Atlan - Minizyklus 05
Dunkelstern
Nr. 11
Chaos im
Miniaturuniversum
von Michael Marcus Thurner
Wir schreiben da...
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Atlan - Minizyklus 05
Dunkelstern
Nr. 11
Chaos im
Miniaturuniversum
von Michael Marcus Thurner
Wir schreiben das Jahr 1225 NGZ. Atlan, der unsterbliche Arkonide, ist gemein sam mit der geheimnisvollen Varganin Kythara auf die Fährte der Lordrichter von Garb gestoßen, die mit riesigen Armeen ihrer Garbyor-Völker und geraubter vargani scher Technologie an vielen Orten des Universums wirken. Zunächst wurden sie in der Southside der Milchstraße mit ihnen konfrontiert, und nun stehen sie in der Klein galaxis Dwingeloo wieder im Kampf gegen die unheimlichen Invasoren. Mittlerweile wissen sie, dass sich hinter den Garbyor die ehemaligen »Horden von Garbesch« verbergen und die Lordrichter Zugang zum Mikrokosmos der Varganen suchen. Mit tels einer Verkleinerungstechnologie und der Schwarzen Substanz scheint dies auch zu gelingen: Atlan und Kythara befinden sich plötzlich in einem eigenen kleinen Uni versum. Daraus zu entkommen, um weiterhin gegen die Lordrichter kämpfen zu kön nen, ist ihre Aufgabe – und dazu inszenieren sie ein CHAOS IM MINIATURUNIVER SUM …
Chaos im Miniaturuniversum
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Die Hautpersonen des Romans:
Atlan - Der Arkonide entkommt dem Schmelztiegel – und fliegt direkt ins Feuer.
Farangon - Ein Verräter, der mehr verrät, als er beabsichtigte.
Yagul Mahuur - Der Lordrichter glaubt seine Truppen bereit und die Falle aufgestellt.
Gorgh-12 - Der Daorghor besteigt einen goldenen Pegasus.
Kythara - Die schöne Varganin betritt das geheimnisvolle Anaksa.
1. Atlan Was seit Anbeginn moderner Raumschiff fahrt Furcht und Panik verursachte, wurde für mich allmählich zu erschreckender Rou tine. Der Hyperraum bebte, schickte gewaltige Stürme aus, wild und nicht zu bändigen, die selbst die Funktionen des Kardenmoghers stark beeinträchtigten. Kannte das Kontinuum des Hyperraums Götter? Saßen dort, in diesem unheimlichen und für Arkoniden nicht fassbaren Medium, anbetungswürdige Götzen, die mit all ihrem Zorn, Blitz und Donner in unser »normales« Kontinuum jagten? Manchmal, wenn meine Sinne das Ver ständnis für jedwede Zusammenhänge zwi schen dem Hier und dem Drüben verweiger ten, musste ich meine Gedanken reduzieren, vereinfachen. Urinstinkte und von meinen Ahnen weitervererbter Glauben an höhere Mächte kämpften dann Logik, Verstand und Extrasinn nieder und machten mich zu ei nem Lebewesen, das einfach nur Angst emp fand. Ich sah, roch, spürte und hörte Dinge, die nicht für menschliche Sinne ausgelegt wa ren. Raumbeben. Strukturerschütterungen. Daraus resultierende Hyperbeben. Monu mentale Aufrissblitze, die mich in ein schreckliches Nichts blicken ließen. Ein alle Substanz verschlingendes Wabern, verän derlich und sich selbst fütternd, das um uns – vielleicht sogar in uns? – war. Es war nicht die Furcht vor dem Tod, die mich beherrschte. Dazu war ich Gevatter Hein, dem dürren Knochenkrämer, wie auf
Terra vor Jahrtausenden gesagt worden war, schon viel zu oft von der Schippe gesprun gen. Es war vielmehr die Angst, dass mich die ser übergeordnete Kosmos mit all seiner Fremdartigkeit nicht töten, sondern nur auf seine Seite ziehen würde.
* »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Ky thara kurz angebunden. Ich setzte mich, nickte und richtete meine Konzentration auf die Ortungsergebnisse, die die Varganin für uns in den Zentralraum des Kardenmoghers projizierte. Überall knackste und knirschte es im Schiff. Ich hatte das unangenehme Gefühl, als gruppiere sich das Schiff wie unter Schmerzen um. »Kopaar ist definitiv vernichtet«, murmel te der sehr athletisch gebaute CappinKommandant Heroshan Offshanor. Er beug te sich zu mir herab und fuhr fort: »Der Um setzer kann nur noch Staub, Asche und Strahlung sein.« »Ein Problem ist damit gelöst«, sagte ich. »Eines aus einer endlos langen Reihe.« Offshanor nickte und deutete, nur für mich sichtbar, auf eine bestimmte Person. »Soll ich mich um das Weitere kümmern?« Ich nickte knapp. Die besondere Situation an Bord, geprägt von Misstrauen und Paranoia, erforderte ein möglichst behutsames Vorgehen. Der Verrä ter Farangon hatte uns in dieses Mikrouni versum gelockt, uns offensichtlich im Auf trag der Lordrichter eine Falle gestellt. Der Cappin war, wie alle seines Volkes, mit der Fähigkeit des Pedotransfers ausge stattet. Sein Geist konnte den Körper verlas
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sen und auf jedes intelligenzbehaftete Lebe wesen überwechseln, das er »anpeilen« konnte. Wir mussten ihn also so schnell und überraschend wie möglich überwältigen. Auch wenn keineswegs feststand, dass wir dieses Abenteuer überleben würden, auch wenn unsere Zukunft im wahrsten Sinne des Wortes in den Sternen geschrieben stand – der Verräter musste dingfest gemacht wer den. Offshanor räusperte sich und drehte sich beiseite, als wolle er den Zentralraum ver lassen, durch die golden leuchtende Luke tiefer in den Kardenmogher hinabschweben. Seine Waffenhand ruhte wie zufällig auf dem Gürtel, in dem ich den Handstrahler eingehakt wusste. Ich beobachtete Farangon aus den Augen winkeln. Der untersetzte Mann achtete nicht weiter auf seinen Vorgesetzten, sondern be obachtete wie wir alle mit bangen Blicken das Wüten der hyperdimensionalen Kräfte um unser Schiff. Er wirkte verkrampft und unsicher. Keinesfalls wie jemand, der zu al lem bereit war. Farangon musste zumindest ahnen, dass er enttarnt war. Er hatte sich wohl seinem Schicksal ergeben. Vorsicht!, mahnte mich der Extrasinn. Der Cappin ist ein Meister der Täuschung und Tarnung. Nicht umsonst war er als Agent in den Reihen der lordrichterlichen Truppen eingesetzt gewesen … Im selben Moment bestätigte sich das Misstrauen meines internen Dialogpartners.
2. Farangon Für Garbyor!, dachte er. Farangon sprang ansatzlos weg, packte Offshanor und setzte einen Handkantenschlag gegen dessen Hals. Der Kommandant der Cappins krächzte er stickt, blieb aber bei Bewusstsein. Er zog den Doppelagenten heran, riss ihn mit sich zu Boden. Farangon war vorbereitet. Er ließ einen wahren Trommelhagel blitzschnell geführter Schläge und Knüffe auf seinen ehemaligen
Kommandanten niederprasseln. Handeln!, spornte er sich an. Die Waffe Offshanors hing griffbereit in dessen Gurt. Er würde den Kommandanten als Geisel nehmen und aus der Zentrale des Kardenmo ghers verschwinden. Möglichst viel Zeit ge winnen. Seine bescheidenen Möglichkeiten ausreizen. Farangon packte Offshanors Waffe, akti vierte den Impulsstrahlmodus. Er genoss das Gefühl der Macht, als er sie im Raum umher schwenkte und auf die einzelnen Männer richtete. Es war äußerst befriedigend, endlich ein mal mit Hand anlegen zu können, die Feinde Trodars für ihre Blasphemie zu bestrafen. Der Arkonide musste aufgehalten und einge fangen werden, wie es die Lordrichter wünschten. Wo war der Verfluchte? Ein kurzer Sei tenblick reichte. Sechs, sieben Schritte stand er entfernt und wirkte wie alle anderen An wesenden von seinem plötzlichen Angriff überrascht. Für ihn war es ein Leichtes gewesen, Gar byors Gegner zu übertölpeln. Täuschung und Tarnung gehörten schließlich zu seiner Rolle als Agent. Einfach in der Körperspan nung nachlassen, Atmung und Puls unter Kontrolle bringen, eine Leichtigkeit der Be wegung vortäuschen – und den Angriff ir gendwann geschehen lassen. So hatte er es dankenswerterweise von seinen – nunmehr feindlichen – Landsleuten beigebracht be kommen, und so hatte er agiert. Atlan und die anderen waren schwach, nicht von der göttlichen Doktrin Trodars durchdrungen. Sie zögerten, sie wollten ihn lebend haben und das Leben des nutzlosen Kommandanten nicht gefährden. So dachten sie, wie er wusste. Denn er hatte einmal, in einem anderen Leben, ebenso empfunden. Also war es richtig, ihre Stümperhaftigkeit und Unfähigkeit, zielgerecht zu handeln, auszunützen. Für Trodar, für Garbyor. Farangon grinste. Spuckte ihnen seine ganze Verachtung mit einem lauten Lachen ins Gesicht. Sie waren nichts, sie waren Ab
Chaos im Miniaturuniversum schaum … Der Strahl eines Paralysators erfasste ihn, lähmte seinen Oberkörper. Neinneinnein!, dachte und jammerte er, als die eroberte Waffe aus der kraftlosen Hand zu rutschen drohte. Es bedurfte allein unendlicher Ener gie, aufrecht stehen zu bleiben, während sein Nervensystem erlahmte. Noch war sein Kopf klar, noch konnte er … Ein weiterer Schuss, gefolgt von einer ganzen Serie gelblich transparenter Strahl bahnen. Sie badeten ihn, zerwirbelten sein Bewusstsein, brachten all seine Gedanken zum Stillstand. Eine letzte Möglichkeit stand ihm offen. Farangons körperliche Hülle brach zu sammen. Der Kopf fiel schwer zu Boden, ohne dass er Schmerz zu spüren imstande war. Pedotransfer! Er konzentrierte und sam melte sich, fokussierte auf einen Punkt, der ihn weg von hier bringen würde, weit weg, um mit dem Lordrichter Kontakt aufzuneh men … Es misslang. Jeglicher Zusammenhang zwischen Kör per und Geist schmolz dahin. Nichts, was ihn betraf, ergab mehr Sinn. Nur noch die ei ne Reflexion, die in seinem Gesichtsfeld auftauchte. Xarpatosch. Er stand über ihn gebeugt, den Paralysator auf sein Gesicht gerichtet, und bestrahlte ihn nach wie vor. Er hatte geschossen, blitzschnell und an satzlos, und dabei in Kauf genommen, dass Offshanor, sein eigener Kommandant, vom breit gefächerten Fokus erfasst worden war. Was hätte Xarpatosch doch für einen prachtvollen Soldaten für die Horde von Garbyor abgegeben, dachte Farangon fast bewundernd und verlor schließlich den Kampf gegen den nervenzerrüttenden Ein fluss.
3. Atlan »Alles unter Kontrolle«, sagte der groß
5 gewachsene Anführer der Elitekampfeinheit zu mir, ohne den Blick von den beiden über einander zusammengebrochenen Cappins abzuwenden. »Also stimmten alle Vermu tungen. Farangon ist ein Überläufer?« »So ist es.« Xarpatosch sprach – und agierte – stets knapp und prägnant. Eine Eigenschaft, die ich sehr schätzte. Seine Reaktion und Kalt blütigkeit und die der anderen Cappin-Sol daten waren umso bemerkenswerter, als sie nichts vom Verrat Farangons gewusst hat ten. »Varg-1 und Varg-2!«, rief ich unsere beiden Kugelroboter herbei, die in einer Ni sche der Zentrale auf Anweisungen warte ten. »Nehmt Farangon in Gewahrsam. Hüllt ihn in ein Fessel- und Abschirmfeld. Die Anti-Psi-Komponenten sollten eine Pe dotransferierung verhindern.« Xarpatosch kümmerte sich um seinen Kommandanten. »Offshanor wird bald wie der zu sich kommen«, sagte der Elitesoldat auf meine unausgesprochene Frage. »Farangon ist schlimmer dran. Er hat den weitaus größeren Teil der Entladungen ab bekommen.« Ich beobachtete, wie die Soldaten den Kommandanten vorsichtig durch die energe tisch verbreiterte Luke in eine der unteren Ebenen des Kardenmogher hinabbrachten. Dorthin, wo Kythara mit Sicherheit eine Liegestätte aus Formenergie für Offshanor ausgebildet hatte. Kythara war währenddessen ruhig in ih rem Formenergiesessel sitzen geblieben. Mit rätselhaften Blicken musterte sie mich. Du musst müde sein, dass du derart lang sam reagierst, fühlte ich ihre Gedanken in meinem Kopf. Jäh spürte ich Trotz in mir wachsen, gab meinen Empfindungen letztendlich aber nicht nach. Die Varganin hatte Recht. Alle Entschlossenheit, mit der ich den Beschuss und somit die Vernichtung Kopaars ange ordnet hatte, war weg. Ein seltsames Gefühl der Leere befiel mich. Zudem spürte ich die Last der Verantwortung, die auf meinen
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Schultern ruhte. Wie konntest du Farangon nur derart un terschätzen?, mäkelte der Extrasinn. Ein verzweifelter Mann, von der Angst um seine Entlarvung in die Ecke gedrängt, reagiert oftmals irrational. Ich ignorierte die Stimme. Es stand ihm zwar zu, Kritik zu üben; doch letztendlich musste er mit meinen Entscheidungen, Stim mungen und Gefühlsmechanismen auskom men. Ob er wollte oder nicht. Ich trat zu der Varganin und sagte leise: »Du hast Recht. Ich bin's leid. Geistig mü de.« Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf. »Kann es sein, dass sich die hype renergetischen Einflüsse auch auf unser Ge mütsleben auswirken?« »Ist Wasser nass?« Die Varganin verzog spöttisch den Mund. »Höherdimensionale Einflüsse können alles Mögliche anrichten. Das solltest du eigentlich wissen.« Ja, das sollte ich. Es fiel mir derzeit im mens schwer, logische Entschlüsse zu fas sen. »Wie sieht es da draußen aus?« Ich for mulierte die einfache Frage unter Aufbrin gung höchster Konzentration. »Ich weiß es nicht«, gestand Kythara. »Dieses Miniaturuniversum gehorcht Ge setzmäßigkeiten, die weder der Kardenmo gher noch ich nachvollziehen können.« »Das bedeutet?« »Dass ich im Prinzip die Hände in den Schoß legen kann. Wenn das Energiepoten zial aus dem höherdimensionalen Raum noch stärker ansteigt, dann gute Nacht!« Ich legte der Varganin eine Hand auf die Schulter. Trotz der Ruhe, die sie nach außen hin ausstrahlte, konnte ich das Beben ihres Leibes spüren. Oder fühlte ich etwa das Zittern … mei ner eigenen Hand?
