren 1965 in Bonn. Deutsch- und Geschichtsstudium für das Lehramt an Gymnasien in Konstanz und Frankfurt am Main. Promotion über Goethes Die Wahlverwandtschaften. Studienreferendariat. 1998/99 kulturelle Projektarbeit für SOS Rassismus-Zivilcourage e. V. Seit 1990 Tätigkeiten in der Erwachsenenbildung, seit 2001 im Öffentlichen Dienst. 1999-2002 Hochschullehraufträge zur Literatur der Migration. Leitung von Workshops zum Kreativen Schreiben. Sachbuchveröffentlichungen, literarische Beiträge in Anthologien und Zeitschriften, Vorträge und Lesungen, Organisation von Literaturveranstaltungen.
I
Olaf und ich flanierten durch Paris. Die nächtlichen Straßen bildeten ein flimmerndes Netzwerk. Dünn fielen die blonden Haare in Olafs Stirn, und die Regentropfen perlten auf seine Brillengläser. Er hatte mich bei der Hand genommen und bis zum Moulin Rouge geführt, und ich blickte auf das rote Flackern der Mühlenflügel aus Neonlicht. Wir gingen nicht hinein. Statt dessen legte er den Arm um mich und zog mich enger an seinen tropfenden Mantel, unter dem sein Herzschlag zu spüren war. Er führte mich weiter zwischen Sexshops und Nachtlokalen, einer für uns beide ungewohnten Welt. Wir wechselten Blicke: Der Reiz des Fremden und die moralische Abwehrhaltung gegenüber käuflicher Liebe bildeten in uns ein seltsames Gefühlsgemisch. Zuletzt siegte die Lust auf das Unbekannte, und wir stiegen die Stufen zu einem dieser Etablissements hinunter; in einem Kellergewölbe fanden wir einen mit roten Plüschmöbeln überschwänglich ausgestatteten Raum. Vorn auf der Bühne sah ich den ersten Erotiktanz meines Lebens. Eine Blondine spielte auf einer Violine. Mit dem Geigenbogen strich sie sich über die nackten Brustwarzen und zwischen die Beine. Sie reichte ihn einem Mann, der in der vordersten Reihe saß und ihr damit die Taille entlang fuhr. Olaf hatte sich mit mir an ein Tischchen in einer weit entfernten Ecke zurückgezogen, niemand belästigte uns. Vor Plüschrückenlehnen im Hintergrund sah ich seine fröhliche, etwas spitze Nase im Profil, das helle kurze Haar an seinem Hinterkopf und seinen schmalen Hals. So jung wirkte er, trotz seiner 54 Jahre; ein heiterer Charme erfüllte sein Wesen. Da
spannte er seine schmalen Schultern an und flüsterte mir zu: »Lass uns gehen. Es ist mir zuwider.« Ich hatte an meinem Cocktail gerade erst genippt. Wir verließen das Lokal und kehrten in den Regen zurück. Unter einem Balkon, über dessen Geländer eine Leuchtreklame zuckte, strich Olaf mir zärtlich die Haare aus dem Gesicht und betrachtete mich mit dem weichen, verletzlichen Blick, der durch seinen Berufsalltag so oft unterdrückt wurde. »Komm«, sagte er. »Lass uns zurück aufs Zimmer gehen.« Das Hotel, in dem wir wohnten, war einer jener typischen Pariser Altbauten, die lückenlos und machtvoll die Straßen säumten und zwar Enge vermuten ließen, aber von den oberen Stockwerken aus einen überraschend großzügigen Blick auf die Innenstadt boten. Olaf half mir aus dem Mantel und führte mich zum Bett. Als ich saß, zog er mir vorsichtig die durchweichten Schuhe aus. Er öffnete einen Pikkolo aus der Minibar und schenkte jedem von uns ein Gläschen ein. »Auf uns. Auf die Sternstunden«, sagte er. Aus einem unsichtbaren Lautsprecher irgendwo über unseren Köpfen erklang harmonische, aber nichtssagende Instrumentalmusik. Wir küssten uns. »Morgen haben wir fast noch einen ganzen Tag«, flüsterte er wohlig. Am anderen Morgen brachten wir unser Gepäck in ein Schließfach, frühstückten in einer Brasserie und ließen unsere Blicke hinter den herumlaufenden Menschen her schweifen. Ich fühlte schon den nahenden Abschied, während Olaf in seinem Reiseführer blätterte, damit er Vorschläge für den heutigen Tag machen konnte. »Wir könnten noch ins RodinMuseum«, meinte er und blickte kurz über den Rand seines Büchleins. Ich schaute ihn fragend an. Picasso, Renoir und van Gogh waren mir aus den bisherigen Tagen noch im Gedächtnis; Rodin aber sagte mir nicht viel, und ich hoffte, dass Olaf es nicht bemerkte. Doch sein feines Gesicht bekam
einen kantigen Zug, wie manchmal, wenn er eine sehr anstrengende Operation vor sich hatte oder wenn er von höherer Stelle unter Druck gesetzt wurde. Die letzten Krümel des Croissants verteilten sich auf der Papierserviette an unserem Platz, als Olaf zahlte und wir zum Museum fuhren. Über den Häusern sah ich eine goldene Kuppel hervorleuchten und überlegte, ob dies das Museum sei, doch der Weg, den Olaf einschlug, führte zu einem kleineren Gebäude, einer schnörkellosen Residenz, die seinen Kommentaren zufolge in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erbaut worden war. An der Kasse zahlte er für uns beide. Zunächst betraten wir einen Park, dessen Rasen von herbstlichem Laub übersät war, und dessen Bäume in akkuraten Abständen angeordnet waren. Zwischen ihnen befanden sich ein paar große Bronzeplastiken, Männerfiguren mit eleganter Muskulatur. Obwohl sie hoch aufgerichtet da standen, zeigte ihre Haltung leichte Verrenkung. Olaf legte mir den Arm um die Schulter. »Von hier aus sieht man den Invalidendom«, meinte er und zeigte auf die goldene Kuppel, einen Häuserblock weit entfernt. Dann lenkte er meinen Blick zur anderen Seite, wo sich ein monumentales dunkles Bronzerelief erhob. »Das ist das Höllentor«, sagte Olaf ehrfürchtig. »Es ist Rodins Lebenswerk.« Er fing an, mir die Figuren zu erklären, und nun begann es mich zu interessieren. Der Bildhauer hatte offenbar das »Inferno« nach Dante Aleghieri verarbeitet. Oben auf dem First standen Die drei Schatten, drei Ganzkörperplastiken, denen die rechte Hand fehlt. Rodin hatte sie ihnen abgeschlagen, als Symbol für die desolate Situation des zur Verdammnis verurteilten Menschen. Die drei Schatten neigten sich herunter und zeigten auf einen in gebeugter Haltung sitzenden Mann, den mir Olaf als den Denker erklärte. Das ganze Relief war voll von Gestalten, teils ausgeformt, teils nur
angedeutet und mit dem Hintergrund verschwimmend. Viele weibliche Körper, oftmals nur partiell ausgestaltet, zum Teil männliche Körper umklammernd, immer in einer Verzweiflungspose. Der Denker und Die drei Schatten traten so überklar hervor. Mich erinnerten sie an die griechische Antike. »Er war wohl sehr traditionalistisch«, versuchte ich, Olaf meine Eindrücke nahe zu bringen. Er widersprach sofort: »Rodin war ein Revolutionär! Er brach radikal mit der konventionellen Bildhauerkunst. Sieh doch, seine Formen! Wie vibrierend, wie tragisch! Er hat sich vom Klassizismus seiner Zeit weit entfernt – und sich dadurch auch Feinde gemacht!« Olafs Wangen färbten sich und in seinen Augen lag Ergriffenheit, wie in manchen seltenen Momenten, wenn er Zeit fand, eine Beethoven-Sonate zu hören oder ein Orgelkonzert in einer gotischen Kirche zu besuchen. Ich folgte ihm in das Museum, in die Räume hinein, in denen weitere Skulpturen standen: edle, athletische Körper von klassischer Schönheit, die aber keine Triumphatorpose zeigten, sondern die leicht gebeugte Haltung des schwachen, getriebenen und zur Verkrampfung neigenden Menschen der Moderne. War es das, was Olaf als revolutionär empfand? Während ich darüber nachdachte, warum Rodins Werk auf mich dennoch anders wirkte, stieß ich auf eine bescheidene Gruppe aus rauem Gips. Drei etwas unförmige Körper mit überdimensionalen Armen und Schultern, etwa siebzig Zentimeter hoch, die durch Berührung miteinander verbunden waren, standen auf einem flachen Sockel. Rechts kniete eine Frau. Sie sah flehentlich zu einem stehenden alten Mann hinauf, der sein knochiges Gesicht von ihr abgewandt hielt, und griff nach seiner Hand und seiner Schulter. Er sah zu einer anderen Frau, die links von ihm stand. Oder sah er über sie hinweg? Aber um diese Frau
hatte er seinen Arm gelegt, er schien sich fast auf sie zu stützen. Sie musste noch älter sein als er. Ihre Brüste waren schlaff und eingefallen und ihr Gesicht war in erschreckender Weise knollenhaft, mit hervortretenden Wangen bei gleichzeitig tiefer Furchung der Falten zwischen Wangenpartie und Mund. Ich wollte Olaf, der schon weiterging, am Mantel festhalten und ihm sagen: Schau mal hier, das ist revolutionär!, da sah ich, das Werk stammte nicht von Rodin. »Wer ist Camille Claudel?«, fragte ich Olaf im nächsten Raum. »Sie war eine Zeitgenossin von Rodin. Sie hat ihn inspiriert und auch ein paar eigene Werke geschaffen. Eine Zeitlang war sie seine Geliebte. Sie wollte wohl aus dem Schatten des großen Meisters treten, aber das ist ihr nicht gelungen.« Olaf betrachtete eine große Bronzestatue, die Rodin 1881 geschaffen hatte. Die kräftige Frauenskulptur stand fest auf beiden Beinen, mit leicht angewinkelten Knien. Ihr Kopf war geneigt, und mit den Armen umklammerte sie sich selbst an Brust und Kopf. »Großartig«, meinte er. »Eva als Schuldige. Wusstest du übrigens, dass die Frau, die Rodin Modell stand, schwanger war, ohne dass er es wusste? Der Bauch der Frau ist nicht ganz glatt, siehst du? Aber so symbolisiert sie Eva erst richtig. Die erste Frau und erste Sünderin wird ja die Mutter der Menschheit.« Für einen Augenblick wurde mir flau von Olafs Begeisterung für ein Weiblichkeitskonzept, von dem ich glaubte, dass wir es im 19. Jahrhundert hinter uns gelassen hätten. Die Hure mit dem Geigenbogen fiel mir ein. Aber dann rührte mich wieder die Intensität, mit der er alles wahrnahm, und ich folgte ihm weiter durch das Museum. Irgendwann löste ich mich von ihm und suchte nach weiteren Arbeiten von Camille Claudel. Aber es gab nicht viele, sie waren fast alle in dem Raum, den ich schon gesehen hatte. Dort fiel mein Blick auf einen
Bronzekopf, den sie 1889 erschaffen hatte. Er zeigte Rodin als einen älteren, streng blickenden Herrn mit ausuferndem, langem Bart. Die Schnurrbarthaare hingen weit über die Lippen. Er hatte eine markante Stirn, und seine tief in den Höhlen liegenden Augen blickten geradeaus in weite Ferne, oder auch in sich hinein, keineswegs aber zu dem ihn erschaffenden Gegenüber. »Das ist nicht die Darstellung eines Geliebten«, dachte ich. »Dieser Mann wirkt bedrohlich und kalt.« Ich ging in den Museumsshop und kaufte Bücher und anderes Material über Camille Claudel – alles auf Französisch oder Englisch. Dann suchte ich Olaf und fand ihn im ersten Stock. Er stand vor einer Bronzeplastik, die einen gedrungenen älteren Mann mit hervorstehendem Bauch zeigte, der alles andere war als eine klassische Schönheit. Olaf rieb sich mit der Hand über das Kinn und schmunzelte beim Betrachten der Figur. Als er mich kommen sah, nickte er mir zu. Mit einem »Was hast du denn da?«, kommentierte er die schweren Tüten in meinen Händen. Dann wandte er sich wieder der Plastik zu und meinte: »Rodin sollte für den französischen Literatenverband eine Skulptur von Honore de Balzac anfertigen. Er hat unzählige Entwürfe gemacht, mal als Akt, mal im Mönchsgewand, mal vollständig bekleidet. Mit nichts war er zufrieden. Weißt du, wie Ehrendenkmäler im 19. Jahrhundert aussahen? An diesem Balzac siehst du, wie unkonventionell Rodin als Künstler war.« Ich betrachtete den in seiner Unbeholfenheit da stehenden Körper und musste auch lächeln. Olaf hatte Recht. Rodin hatte den Dichter nicht dargestellt, sondern bloßgestellt. Durch diesen Eindruck fühlte ich mich wieder eins mit ihm.
Jetzt ist Paris weit fort. Die Wohnungstür ist hinter Olaf zugeschlagen. Ich sitze vor meinen Koffern und zerre die Sachen heraus, die ich getragen habe. Finde das Plakat von Camille Claudels Sakuntala, das ich im Rodin-Museum gekauft habe. Der Mann kniet vor der Frau, die sich über ihn neigt. Er hat den Kopf zurückgelegt, seine Wange berührt ihre Stirn. Ich hänge das Bild über mein Bett. Das reife Alter wollte ich nicht. Die verfallenden Körper machen mir Unbehagen. Camille Claudels Sakuntala ist eine glückliche Frau. Sie beugt sich zärtlich über den wiedergewonnenen Geliebten, einen Prinzen, der vor ihr kniet. Ich versuche, das Plakat mit Stecknadeln zu befestigen, es gelingt nicht. Tesafilm hält, hinterlässt aber Schäden an der Tapete. Ich streichle die schönen Körper aus Marmor, fühle aber nur Papier. Ich lege mich auf den Boden zwischen meine Kleider und streichle Olafs Porträt, das halb unter dem Nachttisch liegt. Auch nur Papier. Wie die Abbildungen der Skulpturen von Camille Claudel. Am folgenden Montag ist Olaf wieder Oberarzt Prof. Rohde. Und ich bin Dr. Schindler, Assistenzärztin auf der Station für Frauenheilkunde. »Hattest du ein schönes Wochenende?«, fragt mich der Kollege Ben. »Ich war in Paris.« Ben lächelt mich an. »Mit einem Verehrer?« Am liebsten würde ich ihm die Wahrheit ins Gesicht sagen, aber es darf nicht sein. Sonst habe ich für solche Fälle immer eine Bemerkung für Ben auf den Lippen. Ich weiß Olaf ja in der Nähe. Aber heute hilft das nichts. Ich denke an Camille Claudel. Mademoiselle Claudel. Sie liebte Auguste Rodin, der 24 Jahre älter war als sie. Er war der Meister, sie die Schülerin. Ihre eruptive Begabung rührte ihn an. Wie begierig sie
arbeitete! Was vor ihrem inneren Auge Gestalt annahm, übertrugen ihre Hände sofort aufs Material. Was sie fühlte, setzte sie unmittelbar um. Normen und Konventionen verschwanden unter dem Tisch und in der Ecke wie trocken gewordene Tonreste. Seine Autorität gab ihr Orientierung, seine Energie korrespondierte mit ihrer und regte ihre ohnehin starke Motivation noch weiter an. Manchmal hatte sie das Gefühl, Rodin sei außer ihr der einzige Mensch auf der Welt, der seine ganze Persönlichkeit durch Bildhauerei zum Ausdruck brachte. Der nicht den Weg des Schreibens wählte wie ihr Bruder Paul, und auch nicht den der Musik, der ihr fremd war. Ihn reizten wie sie nur Erde, Gips und Steine, und er konnte wie sie Tage und Nächte in staubigen Ateliers verbringen. Das zu wissen, war ein rasender Puls. Camille spürte ihr Ich und ihr Dasein viel deutlicher, als es die wohlerzogenen Töchter, die willenlos in eine gute Partie hineintrudelten, jemals erlebten. Sie erreichte die tiefsten Gründe der Empfindung, wenn sie nackt, bei Kerzenlicht, in Rodins Körper hineingeschmiegt wie eine Bronzeplastik in ihre Gussform, mit ihm über Bildhauerei sinnierte, um sie herum ein Raum mit vollendeten und unfertigen Skulpturen. Flüsternd unterhielten sie sich über Körperproportionen und das Geheimnis der in die Statik hineingearbeiteten Bewegung.
Vierzehn Tage lang sehe und höre ich wenig von Olaf. Eine Nachfrage auf meinem Anrufbeantworter, ob es mir gut geht, ein Lächeln auf dem Klinikflur in einem unbemerkten Augenblick, das ist alles. Dann liegt die Einladung zu einem Dinner in meinem Fach. Keine Zweisamkeit, sondern ein größerer Anlass unter Kollegen. Der Chefarzt feiert sein 15jähriges Dienstjubiläum. Soll ich hingehen oder nicht? Und was ziehe ich an? Das Ensemble aus Hose und Bluse, das ich
mir kaufte, als ich zu meinem ersten Medizinerkongress fuhr? Damals war ich einem Herrn im Smoking darin aufgefallen. Es war auf einem öffentlichen Abendvortrag gewesen, in der Pause. Der Mann hatte trotz seines respekteinflößenden Stils etwas Jungenhaftes an sich, denn er bewegte sich lebhaft. Er war schlank, und die Fliege an seinem Hals wirkte vergnügt. Beim Gehen knickte er manchmal die Hüfte ein wie ein Skifahrer. Er hatte einen eher kleinen Kopf und schmale Hände, die ständig in Bereitschaft schienen, diffizile Handlungen auszuführen. Er kam mit einem Kollegen zum Bistrotischchen, an dem ich stand. Da merkte ich, dass er weit älter war, als ich aus der Ferne angenommen hatte. Er leitete ein vorsichtiges Fachgespräch ein, aus dem aber bald eine Plauderei über Urlaubsreisen und ferne Länder wurde. Als der Kollege fort war, ging es um mehr: Die Schwerstarbeit als Arzt in der heutigen Zeit, das Vorurteil vom »Gott in Weiß«, die zunehmende Verknappung von Personal, die Verschärfung der Arbeitsanforderungen im Krankenhaus und die fehlenden Perspektiven für Berufsanfänger. Er wollte wissen, wie weit ich war. Ich war Ärztin im Praktikum in der Abteilung für Frauenheilkunde in einem kleinem Provinzkrankenhaus und suchte eine Stelle als Assistenzärztin nach der Approbation. Er war Oberarzt in einer Klinik, die auf diesem Fachgebiet namhaft war. »Wenn Sie es möchten, kann ich Ihre Bewerbung entsprechend lancieren.« Er wirkte auf mich rührend, sensibel, zugleich kompetent und respekteinflößend. Ein Briefwechsel am Computer begann, es folgten Telefonate, dann gab es ein Wiedersehen. Olaf Rohde lud mich für ein Wochenende zum Wandern ins Gebirge ein. Kurz darauf schrieb ich die Bewerbung und kam tatsächlich ans Hermine-Heusler-Hospital, das renommierteste Klinikum
meiner Heimatregion. Aber es gab eine Bedingung: Olaf wollte nicht, dass ich unter seiner Leitung in der Geburtshilfe arbeitete, sondern ich sollte in der gynäkologischen Abteilung der Oberärztin Frau Professor Neugebauer zugeordnet sein. Die Vergabe erfolgte unter rein sachlichen Gesichtspunkten, und ich hatte plötzlich beides: eine Liebesbeziehung und eine berufliche Perspektive.
Drei Eingriffe stehen an, alle bei Patientinnen, die schwanger werden wollen und es nicht können. Eine Anfang 40-Jährige schaut mich aus halb geschlossenen Augen an, mit einem Gemisch aus Respekt, Neugier und Erwartung. Bei ihr ist für 10.30 Uhr eine Myomennukleation vorgesehen. Freundlich nicke ich der Patientin zu, die ihre Augen etwas weiter öffnet und angstvoll fragt: »Habe ich Krebs?« »Nein«, höre ich mich erwidern: »In Ihrer Gebärmutter haben sich Muskelknoten gebildet, die man Myome nennt.« »Kann ich deshalb kein Kind bekommen?« »Es ist kein Krebs«, wiederhole ich. »Die Knoten sind gutartig, können aber Verwachsungen heranbilden und Unterleibsschmerzen hervorrufen. Durch Myome in der Schwangerschaft können Blutungen, unter Umständen vorzeitige Wehen ausgelöst werden. Aber sie können auch, wie in Ihrem Fall, ein Risiko für ungewollte Kinderlosigkeit sein, denn sie können die Einnistung der Schwangerschaft verhindern und die Durchblutungsverhältnisse in der Gebärmutterschleimhaut stören.« »Aber Sie werden mir doch meine Gebärmutter lassen?« »Es ist ein organerhaltender Eingriff«, betone ich. Fast dasselbe Gespräch habe ich mit ihr Ende letzter Woche geführt. Sie scheint es vergessen zu haben. Operationstechnisch ist es einfacher, die Gebärmutter im
Ganzen zu entfernen, anstatt die Myome herauszutrennen und den Rest der Gebärmutter zu erhalten. Beruhigend rede ich auf die Frau ein. Ich kann ihr nicht versprechen, dass eine Gebärmutterentfernung ausgeschlossen ist oder dass sie nach der Myomenentfernung schwanger wird, ich kann ihr nur gut zureden.
Hatte Camille Claudel ein Kind? Schwangerschaftsabbrüche sind nicht bewiesen, aber auch nicht ausgeschlossen. 1887 reisen Camille und Rodin zum ersten Mal in die Tourraine. Das Schloss Islette bei Azay-de-Rideau wird für die beiden zu einer nun regelmäßig aufgesuchten Sommerresidenz. Wenigstens während der Sommermonate können sie ihre Beziehung offen leben. Von Madame Courcelles werden sie als zahlende Gäste verwöhnt wie in einer Privatpension. Könnte es nicht immer so sein? Mit den Eltern war es 1888 zu einem Bruch gekommen, als ihre Liaison mit Rodin bekannt geworden war. Die Mutter war empört und verdammte Camille als verdorben, die jüngere Schwester Louise rümpfte die Nase, der Bruder Paul mischte sich nicht ein, und der Vater LouisProsper, der neben Paul Camille am meisten liebte, verwies seine Tochter des Hauses. Zu enttäuscht war er, dass Camille ihr kostbares Talent, das er nach allen Kräften förderte, durch eine Liebelei mit ihrem Lehrherrn in den Dreck zog und missbrauchte. Camille musste nun allein leben und verbrachte ihre Zeit abwechselnd in ihrer Wohnung und in Rodins Atelier am Boulevard d’Italie. In Künstlerkreisen galt sie als Gefährtin Rodins, aber ihre Familie reagierte mit Abneigung, nein, sie hatte keinen sicheren Stand in Paris. Wie herrlich sind die Sommer im Landschloss in der Tourraine! Die junge Künstlerin arbeitet in Ruhe und genießt die friedliche Schönheit der Landschaft, den Duft der Felder.
Sie freut sich, wenn Rodin einen Teil der Zeit mit ihr gemeinsam dort verbringt. In einem Sommer spürt sie etwas Neues: die Bewegungen eines sich in ihrem Bauch entwickelnden Wesens. Ihr ganzer Trotz gegen die soziale Norm – »uneheliche Mutter – dann bin ich’s halt!« – ist ungebrochen, ihr Glücksgefühl groß. Dann erfährt Rodin von der Schwangerschaft. Er sucht sie auf und nötigt sie, das gemeinsame Kind abzutreiben. »Ich kann euch nicht versorgen, und überhaupt – wie willst du arbeiten mit einem kleinen Kind?« Camilles Bauch wird geleert, das unreife Baby herausgeschabt. Wochenlang quälen sie Unterleibsschmerzen und eine seelische Verletzung, die sie nicht einordnen, sondern nur verdrängen kann. Noch ist sie jung, hat ihre Ziele und ihre unbändige Schöpferkraft… Den Patientinnen mit Kinderwunsch sollte man diese Geschichte nicht erzählen. Ich bin jetzt dreißig, denke ich plötzlich. Wünsche ich mir mit Olaf ein Kind?
Am Abend durchsuche ich meinen Kleiderschrank nach geeigneter Garderobe. Das Ensemble von damals erscheint mir zu formell. Meine Wahl fällt auf ein blaues Abendkleid, das mir Olaf bei einem unserer geheimen Kurzurlaube gekauft hat. Was wird er empfinden, wenn er mich darin sieht? Camilles Drang, den eigenen Weg zu gehen, war groß. Aber besaß nicht Rodin Ehre und Anerkennung, die ihr fehlten? Zahlte sie für die Konsequenz ihres Lebenswegs nicht einen höheren Preis als er? Kaum gestand sie es sich zu: Wenn es nicht der Status einer Ehefrau war, den sie vermisste, so waren es Zuwendung, Vertrauen, Kontinuität. Noch war sie überzeugt, alles richtig zu machen, doch im Untergrund vollzog sich eine schleichende Erosion. Es war wie Erde, die sich nicht mehr formen ließ, sondern hinwegbröckelte, weder
für die Hände ein zuverlässiges Material, noch für die Füße ein standfester Untergrund. Ich sehe sie vor mir, wie sie nachts durch Paris läuft und sich einsam fühlt: Die Hausfrauen stehen an den Fenstern und schieben die Gardinen zur Seite, sie schütteln den Kopf über sie. Du verhandelst mit einem Galeristen, der eine Ausstellung mit dir macht? Unwichtig. Du hast keinen Mann, du hast kein Dach über dem Kopf. Du haust allein in deinem Atelier. Für Camille stehen die Prioritäten fest: Ihre Kunst und ihre Liebe sind der rote Faden ihres Lebens. Aber der Schmerz wird schlimmer. Sie verlangt eine Entscheidung von Rodin. In einem Augenblick, als er nicht damit rechnet, spricht sie ihn direkt an. Er wehrt sie ab, verständnislos. »Du hast eine Gabe. Kümmere dich um deinen Auftrag, etwas daraus zu machen.« »Warum verlässt du sie nicht? Warum bleibst du bei ihr?« beharrt Camille. Rodin ist nicht verheiratet mit Rose Beuret, lebt aber mit ihr zusammen. Er sorgt sich um ihren Gesundheitszustand, und sie verlangt nach seiner Gegenwart. Rodin verabschiedet sich mit ausweichenden Worten von Camille. Die geistige Nahrung, die sie einander geben, und der Eros, der aus der Übereinstimmung über die Schönheit eines neuen Projektes entspringt, sollten ihr doch genügen. Sie trennen sich, er schreibt ihr einen flehenden Brief, sie finden zueinander zurück. Aber es ändert sich nichts.
Ein Taxi ist mir zu teuer, und ich nehme die Straßenbahn zum Grand-Hotel. Das blaue Kleid und mich habe ich in einen langen Mantel gehüllt, denn es ist kalt. Im Festsaal ist für 120 Personen gedeckt, und es fällt mir nicht leicht, mich zu orientieren. Zum Glück empfängt mich Ben an der Tür und führt mich zu einem Platz, von dem aus ich das Rednerpult gut
sehen kann. Er macht mir Komplimente, seine Blicke sind anerkennend. Wie hat Olaf einmal zu mir gesagt? »Ärztliches Können ist wichtig, aber als Mann musst du einen gewissen Stil und Ausstrahlung haben, wenn du es in diesem Beruf zu etwas bringen willst.« »Und als Frau?« hatte ich entgegnet. »… ist es natürlich umgekehrt«, war Olafs Antwort gewesen: »Wenn dein Charme stimmt, drückt man beim Rest auch mal ein Auge zu…« 1894 wird Camille dreißig. Aus dem jungen Mädchen ist eine stämmige Frau mittleren Alters geworden, zu früh. Finanziell hängt sie von Rodin und ihren Eltern ab, und führt doch das Leben einer alten Jungfer, die nirgends ganz zu Hause ist. Die Anerkennung, die sie für ihr Werk Der Walzer erhält, ist zweifelhaft. Das nackte, tanzende Paar, bei dem nur die untere Körperhälfte der Frau in eine Draperie übergeht, ist den Kritikern zu naturalistisch, zum Teil zu frivol. Staatliche Aufträge bleiben aus. Keine Ausführung von Sakuntala in Marmor, kein Walzer, kein anderes Projekt. Camille stürzt sich auf den Kontrast und modelliert die ernüchternde, vergängliche Seite des Lebens. Drei Parzen, Schicksalsgöttinnen aus der griechischen Antike, wachen über den Lebensfaden: Clotho flicht ihn, Lachesis misst ihn aus und Atropos durchschneidet ihn mit der Schere. Camille erschafft Clotho, ein altes Weib, das von der Last seiner Haare erdrückt wird und das Gesicht gequält in die Höhe dreht. Ein ausgemergelter Körper, der später zum Vorbild für Das reife Alter wird. Ein Werk, das wenige verstehen und keiner kauft. Eine Ausführung der Clotho in Marmor wird es geben, aber sie wird verloren gehen. Camille wird krank, weil die Einsamkeit an ihr frisst. Sie sagt sich noch immer, die Kunst sei ihr Kraftquelle genug, sie am Leben zu halten. Aber was sie vermisst, zehrt an ihr. Und das Verbot sich einzugestehen, wie viel sie entbehrt, macht sie noch kränker.
Dann ist Rodin von einer längeren Reise zurückgekehrt. Er lässt ihr eine Nachricht zukommen, dass er sie sehen will. Aber ihr ist elend, sie kann ihr Atelier nicht verlassen. Sie fertigt Skizzen an, von ihm und Rose als Paar, scheußliche Zerrbilder. Er besucht sie, sie schreit ihn an, schleudert ihm die Zeichnungen um den Kopf. Er entzieht sich. Eine Beziehung, die begonnen hatte, als sie zwanzig war, wird zur Luftblase und beginnt zu entschwinden. Er ist schuldlos. Hat sie das Recht, ihm seine Lebensgefährtin zu verbieten? Zwischen ihnen ist nichts Dahingehendes ausgemacht. Er hat ihr den Weg zu ihrer Begabung gezeigt. Er hat sein Können und Fachwissen mit ihr geteilt und sie von seinen Kontakten profitieren lassen. Er hat sie geliebt, in manchen Phasen bis zur Verzweiflung. Aber sein Dreiecksverhältnis gibt er nicht auf. Der Saal füllt sich mit Herren und Damen in Abendgarderobe. Die meisten kenne ich, aber etliche sind mir auch fremd. Es tut immer etwas weh, wenn ich Olaf von weitem sehe. Dort steht er, sein Anzug ist silbergrau, die Krawatte goldgelb. Sein Jungenlächeln ist von weitem zu sehen, es überstrahlt die Spuren des Alterns um Mundwinkel und Augen. Sein Blick sucht im Raum umher, aber durch mich scheint Olaf hindurchzusehen. Das ist so, sage ich mir, vielleicht wird es eines Tages anders sein. Habe ich mein Gesicht unter Kontrolle? Da war doch ein Seitenblick von Ben… Neben Olaf steht seine Frau, mit einem Glas in der Hand. Ihr Kleid ist dunkelgrün, ihr Haar zu angestrengten Locken gedreht. Er hält ihren Arm, und ich meine aus der Ferne zu riechen, wie sich der Duft seines Rasierwassers (das er nie benutzt, wenn wir verabredet sind) mit dem ihres Parfüms vermischt. Er erwartet von mir, dass ich mich höflich mit Ben unterhalte, und ihn meinerseits übersehe. Aber jetzt reizt es mich. Ich stehe auf, gehe zu den beiden und gebe Olaf die Hand. Er reagiert sofort, begrüßt mich mit einem
freundlichen »Guten Abend, Birgit« und lässt auch kein Zeichen von Nervosität erkennen. Frau Rohde nickt kurz und desinteressiert. Wir kennen uns; ich war ihr einmal bei einem Abendessen mit den Stationskollegen begegnet. Olaf und ich saßen voneinander entfernt, es prickelte zwischen uns so sehr, dass wir uns kaum anschauen konnten, ohne dass uns ein Strom von Wärme durch die Körper fuhr. Frau Rohde hat sich seit diesem Abend kaum verändert. Als Rose Beuret von Rodins Verhältnis mit Camille erfuhr, drang sie in deren Atelier ein und unterbrach sie hinterrücks bei der Arbeit. »Mein Gott, Rose!«, rief Camille, ihr Werkzeug noch in der Hand. »Ach, Sie billiges Flittchen«, kreischte Rose und stieß mit einer wegwerfenden Geste hervor: »Sie sind doch nicht die Einzige. Wenn Sie wüssten, wie er sich die Mädchen nimmt, die ihm nichts wert sind.« Camille war kurz davor, ihr ins Gesicht zu schlagen, als Rose noch deutlicher wurde: »Als wir uns kennen lernten, war er jung und unbekannt. Wir haben bei Null angefangen und in den ärmlichsten Verhältnissen gelebt. Dagegen kommst du nicht an. Ein Genie willst du sein, eine verzweifelte Hure bist du!« Die Frauen ohrfeigten sich, als Rodin hereinkam. Hilflos blieb er stehen, der hochbegabte Mann und anerkannte Künstler, der nichts mehr hasste als Zerwürfnisse in seinem Privatleben, und der nicht entscheiden konnte, wem er beistehen sollte. Zuletzt nahm er Rose mit nach Hause, und Camille blieb zwischen den Trümmern einer zerschlagenen Büste zurück. Die Tränen, die ihre Wangen hinunterliefen, hatte Rodin nicht gesehen.