* Wir taumelten dem Versteck der AMEN SOON entgegen. Ja, wir taumelten! Denn von einem ge-
planten Anflug konnte angesichts der Rah menbedingungen für den Raumflug keine Rede sein. So hochgezüchtet der Kardenmo gher, jenes fantastische Gefährt, das der Vargane Ezellikator entworfen und erbaut hatte, auch sein mochte: Angesichts der hy perdimensionalen Verwerfungen war er le diglich ein Blatt im Wind. »Dort vorne«, sagte Kythara und deutete ins Innere des dreidimensionalen Holos. »Kop-1.« Wir hatten den Roten Zwergstern als Treffpunkt gewählt und hofften, Kalarthras, Gorgh und weitere Cappins wohlbehalten an Bord der AMENSOON anzutreffen. »Ich habe Kontakt«, sagte Kythara plötz lich. Sie steuerte den Kardenmogher groß teils auf gedanklicher Basis, so dass mir vie les entging, was an Bord geschah. »Kalarthras hat unsere Kennung angemessen und Kontakt aufgenommen. Ein kleines Wunder, wenn man die Umstände bedenkt …« Ihre Stimme klang erleichtert. Die Be fürchtungen der Varganin mussten ähnlich wie meine gelagert gewesen sein. »Er setzt sich sofort in Bewegung«, fuhr sie fort. »Angesichts des Chaos, das immer weiter um sich greift, ist es ohnehin nicht sinnvoll, im Ortungsschatten der Sonne zu bleiben.« Ich erwiderte nichts darauf. Kythara wus ste genauso gut wie ich, wenn nicht sogar besser, was zu tun und was Varganen-Tech nik zu leisten im Stande war. Die Annäherung dauerte länger als eine halbe Stunde. Die AMENSOON, größer und dennoch weitaus schwächer als der Karden mogher, sog uns mithilfe eines Traktor strahls in ihr Inneres. Bange Augenblicke vergingen während der Einschleusungspha se. Immer wieder fielen Gerätschaften und Anzeigen aus, immer wieder griffen die var ganischen Schiffe auf Redundanzsysteme zurück. Ein akustisches Signal ertönte. Wir waren fest in einem Hangar des Oktaederraumers verankert. Ich stieß einen erleichterten Seuf zer aus. Schweiß stand mir auf der Stirn, meine Muskeln schmerzten. Ich benötigte
Chaos im Miniaturuniversum dringend Ruhe – doch meine Erfahrung sag te mir, dass ich mich vorerst auf die bele benden Impulse des Zellaktivator verlassen musste. »Hast du Schmerzen?«, fragte Kythara mit einem Stirnrunzeln. »Wahrscheinlich ein Nebeneffekt der Hy perstürme«, antwortete ich leichthin. »Wir können aussteigen«, sagte Kythara. Sie erhob sich und winkte mir zu folgen. »Ihr kümmert euch um den Gefange nen!«, befahl ich Xarpatosch. »Ich will, dass die beiden Kugelroboter und zumindest zwei deiner Soldaten stets in seiner Nähe blei ben!« Der Cappin nickte zustimmend. Auch wenn ich ihm gegenüber keine nominelle Befehlsgewalt besaß, gehorchte er. Dies war kein Moment für Kompetenzstreitigkeiten. Zügig verließen wir den Kardenmogher durch eine in Sekundenschnelle gebildete Schleuse. Das phänomenale Schiff erzeugte trotz der widrigen Bedingungen dort einen Schleusenaufriss in der Außenhülle, wo Ky thara ihn haben wollte. Wir nutzten die Prallfeld-Sphären des in neren Transportsystems, um auf schnellstem Weg durch einen Hauptgang in die Zentrale zu gelangen. Ein Schiff mit einer größten Höhe von mehr als 850 und einer Kanten länge von 600 Metern bedurfte einer ausge klügelten Logistik. »Alles in Ordnung?«, fragte Kythara grußlos, als sie die Zentrale der AMEN SOON betrat. »Nein«, antwortete Gorgh-12 mit raspelnder Stimme. »Ein Hypersturm tobt.« Kurz stutzte die Varganin. Einmal mehr wurde uns bewusst, wie fremd der Insektoi de im Grunde war. Aus seiner streng logisch ausgerichteten Sicht konnte nicht »alles in Ordnung« sein, solange die höherdimensio nalen Einflüsse zu spüren waren. »Kythara meinte: Ist in der AMENSOON alles in Ordnung?«, verbesserte ich die Var ganin. »Ja«, entgegnete der Daorghor mit merk lichem Zögern. »Der Kombischirm ist aller
7 dings schwersten Belastungen ausgesetzt.« »Er wird halten«, sagte Kythara mit fester Stimme. Offenbar hatte sie bereits gedankli chen Kontakt zur Bordpositronik aufgenom men. Ich blickte mich um. Mehrere Cappins befanden sich derzeit in der Zentrale. Ich grüßte sie mit Handschlag, betrachtete sie einen nach dem anderen und vermittelte ihnen in aller Eile eine Kurzfas sung der jüngsten Geschehnisse. Sie verhielten sich bemerkenswert ruhig und gefasst. Erst als ich ihnen vom Verrat Farangons berichtete, begannen sie aufge regt zu diskutieren. Ich ließ ihnen Zeit, die Dinge zu verarbei ten. Unser Schicksal wusste ich mittlerweile in besten Händen. Kythara kümmerte sich höchst konzentriert um einen Datenaus tausch zwischen der AMENSOON und dem Kardenmogher sowie einer weiteren Stabili sierung ihres Schiffes. Yvorton Noganesch, der introvertierte Chef Wissenschaftler der Cappins, stach durch seine Gemütsruhe aus der Hand voll Männer hervor. Interessiert beobachtete er, wie Kythara mit wenigen Handgriffen die Lage des Schiffes absicherte. Mehrere An zeigen verließen den »Rotbereich« – ohne dass sich allerdings an der grundsätzlichen Situation etwas änderte. Kalarthras verhielt sich indes bemerkens wert ruhig. Ich erschrak, als ich ihn genauer in Augenschein nahm. Seine Haut war mitt lerweile schwarz wie Ebenholz. Selbst die Lippen waren nachgedunkelt, und lediglich die Augeniris bildete einen hellen Kontrast. Er umarmte Kythara bloß für einen Augen blick und zog sich dann in einen ungenutz ten Bereich der Kommandozentrale zurück. Es schien mir, als wäre er derzeit mehr mit sich selbst beschäftigt als dem, was um ihn herum vor sich ging. »Atlan an AMENSOON«, sagte ich leise, »ich will eine messtechnische Auswertung der Vorgänge im und um den Hypertrich ter.« Der Hypertrichter, ein schlauchförmiges,
8 hochenergetisches Gebilde, war laut Faran gon eine Art »Hintertürchen«, durch das man den Schritt zum Dunkelstern de facto in Nullzeit tätigen konnte. Und damit direkt in das Zentrum der feindlichen Aktivitäten, zu unserem Primärziel. Sollten wir uns etwa weiterhin auf die Worte eines Verräters verlassen? Nein!, protestierte der Extrasinn ener gisch. Die Positronik der AMENSOON hatte mittlerweile meinen Befehl akzeptiert und mit einer Auswertung begonnen. »Die Stabi lität der Hypertunnelwandung ist schwan kenden und nicht erfassbaren Unsicherheits faktoren unterworfen«, beantwortete sie auf merkwürdig gestelzte Art und Weise meine Anfrage. Litten ihre Sprachparameter unter den hö herdimensionalen Einflüssen? »Die Öffnung zum Ephaiston-System ist nicht stabil und emittiert beständig ein Strahlungschaos, das ein breit gefächertes Spektrum umfasst …« Eine Datenliste, auf der markante energetische Peaks zuhauf ver zeichnet waren, ratterte über einen virtuellen Bildschirm. Noganesch war zu mir getreten und mu sterte die Daten, die in der Symbolik varga nischer Zeichensätze aufbereitet waren. »Das ist nicht sehr aussagekräftig«, be kräftigte er meine Meinung. »Die Parameter ändern sich stetig. Alles fließt sozusagen.« Ich nickte und forderte von der AMEN SOON eine dreidimensionale Bildaufberei tung der Datenströme. Es war schlichtweg atemberaubend. Ein überdimensionaler Wurm mit einer Gesamt länge von 35 und einem maximalen Durch messer von 16 Lichtjahren wand sich durch das in sich geschlossene Mikrouniversum, in dem wir uns derzeit befanden. Mit scheinbar schlangelnden Bewegungen griff er mal hier-, mal dorthin, als würde er nach Beute schnappen, als wäre er ein Lebewesen. Er leuchtete in blauvioletten, karmesinroten und ockergelben Farbtönen, schillerte metal len, versprühte glühende Tropfen nach allen
Michael Marcus Thurner Seiten … Natürlich war die Farbgebung durch die varganische Positronik vorgegeben, natür lich konnte ein arkonidisches Auge keines falls das verarbeiten, was tatsächlich vor sich ging. Doch alleine dieser künstlich auf bereitete Anblick erzeugte einen unangeneh men Druck auf meinen Magen. Mir war, als musste ich jeden Moment aufstoßen … »Die Passivortung liefert allzu wider sprüchliche Ergebnisse«, rief mich Nogane sch in die Gegenwart zurück. »In vielerlei Hinsicht glichen die Emissionen des Trich ters bislang jener der Schwarzen Substanz. Ohne dass wir dieses Zeugs anmessen konn ten.« Er stockte, wandte sich zur Seite und unterhielt sich murmelnd mit Shynnantysch, dem Leiter der Abteilung für Maschinen und Aggregate an Bord ihres gemeinsamen Mut terschiffes, der MORYR. »Das ist bereits bekannt«, sagte ich unge duldig. »Auch, dass die Intensität der Emis sionen in einer Pulsfrequenz von 1,3753 wechselt.« »Neuerdings werden die Strukturerschüt terungen im Trichter heftiger«, fuhr der Wissenschaftler ungerührt fort. »Zudem be stätigt sich hier« – er deutete auf eine hell markierte Zahlenkolonne, die in immer ra scherer Abfolge über den Bildschirm ratterte – »erstmals der tatsächliche Transport von Schwarzer Substanz.« Hoppla. Was bislang eine reine Vermutung gewe sen war, wurde nunmehr zur Tatsache. Und damit gerieten wir unter zusätzlichen Druck. Denn die Schwarze Substanz, offensichtlich aus dem Universum der Varganen nach Dwingeloo transmittiert, war schlussendlich schuld an den chaotischen Zuständen in die ser Galaxis. Beziehungsweise in jener Sterneninsel, in der wir uns eigentlich befinden sollten – es aber nicht taten. Dieses Miniaturuniversum, in dem wir schwebten, das dank der perver sen Experimentierlust der Lordrichter ent standen war, gehörte nicht mehr zu Dwinge loo.
Chaos im Miniaturuniversum »Da!«, rief Kythara aufgeregt und deutete auf einen flugs erzeugten virtuellen Panora mabildschirm. Weiße Schlieren verzerrten die optische Wahrnehmung. Selbst die hoch gezüchtete Positronik der AMENSOON war nicht mehr in der Lage, alle hyperenergeti schen Störfaktoren auszufiltern. Trotz der Mängel in der Aufbereitung war der Anblick grausig genug. Schwarze Sub stanz kumulierte im aufgerissenen Schlund des Trichters, zog sich blitzschnell zu einem kugelförmigen Objekt zusammen, rotierte für wenige Augenblicke – und transmittierte. Wohin? Mein Herz schlug schneller hinter der Brustplatte. Die Schwarze Substanz gierte nach Energien, suchte nach den Strahlungs emissionen kräftiger Sonnen. Um in sie ein zudringen, sich mit ihnen zu verbinden, sie aus diesem Universum zu schleudern. Bitte, lass es nicht Kop-1 sein, dachte ich. »Ich messe einen Energie-Peak an«, sagte Kythara mit tonloser Stimme. »85 Lichtjahre hinter uns. Eine namenlose Sonne. Sie … ist explodiert.« Ich empfand Erleichterung – und gleich zeitig ohnmächtige Wut. Hatte die Sonne Planeten gehabt? War Leben darauf entstan den? Es schien unwahrscheinlich, doch ich wusste es nicht. Ich verspürte keine Lust, darüber nachzudenken. Es blieb auch keine Zeit dafür. Die Ereignisse überschlugen sich. Immer mehr Klumpen der Schwarzen Substanz er schienen im Hypertrichter. Wie flüssiges Quecksilber fanden Teilmengen zueinander, Tropfen für Tropfen, bis eine kritische Mas se erreicht war und die Entstofflichung er folgte. Irgendwohin in unser Miniaturuni versum, um weitere Sonnen zu befallen und über kurz oder lang in den Untergang zu rei ßen. Die Schwarze Substanz tauchte in un geahnter Menge auf. Nichts und niemand konnte ihrer Vernichtungslust widerstehen. Wir saßen da, sahen zu, konnten nichts tun. Zudem stellte sich die bange Frage, ob
9 wir diese Vorgänge mit der Vernichtung Ko paars nicht erst initiiert hatten. Ob ich mit meinem Befehl, den Hegnudger einzusetzen, der Grund für die um sich greifende Ver nichtung war. Ein Gedanke, aggressiv und vorwurfsvoll, drang von der Varganin kommend in meinen malträtierten Kopf. Reiß dich zusammen und hör endlich mit diesen Grübeleien auf! Ich nickte ihr zu. Die Erschöpfung, die ich spürte, entsprach nicht meiner sonstigen psychischen Stärke. Am Schlüsselbein, dort, wo mein Zellaktivator eingesetzt war, brann te und pochte es über alle Maßen. Das Gerät musste wohl Enormes leisten, um mein kör perliches Ungleichgewicht auszugleichen. Und was passierte mit meinem Seelenzu stand? Eine leichte Dagor-Übung half mir, zu mindest die heftigsten Auswirkungen meiner geistigen Erschöpfung beiseite zu drängen beziehungsweise zu kaschieren. Mehr oder weniger stand ich neben mir. Mit seltsamer Teilnahmslosigkeit betrachtete ich aus abge hobener Position, wie sich der Atlan, der ich selbst war, an die Lehnen des Formenergie sessels klammerte, heftig bemüht, unbedingt den Schein zu wahren. Ich/er durfte uns kei ne Blöße geben, musste als leuchtendes Bei spiel für den Rest der kleinen Besatzung ru hig und besonnen wirken. So, wie ich er es in einem ewig langen Leben stets getan hat te. »Je mehr Schwarze Substanz hierher überwechselt, desto brüchiger scheint die Begrenzung des Miniaturuniversums zu werden«, sagte Noganesch nachdenklich. Die Worte rissen mich in die IchBetrachtung zurück. War dieser seltsame ab gehobene Blickwinkel ein weiterer Aspekt hyperdimensionaler Beeinflussung gewe sen? Ich sah auf den Panoramaschirm – und konnte den Normalraum sehen! Risse, Schlünde und Lücken taten sich in der bis herigen Ortungswand auf und erlaubten Blicke in das Standarduniversum. Mit jeder
10 Faser meines Leibs gierte ich danach, dort hin zurückzuwechseln, diesen widerlichen Kosmos voll fremdartiger Phänomene hinter mir zu lassen. Ich atmete dreimal tief durch und konzen trierte mich auf den Wortteppich, der die Zentrale der AMENSOON durchdrang. Ky thara, Noganesch und Shynnantysch disku tierten eifrig miteinander, während Xarpato sch in aller Eile seine Mannschaftskameraden über unsere Abenteuer auf Kopaar infor mierte. Kalarthras hielt sich weiterhin abge schieden im Hintergrund. »Es dauert nicht mehr lange«, mutmaßte ich mit fester Stimme, »bis das Miniaturuni versum zurück ins angestammte RaumZeit-Kontinuum fällt.« »Das mag durchaus sein«, meinte der Wissenschaftler. »Allerdings kann es vorher zu einer Übersättigung mit Schwarzer Sub stanz kommen. Zu einer Serie von Explosio nen mit hyperdimensionalen Seiteneffekten, die sozusagen alles mit sich reißen und in ei nem Sog in ein höher gelagerten Kontinuum ziehen.« Nachdenklich und ohne auf die fortgesetzten Detonationsserien, die die Messgeräte anzeigten, zu achten, fuhr er fort: »Wir erleben hier in komprimierter und verkürzter Form, was ganz Dwingeloo eines Tages blühen könnte. Von akademischer Warte aus durchaus interessant, doch ehrlich gesagt hätte ich die Werte, die wir derzeit sammeln, gerne unter Laborbedingungen ge wonnen …« »Wie stehen die Chancen, dass uns die Risse ein Entkommen in den Normalraum erlauben, bevor hier alles vor die Hunde geht?« »Vor die Hunde?« Ungeduldig winkte ich ab. »Eine alte ter ranische Redensart. Du weißt, was ich mei ne?« Er nickte und sagte mit müder Stimme: »Die Datenflüsse sind verfälscht und von Effekten überlagert. Das Ende dieses Minia turuniversums steht unmittelbar bevor, sollte der Zufluss der Schwarzen Substanz unver mindert anhalten. Und mein Gefühl sagt
Michael Marcus Thurner mir: Der Druck, den dieses geheimnisvolle … Zeug auf die hiesigen Gesetzmäßigkeiten ausübt, wird zu stark werden, bevor wir uns durch einen der sichtbaren Strukturrisse wa gen können.« »Eine sehr vage Aussage für einen Sexta dim- und Hyperphysiker«, warf Kythara ein. »Manchmal steht man mit all seinen wis senschaftlichen Erfahrungen und Weisheiten in der Sackgasse«, gestand der Cappin. »Dann sollte man sich auf seinen Instinkt verlassen.« »Was schlägst du vor?«, fragte ich. »Wir sollten eine Flucht durch den Hyper trichter wagen«, antwortete der Mann leise. »Es scheint mir die einzige Möglichkeit mit einer reellen Überlebenschance.« Bevor ich etwas erwidern konnte, kam Heroshan Offshanor, gestützt von einem sei ner Elitesoldaten, in die Zentrale der AMENSOON gehumpelt. Er zog das linke Bein nach; seine Kopf- und Nackenpartie wirkte seltsam steif. Mit schmalen Lippen und zusammengekniffenen Augen strahlte er jene Entschlossenheit aus, die ich derzeit schmerzlich bei mir selbst vermisste. Hinter ihm wurde der nach wie vor para lysierte Farangon in die Zentrale gebracht. Kythara gab umgehend Anweisung, ihn in einem separierten Raum mehrere Etagen un terhalb der Zentralebene unterzubringen und von allen Informationsflüssen tunlichst fern zu halten. Letztendlich konnte niemand sa gen, wie lange der Nervenschock noch an halten und wie viel der Verräter von unseren Gesprächen mitbekommen würde. Im selben Moment meldete sich die Po sitronik der AMENSOON zu Wort. »Ich messe ein neuartiges Phänomen an«, sagte sie lapidar. Sie projizierte eine schematische und unvollständige Holo-Darstellung des Miniaturuniversums unmittelbar neben ihre Kommandantin. Dreieckspfeile deuteten an mehreren Stel len auf Dellen in der unsichtbaren Umman telung hin. »Was ist das?«, fragte ich und schüttelte den Kopf.