Ich greife nach Olafs Arm. Dann lehne ich mich an ihn, genauso wie ich es tue, wenn seine Frau und seine Kollegen uns nicht sehen. Olaf macht sich steif, jetzt flackert auf seinen Wangen eine Röte auf. Sein Körper drückt Widerstand aus,
aber mein Arm umfährt seinen Rücken und meine Finger spreizen sich auf seinen Rippen. Ich schaue mich um. Ben ist im Gespräch und nimmt keine Notiz von uns. Nur eine Kollegin aus Olafs Station schaut zu uns herüber, missbilligend, überrascht. Da bekomme ich Angst. Angst vor Frau Rohde, die mir dicht gegenübersteht, in ihrem grünen Kleid und in dünnen Strümpfen, durch die Krampfadern scheinen. Ihr Gesicht ist mir so fremd. Eine Person, zu der ich keine Beziehung habe, die in meinem Leben eine größere Rolle spielen müsste. Mein Arm um Olafs Leib muss unübersehbar sein. Plötzlich erwidert Olaf meine Umarmung und sagt mit hartem Anschlag in der Kehle: »Birgit Schindler ist eine junge Kollegin, auf die man stolz sein kann. Sehr fleißig und sehr engagiert.« Er nimmt meine Schultern in seine Hände. Doch liegt in diesem Kontakt keine Zärtlichkeit, nur ein Ungehaltensein. Olafs einziges Bedürfnis ist es, die Kontrolle zu behalten. Er schiebt mich weg, meine Hände gleiten von seinem Körper und hängen ins Leere. Frau Rohde nickt mir zu, wie einem Schulmädchen, das gerade in die erste Klasse gekommen ist und seiner Lehrerin sagt, es möchte morgen Abitur machen. Ich lächle die beiden an. Unverbindlich, höflich. Ich zeige nicht einmal Zähne. Dann wende ich mich ab. Zum Tisch kehre ich nur zurück, um meine Handtasche zu holen. Ben, der sich immer noch mit einem Kollegen unterhält, sieht fragend zu mir auf. Ich formuliere keine Worte der Entschuldigung, als ich zur Garderobe gehe, um meinen Mantel zu holen.
Rose braucht Rodin, und ständig mit einer komplizierten Persönlichkeit wie Camille zusammenzuleben, bringt er nicht fertig. Aber aufgeben will er sie auch nicht. Seine Besuche in
ihrem Atelier werden unregelmäßiger. Camille verliert ihre Jugend rasch. Ihr Gesicht ist, obwohl sie gerade Anfang dreißig ist, breit geworden, und ihre Kinnpartie wirkt herb. Sie arbeitet an einer Gipsplastik und erschrickt, als Rodin hereinkommt. Ich muss mich vorsehen, denkt sie. Rodin taxiert meine Werke und wird die Entwürfe später als seine Idee verkaufen. »Camille!« Er legt seine breite Hand auf ihre Schulter und will sie zu sich herumdrehen, aber Camille macht sich steif. »Geh!«, sagt sie. »Hau ab zu der alten Schachtel, für die du dich entschieden hast.« »Sprich nicht so von ihr!« Camille dreht sich um und ihr Blick fällt auf sein Gesicht. Er wird alt, auch wenn er es nicht wahrhaben will. Seine Züge werden immer leidenschaftsloser, dafür herrischer und selbstgewisser, seit er Offizier der Ehrenlegion und Präsident der Societe Nationale des Beaux-Arts geworden ist. Sein Drang nach Herrschaft und Autorität ist ungebremst, seine Überlegenheit ihr gegenüber fraglos. Alles gehört ihm. Camille spuckt auf die Dielen und winkt ihrer Assistentin, ihn hinauszubegleiten. Rodin ist verletzt. Irritiert blickte er die Frau an, die so lange seine Gefährtin war und der er so viel Glück und Erfüllung verdankt. Sie ist unglücklich darüber, dass der große Durchbruch auf sich warten lässt, denkt er. Aber kann sie ihm seinen Erfolg zum Vorwurf machen? Er kann ihr doch nicht mitteilen, ohne ihren bereits verletzten Stolz noch mehr zu kränken, wie sehr er sich für ihre Werke einsetzt und welche Käufe er schon veranlasst hat. Unschlüssig wendet er sich zum Gehen. Da läuft Camille hinter ihm her und drängt ihn hinaus. Die Tür schlägt zu. Camille hält sich die Brust und muss schwer atmen. Sie unterdrückt es sogleich, denn sie ist nicht allein. Die Assistentin gibt sich geschäftig. Camille hat zu tun.
Rodin besucht seinen Freund Roger. Dort verliert er sich erst in Geplänkel, aber dann treten ihm Tränen in die Augen. »Es ist vorbei mit Camille!« »Vielleicht ist es eine Laune«, tröstet der Freund. »Du weißt doch, wie die Frauen sind.« Ich habe sie geliebt, denkt Rodin, als er sich beruhigt hat. Aber sie hat sich auch verändert. Auguste Rodin wird sich seinem eigenen Leben zuwenden. Er blickt nach vorne. Allmählich wird er Camille vergessen. Sie entschwindet nicht seinem Gedächtnis, aber sie verliert für ihn an Bedeutung. Immer ein wenig mehr, bis in seinem Herzen weder Liebe, noch ein Verlust, noch eine Kränkung übrig bleiben.
Ich sitze in der Straßenbahn und spotte über mich selbst. Einen Eklat wollte ich herbeiführen und habe es nicht geschafft. Frau Rohde wird heute mit ihrem Mann nach Hause gehen, wie nach jedem Empfang. Sie wird sich neben ihn ins Bett legen, wo sich nichts ereignet, und sie wird nichts vermissen. Morgen früh wird sie ihm einen Kaffee kochen und ein frisches Hemd über die Stuhllehne hängen. Ich konzentriere mich auf Camille Claudel. Wo war der Punkt, an dem die Zerstörung ihrer Persönlichkeit begann, der innere Fraß an ihrer Substanz und die schleichende Verzerrung ihrer Wahrnehmung der Wirklichkeit? Als Camille allein ist und begreift, dass Rodin als Liebhaber niemals zurückkehren wird, stürzt sie sich noch intensiver auf ihre Arbeit. Die Konzepte für ihre Skulpturen und das Ringen mit dem Material um ihre Verwirklichung füllen ihre Gedankenwelt fast völlig aus. Es liegt ja auch ein Hintersinn in allem und eine gewaltige Energie der Symbolik, die die Archetypen des menschlichen Erlebens durch ihre Hände Gestalt werden lassen. Gleichzeitig wird die Atmosphäre um
sie immer blutleerer und kälter, denn niemand nimmt Camilles Hände, wenn sie zu lange gearbeitet haben, vom feuchten Ton herunter, um sie zu wärmen. Camille bleibt auf sich allein gestellt. Sie findet die Zeichen, die ihr weiterhelfen, in ihrer allernächsten Umgebung, denn jeder benötigt einmal einen Wegweiser oder einen Wink. Die Drei, denkt sie, ist die Schlüsselzahl für die nächste Anordnung einer Gruppe, die ich erschaffen werde. Aus dem Nichts, aus einer Handvoll Erde, wird eine Dreiheit entstehen, in der Gottvater-Sohn-undHeiliger-Geist sich wiederfinden. Der abgelebte Gott, ein alternder Rodin mit himmlischem Bart wie im Deckengemälde von Michelangelo – die heilige Maria und die sündhafte Maria Magdalena werden sich um ihn streiten. Ein krummer Baum drückt diese Schieflage aus – alles ist verzerrt! Diese Farce der göttlich gewollten Ordnung ist zugleich ein Abbild ihres Lebens. Aus den Tiefen des Materials wird sich die Form offenbaren. Camille arbeitet, und wer so nah an den Wahrheiten wühlt, die die moralische Norm erschüttern, der macht sich Feinde. Camille hat Feinde, zum Beispiel den Gläubiger, den sie nicht bezahlen kann, weil das Geld von ihren Eltern schon wieder aufgebraucht ist. Eines Nachts muss er sich bei ihr eingeschlichen und fertige Skulpturen zerschlagen haben. Es liegen so viele Scherben herum, findet Camille. Sie hat ihr ganzes Geld ausgegeben, und es fehlen ihr die Mittel für neues Material. Sie dreht sich in ihrer Wohnung herum und schlägt mit den Fäusten gegen ihre halbfertigen Skulpturen. Am nächsten Morgen erinnert sie sich nicht mehr, sie glaubt, es ist ein Abgesandter Rodins gewesen, der zu verhindern versucht hat, dass sie ihren eigenen künstlerischen Weg beschreitet. Davon wird sie sich nicht unterkriegen lassen, sie wird es ihm und den anderen beweisen. Camille Claudel beschäftigt sich mit mehreren Skulpturen parallel. Es
gibt nur eine Unterbrechung, als ihr geliebter Bruder Paul aus Amerika kommt. Sie gibt ihm zu Ehren ein Abendessen, für das sie die Wohnung schmückt: die massiven Holzschränke werden geöffnet, weißliche Gipsmasken zieren die Regale. Zwischen Holzpfeilern sind Querbalken montiert, von denen Laternen herabhängen, Eisenpfähle sind ins Holz geschlagen, die als Kerzenhalter dienen. Camille selbst hat sich besonders schön gemacht: Sie hat ihr Gesicht kalkweiß gepudert, um zu ihren Masken ein besonderes Pendant zu bilden… Die Bühne ist in schwarzes Nichts getaucht. Keine Musik ist zu hören, kein Mensch zu sehen. Nur ein dünnes Seidentuch bedeckt fast den ganzen Boden. Dann ein Spotlight, und es erscheint eine in ein erdiges Gewand gekleidete Frau. Die Fetzen kleben an den Armen und hängen über Brust und Bauch. Sie sehen aus wie alternde Haut. Die Frau hängt ein Stück Stoff über ihren Kopf und verharrt in der Pose, mit Blick nach oben, unter dem Tuch. Es ist Clotho. Das Licht erlischt und taucht an anderer Stelle der Bühne wieder auf. Nun ist die Frau nackt und ihr Körper jung. Sie kniet und streckt flehend die Arme aus nach jemandem, der nicht da ist. Wieder Dunkelheit und nun zum dritten Mal ein Licht. Jetzt hat die Frau das Seidentuch wie ein Ballkleid um sich geschlungen und dreht sich, die Arme ausgestreckt, um ihrem Tanzpartner zu gefallen. Ihr Kopf ist kokett geneigt. Die Seide fließt in der Drehung des Tanzes. Im Scheinwerferlicht reflektiert der Stoff ein Leuchten von zahllosen kleinen Sternen. Die Hände greifen ins Leere. Die Frau wirft die Seide von sich, bückt sich, kriecht über die nackten Bretter des Bühnenbodens. In einer Ecke entdeckt sie die bräunlichen Lumpen. Sie streift sie über, um Brust und Schamhaar zu bedecken. Noch einmal wird es dunkel, dann erstrahlt ein breiteres, gelbliches Licht, das die Bühne ausleuchtet und ihr die matten Farben eines Ateliers verleiht, dessen Fenster verstaubt sind, so dass die Sonne das
Innere nicht erreicht. Noch ist die Frau eine Skulptur, die aufrecht steht, die linke Hand ans Herz gekrampft. Sie versucht lebendig zu werden, ruckartig zuckt der Körper nach hinten, dann fällt sie auf die Knie. Langsam werden die Bewegungen fließender, in die Gelenke aus Stein fließt Blut, sie werden Fleisch. Aus der Plastik ist ein Mensch geworden, die Künstlerin. Vor ihr liegt ein bisher nicht gesehener Klumpen Ton. Fasziniert schaut sie ihn an, greift hinein, knetet ihn und zieht ihn schließlich an sich heran. Mit Kopfschmerz erwache ich noch in der tiefsten Dunkelheit. Ich finde mich auf dem Boden vor meinem Bett wieder, und als ich versuche mich zu orientieren, beginnt mein Herz zu rasen. Ich halte meine Hand an die linke Brust und bin verwundert darüber, dass mein Handrücken mit Erdkruste verschmiert ist. Trockener Lehm – oder was ist es? – rieselt in meinen Schoß. Ich habe eine alte Jogging-Hose und ein Sweatshirt an. Der Wecker auf meinem Nachttisch zeigt sechs Uhr. Normalerweise Zeit, um aufzustehen. Aber heute ist ein Samstag, an dem ich keinen Dienst habe. Nochmal ins Bett? Verdreckt wie ich bin, geht das nicht. Ich stehe auf, um auf die Toilette zu gehen. Auf dem Rückweg fällt mein Blick ins Wohnzimmer. Alles ist schattenhaft. Ich mache Licht. Die Kopfschmerzen werden noch schlimmer. Der Parkettboden ist verklebt, es sieht aus wie auf einer Baustelle. Ein Bettlaken liegt zerknüllt und lehmverkrustet herum. Das blaue Kleid hängt ordentlich über der Sessellehne. Vor dem Fenster stehen eine leere und eine halbvolle Weinflasche, daneben ein Glas mit dunkelrotem Schrund am Boden und ein Putzeimer. Ich blicke hinein: feuchter Lehm. Mir dämmert: Da war ein Fest gewesen, und Olaf mit seiner Frau. Ich war nahe daran gewesen, ihn ihr zu entreißen und an mich zu ziehen. Aber dann hatte es einen seltsamen Stillstand gegeben. Dafür hatte ich Camille Claudels Unglück erkannt. Ich war nach Hause
gekommen. Dann war ich noch einmal aufgebrochen, denn ich musste hinausgehen und handeln, um Camilles Schicksal noch tiefer zu ergründen. Extra dafür umgezogen hatte ich mich sogar und den Eimer mitgenommen. Wie eine Künstlerin hatte ich mich gefühlt, die ein Werk vollbringen muss. Ich war in eine Baugrube gestiegen, um Erde zu holen und hatte geglaubt, es sei Ton. Ich gehe unter die Dusche und seife meinen Körper von oben bis unten ab. Nach dem Duschen ziehe ich mir ein frisches Nachthemd an und krieche in mein Bett. Das nächste Mal wache ich gegen zehn Uhr auf. Ich spüre Unbehagen, so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Die Wohnung empfinde ich als unangenehm still. Ich koche mir einen Kaffee und esse einen Toast. Dann beginne ich das Wohnzimmer sauber zu machen. Den Lehmeimer schiebe ich vors Fenster und drapiere das Tuch drumherum. Der Aufbau soll dort stehen bleiben als eine Art Memento Mori. Ich benötige noch einen zweiten Eimer, um den Boden zu putzen. Vielleicht muss ich auch noch mehr besorgen, schließlich brauche ich heute etwas zu essen. Also gehe ich einkaufen: Butter und Wurst, einen Kopfsalat, ein Bund Karotten und einen neuen Eimer, in dem ich die Sachen nach Hause transportiere. Was ich morgen kochen soll, weiß ich nicht. Vielleicht holt Olaf mich ab und wir gehen essen. Aber ich glaube, er wird nicht kommen. Dann bleibe ich hungrig, denn ich habe nichts im Haus. Ich fühle mich zu müde um vorauszuplanen. Geduldig reinige ich die Wohnung, denke über das Geschehene nach und komme zu keinem rechten Ergebnis.
II
Am Montagmorgen fahre ich in die Klinik. Meine Hände sind unruhig, als ich mir den Kittel zuknöpfe. Olaf ist heute nicht im Haus. Ist er krank? Will er mir nicht begegnen? Ein Feigling, der die Auseinandersetzung mit mir scheut? Die morgendliche Übergabe verläuft wie immer. Ben hatte Nachtdienst, und seine Augen sind von Übermüdung gerötet. Er muss über jeden Fall Bericht erstatten. Auch bei der Visite geht heute Ben voran. Ich folge ihm, der Oberärztin und den Schwestern, ohne viel zu sagen. Dann muss ich in den OP. Wir bereiten eine Gebärmutterspiegelung vor. Bei dem Eingriff wird das Instrument über die Scheide in die Gebärmutterhöhle eingebracht. Normalerweise kein Problem, ein Routineeingriff, aber heute fühle ich eine Unsicherheit. Ich würde mich selbst betrügen, wenn ich es mir nicht eingestünde. Die Anästhesistin leitet die Narkose ein. Prof. Neugebauer weist mich durch eine Handbewegung an, der Patientin das Hysteroskop einzuführen. Die Wände der Gebärmutterhöhle werden durch eine Flüssigkeit gedehnt, und ich beobachte die Schleimhautverhältnisse und die Zugänge zu den Eileitern. Krankhafte Veränderungen sind nicht zu erkennen. Ich ziehe das Hysteroskop zurück und führe die Kürette ein, um eine Gewebeprobe zu entnehmen. Mir ist, als würde ich ein ungeborenes Baby berühren und mit meinen Instrumenten verletzten. Aber ich weiß doch, da ist kein Kind! Meine Hand fängt an zu zittern. Jetzt soll die Ausschabung erfolgen. Ausschabungen gehören zu meinen Aufgaben, ich führe sie meistens ohne lange nachzudenken aus, aber heute liegt mir die Kürette nicht sicher in der Hand. Prof. Neugebauer merkt
es sofort, sie nimmt mir den metallenen Schaber aus der Hand: »Ich mache es selbst.« Gedemütigt und mich noch immer eigenartig wächsern fühlend stehe ich neben ihr und sehe zu, wie sie mit wenigen, gezielten Bewegungen Gewebe aus der Gebärmutter der Patientin gewinnt. Ihr Unterleib wird wieder zugedeckt, sie wird hinausgefahren. Ich wasche mir die Hände, versuche rasch im Spiegel den Ausdruck meiner Augen zu deuten und kann ihn nicht entziffern. Bei der nächsten Patientin ist eine Bauchspiegelung vorzunehmen. Ich kenne die Patientin, die Voruntersuchungen habe ich durchgeführt, und eigentlich wäre diese Laparaskopie meine Aufgabe, um die Verdachtsdiagnose, dass die Eileiter undurchlässig sind, zu überprüfen. Aber Prof. Neugebauer verhält sich, als sei ich nicht im Raum. Nach einem kleinen Schnitt in den Nabelunterrand der Frau führt sie das Laparaskop in den Bauchraum ein. Sie legt einen weiteren Zugang im Unterbauch, führt ein weiteres Instrument ein und studiert durch die Optik den Bereich der Eileiter. Ich versuche, aus ihrer Miene den Befund zu erschließen. Aber wieder ist meine Konzentration gestört, jetzt denke ich intensiv an meine eigenen Eileiter. Vielleicht sind sie völlig verklebt, oder voller Verwachsungen, oder einfach funktionsuntüchtig, was ich aber nicht weiß, weil ich nur andere untersuche und mich nicht selbst untersuchen lasse, und weil ich Olaf zuliebe eine Spirale habe einsetzen lassen. Camilles Baby sehe ich vor mir, in allen Einzelteilen, blutig rot.
Prof. Neugebauer lässt jetzt durch die Scheide Blaulösung in die Gebärmutter instillieren. Im Falle der Durchgängigkeit der Eileiter läuft sie darüber in die Bauchhöhle. Meine Spirale ist ein störendes Metall, das sich so kalt anfühlt, wie die Patientin
die Instrumente in ihrem Unterleib empfände, wäre sie nicht unter Narkose. Ich bin im OP, durchfährt es mich dann, und meine Oberärztin lässt mich nicht arbeiten. Ehe ich nachdenken kann, höre ich meiner eigenen Stimme zu: »Ich glaube, ich muss jetzt gehen.« Die Vorgesetzte verzieht keine Miene, nur mit einer Handbewegung winkt sie mich weg. Sobald ich den OPBereich verlassen habe, reiße ich Kittel und Mundschutz herunter. Luftholen. Ich atme mehrmals tief ein und aus, aber eine richtige Befreiung stellt sich nicht ein. Ich muss Ben finden. Er ist derjenige, mit dem ich jetzt sprechen muss. Ich laufe durch den Flur und sehe alles ganz deutlich: Patienten auf Stühlen, Apparate, Schwestern; aber zugleich spüre ich einen Druck auf der Stirn und auf den Schläfen, als wäre alles nicht wirklich: »Du hast die Arbeit abgebrochen«, sage ich zu mir selbst, aber meine eigenen Worte erreichen mich nicht, mit Gleichmut gleiten sie an mir ab. Worte, die sonst ein Schrecken sind, Worte, die in schlechten Träumen vorkommen, mit denen ich mich selbst bedrohe, wenn ich mich morgens früh nicht wohl fühle und die ich zurückdränge, um meinen Dienst antreten zu können. Ich falle Ben fast in die Arme. Verwundert schaut er mich an, und als er mein Gesicht sieht, greift er nach meinen Schultern. »Ist dir nicht wohl?«, fragt er. »Ich muss etwas klären«, ist meine Antwort. »Du bist nicht im OP?« »Hast du einen Augenblick Zeit?« Sein freundliches, junges Gesicht, die hübschen Augen. Wie konnte ich jahrelang so dumm sein und mir von Olaf etwas erhoffen, das ich bei einem Mann wie Ben viel besser finden könnte? Für einen Moment sehe ich mich fernab von diesem Krankenhaus in einer ländlichen Praxis, die wir gemeinsam führen. Der Blick aus dem Fenster zeigt Wiesen und Felder mit
einem Laubwald am Horizont, davor ergießt sich in eine Mulde das Dorf aus Fachwerkhäuschen, das auch eine Kirchturmspitze hat. Im Hain spielen unsere Kinder… Ich schwanke und stütze mich mit dem Arm gegen die Wand. »Bring mich hier weg!« Bens Gesicht zeigt Besorgnis. »Ich kann dich nirgends hinbringen.« Dann legt er den Arm um mich und führt mich ins Dienstzimmer. »Streck dich einen Augenblick aus.« Jetzt liege ich da, mit Blick zur Zimmerdecke, an deren Rändern der Putz aufspringt, und muss wieder lachen, denn eigentlich sollte ich doch im OP sein, aber dort bin ich nicht. »Ich bin nicht im OP!«, gluckse ich, »Ben ist nicht mein Mann und wir haben auch keine Gemeinschaftspraxis auf dem Land, und es wird auch keine Beziehung mit Olaf mehr geben! Es wird einfach nichts mehr da sein, tabula rasa!« Als Ben wieder da ist, muss ich eingeschlafen sein. Das Tageslicht durchs Fenster ist trübe wie die Abenddämmerung. Er hilft mir, mich aufzusetzen. »Wieder besser?« »Ja.« »Ich rufe ein Taxi, das bringt dich nach Hause. Schlaf dich ein, zwei Tage aus. Ich habe mit der Neugebauer gesprochen. Es geht schon in Ordnung.« »Es ist etwas Schlimmeres. Ich weiß nicht. Mit mir stimmt etwas nicht.« »Mit dir stimmt alles. Vielleicht bist du überarbeitet. Sonst müssen wir weitersehen.« Ben steht auf. »Geh nicht fort!«, rufe ich und halte seinen Arm fest. »Es ist wegen Olaf!« Ich fange an zu weinen. »Olaf?« »Rohde.« »Was ist mit Olaf Rohde?«
»Wir haben eine Beziehung. Es hat keine Zukunft. Ich weiß nicht weiter.« Wenn ich denke, jetzt nimmt Ben mich in die Arme, dann habe ich mich getäuscht. Er steht auf und weicht zurück. Vor dem Fenster geht er auf und ab, dann schaut er auf den Flur, ob niemand in der Nähe ist. »Du fährst jetzt nach Hause«, sagt er. »Heute Abend schaue ich nach dir.« Er greift zum Telefon und ruft ein Taxi. Dann hilft er mir auf, sucht im Spind nach meinem Mantel und führt mich zum Haupteingang. Es ist fast dunkel, dabei ist früher Nachmittag. Ich sitze im Taxi, als ob es noch einmal zu dieser Feier ginge, auf der ich Olafs Frau getroffen habe. Aber ich werde zu meiner Wohnung gefahren. Mir erscheint alles still und leer, als ich mich am Treppengeländer hochziehe. Unordnung, Ungemütlichkeit wehen mich an. Ich falle aufs Bett. Mein Herz schlägt in rasender Geschwindigkeit, ich halte mir die linke Seite. Aber ich bin ja nicht allein. Am Tisch gegenüber sitzt auf dem Stuhl eine alte Frau und lächelt mich an. Es ist Camille Claudel, nach etwa zwanzig Jahren in der Psychiatrie von Montdevergues. Ihr Gesicht ist farblos, die Haut faltig, die Gliedmaßen ihres ehemals kraftvollen Körpers sind aufgedunsen und bleich, da kommt kein Sonnenstrahl hin. »Nun, mein Kind? So ist das, wenn man vergessen wird«, sagt sie zu mir. »Erinnerst du dich an Hermine Edenhuizen?« »Ich gehe täglich unter ihrem Namen her«, ist meine Antwort. »Ich muss durch sie hindurch. Dann treffe ich die anderen Frauen. Die mit Karzinomen und die ohne Kinder.« »Hermine Edenuizen hat gelitten. Als sie ihre Mutter verliert, ist sie neun. Der Vater tut für sie, was im Rahmen der Mädchenerziehung üblich ist. Da hattest du es doch besser? Ein Jahr Pensionat, dann sitzt sie wieder zu Hause. Aber sie möchte mehr, sie möchte Ärztin werden. Hast du so um dein
Medizinstudium kämpfen müssen? Hat es dich Spott gekostet, neben Männern im Hörsaal zu sitzen, die sich für dich schämen, weil du dich mit solch indiskreten Dingen beschäftigst wie mit dem weiblichen Geschlechtsorgan? Die dir erklärten, aufgrund der Anatomie deines weiblichen Gehirns könntest du mit ihnen nicht Schritt halten? Nein, da war dein Abitur mit der Note Eins und bald darauf der Medizinstudienplatz, der dich die Nase etwas höher tragen ließ, wenn du auf deine ehemaligen Schulfreundinnen trafst. Woran also bist du gescheitert? Du willst doch nicht sagen, an den kleinen frauenfeindlichen Sprüchen mancher Ärzte in deinem Krankenhaus?« »Was willst du denn?«, frage ich Camille Claudel, denn ihre Vorwürfe beleidigen mich. »Du hast dich gehen lassen, du bist krank geworden. Alt, fett, und viel zu früh hast du deine Weiblichkeit verloren. Hermine Edenhuizen hat sich durchgesetzt. Sie wurde Gynäkologin, sie vertrat neue Thesen. Und du? Wo warst du im zwanzigsten Jahrhundert? Geistig umnachtet, deine Kunst vergessen…« Camille schürzt die faltigen Lippen und zupft sich an der Hutkrempe. »Mein Kind, bedräng mich nicht. Du möchtest eine Antwort, weil du spürst, dass dir das Gleiche droht. Du stehst an einem Wendepunkt, der ein Endpunkt ist. Könnte es sein, dass du Zeichen von geistigem Verfall spürst und sie dir nicht erklären kannst, weil Frauenheilkunde dir nicht weiterhilft, wo Psychiatrie gefragt ist? Oder sollen wir nicht gleich den Teufel an die Wand malen, nur weil du ein wenig überanstrengt bist, mit deinem Oberarzt Olaf kein Glück hast und auch beim Kollegen Ben keine Unterstützung findest?« Camille Claudel rutscht auf dem Stuhl herum und ihre Gestalt verschwimmt mit der Dämmerung. Ich mache abwehrende Armbewegungen in ihre Richtung. Natürlich ist sie nicht
wirklich da, sie kann nicht da sein, denn Camille Claudel ist seit 1943 tot. Aber ihre Energie ist im Raum, und Camilles Mitteilungsbedürfnis ist immens, ebenso ihr Drang, mich an sich heranzuziehen und mich zu überprüfen, ob es mir ähnlich geht wie ihr. Die Wände dehnen sich und öffnen sich wie ein Tor, dahinter weitet sich ein dunkler Garten, der von hohen Mauern umgeben ist, auf denen sich Stacheldraht ringelt. Es könnte sich um ein Konzentrationslager handeln, aber freilich ist es nur die Bühne, auf der sich Camille Claudel bewegt, eine korpulente Dame mit wehendem Schultertuch, die mit gesenktem Kopf in ihrem Garten auf und ab marschiert.
Ein Klingeln schreckt mich auf und reißt mich aus der Trance. Es ist dunkel, ich taste nach dem Nachttischlicht, es blendet. Mein Blick fällt auf den kleinen Tisch, selbstverständlich sitzt dort niemand, es saß auch keiner dort, natürlich nicht… Ich überlege, ob es Ben ist, er wollte doch kommen. Vor meiner Wohnungstür steht Olaf. In seinem hellen Lodenmantel, wieder einmal mit regennassen Schultern. Mein Mund ist trocken. »Du hast doch einen Schlüssel. Warum nimmst du nicht den Schlüssel?« Olaf schiebt sich an mir vorbei, es ist eine vorsichtige, ruhige Bewegung. »Birgit, bist du nicht in Ordnung? Was war das am Freitag Abend?« Ich fasse mir an die Stirn. »Olaf… Ich bin überanstrengt. Ich habe mich zu viel mit anderen Dingen beschäftigt.« »Es ist unmöglich, wie du mich kompromittiert hast!« »Ich bin ja Luft für dich, wenn sie dabei ist!« »Soll ich gehen?« »Nein. Bleib.« Ich ziehe Olaf am Mantelärmel, bitte ihn, abzulegen. Sein schmaler Hals ist ganz in meiner Nähe, ich
rieche seinen Duft, er ist mit erheblichen Rasierwasserspuren versetzt. Er streift den Mantel ab und hängt ihn an die Tür. Nun sehe ich die Wolle seines Pullovers. Ich möchte mein Gesicht darin wärmen, aber ist Olafs Brust denn wirklich ein Ort dafür? Jung, frisch, erfolgreich, wenn ich das bin, geht alles, aber heute ist mir komisch, ich traue mir selbst nicht über den Weg und verletze mit meiner Art zu sein zugleich ein Tabu. Es gibt eine Grenze zwischen Olaf und mir, und ich höre die greise Camille Claudel im Hintergrund zischeln: Rose, du hast mein Leben zerstört. Die Umklammerung von Olafs Schultern hilft mir nichts mehr; ihn auszuziehen und seine Haut pur zu spüren, hat keinen Sinn. »Olaf, wir müssen reden.« »Worüber, Birgit? Was ist denn mit dir durchgegangen?« »Olaf, es geht tiefer. Ich habe dich geliebt. Ich weiß nicht, ob ich dich noch liebe. In meinem Kopf, aber auch in meiner Brust ist alles so seltsam taub. Mir gehen die scheußlichsten Gedanken durch den Kopf, meine Hände gehorchen mir nicht, ich habe Angst!« »Du bist doch eine starke Frau. Du setzt dich alleine durch. Du bist anders als…!« »Rose Beuret!«, schreie ich ihn an. »Wer?« »Rose Beuret! Sie hat Camille Claudel auf – dem – Gewissen!!!« »Nun beruhige dich mal. Wer ist Rose Beuret und was hat das jetzt mit dir oder mit mir zu tun?« »Wir haben doch Camilles Kunstwerke gesehen, in Paris…« Mein Schreien ist in sich zusammengebrochen, meine Stimme klein geworden. Warum geht es mir jetzt nicht besser, wo er da ist? Ich sehe nur seinen Körper herumstehen, so bedeutungslos in meinem Flur positioniert wie die Plastik eines
uninteressanten Zeitgenossen in einer Ausstellung von Camille Claudel. »Unsere Beziehung ist nicht mehr tragbar, Olaf. Es gibt keinen gemeinsamen Weg für uns. Lass uns einen Schlussstrich ziehen.« Ich stehe vor Olaf, sehe seinen Mantel, der an der Türklinke hängt und beobachte mich, wie ich die Worte der Trennung ausspreche. Davor habe ich mich immer gefürchtet und geglaubt, der Himmel kippt um oder meine Zimmerdecke stürzt ein, wenn ich damit Tatsachen schaffe. Aber es passiert nichts. Ich stehe noch da, und Olaf steht mir noch immer gegenüber. »Ich habe dich sehr lieb gehabt, mehr, als ich dir oftmals sagen konnte«, murmelt er. »Ich habe dir viel von mir gegeben, von meiner persönlichen Energie, von der mein Beruf so viel in Anspruch nimmt. Meine Frau, meine Freunde, gute Kollegen, auch wichtige Geschäftspartner und sogar manche Patienten – alle haben entbehrt, wo du etwas bekommen hast.« »Das reicht mir nicht mehr zum Leben. Ich bin dreißig. Ich möchte mich nicht mehr in der letzten Bank verstecken müssen, wenn der Herr Prof. Rohde kommt. Ich möchte mich schön machen, an deiner Seite stehen.« Olaf lässt mich los, seine Miene verschließt sich. »Du hast immer um die Bedingungen unserer Beziehung Bescheid gewusst. Es gibt Gegebenheiten, die nicht hinterfragbar sind.« »Olaf, es geht nicht mehr. Ich muss nach vorne schauen.« Vor meinem inneren Auge erscheint das Gesicht Bens, dahinter wieder die deprimierende Visage der alternden Camille Claudel, die ich mir zu oft in den Büchern angeschaut habe – ich versuche, die Gebilde mit den Händen zu verscheuchen.
»Du hast Recht«, sagt Olaf. »Vielleicht fühle ich es selbst seit Längerem. Aber für mich ist es auch nicht leicht, dass ein schönes Kapitel meines Lebens beendet werden soll.« »Meinen Wohnungsschlüssel«, würge ich hervor. »Ich habe ihn zu Hause. Du bekommst ihn. Wir werden keine Feinde. Du kannst auf meine Diskretion vertrauen.« Olaf nimmt seinen Mantel. Er nickt mir zu. »Lass dich bitte für ein paar Tage krank schreiben, in deinem eigenen Interesse«, sagt er zu mir. Dann küsst er mich rasch auf den Mund, zieht die Wohnungstür auf und verschwindet im Treppenhaus. Ich bin allein. Ich streife durch die Wohnung und mache überall Licht. Das war die Trennung, sage ich mir. Ich warte noch darauf, dass etwas passiert. Dass ein Gefühl von Einzigartigkeit durch die Luft vibriert, wie es der Fall ist, wenn man spürt, dass eine neue Liebe begonnen hat. Spürt man nicht auch Dramatik, wenn sie endet? Aber alles bleibt still. War das jetzt richtig von mir? Sicher bin ich mir nicht. Ich gehe zu Bett, rühre möglichst nichts an und lasse alle Lichter brennen.
Am anderen Morgen empfinde ich meine Wohnung als staubig und verwüstet, obwohl alles an seinem Platz steht. Die brennenden Lampen irritieren mich. Ins Klinikum kann ich nicht gehen. Ich erkenne mich selbst nicht wieder. Ich bin nicht mehr dieselbe – Selbstwahrnehmung, Empfindung, Wirkung der Außenwelt, nichts stimmt mehr. Eine Studienfreundin fällt mir ein. Sie hat eine psychiatrische Praxis aufgemacht, etwa zu der Zeit, als ich im Hermine-Heusler-Hospital angefangen habe. In alten Terminkalendern blättere ich nach Frankas Telefonnummer und rufe in ihrer Praxis an. Es ist ein unangenehmes Gefühl, mit einer Sprechstundenhilfe
verhandeln zu müssen. »Es ist dringend. Ich bin selbst Ärztin. Franka Hanson und ich kennen uns persönlich.« Wie albern das klingt. Als müsste ich gegenüber dem Mädchen am Telefon rechtfertigen, wen ich kenne! Sie bleibt sachlich, stellt meinen Anruf aber durch. »Hallo Birgit!« klingt es erst fröhlich. »Ruf mich doch lieber zu Hause an, hast du meine Nummer nicht?« »Mir geht es nicht gut. Ich glaube, ich habe eine Krise.« »Ja gut, dann komm in der Praxis vorbei«, meint Franka, und legt auf. Ich suche meine Handtasche und den Mantel, vergiss die Krankenkassenkarte nicht. Nach einem anstrengenden Fußweg finde ich mich in einem hell gestrichenen, mit freundlichen Holzmöbeln ausgestatteten Wartezimmer wieder, in dem ein paar Frauen herumsitzen, eine davon in meinem Alter. Depressionen? Ängste? Welch ungewohnte Umgebung! Was mache ich hier? Franka lässt mich nicht lange warten. Ich stehe auf und betrete das Sprechzimmer. Das intensive Blau fällt mir auf. Der Teppichboden ist petrol, und in dem weißen Regal hinter Frankas Schreibtisch stehen ein paar meeresblaue Schneekugeln, in denen Märchenprinzessinnen tanzen. Franka begrüßt mich mit Küsschen rechts und links, fragt mich nach meiner Arbeit und kommt zur Sache: »Was führt dich her?« Ich versuche ihr zu beschreiben: Das Herzrasen, die Schwindelanfälle, der Druck auf meinen Schläfen und die düsteren Gedanken, die Neigung, mich intensiv mit Phantasiebildern auseinander zu setzen. »Was für Phantasiebilder?« Es ist mir peinlich. Mir ist, als schiebe sich das Gesicht der alternden Camille Claudel zwischen mich und die fragenden Augen meiner Freundin, und die Tränensäcke der Alten werden immer schwerer, bis das salzige Nass ihr über die runzligen Wangen läuft als Ausdruck ihrer flehentlichen Bitte, niemandem zu verraten, wie viel sie mir bedeutet.
»Manche Gedanken und Vorstellungen prägen sich einfach tiefer ein und haben eine nachhaltigere Wirkung, als ich es sonst von mir kenne«, erkläre ich ausweichend. »Und wie geht es dir privat?«, fragt Franka. »Es geht. Eigentlich läuft alles. Ich hatte eine längere Beziehung zu einem verheirateten Mann, er ist Oberarzt in unserer Klinik, aber ich löse mich von ihm. Ich denke, es geht ganz gut.« »Und sonst?« »Ich habe einen ganz netten Kollegen, er ist etwa so alt wie ich.« Ein Gedanke, der Hoffnung in mir auslöst. »Na ja, mal sehen«, meint Franka. »Es scheint einiges bei dir in Bewegung zu sein.« Dann macht sie sich ein paar Notizen in eine neu angelegte Karteikarte. Am liebsten möchte ich mich vornüberbeugen und hineinschauen, aber ich halte mich zurück, denn ich bin hier nicht zuständig. Franka mustert mich ernst. »Ich glaube, du musst dich die nächste Zeit etwas schonen. Hast du in absehbarer Zeit Urlaub?« »Nein. Ich hatte im November ein paar Tage. Dafür muss ich zwischen den Jahren arbeiten.« Fragend schaue ich Franka an. Ich hole mir nur ungern Rat von Kollegen. »Was vermutest du denn, was mit mir ist?« »Du hast ein psycho-vegetatives Erschöpfungssyndrom. Am besten, du klinkst dich für ein paar Tage aus allem aus. Es ist aber besser, wenn dein Hausarzt dich krank schreibt. Mein Attest solltest du deinem Arbeitgeber nicht gleich unter die Nase halten. Hast du irgendwo Verwandte? Kannst du dich auf dem Land etwas ausruhen?« Meine Eltern fallen mir ein. Sie haben einen Bungalow in der Vorstadt. Aber will ich dort hin?
»Ich denke darüber nach«, sage ich zu Franka. Sie schaut mich beinahe entschuldigend an: »Ich werde dir auch ein Medikament verschreiben. Nimm es vorsichtshalber eine Weile ein, vielleicht auch über die Weihnachtsfeiertage.« Franka lässt ein Rezept durch ihren Drucker schnarren. Ein Neuroleptikum steht darauf. Dann schaut sie zur Uhr. »Es tut mir Leid. Das Wartezimmer ist noch voll. Vielleicht können wir mal miteinander einen Kaffee trinken gehen.«
Zuhause am Küchentisch schaue ich mir das Medikament genauer an und studiere den Waschzettel. Die Wirkstoffe gefallen mir nicht. Einnehmen oder nicht? Franka hat es empfohlen. Ich schlucke eine Tablette mit viel Wasser. Es kommt mir seltsam vor. Ein Neuroleptikum zu nehmen passt nicht zu meinem Selbstbild. Als das Telefon klingelt, durchzuckt mich die wahnwitzige Idee, es könnte Olaf sein, der nochmal über alles nachdenken, mit mir sprechen, mit mir für ein paar Stunden kuscheln will. Aber es ist Ben, der mich fragt, ob alles in Ordnung ist. Er entschuldigt sich, dass er gestern nicht wie versprochen vorbeikommen konnte, er war bis 23 Uhr im Dienst. »Doch, alles ist gut.« Meine Fingernägel spielen auf der Tischplatte. »Bist du morgen wieder da?« »Nein.« Mein Halsmuskel verengt sich, weil ich Sorgen habe, dass Ben nachfragt. »Sollen wir uns mal treffen? Privat, meine ich. Vielleicht möchtest du reden.« Verflixt! Ich habe ihm von Olaf erzählt! Ja, ich möchte mit Ben sprechen. Aber er hat erst in zwei Tagen Zeit. Nach dem Telefonat lösche ich in der ganzen Wohnung das Licht und setze mich ans Fenster. Es ist schon wieder dunkel. Draußen
rieseln Schneeflocken, die im Licht der Straßenbeleuchtung und der Autoscheinwerfer aufglänzen. Mein Atem ist ruhiger, mein Herzschlag langsamer geworden. Vielleicht ist es wirklich nur eine Erschöpfung.
III
Camille sitzt als ungepflegte Matrone in einer düsteren Wohnung, die sie nur noch mit Katzen teilt. Ihre Möbel hat sie verkauft, weil sie ihre Rechnungen nicht bezahlen kann. Sie weiß: alles hat Auguste Rodin verursacht, er verfolgt sie und lässt sie ihrer letzten Besitztümer berauben. Auf Das reife Alter hat er mit Empörung reagiert. Camille Claudel arbeitet nicht mehr. In Paris Camille verrückt, notiert der Bruder Paul. Die Tapeten in langen Streifen von den Wänden gerissen, ein einziger kaputter und zerrissener Sessel, furchtbarer Schmutz. Sie selbst ist fett und schmutzig und redet ununterbrochen mit monotoner und metallischer Stimme. Als sie vom Tod ihres Vaters erfährt, fängt sie an zu schreien und wirft den Müll, der in ihrem Zimmer herumliegt, ins Feuer. »Ich muss ein Opfer bringen!« knirscht sie zwischen den Zähnen, zerschlägt Gipsreste und schüttet sie auf den Boden. »Haufen! Haufen! Scheiterhaufen! – Ihr sollt meines Vater Seele freikaufen!« Die Tür zu ihrem Verschlag wird aufgebrochen. Zwei Krankenwärter ergreifen die sich Wehrende mit Gewalt. Sie wird in einen Transporter verfrachtet. Es ist vorbei. Camille Claudel wird Paris nie Wiedersehen. Sie wird kein Kunstwerk mehr erschaffen, keinen Mann lieben, kein Erfolgserlebnis genießen, kein Kind erziehen.
Auch meine Wohnung ist einsam. Vor mir liegt eine Packung mit Medikamenten, die man bei psychischen Erkrankungen nimmt. Am nächsten Tag fasse ich mir ein Herz und rufe einen Allgemeinmediziner an, der mir vor zwei Jahren ein Attest
wegen eines grippalen Infektes ausgestellt hat. Ich lasse mich bis Weihnachten krank schreiben. Wenn man täglich zwischen neun und vierzehn Stunden arbeitet, ist man froh über einen freien Abend oder einen freien Tag. Man ruft die Eltern oder Freunde an, um sich zu entschuldigen, wie lange man sich nicht gemeldet hat. Man geht zum Sport, macht einen Spaziergang, besucht ein Theaterstück oder sieht einen Film. Man freut sich auf jedes Treffen mit dem Geliebten, um einen behaglichen Augenblick lang innezuhalten, fragt möglichst nicht nach dem Morgen, sondern genießt den Duft seiner Haut oder den beruhigenden Klang seiner Stimme. Aber wenn man sich nicht wohl fühlt und über den eigenen Zustand in Unsicherheit befindet, werden die Tage, an denen man nicht arbeiten geht, lang. Ich weiß: Morgen Nachmittag treffe ich Ben. Wir werden in der Altstadt einen Kaffee trinken gehen… Ich rufe meine Mutter an und erkläre ihr, dass ich zu Hause bin. Es ist ja nur für kurze Zeit, versichere ich ihr. Meine Mutter sagt gleich: »Du klingst nicht gut. Möchtest du nicht kommen, um dich zu erholen?« »Naja, vielleicht«, weiche ich aus, das Telefon zwischen Schulter und Ohr geklemmt. Ihr Schweigen am anderen Ende deutete ich als ihre nicht gestellte Frage, ob meine Beziehung zu Olaf Rohde noch existiert. Ich hätte meinen Eltern nie davon erzählen sollen. Hätte ich nichts gesagt, hätten sie vielleicht gedacht, ich lebte allein. Ich sei eine fleißige Ärztin und hätte alle beruflichen Erfolge auf meiner Seite, aber das Privatleben sei darüber leider auf der Strecke geblieben. »Vielleicht muss man sich als Frau denn doch zwischen einem anspruchsvollen Beruf und einem erfüllten Privatleben entscheiden«, hat meine Mutter mir einmal gesagt. Es muss vor einem oder zwei Jahren gewesen sein, auch zur
Weihnachtszeit. Ich hatte geholfen, den Weihnachtsbaum zu schmücken, und die Glaskugel war mir beinahe aus der Hand gefallen. »Ich habe ein Privatleben«, war meine Entgegnung gewesen. »Wir haben nur wenig Zeit.« Die Antwort meiner Mutter war: »Eine Beziehung mit einem älteren, verheirateten Mann ist kein Privatleben. Es ist nur Ersatz.« Sie verließ das Zimmer. Ich war versucht, ihr etwas Heftiges zu entgegnen, bezwang mich aber, denn ich fürchtete, dass sie das letzte Wort haben würde. Es wurde ein unterkühlter Heiliger Abend, und ich war froh, an den Feiertagen Dienst zu haben. Olaf war am folgenden Tag sehr zärtlich zu mir. In einem unbeobachteten Moment feierten wir ein winziges Weihnachtsfest im Krankenhaus hinter dem Weihnachtsbäumchen, das die Schwestern auf dem Couchtisch im Flur aufgestellt hatten. Er schenkte mir eine Armbanduhr und ich ihm goldene Manschettenknöpfe. »Ich wünsche dir alles Gute«, sagt meine Mutter. Und fügt hinzu: »Ich hoffe, dass wir uns in den Weihnachtstagen sehen. Kommst du am Heiligen Abend nach Hause?« »Mal sehen. Ich meld’ mich.« Nach dem Telefonat will ich weinen, aber Augen und Kehle bleiben trocken. Meine Mutter war als junges Mädchen ehrgeizig und klug gewesen, hatte trotz Geldknappheit durchgesetzt, das Abitur zu machen, und ein Medizinstudium begonnen. Aber die Begegnung mit dem netten Bankkaufmann wurde ihr schon bald wichtiger, dann war wohl ich unterwegs, und es folgten erst die Heirat, dann meine Geburt und zwei Jahre später die Geburt meiner Schwester. Ich hätte zu ihr sagen können: »Gut, du hast Recht gehabt. Ich habe mich von Olaf getrennt.« Oder: »Ich versuche, mich von ihm zu trennen. Er ruft jeden Tag an oder schickt Blumen, um mich zu halten, aber ich habe eingesehen, dass eine Beziehung ohne Zukunft
nur mürbe macht und keine Freude schenkt.« Oder, noch ehrlicher: »Er kommt weder vorbei, noch schickt er Blumen. Er nimmt es einfach hin, dass ich sage, es ist vorbei.« Jetzt wird mir erst wirklich begreiflich, dass meine geliebte, zärtliche Beziehung mit Olaf sich einfach in Nichts auflöst! Ich bin allein in meiner Wohnung, warum kann ich da nicht weinen? Ich versuche es wieder; erst kommt nur ein trockener Husten, dann Tränen. Ich fühle, wie mir der Hals weh tut und wie schwierig es ist, das Schluchzen und die salzigen Tropfen hervorzuwürgen, aber raus damit, denn Weinen bringt Befreiung, und danach stellt sich Erleichterung ein, der Blick nach vorn wird wieder möglich. Ich weine, und es hört nicht auf. Ich lege mich aufs Bett, weine. Die Tränen versiegen, ich setze mich auf die Toilette, die Tränen beginnen von Neuem. So kann ich nicht aus dem Haus gehen. Aber ich muss auch nicht aus dem Haus gehen. Plötzlich wieder Kopfschmerzen, der Druck auf den Schläfen. Und Angst. Angst, dass sich mit mir etwas verändert hat, was ich nicht mehr steuern kann. Denn ich habe jetzt so laut geweint, dass der Kehlkopf schmerzt, aber ich fühle mich nicht frei. Im Gegenteil, alles ist zugeschnürt. Ich bin ja krank, in einer Weise arbeitsunfähig, die mir nun auch der Hausarzt attestiert hat. Vielleicht hilft ein Schrei, um frei zu werden? Schreien ist besser als Weinen. Ich schreie! Ich reibe mir die Augen, die längst wieder trocken sind. Ich schreie nicht Olafs Namen, ich schreie einfach nur so. Bis es an der Tür klingelt und ich überzeugt bin, dass es Olaf ist, der merkt, dass er nach mir schauen muss. Aber draußen steht ein Fremder. Mit roten Haaren und Bart. Es könnte Auguste Rodin sein, aber wie kommt er hierher? »Sie sind hier falsch. Sie wollen zu Camille Claudel. Das bin ich nicht. Ich warte auf jemand anderen!«
Ich will die Tür zuschlagen, aber der Fremde drückt den Arm dagegen: Es sei so laut gewesen. »Entschuldigung.« Es ist der Nachbar von unten, er war von Rodin nur eine Augenblicksinkarnation. Er kann ja nichts dazu. Als er weg ist, zittere ich am ganzen Körper. Ich mache Lichtschalter an und wieder aus. Es wird ja so früh dunkel. Auf dem Sofa wickle ich mich in eine Decke und schalte den Fernseher ein. Eine Schimpansin trägt ein Junges auf ihrem Arm. Mit braunen Augen schaut sie mich an. Es ist der Blick eines Tiers, das nicht sprechen und über sich selbst reflektieren kann. In welchem Augenblick der Evolution kam es zur Spaltung zwischen Mensch und Tier? Es muss einen grausamen Mord gegeben haben, der den Keil in die Geschichte der Menschheit schlug. Vor meinem inneren Auge kann ich ihn sehen: Es ist an einer Feuerstelle, und der Mord geschieht aus Eifersucht. Der Mann, ein Urmensch, nähert sich von hinten einer Frau und schlägt ihr den Kopf mit einem Steinmesser ab, denn er gönnt sie seinem Nebenbuhler nicht. Die Eifersucht ist das erste Tötungsprinzip, das über den reinen Lebenserhalt durch Nahrungserwerb oder Verteidigung hinausgeht. Die Sünde ist geboren und mit ihr das Schuldgefühl. Als zweites Drama folgt das Sodomieverbot. Der Geschlechtsverkehr zwischen Menschen und Tieren wird untersagt. Dadurch trennt sich der Mensch vom Tier. Die Wesen, mit denen die Sippe der Urmenschen sich die Kopulation verbietet, sind die Affen. Beide Gruppen dürfen nur noch untereinander kopulieren. Ein unbestimmtes Wesen, ganz uralt, muss es mitten in seinem Herzen gespalten haben, denn es war halb Mensch, halb Tier, und es kopulierte nicht mehr. Seitdem sind wir durch die Schulderfahrung unserem eigenen Dasein entfremdet. Es bedurfte keiner Eva, die einen verbotenen Apfel aß! Das Unheil pflanzte sich fort über Generationen und Generationen,
bis es zu Rodin kam, der an die sündhafte Eva glaubte und der mit Camille liiert war und sie begehrte, und der dafür Höllenqualen fürchtete, denn dem Sodomieverbot war das Verbot der unehelichen Liebe gefolgt. Deshalb Dante, immer wieder Dante, und daneben die Schuldgefühle gegenüber seiner Rose, die die legitime Gefährtin war. Zwar ohne Trauschein, aber sie hatten das Kind gezeugt, das Camille nicht haben durfte. Camille wurde zerstört, Rodin hat überlebt. Und jetzt ist das Unheil bei Olaf und mir angelangt, die wir vergeblich versuchten, den Riss mit Zärtlichkeit zu kitten. Und irgendwo war immer das abgespaltene dritte Element, seine Frau, die darbte und erkaltete, und die ein giftiger Körper geworden ist. Als es hell ist, fühle ich Ruhe. Heute bin ich mit Ben verabredet. Der Tag hat eine klare Ordnung. Ich beginne ihn mit einem leichten Frühstück. Dann beschließe ich einen längeren Spaziergang. Ich fahre mit der S-Bahn Richtung Süden an einen See, der graubraune Wellen schlägt, und dessen Uferpromenade von kahlen Platanen und an anderer Stelle von Pappeln und Weiden gesäumt ist. Dieser See, der vielen aus der Region ein Stück Naherholung und Heimat bietet, steht in wichtiger Beziehung zur Stadt. Jetzt ist es kalt, nicht die Zeit, sich auf die Mauern zu setzen und die Segelboote und Surfer zu beobachten. Also wandere ich und kehre in die Stadt zurück, um das Cafe aufzusuchen, wo ich mit Ben verabredet bin. Ich komme nur wenige Minuten zu spät. Es ist voll, die Stimmen der vielen Gäste verschwimmen zu einem dumpfen Rumoren. Der imaginäre Spot ist auf ein rundes Tischchen gerichtet, an dem Ben mich erwartet. Ich setze mich ihm gegenüber und betrachte seine aus dem Kontext des Krankenhauses herausgerissene Gestalt. Wer ist Ben? Ist er an dieser Stelle für mich bedeutungslos geworden oder beginnt hier seine neue Rolle in meinem Leben? Er fragt
mich nach meinem Befinden, im Ton von Kollege zu Kollegin, und ich antworte in derselben Stimmlage, um mich auf ihn einzuschwingen. Eine Kellnerin bringt mir einen Milchkaffee, ihm einen Tee. Es passt nicht, denke ich, und vertausche die Getränke. Ben wartet einen Augenblick ab, taxiert mich mit einem verwunderten Blick. Dann macht er den Tausch rückgängig. So soll es sein, deute ich: Tausch hin, Tausch zurück. Jetzt kann der Austausch beginnen. Aber was soll ich ihm sagen? Er fragt wieder, ob mich etwas bedrückt. Ich kann ihm noch nichts erzählen. Es ist eine andere Welt. Statt dessen frage ich ihn, ob er Lust hätte, später mit mir ins Kino zu gehen. Ich war lange nicht mehr mit einem Mann im Kino. »Was möchtest du denn sehen?« »Etwas über die Menschheitsgeschichte. Über die Urformen des Daseins. Oder einfach etwas Schönes. Eine Liebesgeschichte. Hast du eine Freundin, Ben?« »Dass dich das interessiert? Nein, ich lebe allein. Es gibt immer mal Flirts, aber etwas Solides hat sich seit meiner letzten Partnerschaft nicht mehr entwickelt.« »Macht es dir etwas aus?« »Wer sucht nicht manchmal nach der Richtigen?« »Ich war mehrere Jahre überzeugt, dass Olaf der Richtige ist«, setze ich an. Bens Gesicht ist mir zugewandt. Interesse? Teilnahme? Oder mehr? »Hast du dich da nicht in etwas verrannt?« fragt Ben. »Er kann so ein zauberhafter Mann sein. Er hat mir so viel gegeben.« »Aber es macht dich doch kaputt! Hast du erwartet, dass er seine Frau verlässt?« »Ich konnte so leben, auch mit der Existenz seiner Frau. Ich dachte, ich könnte auch weiter so leben, aber es geht nicht mehr.«
Noch zu keinem aus der Klinik habe ich etwas so Persönliches gesagt. Auf dem Weg zum Kino legt Ben den Arm um mich. Aus einem Impuls heraus möchte ich mich anschmiegen wie an Olaf, aber sein Körper strahlt eine leise Distanz aus, die mich davon abhält. Trotzdem spüre ich seine Wärme und seinen frischen Duft. Wenn etwas entstehen soll, dann muss es langsam wachsen, sind meine Gedanken. Ben entscheidet sich für einen Hollywoodstreifen. Im Kino lasse ich mich von der Werbung, dann von einer Filmhandlung treiben, in der eine tapfere Mutter, die ihren Mann verloren hat, um neues Liebesglück kämpft… Nachher möchte Ben mich gleich nach Hause begleiten, weil er am anderen Morgen Frühdienst hat. Schneeflocken rieseln zwischen den Häusern vom Himmel, um sich auf dem nassen Asphalt aufzulösen. Vor der Haustür umarme ich Ben und gebe ihm einen Kuss. »Kannst du dir mit mir eine Beziehung vorstellen, Ben?« Erstarrt schiebt er mich von sich weg. »Wir sind Kollegen, Birgit. Vielleicht werden wir eines Tages Freunde sein. Wie kannst du so etwas fragen?« Er umfasst meine Handgelenke und löst meine Umarmung auf. »Du musst ganz schön durch den Wind sein.« Er klopft mir auf die Schulter. »Schlaf dich erst einmal richtig aus.« Ben verschwindet im Dunkel. Mit zitternden Fingern schließe ich die Haustür auf, blicke kurz an dem mondänen Altbau empor, dessen Fenster erleuchtet sind, außer in meinem Stockwerk. Ich habe eine riesige Dummheit begangen. Es wird eine Katastrophe geben, wenn ich Ben im Klinikum wieder begegne. Meine Maske ist gefallen, und ich bin splitternackt. Ein leises Wimmern kommt aus meinem Inneren, als ich mich durchs unbeleuchtete Treppenhaus die Stufen hinauf schleppe. Im zweiten Stock geht die Tür auf. Es ist der Auguste-Rodin-
Ähnliche, der mich beschimpft: »Dann machen Sie sich doch wenigstens Licht an!« Nun ist der Flur beleuchtet. Die Stille meiner Wohnung will mich erschlagen. Immer noch zittere ich. Was habe ich getan? Wie konnte ich mir Ben gegenüber eine solche Blöße geben?