Chaos im Miniaturuniversum »Enklaven«, murmelte Noganesch. »Möglicherweise Überlappungszonen oder verbindende Elemente zu anderen Orten, die von Schwarzer Substanz umlagert sind.« Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdi gen, zog er sich in eine stille Ecke des Raums zurück, begleitet von Shynnantysch. Die beiden Techniker ließen mich und die anderen mit Vermutungen alleine und nah men augenblicklich eine lebhafte Diskussion mit der KI der Bordpositronik auf. Die Andeutungen waren zu rätselhaft, als dass ich mir einen Reim darauf machen konnte. Einerlei. Ich benötigte derzeit nichts mehr als Ablenkung. Nur so konnte ich meine in nerliche Unausgewogenheit verdrängen. Ich ging zu Offshanor und half ihm, in ei nem der freien Formenergiesessel Platz zu finden. Die Paralyse-Wirkung konnte trotz fortgeschrittenster Heilmethoden nicht von einem Moment zum nächsten aufgehoben werden, ohne den Kreislauf des Cappins zu gefährden. Er dankte für meine Geste mit einem kur zen Nicken, während er sich von Gevaron informieren ließ. Auch der ehemalige Un dercoveragent, einstmals ein guter Freund Farangons und normalerweise nie um einen Scherz verlegen, wirkte ernst und zuge knöpft. Kein Wunder, der Verrat eines der ihren ging ihnen allen sehr nahe, zumal sie in ihrer Heimatgalaxis Ähnliches schon er lebt hatten. Selbst dort machten sich, aus welchen Gründen immer, die Lordrichter breit … »Die Zeit läuft uns davon«, sagte Kythara unruhig. »Wir müssen eine Entscheidung treffen, wollen wir eine realistische Chance auf ein Entkommen haben. Sollen wir uns auf die Überlegungen zweier cappinscher Wissenschaftler verlassen?« »Die Zeit, die wir jetzt für Überlegungen und Planungen aufwenden, wird uns an an derer Stelle hilfreich sein. Was sagt übrigens die Bordpositronik zu diesem neuen Phäno men?« »Sie kommt zum selben Resultat«, unter
11 brach mich Noganesch und kam gemeinsam mit seinem meist stillen Begleiter Shynnan tysch zu uns. »Diese Blasen beschleunigen den Zusammenbruch des Miniaturuniver sums weiter – und andererseits stellen sie Tore nach außen dar.« »Etwas genauer, bitte!«, forderte ich. »Banal ausgedrückt: Die ballonartigen Ein stülpungen stellen Übertrittszonen zu ande ren Orten Dwingeloos dar. Die Schwarze Substanz ist das verbindende Element. Wir mögen sie Anker oder Gegenpole nennen; überall dort, wo dieser Stoff gehäuft auftritt, reagiert er durch das übergeordnete Hyper kontinuum mit anderen Lagern. Je größer die Anhäufungen, desto stabiler sind die miteinander in Verbindung tretenden – wie soll ich sie nennen? –, hm, Portale.« Meine Augen tränten, nicht das erste Mal am heutigen Tag. »Wenn ich das richtig ver standen habe, können wir sozusagen per ›distanzlosen Schritt‹ durch diese Portale von einem Ort zum anderen reisen?« »Theoretisch, ja.« Unruhig ging der Wis senschaftler auf und ab. »Allerdings verhal ten sich die meisten der Blasen instabil. Sie kommen und vergehen, wie ich hier anhand des Schaubilds verdeutlichen möchte.« Noganesch deutete auf ein weiteres zuge schaltetes Holo, das unser Miniaturuniver sum in seiner Gesamtausdehnung abbildete. Blasen entstanden an den Rändern, denen ei nes blubbernden Sumpfes nicht unähnlich. In extrem gerafftem Zeitablauf formten sich Enklaven, blähten sich auf und verschwan den bald darauf wieder. Mein untrügliches Gedächtnis memorierte Hunderte Portale in dem Bild, die nur einmalig entstanden – und ein gutes Dutzend, die immer wieder aufs Neue erschienen beziehungsweise eine ge wisse Stabilität aufwiesen. Kurz flackerte die Beleuchtung der AMENSOON. Kythara drehte sich zu ihrem Instrumentenpult. Sie spielte mit den Reg lern, tippte in ihre Tastatur und kommuni zierte gleichzeitig auf verbalem und nonver balem Weg mit der Positronik. »Fünf Zielgebiete entwickeln mittlerweile
12 eine bemerkenswerte Stabilität«, fuhr Noga nesch ungerührt fort. »Drei davon lassen sich sogar identifizieren.« Er griff in das Holo und zog mit beachtli cher Sicherheit drei Bereiche hervor. Sie wuchsen in seinen Händen an, explodierten zu galaktischen Schauplätzen, in denen Son nen und Planeten zu leuchten begannen. Eine bemerkenswerte Zurschaustellung varganischen Leistungsvermögens, wie ich fand. Und eine umso bewundernswertere Vorstellung des Cappins Noganesch, der mit der fremdartigen Technik umging, als hätte er sein Lebtag lang nichts anderes getan. »Dieser Raumsektor hier manifestiert sich im Haupt-Hypertrichter«, sagte er. »Es han delt sich um Ephaiston. Erkennt ihr die vier roten Riesensterne?« Ich nickte, während Kommandant Offsha nor zustimmend grunzte. Teile seiner Ge sichtsmuskeln waren nach wie vor gelähmt. »Das Tetraeder, das die vier Sonnen mit einer Seitenlänge von 1,5 Lichtjahren bil den, ist unverkennbar. Dieser Sektor wäre aufgrund seiner Stabilität das Primärziel für eine Flucht – wenn wir es wagen sollten, den Weg durch dieses Portal zu nehmen.« »Weiter!«, forderte ich ungeduldig. Wir vertändelten zu viel Zeit mit sinnlosen Ge sprächen. Wir sollten handeln, sollten … Beruhige dich!, forderte mich der Extra sinn auf. Informationen sind momentan das Wichtigste. Überstürztes Handeln wäre mehr als unangebracht. So hast du es selbst gerade erst Kythara gegenüber formuliert. Natürlich hatte er Recht. Aber zwischen wissen und akzeptieren bestand derzeit in meiner Gefühlswelt eine riesengroße Diskre panz. »Zweites erkanntes Ziel: ein kugelförmi ger Sektor, Durchmesser zirka 13,7 Licht jahre. 37 Sonnen, allesamt von der Schwar zen Substanz heimgesucht. Die Welt der Rhoarxi-Artefakte wäre die Alternative für unsere Flucht …« Das genügte mir. Es handelte sich um je nen Bereich Dwingeloos, in dem sich Alar na, die Welt der Vargiden, befand.
Michael Marcus Thurner Noganesch hatte die Daten offensichtlich von der Positronik der AMENSOON oder direkt von Kalarthras erhalten – und wusste wohl über unser Abenteuer genauestens Be scheid. Über unsere Begegnung mit dem jungen, splitterfasernackten Trommler na mens Saelin. Einem Geisteswesen, das wie alle seines Volkes von der seltsamen Aus strahlung eines Rhoarxi-Artefaktes profitie ren und solcherart unglaublich wirklichkeits getreue Paradieswelten generieren konnte. Ich erinnerte mich, kehrte mit den Gedanken zu jenen Erlebnissen vor knapp sechs Wo chen zurück, erlebte intensiv die damaligen Eindrücke nochmals mit … »Der große Vorteil eines Flugs durch die ses Portal wäre, dass wir uns dort in relativer Sicherheit befänden.« Nun – dieser Meinung war ich ganz und gar nicht. Garbyor-Schiffe hatten uns beim Verlassen der Raumkugel aufgelauert und uns in einer mörderischen Hetzjagd bis zum Planeten Sothin getrieben. »Welches ist das dritte Ziel?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte. Die planetenlose blauweiße Riesensonne, die Noganesch soeben aus dem Holo hervorhob und mit einer Drehung seiner Hand vergrö ßerte, war mir bekannt. »Der Dunkelstern selbst«, antwortete der Cappin ruhig. »Der Fokus all unserer An strengungen und Hauptspielwiese der lord richterlichen Bemühungen.« Ich schloss die Augen und sah fremdarti ge schwarze und dunkelgraue Riesenprotu beranzen, die aus dem Umfeld der Riesen sonne hervorquollen und eine diffuse Akkre tionsscheibe bildeten. Der Dunkelstern …
* »Wie sieht es bei unseren Gegnern aus?«, fragte ich. Ich musste den Kopf einmal frei bekommen. Vielleicht ließ sich das Pferd von der anderen Seite aufzäumen. Und all mählich spürte ich Kraft und Entschlossen heit zurückkehren. Die hyperdimensionalen
Chaos im Miniaturuniversum Effekte, die sich um meine Psyche gelegt hatten, schienen allmählich nachzulassen. »Bislang haben wir nur einige kleinere Einheiten in Tropfenform geortet sowie zwei manövrierunfähige Wracks der Zaqoor. Sie müssen bei der Vernichtung Kopaars schwere Verluste davongetragen haben. Von einer gezielten Jagd auf uns ist keine Rede.« Bei den Sternengöttern – dies waren die Fragen, die ich viel früher hätte stellen sol len! Das, was in den letzten Stunden gesche hen war, verblasste allmählich wie ein schlechter Traum. Ich fühlte mich erfrischt, und ich spürte richtiggehend Lust daran, mich an den Herausforderungen zu reiben, die das Miniaturuniversum zu bieten hatte. Nimm dich in Acht, mahnte mich der Ex trasinn. Vieles, was in dir arbeitet, kann er neut ausbrechen. Es mag sein, dass deine … Unentschlossenheit und die seelischen Pro bleme zurückkehren. Ich empfand aufrichtige Dankbarkeit dem Logiksektor gegenüber. Doch jetzt blieb kei ne Zeit mehr, über meine seltsamen Proble me zu philosophieren. Wir mussten Ideen entwickeln – und handeln. »Wie viel Zeit bleibt noch, bis wir eine Entscheidung treffen müssen?« »Maximal eine Stunde. Dann brechen hier alle Dämme.« »Ich will mit Farangon reden«, bat ich Heroshan Offshanor. Im Grunde brauchte ich seine Einwilligung hier, an Bord der AMENSOON, nicht. Aber der Kommandant der MORYR hatte sich als wertvoller Ver bündeter – und Kamerad – erwiesen. Er soll te das Gefühl haben, in meine Entscheidun gen mit eingebunden zu sein. Er zögerte kurz, nickte dann aber und winkte mir, ihm zu folgen. Sein Schritt war noch unsicher, aber das würde sich in den nächsten Minuten endgültig legen. Die Nachwirkungen der Paralyse verblassten. Wir schwebten hinab zu einem isolierten Seitentrakt der AMENSOON. Mit ihren rie sigen Ausmaßen bot sie Platz für eine mehr tausendköpfige Besatzung, wenn es sein musste. Kythara konnte es sich daher ohne
13 weiteres leisten, für die Absonderung und gezielte Bewachung des Verräters ganze Ebenen des Schiffes zur Verfügung zu stel len. Zwei Elitesoldaten der Cappins wichen bereitwillig zur Seite, als wir das schmuck lose Zimmer betraten. Farangon schwebte, gefangen in einer goldenen Energiehülle, im Zentrum des Raumes, flankiert von Varg-1 und Varg-2. Die blank polierten Roboter re flektierten den allgegenwärtigen Goldschim mer, der bisweilen aufgrund seiner Eintönig keit jeden Zauber für mich verlor. »Ist Farangon bei Sinnen?«, fragte ich Varg-1. »Seine Vitalfunktionen sind aktiv«, ant wortete der Robot. »Die Gehirnströme wei sen auf zunehmende Aktivität hin, seit ihr den Raum betreten habt.« »Gut so. Ich möchte mit dem Gefangenen Kontakt aufnehmen. Ist das Risiko vertret bar, oder müssen wir befürchten, dass er die Gelegenheit zum Pedotransfer nützt?« »Ich werde seine Gehirntätigkeit, die im Zuckermann-Spektrum verankert ist, wäh rend des Geprächs verwirren. Das Subjekt kann nicht entkommen.« »In Ordnung.« Ich holte tief Luft und wandte mich dem Cappin zu.
4. Farangon Diese Schmerzen … sie drangen aus sei nem Inneren, zogen und zerrten an ihm. Farangon befand sich in einer merkwürdi gen amplituden Phasenbewegung zwischen Nichtsein und Erwachen. Immer wieder kam er zu sich, wollte teilhaben an der Wirklich keit – und wurde erneut nach unten gesto ßen, in ein Schwarz, so dunkel, dass es ihn für immer zu verschlingen drohte. Er rückte dem Licht der Vernunft ein we nig näher. Der künstliche Druck, der auf Farangon ausgeübt wurde, ließ nach. Was war es, das er eigentlich wollte? Was war sein letzter klarer Gedanke gewesen? Ach ja … der misslungene Versuch eines
14 Pedotransfers, um aus dem Schiff seiner Feinde zu fliehen, einen schmählichen Rückzug anzutreten. »Warum, Farangon?«, durchdrang eine sattsam bekannte Stimme seine VielleichtExistenz. »Was bewegt einen Mann wie dich, sein eigenes Volk zu betrügen und zu verraten?« Atlan tauchte vor ihm auf. Der weißhaari ge Mann mit dem markanten Gesicht spa zierte vor ihm auf und ab, beobachtete ihn, wartete auf eine Reaktion. Er wirkte offen und entspannt, war sichtlich um ein geeigne tes Gesprächsklima bemüht. Der Arkonide wollte mit Freundlichkeit und Verständnis an Informationen herankommen. Was für eine erbärmliche Gestalt er doch war! Trotz seines Alters und seiner Erfah rung hatte er es noch immer nicht geschafft, den richtigen Weg zu finden. Sich dort einund unterzuordnen, wo er den wahren Wert eines erfüllten Lebens kennen lernen durfte. Neben Atlan stand Offshanor. Steif, auf recht und offensichtlich erschüttert vom Verrat, den er, Farangon, in seinen Augen begangen hatte. »Ich bin Garbyor«, sagte er mit Lippen, die kein Gefühl besaßen, und einer Zunge, die sich wie ein bepelztes Stück Fleisch an spürte, »und Garbyor ist in mir. Mein Herz, meine Sinne, meine Gedanken gehören den Lordrichtern, und die Aufnahme in die Ewi ge Horde wird Belohnung für mich sein …« »Ich weiß«, unterbrach ihn Atlan auf eine aufreizende Art und Weise, für die er einen besonders schmerzhaften Tod verdient hätte. »Wir sind dir ganz schön auf den Leim ge gangen, nicht wahr?« »Das seid ihr, und ihr seid auf dem richti gen Weg, wenn ihr die Wahrheit erkennt, denn die Pläne der Lordrichter sind unfehl bar, also gebt auf, begebt euch in die Hände des Schwertes der Ordnung und seiner Die ner …« Es tat gut, die seit langer Zeit verborgen gehaltenen Gedanken endlich aussprechen zu dürfen. Farangon fühlte geringfügige Er leichterung und Entspannung, auch wenn
Michael Marcus Thurner sein Geist nach wie vor nicht zur Ruhe kam. Neutralisierende Psi-Strahlen, so ahnte er, hielten ihn gemeinsam mit einer angepassten Dosis nervenlähmender Paralyse in einer Art Stasis. Er musste den Arkoniden hinhalten, auf den Moment warten, in dem die Aufmerk samkeit seiner Wächter nachließ und die Strahlung geringer wurde … »Vieles von dem, was du uns erzähltest, entsprach tatsächlich der Wahrheit«, fuhr Atlan fort. »Ich hatte stets Misstrauen dir ge genüber, aber ich konnte dich einfach nicht festnageln.« »Ich spürte deinen Argwohn. Trodar gab mir die Kraft, Trodar gab mir den Willen, dich von meinen Absichten zu überzeugen, Trodar sei Dank.« »Hör mir jetzt gut zu, Farangon«, sagte der Verblendete. Er legte falsche Eindring lichkeit in seine Stimme. »Es kann sein, dass wir heute und jetzt sterben und du tatsäch lich in die Ewige Horde eingehst. Ich weiß nicht, ob du dafür bereit bist oder ob du nicht vorher noch den Lordrichtern von An gesicht zu Angesicht gegenüberstehen willst.« »Sie sehen?« Farangons Puls beschleunig te. Er spürte, wie ihn Verzückung durch drang, seine Gedanken freier machte … »Niemand darf sie sehen, die Mächtigen, das wäre Blasphemie. Doch ihre Aura zu spüren – es wäre einfach zu schön …« Er bemühte sich, den Kopf zu schütteln, und für wenige Millimeter bewegte sich sein Haupt. »Du glaubst noch immer, sie besiegen zu können, nicht wahr, Arkonide? Du willst mich benüt zen, um in ihre Nähe zu gelangen. Aber dar aus wird nichts, da mache ich nicht mit!« »Beruhige dich!«, bettelte Atlan mit ver räterischer Falschheit. Er sah zur Seite. Farangon folgte dem Blick, soweit es ihm möglich war – und erkannte, wo das Pro blem lag. Ein varganischer Roboter schwebte links von ihm und justierte das breitfächrige Sta sisfeld. Eine Maschine. Kein Lebewesen. Gegen
Chaos im Miniaturuniversum die perfekten Automatismen dieser Maschi ne hatte er keine Chance. Sie würde ihn stets in jenem Zustand halten, der es ihm nicht er laubte, seinen Körper, diese nutzlos gewor dene Hülle, zu verlassen. Jeglicher Wider stand war derzeit zwecklos. Er musste die Fluchtgedanken hintanschieben, und sich hingebungsvoll den Trost schenkenden Lita neien Trodars widmen – sofern es die ner venzerrüttenden Paralysestrahlen erlaubten. »Wir möchten uns lediglich in die Umge bung des Dunkelsterns begeben und uns dem Urteil der Lordrichter unterwerfen«, fa selte Atlan weiter. »Ihr tut gut daran«, murmelte der Cappin. Er spürte, dass Speichelblasen über seine Lippen blubberten. Sein Körper unterlag nicht mehr seiner Kontrolle. »Ich will dir nichts vormachen, Faran gon«, sagte Atlan. »Wir haben die Wahl, im Miniaturuniversum zu sterben, von den Ge walten hyperdimensionaler Effekte erstickt, oder den Versuch zu wagen, über ein Hin tertürchen zum Dunkelstern vorzudringen. Um zu den Lordrichtern zu gelangen.« »Was für eine Anmaßung …« »Das tut jetzt nichts zur Sache, Mann! Ich will von dir wissen: Gibt es diese HintertürVerbindung, von der du uns erzählt hast, wirklich? Oder war dies eine deiner Lü gen?« Farangon begann trotz der Taubheit sei nes Körpers lauthals zu grölen. Das Geläch ter begann rollend, tief drinnen in seinem Leib, wälzte sich über seine Lippen und er fasste schließlich den gesamten Körper. »Das ist es, was du wissen willst, Arkoni de?«, fragte er. »Ob der Dunkelstern von Kopaar aus erreichbar ist?« »So ist es.« »Natürlich habe ich die Wahrheit ge sagt!«, brabbelte Farangon weiter. »Die Schwarze Substanz sorgt für den Übergang. Achtet auf die Orte, an denen sie gehäuft auftritt und Übergänge durch den Hyper raum öffnet. Diese Portale sind nicht beson ders beständig, aber die Chancen stehen gut, das Tor zu finden, das dich zur Anaksa-Stati
15 on führt. Diese Verbindung muss eine der stabilsten sein.« »Das wollte ich hören«, sagte Atlan. »Ich … danke dir.« »Und du glaubst mir? Einem Verräter?« Farangon wollte den Kopf schütteln, wurde jedoch von den sich allmählich wieder ver stärkenden Paralysestrahlen daran gehindert. »Ja, das tue ich.« »Warum?« »Erstens denke ich nicht, dass du sofort in die Ewige Horde aufgenommen werden willst. Dein Drang, dem oder den Lordrich tern gegenüberzutreten, ist spürbar. Und zweitens hast du Begriffe verwendet und die Situation so beschrieben, wie du sie unmög lich spontan erfinden konntest. Verbindung durch Schwarze Substanz; Portale – dies al les haben wir erst vor kurzem selbst in Er fahrung gebracht.« »Dennoch könnte ich gelogen haben. Vielleicht sind diese Portale doch nicht so stabil?« Farangon zeigte mühsam ein Grin sen, das mit Sicherheit gänzlich verrutscht wirkte. »Ja, du könntest gelogen haben«, murmel te der Arkonide und drehte sich weg, »aber, hol's der terranische Teufel, ich vertraue dir.« Er drehte sich um, winkte dem Roboter im Weggehen zu, und Farangon spürte, wie sein Geist erneut in der Dunkelheit verloren ging.