Ich muss hier weg. Im Schlafzimmer reiße ich Schränke und Kommoden auf. Nur das Nötigste brauche ich für meine Flucht, schweres Gepäck ist hinderlich. Eine Unterhose, einen BH, ein Hemd, zwei Paar Strümpfe, einen warmen Pullover. Aber ich ziehe sicherheitshalber das blaue Kleid an und den schwarzen Mantel, mit dicken Stiefeln. Das blaue Kleid zeigt an, dass ich von der Beziehung mit Olaf noch ummantelt bin. Ben muss sich von mir fernhalten, und ich muss fort. Die Schlüssel darf ich nicht vergessen, mein Geld und meine Papiere. Sie sind die Sicherheitsausstattung meiner Identität. Es schneit noch immer. Aber der Asphalt bleibt schwarz und blank. Ich muss mich auf meine Intuition verlassen, wohin mein Weg mich führt. Schaufenster muss ich meiden, denn sie bedeuten Verführung. Das Ausgeben von Geld ist nicht gestattet, denn ich muss die Reste meiner Barschaft zusammenhalten, bis der Stoffwechsel der Materie wieder erlaubt ist. Die Farben der Autos sind mein Wegweiser. In den dunklen Autos wohnt das Böse. Sie sind das Nein. Die hellen Autos sind die positive Orientierung. Am überzeugendsten sind Taxis, denn sie sind weiß und bringen die Menschen zu Zielen ihrer Freude. Taxis fahren zu Festen und Empfängen. Ich halte mich dicht an den Häusern und folge den Straßen nach rechts und nach links. Ich verlasse mein Viertel, auf dem ein Bann liegt, dessen Zentrum das Haus ist, in dem ich wohne. Aber ich darf auch nicht vom Rand meines persönlichen Universums herunterfallen. Zum Glück tut sich
eine weitere Orientierungshilfe auf. Im Scheinwerferlicht nachfolgender Fahrzeuge kann ich die Nummernschilder der Autos dechiffrieren. Ein Kennzeichen meiner Heimatstadt ist positiv. Wenn ich der Leitlinie der Nummernschilder folge, bleibe ich in der Atmosphäre des Gangbaren. Ein großes schwarzes Fahrzeug mit fremden Buchstaben kreuzt meinen Weg. Stop! Hier lauert Gefahr. Ich darf nicht gesehen werden. Eng drücke ich mich gegen eine Hauswand. Mein Mantel steht weit offen und der Schneeregen durchtränkt mein blaues Kleid. Ich greife mir an die Brust und fühle den klammen Stoff, versuche ihn von meinen Brüsten, auf denen er klebt, zu lösen. Ja, das blaue Kleid zersetzt sich. Es sollte ein Signal für Olaf sein, ich leichtsinniges, naives Geschöpf! Aber Olaf wird nicht mehr kommen, und in dem Maße, in dem seine Zuneigung dahinschwindet, löst sich auch die Materie, die sich mit ihm verbindet, auf und wird zerstört. Dass ich das nicht gewusst habe, dass die Materie verknüpft ist mit der Liebe oder dem Tod der Personen, die mit ihr in Beziehung stehen! Die Frauen, deren Gebärmuttern verfaulen, verfaulen selbst, und wir operieren sie mit spitzen Fingern. Geh weit weg!, ruft mich eine Stimme. Geh fort von dem Krankenhaus, über dem ein Fluch liegt! Suche das Gute. Aber was ist das Gute? Mir wird klar, ich suche meinen Bräutigam, aber Ben ist es nicht, denn Ben ist nur das Pendant zu Claude Debussy. Ein Mann in Camilles Alter, ein Hoffnungsschimmer, aber doch nur ein Kollege, bei allen kleinen Grenzüberschreitungen, die es zwischen ihnen gegeben haben mag. Wenn ich nun Ben zu Hause besuchte, und er würde mir auf dem Klavier etwas vorspielen, was wäre dann? Oder wenn er mich mit seinen Karriereplänen als Frauenarzt langweilen würde? Debussy erkannte später: Ach, ich hatte sie wirklich gern und liebte sie mit um so traurigerer Glut (…). Bleibt zu fragen, ob sie alles enthielt, was ich suchte! Ob es nicht das Nichts war! Recht
hast du, Claude. Es ist das Nichts. Meinen wahren Bräutigam kann ich nicht finden, denn ich trage das falsche Kleid. Also ziehe ich das Kleid aus. Schwierig, wenn alles so klamm und verklebt ist. Ich werfe es in einen dunklen Hauseingang. Wenn ich meinen Mantel direkt vor der Brust verschnüre, wächst mir vielleicht ein neues. Die Tasche in meiner Hand wird auch immer schwerer. Plötzlich hält ein Auto neben mir. Es muss ein gutes sein, denn es hat viel Weiß. Aber das Taxischild fehlt. Ich laufe an dem Auto vorbei, um sein Nummernschild zu sehen. Vorsicht! Fremdes Kennzeichen. Das Auto ist grün und weiß. Ein Polizist steigt aus und hält mich fest. Es sind zwei. Der andere hat das Kleid aus dem Hauseingang gefischt. »Wer sind Sie? Sind Sie betrunken?« Der Polizist hat einen Bart und riecht an meinem Mund. »Ich bin nicht betrunken. Ich bin auf dem Weg zu meinem Bräutigam. Aber ich kenne ihn noch nicht. Bitte, verlangen Sie keine Personenbeschreibung.« »Sind Sie aus einer Klinik entlaufen?«, fragt der andere. Das bin ich nicht! »Ich bin nur krank geschrieben!«, verteidige ich mich. Der erste hat mir die Handtasche weggenommen und wühlt in meinen Papieren. »Ach, ja, Frau Doktor«, sagt er mit einem Gemisch aus Respekt und Zynismus. »Ich glaube, Sie kommen mit uns.« »Zur Wache«, sagt der zweite. Ich will nicht auf die Wache. »Wo gehören Sie hin? Wir bringen Sie nach Hause.« »Nein, nein.« Meine Zunge fühlt sich wie ein Klumpen an. Ich nenne eine Adresse. Es ist die Anschrift meiner Eltern. Ich werde auf den Rücksitz verfrachtet, und die Fahrt geht los. Doch ein Taxi? Aber es hat ein böses Kennzeichen. Vorsicht! Warnung! Es fährt mich wohl nicht zu meinem Bräutigam. Der bärtige Kollege fährt, der andere sitzt neben mir, mit dem
Kleid auf dem Schoß. Seine Augen blicken schamhaft an meinem Körper vorbei. Meine Knie in zerrissenen Strumpfhosen schlottern zwischen den Mantelenden. »Ich bin nur etwas durcheinander«, sage ich plötzlich. »Ich habe Angst, dass ich nicht mehr arbeiten kann.« »Sie sehen nicht wie jemand aus, der arbeiten kann«, sagt der Mann neben mir. »Ich glaube, sie ist aus irgendeiner Klapse abgehauen. Wir sollten das überprüfen.« Aber der andere fährt weiter. Er fährt aus der Stadt heraus zu einem Vorort, den ich kenne. Er hält vor einem mir vertrauten Bungalow. Allein geht er zur Tür, und ich sehe, wie dahinter Licht angeht. Vor der Tür rieseln die Schneeflocken. Ich sitze neben dem Kollegen im Auto und ziehe die Mantelenden zusammen. Es ist kalt. Jetzt kommt der andere zum Wagen: Mit meinem Vater und meiner Mutter. Ich will aussteigen, aber die Tür lässt sich nicht öffnen. Ich muss warten, bis der Bärtige von außen öffnet. Dann krieche ich aus dem Auto und breite die Arme aus, um meinen Eltern entgegenzugehen. Ihre Mienen sind seltsam unbeweglich. »Ist das Ihre Tochter?«, fragt der Bärtige und bekommt eine Bestätigung. Der Mann dreht sich zu mir um. »Wenn Sie wirklich Ärztin sind, wie Sie sagen, dann seien Sie froh, dass wir kein Protokoll aufgenommen haben. Machen Sie, dass Sie wieder klar sehen. Ich wünsche Ihnen Glück.« »Birgit! Birgit! Was ist? Warum die Polizei? Wieso hast du nichts an?« »Ich bin auf der Suche nach meinem Bräutigam, aber unterwegs bin ich vom Weg abgekommen«, ist meine Antwort. »Komm rein.« Mein Vater hält meinen Arm sehr fest. Sie führen mich ins Haus. Im Bad trocknet meine Mutter mir die Haare. Mein Vater lässt die Badewanne einlaufen. Meine
Mutter kippt die durchnässten Habseligkeiten aus meiner Tasche auf den Boden. »Ich habe doch am Telefon gemerkt, dass was nicht stimmt. Warum bist du nicht gleich gekommen?« Ich bin ein Kind. Ich werde gebadet. Das Wasser ist angenehm warm. Vielleicht muss man sich ein paar Jahrzehnte zurückentwickeln, um dann in einem neuen Anlauf zu seiner vollen Blüte heranreifen zu können. Den Pyjama, den meine Mutter mir reicht, habe ich mindestens zehn Jahre nicht mehr getragen. Aber es ist warm hier. In meinem alten Zimmer steht noch das Bett aus den Teenagertagen und dem Beginn des Studiums. Vom Regalbrett lächeln mich die Puppen, Stofftiere und ein paar Bücher an. Ich krieche ins Bett, und meine Mutter setzt sich zu mir wie früher, als ich noch ein kleines Mädchen war, nur dass ihr Gesicht jetzt beunruhigend schwächlich wirkt und alt. Mein Vater kommt mit einem Glas, in dem er eine Tablette auflöst. »Du bist doch nicht schwanger?«, fragt meine Mutter. Nein, ich denke nicht, eher ist eine gefräßige Höhle in meinem Unterleib, sie ist von Schwermetallen verseucht. »Dann kannst du das trinken. Es ist ein Schlafmittel.« Eine angenehme Schwere breitet sich aus. Im Flur bleibt das Licht brennen, wie in meiner Kindheit. Ich halte mich an der Bettdecke fest und atme den Geruch von früher. Natürlich muss ich zuerst in die Kindheit zurückkehren, bevor der Bräutigam kommt. Ich habe gedacht, es ist ein Ausflug, aber tatsächlich habe ich eine Zeitreise gemacht. Meine Lider werden schwer. Im Wohnzimmer höre ich meine Eltern erregt sprechen, wie früher, wenn es etwas Aufregendes gab, vor dem sie uns Kinder beschützten. Anderntags ist es ruhig im Haus. Vorsichtig verlasse ich das Zimmer, um mich zu orientieren. Die Räume sind friedlich,
und es schaut freundliches Tageslicht herein. Die kurzen Grashalme der Wiese sind mit Raureif bedeckt. In eine Ecke des Gartens scheint Sonnenlicht, das einen Lichtfleck bis auf die Terrasse wirft und einen leichten Glanz auf der Fensterscheibe hinterlässt. Das große Wohnzimmer mit der wohnlich abgeschabten Ledergarnitur ist warm. Barfuß laufe ich über die Flokati-Teppiche. Es ist angenehm hier, die Zeit scheint seit Jahren stehen geblieben zu sein. Heute ist heute. Die Räume kämpfen mit den Zeitebenen und sind noch nicht einig mit sich. Nur das Zimmer meiner Schwester ist erwachsener geworden. In der Küche hängt ein Geruch, der von ersten Verfallserscheinungen kündet. Es ist das drohende Alter meiner Eltern, das durch die Ritzen strömt. Mein Wahrnehmungsvermögen ist präzisiert, normalerweise bemerke ich so etwas nicht. Aber jetzt kann ich die Schwaden mit den Händen ertasten. Die aufstrebende Energie, die aus dem Zimmer meiner Schwester dringt, tritt mit dem Odem des Alters in Konflikt, der aus der Küche und dem Schlafzimmer meiner Eltern kommt. Im Flur und im Wohnzimmer mischen sich die Sphären. Mein Zimmer ist ausgeklammert. Es ist ein Kasten, der zwar architektonisch noch zum Ganzen gehört, aber gleichzeitig einen Fremdkörper darstellt. Es wartet auf seine Wiederbelebung. Es wartet auf den Bräutigam, der dort seine Braut herausholt und sie durch das Haus trägt, um in einem neuen Haus die Nabelschnur zwischen der Braut und dem Haus ihrer Eltern zu durchtrennen. Dann wird sich die Wirkung auf das Zimmer der Schwester übertragen, und wenn die Zeichen der Zeit so sind, wie es ihnen gemäß ist, wird der empordrängende Geist meiner Schwester entfliehen und der Sog des Absterbens wird sich in diesem Haus ausdehnen. Es wird sein Licht verlieren und zu stinken beginnen wie andere Häuser, in denen alte Menschen wohnen, die bald sterben. Ich muss das verhindern oder wenigstens aufschieben, bis mein
Bräutigam da ist, den meine Eltern lieben. Sie werden seinen Brustkorb mit ihren Fingern berühren dürfen, und es wird neue Kraft in sie hineinfließen, durch die sich Jugend in diesen Wänden ausdehnen kann, auch wenn wir fortgehen werden. Ich werde mit meinem Mann nicht hier leben. Ich muss die Energien im Haus besser mischen, damit es nicht zu einem Kampf auf Leben und Tod zwischen meiner Schwester und meinen Eltern kommt und mein Bräutigam es nicht so schwer hat, wenn er hier ist. Weihnachten naht, und dieses Fest soll verknüpft werden mit meiner Verlobung. Meine Eltern sind fort, um den unbekannten Bräutigam vom Zug abzuholen. Sie kennen ihn ja selbst noch nicht. Er wird sich durch ein Zeichen zu erkennen geben. Bis dahin muss ich aufräumen. Die Energie muss besser verteilt werden. Vor allem die Küche ist gefährlich. Zu viele Dinge sind von der Todesdrohung, die über meinen Eltern schwebt, bereits vollgesogen. Das betrifft die Kaffeemaschine, eigentlich ein Symbol der Jugend, und das silberne Besteck in dem Koffer auf dem Schrank, in dem sich die verzweifelten Altersängste meiner Großmutter angesammelt haben. Die Messer, Gabeln und Löffel haben die Poren aufgerissen und ziehen den Sog des Todes an. Ich muss Kontraste schaffen und diese Dinge in das Zimmer meiner Schwester bringen. Auf Ingas Teppichboden öffne ich den Besteckkasten und hole alle Teile heraus. Ich verteile sie in einem sternförmigen Arrangement, die Messer weiter innen (denn sie sind scharf und bergen Gefahren), dann die Gabeln und die Löffel am weitesten nach außen. Teelöffel und Kuchengabeln (sie symbolisieren die Kinder, die noch geboren werden sollen) drapiere ich dazwischen, so dass sie von den großen Bestecken Schutz erfahren. Aber die Suppenkelle und die Fleischgabel? Sie haben etwas Brutales an sich, und ich will sie nicht in den Kreis integrieren. Doch sie verlangen ihren Platz. Irgendwo
müssen sie hin. Wenn sie einfach ausgeschlossen werden, wird es zu einem Racheakt kommen, und die ganze Zimmerweihe hat keinen Sinn. Die Licht- und Wasserenergien muss ich ebenfalls noch besser verbinden, damit das Böse nach unten abfließen kann. Also werfe ich die großen Bestecke hinter den Schreibtisch, damit sie nicht stören. Ich schließe die Kaffeemaschine an der Steckdose neben der Tür an und lasse sie mit klarem Wasser durchlaufen. Das schafft Transparenz, der Energieaustausch in der Vertikalen ist gewährleistet, und der Besteckkreis kann positive Energien aufnehmen und die Zirkulation in der Horizontalen einleiten. Meine Mutter steht hinter mir. Sie hat Einkaufstüten in der Hand. Ihre Stimme ist unverhältnismäßig laut und durchbricht den Energiefluss, in dem ich mich gerade befinde. »Birgit, was machst du hier in Ingas Zimmer?« Ich starre meine Mutter wortlos an. Mir will keine Erklärung über die Lippen. Alles bedürfte einer längeren Übersetzung in die Sprache meiner Mutter, die so auf die Schnelle nicht möglich ist. Irritiert schaue ich an ihr vorbei und sehe nur die Tüten in ihrer Hand. »Wo ist mein Bräutigam? Du wolltest ihn doch mitbringen?« Meine Mutter schüttelt den Kopf und zieht mit beiden Händen an meinem Arm. Sie will mich aus Ingas Zimmer haben, das begreife ich. Durch den Flur zieht sie mich bis zu meinem Zimmer, führt mich hinein, nimmt den Schlüssel von der Tür und schließt von außen ab. Sie kann ja noch gar nicht die Hochzeit vorbereiten, schießt es mir durch den Kopf. Zuerst kommt das Weihnachtsfest dran. Ich höre sie telefonieren. Sie muss zunächst mit dem Weihnachtsmann sprechen. Dann wird es still. Ich bekomme Angst und rüttle an der Tür. Als Kinder wurden wir zu Weihnachten nie eingeschlossen. Wir saßen im Keller und durften fernsehen, während im Wohnzimmer die Bescherung vorbereitet wurde. »Mama?«
Keine Reaktion. Jetzt muss ich lachen, weil sie vergessen hat, dass wir im Erdgeschoss wohnen. Ich brauche nur das Fenster zu öffnen und in den Garten zu steigen, dann bin ich frei. Ich bin doch kein Kind mehr, das auf die elterlichen Überraschungen wartet! Es ist nicht schwierig, durch das Fenster zu klettern. Aber kalt ist es heute. Das Buschwerk unter dem Fenster sticht, aber wenn ich darüber hinwegspringe, lande ich direkt im Vorgarten. Aua! Es kratzt und reißt, aber ich spüre kaum den Schmerz. Ich laufe über den Plattenweg ums Haus. Einfach klingeln, und dann bin ich der Weihnachtsmann. Ich laufe meinem Vater direkt in die Arme. Wieder werde ich festgehalten. Die Tür geht auf, und meine Mutter steht da im Mantel. Sie hat einen Koffer in der Hand. »Willst du jetzt verreisen? Du kannst doch nicht jetzt verreisen, wo das Weihnachtsfest naht! Es ist doch die Vorbedingung für meine Heirat!« Die Augen meiner Mutter sind gerötet, die Falten in ihrem Gesicht überreizte Linien. Der Blick meines Vaters ist seltsam unbewegt. Kein Lächeln auf seinem Gesicht. Wo ist die Freude? Meine Eltern nehmen mich in ihre Mitte. Mit engen Schritten führen sie mich zur Garage. Ich bin zu überrascht, um mich zu wehren, spüre aber, dass die Freude des Festes noch auf sich warten lässt. Zuerst müssen wir eine Probe überstehen, aber welcherart wird diese Prüfung sein? Meine Mutter öffnet das Garagentor, und mein Vater drückt mich von hinten gegen seinen Körper, so wie es eigentlich mein Bräutigam tun sollte. Dann rollt der Wagen rückwärts heraus. Mein Vater schiebt mich auf den Rücksitz und bleibt dicht an meiner Seite. Warum lässt er mich nicht los? Ich bekomme Angst, dass ein Tausch stattfinden soll zwischen meinem Bräutigam und ihm. Ich warte ja auf ihn, aber muss ich meinen Vater dafür gleich opfern? Meinen Vater, den immer ruhigen und freundlichen Mann, der mir oft zu langweilig war mit
seinen ewigen Bankgeschäften? Vielleicht habe ich ihn zu gering geachtet, und nun droht die Strafe. Oder ist das die Prüfung, die nun auf uns zukommt? Das Auto setzt sich in Bewegung, mit meiner Mutter am Steuer. Wir müssen uns jetzt in einer Weise fortbewegen, die uns ermöglicht, dass wir meinen Bräutigam finden, ohne dass wir meinen Vater opfern müssen. Meine Mutter lenkt das Auto durch die Straßen. Die Eigenheimanlage und die Gegend drumherum kenne ich noch, aber die Straße, die dann kommt, ist mir fremd. Rechts und links Felder, in der Ferne Baumgruppen. Mein Vater hält mich fest, aber den rechten Arm kann ich befreien. Die Fingerkuppen drücke ich gegen die kalte Scheibe des Seitenfensters, um einen positiven Energiefluss zwischen mir, dem Auto und der Straße zu erreichen. Meine Finger müssen ahnen, welcher Weg zu nehmen ist, damit wir den Bräutigam auch finden. Denn er ist irgendwo versteckt, er ist in Gefahr, und er braucht die sphärische Verbindung zu mir, damit er nicht aufgibt, sondern wartet, bis wir ihn gefunden haben. Dann kann die Erlösung gelingen, und mein Vater muss nicht als Pfand dem Tod übergeben werden. Die Gegend war erst ländlich, jetzt wird sie städtisch. Aber es ist eine neue Stadt. Es ist eine Ansammlung von Wohnhäusern und Geschäften, die sich erst in dem Augenblick, da wir sie durchfahren, neu formiert. Eine Kleinstadt? Nein, eine Mittelstadt. Ein größerer Gebäudekomplex tut sich auf, dem wir uns nähern. Das Auto biegt in einen Parkplatz ein. Wieder hält mein Vater mich so fest, wie er kann. Warum er, warum nicht Olaf, warum nicht der Mann, den ich finden soll? Hat er Angst um mich, dass er mich an meinen Bräutigam verliert? Oder fürchtet er um sein eigenes Leben? Wir steigen aus und gehen zum Haupteingang eines dieser Gebäude. Es ist ein künstliches Spiegelbild des Krankenhauses, in dem ich arbeite,
das alle seine Elemente umfasst, sie aber verzerrt wiedergibt, denn es ist soeben aus einer fiktiven Welt heraus strukturiert worden und kämpft darum, Wirklichkeit zu werden. Mein Bräutigam ist hier Arzt. Er ist eine Synthese aus Olaf und Ben, aber er muss erst Gestalt annehmen in der Realität. Wir haben die Probe bestanden! Wir haben eine unsichtbare Mauer durchfahren und sind in eine Gegenwelt gelangt, die sich nun zur neuen Wirklichkeit formiert und mir ein besseres Zusammenspiel zwischen meiner Berufstätigkeit und meinem Privatleben ermöglicht. Meine Eltern werden fröhlich sein, denn sie werden an meinem Bräutigam die Souveränität von Olaf bewundern und die Jugend von Ben ins Herz schließen. Vielleicht werde ich kündigen und hier zu arbeiten beginnen. Aber zuerst ist Vorsicht geboten, denn diese neue Welt muss erst gänzlich stabil werden und zu voller Realität heranreifen. Ich trete auf einen Mann im grauen Kittel zu und halte ihm die Hand hin. »Guten Tag. Mein Name ist Birgit Schindler. Ich bin Frauenärztin am Hermine-Heusler-Hospital.« Er nimmt meine Hand und schüttelt sie mit einem Grinsen. »Bernd Grützner, Krankenpfleger.« Für einen Moment mustere ich ihn, ob es sich bei ihm um meinen Bräutigam handeln könnte, aber ich glaube es nicht, denn er ist nicht die Zielperson meines Weges. Meine Eltern halten mich wieder an den Armen, und wir folgen dem Mann, der sich als Bernd Grützner vorgestellt hat, zu einem Aufzug und fahren in den dritten Stock. Stockwerk 1: Der Aufbruch. Stockwerk 2: Die Reise. Stockwerk 3: Die Ankunft. Bernd Grützner klopft gegen eine schwere, weiß gestrichene Tür. Dahinter ein Flur. Ein paar bunte Bilder. Es riecht etwas muffig hier. Zwei Frauen sitzen an einem runden Tischchen an der Wand. Mindestens zehn Türen sind an jeder Seite des Flurs. Diese Eintönigkeit. Und dann die aufdringlichen Farben
der Bilder! Die beiden Patientinnen sehen nicht nach Frauenheilkunde aus. Aus vollem Hals fange ich zu lachen an. Ich soll einen Mann heiraten, der Psychiater ist wie meine Freundin Franka! »Sie brauchen keine Angst zu haben«, meint Bernd Grützner, der Krankenpfleger. »Ich habe keine Angst!«, rufe ich. »Es ist nur so lustig! Es fällt mir gerade wie Schuppen von den Augen, was hier passiert!« Bernd Grützner schweigt irritiert. Meine Eltern sind sehr still. Dann klopft der Pfleger an eine Tür. Ein ärztliches Sprechzimmer. Der Mann hinter dem Schreibtisch ist schon älter. Er ist rundlich und trägt den weißen Arztkittel. Mein Blick fällt auf Bernd Grützner. In seinem grauen Kittel sieht er wie der Hausmeister aus. Der Mann im Arztkittel deutet mir mit der Hand an, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Nein, auch er ist nicht mein Bräutigam. Habe ich die Situation verwechselt und befinde ich mich hier zu einem Vorstellungsgespräch für eine neue Stelle? »Ihr Name?« Meine Eltern bleiben hinter mir stehen, sie wirken schüchtern. Der Krankenpfleger Bernd Grützner wartet an der Tür. »Birgit Schindler.« »Ihr Beruf?« »Assistenzärztin an einer Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Ich arbeite auf der Station für Frauenheilkunde…« »Nehmen Sie das ein, bitte.« Er reicht mir eine weiße Tablette; Bernd Grützner füllt am Waschbecken ein Glas mit Wasser. »Ich will das nicht! Keine unbekannten Drogen!« »Sie schlucken das jetzt bitte. Keine Widerrede.«
Seine blassen Augen betrachten mich durchdringend. Ich habe hier keine Wahl. Ich muss das jetzt einnehmen. »Wie geht es Ihnen?« Die Frage überrascht mich. Ich habe mich die letzten Stunden und Tage mit Wichtigem beschäftigt, aber mich nicht gefragt, wie es mir geht. »Ich kämpfe mich gerade vor, eine neue Welt zu erlangen«, ist meine diplomatische Antwort. »Sie wissen, wo Sie hier sind?« »Ich glaube, es ist ein Krankenhaus. Es könnte die Psychiatrie sein.« Der Arzt lehnt sich zurück und mustert mich nachdenklich. »Es ist ein psychiatrisches Krankenhaus. Wissen Sie denn, warum Sie hier sind?« Ich grüble nach. Dass ich hier meinen Bräutigam finde, glaube ich nicht mehr. Man will mich auch nicht einstellen. Ich glaube, dieses Intermezzo hier gehört eher noch zu den Prüfungen, die ich zu bestehen habe. Der Arzt beugt sich vor und legt beide Unterarme auf seine Schreibtischunterlage. Die lustige Anordnung seiner Papiere, seiner Briefbeschwerer und Statuetten, die auf seinem Schreibtisch herumstehen, entlocken mir ein Lächeln. Die kleinen Plastiken wirken afrikanisch auf mich. »Camille Claudel ist nicht hier gewesen?«, frage ich. »Sie sind krank, Frau Dr. Schindler. Sie bleiben jetzt ein paar Tage hier, bis es Ihnen besser geht. Sie brauchen keine Angst zu haben, es geschieht Ihnen nichts Böses.« Entschuldigend blickt der Arzt zu meinen Eltern, als habe er soeben ein Tabu gebrochen. Sie senken die Köpfe. Der Pfleger, Bernd Grützner, hilft mir aus dem Stuhl aufzustehen. Er führt mich in einen Nebenraum, in dem sich außer einer Untersuchungsliege nicht viel befindet. Eine Krankenschwester bewegt sich vor einer Kommode. Ich soll
mich hinlegen. Ich will mir die Schuhe ausziehen, doch dafür ist keine Zeit. Schon starre ich gegen die Neonlampe an der Decke. Bernd Grützner bindet mir den Arm ab, die Schwester legt eine Injektion. Ich wehre mich nicht. Dann wird mir schwarz vor Augen. Ein starkes Schwindelgefühl setzt ein. Vor meinem inneren Auge zucken Blitze. Ein Kreis aus tanzenden Puppen beginnt sich immer schneller zu drehen. Die Puppen verändern ihre Gestalt. Aus kleinen Mädchen und Jungen mit pausbäckigen Gesichtern werden Babys, Feten und schließlich Embryonen. Am Schluss tanzen schleimige kleine Polypen vor meinem Gesicht und wedeln mit ihren Fangarmen. Die Evolution bewegt sich rückwärts. Ich bin dem ewigen Kreislauf des menschlichen Werdens und Vergehens ganz nah und spüre die spiralige Grundstruktur des Daseins. Dann möchte ich schlafen, tief schlafen und mich ganz fallen lassen in die Bewegung dieser Zirkulation. Aber es gelingt mir nicht. Mein Gehirn bleibt unruhig und wird immer wieder wachgerüttelt. Irgendwann wird es um mich dann doch ganz dunkel und still.
IV
In einem kleinen Zimmer wache ich auf. Es ist Tag. Das Bett, ein Krankenbett, steht an der Wand. Die Wand ist mit hellblauer wasserfester Farbe gestrichen. An der anderen Wand stehen ein Tisch und ein Stuhl. Ich muss zur Toilette. Mein Mund fühlt sich bleiern und pelzig an. Die Zunge ist ein Klumpen, der mich an verseuchtes Schwermetall erinnert. Beim Aufstehen wird mir schwindelig. Ich muss mir die Hände vors Gesicht halten. Meine Beine wollen nicht recht, aber ich kann den Druck auf der Blase nicht länger bezwingen. Auf der Toilette merke ich, dass ich ein Kliniknachthemd trage und nicht meine eigenen Sachen. Da muss ich weinen. Das Zimmer ist so klein. Das Fenster lässt sich nicht öffnen, nur kippen. Unten ist ein winterlich karger Garten zu sehen. Eine Art Montdevergues, modern, hell, kein altes Anwesen mit dicken feuchten Mauern. Ich bin eine moderne Version von Camille Claudel. Zwingt sie mich, ihr Leben noch einmal zu leben? Wie bin ich hierher gekommen? Wo sind meine Eltern? Und hat Olaf etwas erfahren? Was wird er denken? Was meint Ben? In einem kleinen Spind hinter der Tür finde ich meine Kleider. Ich will sie nehmen, da wird die Tür aufgezogen, und eine Schwester steht im Zimmer. Ich weiß nicht, ob es die ist, die mir die Spritze gegeben hat. Ich werde mit einem verlogenen Augenzwinkern begrüßt: »Guten Morgen. Oder vielmehr: Guten Mittag. Sie haben aber lange geschlafen.« Jetzt betrachtet sie mich etwas aufmerksamer und meint: »Na, wer wird denn gleich weinen? Hier geschieht Ihnen doch nichts.«
Ich fühle mich unter Druck. Der Frau muss ich beweisen, dass ich geistig völlig klar bin. »Was hat man mir gespritzt?« »Ein Medikament, das Ihnen hilft.« »Ich will es wissen. Ich bin Ärztin. Sie brauchen mir das nicht vorzuenthalten.« »Ich weiß. Aber hier vergessen Sie besser, was Sie studiert haben. Das hilft Ihnen hier nicht weiter.« »Ich beschwere mich, wenn Sie mir Informationen vorenthalten.« Die Schwester lächelt. »Niemand enthält Ihnen etwas vor. Wenn Sie wirklich mal als Ärztin gearbeitet haben, dann müssen Sie wissen, dass Informationen zur Diagnose und Behandlung den Ärzten vorbehalten sind.« Ich habe nicht irgendwann mal als Ärztin gearbeitet… will ich ihr entgegnen, aber ich schweige, denn sie könnte Recht haben damit, dass ich Ärztin gewesen bin. Die Schwester reicht mir ein Wasserglas und zwei Tabletten. »Nehmen Sie das.« Wie am Vortag schlucke ich ein mir unbekanntes Medikament, ohne zu wagen, danach zu fragen. »Wenn Sie angezogen sind, gehen Sie zum Doktor.«
Der Arzt, den ich gestern schon gesehen habe, heißt Prof. Dr. Scheffler. Ich klopfe an. »Einen Moment bitte.« Wann habe ich das letzte Mal vor einer verschlossenen Tür warten müssen? Dann darf ich hinein. An seinem Tisch nehme ich wie gestern Platz, mein Blick fällt auf die Statuetten, und jetzt macht ihr Anblick mich traurig. »Wie geht es Ihnen heute?« Ich zucke mit den Achseln. »Ich blicke irgendwie nicht mehr durch.«
Soll ich ihn mit »Herr Professor« anreden? »Das ist richtig, Frau Dr. Schindler. Wir haben Ihnen gestern Haldol gespritzt und heute in Tablettenform verabreicht. Damit Sie…« – er wedelt mit der Hand über den Tisch und greift meine Formulierung auf – »…möglichst schnell wieder durchblicken.« Ich schaue ihm ins Gesicht. Er räuspert sich: »Sie haben eine Psychose. Wissen Sie, was das ist?« »Verkaufen Sie mich nicht für dumm. Ich bin doch vom Fach.« »Bitte nicht in diesem Ton.« Ich versuche dem Arzt zu erklären, dass alles so absonderlich ist seit einiger Zeit; doch von Camille Claudel erzähle ich ihm lieber nichts. Aber Dr. Scheffler will auch gar nichts Näheres wissen. »Zerbrechen Sie sich nicht unnötig den Kopf. Nehmen Sie die Medikamente. Sie können aus diesem Zustand wieder herauskommen.« Dann nickt er mit dem Kopf, ich soll jetzt gehen. Nicht ich bestimme, wann das Gespräch zu Ende ist, sondern er. Ich bewege mich durch den Flur, an hässlichen Plakaten von Klimt und Miro vorbei, die mir wohl signalisieren sollen, dass Kunst und Wahnsinn nahe beieinander liegen und alles halb so schlimm sei. Die aneinander gereihten Türen sprechen eine andere Sprache. Sie wirken kalt und dumpf, vielleicht nicht wie im Gefängnis, aber wie in einer zu groß geratenen Abstellkammer. Ich möchte raus, ins Freie, aber die Tür ist verschlossen. Es gibt einen Aufenthaltsraum für Raucher, den man vor Gestank kaum betreten kann. Ein Mann sitzt darin, raucht eine Selbstgedrehte aus schwarzem Tabak nach der anderen, sein Kopf verschwindet hinter Rauchschwaden. Andere Patienten schlurfen hinein, rauchen, gehen wieder
heraus. Das Fenster ist die ganze Zeit geschlossen. Es gibt auch einen Aufenthaltsraum für Nichtraucher. Aber auch hier ist die Luft stickig. Ein Fernseher läuft, doch niemand schaut zu. Ich versuche das Fenster zu öffnen, es lässt sich nur kippen. Überall auf der Station lassen sich die Fenster nur kippen. Aber ich brauche frische Luft! Wie soll ich einen klaren Kopf bekommen, ohne frische Luft? Im Stationszimmer sitzen die Mitarbeiter um einen Küchentisch und trinken Kaffee. Der Pfleger Bernd Grützner blättert in der Bildzeitung und schaut nicht einmal auf, als ich anklopfe. Wie ein Bettler komme ich mir da im Türrahmen vor, als ich meinen Wunsch formuliere: »Bitte, ich möchte etwas raus.« »Sie können nicht raus, Frau Dr. Schindler«, sagt eine Schwester. Die Anrede klingt zynisch. »Sie haben noch keinen Ausgang.« »Was soll ich machen? Mir geht es nicht gut, aber hier drin – das gibt keine Besserung.« Ich hebe die Hände zu einer bittenden Geste. Der arme Lazarus fällt mir dabei ein. Bernd Grützner blättert weiter in seiner Zeitung, die Schwester geht an den Medikamentenschrank und räumt dort sehr geschäftig herum, ein junger Mann, vielleicht Zivildienstleistender, gießt Kaffee nach. Ich stehe noch da. Niemand schickt mich weg, man lässt mich nur spüren, dass ich überflüssig bin. Dann gehe ich wieder den Flur auf und ab. Hin und her. Ich suche mein kleines Zimmer auf und setze mich auf das schmale Bett. Dicht vor meinem Auge ist die Stuhllehne vor dem Tisch, über der meine Hose hängt, sonst nichts von mir. Ich habe eine Psychose. Dunkel erinnere ich mich, diesem Begriff mal begegnet zu sein, nicht einmal unangenehm war mir das Wort, es ging mich einfach nichts an. Jetzt habe ich eine. Das scheußliche kleine Zimmer und der Flur ohne Fenster und offene Türen sind die Strafe dafür. Ich bekomme ein taubes
Gefühl im Mund. Auf dem Bett kann ich nicht lange sitzen und den Stuhl anstarren. Meine Beine werden unruhig und kribbeln.
Besorgt, ob ich meine Gedanken unter Kontrolle halten kann, laufe ich durch die Station. Ist das die Psychose, wenn mir die Gedanken entschwirren und ich sie nicht halten kann? Wenn mein Mund sich zäh bewegt und taub ist und ich meine Beine nicht richtig spüre? Immer wieder fasse ich mich an den Kopf. Jetzt geht eine der Schwestern an mir vorbei und wirft einen Blick auf mich. Beurteilt sie mein Verhalten? Führen sie eine schwarze Liste über mich, auf der jeder Strich ein negatives Zeichen bedeutet? Oder ein Sternchen ein positives Symbol? Gute Führung. Morgen darf die Patientin spazieren gehen. Wir verringern die Medikamentendosis und entlassen die Patientin eine Woche eher nach Hause. Oder bilde ich mir das mit dem Beobachtetwerden nur ein? Vielleicht bedeutet die Psychose auch, dass ich Verfolgungswahn habe, und in Wirklichkeit hat die Schwester nur durch mich hindurchgeguckt. Im Aufenthaltsraum schaue ich aus dem Fenster und beobachte die Fußgänger und vorbeifahrenden Autos. Wirken sie neutral auf mich oder interpretiere ich etwas in sie hinein, das nicht der Wirklichkeit entspricht? Ich kann es nicht verhindern, wenn ich in der Art und Weise, wie die Autos um die Kurve fahren, strukturierte Muster und wiederkehrende Formationen erkenne. Es wäre besser für mein Gehirn, ich täte es nicht. »Bist du vollgepumpt?« Ich drehe mich abrupt vom Fenster weg. Neben mich hat sich eine Frau geschlichen – ich habe sie nicht gehört, auch das ein Gefahrenzeichen? – sie riecht penetrant nach Nikotin. Der
Geruch von Zigarettenrauch dringt aus ihren Haaren, ihren Kleidern und aus ihrem Mund. Ich suche Abstand. »Woher wollen Sie wissen, dass ich vollgepumpt bin?« »Alle Neuen werden vollgepumpt. Du glotzt auf die Straße, als ob du da draußen eine Antwort suchen würdest. Die findest du nicht. Hier drin übrigens auch nicht.« Die Frau ist älter als ich. Dem Zug um ihren Mund nach könnte sie Alkoholikerin sein. »Warum bist du hier?«, will sie wissen. Ich rücke noch etwas weiter ab, verschränke die Arme vor der Brust und presse meinen Rücken gegen den Fensterrahmen. »Psychose«, erwidere ich knapp, das Wort bewegt sich fremd in meinem Mund. »Und Sie?« »Kannst ruhig du sagen. Ich bin Käthe. Wir duzen uns hier alle. Es sei denn, du bist was Besseres.« »Also, du.« »Mein Alter will mich nicht mehr haben. Aber hör auf, solche Fragen zu stellen. Einmal rein, immer wieder rein. Was soll ich in meiner Wohnung? Ist’s nicht hier wie dort egal?« Ich flüchte in mein Zimmer, ohne zu antworten. Psychisch Kranke. Hoffnungslose Fälle im gesellschaftlichen Aus. Alle Vorurteile und Klischees, die ich jemals hatte, stürmen auf mich ein. Diese Käthe, die mich eben angesprochen hat, entspricht dem Bild bis ins Detail. Schmerzhaft denke ich an unsere Station. Das kühle Abwinken der Kollegen, wenn eine Schizophrene oder Depressive behandelt werden musste. Schnell abgehakt, Krankheitsbild katalogisiert, medikamentöse Therapie während der Schwangerschaft berücksichtigt. Bei Fertilisationswünschen die Stirn gekraust und die Frau ins Gebet genommen, ob ein Kinderwunsch in ihrem Fall denn wirklich das Richtige sei. Bin ich genauso? Werde ich nach ein, zwei, drei Jahren Psychiatrie so sein, dass ich nur noch mit
zotteligen Haaren umherlaufe und jeden duze und mit verqualmtem Mund anhauche, der mir in die Quere kommt? Nein, das lasse ich nicht mit mir machen. Ich kehre zum Stationszimmer zurück und verlange einen weiteren Gesprächstermin bei Prof. Scheffler. »Sie müssen bis Donnerstag warten, dann gibt er Ihnen einen Termin für die kommende Woche«, ist die Antwort von Bernd Grützner, der mich jetzt endlich wahrzunehmen scheint. Er liest auch keine Zeitung mehr, sondern klimpert mit seinem Schlüsselbund, um einem Mann, der offenbar nach draußen darf, die Tür aufzuschließen. Ich bleibe vor ihm stehen und will mehr Antworten haben. Lieber mit Bernd Grützner reden und in dem Stationszimmer einen Kaffee trinken, als mit Menschen wie dieser Käthe. Kind, das ist doch kein Umgang für dich, hätten meine Eltern gesagt. Und jetzt haben sie es selbst mitverantwortet, dass ich hier eingewiesen worden bin. »Was kann ich heute Nachmittag machen?«, frage ich Bernd Grützner, der seinen Patienten rausgelassen und an mir das Interesse verloren hat. Sein Blick streift mich nur oberflächlich, als er erwidert: »Sehen Sie fern, lesen Sie etwas, in einer halben Stunde gibt es Essen.« Er geht, und ich stehe wieder allein da. Das Essen gibt es in einem kahlen viereckigen Saal auf Tabletts. Es befindet sich in rechteckigem Plastikgeschirr, das in Aluminiumfolie eingeschweißt ist. Der Zivildienstleistende öffnet den metallenen Wärmeschrank, der aus der Küche gekommen ist. Patientinnen und Patienten scharen sich um ihn, und er reicht die Tabletts herum. Dann sagt er »Guten Appetit« und geht wieder. Schweigend sitzen die Patienten an den Tischen, und das Klappern der Bestecke ist zu hören. Vorsichtig sehe ich mich um, es sind etwa zwanzig Leute, die um die Vierertische verteilt sind. Mir gegenüber sitzt ein alter Mann, dessen Hand zittert. Immer wieder rinnt ihm die Suppe
über den Löffelrand. Ich bin hier aber nicht zuständig und kann ihm nur zusehen beim Kleckern, wenn er den Löffel an den Mund führt. Neben mir sitzt eine Frau in meinem Alter. Ihre Gesichtszüge sind steif, und sie bewegt die Hände langsam. Ohne Regung schlingt sie das Essen in sich hinein, wirft das Besteck aufs Tablett und trägt es zurück in den metallenen Schrank. Den Nachtisch esse ich mit dem alten Mann allein. Aber ich halte es auch nicht lange aus, hier zu sitzen. Ich stehe auf, um etwas zu tun, und räume meine Essensreste weg. Sekundenlang nehme ich mich selbst als handelnden Menschen wahr. Dann habe ich wieder nur die Alternative, mich auf mein Bett zu setzen oder in den Aufenthaltsraum zu gehen. Wenn ich wirklich eine Psychose habe, dann habe ich dieselbe Krankheit wie Camille Claudel. Dann werde ich als alte Frau regungslos dasitzen wie sie und mit erloschenen Schweinsäuglein unter meiner Hutkrempe hervorblinzeln.
Camilles Psychose. Das Gefühl, verfolgt zu werden. Panische Angstzustände. Verzerrung der Wahrnehmung. Falsche Deutung der Wirklichkeit. Kritiker tuscheln hinter vorgehaltenen Händen. Sie hätte eine Künstlerin sein können, aber sie ist nur eine Irre. Und meine Psychose? Ich habe in strömendem Regen meine Wohnung verlassen, bin irgendwohin fort – mein blaues Abendkleid war wichtig, ich suchte einen Bräutigam, den es nicht gibt. Ich hatte große Angst. Und interpretierte die Wirklichkeit falsch – wie Camille. Louis-Prosper und Louise Claudel besuchen ihre sechsundvierzigjährige Tochter in der Irrenanstalt. Eine früh gealterte Frau, die sich an den Händen ihrer Eltern festkrallt, Hilfe und Rettung bei ihnen sucht wie ein kleines Kind. Nein, es sind nicht Louis-Prosper und Louise, die Camille besuchen.
Es sind meine Eltern, und sie kommen zu mir. Ich weiß nicht, ob es mich schmerzt oder freut, die Besorgnis in ihren Gesichtern ertrage ich schlecht. »Wie geht es dir denn heute?«, fragt meine Mutter. »Es ist sehr ungemütlich hier.« »Schön, dass deine Stimme wieder klarer klingt. Wir denken, dass du für den Moment hier am besten aufgehoben bist«, meint mein Vater. Nach kurzem Schweigen ergänzt er fast entschuldigend: »Wir waren in deiner Wohnung. Wir haben dir etwas mitgebracht. Es scheint, dass du zuletzt darin gelesen hast.« Meine Mutter kramt meine Bücher über Camille Claudel aus ihrer Tasche. Ihre Ecken sind eingerissen, die Einbände weisen Knicke auf. Sie sehen aus wie die ersten Bilderbücher eines kleinen Mädchens, das von ihnen nicht lassen kann. Camilles Eltern waren nicht in Montdevergues. LouisProsper ist vor ihrer Einlieferung verstorben, und Louise besucht Camille nicht. Viel zu viel Angst hat sie vor ihrer absonderlichen Tochter, die den Vorwurf verbreitet, man wolle sie um ihr Erbe prellen, und die der Mutter unterstellt, sie habe ein Exemplar der Schwätzerinnen aus Onyx in den Müll geworfen, obwohl es nur Tonreste waren, die beim Aufräumen der Wohnung gefunden wurden.
Nach ein paar Minuten mühsamen Gesprächs hat die triste Station mich wieder. Natürlich bin ich nicht in Montdevergues, aber lieblos wirkt die Psychiatrie der Gegenwart auch. Vor dem Zubettgehen gibt es noch ein Ereignis: Tabletten abholen im Stationszimmer. »Was ist das?«, frage ich, als ich auf die Pillen in meiner Handfläche schaue, obwohl ich es weiß. »Das ist Ihr Haldol«, antwortet die Schwester. Wieder verspüre ich den Wunsch, ein wenig zu reden. Aber zu reden gibt es nichts;
mit sanftem Nachdruck werde ich von der nächsten Patientin beiseite geschoben, und es hält mich auch niemand auf. In der Nacht weckt mich das Geschrei einer Frau. Ich verlasse mein kleines Zimmer und gehe auf den Flur, um nachzusehen. Zwei Polizisten sind da, sie bringen eine Zwangseinweisung. Die Frau, sie muss über vierzig sein, hat nur einen Bademantel, ein Nachthemd und blaue Kniestrümpfe an und tobt. War ich nicht auch so halbnackt bei meinen Eltern aufgetaucht? Aber ich wurde zumindest nicht fixiert. Das Bett mit den Gurten, das der Zivildienstleistende mit einem Ausdruck von Bedeutsamkeit im Gesicht durch den Flur rollt, ist nicht für mich bestimmt. Die Frau kreischt, denn ihr widerfährt eine große Ungerechtigkeit, die aber niemand sehen will. Die Zwangseinweisung ist angeordnet, die Maschinerie der Zwangsmaßnahmen kann anlaufen, die Ausführenden sind im Recht. Wie bei Camille. Sie war schwer krank, bewältigte ihren Alltag nicht mehr… Sie wehrte sich so verzweifelt. Niemand half ihr in die Freiheit! Aber was hätte sie dort gefunden? Einsamkeit, Unordnung, Alkohol und Müll. Gegen ihre Verzweiflung und die Gefühle, verfolgt und bedroht zu werden, war die Irrenanstalt kein Mittel. Man will mir Gift ins Essen streuen, dachte sie. Zahllose Briefe schrieb sie, an Ärzte, an entfernte Bekannte, an ehemalige Förderer. Briefe, die sie heimlich aus der Anstalt schleuste, erst aus Ville-Evrard, eineinhalb Jahre später aus Montdevergues. Die Zwangsunterbringung hat Camille nicht geholfen. Hilft sie der schreienden Frau? Ich schleiche mich in mein enges Zimmer zurück, bevor mich jemand ins Bett schickt. Zur Morgenrunde sitzen die Patienten im Aufenthaltsraum, teils abwartend, teils dösend. Vor dem Fenster thront Prof. Scheffler, flankiert vom Pfleger Bernd Grützner und einer Schwester, neben ihnen sind einige Plätze frei. Jeder muss
sagen, dass er gut geschlafen hat, und wer nicht gut geschlafen hat, wird in der kommenden Nacht ein Schlafmittel bekommen. Die Frau, die heute Nacht gebracht wurde, ist schon dabei. Ihre Bewegungen sind durch Medikamente gelähmt, ihr Blick ist stumpf. Sie schreit trotzdem, obwohl die Reihe nicht an ihr ist: »Es ist eine Schweinerei, mich hierher zu bringen. Es ist ein Beschluss! Ich werde vorgehen gegen den Beschluss!« Sie ist mir unsympathisch, aber ihr Blick ist voller Angst und Verzweiflung, und niemand sieht ihre Gefühle. Der Pfleger Grützner herrscht sie an, aber sie schreit weiter, dass sie den »Beschluss« nicht will. Dann wird sie weggebracht. Alle anderen schweigen. Für einen Augenblick sind sie etwas Besseres, jedenfalls besser als diese Frau. Denn sie halten sich an die Regeln der Disziplin. Dafür gibt es eine Tablette weniger, eine Viertelstunde Spaziergang mehr oder fünf Minuten Gespräch mit jemandem vom Personal. Die Psychiatrie ist nicht im Jahr 1913 stehen geblieben. Aber die Machtstrukturen bleiben spürbar. Als ich an der Reihe bin, möchte ich etwas Zynisches sagen. Aber ich sage nur, dass ich gut geschlafen habe und bitte Prof. Scheffler höflich um einen Gesprächstermin. Zum Glück muss ich nicht bis zur nächsten Woche, sondern nur bis zum kommenden Vormittag warten. Ich versuche zu lesen, aber es ist mühsam, sich auf die langweiligen Artikel in den alten Frauenzeitschriften zu konzentrieren. Und meine Gedanken lassen sich auch kaum auf einen Punkt zusammenschnüren. Das muss die Psychose sein, oder vielleicht ist es das Haldol. Meine Bücher über Camille? Ich habe sie in der Nachttischschublade versteckt.
Der Gesprächstermin bei Prof. Scheffler fällt aus. Statt dessen sitze ich im Sprechzimmer seiner Kollegin Frau Dr. Gärtner. Ich frage sie direkt nach meiner Prognose.
Sie will nicht heraus mit der Sprache. Sie windet sich: »Wozu benötigen Sie eine Prognose? Es würde Sie nur ängstigen und beunruhigen. Was Sie jetzt brauchen, ist Ruhe und Ablenkung.« »Werde ich wieder in meinem Beruf arbeiten können?«, entfährt es mir angstvoll. Dr. Gärtner blickt ausweichend: »Der Beruf des Mediziners ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, der nur starke Persönlichkeiten gewachsen sind. Denken Sie immer daran: Sie tragen eine hohe Verantwortung gegenüber Dritten. Vielleicht will Ihre Krise Ihnen sagen, dass Sie sich ein weniger anspruchsvolles Betätigungsfeld suchen sollten. Zu Ihrer Frage: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können wir Ihnen keine Antwort geben. Sprechen Sie noch einmal mit dem Chefarzt.« Damit entlässt sie mich. Nervös tigere ich auf dem Flur auf und ab und beobachte mich dabei selbst: Ist es nicht geisteskrank, so hin und herzulaufen? Aber mich treibt Angst. Angst, nie mehr in meine Klinik zurückzukehren. Ohne Arbeit dazustehen. Allein. Mich überkommt eine Sehnsucht nach Olaf, die zugleich nur tote Verzweiflung ist. Olaf – Objekt meiner Liebe, aber nur noch eine Attrappe. Leb wohl, eine Antwort bekommst du nicht, obwohl er noch aus Fleisch und Blut existiert. Aber wie hinter einer Glasscheibe: Weder erreichbar, noch bedeutsam für dich. Käthe sucht mich in einer Ecke des Aufenthaltsraumes auf, in die ich mich zurückgezogen habe, schlapp und schwerfällig auf einem Stuhl hängend. Ich bin zu erschöpft, um davonzulaufen. »Du musst noch viel lernen. Du musst ruhig sein und angepasst. Du musst zeigen, dass du wahrnimmst, was passiert, aber du darfst nicht mehr wissen wollen, als was sie dir freiwillig sagen. Das ist wohl dein Fehler. Du bist eine Studierte, nehme ich an. Intellektuelle haben’s hier besonders schwer.«
»Und du? Alkohol-Psychose?« »Alkohol-Psychose? Schwachsinn. Einfach so – abgedreht. Mit zwanzig fing das an. Dass ich die Energien der Außerirdischen spürte. Ohne Geld bin ich an die Ostsee gereist und habe mich zwischen die Dünen geschmissen, weil ich da von den Vulkaniern hochgebeamt werden sollte. Weißt du, ich liebte Mister Spock. Hast du schon mal jemanden so geliebt? Hast du, ich sehe es dir an. Aber so wie du aussiehst, in ein paar Wochen gehst du wieder in dein schickes Büro, wo du Chefsekretärin bist, oder was?« »Und dann?«, frage ich ohne Kommentar. »Es wurde trotzdem gut. Ich kam in die Klapse für ein paar Wochen, mit zwanzig, Mensch. Dann bin ich meinem Mann begegnet. Wir haben Kinder bekommen. Das war eine schöne Zeit. Aber dann der Stress. Und dann kamen immer wieder Psychosen, auch ohne Mister Spock. Dann ist mein Mann mir weggelaufen. Und danach kamen die Kinder weg. Ohne mein Verschulden. Und was soll ich? Allein in der Wohnung sitzen? Da kann ich auch hier rumhängen, hier muss ich nicht kochen und kann dann und wann mit ein paar netten Weibern quatschen. Sex ist zwar Mangelware, aber zu Hause auch, also, was soll’s?« Die Frau bleibt mir unsympathisch; etwas wehrt sich in mir, ihre Psychose mit meiner zu vergleichen. Trotzdem sage ich zu ihr: »Vielleicht kriegst du noch eine Chance. Du lernst jemand kennen, fängst von vorn an, holst die Kinder nach Hause…« Sie wirft mir ihren Arm um die Schulter und klagt mit roten Augen: »Wer will mich alte Schlampe denn noch haben?« An diesem Nachmittag darf ich nach draußen und auf dem winterlich kargen Klinikgelände spazieren gehen. Es sind kleine Wege, die ich gehe, und die wenig Befreiendes haben, weil die Rückkehr in das Gebäude schon bei seinem Verlassen gegenwärtig ist. Am anderen Tag sitze ich im Park; es ist kalt,
und ich trage eine dicke Jacke. Ich möchte nicht sprechen, aber neben mir nimmt eine Frau Platz, die ungefähr in meinem Alter ist. Ich habe sie schon gesehen, aber noch nicht mit ihr gesprochen. Sie hat rötliche Haare, die zu einem lockeren Zopf gebunden sind, und ein helles Gesicht. Ich will aufstehen und gehen, aber da spricht sie mich an. Sie stellt sich mir als »Emma« vor, entlockt mir ein karges »Birgit« und lächelt mich an. Warum ich hier bin, will sie wissen. »Psychose«, murmele ich kaum hörbar in mich hinein. »Ich auch«, erwidert sie heiter, und ich mustere sie mit skeptischem Blick. Offen schaut sie mich an, ihre Augen sind graugrün. Mein verunsicherter Blick scheint sie zu einem weiteren Lächeln zu ermuntern. »Ich hatte in den letzten Jahren schon fünf Psychosen, die letzte vor vierzehn Tagen. Ich dachte, ich ziehe in ein Märchenschloss um und habe mein ganzes Geschirr aus dem Fenster geschmissen. Natürlich kam die Polizei. Und jetzt bin ich wieder einmal hier.« »Ja, und du lachst? Ist es denn nicht schlimm für dich?«, frage ich sie schüchtern. »Andere Menschen haben Diabetes oder müssen an die Dialyse.« »Na, ich weiß nicht, ob man das vergleichen kann. Ich bin ja richtig abgedreht, und jetzt geht in meinem Kopf alles träge und langsam.« »Bist du denn irgendwas von Beruf oder kriegst du schon Erwerbsunfähigenrente?« Ihre Frage gibt mir einen Stich. »Quatsch, Rente! Ich bin Ärztin, Gynäkologie. Aber ich weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll, mit der Psychose.« »Wow! Da kann man ja den Hut ziehen. Deshalb auch dein Doktortitel, das habe ich mitgekriegt!«
»Das ist schon peinlich, mit einem Doktortitel, und dann in der – Klapse… Und du?« »Naja, ich male und ich schreibe. Aquarelle, Kurzgeschichten, Gedichte, ich hab mal ein Drehbuch angefertigt, aber das wollte dann keiner haben. Sag nichts gegen die Rente. Wenn ich die nicht kriegen würde, stünde es schlimm um mich. – Du bist zum ersten Mal in der Psychiatrie? Macht dir das Angst?« »Naja.« Ich denke an die Arroganz mancher Schwestern und Pfleger, die kalte und freudlose Atmosphäre beim Essen, die Abhängigkeit von den Entscheidungen der Ärzte. »Wenigstens gibt es vernünftige Medikamente…« »Pah!«, unterbricht sie mich. »Schau dich doch um, wenn du am Stationszimmer anstehst, um deine Neuroleptika zu bekommen. Sie werden dir mit einem Nimbus angeboten, als wären es Hostien. Du schluckst sie – aber hilft dir das? Deine ›Schuld‹ ist deine Krankheit. Wehe, du zeigst zu viel Gefühl.« »Zumindest ist die Behandlung psychisch Kranker nicht mehr so grausam wie am Anfang des 20. Jahrhunderts.« Mir ist, als versuche sich Camille mit auf unsere Bank zu setzen, aber ich schiebe sie weg. Sie soll nicht in diesen Nachmittag eingreifen, der zum ersten Mal nach langer Zeit etwas Beruhigendes für mich ausstrahlt.
In den nächsten Tagen halte ich mich eng an Emma Kern, denn sie erscheint mir stark. An ihrer Seite kommt mir meine Lage weniger trostlos vor. Ich bin froh, einen Menschen gefunden zu haben, mit dem ich reden und die zähe Zeit gestalten kann. Sie erzählt immer wieder von Menschen, die trotz ihrer Diagnose ein zufriedenes Leben führen. Bei einem Abendessen berichtet sie mir von einer jungen Frau, die Schriftstellerin werden wollte. Ich möchte nichts
hören, aber Emma sagt: »Jetzt pass mal auf« und erzählt weiter. Die Frau war Anfang zwanzig, studierte und machte parallel eine Ausbildung zur Lehrerin. Dies strengte sie sehr an. In der Universität fühlte sie sich isoliert, denn es fiel ihr schwer, über leichte und oberflächliche Dinge zu lachen wie ihre Kommilitonen. Statt dessen vertiefte sie sich in ihr Schreiben. Die Arbeit an literarischen Texten war ihr Lebensinhalt – aber keine Antwort auf ihre drängenden Lebensfragen und keine Hilfe bei ihrer Suche nach menschlicher Nähe. Die junge Frau wurde hin und her getrieben von dem Konflikt zwischen dem Schreiben, das ihr Traum war, und dem Unterrichten als ihrer Ausbildungsrealität. Sie wollte nicht Lehrerin werden, hatte zugleich Angst, als Lehrerin zu versagen, sehnte sich nach einer Laufbahn als Dichterin, ohne sich der Konsequenzen recht bewusst zu sein, denn ein Schriftsteller, nach dem niemand fragt, ist einsamer als eine unglückliche Lehrerin. Sie wurde einundzwanzig. Damals stand nach kurzer Ausbildungszeit schon das Lehrerexamen vor der Tür. Der Schulinspektor nahm ihre letzte Lehrprobe ab. Aber die junge Frau hatte kein Gefühl mehr für sich und das, was geschah. Ihr Bewusstsein verabsolutierte sich, und leise verabschiedete sie sich von der Realität. So stand sie vor der Tafel und war doch nicht präsent. Der Inspektor und die Schüler warteten, dass sie ihre Stunde begann, aber die junge Frau nahm sie nur wahr wie durch eine milchige Wand. »Wenn ihr mich einen Augenblick entschuldigen würdet.« Sie verließ das Klassenzimmer, dann das Schulgebäude und wusste, dass sie nicht zurückkehren würde. Ich höre Emma zu, und sehe mich selbst durch die Flure der Frauenklinik gehen, geistesabwesend, nur noch nach außen hin kontrolliert. Die fremde Frau, von der Emma erzählt, erscheint mir nahe. Nicht so ein »Fall«, wie ich jetzt einer bin, keiner
von den Mitpatienten mit derselben Diagnose, vor denen ich nur davonlaufen möchte. »Du redest von dir?«, frage ich Emma. Sie legt den Finger auf den Mund, dann spricht sie weiter. Die junge Frau fand einen Arzt, der sie krank schrieb. Nach drei Wochen, als die Schule wieder beginnen sollte, war ihre Verzweiflung so extrem, dass sie versuchte, sich das Leben zu nehmen. Sie überlebte eine Selbstvergiftung mit Aspirin und beschloss, nicht mehr in die Schule zu gehen und nur noch wissenschaftlich zu arbeiten. Dem Direktor erklärte sie in einem Brief, dass man ihr geraten habe, das Unterrichten aufzugeben. Sie vertiefte sich in einen Psychologiekurs, den sie belegt hatte, und stellte sich selbst die Aufgabe, ihre Autobiographie zu schreiben. Immer tiefer begab sie sich in ihre Innenwelt. Alle Kontakte zur Außenwelt gingen verloren, aber sie bemerkte es nicht. Endlich merkte der Psychologiedozent bei der Lektüre ihrer Texte, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Hinter ihrem Rücken veranlasste er die Einweisung in eine Psychiatrie. Nach ihrer Entlassung sollte sie nach Hause zu ihren Eltern zurückkehren – aber das war der letzte Ort, an den sie wollte. Doch an ihrem Studienort traute ihr niemand ein selbstständiges Leben zu. Also reiste sie heim, mit ihrer Diagnose im Gepäck: Schizophrenie. Ihre Eltern reagierten befremdet darauf, dass ihre Tochter in einer geschlossenen Anstalt gewesen war. Was sollten sie jetzt mit ihr anfangen? Die junge Frau konnte ihre Situation nicht begreifen und suchte nach einer Erklärung. Sie durchblätterte ihre Psychologiebücher nach einer Antwort und fand in einem Kapitel über Abnorme Psychologie die Erklärung, dementia praecox sei heute als Schizophrenie bekannt. Ein allmählicher Verfall des Geistes. Mit dieser Definition schien ihr Schicksal besiegelt.
»Was ist aus ihr geworden?«, frage ich Emma, als sie ihre Erzählung unterbricht. »Selbstmord? Oder lebenslanges Siechtum in der Psychiatrie wie…« Wie Camille Claudel, möchte ich sagen. Aber ich bringe ihren Namen nicht über die Lippen. »Acht Jahre verbrachte sie in der Psychiatrie. Ihre Chance war, dass ein Verleger sich für ihre Werke interessierte. Für ihren ersten Roman erhielt sie einen Literaturpreis. Nun, ab da sah die Welt sie mit anderen Augen.« »Von wem sprichst du?« »Von Janet Frame, einer berühmten neuseeländischen Schriftstellerin.«
V
Emma hat Energie. Sie will alles anders machen, besser. Ihr Tatendrang, vor allem aber ihr angstfreier Blick auf die Psychosen, hat etwas Bewegendes. »Ich bin in einer Psychose-Erfahrenengruppe aktiv. Wenn du willst, kannst du mitmachen.« »Vielleicht können wir uns mal treffen«, sage ich vorsichtig. »Wenn ich wieder draußen bin.« Ja, wenn ich wieder draußen bin. Was dann? »Ich werde in drei Tagen entlassen«, sagt sie. Ein Schreck durchfährt mich. »Nun schau mich nicht so an, als müsstest du ewig hier bleiben«, meint sie und fährt mir mit der Hand über die Stirn. Emma ist so weit, so stark. Da komme ich nicht mit.
Ein Besuch meiner Eltern. Die Müdigkeit in ihren Gesichtern. Ihre wohl meinenden Reden: »Wenn du richtig eingestellt bist und deine Medikamente regelmäßig nimmst, wirst du es wieder schaffen. Du schaffst das doch, Birgit.« Und nach einer kurzen Pause: »Es ist schlimm, dass es gerade unsere Familie treffen muss.« Im Klinikcafe sitze ich ihnen gegenüber, ohne viel zu reden. Ich möchte meinen Eltern etwas entgegnen, ihnen Stärke und Optimismus signalisieren, ich will nicht so hilflos und abhängig sein. Müsste ich nicht stärker als meine Eltern sein? Aber ich bin psychisch krank, klein und schwach. Ich sitze im Versteck, in der Psychiatrie und in mir selbst. Hilflose Hände berühren meine Unterarme, und mir bleibt nichts, als das verlegene Streicheln zu dulden.
Kurz darauf sitze ich wieder allein auf dem Bettrand und ziehe vorsichtig an der Schublade. Camilles Augen leuchten mir matt aus dem Halbdunkel entgegen. Langsam hole ich das Buch hervor und fühle die rissige Pappe. Ich streichle über Camilles Gesicht, das auf dem Foto noch jung und kraftvoll ist, nur von den Kratzern auf dem Umschlag entstellt. Beim Blättern fällt mein Blick auf ein Bild der Schwätzerinnen aus Onyx. Eine kleine Anordnung, auf den ersten Blick unscheinbar. Vier nackte Frauen sitzen in einem Winkel auf einem Bänkchen und sind einander im eifrigen Gespräch zugewandt. Obwohl sie aussehen, als treibe sie Klatschsucht und Neugier, liegt in ihren Körpern eine Anmut, die hinter ihrer Plauderei etwas Tiefergehendes und Wertvolles vermuten lässt. Waren die Schwätzerinnen, entstanden um 1905, der Ausdruck eines letzten Versuchs von Camille, zu einem gesunden Leben in Kommunikation mit anderen zurückzufinden? Ihr Interesse an Stilisiertheit und an den kleinen Formen der japanischen Kunst – war es nicht ihr Ansatz eines Weges in die Moderne – weg vom 19. Jahrhundert und weg von Rodin? Aber warum konnte sie diesen Weg nicht gehen, sondern musste ins Bodenlose stürzen?
Angesichts von Emmas drohender Abreise geht es mir schlecht, nach dem Gespräch mit meinen Eltern erst recht. Am anderen Morgen lege ich mich nach dem Aufstehen gleich wieder ins Bett. Ich habe nicht die Kraft, an der Morgenrunde teilzunehmen. Diese Runde ist Pflicht. Wie immer, ohne anzuklopfen, stürmt Bernd Grützner ins Zimmer. Ich ziehe die Bettdecke ans Kinn: So sind die Verhältnisse zwischen Männern und Frauen auf der Krankenstation. Pfleger kommen einfach herein, nicht mal ein Bett ist ein Schonraum.
Auch ich gehe als Ärztin in manches Zimmer, ohne erst um Erlaubnis zu bitten. »Kommen Sie«, sagt Grützner. »Wir warten auf Sie.« In der Morgenrunde dankt Emma Kern gerade »allen auf Station« für die gute Zeit. Sie drückt Frau Dr. Gärtner, die heute den Kreis geleitet hat, die Hand und sagt: »Geben Sie auf meine Freundin acht. Ich werde in den nächsten Tagen nach ihr sehen.« »Da ist sie ja.« Frau Dr. Gärtner sieht mich, sagt: »Setzen Sie sich.« »Es tut mir Leid«, sage ich. »Mir ist nicht gut heute. Ich hatte gestern Besuch von meinen Eltern.« Verdammt, ich bin schon sehr psychiatrisiert, dass ich hier so rede, denke ich, mich selbst beobachtend. Eine Umarmung mit Emma, theatralisch, wie in einem schlechten Film. Ich sitze neben ihr. Viel bekomme ich nicht mehr von dem morgendlichen Ritual mit, aber ich bin an meine Pflicht erinnert worden und habe ihr Genüge getan. Dann folge ich Emma in den Flur, wo ihre Koffer stehen. »Du freust dich?«, frage ich sie etwas schüchtern. »Ich sehe es sachlich«, entgegnet sie. »Es ist eine Hilfe, dass man in die Klinik kommen kann. Aber weitaus besser ist es, wieder zu gehen. Du wirst das auch merken.« Ihr Freund kommt, um sie abzuholen. Ich sehe ihn zum ersten Mal: groß, langhaarig, und etwa zehn Jahre älter als wir. Sie hat ein Zuhause, durchfährt es mich. Aber wohin führt mein Weg? Eine Schwester schließt hinter ihr die Stationstür ab. Mir fehlt Emma sofort. Ich soll an einer Einkaufs- und Kochgruppe teilnehmen. Missmutig trotte ich unter der Führung einer Krankenschwester mit einigen anderen in einen Discounter, einen dieser Läden, wo die Ärmeren unserer Gesellschaft um ein paar Cent feilschen, die ein Tetrapack mit Saft noch
billiger ist als ein anderes. Es gibt ein künstlich niedrig gehaltenes Budget für die Gruppe, von dem die Zutaten für ein Essen besorgt werden sollen, das man anschließend gemeinsam zuzubereiten hat, und wenn das Geld nicht mal für einen aus Chemie bestehenden Schokopudding reicht, gibt es eben nichts zum Nachtisch. Die meisten nehmen gern an der Kochgruppe teil, bedeutet das einmal wöchentlich aus eigenen Zutaten hergestellte Essen doch eine Abwechslung von der Krankenhausspeisung. Aber mir ist es unangenehm, dieser Gruppe anzugehören, die sich so auf ein Leben als Sozialhilfeempfänger vorbereitet. Über das Kochen habe ich mir nie Gedanken gemacht. Man isst in der Kantine, und abends streicht man sich ein Brot. Ich habe gern gegessen, wenn ich mit Olaf ausgehen konnte. Jetzt stehe ich hier, mit ein paar Cent in der Hand, und soll damit wirtschaften. Frau Timm, eine Schwester, überwacht den Ablauf, erstellt im Gruppengespräch den Speiseplan für die jeweils kommende Woche. Sie ist kaum älter als ich, und doch spricht sie mich in einem Ton mit meinem Titel an, der mich gering erscheinen lässt. Männer und Frauen beteiligen sich hier gleichermaßen am Kochen, darauf wird großen Wert gelegt. Der einundfünfzigjährige Christoph hat bis zur Trennung von seiner Frau nie selbstständig gekocht, nun dickt er mit Eifer Bratensoße an. Käthe, die schon lange in der Gruppe ist, konkurriert mit Frau Timm und versucht beim Kochen das Heft an sich zu reißen. In der Küche bilden sich Hierarchien, und ich stehe am Rand. Frau Timm bittet mich zum Gespräch. »Sie müssen sich stärker einbringen und sich mehr in die Gruppe integrieren, Frau Dr. Schindler«, meint sie. »Ich habe im OP gearbeitet. Und jetzt soll ich mit diesen Leuten hier grüne Bohnen schnippeln!«
»Viele hier sind nicht mehr das, was sie mal waren. Sie müssen das Leben so bewältigen, wie Sie es jetzt können. Und das Kochen ist ein bedeutender Faktor für die Gemeinschaft.« Wie ein gestraftes Kind kehre ich in die Küche zurück. Mit Tränen in den Augen fege ich den Fußboden in der Küche. Beate, ein junges Mädchen, mit dem ich bislang kaum gesprochen habe, berührt tröstend meine Schulter. Ich möchte ihre Hand abschütteln, aber unter den Blicken von Frau Timm kann ich mir das nicht leisten. Ich möchte fort von hier, ich will kein Mitglied dieser Gruppe sein! In meinen Schläfen pocht die Angst: Hier wird über das Kochen diskutiert, aber wer zeigt mir, wieder ohne Angst den OP zu betreten? Ich spreche mit Prof. Scheffler. Als ich ihm erzähle, was Frau Dr. Gärtner zu mir gesagt hat, nickt er mir beruhigend zu und meint: »Sie wissen es doch selbst. Wenn man nicht der behandelnde Arzt ist, kann man wenig befriedigende Auskünfte geben. Ich denke, mit etwas Geduld und einer guten therapeutischen Begleitung werden Sie durchaus wieder in Ihrem Beruf arbeiten können.«
In der dritten Woche komme ich in die Ergotherapie. Die Kunsttherapieräume befinden sich in einem Nebengebäude. Zuerst soll ich mit Wachsmalkreiden malen. Wie ein Schulkind, denke ich. Die dicken, bunten Stifte färben an den Fingern ab, meine Hände bewegen sich ungelenk. Ich skizziere eine hochgewachsene Frau in Schwarz. Auf dem leeren Blatt ist sie allein. Die Ergotherapeutin meint, ich hätte eine starke zeichnerische Linie. Das nächste Mal soll ich mit Speckstein arbeiten. Ich will nicht. Nein! Camille! Der Erste Weltkrieg ist zu Ende, und sie wird nicht entlassen. Man gibt ihr Ton. Sie soll modellieren, aber sie rührt nichts an.