5. Atlan »Wir wissen alle um die Gefahren«, eröff nete ich die entscheidende Besprechung. »Draußen tobt Chaos, dem wir entkommen müssen. Ich danke euch allen, dass ihr die notwendige Ruhe bewahrt habt. Eine zu ra sche, voreilige Entscheidung wäre mögli cherweise die falsche gewesen.« Es gab einen weiteren Grund, warum ich die Entscheidung so weit wie möglich hin ausgezögert hatte. Ich wartete auf eine be stimmte Reaktion, die jedoch einfach nicht
16 erfolgen wollte. Noch besaß ich Hoffnung, noch … »Ein Durchbruch durch die rissige Wan dung«, fuhr ich fort, »hinter der wir das Nor maluniversum sehen können, wäre fatal. Es ist ein Hohn, angesichts der Umstände von Sicherheit zu sprechen – aber es scheint am besten zu sein, wenn wir den Flug durch ei nes der fünf stabilen Portale wagen.« Die beiden Varganen Kythara und Kalar thras, der Daorghor Gorgh-12 und die Cap pins blieben ruhig. Von überall her erhielt ich positive Signale. Gut so. »Die Situation ist einzigartig, und sie bie tet neben den bekannten Gefahren auch Chancen, den Lordrichtern einen schweren Schlag zu versetzen.« »Du willst also den Durchgang zum Dun kelstern wählen?«, fragte mich Offshanor. »Ja, das habe ich vor, Kytharas Einver ständnis vorausgesetzt.« Die Varganin zögerte keinen Moment. Mit einem Nicken signalisierte sie Zustim mung. Kalarthras hingegen blickte gegen die Decke, als ginge ihn das alles nur wenig an. Litt er etwa unter ähnlichen Effekten, wie ich sie während der letzten Stunden kennen gelernt hatte – oder war es die Schwarze Substanz, die in ihm steckte, die ihm zu schaffen machte? »Ich dachte allerdings an mehrere Chan cen, die wir ergreifen sollten«, führte ich meinen Vorschlag genauer aus. »Auf Ephai ston laufen zweifelsohne ebenfalls Umset zer-Versuche, die wir verhindern sollten.« »Das heißt?«, fragte Offshanor. »Ich möchte, dass wir unsere Kräfte auf teilen.« Jegliche Unsicherheit war wie weg geblasen. Ich sprach keinen Wunsch aus, sondern eine Anweisung. »Kalarthras, Offs hanor und seine Leute versuchen ihr Glück mit der AMENSOON im Ephaiston-Sy stem.« Ich blickte den vollends wiederherge stellten Befehlshaber der Cappins an. »Wenn es die Umstände erlauben, ruft ihr die MORYR zur Unterstützung. Es gilt, den Umsetzer unter allen Umständen zu vernich-
Michael Marcus Thurner ten. Kythara, Gorgh, Farangon und ich hin gegen werden mit dem Kardenmogher den Dunkelstern direkt anvisieren.« Betretenes Schweigen folgte. Auch Kalar thras sagte kein Wort. Unter normalen Um ständen hätte ich einen Protest von dem so charakterstarken Varganen erwartet. Doch was war in diesen Tagen noch »normal« zu nennen? »Ist es ratsam, unsere Kräfte aufzutei len?«, wandte Offshanor schließlich ein. »Wenn wir gegen den Dunkelstern angehen, könnten meine Leute und ich mittels Pe dotransfer das Chaos in der Anaksa-Station verstärken. Vielleicht gelingt es uns sogar, einen … Lordrichter zu übernehmen.« »Du weißt, dass dies die Umstände nicht erlauben«, sagte ich. »Denk an Farangons Schicksal.« Ich stand von meinem Stuhl auf und be gann, in der Zentrale auf und ab zu mar schieren. »Ihr seid mit euren Fähigkeiten dort besser aufgehoben, wo man euch nicht erwartet. Angesichts unserer unterlegenen Situation noch eine zweite Front zu eröffnen – das ist etwas, das die Befehlshaber unseres Gegners kaum erwarten werden.« »Du willst mich – uns – loswerden, nicht wahr?«, warf Kalarthras ein. Sein kohlra benschwarzes Gesicht wirkte verbittert. Dies war die erste Gefühlsregung, die ich heute von ihm zu sehen bekam. »Kommandant Offshanor und seine Män ner könnten auf diesem wichtigen Neben schauplatz die Pläne der Lordrichter gehörig durcheinander bringen – und damit den Druck auf sie erhöhen. Das Portal nach Ephaiston scheint mir der ungefährlichere Durchgang zu sein. Wer weiß schon, wie groß die Flottenverbände sind, die uns beim Dunkelstern erwarten? Mit dem Kardenmo gher besitzen Kythara, Gorgh und ich we sentlich größere Chancen, im zu erwarten den Kampf zu bestehen. Und was deine Rol le betrifft, Kalarthras: Wir brauchen einen Varganen für die AMENSOON …« Ich blieb stehen, spürte ein Rütteln und Zittern unter meinen Füßen und blickte auf mehr als
Chaos im Miniaturuniversum beunruhigende Datenblöcke, die in den Raum projiziert wurden. »Wir dürfen nicht länger zögern. Kythara?« Die Varganin nickte. »Ich gebe dir Recht. Zwei Gruppen, zwei Chancen. Und wir müs sen uns beeilen. In wenigen Minuten ist die maximale Stabilität in den Portalen erreicht. Danach kann alles sehr rasch gehen – und das Mikrouniversum in einem riesigen Knall enden.« Sie wandte sich Kalarthras zu und besprach sich leise mit ihm. Die vermeintliche Ruhe löste sich ganz plötzlich in geordneter Hektik auf. Die Cap pins waren mit meiner Entscheidung keines wegs einverstanden, fügten sich aber. »Warum willst du Farangon mit dir neh men?«, fragte mich Offshanor. »Auch wenn er ein Verräter ist – er besitzt mehr Informationen, als wir glauben mögen. Wer weiß schon, was er noch alles über die Anaksa-Station ausplaudern kann.« »Bleiben wir bei den bekannten Treff punkten, wenn alles … vorbei ist?« »Ja. Dieselben markanten Leuchtfeuer sonnen.« Er legte mir den Arm schwer auf die Schulter, und ich tat es ihm gleich. Für mehr blieb keine Zeit. Möglicherweise war es ein Abschied für immer. In solchen Situationen fehlten einem oft die Worte. Ich drehte mich zu Kalarthras um. »Ich hoffe, du verstehst meinen Wunsch nach Trennung nicht falsch?«, fragte ich. »Wenn du auf Kythara anspielst – nein.« Er beugte sich zu mir und flüsterte in mein Ohr: »Wenn du sie lange genug kennst, wirst du merken, dass sie die Jägerin ist und nicht die Beute.« Er versuchte ein Grinsen. Es fiel schief aus, und unsägliche Müdigkeit war an ihm zu spüren. »Ich wünsche euch alles Glück des Uni versums«, sagte ich und verließ gemeinsam mit Gorgh die Zentrale. Was auch immer sich der dunkle Vargane und Kythara mitzu teilen hatten – sie sollten die Gelegenheit dazu bekommen.
*
17 Die Varganin schleuste den Kardenmo gher mit gewohnter Eleganz aus der weitaus größeren AMENSOON aus. Es gewitterte und irrlichterte auf hyperdi mensionaler Basis. Unbeeindruckt davon hielt Kythara den Kurs. Die Distanz zum Portal, jener blasenför migen Enklave in der Außenhülle des Mi krouniversums, durch die wir zum Dunkel stern vorzudringen hofften, betrug knapp 110 Lichtjahre. Optimale Beschleunigungs phasen vorausgesetzt, konnten wir unser Ziel in weniger als einer Minute überwin den. Rasch wurde klar, dass wir nicht einmal ein Zehntel der gewünschten Werte erreich ten. Immer wieder mussten wir Fahrt weg nehmen, in den Normalraum zurückkehren und allzu heftigen Hyperbeben und gewittern ausweichen. Erst in etwas mehr als zehn Minuten würden wir wissen, was unsere hochtrabenden Pläne wert waren. Sofern wir nicht von feindlichen Schiffen daran gehindert wurden. Doch nach wie vor war von Verfolgern weit und breit keine Spur. Nur wenige Geg ner schienen dem Inferno bei Kopaar ent kommen zu sein, und diese wirkten desori entiert und wie gelähmt. Befriedigung, zu mindest einen kleinen Etappensieg eingefah ren zu haben, erfasste mich. »Noch vier Minuten«, sagte Gorgh ruhig. Er lehnte in typischer Haltung in seinem Spezialsessel und hatte mindere Kontrollar beiten übernommen. Den Hauptakt, die Steuerung des Kardenmoghers, mussten wir einzig und allein Kythara überlassen. Farangon war zwar an Bord, jedoch unter halb des kleinen Zentraleraums in einer flugs ausgebildeten Kabineneinheit ver wahrt, nach wie vor von Varg-1 und Varg-2 bewacht. Der Kardenmogher wurde erneut heftig durchgerüttelt und dazu gezwungen, den ge fährlichen Hyperraumflug für wenige Se kunden zu unterbrechen. Die Bildaufberei tung lieferte uns die Aufnahmen einer weite ren Welt, die, von Schwarzer Substanz über sättigt, explodierte. Rotviolette Strahlenbün
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del rasten nach allen Seiten davon, über schwappten lichtschnell den Rest des Mi krouniversum. Kythara fluchte in ihrer samtweichen Muttersprache, während sie das wunderliche Schiff erneut auf Kurs zwang. Und es geschah etwas, auf das ich nicht mehr zu hoffen gewagt hatte.
* Ich befand mich übergangslos in einer an deren Welt. Ganz alleine im Zuschauerraum eines rie senhaften Theatersaals, der nach faulem Holz und feuchtem Papier miefte. Im Orche stergraben und auf der Bühne befanden sich Hunderte goldhäutige und durchaus arkonoi de Lebewesen. Sie alle prügelten auf ihre In strumente ein. Trommeln. Trommeln unterschiedlichster Bauweise. Auf dem kleinen Dirigentenpult stand Saelin, der Vargide, mit hochrotem Kopf. Er starrte mich mit einer äußerst seltsamen Mi schung aus Widerwillen, Zorn und Angst an. »Was habt ihr getan, ihr Wahnsinnigen?«, tönte seine Stimme schmerzhaft laut durch den Saal, dessen Resonanzkraft bemerkens wert war. »Zuerst sagst du mir, wo ich mich befin de.« Ich bemühte mich, die Situation mög lichst leidenschaftslos zu beurteilen. »In einer anderen Welt«, entgegnete der Vargide. »In meiner Welt.« Du bist noch immer an Bord des Karden moghers, vermittelte mir der Extrasinn. Sae lin ist in deine Gedanken eingedrungen und hat sich Erinnerungen von dir ausgeliehen. Dieser … gedankliche Ort ist so gewählt, dass er sich wohl fühlt und du dich in einem annähernd bekannten Umfeld bewegst. Ich nahm die Information hin. Schein und Sein lagen angesichts des hyperdimensiona len Umfelds ohnehin so nahe beisammen wie nirgendwo sonst. Mein Blick schweifte über die Mitglieder des Trommel-Ensembles. Saelin hatte sich reichhaltig aus meinem Gedächtnis bedient.
Ich »sah« kubanische Quintos und Tumba doras, irische Bodhráns, westafrikanische Sabars, Bongarabous, Batas, Udus und Djembés, japanische Hira- und Miya-Tai kos, koreanische Buks. Daneben Becken, Pauken, Gongund Fasstrommeln, »Frösche«, Balafone, Congas … Und inmit ten des riesigen Orchesters gab Saelin den Takt in der Rolle eines Tambourmajors an. »Ich habe dich eigentlich schon früher er wartet!«, schrie ich über den Trommelwirbel hinweg. »Gar nichts hast du, Arkonide!« Er wir belte mit den Armen umher und dirigierte seine Landsleute, die sich vollends auf die Instrumente konzentrierten. »Was macht ihr in diesem labilen Teiluniversum?« Die Projektion des Wesens, das so wie al le seines Volkes entstofflicht auf und um den Planeten Alarna lebte, wirkte verwa schen und undeutlich. »Dieses Kollektiv meiner Artgenossen hält die Verbindung zu dir und dem Varganenschiff aufrecht. Durch jene instabile Zone, die unsere Heimat be einflusst und in Wechselwirkung mit diesem Sternenbereich getreten ist. Ich erkenne in deinen Gedanken, dass du nicht ganz un schuldig an den lebensbedrohenden Zustän den hier bist, Atlan.« »Diese … Zustände, unter denen der gan ze Raumsektor leidet, sind nur ein Aspekt des Kampfes gegen die Lordrichter, den wir ausfechten. Und wir tun das für dich, die Vargiden und alle Bewohner der Dwinge loo-Galaxis!« »Wir brauchen niemanden, der für uns eintritt.« »Du … ihr müsst einsehen, dass es in die ser Auseinandersetzung keinen neutralen Standpunkt gibt. Die Lordrichter werden euch ihren Willen aufzwingen, zu Sklaven machen oder euch vernichten.« Der Trom melwirbel wirkte nun leiser und auch weni ger bedrohlich. »Denkt daran, was sie den Varganen antun. Sie stehlen oder vernichten ihre Hinterlassenschaften, erobern ihre Technik, haben sogar die prächtige Sternen stadt VARXODON in ihre Gewalt ge
Chaos im Miniaturuniversum bracht.« »Ich lese deine Gedanken und Gefühle«, sagte der Vargide. »Ich sehe Wahrheit und Verzweiflung – und Hoffnung auf unsere Unterstützung.« »Seitdem ich weiß, dass es ein stabiles Portal zu Alarna gibt, hoffte ich darauf, dass ihr einen Kontaktversuch machen würdet«, sagte ich. »Die Auswirkungen Schwarzer Substanz auf die unmittelbare Umgebung eures Heimatplaneten müssen drastisch sein, nicht wahr?« »Dieses bislang geschlossene Universum übt heftigen hyperdimensionalen Druck auf Alarna aus, das ist richtig«, gab Saelin zu. »Aber wir werden es schaffen, die Paradies welt zu halten.« »Diesmal kommt ihr vielleicht noch unge schoren davon. Aber sobald die Lordrichter eure Parakräfte als wichtig genug für ihre Pläne erachten, werden sie sich auf euch konzentrieren.« Der Vargide schwieg. Sein Abbild verlor an Festigkeit, verschwand immer wieder mal für ein paar Zehntelsekunden. Auch sein En semble wirkte müde und drohte vollständig zu verschwinden. »Helft uns!«, forderte ich plötzlich und erschrak selbst angesichts meiner Heftigkeit. »Lies in meinem Kopf, welche Pläne wir ha ben. Mach dir ein Bild von den Schrecken, die wir seit unserer ersten Begegnung erlebt haben. Wie weit die Lordrichter bereits in die Lebensumstände in Dwingeloo einge griffen haben – und urteilt dann.« Die Projektionsgestalt des Vargiden blieb stumm. Sein Gesichtsausdruck wirkte ge quält, wie zwischen den Gefühlen hin- und hergerissen. Verdammt – erkannte Saelin denn nicht, dass wir seine Hilfe in diesen Momenten so dringend benötigten wie einen Bissen Brot? Ein Seufzer, tief und schwer, war in mei nen Gedanken zu spüren. Der Vargide sagte nichts mehr, als er und der Konzertsaal sich langsam auflösten. Lediglich eine kleine Ge ste, ein durchaus arkonoides Nicken mit dem Kopf, ließ mich hoffen.
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6. Garbgursha Erzherzog Garbgursha akzeptierte die Raumbeben und Strukturerschütterungen so, wie er die Lehren des Trodar annahm: gleichmütig, aber nicht demütig. Wann immer er in die Ewige Horde ein gehen würde – es musste mit Stolz, Anstand und aufrechten Hauptes geschehen. Wenn nicht er Atlan, den Arkoniden, erwischte, so würde es eben ein anderer tun. War dem Untergang Kopaars nicht etwas Positives abzugewinnen? Lag doch im steten Kampf, in der Reibung an den Stärksten die größte Befriedigung für einen Garbyor. Zer störung folgte ihnen, den Horden, auf Schritt und Tritt. Nein! Eigentlich schoben die Truppen die Wellen der Vernichtung vor sich her, immer weiter, wie ein heißes Luftpolster. Wut und Zorn rollten mit ihnen durchs Universum, erfassten und verschlangen alles, verwandel ten Ordnung in Chaos. Der Kampf beziehungsweise die Ernte diente stets der Befriedigung des Einzelnen. Und die Horde diente dem Glauben an den steten Untergang. Eine neuerliche Front hyperdimensionaler Erschütterungen packte die GARB-ONZYN und schüttelte den Raumer kräftig durch. Der Erzherzog stemmte sich mit nackten Füßen in den sandigen Boden seiner priva ten Unterkunft. Mehrere Gravos schlugen durch, aber er wankte nicht. Der natürlich bestreute Untergrund seines Quartiers war eines der wenigen Privilegien, die er sich dank seiner Stellung in der Horde erlauben konnte: die Erinnerung daran zu bewahren, dass er stets ein einfacher, boden ständiger Zaqoor geblieben war; in der Schlacht genauso viel wert wie der Mindeste der Horden. Viel Zeit war vergangen, seitdem sie sich aus dem unmittelbaren Umfeld Kopaars hat ten freikämpfen können. Zeit, die ihr Feind sicherlich dazu genutzt hatte, einen Ausweg
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aus dem Mikrouniversum zu suchen. Garbgursha aktivierte die schiffsinterne Prioritätsverbindung zur Zentrale. »Ist er entkommen?«, fragte er seinen jun gen Landsmann mit dem unsicheren Blick, der in der Funkabteilung Dienst tat. Garbgursha hätte darauf wetten können, dass der namenlose Offizier binnen weniger Tage sein Leben verlieren würde. Er zeigte unverzeihliche Schwächen in der Not, und Schwächen waren im Hordenverbund sch licht und einfach verboten. »Wir konnten Atlans Fluchtweg nicht weiterverfolgen«, haspelte der Junge. »Wir mussten alle Kapazitäten in die Logistik zu gunsten unserer eigenen Sicherheit transfe rieren …« Garbgursha kappte wortlos die Verbin dung. Ausreden, nichts als Ausreden bekam er zu hören! Er spürte, dass die Männer nicht bereit waren, sich selbst zu überwin den. Vielleicht war auch deswegen die Falle, die sie für den Arkoniden so mühsam und aufwändig errichtet hatten, nicht zuge schnappt. Ein neuerlicher Schlag erschütterte die GARB-ONZYN, und diesmal musste er sich fluchend an der Zentralstrebe seines Quar tiers festhalten. Das Inferno hielt das Schiff nach wie vor im Griff, beutelte es hin und her, drohte es in den Limbus anders gearteter Dimensionen zu reißen. »Es ist nicht der richtige Tag, um zu ster ben!«, rief er laut. Garbgursha blickte ins Nirgendwo und schüttelte wütend die Faust. »Ich weigere mich, in die Ewige Horde ein zugehen, bevor ich diesen Auftrag erfüllt ha be.«
* Kurz darauf beruhigten sich sowohl der Hyperraum als auch der Erzherzog. Die Ewige Horde hatte ihnen tatsächlich ihre Gunst verweigert und war vorbeigezogen. Sie würde eines Tages wiederkehren, keine Frage. Aber hier und jetzt musste er sich
darauf konzentrieren, die Hatz auf Atlan neuerlich anzufachen. »Wie sieht es aus?«, fragte er grußlos den Ersten Offizier, während er in die Zentrale des Schiffs stürmte. »Wo könnte der Arko nide stecken?« Der Mann begann zu schwafeln, erzählte von überdimensionalen Verwerfungen, Ris sen im Raum-Zeit-Kontinuum, der drohen den Implosion des Miniaturuniversums um Kopaar. Unnützer Kram, bestenfalls gut genug, um in die wissenschaftlichen Logbücher aufgenommen zu werden und von trockenen Analysten irgendwann einmal ausgewertet zu werden. »Wird er es wagen, durch einen dieser Risse zu flüchten?«, unterbrach er den Offi zier im Rang eines Marquis. »Atlan hat eine bessere Alternative, die er nützen wird.« »Darf ich bitte schön erfahren, wie diese Alternative aussieht?« »Hier!« Der Offizier deutete auf eine Bla se am Rande des Mikrouniversums. »In die sem Nicht-Raum befindet sich ein Übergang zum Dunkelstern. Die Grenze ist so dünn wie das zarteste Gewebe und dennoch so un berechenbar und gefährlich wie ein Heptoi der Felsmümmler. Moment!« Der Erste stutzte, überprüfte hochkonzen triert die Anzeigen auf seinen Paneelen. »Wir haben sie wiedergefunden! Unser spezielles Ortungsgerät erfasst sie.« Er deu tete mit spitzen Fingern auf jene kaum faust große milchig weiße Kugel, die einer der Ortungsspezialisten ratlos in der Hand hielt. Die Funktion des Geräts war ihnen allen unklar. Ein wenig gemahnte das Gerät an Zauberei und Taschenspielertricks, wie man sie kleinen Kindern vorführte. Doch die Garbyor nahmen es hin. Schließlich stammte die Kugel von einem Lordrichter, und bis lang hatte sie zuverlässig funktioniert. Eine Holoprojektion zeigte die Koordinaten und die Entfernung zum georteten Feindschiff, relativ zu ihrem Standort. Der Erste Offizier zuckte resignierend mit
Chaos im Miniaturuniversum den breiten Schultern. »Atlan steuert gerade wegs auf die Übergangszone zu. Er sucht wie erwartet den … Übertritt zum Dunkel stern.« Damit bestätigte sich einmal mehr, was der Erzherzog ohnedies geahnt hatte. Der Arkonide war schließlich kein Feigling. Er würde den Konfrontationskurs wählen. Er flog auf direktem Weg dorthin, wo er ver meinte, die Lordrichter und die glorreichen Horden am schmerzhaftesten treffen zu kön nen. Auch wenn Atlan ganz offensichtlich unter Größenwahn litt: Der Erzherzog konn te nicht anders, als seine Kühnheit zu be wundern. »Sammelt alle noch flugfähigen Schiffe«, befahl der Erzherzog, »und dann mit Höchstbeschleunigung auf diese Enklave zu! Wir müssen Atlans Spur unbedingt behal ten.« Schwer ließ er sich in seinen Komman dantensessel fallen und grübelte düster vor sich hin. Der Arkonide hatte nicht nur den KopaarUmsetzer vernichtet, nein: Die Verwirrung und das angerichtete Chaos kamen ihm jetzt auch noch zugute. Hatten sich die Ewigen der Horde gegen die eigenen Truppen verschworen? Es stand zu befürchten, dass die GARB-ONZYN das feindliche Schiff nicht mehr vor dem Eintau chen in das Hyperportal erreichte. Lordrich ter Yagul Mahuur würde keineswegs zufrie den sein, wenn Atlan in unmittelbarer Nähe des Dunkelsterns auftauchte. Garbgursha musste widerwillig eingeste hen, dass er die Zielstrebigkeit des Arkoni den unterschätzt hatte. Atlan war ein würdi ger Gegner. Strebsam, zielgerichtet und tap fer.
7. Atlan Ich kehrte in die Wirklichkeit zurück. Ich war wieder im Kardenmogher. Das Innere des Schiffes strahlte jenen Goldglanz aus, der mich mittlerweile gehörig anödete.
21 Helft uns, dachte ich ein weiteres Mal und hoffte, dass die Vargiden meinen verzwei felten Ruf hören konnten. Ich war es müde, über all das nachzuden ken, was, aus dem Überraum kommend, auf uns niederprasselte. Welche Strahlungs schauer, welche gravitationalen Verwerfun gen, welche ungreifbaren Nebeneffekte. Kythara hatte sich nicht merkbar bewegt, während ich »weg« gewesen war. Der Schweiß stand ihr nach wie vor auf der Stirn. Offensichtlich war meine geistige Ab senz nicht bemerkt worden. Mit wenigen Worten informierte ich sie und Gorgh über das Erlebte. Beide nahmen es gelassen hin. Kythara dank ihrer Erfahrung, der Daorghor mit dem Pragmatismus seines Volkes. Der Kardenmogher schüttelte und beutelte sich plötzlich. Ein boxenförmiges Aggregat, für nachge reihte Antigraveffekte im Inneren des Schif fes zuständig, zerschmolz neben mir, sprüh te gelbe Funken und verging dann schlus sendlich in einem Nichts. Kythara ließ den Kardenmogher mit einer Handbewegung ein Ersatzgerät herbeischaffen und mit dem Ge samtblock der Gerätschaften verbinden. Sosehr mich der Vorgang der »Nachschubbeschaffung« faszinierte, so sehr erschreckte mich das Verschwinden be ziehungsweise die Vernichtung des Aggre gats. Die Effekte, die das varganische Super schiff ergriffen, konnten jederzeit auch Per sonen erfassen … Ich fühlte mich elend, konnte nicht ein greifen und der Varganin lediglich alles Gu te für ihren heroischen Kampf gegen das entartete Kontinuum wünschen. Helft uns, helft uns, helft uns!, rief ich den Vargiden einmal mehr gedanklich nach. »Wir sind in der Blase«, murmelte Kytha ra kaum hörbar. »Jetzt wird sich's zeigen …« Augenblicklich glaubte ich mich zusam mengedrückt auf ein singuläres Etwas. Spre chen, Riechen, Fühlen, Hören und Tasten endeten. Gedanken rieselten in Umkehrung
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allen Vorstellungsvermögens spröde an mir hoch wie binäre Zahlenkolonnen, die unend lich verlangsamten und schließlich in der Zeit verloren gingen. Quant für Quant. Psion für Psion. Flocken trieben vorbei. Schwarze. Flocken. Schwarze. Substanz. Eine irrwitzige Idee durchfuhr meinen Nicht-Körper. Konnte ich dieses Schwarz vielleicht einfangen? Ergreifen und aufes sen? Bis nichts mehr davon da war, bis mein Leib gefüllt war mit jenem schrecklichen Stoff, den die Lordrichter auf Dwingeloo losgelassen hatten? Lordrichter? Dwingeloo? Schwarze Substanz? Erinnerungen kehrten zurück, fanden zu sammen, pressten sich in eine schwammige Hülle, die einmal ein Gehirn gewesen war und wieder dazu werden sollte, und ich wus ste wieder, was ich war, bin und sein würde. Gold glitzernder Schimmer mit einem Hauch von Trommelrhythmus legte sich um mein verwirrtes Gemüt, wurde fester und stabiler, bildete eine ausreichende Schutz schicht, die den wundervoll fürchterlichen Hyperraumgewittern Einhalt gebot. »Kythara?«, stöhnte ich. Ich besaß wieder eine Stimme. Und ich befand mich in einem Raum, in dem ich at men konnte und der den Schall leitete. »Ja …«, krächzte etwas/jemand. »War es das? Sind wir durch?« »Die … Vargiden haben uns und den Kar denmogher … offensichtlich stabilisiert. Wir sind in der … Hyperraumblase und … stem men uns gegen … die Schwarze Substanz. Die Nullzeit-Entmaterialisation passiert … jetzt.« Und nun ging es erst richtig los.
8.
bislang erlaubt hatten, das feindliche Schiff bis hierher, dem unmittelbaren Nahbereich der Hyperraumblase, anzumessen. Trübes Weiß überlagerte die Kugel wie Schnee. »Hat uns Atlan erneut reingelegt?«, fragte der Erste Offizier. »Unmöglich!«, antwortete Garbgursha im Brustton der Überzeugung. »Das … Ding funktioniert hier angesichts der hyperdimen sionalen Impulsschwemme anscheinend nicht.« Im nächsten Moment ärgerte er sich über seine Worte, stellten sie doch die Unfehlbar keit der Lordrichter in Zweifel. »Atlan hat das Miniaturuniversum verlas sen«, behauptete er. »Das muss die Erklä rung für das Abklingen der Ortungsimpulse sein.« »Laut unseren Berechnungen sollte der Eintritt des varganischen Schiffes in diesen blasenförmigen Hypertunnel erst etwas spä ter erfolgen …«, wagte der Erste zu wider sprechen. »Was wissen wir schon über die Bedin gungen hier?«, blaffte Garbgursha zurück. »Wir folgen ihnen. Augenblicklich. GARB ONZYN auf Höchstwerte beschleunigen, Besatzung vorbereiten.« »Die Chancen stehen schlecht für uns. Wir müssen gegen Kräfte antreten, denen wir möglicherweise nicht gewachsen sind …« »Befolge gefälligst meinen Befehl!«, brüllte der Erzherzog. »Sonst ziehe ich dir persönlich die Haut vom Leib.« Ja, kam es denn schon so weit, dass sich gar die Offiziere von Angst und Panik leiten ließen? Hatten sie den Glauben an Trodar und die Ewige Horde nicht verinnerlicht? Es wurde wohl Zeit, ein Exempel zu statuieren. Sobald – und falls – sie den Durchbruch zum Dunkelstern schafften.
Garbgursha Das Spezialortungsgerät versagte! Ausgerechnet jetzt, im wichtigsten Mo ment, erloschen jene Impulse, die es ihnen
9. Yagul Mahuur Die VESTARON stand relativ zum Dun
Chaos im Miniaturuniversum kelstern in Ruheposition. Lordrichter Yagul Mahuur blieb ebenso ruhig, während er die einkommenden Infor mationen auswertete. Die angemessenen Hyperphänomene er reichten eine Qualität, wie sie selbst hier vor Ort, nahe der Anaksa-Station, noch nie be obachtet worden war. »Die Kopaar-Falle hat nicht zuge schnappt«, murmelte er. Nachdenklich griff er in das Gefäß aus wertvoll geschliffenem Glas und holte eine der sündteuren KramanNüsse hervor. Gleichgültig und mit kaum merklicher Anstrengung knackte er die dicke, hölzerne Schale. Eine fein geäderte Nuss von ovaler Form kullerte hervor. Ge schickt nahm er sie in den Mundwinkel und biss sie entzwei. Wütendes, gefährliches Brummen ertönte, als der Sholaaq-Wurm aus seinem Gehäuse befreit wurde. Yagul Mahuur kümmerte sich nicht weiter darum. Mit einer silbernen Pin zette zog er den giftigen Stachel aus dem Hinterleib des Wurms, zerdrückte das pa nisch gewordene Weichwesen, zerrieb das Fleisch und leckte schließlich den grüngrau en Brei von den Fingern. Augenblicklich spürte er, wie sich die Wirkung in seinem Kopf bemerkbar machte. Farben verstärkten sich in ihrer Intensität, Geräusche aus dem Vorzimmer seiner Kom mando-Kabine drangen plötzlich an sein Ohr, und er verspürte eine unbändige, orgia stische Lust. Der Moment verging. Übrig blieben ein vielfach gesteigertes Konzentrationsvergnü gen und gedankliche Klarheit, wie sie mit keiner anderen bekannten Methode erreicht werden konnte. Nur zu schade, dass der Genuss dieses Sholaaq-Wurms für lange Zeit der letzte bleiben würde. Nahm man zu viel und zu rasch von der psi-potenten Masse des Tieres zu sich, geriet man nur allzu leicht in Ge fahr, einen grauenvollen Tod zu erleiden. »Atlan ist uns also erneut entkommen«, fuhr er in seinem Selbstgespräch fort. »Ich muss sogar davon ausgehen, dass er den
23 Umsetzer auf Kopaar vernichtet hat – und dass das Miniaturuniversum gänzlich außer Kontrolle gerät.« Ein Gedanke führte zum nächsten. Die aufgenommene Wurmsubstanz leitete ihn durch das Wirrwarr rechnerischer Möglich keiten und wies ihn, den richtigen Schluss zu ziehen. »Ein herber Verlust, muss ich zugeben.« Es störte Yagul Mahuur nicht, dass ihm niemand zuhörte, dass seine Stimme hohl von den Wänden der Kabine widerklang. Es passierte selten, dass er sich mit anderen be riet. Und wenn, dann waren es Gleichge stellte. Andere Lordrichter. »Die hyperenergetischen Überschläge nehmen zu. Die Akkretionsscheibe ist be reits angegriffen, ebenso wie der Dunkel stern selbst.« Er blickte hinaus, sah die schwarzen Pro tuberanzen, wie sie scheinbar über den rie senhaft aufgeblähten Leib der Sonne hin wegleckten. »Ist es gut, ist es schlecht?«, sinnierte er. »Muss ich dem Arkoniden dankbar sein? Hat er etwas erreicht, was uns trotz aller Bemühungen bislang nicht gelun gen ist?« Das Umsetzer-Portal der Anaksa-Station klaffte immer weiter auf. Es lockte ihn, als wollte es ihn verzehren, bei lebendigem Leib in sich hineinsaugen. Hinein in den so genannten Mikrokosmos der Varganen, in dem so viel verborgen war, was zu bergen sie sich vorgenommen hatten. Aber nein! Noch hatten die Kräfte der Garbyor das Umsetzer-Portal nicht erreicht. Die schwarzen Kräfte aus dem Varganen reich strömten mehr oder weniger unkon trolliert hierher, wie aus einem Wasserhahn, dessen Verschluss klemmte und neu justiert gehörte. »Wo ist Garbgursha? Was macht der Ver sager? Ich brauche mehr Informationen, um eine weitere Vorgehensweise zu planen …« Die Wirkung des Sholaaq-Wurms war be rauschend. Sein Gehirn verlangte nach mehr Wissen, nach mehr Futter für seine Gedan ken. Alles drehte sich immer rascher um
24 mögliche Lösungen für seine Probleme. »Atlan wird bald hier eintreffen.« Er drehte sich zur Wand, betrachtete die feine Maserung, die den wertvollen Marmor eines unbenannten und mittlerweile vernichteten Planeten kennzeichnete. »Ja. Ich kann es spüren! Es ist fast so weit. Der hyperdimen sionale Ausgang, das Portal, aus dem er kommen wird, klafft auf wie das Maul eines gefräßigen Raubtiers, und es wird ihn aus speien wie einen verdorbenen Klumpen Fleisch.« Yagul Mahuur betrachtete die Aufnahmen des Schlunds, die ihn von der NordpolOberfläche der Anaksa-Stationen erreichten. Dort würde der Arkonide materialisieren. Die Planung zu seiner Gefangennahme hatte bereits vor langer Zeit begonnen. Da mals hatte er ebenfalls unter der Wirkung ei nes Sholaaq-Wurms gestanden. Er hatte auf möglichst vielfältige Art und Weise hochge rechnet, wie es gelingen konnte, dieses Man nes, der glitschig wie ein Fisch und schlau wie ein in die Enge getriebenes Raubtier war, habhaft zu werden. Ein wichtiger Ge sichtspunkt der Planung war es gewesen, At lan vermittels des Cappin-Verräters Faran gon zu bewegen, den Weg durch ein Hyper raum-Portal hierher zu wählen. Durch die Hintertür sozusagen. Natürlich war das Risiko einer solchen Variante als sehr hoch betrachtet worden. Hypermasse war unberechenbar. Auch ein Varganenschiff war mitnichten stark genug, allen Kräften eines übergeordneten Kontinu ums zu widerstehen. Deswegen war Yagul Mahuur nicht allzu erfreut, dass gerade die ser Aspekt seiner Falle zum Tragen kam. At lans Tod war in den Plänen des Schwerts der Ordnung nicht vorgesehen. Welch ein Paradoxon! Der Arkonide war ein natürlicher Feind des Kurses, den die Lordrichter fuhren – und sie benötigten ihn dennoch. Unter anderem, damit er für sie die Intrawelt besuchen konnte. Der andere, den sie bereits vor längerer Zeit geschickt hatten, hatte trotz seiner zweifelsohne vorhandenen Begabungen wohl versagt.