1920. Mile. Claudel beharrt noch auf ihren Verfolgungsideen, die sie vor allem in ihren Briefen äußert. Ihre körperliche Verfassung ist gut. 1930. Systematischer Verfolgungswahn auf der Basis falscher Deutungen. 1940. Gleichbleibender mentaler Status. 8. Mai 1943. Der Zustand unserer Kranken ist recht mittelmäßig. Sie wird zunehmend schwächer. Auch ihre Geisteskräfte lassen nach. Gedächtnisschwund, Senilität. Ihr Zustand ist ernst, und angesichts ihres vorgerückten Alters ist ihre Prognose kritisch. In der nächsten Therapiestunde bitte ich die Therapeutin, mich lieber wieder malen oder etwas basteln zu lassen, aber sie führt mich in eine kleine Werkstatt mit Holztischen. Raspel, Meißel und Feilen in verschiedenen Formaten liegen bereit sowie Tücher; und jeder, der an einer Holz- oder Steinplastik arbeitet, muss eine Schürze tragen. Hier hat ein Mann das Sagen, der mir gleich einen Platz zuweist. Er legt mir einen glatten, rundlichen, etwa pampelmusengroßen Speckstein und das passende Werkzeug dazu hin. Die Gedanken an alles, was nur im Entferntesten mit Bildhauerei zu tun hat, sind fürchterlich. Habe ich nicht in einem meiner schlimmsten Momente in den Dreck gegriffen und gemeint, Kunst zu schaffen wie Camille Claudel? Aber da tritt sie, für alle anderen unsichtbar, vor mich und lächelt mir leise zu. Sie ist wieder jung. Ihre energischen Blicke taxieren den Marmorblock, der vor ihr steht, die Bewegungen ihrer Hände sind zielgenau und sicher. Rodin mag keine Arbeiten in Stein, er bevorzugt den Bronzeguss. In Stein lässt er seine Entwürfe lieber von seinen Steinmetzen ausführen. Aber Camille liebt den Marmor! Sie setzt den Meißel an und schlägt mit einem Hammer zu, passgerecht trifft schon der erste Schlag. An ihrem Haaransatz bilden sich Schweißperlen, ihr kräftiges Haar
wird feucht vom Schwitzen und zugleich stumpf vom feinen Staub. Sehr langsam ziehe ich die Schürze an und inspiziere die Raspel und die kleinen Feilen. Speckstein ist ein sehr weicher Stein, das Werkzeug hinterlässt sofort seine Spuren. Mit der Raspel arbeite ich aus dem runden Stein ein Herz. »Ist das für jemanden bestimmt?«, fragt die Therapeutin. Ich lege meine Hand über das Werkstück und schaue sie nicht an. »Sie haben Geschick«, meint sie dann und gibt mir einen größeren Stein. Die Form einer Büste lässt sich herausarbeiten. Mit der Raspel konturiere ich den Kopf und die Schultern, mit der Feile schabe ich die Halspartie. Käthe sitzt neben mir und stellt Stempel her. Sie rückt dicht an mich heran und schaut mir über die Schulter. Ich halte inne. »Bitte arbeiten Sie weiter«, ermutigt mich die Therapeutin. »Mich hat das mal interessiert, als ich noch Schülerin war. Aber dann habe ich mich für die Medizin entschieden.« Von Camille Claudel habe ich als junges Mädchen nichts gewusst. Kein Wort über sie! Die kleinen Specksteinarbeiten lege ich auf die Fensterbank meines Zimmers.
Professor Scheffler bestellt mich zum Gespräch und erschreckt mich mit den Worten, es sei die Vorbereitung meiner Entlassung. Er erscheint heute unkonzentriert, wie ein Mensch, der wenig Zeit hat, und seine Blickkontakte zu mir sind kurz. Seine Augen sind häufiger auf die Akten, Notizen und auf das Telefon in seinem Besprechungszimmer gerichtet als auf mich. »Ihre Krankschreibung haben wir bei Ihrem Hausarzt verlängern lassen. Damit ist Neutralität gewährleistet.« »Wann, meinen Sie, werde ich meinen Dienst wieder antreten können?« »Sie sollten sich noch eine Weile erholen.«
»Kann es wiederkommen?« »Es kann immer wieder kommen. Etwa jeder Hundertste erlebt einmal in seinem Leben eine Psychose. Bei einem Drittel der Betroffenen bleibt sie ein einmaliges Ereignis.« »Ich habe Angst.« »Wir haben Kontakt zu Ihrer Ärztin Frau Dr. Hanson aufgenommen. Sie wird Sie medikamentös einstellen. Bitte besuchen Sie ihre Sprechstunde. Sie wird Sie auch über Möglichkeiten einer regelmäßigen Psychotherapie informieren.« Vier Tage später packe ich meinen Koffer und verstecke die Specksteinarbeiten zwischen meinen Kleidern. Kehre ich zurück in mein früheres Leben? Fast fünf Wochen war ich hier. Meine Mutter holt mich ab. Als ich die beengenden Räume der Psychiatrie verlasse, verspüre ich ein Gemisch aus Melancholie und Erleichterung. Professor Scheffler wiederholt beim Abschied seine Empfehlung, von nun an regelmäßig einen niedergelassenen Psychiater aufzusuchen und eine Therapie zu beginnen. Meine Mutter steht bei dem Gespräch dabei, nickt ernsthaft mit dem Kopf und versucht, mir ein aufmunterndes Lächeln zu schenken. Inga ist zu Hause. Leichtfüßig bewegt sie sich durch die Räume, ein junger Mensch voller Selbstvertrauen, wie auch ich einer war. Mein Leid kann sie von außen beobachten, aber wie es mir scheint, wirkt es fremd auf sie. Mir bleibt, zwischen meinem Kinderzimmer und dem Wohnzimmer hin und her zu gehen, ratlos, verunsichert, besorgt. Oft sitze ich müde im Sessel, während sich die anderen unterhalten. Wenn sie fragen, wie es mir geht, sage ich »gut«. Aber in Wirklichkeit grüble ich nur über mich, meine Zukunft und mein seltsames Verhalten nach. Ich schäme mich für den »magischen Kreis« aus Messern, Gabeln und Löffeln, den ich in Ingas Zimmer aufgebaut hatte. Was soll sie von ihrer Schwester denken?
Meine Eltern beobachten mich und tun zugleich, als wäre alles in Ordnung. Ich muss zu Franka in die Praxis. Auch ihre Blicke sind voller Mitleid, ich mag all die traurigen Gesichter nicht mehr sehen. Vorbei sind die Zeiten, in denen man respektvoll zu mir aufschaute. Wie konnte ich nur so tief fallen? »Ich wusste nicht, dass es so schlimm kommt. Wäre mir das klar gewesen, hätte ich früher eingegriffen, massiver.« Franka hat ein schlechtes Gewissen, weil sie mir nur Tabletten aufgeschrieben und mich dann nach Hause geschickt hatte. Man meint es gut, aber man hat keine Zeit. Mein Hals ist zugeschnürt. Selbst wenn sie Zeit gehabt hätte, was hätte das genützt? »Ich habe gesponnen, Franka. Viereinhalb Wochen Psychiatrie, wie soll ich da wieder arbeiten können?« »Du kannst auch jetzt noch nicht arbeiten«, sagt Franka zu mir. »Ich verschreib dir jetzt deine Medikamente.« »Franka, in mir ist kaum ein Funke Energie. Ich kann mein Leben nicht mehr bewältigen!« »Bemitleide dich nicht selbst«, sagt Franka. »Du hast eine Depression. Es ist ganz typisch, dass auf eine Psychose eine Depression folgt. Du musst dich fangen und Boden unter den Füßen gewinnen. Dann kannst du auch bestimmt wieder arbeiten gehen.« »Ich will meine Gesundheit, mein Glück wiederhaben!« Franka stützt sich auf ihrem Schreibtisch, der uns trennt, ab. »Warst du denn glücklich?« Von Olaf habe ich seit unserem Abschied nichts mehr gehört. Ihn anzurufen traue ich mich nicht. Denn er wird fragen, wo ich war, und er wird sich erkundigen, warum ich immer noch krank geschrieben bin. Dann weiß es das ganze Krankenhaus, und ich werde gehen müssen und ohne berufliche Perspektiven dastehen, eine psychisch Kranke, die vormals Ärztin war und
jetzt brav in eine Tagesklinik geht oder gleich in eine betreute Wohngruppe einzieht, damit die Tagesstruktur gewährleistet und die Suizidgefahr verringert wird.
Wie früher, als ich noch zur Schule ging oder gerade mit dem Studium begann, werde ich in den elterlichen Haushalt integriert: Tischdecken, mal etwas einkaufen, Staub saugen. Aber es bedrückt mich. Inga hat ihren neuen Freund mitgebracht, sie lachen und albern herum und kommen mir lebendiger und wirklicher vor, als ich es bin. Ich fühle mich um Jahre zurückgeworfen. Ein unselbständiges Kind. Ich weine leicht, habe Angst, bereits kleine Aufgaben zu bewältigen: Ich soll das Tafelsilber reinigen und weiß nicht, wie. Ich habe das Gefühl zu regredieren. Innerlich bin ich vielleicht sechs bis acht Jahre alt und habe Angst, das Besteck zu putzen. »Du bist erschöpft. Sieh, was du durchgemacht hast«, versucht mich meine Mutter zu trösten. Sie geht mit mir spazieren. »Du bist doch wieder ganz vernünftig«, sagt sie. »Du redest gar keinen Unsinn mehr.« Mein Vater bietet mir abends Mineralwasser an, während er selbst Rotwein trinkt. »Alkohol kann bei Medikamenteneinnahme schädlich sein.« Inga bemerkt einmal, als ihr Freund nicht dabei ist: »Ich habe mir wirklich Gedanken um dich gemacht. Geht es dir denn wieder gut?« »Ja, ganz gut«, sage ich, als das Telefon klingelt und Inga an den Apparat eilt. Ich bin wie erstarrt. Da ist kein Wille, der von innen kommt. Ich fühle mich seltsam taub, und das kommt nicht nur von den Tabletten. Ab und zu blättere ich in meinen Büchern über Camille Claudel. Doch ich finde dort keine
Antwort auf meine quälende Frage, wie ich wieder erwachsen, wie ich wieder die Frauenärztin Birgit Schindler werden kann. Im März laden mich die Eltern zu einer Reise in den Schwarzwald ein. Eine Woche in einem ländlichen Gasthof. Vom Personal werde ich mit »Frau Doktor« angesprochen. Niemand merkt, niemand weiß, dass etwas nicht stimmt. Überall blühen Krokusse und frühe Osterglocken, das Gras auf den Wiesen beginnt zu grünen und das Laub treibt aus. Wir unternehmen lange Wanderungen, die mein Vater anführt. Stolz erzählt er, wie er als Junge gelernt hat, die Wegmarkierungen zu lesen. Abends gibt es ein kräftiges und schmackhaftes Essen. Ich spüre, wie mein Körper sich erholt, und die ruhige Präsenz meiner Eltern erweckt den Anschein, als wäre alles andere nur ein Alptraum. Doch das Gefühl der Bedrücktheit weicht nicht von meiner Brust, auch nicht, als ich auf dem Hof in der Frühlingssonne sitze und auf ein Beet voller Primeln blicke. Denn das ist kein Alptraum, keiner der Schrecken der Kindheit, die erst Furcht bereiten, später aber durch die sichere Hand der Eltern aufgelöst werden. Der Gasthof, ein hübsches Anwesen mit geschmückten Baikonen, wird von freundlichem Sonnenlicht beschienen. Er ist wirklich, verkörpert aber nicht die Realität. »Du musst versuchen, wieder selbstständig zu leben«, sagen meine Eltern, als die Reise zu Ende ist. Es wird April, und sie begleiten mich in meine Wohnung. Die Räume sind unbelebt. Streiche ich mit dem Finger über Tische, Schränke und Regale, bleibt Staub an meiner Haut zurück. Es ist eine schöne Wohnung in einem großzügigen Altbau mit hohen Decken und Echtholzparkett! Aber niemand scheint hier zu wohnen. Die Reste meiner experimentellen Töpferei liegen noch da, ich beseitige sie diskret. Dafür kommen die Specksteinarbeiten auf den Nachttisch. Meinen Eltern koche ich einen Kaffee, aus
dem Kaffeepulver ist jegliches Aroma verflogen. Dann verabschieden sie sich, wortkarg, besorgt. »Du kannst ja jederzeit kommen«, meint mein Vater. »Wenn dir nicht wohl ist«, ergänzt meine Mutter. Dann klappt die Tür hinter ihnen zu, und es ist still. Mir ist nicht wohl, aber ich widerstehe dem Impuls, ihnen hinterherzulaufen, und beschließe zu bleiben. Wenige Menschen sind es, die um mich herum bereitstehen. Meine Wünsche nach Nähe und Aufmerksamkeit muss ich sorgsam dosieren. Ich spüre die Wirkung der Medikamente, die meine Gefühle dämpfen. Dann sehe ich, dass mein Anrufbeantworter blinkt. Eine Sekunde denke ich, es ist Olaf, der von meiner Rückkehr erfahren hat und sich nach mir erkundigt. Auch Ben fällt mir ein. Aber alle Anrufe sind von Emma, es sind vier, mit etwa ein bis zwei Wochen Abstand eingegangen. Sie erkundigt sich nach meinem Befinden und gratuliert zu meiner Entlassung, von der sie durch einen Anruf »auf Station« erfahren habe. Dann fragt sie nach meinem Verbleib, und der dritte und vierte Anruf klingen besorgt, warum ich nicht in der Wohnung zu erreichen sei und nichts von mir hören lasse. Sofort krame ich in meinem Adressbuch nach ihrer Nummer, verlegen, dass ich mich nicht gemeldet habe. Emma ist froh, meine Stimme zu hören. »Wie geht es dir denn?« »Bescheiden.« »Komm doch vorbei. Wir können einen Spaziergang machen, und dann bereite ich uns ein Abendbrot.« Das Wetter ist mild, und mit der Straßenbahn fahre ich durch die halbe Stadt. Emma empfängt mich in einer großzügigen Atelierwohnung. Im Wintergarten steht ein breiter Schreibtisch, auf dem sich Papierstöße stapeln. Emmas Haar ist locker aufgesteckt, ihre Haut wirkt, wie bei unserer ersten Begegnung, sehr hell auf mich. Sie trägt ein grünes Gewand und eine schwarze Legging. Wie konnte ich Emmas Existenz
verdrängen? Sie wirkt so belebend, so ermutigend auf mich! Gemeinsam mit ihrem Freund essen wir zu Abend. Es gibt selbstgemachte Pizza und Feldsalat. Ich spreche von meiner Angst, ab jetzt allein in meiner Wohnung zu leben, und Robert sagt: »Komm zu uns, so oft du magst.« Aber ich möchte keine Bittstellerin sein. Trotzdem tut es gut, einen Ort zu wissen, den man aufsuchen kann. In den folgenden vierzehn Tagen bin ich häufig bei den beiden. Immer wieder spreche ich von dem Lampenfieber vor meiner Arbeit, aber Emma redet mir gut zu, und zum 1. Mai lasse ich mich vom Hausarzt gesund schreiben.
Der Weg zum Krankenhaus erscheint mir weit, und der Wind weht mir durchs Haar. Ich durchleuchte meine Gefühle und treffe nur auf Furcht. Wenn sie mich fragen, was mit mir ist, muss ich ausweichen. Wenn sie wissen wollen, wo ich gewesen bin, muss ich lügen. Vor meinem inneren Ohr rattern Lehrbuchtexte: »Eine Psychose ist ein krankhafter Geisteszustand, der geprägt ist durch Wahnerleben und veränderte Wahrnehmung bzw. Interpretation der Realität. Dieser Zustand tritt am häufigsten bei der manischen Depression und bei der Schizophrenie auf. Auslöser ist in beiden Fällen eine Fehlreaktion des Gehirns, basierend auf biochemischen Vorgängen…« Kein Wort davon an meinem Arbeitsplatz! Auf der Station treffe ich weder Ben, noch Olaf. Ich betrete unser Stationszimmer und will tun, als wäre nichts gewesen. Vielleicht war ja auch nichts, ich war nur eine Weile krank. Mein Kittel hängt noch immer im Spind. Ich kann mich für einen Augenblick setzen und an die Psychiatrie denken, in der es mir verwehrt war, im Stationszimmer zu sitzen. Eine Kollegin kommt herein, ihr Gruß klingt freundlich bis
gleichgültig. Im Beruf ist das Geschäft Gesetz. Der Arztberuf fordert den Dienst am Menschen, aber die Psychiatrie hat mir eine andere Wirklichkeit gezeigt. Was wollten die Pfleger, wenn sie nicht Kaffee tranken? Die Mahlzeiten mussten eingehalten werden, ausreichend Schlaf musste gewährleistet sein, bei der Medikamentenvergabe durften keine Fehler auftreten. Und der Arzt? War er an meiner Person interessiert? Konnte er meine Notlage erkennen? Verletzungen und Sorgen spüren, die mich depressiv und psychotisch machten? Er konnte nur nach einem Schema handeln. Machen wir hier es besser? Dann sehe ich Ben. Freundlich lächelt er mir zu und drückt meine Hand. In seiner Begleitung ist ein junger Arzt. Er heißt Frank Zabel und wurde in der Zwischenzeit eingestellt.
Prof. Neugebauer muss ich angemessen entgegentreten. Ihr Gruß erscheint mir kühl, oder bilde ich mir das ein? Ich erfahre es nicht, denn wortkarg winkt sie mich heran und schiebt mir einen Stoß Akten herüber, in die ich Nachträge einfügen soll. Es gibt keine Fragen über mein Befinden. Habe ich hier auf Herzlichkeit gehofft? Aber das Schweigen hat auch Erleichterndes. Stumm versucht man mich zu integrieren, meine persönliche Sphäre bleibt geschützt. Bei der Visite gehe ich mit, muss aber nicht sprechen. Hier liegen Patientinnen, für die ich nicht verantwortlich bin. Frau Prof. Neugebauer fragt nach jedem Kasus, konstatiert den Stand der Operationen oder erfragt Details über Neuzugänge. Frank Zabel erstattet als jüngster diensthabender Arzt vor jeder Tür Bericht. Ben steht in meiner Nähe. In einem kurzen Augenblick zwischen zwei Visiten nimmt er meine Hand und sieht mir ins Gesicht: »Schön, dass du wieder da bist.« Nach der Visite finden zwei Operationen statt. Ich bleibe im Stationszimmer, man hat mir
Dokumentationen zur Bearbeitung gegeben. Aber ich bin unkonzentriert. Etwas blockiert mich. Mein Gehirn arbeitet so langsam. Ich bin nicht gesund. Was geschieht, wenn jemand es merkt?
Am anderen Tag führt mich mein Weg in die geburtshilfliche Abteilung. Ich habe Papiere abzuliefern, doch treibt mich ein unbestimmtes Verlangen nach Olaf, gepaart mit der Furcht, ihm zufällig zu begegnen. Ich begrüße die Kollegin im Kreißsaal. Hier ist es anders als auf unserer Station. Auch anders als in der Psychiatrie. Die Stimmen der Schwestern sind freundlicher, die Gangart ist weicher und harmonischer, hier ist man mehr bemüht, denn die Geburt wird als kostbares Ereignis gefeiert. Ein Gebärmutterkrebs hat nichts Erhabenes. Genauso wenig wie eine Psychose. Ich laufe durch die Säuglingsstation und beobachte die noch müden Mütter, die in ihre warmen Bademäntel eingewickelt über die Flure schleichen, durchsichtige Wagen vor sich herschiebend mit ihren Neugeborenen darin. Würde ich lieber hier arbeiten? Olaf sitzt in seinem Zimmer und blättert in einer Akte. Wie schön er ist, so schlank und zugleich so energisch. Mit trockenem Mund schlucke ich und warte, bis er aufsieht. Er erblickt mich und eine flackernde Röte überzieht die Haut seines Gesichts. »Birgit!« Hastig schaut er sich um, ob niemand in der Nähe ist, ehe er aufsteht und auf mich zugeht. Seine Hand macht eine einladende Bewegung in sein Zimmer, und als ich ihr langsam folge, schließt er hinter mir die Tür. Er umarmt mich, aber er gibt mir keinen Kuss. »Olaf!« Ich will ihm mitteilen, dass es mir besser geht, dass ich seit heute wieder arbeite, will ihm erzählen, wie
schrecklich die vergangenen Monate waren, als mir klar wird, dass auch er nicht wissen darf, wo ich war. Er schiebt mich ein wenig von sich weg und legt mir die Hände auf die Schultern. »Ich habe mir große Sorgen gemacht. Ich habe Nachforschungen angestellt…« Auf meinem Nacken bildet sich Schweiß. »Und?« »Du warst ja nicht zu erreichen. Bei deinen Eltern wollte ich nicht anrufen – was war los mit dir?« Soll ich erleichtert sein oder traurig? Weiß er etwas oder nicht? »Nichts weiter. Ich hatte nur einen schweren Infekt. Bei meinen Eltern hättest du mich erreicht.« Olaf lässt mich los und geht vor seinem Tisch auf und ab. »Über vier Monate krank – da steckt mehr dahinter. Depressionen? Warst du in der Reha? Du warst so seltsam in der Weihnachtszeit – und dann verschwunden.« Meine schwitzenden, kalten Hände krampfe ich ineinander. Dass er jetzt bloß nicht weiterbohrt! »Du bist traurig über unsere Trennung«, sagt er in einem Ton, als hätte er die Abschiedsworte ausgesprochen. Ich weiß nicht, was ich fühle. Meiner spontanen Bereitschaft, mich ihm zu öffnen, schiebe ich einen unsichtbaren Riegel vor. »Wie geht es dir denn, Olaf?«, weiche ich aus. Ich will nicht hören »gut«, denn das schmerzt zu sehr, aber wenn er sagt »schlecht«, öffnet er eine Tür, hinter der Räume liegen, die zu betreten ich nicht im Stande bin. »Viel Arbeit, Birgit, wie immer. Ich müsste mir viel mehr Zeit für meine Gefühle nehmen. Ich verdränge, ich kompensiere. Das ist nicht gut für mich, für dich, für keinen.« Er bewegt die Arme. Seine schlanken Hände suchen in der Luft nach etwas Greifbarem, wie Klavierspielerfinger, die den gewünschten Akkord nicht finden können.
»Ich – ich bin froh, dich zu sehen. Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht.« Als er vor seinem Schreibtisch auf und ab geht, ist mir, als würde ich den Moment der Trennung ein zweites Mal erleben. Ein Entsetzen, das ich verarbeitet glaubte, trifft mich ungeschützt. »Olaf, ich geh dann mal.« »Birgit!« Er kehrt zu seinem Schreibtisch zurück und zieht eine Schublade auf. Möchte er mir etwas zeigen, etwas geben? Vielleicht einen Brief? Olaf hält mir meinen Hausschlüssel hin. »Ich wollte ihn nicht einfach in deinen Briefkasten werfen.« Als ich die Tür hinter seinem Raum zuziehe, zittern mir die Hände und die Knie. Olaf – ich werde ihn Wiedersehen – zwangsläufig. Wir werden uns grüßen, wenn wir uns zufällig begegnen. Viel mehr wird nicht geschehen. Rohde – Rodin. Dieser Moment war in deinem Leben die Schnittstelle, Camille. Am anderen Tag teilt man mir wieder Patientinnen zu, als wäre ich nie fort gewesen, aber man schickt mich nicht in den OP. Eine Unsicherheit, als würde ich in der Haut einer Fremden stecken, will nicht von mir weichen. Der Rhythmus des Kliniktages nimmt Besitz von mir, und ich folge ihm, auch wenn es mich sehr anstrengt. Übergabe, Visite, Aufnahme, Untersuchungen, Patientengespräche. Die Kollegen zeigen sich hilfsbereit, wo mir aufgrund der langen Abwesenheit Informationen fehlen. Bens Verhalten ist freundschaftlich, doch zwischen uns fällt kein persönliches Wort, weder über die Sache mit Olaf, noch über mein langes Fernbleiben. Zeit zum Nachdenken bleibt nicht. Aber etwas diffus Unbehagliches bleibt zurück. Camille fürchtete im Wahn, man wollte sie vergiften. Unterstelle ich, dass man mir Böses will?
Ich muss mit jemandem sprechen, und wie im vergangenen Winter fällt Ben mir als einziger ein. An einem Vormittag, als ich ihn im Außenbereich allein und offenbar nicht in Eile antreffe, spreche ich ihn an. »Mir ist es nicht gut gegangen, Ben. Hast du ein bisschen Zeit?« Es findet sich eine Viertelstunde, in der Krankenhauskantine zu sitzen. Ben bestellt sich einen Tomatensalat, ich kaue an einem Baguette. »Ben, ich bin in eine Krise geraten«, erkläre ich ihm. »Ich möchte mich bei dir für den Abend im Kino entschuldigen.« Er verzieht das Gesicht. »Mit Olaf Rohde – das ist vorbei.« »Wie bist du überhaupt dazu gekommen?« Es geht ihn nichts an. »Ben…« Meine Ellbogen sind auf dem Tisch aufgestützt, und ich halte ihm meine offenen Hände hin. »Ich bin wieder da, aber es geht mir nicht gut. Ich fürchte mich, dass die Panik und der Wahn wiederkommen.« »Wahn?« »Ben, ich musste in die Psychiatrie. Du kannst dir doch vorstellen, was es für jemanden wie mich bedeutet, in die Psychiatrie zu müssen?« Ben schaut zur Uhr. Er schiebt die Schüssel mit dem angegessenen Tomatensalat von sich weg. »Ich habe Patienten«, sagt er und steht auf. »Ben!«, rufe ich ihm zu. »Aber bitte, sag es keinem. Kann ich mich auf dich verlassen?« »Natürlich.« Er räuspert sich. »Es gibt Gerüchte, dass Rohde sich scheiden lässt«, sagt Ben in die Stille. »Er soll eine neue Partnerin haben.« »Wie schön für ihn.«
Dann sitze ich allein vor dem Rest meines Baguettes und mache mir begreiflich, dass ich nicht hier bin um zu frühstücken. Der Arbeitsalltag zehrt an den Kräften. Schon bei der morgendlichen Übergabe habe ich regelmäßig Kopfschmerzen. Alle sitzen um den runden Tisch, die Assistenzärzte etwas abgerückt. Frank berichtet von der Nacht. Vor Nachtdiensten hat man mich bis jetzt bewahrt, aber irgendwann werde ich wieder dran sein, und schon jetzt habe ich Angst davor. Angst, dass es wieder kommt, dass mich die nächste Psychose bei der Arbeit überrascht. Dann Visite. Ich stehe vor der Tür zum Krankenzimmer und halte die Patientenakten in der Hand. Ich muss Bericht erstatten. Prof. Neugebauer und der Kollegenkreis stehen um mich herum, während ich den Fall hinter der Tür beschreiben muss: Frau Held wurde vor drei Tagen operiert. Heute früh ist der feingewebliche Befund von der Pathologie eingetroffen. Wie viele axillare Lymphknoten befallen sind, will Prof. Neugebauer wissen. Jetzt muss ich nachdenken und komme ins Schleudern. Waren es wirklich drei? Oder galt dies für die Patientin zwei Zimmer weiter mit dem ähnlichen Namen? Ich beginne zu stottern. Meine Lippen werden trocken. Aber es gibt keine Kommentare. Jetzt geht es ans Bett von Frau Held. Sie ist Mitte fünfzig, und ihre Arme sind bleich, etwas füllig und zugleich schlaff. Nun muss ich kurz ihre Hand nehmen und Worte finden. Prof. Neugebauer, Ben und Frank stehen um mich herum, sie warten. Eine Schwester macht sich am Kopfkissen zu schaffen. »Was ist los mit mir? Kein Mensch hat mir bis jetzt etwas gesagt.« »Sie wurden erst vor kurzem operiert. Mit dem Befund müssen Sie sich noch etwas gedulden«, versuche ich es vorsichtig.
»Sagen Sie mir die Wahrheit«, fordert Frau Held. »Ich habe Sie doch vor der Tür flüstern hören. Sie wissen viel mehr, als Sie sagen.« Hinter mir räuspert sich Frau Prof. Neugebauer. »Wir wissen wirklich nichts«, sage ich hastig und lasse die Hand eilig los. In der vierten Woche habe ich immer noch keinen Dienst im OP. Dafür schickt man mich häufiger als früher in die Ambulanz. Ich muss Patientinnen untersuchen und zu ersten Maßnahmen weiterleiten. Eine Frau schicke ich zum Lungenröntgen, eine andere zur Oberbauchsonographie. Nachmittags muss ich Frau Prof. Neugebauer über die Patientinnen Bericht erstatten. Sie kraust die Stirn und lässt nicht erkennen, ob sie meinen Worten traut. Mit pelzigen Lippen schlage ich ihr die jeweilige Therapie vor, manchmal nickt sie kaum merklich mit dem Kopf, dann wieder scheint sie durch mich hindurchzuschauen. Bei einer Patientin halte ich die Aufnahmediagnose für falsch, die der niedergelassene Frauenarzt gestellt hat. Er fordert eine Entfernung der Eierstöcke, aber ich habe nur eine leichte Entzündung entdeckt, die medikamentös behandelt werden kann. Prof. Neugebauer wiegt skeptisch den Kopf. Am anderen Morgen teilt sie mir mit, dass natürlich umgehend operiert werden musste. Hätte man auf mich gehört, hätte es erhebliche Komplikationen gegeben. Nun wird mir die Stationsarbeit mit den Patientinnen reduziert. Statt dessen werden die Dokumentationsaufgaben noch ausgedehnt. Ich muss Entlassungsbriefe für die niedergelassenen Ärzte schreiben, Berichte über Diagnosen, Operationen, Befunde und das ganze Prozedere. Wir bedanken uns für die freundliche Zuweisung der Patientin. Für eventuell noch ausstehende Fragen stehen wir Ihnen jederzeit gern zur Verfügung. Wir entschuldigen uns für die verspätete Zusendung des Briefes. Frau Prof.