Michael Marcus Thurner »Feind?« Der Lordrichter lachte. »Es gibt keine Feinde, die dem Schwert der Ordnung und den Horden der Garbyor gefährlich wer den können. Weder ein sturköpfiger Arkoni de noch ein kleines Häuflein verblendeter Varganen, noch die Cappins, noch diese lä cherliche Konterkraft, die sich angeblich auf manchen unserer Schiffe eingenistet hat.« Der Gedanke an eine Opposition in den eigenen Reihen verschwand sofort wieder von der Oberfläche seiner Ideenwelt. Es schien den steuernden Gehirnimpulsen, ver stärkt durch die psi-potente Masse des Sho laaq-Wurms, nicht wert, sich auch nur län ger als einen Augenblick mit ihm zu befas sen. Er widmete sich wieder dem Anblick der Anaksa-Station. Der klobige Klumpen aus Gestein und Metall war bizarr geformt und von vielen ungelösten Rätseln umgeben. Ein weiteres Relikt der Varganen, wie so viele, die er in letzter Zeit zu sehen bekommen hatte. »Du wirst deine Geheimnisse schon recht bald preisgeben«, flüsterte der Lord richter. Die hyperdimensionale Komponente rings um den Dunkelstern tat plötzlich einen wei teren Quantensprung. Schwarze Substanz in bislang ungekannten Ausmaßen strömte her an. Mit Sicherheit erschwerten die veränder ten Bedingungen die Forschungsarbeit der Garbyor-Truppen. Andererseits wurde derart eine Entscheidung herbeigezwungen, auf die er trotz aller Geduld, die ihn normalerweise auszeichnete, freudig wartete. »Glaubst du tatsächlich, Arkonide, dass du mit einem varganischen Schiff meinen Truppen trotzen kannst? Du solltest es bes ser wissen! Wie war noch gleich der Name des Raumers? AMENSOON? Und wie der Name deiner Schlampe? Kythara?« Er lach te gehässig. »Ich weiß Bescheid über varga nische Frauen. VARXODON, die Prächtige, war einstmals ein Hafen ihrer Gelüste, ein Bordell ohne Leidenschaft. Diese Weiber sind gelangweilt und ausgezehrt vom langen Leben, das sie ohne Antrieb und ohne Ziel
Chaos im Miniaturuniversum verbringen. Ich – ja, ich! – habe die Sternen stadt für die Horden der Garbyor erobert. Und ausgelöscht, was unseren Zielen nicht dienlich erschien.« Yagul Mahuur setzte sich zur Thrombo lon-Orgel. Mit flinken Fingern strich er über die drei Manuale, pendelte gefühlvoll hin und her, während die Beine gemächlich über ein gutes Dutzend Pedale tanzten. Die ihm nur allzu bekannte Melodie des »Lustigen Leichenschänders« hallte von den Wänden wider, während die bildaufbereitende Kom ponente des Instruments Phantasien von Tod und Zerstörung ins Innere des Raumes spie gelte. Weiterhin inspiriert von der Wirkung des Sholaaq-Wurms, steigerte er die Tempi, ließ Feuerwerke der Bösartigkeit, der Gewalt und kalter Wut herabregnen. Sowohl in Ton als auch in Bild entstanden monumentale Werke, die aus seinem Innersten drangen und einen glasklaren Ausdruck fanden. Verschwitzt hielt er schließlich inne. Sein Leib zitterte, erschöpft von dem, was ihm das Instrument abverlangt hatte und er zu geben bereit gewesen war. Nein, diese künstlerische Darstellung ent sprach keinesfalls seinem komplexen Cha rakter. Yagul Mahuur interpretierte ledig lich, indem er Teilaspekte seines Wesens heranzog, ein Meisterwerk moderner Bild tonkunst. Er tat dies mit dem ihm eigenen Hang zur Perfektion. Was er anfasste, mus ste hundertprozentig gut werden. Schließlich erhob er sich und trat zum Aussichtsfenster, das heute eine gesamte Breitseite seiner Kabine ausmachte. »Fünfundzwanzig Raumer warten auf dich, Atlan«, murmelte er, »solltest du es schaffen, das Portal unbeschadet zu durch dringen.« Er griff in die bildliche Aufbereitung des Dunkelsterns, streichelte über einen obszön langen Ausläufer der Schwarzen Substanz. »Soll ich mir deinetwegen Sorgen machen, Arkonide? Bist du tatsächlich jener variable, gefährliche Faktor, als der dich das Schwert der Ordnung bezeichnet? Besitzt du größere
25 Machtmittel als dieses eher bescheidene Varganenschiffchen? Machtmittel, von de nen wir noch nichts wissen?« Yagul Mahuur drehte sich abrupt weg, spazierte mit wuchtigen Schritten auf und ab. Noch immer klang die Melodie des »Lustigen Leichenschänders« über die Ton prallfeldverstärker nach, noch immer gei sterten Melodiebilder durch den Raum mit seinen vielen versteckten Winkeln. Da und dort huschten sie hervor, wollten ihn mit hä mischem Lächeln schrecken. Doch er beu telte uninteressiert den Kopf, und enttäuscht diffundierten sie. »Ich möchte dich keineswegs unterschät zen, mein Lieber. Das Chaos, das du mit der wahrscheinlichen Vernichtung des KopaarUmsetzers angerichtet hast, kommt dir wahrlich zugute. Selbst meinen erfahrenen Elitekommandanten in ihren bestens ge schützten Schiffen fällt es schwer, die Posi tionen zu halten, geschweige denn in diesem hyperdimensionalen Wirrwarr irgendwelche Kennungen anzumessen. Und das, obwohl sie sich in höchster Gefechtsbereitschaft be finden und doppelte Schichten ableisten …« Er vertrieb eine letzte Schimäre, die sich vor ihm im Schatten eines schwarzen, rauch förmigen Denke-Mals verstecken wollte. Wütend heulend klopfte der Geist mit einem Huf auf, urinierte gelbe Wölkchen in eine Ecke und fuhr durch den Boden zurück ins Reich der Vergessenheit, zurück ins Reich der Bildmusik. Im hypersensibilisierten Kopf des Lord richters entstanden dreidimensionale Sche mata. Gedanklich schob er seine Schiffsein heiten hin und her, positionierte sie um, bis sie dem ihm eigenen Sinnen für optimalen Nutzen und Schönheit zugleich entsprachen. Gleich darauf brachte er die Anweisungen über eine stimmenverzerrende Sprechver bindung irgendeinem Adjutanten zu Gehör. Wahrscheinlich einem erfahrenen Zaqoor seiner Leibgarde – doch das interessierte ihn eigentlich gar nicht. »Das Projekt Durchbruch steht an seiner entscheidenden Wende, Arkonide«, sprach
26 der Lordrichter alsdann weiter. »Die Wir kung deiner Taten, so klein und unbedeu tend sie auch sein mögen, irritieren. Garbo ghthera und das Schwert der Ordnung sind allmählich mehr als nur ungehalten.« Nicht alles stellte sich so einfach dar, wie er es soeben in Worten gekleidet hatte. Ya gul Mahuur musste insgeheim zugeben, dass Worte und Tatsachen nicht in Einklang stan den. Denn die Lordrichter hatten schmerz hafte Niederlagen erlitten. Mehrere Expeditionen, die in die Tiefen der Anaksa-Station vorgedrungen waren, mussten abgeschrieben werden. Von vielen Garbyor, tapferen und hingebungsvollen Soldaten Trodars, hatte man nicht einmal Nachricht, was ihnen zugestoßen war. Die Steuerzentrale des varganischen Um setzers lag nach wie vor außer Reichweite. Die Arme des Schwertes der Ordnung reich ten weit – aber nicht weit genug. Selbst die Hochrangberechtigungskodes als VarRhatgit Kherop, die er memoriert und verin nerlicht hatte, halfen nichts, solange die Truppen nicht den richtigen Weg hinab in den Leib der Anaksa-Station gefunden hat ten. Ein tiefer Summton kündete von einem Primär-Alarm. Atlan? Hatte es der Arkonide tatsächlich hierher geschafft? Dank der durch den Sholaaq-Wurm er höhten Konzentrationswerte gelang es ihm rascher als allen anderen, die Situation zu überblicken. Lange bevor seine Adjutanten, all die Marquis und Erzherzöge, reagieren konnten, Schiffs- und Zentralrechner die richtigen Schlüsse gezogen hatten, wusste er, was Sache war. Nein – dies war nicht Atlan. Die Schiffs kennung, so bruchstückhaft sie auch sein mochte, war die eines Zaqoor-Raumers. Um genauer zu sein: Die GARB-ONZYN hatte wider Erwarten den Durchbruch geschafft. Das riesenhafte Schiff, derzeit noch sche menhaft erkennbar, materialisierte unter widrigsten Bedingungen und taumelte all-
Michael Marcus Thurner mählich aus dem Hypertrichter. Erzherzog Garbgursha war angekommen. Etwa, um ihm gute Nachrichten zu über bringen? Dass der Feind gefangen war und man ihn endlich für ihre Zwecke verwenden konnte? Oder – und das war eine Botschaft, die er unter keinen Umständen hören wollte – dass Atlan gefallen war? Nun – es versprach, spannend zu werden. Er musste einige Vorbereitungen treffen. Der Lordrichter dunkelte den großen Raum ab, schaltete das Panoramabild weg und begab sich in dämmrigem Licht zu ei nem Ausgang, der hinter dem Original eines schreigemalten Alptraumbildes verborgen war. Die Kodes, die das doppelte Sicher heitsschott öffneten, waren ihm alleine be kannt. Zischend fuhr das Tor beiseite. Greller weißer Glanz erfüllte das kleine Zimmer, in dem sich nichts außer einer oval geformten Schutzschirmblase befand. Ein Mann schwamm darin, den Kopf so weit vorgebeugt, dass der Lordrichter ihm nicht in die Augen blicken konnte. Der brei te Brustkörper des Mannes hob und senkte sich unendlich langsam. Der Zaqoor-Mutant Heronar war hier in Stasis gefangen. Im Körper des varganischen Flottenkomman deurs Veschnaron …
10. Farangon Farangons Fessel-Kokon bebte, zitterte und zeigte Lücken. Mit einem Mal wusste er, was passierte, passiert war, passieren würde. Der Durchbruch war geschafft, die Nähe des Dunkelsterns für seine Sinne deut lich spürbar. Wenn es für seinen Geist eine Chance gab, zu flüchten, dann war sie jetzt gekom men! Er musste sich konzentrieren, all seine Schmerzen beiseite schieben. Mit Hilfe litur gischer Sprüche würde er es schaffen, sich zu erheben. Es mussten Schlachtschiffe sei ner Herren in der Nähe sein. Ein einziger flüchtiger Kontakt würde genügen, ein Mo
Chaos im Miniaturuniversum ment der Stärke … Jetztjetztjetzt! Die Voraussetzungen wa ren ideal, das Fesselfeld nahezu zerbröselt, die varganischen Roboter schlichtweg über fordert und nicht in der Lage, den Pedotrans fer zu verhindern. Er suchte den inneren Punkt der Ruhe, den er benötigte, griff ihn sich und suchte einen Zielort. Eine Seelenhülle, in die er schlüpfen konnte. Da war sie! Er transferierte. Und wurde vom Schutzschirm zurückge worfen, der just in diesem Moment wieder zu voller Leistungsstärke zurückfand. Farangon tobte. Das heißt: Er wollte toben, denn das Fes selfeld hielt ihn erneut in Stasis gefangen, und die beiden varganischen Roboter justier ten die Paralysestrahlen erneut auf ihn.
11. Atlan Es war ein Erwachen wie kein anderes. Meine Körperlichkeit entstand in einem Pro zess von neuem, der mit nichts vergleichbar war, was ich jemals erlebt hatte. Es war, als spürte ich den Geburtsschmerz eines Babys, würde voll Begierde den ersten Atemzug tun – und gleichzeitig Tantalus qualen direkt in meinem Gehirn ertragen müssen, die von einem glühenden Messer stammten. Ich war blind. Mein Schrei gellte unarti kuliert und mischte sich mit jenen anderen Rufen, die ich unterbewusst bereits hörte. Das Gewinsel einer hohen Stimme moch te von Kythara stammen. Ja – ich erinnerte mich allmählich an die Namen meiner Be gleiter. Kythara und Gorgh. Das Stakkato, das dem Knattern feuchter Wäsche im Wind ähnelte, allerdings zehnmal so laut klang, konnte ein Schmerzenslaut des Insektoiden sein. Doch diese Überlegungen waren lediglich Nebenprodukte meines überreizten, überfor derten Kopfes. Wissen strömte in kaum
27 glaublichen Mengen in mich zurück. Infor mationen, die ich in 13.000 Jahren angehäuft hatte, fanden zu neuem Zusammenhang. Lange verdrängt oder beiseite geschoben, waren sie in irgendwelchen Gehirnfalten verborgen gewesen. Nun, da ich in der Hy perdimensionalität verschwunden und in der Wirklichkeit neu »zusammengesetzt« wor den war, geschah eine Restrukturierung. Fehlfunktionen meines gepeinigten Kör pers irritierten mich. Ich wollte etwas sagen und hob stattdessen den rechten Arm. Feuchtigkeit, die ich über meinen Rücken rinnen spürte, stellte sich als ein schmales Blutrinnsal heraus, das aus der Nase kam. Endlich, nach ein oder zwei Ewigkeiten, konnten meine Augen die empfangenen Rei ze und Impulse umsetzen, und ich sah. Die räumliche Struktur des Kardenmo gher schien ähnlich gelitten zu haben wie meine körperliche. Unmögliche Winkel wa ren entstanden. Umkehrungsfelder der Schwerkraft drückten und zerrten aneinan der. Nach außen gestülpte Materie-Öff nungen, an denen zähflüssiges Material gut sichtbar zur Decke hin abtropfte, drohten das Schiff zu durchlöchern. Biolumineszie rende Krabbeltierchen, in Gold gehalten, taumelten orientierungslos durch die Zentra le und fraßen Staubflitter. Ich fühlte mich machtlos. Auf die Selbstreparatur-Routinen des Kardenmogher hatte ich keinen Einfluss. Ich konnte nur hoffen, dass Kythara in den nächsten Mo menten zu sich kam. Was wollte ich noch mal tun? Mühselig zwang ich meine Gedanken in eine andere Richtung. Waren wir am anderen Ende der Trichter öffnung angelangt? Wenn ja – dann mussten wir uns augenblicklich in Sicherheit bringen. Vor der Entdeckung durch die lordrichterli chen Truppen, vor dem Einfluss, den der Dunkelstern und seine hyperphysikalischen Unmöglichkeiten auf uns ausüben konnten. Eines der Ortungsgeräte neben meinem Stuhl sprach plötzlich an. Immerhin – auch wenn es äußerst schlechte Informationen
28 vermittelte. Denn es lieferte Alarmzeichen, wohin ich blickte. Überall standen Einheiten der Lordrichter, alle Aufmerksamkeit auf je ne Stelle im Raum fokussiert, an der wir uns befanden. Und dazwischen befand sich ein breiter, düsterer Schatten, der mir zusätzli che Angst bereitete. Instinktiv duckte ich mich, zog den Kopf zwischen die Schultern. Warum handelten die Horden der Garbyor nicht, warum spuckten ihre Geschosse nicht tödliche La dungen in unsere Richtung? Sie mussten uns längst erfasst haben! Da war doch etwas gewesen, was uns Schutz versprochen hatte … Nein – nicht etwas, sondern jemand! Saelin, der Vargide. Konnte es sein, dass er und sein Volk nach wie vor den Kardenmogher stabilisier ten und zugleich für die Augen unserer Fein de unsichtbar machten? Reichte ihr Schutz bis hierher, durch zwei Portale? Wir werden immer schwächer, erreichte mich ein leiser Impuls, der zweifelsohne vom Vargiden stammte. Nicht mehr lange, und wir müssen uns zurückziehen. Nutzt un seren Schutz, solange es noch geht; bringt euch in Sicherheit. Derzeit können euch die Truppen der Lordrichter nicht orten. Wir haben den Kardenmogher ihren Blicken … entzogen. Nun – das war mehr, als wir hätten erwar ten oder verlangen können! Ich verdrängte die beißenden Kopf schmerzen, hob meinen Körper, der wie von einem schweren Muskelkater lahm und taub war, und schleppte mich zu Kythara. Sie hatte aufgehört zu wimmern und blin zelte unkontrolliert mit den Augen. Ihr Blick stach durch mich hindurch. »Ein … Kreislaufmittel!«, forderte ich vom Kardenmogher. Keine Reaktion. Also musste ich mit der guten alten Me thode der Schocktherapie arbeiten. Ich schlug ihr links und rechts auf die Wangen. Leicht, dann immer kräftiger, bis eine Reak tion erfolgte. Ein tiefer Seufzer, ein Husten
Michael Marcus Thurner und ein Zittern des zarten Körpers. »Was …?«, fragte sie orientierungslos. Ich begann, ihre Schultern und Arme zu massieren, sprach beruhigend auf sie ein. Unterdessen kam Gorgh-12 zu sich. Der Insektoide setzte sich übergangslos auf. Sein Verstand funktionierte gänzlich anders als der unsrige. Es zeigte kein Zaudern oder Zö gern, sondern suchte augenblicklich das Zwiegespräch mit der Positronik des Kar denmoghers. Beeilung!, erreichte mich ein weiterer hauchdünner und drängender Gedankenbe fehl Saelins. Die Zeit läuft uns davon … Viel zu langsam für mein Gefühl kehrte Normalität in der Zentrale des Kardenmo ghers ein. »Der Schatten um uns ist Schwarze Sub stanz!«, sagte Gorgh, der die ersten Auswer tungen der langsam anspringenden Ortungs systeme vornahm. »Und wir befinden uns lediglich wenige Kilometer oberhalb eines mondgroßen Körpers.« »Genauere Informationen!«, forderte ich, während ich Kythara fluchend hochhalf und mit ihr ein paar vorsichtige Schritte tat. Nach wie vor herrschte gravitationales Cha os in der Kommandozentrale – doch ich brauchte die Varganin so rasch wie möglich körperlich fit. Ihr Nervensystem schien, ein mal beeinträchtigt, sich wesentlich langsa mer zu erholen als meines und das des Daor ghor. »Durchmesser an der breitesten Stelle: 2760 Kilometer«, sagte Gorgh. »Oberflächengravitation bei knapp einem Viertel der arkonoiden Standardschwerkraft. Ich messe eine atembare, wenn auch sehr dünne Sauerstoff-Stickstoff-Atmosphäre an.« »Der Dunkelstern«, murmelte Kythara be nommen. »Wir haben es tatsächlich ge schafft.« »Du musst unbedingt eingreifen«, drängte ich sie. »Noch schützen uns die Vargiden – aber über den Kardenmogher kannst nur du ausreichend Gewalt gewinnen.« »Ich bin wieder voll da«, sagte sie, straff
Chaos im Miniaturuniversum te ihren Körper und streifte meine stützen den Hände ab. Mit unvergleichlicher Grazie setzte sie sich. »Wohin?«, fragte sie. »Weg!«, entfuhr es Gorgh, den offen sichtlich ein seltsamer – und seltener – Fluchtimpuls plagte. Vielleicht eine Nach wirkung der hyperdimensionalen Beeinflus sung, denn seine von den Lordrichtern be herrschte Rasse war weithin dafür bekannt, keine Angst zu empfinden. »Hinab!«, widersprach ich augenblick lich. »Zur Anaksa-Station.« Kythara sah mich mit sonderbarem Blick an, während Gorgh gegen meine Entschei dung argumentieren wollte. »Keine langen Diskussionen!«, forderte ich. »Dort unten liegt unser Ziel. Also ab die Post!« Die Varganin hatte den Kardenmogher in seiner Funktionalität wiederhergestellt. Alle Schwerkraftvektoren funktionierten wieder, die Anzeigen arbeiteten ordnungsgemäß. Endlich reagierte das Schiff und nahm Fahrt auf. Es senkte sich zwischen riesigen Schwaden Schwarzer Substanz hinab zur Oberfläche des metallenen Klumpens. Normalerweise wären wir von der merk würdigen, zwischen den Dimensionen hinund herpendelnden Materie schon längst zerrissen oder zerstört worden. Die Schutz schicht, die die Vargiden um den Karden mogher aufgebaut hatten, musste ein enor mes Psi-Potenzial enthalten. Waren tatsächlich erst fünf Minuten ver gangen, seitdem ich erstmals nach dem Er wachen auf die Uhr geblickt hatte? Ich konnte es kaum glauben. Mir stockte der Atem. Kythara steuerte den Kardenmogher in einer Entfernung von nur wenigen Kilometer an einem Golfball raumer vorbei. Woher nahm sie bloß die Si cherheit und das Selbstvertrauen? Es blieb mir keine Zeit, darüber nachzu denken. Möglicherweise hatte der Feind an dere Probleme, als sich um uns zu kümmern. Das gegnerische Schiff torkelte und taumel te gefährlich um die eigene Achse. Der Pilot musste wohl schweißtreibende Arbeit voll
29 bringen, um wenigstens eine annähernde Stabilität seines Raumers zu gewährleisten. Wir tauchten weiter hinab, der riesenhaf ten Anaksa-Station entgegen, stets die Ak kretionsscheibe des Dunkelsterns drohend und alles umfassend im Hintergrund. Entladungen auf hyperenergetischer Basis blitzten hoch, leckten über uns hinweg, ver fingen sich in Wolken Schwarzer Substanz. Dunkelviolette Dämmerung umfing uns all mählich. Restlicht von fernen Sternen ließ lange und tiefe Schatten auf dem bizarr ver formten Brocken erscheinen. Furchen und Spalten, canyonähnliche Täler und abgerun dete Kuppen ergaben ein Bild, das die Sinne gehörig beanspruchte. Eine Assoziation entstand in mir; konnte man von einem »überdimensionierten Koral lenstock« sprechen? Nun – der Vergleich schien gewagt. Doch der arkonidische Geist benötigte stets Analogien, um Unbekanntes einzusortieren. Allmählich ließ meine Anspannung nach. Die Golfballraumer machten keinerlei An stalten, sich um uns zu kümmern. Sie sahen und spürten uns tatsächlich nicht! Der Psi-Schutz der Vargiden hielt nach wie vor, und im Stillen leistete ich dem selt samen Volk Abbitte. Was hatte ich sie ver flucht, als sie während unseres ersten Auf einandertreffens eine Hilfestellung verwei gerten. Aber nun, da es um die Wurst ging, waren sie über ihre – körperlosen – Schatten gesprungen und leisteten unersetzbare Dien ste. Weitere überraschende Detailansichten erwarteten uns, je weiter wir uns der Ober fläche der Anaksa-Station näherten. Manche Bereiche wirkten transparent oder wie aus Milchglas. Glatt polierte Flächen herrschten vor. Kaum einmal sah ich schroffe oder scharf geschliffene Kanten und Grate. Hier unten wechselte unser Farbempfinden. Was noch vor wenigen Augenblicken dunkelvio lett gewirkt hatte, war nun schwarz mit leichtem Grünstich. In einer Höhe von zwei bis dreihundert Metern zogen wir parallel zum welligen Land dahin. Kythara passte
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die Flugvektoren des Kardenmoghers der buckeligen und vielfach geschichteten Struktur an. Landbrücken, die aus scheinbar gefestigten Riesentropfen geformt waren, la gerten über Einbrüchen, deren Tiefen wir mit unseren Messinstrumenten nicht ausma chen konnten. Die Anaksa-Station bot ein wahres Labyrinth an Spalten, Höhlen, Tun nels, Löchern, in dem man sich ohne passen de Ausrüstung garantiert verirrte. »Der Ortungsschutz der Vargiden hält nach wie vor«, unterbrach Kythara meine Gedanken. »Aber wir sollten rasch nach ei nem geeigneten Platz für die Landung su chen.« »Wir gehen so tief hinab wie nur irgend möglich!«, ordnete ich an. »Was immer für Effekte von diesem Klumpen ausgehen mö gen – wir müssen sie nützen, um uns ausrei chend vor den Garbyor zu verbergen.« »Halbrechts voraus«, sagte Gorgh, der sich in mehreren Hologrammen mit der Oberflächenbeschaffenheit beschäftigte. »Eine Schlucht. Drei Kilometer breit, min destens zehn Kilometer tief.« Ein tiefer Riss in der seltsamen Substanz der Anaksa-Station tat sich vor uns auf. Aus gezeichnet. »Den nehmen wir«, wies ich Kythara an. »Wir tauchen hinab.« Leises Knirschen erfüllte den Kardenmo gher. Wie auch immer die Varganin es tat – sie reduzierte das Schiff auf die kleinstmög liche Größe. Fünfzehn Meter im Durchmes ser und vielleicht noch 30 Meter in der Höhe maßen die beiden aufeinander gepfropften Kegelstümpfe nunmehr. 24 Zacken des zahnradgewellten Schiffes wiesen in spitzen Winkeln nach außen, gaben ihm einen merk würdig martialischen Anblick. »Es gilt!«, sagte Kythara. Wir glitten hinab in die Dunkelheit, in den breiten Spalt, ins Innere der Anaksa-Station.
lag zum Greifen nahe vor ihnen. Die Nach wirkungen des gewaltsamen Transports lie ßen langsam nach. Ein Dringlichkeitssignal zeigte Erzherzog Garbgursha an, dass er sich augenblicklich bei Lordrichter Yagul Mahuur zu melden hatte. Es blieb ihm keine Zeit, die Schäden an Bord der GARB-ONZYN zu sichten, an sei ne persönliche Befindlichkeit zu denken oder sich um die vielen im Hyperraum ver missten Schiffe zu kümmern. Manche von ihnen mochten noch auftau chen. Irgendwann, irgendwie. Zeit war ein Faktor, der in höherdimensionalen Berei chen eine untergeordnete Rolle spielte. »Danke, Trodar, danke«, murmelte er, »dass ich weiterhin dienen darf.« Seine Stimme war schwach. Er fühlte sich wie wiedergekäut und ausgespuckt. »Das Spezialortungsgerät spricht an!«, sagte ein Ortungsoffizier heiser. Augenblicklich war Garbgursha hellwach. »Wo ist der Arkonide? Ich will sofort eine Auswertung.« »Es … es dürfte sich um eine Fehlinfor mation handeln«, stotterte der Zaqoor. »Die AMENSOON sollte sich in diesem Qua dranten befinden.« Ratlos deutete er auf einen Raumsektor, keine fünf Lichtminuten entfernt, knapp über dem Nordpol der Anak sa-Station. »Ich vermute, dass das Gerät an gesichts der Umstände versagt.« Kurz überlegte der Erzherzog und befahl dann dem Ersten Offizier: »Gib Großalarm! Informiere alle Einheiten von unserem Or tungsergebnis! Beiboote ausschleusen! Sucht den verdammten Arkoniden!« Widerspruchslos gehorchten seine Zaqoor, während sich der Erzherzog auf den Weg machte. Er musste sich sputen. Ein Lordrichter war es nicht gewohnt, lange zu warten.
12.
*
Garbgursha Sie hatten es geschafft! Der Dunkelstern
Garbgursha versuchte, sein Gefühl der Beunruhigung an der unheimlich anmuten
Chaos im Miniaturuniversum den Kirigalo-Form der VESTARON festzu machen. Das Schiff schwebte bedrohlich vor ihm. Ein Ausleger, ein Arm, schien in seine Richtung zu deuten, ihn anzuklagen. Du hast versagt!, vermeinte er eine höhni sche Stimme zu hören. Du hast Garbyor um den Erfolg gebracht. Nein, das stimmte nicht! Er hatte alles ge tan, um den Arkoniden in seine Gewalt zu bekommen. Es war nicht seine Schwäche gewesen, die ein tagelanges Schattenboxen über Raum und Zeit hinweg entschieden hat te – sondern Atlans Stärke. Garbgursha schüttelte seinen mächtigen, müden Körper. Eine Stimmung, ein Etwas, berührte ihn und versetzte ihn in unangeneh me Schwingungen. War es die persönliche Ausstrahlung des Lordrichters, die über alle Grenzen hinweg zu spüren war? Der Erzherzog dockte das Beiboot an und betrat die VESTARON forschen Schrittes. Niemand wartete hier auf ihn. Alles verlief vollautomatisiert. Sollte er die Leere der Gänge als schlech tes Zeichen werten? Würde ihn der Lord richter mit einem beiläufig ausgesprochenen Befehl der Großen Horde überantworten, al so … töten lassen? Etwas an seinen Gedanken verwirrte ihn. Wie kam er dazu, über die grenzenlose Weisheit des Schwerts der Ordnung und sei ner treuen Diener nachzudenken? Warum bewertete er etwas, das sich seinem beschei denen, engen Horizont entzog? Warum spür te er … Angst? Selbstverständlich kannte er sich hier aus. Seine Zeit in der Leibwache des Lordrich ters war nicht vergessen. Dennoch schien ihm der Marsch durch das Kirigalo-Schiff besonders lange zu dauern. Endlich erreichte er den Privatbereich Ya gul Mahuurs. Garbgursha wischte sich unge wohnten Schweiß von der Stirn, aktivierte den Türimpulsgeber und betrat mit gebeug tem Rücken die riesige Zimmerflucht.
*
31 »Deine Männer haben das Schiff schlus sendlich identifiziert«, sagte der Lordrichter statt einer Begrüßung. »J… ja?« »Was auch immer Atlan und seine Beglei ter schützte – das spezielle Ortungsgerät, das ich dir mitgab, hat wieder einmal seinen Zweck erfüllt.« Garbgursha bezwang sein Verlangen, sich zu Boden zu werfen und um Gnade zu win seln. Die Präsenz des Lordrichters, der sich wie stets hinter dem Eishaarfeld verbarg, wirkte erdrückend. »Der Arkonide verfügt über einen Kar denmogher«, fuhr Yagul Mahuur fort. »Ein varganisches Schiff, dessen Qualitäten über jene unserer Einheiten zu stellen sind.« Garbgursha blieb still. Es war nicht rat sam, das Monologisieren eines Lordrichters zu unterbrechen. Umso mehr, als er ohnehin schwerste Bestrafung erwartete. »Du stellst einen Trupp von 200 Zaqoor zusammen!«, befahl Yagul Mahuur. »Die Männer werden unter Heronars Befehl in die Anaksa-Station vordringen und nach Atlan suchen. Ziel ist nach wie vor seine Gefan gennahme. Du wirst dich dem Kommando anschließen. Das wäre alles, du darfst ge hen.« Rücklings verließ Garbgursha den Raum, ohne vom Boden hochzusehen. Neuerlich war er schweißgebadet, und all seine Glieder zitterten. So rasch wie möglich eilte er durch die wiederum leeren Gänge davon. Ein jeder Schritt, den er tat, brachte ihn weiter weg von dieser omnipotenten Präsenz, die ihn zu erdrücken drohte. Sollte er sich freuen, so glimpflich davon gekommen zu sein? Der Lordrichter war mit keiner Silbe auf sein Versagen eingegangen. Doch bestand nicht gerade darin die Stra fe, und war sie nicht ungleich … schmerzender ausgefallen? Heronar, ein einfacher Garbyor-Soldat, würde den Trupp anführen. Und er, ein Erz herzog, musste ihm folgen. Ungekannter Zorn packte Garbgursha, als
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er die VESTARON verließ.