Neugebauer gibt mir die Briefe regelmäßig mit dem Vermerk Rücksprache erbeten zurück. Ich sitze bis tief in die Nacht im Stationszimmer und formuliere die Schreiben noch einmal neu. Selten schaffe ich es, Emma zu treffen. Aber sie ist überaus stolz auf mich, dass ich wieder als Ärztin arbeite. »Ich könnte das nicht – nicht mehr«, meint sie. »Meine Konstitution, die Belastbarkeit…« »Emma, es läuft nicht gut. Man überlässt mir keine verantwortungsvollen Aufgaben, aber man gibt mir auch kein Signal, zeigt mir keine Orientierung, keine Tendenz.« Meinen Eltern verrate ich nichts. Einmal in der Woche besuche ich sie zum Kaffeetrinken. Sie geben sich, als sei nichts geschehen, und sagen manchmal: »Wie schön, dass alles wieder in Ordnung ist.« An einem Nachmittag werde ich zu Frau Prof. Neugebauer bestellt. Sie fordert mich zum Sitzen auf. »Frau Schindler, wie geht es Ihnen denn inzwischen?«, will sie wissen. »Danke.« »Sie geben sich Mühe, nach der langen Ausfallszeit Ihre Arbeit pflichtgemäß zu erfüllen.« Wenn ich jetzt antworte, kann ich nur etwas Falsches sagen. »Aber wie steht es mit Ihrer Belastbarkeit, Frau Schindler? Wir haben in der letzten Zeit den Eindruck, dass Sie überfordert sind.« »Ich mache alles.« »Wir versuchen die ganze Zeit, Sie zu schonen. Aber sie spüren doch selbst, wie sehr Sie mit Ihrer Belastungsgrenze konfrontiert sind.« Dann entlässt sie mich. Benommen kehre ich zu dem Aktenberg zurück, den ich heute zu bearbeiten habe. Im Stationszimmer ist es kühl, ich friere und fange zugleich an zu schwitzen. Jetzt sehe ich Frau Prof. Neugebauer vor mir, wie
sie mit Olaf Rohde über mich spricht: Frau Schindler ist für unsere Station nicht mehr tragbar. Mir wird übel. Das ist die Psychose. Sie ist wieder da und hat nach mir gegriffen. Den Abend stehe ich noch durch. Ich muss zwei Patientengespräche führen. Wieder stehen angstvolle Menschen vor mir, eine Vierzehnjährige mit ihrem Vater, deren Mutter Brustkrebs hat. Und eine alte Frau, die besorgt nach ihrer Tochter fragt. Ihr kann ich sagen, sie hat nur eine Vereiterung am Gebärmutterhals. Am anderen Morgen habe ich Schüttelfrost. Ich rufe den Hausarzt an und lasse mich krank schreiben. Danach fahre ich zu Franka in die Praxis. »Ich kann nicht mehr, Franka, es geht nicht mehr.« »Birgit, es ist leichtsinnig von dir, dich schon wieder krank zu melden.« Ihr Vorwurf trifft mich im Inneren. Wiederholt sie nicht nur das, was mir auch das eigene Gewissen sagt? Vor ihrem Schreibtisch sitzend, fange ich an zu weinen. Franka streichelt mir unbeholfen die Hand. »Bitte, komm heute Abend zu mir nach Hause. Ich werde mir inzwischen überlegen, wie ich dir helfen kann.« Erschöpft fahre ich aus Frankas Praxis in meine Wohnung. Bei Tageslicht wirkt alles etwas ungepflegt, weil ich kaum dazu kam zu putzen. Oder ist die Wohnung nur der Spiegel eines weiteren psychischen Verfalls, der sich langsam heranschleicht? Ich setze mich an den Tisch und warte auf Verfolgungsgedanken, imaginäre Gestalten, Stimmen. Aber in mir und um mich bleibt es ruhig, nur eine tiefe Traurigkeit überkommt mich und die Gewissheit, dass ein fünfwöchiger Psychiatrieaufenthalt nicht die einzige Folge meiner Psychose bleibt. Am Abend serviert mir Franka eine Portion Pasta al Salmone und ein Glas Weißwein mit den Worten: »Lass dir mal gut tun und vergiss für einen Abend die Beipackzettel deiner
Medikamente. Was du jetzt brauchst, sind Menschen, die dich unterstützen.« »Meine Eltern – « »Deine Eltern sind gut, aber was du jetzt benötigst, sind professionelle Helfer. Ich kenne einen sehr guten psychosozialen Dienst. Ich versuche, dir einen Platz im Betreuten Einzelwohnen zu besorgen.« »Was soll denn das schon wieder sein?« »Ein geschulter Sozialarbeiter wird zu dir kommen, der dir hilft, deine Rechte zu behaupten. Er kann dir den Kontakt zum Arbeitsgericht herstellen, wenn es sein muss. Das hilft dir meines Erachtens jetzt mehr als eine gewöhnliche Psychotherapie.« »Du willst mir einen gesetzlichen Betreuer verschaffen, der meine Rechtsgeschäfte übernimmt?« »Das hat damit nichts zu tun«, belehrt mich Franka. »Im Gegenteil.« Sie legt mir ein kopiertes Formblatt neben den Teller. Frau Dr. Birgit Schindler, geboren am… ist seit einem halben Jahr in meiner nervenärztlichen Behandlung. Sie leidet an einer seelischen Erkrankung und fällt unter den Personenkreis der §§ 39 und 100 BSHG. Personen, die nicht nur vorübergehend körperlich, geistig oder seelisch wesentlich behindert sind, ist Eingliederungshilfe zu leisten. »Das unterschreibe ich nicht. Wenn ich das unterschreibe, bin ich völlig weg vom Fenster.« »Bitte unterschreib das. Sonst bist du nicht anspruchsberechtigt. Das bekommt kein Dritter zu lesen.« Dann fragt sie mich, ob ich dennoch für ein paar Tage zu meinen Eltern fahren will. »Wenn du jetzt zu lange allein in der Wohnung bleibst, habe ich kein gutes Gefühl dabei.«
Ich schüttele den Kopf. Von meiner neuerlichen Krankschreibung sollen sie nichts erfahren. Müde, aber gesättigt kehre ich in mein Zuhause zurück, das mir von der Welt so abgeschieden erscheint. Erschöpft lasse ich mich aufs Bett fallen. Vielleicht sollte ich Musik hören, damit alles lebendiger wirkt. Aber ich rühre die Geräte nicht an. Als mir die Tränen kommen wollen, höre ich das Telefon und Emmas tröstliche Stimme. »Ich bin wieder krank geschrieben«, sage ich mit trockener Kehle. »Und jetzt?« »Ich glaube, ich verliere meine Stelle.« »Ach was, du bist so gut, die werden dich schon wieder haben wollen.« »Emma, ich schaffe das nicht mehr.«
VI
»Ich weiß was für uns, das uns gut tun wird«, versucht mich Emma aufzumuntern. »Ich möchte mit dir jemanden besuchen, den du kennen lernen solltest. Sie heißt Eleonore. Als junge Frau hat sie selbst mehrere Psychosen erlebt. Während der Nazizeit kam sie nach Bethel und durchlitt die Psychiatrie des Dritten Reiches. Aber all das hat sie gestärkt. Heute ist sie eine alte Dame und engagiert sich für die Rechte der Betroffenen. Sie arbeitet mit Universitäten und anderen Institutionen zusammen und ist inzwischen ziemlich berühmt.« Ich weiß nicht, ob ich diese Frau kennen lernen möchte. Im Moment traue ich es mir jedenfalls nicht zu: reisen, starken Persönlichkeiten begegnen, ihnen ebenbürtig entgegentreten. Aber dann sitze ich mit Emma im Zug, drücke traurig die Stirn gegen die Fensterscheibe, lasse die Landschaft vorüberziehen und denke an meine verlorenen Perspektiven. Emma betrachtet mein sich in der Scheibe spiegelndes Gesicht und meint: »Das Hauptproblem vieler Psychoseerfahrener ist, dass sie sich selbst abwerten. Du scheinst noch zu denken, alle Menschen mit Psychosen enden automatisch als soziales Wrack.« »Und du? Hast du denn keine Beeinträchtigung durch deine Krankheit erlebt?« »Doch, schon. Nach einer schweren Psychose kann ich mich oft monatelang nicht konzentrieren. Ich bin depressiv und muss starke Medikamente nehmen. Ohne die Krankheit hätte ich vielleicht als Lehrerin für Kunst und Literatur irgendwo anfangen können, aber bei der fehlenden Belastbarkeit und den
Lücken im Lebenslauf ist das schwierig. Jetzt bin ich Rentnerin. Da bin ich auch nicht immer stolz drauf.«
Eleonore lebt in einer ländlichen Region, sie bewohnt ein Hinterhaus. Emma geleitet mich durch einen Garten, der liebevoll gepflegt ist und zugleich urwüchsig scheint. Üppig blühen zahllose Blumen. Die Haustür ist nur angelehnt. Mit einem Gruß schiebt Emma sie auf. »Herein!«, ruft eine klare Stimme von innen. Sie klingt nicht nach einer alten, gebrechlichen Frau. Doch Eleonore kann uns nicht in der Tür empfangen, denn das Gehen fällt ihr schwer. Emma und ich durchqueren einen kleinen Raum voller Bücher, um die hintere Stube zu erreichen. Dort sitzt Eleonore, eine vergnügt blickende Dame mit kinnlangem grauen Haar. Emma stürmt auf sie zu; Eleonore hebt die Hände und streichelt ihr kräftig über die Wangen. »Das also ist Emma Kern. Wir haben schon so oft miteinander telefoniert. Ja, so etwa habe ich mir dich auch vorgestellt!« »Das ist Birgit, meine Freundin.« »Arbeitet ihr zusammen?« »Ich hatte auch eine Psychose«, sage ich leise. »Setzt euch doch.« Auf dem runden Tisch, hinter dem Eleonore auf einem Sofa sitzt, sind liebevoll Tee, Wasser und Plätzchen gedeckt. »Unseren Trialogischen Kreis gibt es nun schon in über hundert Städten. Wollte ihr bei euch nicht vielleicht einen gründen?« Emma schenkt Getränke ein. Ihre Hand zittert ein wenig. »Ich würde gerne. Aber ich weiß nicht, wie.« »Ihr müsst euch natürlich mit den Trägern der Sozialpsychiatrie zusammentun. Und ihr müsst euch
erkundigen, ob es bei euch einen Verein der Angehörigen psychisch Kranker gibt.« »Gibt es, ich kenn die alle.« »Ich glaube, Emma, ich erkenne dein Problem. Du fürchtest dich davor, mit denen zu kooperieren, die du zu oft als deine Gegner wahrgenommen hast.« »Was ist das denn, ein Trialogischer Kreis?«, frage ich vorsichtig. »Das ist ein Gesprächskreis, in dem Psychose-Erfahrene, Angehörige und Psychiatrietätige gleichberechtigt zu Wort kommen. Da zählt nicht nur die schulmedizinische Perspektive, sondern die Erfahrungen und Erlebnisse der Betroffenen stehen im Mittelpunkt«, erklärt Emma. »Eleonore ist die Erfinderin dieses Konzepts. Inzwischen hat es weite Kreise gezogen.« Eleonores Blicke ruhen nun auf mir. »Wer bist denn du?«, fragt sie mich konzentriert. »Du hast so beiläufig erwähnt, du hattest eine Psychose. Das sagt man doch nicht nur so dahin!« Unter dieser intensiven Zuwendung kommen mir die Tränen, aber ich schaffe es, sie zurückzudrängen. »Ich bin Ärztin«, presse ich zwischen den Zähnen hervor. »Aber ich kann nicht mehr arbeiten.« »Du scheinst eine starke Persönlichkeit zu sein«, meint Eleonore. »Da hat Emma eine wirklich gute Freundin gefunden. Ich glaube, du hast deine Psychose noch nicht verarbeitet, Birgit. Das kann Jahre dauern. Meine erste Psychose hatte ich mit neunzehn Jahren. Mir eröffnete sich eine magische Welt, und ich verstand nicht, dass ich dafür mit der Psychiatrie bestraft wurde. Bis heute begreife ich nichts warum man für das Psychose-Erleben so gedemütigt wird. Man kann es doch auch als Begabung sehen, als besondere Fähigkeit, die Welt wahrzunehmen!«
Sie bittet Emma, ihr ein Buch zu bringen. Dort schreibt sie eine Widmung hinein, gibt es mir und meint: »Das ist meine Autobiographie. Ich schenke sie dir.« Lange unterhalten sich Eleonore und Emma über die Botschaften des Psychose-Erlebens. Stumm höre ich zu. Zum Abschied nimmt Eleonore uns in die Arme. »Ich möchte dich gerne Wiedersehen«, sagt sie zu mir. »Hab keine Angst. In der Psychose spricht dein Unbewusstes zu dir, wie im Traum.«
Zurück in meiner Wohnung finde ich die schriftliche Aufforderung, einen Amtsarzt beim Gesundheitsamt aufzusuchen. Vage spüre ich, dieses Schreiben hat mit meinem Arbeitsplatz zu tun. So ist es auch. Der Amtsarzt entspricht ganz dem Klischee: Vierschrötig wie er ist, wischt er sich mit einem Taschentuch über die blanke Stirn und fasst sich an seine Brille. Aber für mich ist hier kein Ort, um über andere zu lachen. In bemüht beruhigendem Ton erklärt er mir, dass mein Arbeitgeber ein »Gutachten auf Arbeitsfähigkeit« in Auftrag gegeben hat. Freundlich teilt er mir mit, dass er zu prüfen habe, ob ich dienstfähig sei. »Sie waren von Dezember bis April krank geschrieben. Dann haben Sie vier Wochen gearbeitet, nun sind Sie wieder krank gemeldet. Können Sie dazu etwas sagen?« »Der Arbeitgeber hat kein Recht, Diagnosen zu erfahren.« Er nimmt die Brille von der Nase und putzt sie mit seinem Taschentuch. Dann sieht er mich an, sein Blick ist mitleidig, aber ehrlich. »Da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Es werden keine Diagnosen an den Arbeitgeber weitergeleitet. Und nun erzählen Sie mir ein bisschen über sich.« »Ich habe einen Erschöpfungszustand.« »Sie waren in psychiatrischer Behandlung?«
»Ja.« »Darüber sind wir informiert. Warum waren Sie dort?« Was soll ich ihm nur antworten? Es ist sehr anders hier als bei Eleonore. Die Ausdrucksformen des Unbewussten werden den Amtsarzt nicht interessieren, genauso wenig wie Frau Neugebauer. »Private Probleme. Und dann wurde ich in der Klinik unter Druck gesetzt.« »Strengt die Arbeit im Krankenhaus Sie sehr an?« Demütig nicke ich mit dem Kopf. »Der Beruf des Arztes ist sehr anspruchsvoll«, sagt der Arzt. »Er sollte nur von psychisch absolut stabilen Menschen ausgeübt werden.« Ich kann dem Amtsarzt nichts erwidern. Wortlos stehe ich auf und will gehen. Da hält er mich zurück: »Sie sollten vorübergehend nicht Vollzeit arbeiten. Ich rate Ihnen zu einer Therapie.« Ich beiße mir auf die Lippen. »Ein Krankheitsgrund ist kein Kündigungsgrund«, sagt er beschwichtigend. Aber ich weiß es besser. Mein Arbeitsvertrag ist befristet und läuft zum Jahresende aus.
In einem leichten Sommerkleid und mit einer Perlenkette um den Hals sitzt Frau Friese in meinem Wohnzimmer. Sie ist vom Psychosozialen Dienst und hat eine Ausstrahlung, in der sich Elemente einer selbstbewussten Unternehmerin mit denen einer nachsichtigen Krankenschwester vermischen. Sie führt ein typisches Erstgespräch mit mir. Name, Beruf, Diagnose, behandelnde Ärzte und Psychologen, aktuelle Lebenssituation. Dazu macht sie sich Notizen. Wieder bin ich als psychisch Kranke registriert, und prompt muss ich auch ein Formular unterschreiben.
Hiermit erkläre ich mich bereit, mich im Rahmen des Betreuten Einzelwohnens betreuen zu lassen. Ich wurde darüber informiert, dass mir durch die Teilnahme am Betreuten Wohnen keine Kosten entstehen. Dieser Erklärung habe ich ein fachärztliches Attest über die Zugehörigkeit zum Personenkreis der §§ 39/100 BSHG beigefügt. Sie gibt mir zu verstehen, wie begehrt das Betreute Einzelwohnen und wie lang die Warteliste sei. Doch schon nach ein paar Tagen ruft sie an mit der Information, dass der Kollege Schopf verfügbar sei, und verabredet mit mir einen Termin. Er mag Ende vierzig sein. Um seine Augen hat er Fältchen. Sein Haar ist braun und sein Kinn eher breit und kantig. In der Tür grüßt er mich etwas fahrig und streift mich mit einem flüchtigen Blick, der leichte Unruhe verrät. Ich lasse ihn rein. Er komme jetzt zweimal die Woche, um mit mir über meine Anliegen zu sprechen, sei es »was mit Geld oder was mit Ämtern, aber so etwas kennen Sie ja schon«, meint er, während er sich umsieht, wo er sich niederlassen könnte. Er findet den Küchentisch, setzt sich und kramt in seiner Aktentasche. »Sie sind Dr. Birgit Schindler, Gynäkologin an der hiesigen Frauenklinik?« Ich nicke mit dem Kopf. Er betrachtet mich. »Sie haben einen angesehenen Beruf.« »Das scheint bei Ihren Kunden nicht die Norm zu sein«, entgegne ich schnippisch. Gegen meinen Willen steigen Tränen auf, die ich rasch wegwische, aber er hat sie gesehen. »Sie dürfen ruhig weinen, dafür sind wir ja da.« Er räuspert sich. »Es muss ein hartes Schicksal sein für Sie. Aber vielleicht finden Sie einen Weg. Sie haben doch Kraft. Das sehe ich in Ihren Augen.«
»Ich habe eine Psychose.« »Es gibt immer wieder Menschen, denen es gelingt, die Psychose zu überwinden und sich zu rehabilitieren. Vielleicht werden Sie bald wieder in Ihrem Beruf arbeiten.« Für einen Moment entsteht eine Stille, die ich so schnell nicht füllen kann. »Ich musste zum Gesundheitsamt. Meine Arbeitsfähigkeit wird überprüft.« »Fühlen Sie sich stark genug für Ihren Beruf?« »Im Moment nicht.« »Vielleicht wird Ihr Leben wirklich nicht mehr wie früher werden, aber es kann Ihnen gelingen, etwas Neues daraus zu machen.« Ich muss lächeln. Dann sage ich: »Herr Schopf, ich möchte nicht mit jedem Kaffee trinken, der eine ähnliche Krankheit hat.« »Sie wollen auch nicht Gärtnerin oder Bürohilfe werden, nachdem Sie Ärztin sind, was kann ich Ihnen da raten?« Seine braunen Augen ruhen auf mir, und ich betrachte sein Gesicht genauer. Neben dem linken Auge hat er ein kleines Muttermal. Seine Wimpern sind sehr dunkel, die Augenbrauen kräftig. Ohne sich auf mich zu beziehen, beginnt er über die schlechte Konjunkturlage und die Funktionsweise unseres Sozialsystems zu sprechen. »So ein Dienst wie meiner kommt dann dabei heraus. Aber das sind alles nur Tropfen auf den heißen Stein.«
In dieser Nacht schlafe ich schlecht. Immer wieder sehe ich Herrn Schopfs Augen vor mir. Ich finde sie wunderschön. Wann hat mich zuletzt ein Mann umarmt? Mit einer lange nicht da gewesenen Intensität taucht die Gestalt Camille Claudels vor mir auf. Einsam und verlassen liegt sie auf ihrer
Pritsche in Montdevergues und altert langsam. Ihr Körper hungert noch immer nach Liebe, berührt wird er aber nur hin und wieder aus medizinischer Notwendigkeit. Camille wird stumpf und träge. Sie kann das Leid der Isolation nicht mehr ertragen. Sie stirbt ab, ihr Leib erkaltet, auch wenn er noch jahrelang lebt.
Emma versucht mich aufzuheitern. Ich sei doch so superqualifiziert. Ich solle mal an all die anderen denken, die psychisch krank werden, ohne den Rückhalt einer so guten Ausbildung und so hoher Kompetenz zu haben. Sie schildert mir, wie weit sie mit ihren Planungen für den Trialogischen Kreis gediehen sei. Einen Raum habe sie schon gefunden, und nun suche sie nach einer geeigneten Moderation. »Moderier doch selbst.« »Ich weiß nicht, ob ich das als Psychotikerin leisten kann. Vielleicht ist es besser, so etwas macht ein Sozialarbeiter oder ein Arzt.« »Emma, du bist nicht konsequent. Steh zu deinen Fähigkeiten und dem Respekt, den du für psychisch Kranke erreichen willst. Leite diesen Kreis.« »Mach doch mit«, bittet mich Emma. »Wir brauchen deine Kompetenz.«
Am ersten Planungstreffen für den Trialogischen Kreis, an dem ich teilnehme, sind neun Personen beteiligt: Emma, eine Freundin namens Marita, zwei weitere Psychiatrieerfahrene, drei Angehörige psychisch Kranker, eine Sozialarbeiterin, eine Psychotherapeutin. Die Therapeutin ist eloquent und ihrer Sache sicher, sie leitet die Diskussion. Die Sozialarbeiterin protokolliert. Beide betonen, dass sie ehrenamtlich bei der
Sache seien, denn sie hielten die Initiative der Betroffenen für unterstützenswert. Emma und Marita haben Material gesammelt, Unterlagen zusammengetragen. Emma erstattet Bericht, mit roten Wangen und mit Temperament in der Stimme. Marita unterstützt sie, wo sie kann, hat aber nicht den vollen Überblick. Die drei Frauen, die psychisch kranke Familienmitglieder haben, unterbrechen häufig Emmas Rede. Wenn die Sozialarbeiterin oder die Psychotherapeutin sprechen, warten sie respektvoll deren Redebeitrag ab. Ich höre zu, unsicher, ob ich mich als Beteiligte oder als Beobachterin sehe. Sie geben sich alle so gleichberechtigt, und doch scheint es eine Dreiklassengesellschaft zu sein. Die drei Gruppen der »Professionellen«, der »Angehörigen« oder der »Betroffenen« bezeichnen sich auch offiziell so, um den Trialog aufzunehmen. Emma hat mich vorgestellt als Freundin, die an der Arbeit mitwirken möchte. Man nickt mir zu, ohne Fragen zu stellen. Ich sage nichts, ich höre zu. Die Sozialarbeiterin schlägt vor, dass Frau Ammerlan, Psychotherapeutin, den Trialogischen Kreis leiten solle. Frau Ammerlan winkt ab, sichtlich geschmeichelt und der Aufgabe im Grunde nicht abgeneigt. Eine Frau, deren Mann an Psychose erkrankt ist, meldet sich nun, erst zaghaft, dann bestimmter, und meint, es solle eine neutrale Person moderieren, niemand aus dem Vorbereitungsteam. »Wir könnten eine niedergelassene Ärztin anfragen oder jemanden, der mit keiner der drei Gruppen solidarisiert ist.« Marita beschwert sich: »Wieder ein Professioneller, auch wenn es ein Arzt von außerhalb ist? Dann gehört er zu den Ärzten. Die haben doch immer das Sagen. Dagegen wollen wir angehen. Es soll gleichberechtigt sein.« »Dann müsste man die Schwächsten stärken«, höre ich mich sagen. »Emma Kern sollte den Kreis leiten. Sie ist die eigentliche Initiatorin.«
Nun ruhen die Blicke auf mir. »Wer sind Sie? Können Sie etwas über sich sagen?« »Ich bin Ärztin.« »Entschuldigen Sie«, sagt Frau Ammerlan. »Sie sind mit Frau Kern gekommen, da dachte ich, Sie gehörten zum Kreis der ›Betroffenen‹.« Ich schweige. Die Psychotherapeutin scheint enttäuscht zu sein, und die Sozialarbeiterin wirkt skeptisch und irritiert. Aber auch die anderen wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen. »Mach es«, sagt Marita zu Emma. »Wir sollten darüber abstimmen«, meint die Sozialarbeiterin vorsichtig. Sechs Arme zeigen nach oben. Es sind nicht alle Psychiatrieerfahrene, die sich melden, dafür zwei Angehörige, und, nach kurzem Abwarten, Frau Ammerlan.
Am anderen Tag erreicht mich ein Anruf von Ben. Seine Stimme an meinem Ohr lässt mich zusammenzucken. Das Missverhältnis ist schmerzlich: Die Welt, die zum Klang dieser Stimme gehört, und die Themen, mit denen ich mich derzeit befasse. Wie es mir gehe, fragt er, aber als ich ansetze zu erzählen, will er nicht viel hören. Scheu konstatiert er mehr, als dass er sich erkundigt: »Du bist wieder krank?« Ich will Ben nicht fragen, wie der Alltag auf unserer Station verläuft, was die Kollegen tun. Also hängt ein Schweigen zwischen uns und die nicht gestellte Frage, ob man sich einmal privat treffen soll. Es bekommt mir besser, mit Emma zusammen zu sein. Auch Franka treffe ich manchmal, wenn sie Feierabend hat. Dann erzähle ich ihr von Emma und ihren Aktivitäten, frage Franka, ob sie sich nicht auch dafür interessieren könne. Aber Franka meint, das meiste wisse sie doch, und sie meine, einen gleichberechtigten Dialog mit ihren Patienten und auch den Angehörigen zu führen. Fast klingt sie
in ihrer Eitelkeit verletzt, weil ich sie zu ermuntern versuche, an dem Projekt teilzunehmen. Leichter fällt ihr die Frage: »Wie ist denn das Betreute Wohnen bei dir angelaufen?« Mir gibt es einen Schlag, dann fange ich an zu stottern, und es rutscht aus mir heraus, wie sehr mir Gernot Schopf gefallen hat. »Er ist der erste Mann seit langer Zeit, der mir Mut macht.« »Dein Privatleben ist voller unerfüllter Wünsche, Birgit. Wenn du dich jetzt in eine Enttäuschung hineinsteigerst, kann dich das erst recht aus der Bahn werfen.« Ich denke an Olaf, an Ben. Was weiß ich von Gernot Schopf? Er übt seinen Beruf verantwortungsvoll und einfühlsam aus. Aber sein Privatleben geht mich nichts an. Franka lacht und schüttelt mich an der Schulter. »Jetzt verlieb dich bitte nicht in deinen Sozialarbeiter! Erst dein Oberarzt, dann dein Betreuer, schwärmst du nur für Personen, deren Schutzbefohlene du bist?« Traurig schweifen meine Blicke über den liebevoll gedeckten Tisch. Mein Herz verkrampft sich. Trotzdem freue ich mich auf den nächsten Besuch von Herrn Schopf. Ich warte regelrecht darauf. Tagelang. Dann kommt er, pünktlich, sucht am Esstisch Platz, und wie beim ersten Mal sucht er umständlich in seinen Papieren herum, bis das Gespräch beginnt. Ob ich meine Diagnose ertrage, will er wissen. Ich könnte ihm von meinen Ängsten erzählen, als Irre gebrandmarkt zu sein, aber lieber berichte ich ihm von dem Besuch bei Eleonore, von Emma und ihrem Projekt. Er reagiert mit einer etwas holprigen Analyse des sich wandelnden öffentlichen Ansehens psychischer und geistiger Erkrankungen. »Trotzdem denken die meisten bei Psychiatrie immer noch zuerst an Forensik«, räumt er ein.
»Oder an einen grell geschminkten Clown in einem heruntergekommenen Dorfzirkus.« Gernot Schopf kramt wieder in seinen Papieren. »Ich habe für Sie recherchiert«, sagt er dann. »Es gibt hier einen gemeinnützigen Träger, der drei Frauenhäuser betreut. Sie wollen eine Stelle im Medizinischen Dienst ausschreiben, vor allem in der Beratung von Frauen, die Opfer von Gewalttaten oder suchtkrank sind. Könnte Sie das interessieren?« Ich fasse mir an den Hals. »Ich weiß nicht, Herr Schopf. So etwas kommt für mich etwas rasch.« »Sie haben ja noch Zeit, Frau Schindler. Ich kann Ihnen auch keine Versprechungen machen.«
Emma hat es geschafft, den Trialogischen Kreis ins Leben zu rufen. Sie leitet die Gruppe und moderiert die erste Sitzung. Stolz sei sie, über dreißig Personen in dem Gemeindezentrum begrüßen zu dürfen und freue sich besonders, dass zwei Fachärztinnen für Psychiatrie gekommen seien. Es sei erfahrungsgemäß schwierig, dass sich »Professionelle« an diesem Kreis beteiligten. Eine Ärztin meldet sich sogleich zu Wort und meint, es sei wichtig, mehr aus der Sicht von Betroffenen zu erfahren. »Man sollte viel mehr über die Inhalte einer Psychose sprechen«, bestätigt ein Mann, der von sich sagt, dass er seit über fünfzehn Jahren Psychotiker sei. »In der Psychiatrie wird danach nicht gefragt. Aber die Erlebnisse in der Psychose haben sehr viel mit dem eigenen Schicksal und den eigenen Versuchen, das Leben zu bewältigen, zu tun.« »So geht es mir mit meinem Mann«, meint eine Frau. »Wenn er mir erzählen kann, was ihn in der Psychose bewegt, finde
ich Zugang zu ihm. Aber wenn er nur herumirrt und Sachen tut, die ich nicht verstehe, dann ist er mir fremd, und ich weiß nicht, wie ich ihm beistehen soll.« Der Beitrag dieser Frau führt zu einer Diskussion darüber, wie man seinem Partner am besten beistehen kann, wenn dieser eine Psychose hat. Aber immer wieder scheint das Befremden durch, bei den beiden Ärztinnen und bei den Eltern der psychisch kranken Kinder. »Es ist so anstrengend mit meinem Sohn, wenn er mit starrem Blick Mittag für Mittag an unserem Tisch sitzt und nicht spricht. Wenn er sich in sein Zimmer schleicht und stundenlang Gitarre spielt.« »Meine Tochter war gesund und hatte gute Noten, bis kurz vor dem Abitur. Sie wollte Tierärztin werden. Jetzt ist sie achtundzwanzig und wohnt abwechselnd in einem Heim für psychisch Kranke und in unserem Haus. Es ist so schwer zu ertragen, denn es will sich einfach keine Perspektive zeigen.« »Unser Sohn ist aggressiv geworden. Wir haben ihm das Haus verboten, weil er uns das Leben zur Hölle gemacht hat. Jetzt wohnt er in einer eigenen Wohnung. Seine Herumwirtschafterei ist chaotisch, laufend gibt es Schlägereien, immer wieder kommt die Polizei. Aber mein Mann und ich, wir können nicht mehr.« Ich höre zu, versuche diese Eltern zu verstehen. Doch dann rebelliert etwas in mir, ich stehe auf, spreche: »Mein Name ist Birgit Schindler, Frau Doktor Birgit Schindler. Ich bin Ärztin in einem Krankenhaus. Ich bekam eine Psychose, und, obwohl ich über dreißig bin, bin ich solch ein ›psychisch krankes‹ Kind gesunder und gesellschaftskonformer Eltern geworden. Jetzt trage ich die Krankheit mit mir herum, mit allen Konsequenzen. Meine berufliche Laufbahn ist ernsthaft bedroht. Für meine Eltern bin
ich die psychisch kranke Tochter – bedauernswert, bedrohlich, demütigend. Wer bin ich für Sie?« Als ich geendet habe, ist es still im Raum. Niemand antwortet mir, doch ich spüre, dass ich gehört worden bin. Nach einer Weile sagt Emma, die Moderatorin: »Schau in deine Psychose hinein, Birgit. Vielleicht wirst du eine Antwort bekommen.« Die Diskussion geht weiter. Die Ärztin, die am Anfang gesprochen hatte, meint: »Man sagt, Psychotiker hören Stimmen. Doch wer gibt ihnen eine? Wir haben in der Psychiatrie noch manches zu tun.« Ich bin erschöpft, und ich zittere. Es ist lange her, dass ich öffentlich gesprochen habe. Emma beendet die Sitzung mit freundlichen Worten. Während die Runde sich aufzulösen beginnt, verweile ich noch einen Augenblick auf meinem Platz, um zur Ruhe zu kommen. Da merke ich, dass sich jemand neben mich setzt. Es ist eine Frau. Sie sagt: »Meine Tochter leidet seit über zehn Jahren an Schizophrenie. Immer wieder erleidet sie Schübe, und immer wieder muss ich sie beschützen, vor den Nachbarn decken. Ihre Worte haben mir gut getan. Ich habe gemerkt, dass ich mich viel zu oft für meine Tochter geschämt habe, obwohl ich sie liebe. Oft verstehe ich ihre Handlungen nicht, die sie in der Psychose begeht. Warum bemalt sie die Tapeten? Warum häuft sie Streichholzschachteln, Nähgarn und andere banale Dinge unseres Haushalts unter ihrem Bett an? Sie haben so frei gesprochen vorhin. Sie sind Ärztin und sind selbst erkrankt. Man hat Respekt vor Ihnen, und die Scham löst sich auf. Ich freue mich, wenn ich Sie beim nächsten Treffen Wiedersehen kann.« »Ich werde kommen«, verspreche ich. Dann stehe ich auf, um Emma zu suchen. Vor der Garderobe herrscht dichtes
Gedränge. Emma ist nicht zu sehen, statt dessen – Gernot Schopf. »Ach, mein Sozialarbeiter. Ich habe Sie gar nicht bemerkt.« »Ich stand hinter dem Vorhang. Ich wollte teilnehmen, aber dann verzögerte sich irgendwie alles. Ich habe nur die letzten zwanzig Minuten verfolgt… Aber ich denke, beim nächsten Treffen…« Ich drehe mich weg. Er fasst nach meinem Arm. »Warten Sie nicht noch auf eine Antwort auf Ihre Frage?« »Welche Frage?« »Ich möchte Sie Ihnen persönlich beantworten: Für mich sind Sie eine faszinierende Frau.« Im Gewühl entdecke ich Emma. Ich will hin, aber Gernot hält mich fest. »Ich bin eine kranke Frau. Überlegen Sie sich, was Sie sagen.« »Sie blicken so klar in die Welt. Lassen Sie sich von Ihrer Diagnose nicht verrückt machen.«
An unserem nächsten Termin lässt Gernot sich nicht blicken. Statt dessen kommt Frau Friese und meint, es tue ihr Leid, mir mitteilen zu müssen, dass Herr Schopf meinen Fall abgegeben habe. Sie könne sich nicht erklären, warum, ich sei als Patientin doch willig und kooperativ, aber sie müsse sich nach einem anderen Kollegen, einer Kollegin umsehen, die meine Betreuung übernehme. Traurig bleibe ich zu Hause – allein. Der Sommer, der Helligkeit und Wärme mit sich trägt, aber nur mit staubigem Licht gegen meine Fenster drängt, ist eine Versuchung, mich hinausziehen zu lassen in ein desorientiertes Herumtreiben, auf Straßen, in Parks. Vielleicht würde ich in die Nähe der Frauenklinik oder meiner Eltern fahren und in beiden Fällen wieder umkehren. Den Schlüssel im Schloss
herumdrehen, wissend, etwas unternommen zu haben, was keine Bedeutung hat, aber zu meinen, ein Stück Tag bewältigt zu haben. Um dann die Wohnung zu betreten, mich selbst mit einer Stimme, die keinen Klangraum hat, zu begrüßen, und verzweifelt zu versuchen, in der Einsamkeit mit mir selbst umzugehen, und mir bei meinen Alltagshandlungen mein eigenes Gegenüber zu sein, mit dem ich zusammenarbeite – bis der Geist wieder umkippt und ich mir das fehlende Gegenüber, das ich aus mir selbst heraus nicht erschaffen kann, künstlich herbeihole durch eine Wahngestalt, Camille oder jemand anderen. Ein Anruf von Frau Prof. Neugebauer reißt mich aus der Stille. Sie lädt mich zum Gespräch. Ich habe Angst, als ich ins Klinikum fahre, fühle mich aber nicht so hilflos wie vor ein paar Wochen, denn ich muss an Emma denken, an ihr Engagement, an ihren Erfolg. Mir ist, als würde ein wenig von ihrem Selbstvertrauen auf mich abfärben, als ich mich zu Prof. Neugebauers Sprechzimmer begebe. Meine Vorgesetzte ist nicht allein. Neben ihr sitzt eine Kollegin, die ich nicht kenne. Sie stellt sich als Schwerbehindertenbeauftragte vor. »Sie sind bis zum 15. krank geschrieben? Können wir Sie danach wieder zum Dienst erwarten?«, spricht sie mich an. Ich gebe keine Antwort. »Wir haben mit dem Amtsarzt gesprochen«, sagt Prof. Neugebauer. »Uns liegt ein Gutachten vor. Demnach sind Sie zur Zeit beschränkt arbeitsfähig, mit reduzierter Stundenzahl.« Unsicher schaue ich von einer zur anderen. »Ihr Arbeitsplatz wird bis zum Jahresende einem Rehabilitationsverfahren unterstellt. Sie werden auf einer halben Stelle eingesetzt und dürfen keine Operationen ausführen«, erklärt die Schwerbehindertenbeauftragte. »Dann sehen wir weiter.«
»Dann sehen wir weiter«, wiederholt Prof. Neugebauer, »ob eine Vertragsverlängerung möglich ist.« Sie winkt mich hinaus. Als ich in der Tür stehe, ergänzt sie noch: »Und posaunen Sie nicht so laut herum, was mit Ihnen los war.« Was meint sie? Spricht sie von meinem Psychiatrieaufenthalt? Oder von meinen offenen Worten beim Trialogischen Kreis? Ich schaue mich nicht mehr um, als ich eilig das Zimmer verlasse.
Emma ist nach ihrem erfolgreichen Auftakt Feuer und Flamme, mehr zu tun. Eine Journalistin der lokalen Presse hat sie bereits besucht und wollte etwas über ihre Krankheit, ihre Geschichte und ihre Perspektiven erfahren. Sie zeigt mir den Zeitungsartikel, der über sie erschienen ist. Selbst an Psychose erkrankt, leitet sie einen Gesprächskreis für Betroffene, Angehörige und psychiatrisch Tätige, ist der Text betitelt. Ein Foto zeigt sie zwischen ihrem Freund Robert und Marita auf dem Sofa sitzend. Wir machen weiter, steht darunter. »Demnächst findet hier die Psychiatriewoche statt«, erzählt sie mir. »Ich arbeite an einem Theaterstück über den Wahnsinn. Marita macht mit. Wie ist es mit dir?« »Ich weiß nicht. Ich war in meiner Klinik. Sie wollen mir noch einmal eine Chance geben zu arbeiten.« »Vielleicht findest du trotzdem Zeit«, sagte Jimma. Aber dann denkt sie nach. »In meinem Leben ist die Entscheidung gefallen. Ich habe auch keinen Arbeitgeber mehr, vor dem ich Stillschweigen bewahren muss. Das ist traurig, aber« – und sie wedelt mit dem Zeitungsartikel – »es ist auch eine Riesenchance.«
Als ich am anderen Tage den Psychosozialen Dienst anrufe, spüre ich, wie mein Herz schwer gegen die Rippen klopft. Werde ich Gernot Schopfs Stimme hören? Es meldet sich nur ein Anrufbeantworter, und mit der Unsicherheit des gebrannten Kindes, das seiner eigenen Courage nicht recht traut, richte ich Frau Friese aus, dass sie niemand Neues zu schicken brauche, da ich nun wieder berufstätig und tagsüber nicht mehr zu Hause sei. Es ist ein Morgen im Juli, als ich meinen zweiten Anlauf nehme, an meinen Arbeitsplatz zurückzukehren. Im Eingangsbereich sehe ich Olaf, er nickt mir aus der Distanz kurz zu. Nur einen Moment halte ich inne, dann suche ich das Zimmer von Frau Prof. Neugebauer auf. Sie grüßt knapp, aber ihr Gesichtsausdruck erscheint mir nicht so hart. Ich rechne damit, Dokumentationen bearbeiten zu müssen, aber sie weist mir Patientinnen zu. Zuerst muss ich mich mit einer Adnexitis und einem Verdacht auf Scheidenkrebs befassen. Mir ist nicht wohl dabei. Meine Blicke ruhen fragend auf Frau Prof. Neugebauer, aber sie gibt mir keine Erklärung. Ich besuche die Frau mit der Adnexitis allein. Die Patientin ist 42 Jahre alt und hat rötliche Haare, die ihr dünn um das farblose Gesicht fallen. In ihren Augen kann man lesen, dass sie Schmerzen hat. »Ich schicke Ihnen eine Schwester«, sage ich. »Ich habe Angst, dass es etwas Schlimmes ist«, entgegnet die Frau mit schwacher Stimme. Sie will nicht allein sein, das ist alles. »Machen Sie sich keine Sorgen.« Für einen Moment lege ich meine Hand auf ihre Bettdecke. Obwohl die Zeit knapp ist, biete ich ihr an: »Ich bringe Ihnen selbst etwas.« Dann gehe ich zu den Schwestern und hole ein Schmerzmittel. »Es tut weh!« Die Frau krümmt ihren Leib. »Warten Sie, bis das Schmerzmittel und die Antibiotika wirken. Dann wird es besser.«
Ich will sie aufmuntern und trösten. Aber wie? Abwechselnd schaue ich in ihre Patientenakte und auf ihr Gesicht. Dann habe ich die Informationen gefunden: Ein Schwangerschaftsabbruch vor acht Jahren, eine Fehlgeburt vor drei Jahren, seit einem Jahr verwitwet. Ich fordere die Frau auf, sich in ihrem Bett hinzusetzen. Umständlich zerrt sie an ihrem Kopfkissen herum, um den Moment meiner Anwesenheit ein wenig auszudehnen. »Sie sind jung«, sagt sie zu mir. »Sie stehen mit beiden Beinen im Leben.« Ich möchte gerne noch einen Moment bei ihr bleiben und ihr sagen: Von mir gibt es auch so eine Patientenakte. Aber die liegt in der Psychiatrie. Dann nicke ich ihr nur kurz zu mit den Worten: »Sie sind doch auch noch jung.« Ich denke an den Scheidenkrebs und kann sie nur damit trösten, dass ihre Krankheit harmlos ist. »Wir können Sie nur von Ihrer Infektion befreien. Neuen Lebensmut müssen Sie woanders finden als auf unserer Station. Aber ich wünsche es Ihnen.« Die Patientin mit dem Verdacht auf Scheidenkrebs ist schon 62. Die Frau hat die Haare braun gefärbt und eine ähnliche Frisur wie Olafs Frau. Sie ist vollständig angezogen und wartet geduldig auf einem Stuhl im Flur auf den Ultraschall. Ich führe sie in das entsprechende Behandlungszimmer, fordere sie auf, sich auf der Liege auszustrecken und ihre Hose herunterzuziehen. Ich lese im Arztbericht der niedergelassenen Frauenärztin. Von außen untersuche ich die Gebärmutter. »Haben Sie Blutungen?«, frage ich die Frau. Sie nickt. Mit einem Gel reibe ich ihr den Unterbauch ein. Dann mache ich eine Spiegelung ihrer Scheide. Sie hat Angst, versucht aber, es nicht zu zeigen. Ihre Hände krallen sich an den Rändern der Liege fest. Die Geschwüre an den Scheideninnenwänden sind nicht zu übersehen. Ich taste die Frau ab und ahne, dass sich die Geschwüre schon bis zur Beckenwand ausbreiten. Ich
versuche so zu tun, als ob nichts wäre, und nehme eine Gewebeprobe, dann untersuche ich die Leistenlymphknoten mit dem Ultraschall. Auch sie sind verdickt. Für mich ist ziemlich klar, dass die Frau Krebs hat, der lokal bereits weit fortgeschritten ist. Ich werde eine Spiegelung der Blase und des Enddarms anweisen müssen. Zu der Frau sage ich nur: »Wir schicken die Gewebeprobe ins Labor ein. In etwa einer Woche können Sie anrufen, dann teilen wir Ihnen den Befund und die weiteren Maßnahmen mit. Sie können sich wieder anziehen.« Ich schaue der Frau nach, wie sie langsam den Gang entlangtrottet, mit einem tapfer herunterschluckten Gemisch aus Hoffnung und Angst. Ich sehe die Patientinnen vor mir, mit denen ich zu tun haben werde, leichtere und schwerere Fälle, denen man manchmal helfen kann, manchmal aber auch nicht. In meiner Phantasie verändert sich das Gesicht der älteren Frau, ich sehe es bleich werden und angstverzerrt, wenn sie ihre Diagnose erhält. Und gleichzeitig wird die Starre des Nichtwahrhabenwollens ihre Züge verhärten. Was aber ist mein Schicksal gegenüber dem der anderen? Meine Aufgabe ist es, diese Woche zu bewältigen und froh zu sein, trotz eigener Krankheit für die Gesundheit anderer einstehen zu können – wo es möglich ist. Das kann ich, und Camille Claudel konnte es nicht. Sie wurde völlig hinweggefegt, aber ich bin noch da. Dafür hat sie ein Werk geschaffen, das unvergesslich bleibt. Die Bühne ist dunkel. Nur in die Mitte fällt ein Lichtkegel. Dort steht ein karger Holztisch, vor ihm ein Stuhl. Darauf sitzt ein Mensch, vorgebeugt, die Hände auf dem Rücken, in Weiß gekleidet, nein, eingeschnürt. Auch sein Kopf ist bandagiert, sein Gesicht frei, aber nicht zu erkennen, denn er sitzt so gekrümmt, dass seine Stirn die Tischplatte berührt. Ein weiterer Spot springt an, er weist nach links. Von dort betritt eine weitere Person die Bühne, ein Mann im hautengen
schwarzen Gymnastikanzug. Er tritt auf den am Tisch zu, und das Licht folgt seinen Schritten. »Wer bist du?«, fragt der Schwarze. Der in Weiß hebt langsam den Kopf. »Siehst du das nicht?« Der Schwarze geht um ihn herum, langsam umkreist er Tisch und Stuhl und hält den Kopf geneigt. »Du bist der Mensch an sich, der gefesselt ist, aber rein.« »Das ist nicht alles. Was siehst du auf meinem Rücken?« »Bänder.« »Ich trage eine Zwangsjacke.« Der Weiße richtet sich auf, sitzt nun gerade auf seinem Stuhl, bewegt seinen Rücken hin und her. »Soll ich dich befreien?«, fragt der Mann in Schwarz. »Es wäre schön, aber dann würde ich meine Identität verlieren. Ich bin der Irre, der die Wahrheit sieht.« »Dann bin ich nicht umsonst bei dir«, sagt der Schwarze. »Denn ich bin dein Diabolus, die dunkle Seele, die dich in den Abgrund reißt, dir deine Vernunft zersprengt.« »Du hast mich gefesselt?« »Das war ich nicht.« »Wer war es dann?« »Kannst du dich nicht erinnern?« »Durch die, die mich ergriffen, wurde ich erst der, der ich bin.« »Ich befreie dich.« Der in Schwarz zerrt erst an den Bändern, dann beginnt er sie aufzuknoten. Der Weiße bewegt die frei gewordenen Arme, zuckt mit den Schultern, hält die noch bandagierten Hände vor sich und betrachtet sie. Der Schwarze beugt sich über das Ohr des Weißen und flüstert: »Fühlst du schon die Freiheit?«
Der Weiße wartet ab, ohne Regung. Der Schwarze zieht an den Ärmeln der Zwangsjacke, bis sie am Boden liegt. Dann beginnt er sein Gegenüber auszuwickeln, einen Verband nach dem anderen löst er vom Körper des Weißen, den er zwischenzeitlich auffordert, aufzustehen, damit er auch die Beine freilegen kann. Dann liegen Bänder und Textilien am Boden. Dazwischen steht ein dünner Mann, nur mit einer Unterhose bekleidet. Er schlägt die Hände vor sein Gesicht und weint. »Nun bin ich niemand«, schluchzt er. Der Diabolus lacht hell auf. »Du hast es so gewollt.« Das Licht erlischt. Nichts ist zu sehen. Dann breitet sich milde Beleuchtung aus. Langsam wird es heller, und auf dem Holzboden sitzt eine Frau in einem roten Kleid aus glänzendem Satin. Es hat keine Ärmel, der Halsausschnitt ist tief, es ist eng tailliert. Umso weitläufiger knistert der Rock. Die langen Haare der Frau wirken fransig. Eine Gestalt hüpft quer über die Bühne auf die Sitzende zu. Es ist der Diabolus, der keck ausruft: »Heißa, ich habe den Irren befreit!« Die Frau sitzt da mit gespreizten Beinen und rauft sich die Röcke. Es raschelt. »Den Irren?«, ruft sie. »Ist er genesen? Durch dich?« »Er ist normalisiert, würde ich sagen.« »Geht es ihm gut?« »Er ist traurig, denn er ist frei, aber er ist bedeutungslos.« Die Frau schweigt. Der Diabolus hockt sich neben sie. »Ich möchte auch keine Wahnsinnige mehr sein«, sagt sie leise. Der Diabolus macht sich an ihrem roten Kleid zu schaffen. Mit den Fingern bürstet er ihre Haare glatt. Dann knöpft er die Satinknöpfchen am Rücken auf. Er schält die Frau, die sich nicht wehrt, sondern bittend zu ihm aufschaut, aus dem Kleid. Die Bewegungen, mit denen er der Frau den
Stoff von den Schultern streift, sind nicht sanft. Aber sie wartet noch immer. »Steh auf.« Sie steht. Das Kleid rutscht an ihrem Körper herunter, bis zu den Füßen. Nackt steht sie da, bis auf die Unterhose bekleidet. Mit den Haaren versucht sie ihre Brüste zu verdecken, vergeblich. Dann hört man ein lautes Geräusch. Von rechts kommt ein Mann auf die Bühne gerannt. Man erkennt in ihm einen Arzt. Ihm folgt eine Rauchwolke, eine Folge seiner Geschwindigkeit. Ruß rieselt auf den Boden und hinterlässt eine schwarze Spur. »Eine nackte Frau!« »Sie ist wahnsinnig«, erklärt der Diabolus und verschränkt seine Arme vor der Brust. »Das kann ich sehen«, sagt der Arzt. »Halt mal.« Er streckt dem Diabolus eine Zwangsjacke hin, damit er ihm behilflich ist. Die Frau weint. »Du wolltest mich doch befreien. Nun ist es schlimmer als vorher.« Während der Arzt die Arme der Frau in die Zwangsjackenärmel stopft und beginnt, die Bänder zu verknoten, zuckt der Diabolus mit den Schultern. Dann hockt er sich auf den Boden und tunkt eine Hand in den Ruß. Die beschmierte Handfläche drückt er der weinenden Frau auf die Stirn. Sie hinterlässt einen dunklen Fleck. »Das ist dein Stigma«, meint der Diabolus. »Ich kann dich nicht befreien. Das wäre Selbstmord für mich.« Das Licht geht aus. Dann brandet Applaus auf. Es wird hell, und Emma, nun im blauen Trikot und Gymnastikhose, verneigt sich auf der Bühne. Von rechts und links kommen zwei Schauspielerinnen herbeigelaufen, die ich nicht kenne. Sie nehmen Emmas Hände, und alle drei verbeugen sich noch
einmal tief. Als Emma von der Bühne steigt, drängen Journalisten und Zuschauer zu ihr hin. Ich halte mich im Hintergrund. Es tut mir weh, dass Herr Schopf dieses Stück nicht gesehen hat. Das Stigma des Wahnsinns! Wie gerne hätte ich mit ihm darüber gesprochen. Am Sonntag kann ich ausschlafen. Ich sitze am Frühstückstisch und schaue aus dem Fenster. Aber heute bedrückt mich das Alleinsein nicht ganz so sehr wie sonst, denn die Freude über Emmas Erfolg und meine Leistung, die erste Arbeitswoche überstanden zu haben, ist stärker als die Einsamkeit. Da sehe ich auf der Straße einen Mann im Sommerhemd und mit enger weißer Hose. Fast verschlucke ich mich an meinem Orangensaft. Es ist Gernot Schopf! Verhalten blickt er zu meinem Fenster hinauf. Ich versuche den Fensterflügel aufzureißen; er klemmt, und ich halte inne. Will er wirklich zu mir? Dann sehe ich ihn nicht mehr, höre statt dessen die Klingel. Eilig raffe ich den Morgenmantel vor der Brust zusammen, um das Nachthemd zu bedecken, tappe zur Tür und öffne sie einen Spalt weit. »Warum sind Sie hier?«, entfährt es mir. »Sie haben mich doch abgegeben.« Gernot hält sich die Hand vor den Mund und hustet, als müsse er demonstrieren, dass er erkältet sei und dadurch entschuldigt. »Haben Sie Zeit, mit mir spazieren zu gehen?«, fragt er durch die Tür. »Spaziergänge gehören eigentlich nicht zum Konzept, dachte ich. Aber – nun ja, da Sie meinen Fall nicht mehr bearbeiten, können wir auch spazieren gehen.« Gernot wird rot und tritt einen Schritt zurück. »Bitte, warten Sie einen Moment.« Ich drücke die Tür vor ihm zu. Als ich mich anziehe, sind meine Hände ungeschickt und flatterig. Ich bin längst nicht so mutig, wie ich mich gerade gebärdet habe.
Dann mache ich die Tür wieder auf. Er ist fort, denke ich, aber er sitzt auf der Treppe zum nächsten Stockwerk. Es ist ein schöner Sommertag, und schweigend gehen wir durch die Straßen. Er strengt kein Gespräch an, stellt keine Fragen. Erst nach Minuten sagt er: »Von Frau Friese habe ich gehört, dass Sie wieder arbeiten?« Seine Worte klingen leise, fragend. Als ich nicke, überzieht ein freudiges Strahlen sein Gesicht. Kurz berichte ich ihm von dem Rehabilitationsverfahren, dann will ich doch wissen, warum er meinen Fall nicht mehr bearbeiten möchte. Gernot schluckt, ich sehe seinen Adamsapfel hüpfen, er gibt mir keine Antwort, ich hake nicht nach. Statt dessen erzähle ich ihm von meiner Arbeit im Krankenhaus. »Die Medizin ist in meinem Leben das Wichtigste«, sage ich zu ihm. »Aber ich interessiere mich auch ein wenig für Bildhauerei. Es gibt eine Künstlerin, deren Schicksal mich sehr bewegt hat.« »Erzählen Sie mir von ihr.« Er bleibt vor einem Cafe stehen, besinnt sich anders, läuft weiter mit mir durch die Straßen. Gernot riecht ein bisschen aus dem Mund, aber ich kann es ertragen. Wir setzen uns auf eine Parkbank und ich erzähle ihm eine Geschichte: ›»Das Gold, das sie findet, gehört ganz ihr‹, hatte Rodin zu Camille Claudel gesagt, und sich doch nicht daran gehalten, denn er bekam große Auszeichnungen für seine Werke, war beliebt und anerkannt. Und was bekam sie? Er verlangte von ihr vollen Einsatz, den sie auch gab. Aber sie fand keinen Raum, mit ihm oder jemand anderem über ihre Probleme zu sprechen. Als Frau war sie ständig Anfechtungen ausgesetzt, ein Männerhandwerk auszuüben wie die Bildhauerei. Zudem wurde sie verachtet, weil sie seine Geliebte war und jeder wusste, dass er noch eine andere Partnerin hatte. Hätten all diese Umstände nicht Behutsamkeit erfordert, Rücksichtnahme, Liebe? Zehn Jahre dauerte das explosive
Gemisch aus Liebesbeziehung und künstlerischer Seelenverwandtschaft, als Camille merkte, dass sie sich langsam innerlich von Rodin zu entfernen begann. Der Auslöser war ein bildhauerisches Projekt. Camille, Rodin und Rodins Kollege Jules Desbois arbeiteten mit demselben Modell: Marie Caira, einer alten Frau, deren Körper ausgemergelt und vom Leben gezeichnet war. Desbois nahm vor allem die Scham angesichts von Alter und Armut wahr und schuf eine Figur in gebückter Haltung, die er Das Elend nannte. Camille war das zu wenig. Sie wollte die leidende alte Frau nicht erniedrigen, sondern aufwerten und machte die Parze Clotho aus ihr. Rodin sah ihre Skulptur, er fand sie grotesk, etwas stieß ihn daran ab. Trotzig bestellte er sich Maria Caira ebenfalls als Modell. Eine Literaturgestalt aus dem 15. Jahrhundert verwandelte er in eine alte Kurtisane. ›Ist nicht die Verklärung der Hässlichkeit zur Schönheit die Aufgabe des Künstlers, und nicht der aufgeblasene Idealismus der meisten unserer Zeitgenossen?‹, erklärte er Camille seine Skulptur. Sie war schockiert. Nicht das Hässliche hatte Rodin schön gemacht, sondern das Schöne hässlich. Und dazu hatte er die alte Frau gedemütigt und entblößt. Camille fühlte sich nicht mehr eins mit Rodin, zu viele Widersprüche traten zwischen ihnen auf. Und dann seine Arroganz, sie als Künstlerin und Geliebte ganz zu beanspruchen, ihr aber nicht das zurückzugeben, was sie brauchte! In ihrer Wut klatschte sie eine Dreiergruppe zusammen, die sie später Das reife Alter nannte. Ihre Hände griffen in den nassen Gips und formten Körperteile. Schultern, Arme und Hände gerieten viel zu dick. Rodin war stocksauer über dieses Elaborat, und es kam zum Streit: ›Wer wärst du denn ohne mich?‹, schrie er sie an. ›Wenn ich dich nicht bis jetzt unterstützt hätte, wärst du doch längst verhungert!‹ ›Ja, wenn du mich nicht atmen lässt unter deinem Gewicht!‹, schrie sie zurück. ›Wie soll ich es denn
schaffen, als Frau ohne Mann und ohne Familie, wo es auch schon für eine bürgerlich lebende Frau anstrengend genug ist, als Künstlerin anerkannt zu werden wie ein Mann?!‹ ›Es ist deine Verantwortung, wenn du meinst, als Frau so etwas machen zu müssen‹, antwortete er kalt. Damit war die Trennung besiegelt. Doch was sollte sie jetzt tun, so ganz allein? Sie suchte Hilfe bei ihrer Familie. Ihre Schwester Louise, standesgemäß verheiratet und Mutter, rümpfte nur die Nase über sie, die Mutter ließ sich auf ihre Tochter gar nicht ein, und Paul, der so geliebte und erfolgreiche Bruder, weilte in den USA. Nur der Vater LouisProsper nahm sich Zeit für Camille. Das Verhalten seiner Tochter hatte ihn tief erschüttert, aber er spürte ihre Not und sagte zu ihr: ›Du musst jetzt tapfer sein.‹ Er bot ihr an, sie regelmäßig zu treffen, aber so, dass seine Frau es nicht merkte. Die Bildhauerin überlegte, wer ihre Freunde waren, wer ihr nun beistehen konnte. Es waren nicht viele. Mit Claude Debussy mochte sie, nachdem sie sich kurz zu nahe gekommen waren, nicht mehr verkehren. Dann gab es Eugene Blot, den Galeristen, der große Stücke auf ihre Arbeiten hielt und sie nach Kräften förderte, und Mathias Morhardt, doch war er ein gemeinsamer Freund von Rodin und ihr. So versuchte sie so gut zurechtzukommen, wie es ging. Sie sammelte Figurinen aller Kulturen und baute sie in ihren Schränken auf, der einzige Schmuck in einem Wohnatelier, in dem die Armut zu Hause war. Doch es gelang ihr, ihren eigenen Kontakt zur Gesellschaft zu halten. Seit 1893 war sie in der Jury der ›Nationalen Gesellschaft der bildenden Künste‹. Hinter ihrem Rücken trug Rodin noch immer zu ihrem Ansehen als Bildhauerin bei, auch wenn sie sich nicht mehr trafen. Er machte ihr Werk in den Kreisen, zu denen er Zugang hatte, bekannt, und so kam es, dass die Teilnehmer eines berühmten Festbanketts dem Musee du Luxembourg eine Ausführung der
Clotho in Marmor stifteten – was für Camille einen erklecklichen Auftrag bedeutete. Camille war eine spröde und unnahbare Persönlichkeit. Der harte Durchsetzungskampf und die vielen Zurückweisungen hatten sie misstrauisch und menschenscheu gemacht. 1898 lernte sie Christophe Clement kennen, den sie ursprünglich in einer Bank aufsuchte, weil sie Geld brauchte. Da war sie 34, hatte ein breites Gesicht und grobe Hände, und doch interessierte sich der scheue Junggeselle, Jahrgang 1851, für sie. Einen Kredit konnte er ihr nicht geben, da sie keine Sicherheiten besaß, aber als er merkte, wie schlecht sie mit ihren Finanzen umging, bot er ihr an, ihre Einkünfte zu verwalten. Regelmäßig sollte sie kommen und kleinere Beträge abheben, deren Verwendungszweck geklärt sein sollte. Aus dieser Hilfeleistung entwickelten sich Gespräche, und irgendwann lud er sie zu einem Spaziergang ein. Camille weigerte sich, sich von ihrer Wohnung abholen zu lassen. Also trafen sie sich an der Seine, und Pariser Bürger, die den einen oder die andere kannten, schüttelten den Kopf über das ungleiche Paar. Aber Christophe ließ sich nicht abschrecken, und er fragte sie neugierig nach ihrer Kunst. Er begann auf ihren Ausstellungen aufzutauchen, wenngleich er etwas verloren am Rand stand, weil er sich mit den Fachbesuchern nicht unterhalten konnte. Die Bildhauerin schämte sich anfangs, wenn er in ihrer Nähe war, aber zunehmend wusste sie die Freundschaft zu schätzen. Sie begann ihn auch zu Hause zu besuchen, aber in ihr Atelier durfte Christophe nie. Morhardt wusste von dieser Freundschaft, sprach aber nicht darüber. Eugene Blot machte ihr gegenüber einmal eine Anspielung: ›Ihre Wangen sehen wieder etwas runder aus als in den letzten Jahren. Ich glaube, ich bin recht froh für Sie.‹ Anfang 1901 fragte Christophe sie, ob sie ihn heiraten wolle, doch Camille lehnte ab. ›Ich muss nicht verheiratet sein. Ich
schaffe es auch so.‹ ›Wünschst du dir nicht vielleicht noch Kinder?‹ ›Meine Kinder sind meine Werke, Christopher.‹ Aber im Sommer zog sie bei ihm ein. Ihre Wohnung nutzte sie nur noch als Atelier. Als Paul aus den USA zu Besuch kam, freute er sich, dass es seiner Schwester wieder besser ging als nach dem Bruch mit Rodin. Sie bereitete gerade eine große Ausstellung vor, die Eugene Blot veranlasst hatte. Fast ihr vollständiges Werk wurde einem kritischen Publikum gezeigt. Dieser Abend war sehr wichtig für sie. Aber als sie zwischen ihren Arbeiten und den teils gleichgültigen, teils herablassend urteilenden Blicken der Besucher hin und her ging, fühlte sie sich plötzlich eigentümlich leer. Christophe spürte es, führte sie vor die Tür und nahm ihre Hand. ›Vielleicht ist die Kluft zwischen der Bedeutung, die ein Kunstwerk für seinen Schöpfer hat, und dem Wert, den ihm seine Betrachter beimessen, einfach zu groß‹, äußerte er etwas umständlich seine Überlegungen. Dann streichelte er Camilles Finger und meinte: ›Nur den Kopf nicht hängen lassen! Gib nicht auf.‹«
Hier endet meine Erzählung. Gernot Schopf schweigt eine Weile. Dann sagt er: »Eigentlich haben Sie eine schöne Geschichte erzählt. Was macht Sie daran so traurig?« »Dass es in Wirklichkeit ganz anders war.« Ich stehe auf und gehe davon, ihn auf der Bank zurücklassend, und marschiere zurück zur Wohnung. Die Türen lasse ich offen stehen. In meinem Schlafzimmer werfe ich mich aufs Bett, vergrabe den Kopf unter den Armen. Ich liege einfach so da, dann höre ich ein Klopfen an der Tür. »Sind Sie zu Hause?«, höre ich Gernots Stimme. »Bitte öffnen Sie. Ich kann doch hier nicht einfach rein.«
Natürlich können Sie hier rein, Sie sind ja nicht dienstlich hier, denke ich. Aber ich reagiere nicht und höre, wie sich die Tür leise öffnet. Wortlos setzt sich Gernot auf den Stuhl vor dem kleinen Tisch an der Wand. Ich drehe den Kopf ein wenig, sage nichts, beobachte aber seine Bewegungen. Sein Blick fällt auf meine kleinen Specksteinarbeiten auf dem Nachttisch. »Haben Sie das gemacht?« »In der Psychiatrie.« »Die kleine Büste da – soll die an eine Skulptur erinnern, die Camille Claudel erschaffen hat?« Camilles Namen von seiner Stimme ausgesprochen zu hören, lässt mich zittern. »Ich weiß es nicht. Ich habe nicht bewusst…« »Das Herz ist hübsch. So etwas könnte ich auf meinem Nachttisch gebrauchen.« Ich gebe es ihm zum Berühren. Gernot steht auf. In der Tür dreht er sich noch einmal um und meint: »Ich werde lesen, wie es mit Camille Claudel wirklich war.«