13. Atlan Es war ein nervenaufreibender, unge wohnter Flug. Nicht die Weite des Weltalls umgab uns, sondern merkwürdiges Gestein, dessen Konsistenz wir nicht identifizieren konnten. Immer wieder überprüfte Kythara den Ortungsschutz des Kardenmoghers. So wohl aktiv als auch passiv war nichts anzu messen, was uns beunruhigen könnte. Der psionische Schutz der Vargiden tat nach wie vor Wirkung. Permanente Infrarotmessungen ergaben allmählich ein dreidimensionales Gesamt bild des Canyons. Die Steilwände hingen teilweise über. Der Boden der Schlucht war an manchen Stellen weitaus breiter als ange nommen. Ebene, glatte Flächen herrschten vor, die ebenfalls glasiert wirkten. Seitliche Öffnungen und Höhlen erweckten meine Neugierde: Grellweißes Licht drang aus ih nen hervor. »Irgendwelche Abwehrmaßnahmen der Station?«, fragte ich Kythara. »Wenn es so wäre, hätten wir sie längst zu spüren bekommen«, antwortete sie. »Ich sende gezielte varganische Kennungen aus. Vielleicht helfen sie, vielleicht nicht. Bisher jedenfalls gab es keine Reaktion.« »Kannst du Energiequellen im Inneren anpeilen?« »Nein – wobei die meisten Messtechniken von den Umständen hier stark beeinflusst werden.« »Wir gehen noch tiefer«, wies ich Kytha ra an. Der Boden war durchlöchert wie Schwei zer Käse. Spalten und Löcher, manche regel mäßig und rund geformt, reichten weiter hinab in die unergründlichen Tiefen der Anaksa-Station. Allmählich vergaß ich die Schiffe der Lordrichter und die Bedrohung, die sie dar stellten. Denn dies hier war wichtiger und größer, das spürte ich mit jeder Faser meines
Leibes. Erregung und Jagdfieber packten mich. Was war das bloß für ein geheimnis volles Material, aus dem die Station be stand? Woher stammte das Licht? Waren all die Schächte und Tunnel natürlichen Ur sprungs? Kythara steuerte in einen Schacht, der einen Durchmesser von gut und gern zwei Kilometern aufwies. Wieder passierten wir seitliche Höhlen und Kavernen. Die Schich tungen des milchigen Materials wurden viel fältiger, zeigten Wellungen und sanfte Kup pen wie von übereinander geschobenen La vaströmen. »Es geht nochmals 28 Kilometer hinun ter«, sagte Gorgh. »Wir wären dann bei ei ner Tiefe von mehr als 30 Kilometern ange langt.« »Je weiter weg von der Oberfläche, desto besser.« Was ich nicht erwähnte, war, dass es mich hinabzog, dass die Neugierde immer größer wurde. Wir schwiegen, während wir in diese selt same Wunderwelt eintauchten. Glitzern, Funkeln und seltsame Lichteffekte er schreckten und erstaunten uns gleicherma ßen. Das dunkle Grün des Oberflächenmate rials wirkte ungewohnt auf unsere Augen, genauso wie jene milchig weißen Flächen, die immer wieder dazwischen eingespren kelt waren. »Schwarze Substanz!«, meldete Kythara plötzlich. Die Positronik des Kardenmoghers wich aus, als Partikelwolken an uns vorbei schwebten. Sie trieben hoch, verwirbelten und setzten sich allmählich wieder. Mit offe nen Mündern beobachteten wir breite Felder schwarzer Schneeflocken. Trotz aller Beden ken verhielten wir im Flug und beobachteten über den großen Panoramaschirm den seltsa men Tanz, den uns die unheimliche Sub stanz darbot. Neckisch umkreisten die »Flocken« einander, hüpften und irrlichter ten im grellen Licht – bis sie verschwanden. Weg waren sie, von einem Moment zum anderen. Spontane Transmissionen waren in diesem Bereich der Anaksa-Station wohl an
Chaos im Miniaturuniversum der Tagesordnung. Wir durften uns von der vordergründigen Ästhetik nicht einlullen las sen; längst wussten wir, dass selbst dem kleinsten Teil der Schwarzen Substanz mit gehörigem Misstrauen zu begegnen war. Sie stammte nicht aus diesem Universum und war überaus gefährlich, und wenn auch nur dadurch, dass selbst winzigste Mengen un geahnte Reaktionen auslösen konnten. »Obsidian«, flüsterte Kythara hochkon zentriert und warf mir einen vielsagenden Blick zu. Ich verstand, was sie sagen wollte. Die materielle Auswertung der Bestandteile Schwarzer Substanz hatte wohl auch dieses Mal ergeben, dass der Anteil an Siliziumdio xid bemerkenswert hoch war – und in seiner Gesamtheit eben jenem amorphen, lavaarti gen Gestein ähnelte, das auf Larsaf III Obsi dian genannt wurde. Doch die hyperenergetische Komponente der Schwarzen Substanz ließ sich nicht fest halten oder anmessen. Sie ähnelte nichts, dem ich bislang begegnet war. »Wir suchen einen Landeplatz, sobald wir den Boden erreicht haben«, ordnete ich an. »Auch wenn wir noch tiefer in die Station vordringen könnten?« »Selbst dann«, antwortete ich und lächel te. Kytharas Neugierde war so groß wie mei ne. Schlussendlich ging es darum, den Schif fen der Lordrichter zu entkommen. »Bevor wir weiterfliegen, sollten wir eine Nach denkpause einlegen – und unsere Wunden lecken.« Sie wusste, was ich meinte. Ich fühlte mich physisch und psychisch allen Herausforderungen gewachsen, aber das mochte täuschen. Die Passage durch das Hyperportal war sicherlich nicht spurlos an uns vorübergegangen. Ein, zwei Stunden der inneren Sammlung konnten nicht schaden, zumal uns die Vargiden nach wie vor gegen alle Umwelteinflüsse absicherten. Der Boden war erreicht. Eine nahezu ebe ne Fläche, oval und mindestens einen Kilo meter im Durchmesser, breitete sich vor uns aus. Lichtreflexe aus allen Richtungen irri
33 tierten, spiegelten vielfältigen Partikelschim mer wider. Wir konnten uns nicht auf das verlassen, was uns die Augen vorgaukelten. »Ich messe fünf Höhlen an, die von hier weg waagerecht abzweigen«, sagte Gorgh. »Wir nehmen … diesen Eingang.« Will kürlich deutete ich auf eines der mehrere hundert Meter hohen, unregelmäßig geform ten Tore, wie es im Hologramm dargestellt wurde. Kythara flog den Kardenmogher kraft ih rer Gedanken und ihres Willens weiter. Dunkelheit verschluckte uns. Goldenes Licht aus kräftigen Scheinwerfern war ein Zugeständnis an unsere Sinne. Die Steuerpo sitronik des varganischen Schiffes reagierte selbstverständlich auf gänzlich andere Ori entierungsimpulse. Die Höhle wurde zum Gang, der Gang zum engen Schlauch, bis ich glaubte, dass es nicht mehr weitergehen konnte. Die glatten Wände rückten näher, erzeugten ein unange nehmes Gefühl zwischen meinen Schulter blättern. »Ein weiterer großer Hohlraum voraus«, sagte Gorgh-12 knapp. »Bis dorthin und nicht weiter.« Eine Minute gedrosselten Fluges verging. Sieben, acht Kilometer tief waren wir mittlerweile vorgedrungen, stets umgeben von Gestein. Ich musste heftig schlucken, als wir die Höhle erreichten. Irrwitzig geformte Stalag miten und Stalaktiten, meist mit abge stumpften Spitzen, bildeten ganze Ketten schwarzgrüner Reißzahngebisse, die uns drohend angrinsten. »Eine Art … Tropfsteinhöhle«, sagte ich halblaut. »Nur sind dies keinesfalls Kalkab lagerungen.« »Diese Spitzen sehen eher wie überdi mensionierte versteinerte und erodierte Spei chelfäden aus«, meldete sich Gorgh zu Wort. »Ich wusste gar nicht, dass du zu Humor neigst.« Kytharas tat die Anmerkung, ohne in ihrer Konzentration nachzulassen. »Das war keineswegs als Spaß gemeint.« Gorgh kratzte sich energisch am ovalen Hin
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terkopf. »Ich erfasse eine Assoziation. Ich sehe auseinander gerissene Speichelfäden.« »Du meinst also, wir befänden uns in der Mundhöhle eines riesigen Geschöpfes?« »Zwischen Schein und Sein liegt vieles«, sagte der Daorghor kryptisch. »Ein altes Sprichwort meines Volkes.« Ich verfolgte die seltsamen und sprunghaften Gedanken gänge des Insektoiden nicht weiter und kon zentrierte mich vielmehr auf den Landevor gang. Kythara ließ es sich nicht nehmen, den Kardenmogher eigenhändig zu Boden zu bringen. Auch wenn ihr das Schiff jeden Handgriff abnehmen konnte: Die Varganin achtete stets darauf, so aktiv wie möglich zu bleiben. Mehrere hundert Stalagmiten zerbröselten in der geringen Schwerkraft, als das Schiff endgültig in Kontakt zum Grund trat. Wie in Zeitlupentempo zerbrachen die fragilen Kunstwerke, schwebten für eine Weile in dünner Luft und klirrten schließlich, wie uns die Außenbordlautsprecher zutrugen, selt sam verzerrt auf den glasierten Boden. Wir standen. »Alle Energiequellen, sofern sie nicht be nötigt werden, desaktivieren!«, ordnete ich an. »Fürchtest du, die Truppen der Lordrich ter könnten uns anmessen?« »Ich möchte jedwedes Risiko vermei den«, antwortete ich ausweichend. Die Varganin schürzte zweifelnd die Un terlippe, gehorchte dann wortlos. »Wir haben unser Ziel erreicht«, sagte ich nach einer kurzen Pause, in der ich wohl ge nauso wie die anderen meinen Gedanken nachhing. »Wir sind auf – besser gesagt: in – der Anaksa-Station.« Ja, wir hatten es geschafft.
* Ich überzeugte mich davon, dass Faran gon eine Ebene unterhalb der Zentrale nach wie vor in einem Feld der Schwerelosigkeit festhing. Er wurde von Varg-1 und Varg-2 in einer Art künstlichem Dämmerschlaf ge-
halten. Kurze, dosierte Schübe aus Paralyse strahlen sorgten dafür, dass er den Vorgang des Pedotransfers nicht anwenden konnte. Auch wenn ich daran zweifelte, dass ihm eine Versetzung seines Bewusstseins in die ser Umgebung gelungen wäre. Seitdem wir aufgesetzt hatten, waren riesige Gestöber schwarzer Schneeflocken vorübergezogen. Als hätte sie stürmischer Wind vor sich her getrieben. Seltsame Töne, weniger hör- denn spürbar, begleiteten die Partikelschauer. Wie von einer schaurigschönen Äolsharfe klan gen sie in meinen Ohren; furchterregend und dennoch lockend. Ich schwebte einen goldenen Schacht hin auf, geradewegs in die Zentrale hinein. »Die Anaksa-Station ist meinen Hoch rechnungen zufolge gänzlich von diesen Passagen, Hohlwegen, Tunnels und Schäch ten durchzogen«, empfing mich Gorgh. Nach einer kurzen Ruhepause, die er, gegen die Wand gestützt, für ein kleines Nicker chen genutzt hatte, beschäftigte er sich nun mehr mit der Auswertung der Daten. Der Kardenmogher hatte Unmengen relevanter und irrelevanter Messmethoden angewandt, während wir immer weiter ins Innere des Gesteinsbrockens vorgedrungen waren. Viele von ihnen waren die Datenplätze nicht wert, manche hingegen halfen durchaus wei ter, die Struktur der Station in ihren Ansät zen zu verstehen. »Ich glaube, du täuschst dich«, sagte ich zum Daorghor. »Ich vermute, dass der Kern der Station gänzlich anders aussieht. Bislang haben wir lediglich an der Oberfläche ge kratzt. Wir befinden uns schließlich auf ei nem Brocken, der so groß wie ein Mond ist und erforscht werden muss.« Ich dachte nach. »Ich möchte, dass du die Daten, die wir bereits erfasst haben, zu nächst einmal vergisst. Kümmere dich viel mehr darum, neue zu erhalten. Ich will eine möglichst erschöpfende Erfassung dessen haben, was sich unter unseren Beinen befin det.« Gorgh-12 klackte zustimmend mit den Mandibeln und aktivierte die Passivortung,
Chaos im Miniaturuniversum jenen Technik-Bereich des Kardenmogher, mit dem er sich am besten zurechtfand. Kythara kehrte ebenfalls in den Gemein schaftsraum zurück. Sie hatte sich frisch ge macht. Ihre Wangen schimmerten goldrosé; die langen, leicht lockigen Haare waren hochtoupiert. Ich atmete ihr frühlingsfri sches Parfüm und fühlte mich nach Irland versetzt, in ein Feld prächtig blühenden wei ßen und violetten Heidekrauts, umgeben von zufrieden brummenden Bienen … »Hast du Tagträume, Arkonide?«, fragte sie mich mit spöttischem Grinsen. Sie kannte ihre Wirkung auf Männer nur allzu gut. Schließlich hatte sie 806.000 Jahre lang Zeit gehabt, sich daran zu gewöhnen, von promiskuitiven und balzenden Männer horden umgeben zu sein. Obwohl … Ich verdrängte mühsam das Thema Zwi schenmenschliches und gab ihr vorerst keine Antwort. Derlei Fisimatenten waren ruhige ren Zeiten vorbehalten – so sie jemals wie der kommen mochten. »Zur Sache«, sagte ich leise. »Bist du ei nigermaßen ausgeruht – und einsatzbereit?« »Genauso viel oder wenig wie du«, ant wortete sie ruhig. »Eine Stunde Erholungs pause ist nicht die Welt.« Ich ging nicht näher darauf ein, dass ich auf die Unterstützung des Zellaktivators bauen konnte. »Trotz aller Müdigkeit müs sen wir aktiv werden.« »Was schlägst du vor? Einen kleinen Spa ziergang?« »Ich möchte erst die Auswertungen des Kardenmoghers beziehungsweise Gorghs abwarten. Wir sollten zumindest andeu tungsweise wissen, wo wir uns eigentlich befinden. Dann spricht nichts mehr dagegen, dass wir uns ein wenig die Beine vertreten …« »Ich kann jederzeit beginnen«, unterbrach mich Gorgh. Überrascht blickte ich zur Seite. Der Daorghor hatte die Auswertung doch erst vor wenigen Minuten in Angriff genommen! »Der Datenfluss funktioniert derzeit aus gezeichnet«, sagte Gorgh, als hätte er meine
35 Gedanken gelesen. »Der Druck der Schwar zen Substanz hat merklich nachgelassen. Es muss sich um eine Art Unterbrechung oder ›Loch‹ in hyperenergetischer Hinsicht han deln.« »Nun gut.« Ich setzte mich und beobach tete, wie es Kythara mir gleichtat. Sie schlug ihre wohlgeformten Beine übereinander, las ziv und lockend … Konzentrier dich gefälligst!, fuhr mir der Extrasinn in den Gedankenblock. Seit lan gem hatte sich meine persönliche Zensur stelle nicht mehr gerührt, und gerade jetzt, da ich mich wirklich entspannte, markierte er den Spielverderber. »Ich konnte eine weitgehende ›Kartierung‹ des Inneren vornehmen«, un terbrach Gorgh-12 meine interne Zwiespra che. »Erste Erkenntnis: In der Tiefe der Anaksa-Station müssen den Emissionswer ten nach gewaltige Aggregate laufen …« »Geht es ein wenig genauer?«, unterbrach ich ihn. »›Aggregate‹ ist mir ein zu allge meiner Begriff.« »Bedauerlicherweise nein«, sagte der Daorghor. »Ich messe kurzfristige Spitzen werte erzeugter und verbrauchter Energie an. Eine Klassifikation oder Beurteilung der Strömungen ist leider nicht möglich. Dazu sind die Bedingungen zu … unfreundlich.« »Kannst du uns zumindest sagen, in wel cher Tiefe du diese Resultate angemessen hast?«, fragte Kythara. »Ja und nein. Denn die zweite wichtige Erkenntnis lautet, dass sich unter uns ein re lativ großer Hohlraum befindet.« Ich war keineswegs überrascht. Die so ge nannte Anaksa-Station musste irgendwo in diesem mondartigen Gebilde verborgen sein. Es war anzunehmen, dass die Varganen um Haitogallakin eine mehrere Kilometer große Enklave für ihre Forschungsarbeiten ge schaffen hatten. Wie wir mittlerweile wus sten, führten ihre Versuche, in den Mikro kosmos der Varganen vorzudringen, zu jener prekären Lage, in der sich die gesamte Gala xis Dwingeloo derzeit befand. »Definiere bitte ›relativ groß‹«, forderte ich Gorgh auf.
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»Ich komme auf einen Durchmesser des Hohlraums von 1200 Kilometern.«
* Das war nun doch ein wenig sehr überra schend. Ich hielt die Varganen nicht unbe dingt für ein Volk, das klotzte, statt zu kleckern. Am Beispiel des Kardenmoghers konnte man sehen, dass sie durchaus größe norientiert und im Sinne der Effektivität ar beiteten. Die Sternenstadt VARXODON widerlegt deine Ansicht, entgegnete der Extrasinn. Wenn sie die Anaksa-Station so groß anleg ten, werden sie einen triftigen Grund gehabt haben. »Kannst du Details zu den Messergebnis sen liefern?«, hakte ich bei Gorgh nach. »Die Varganen haben sich einer beson ders effizienten und stabilen Bauweise be müßigt. Das Innere dieses Gebildes wurde nicht einfach nur ausgehöhlt. Man hat in der umgebenden Kugelschale ebenfalls ausge zeichnete Arbeit geleistet …« Der sonst so trockene Daorghor ließ sich von wissenschaftlicher Begeisterung davon tragen. Minutenlang rasselte er Daten und Detailinformationen herunter. Mit einem warnenden Blick mahnte ich Kythara, ruhig zu bleiben. Der Hyperwissenschaftler, in un serer seit mehreren Monaten anhaltenden Zweckgemeinschaft oft nur das dritte Rad am Wagen, sollte ruhig mal das Gefühl be kommen, dank seiner exzellenten wissen schaftlichen Ausbildung Entscheidendes zu unserer Mission beizutragen. Auch wenn er Lob und Anerkennung möglicherweise gar nicht notwendig hatte. »Wenn ich dich richtig verstanden habe«, fasste Kythara schließlich zusammen, »sind in der Außenschale rings um den Zentral hohlraum verbindende Brücken, Bogen und Säulen sonder Zahl integriert, die der Station zusätzliche Stabilität verleihen. Tausende kleine und größere Hohlräume liegen zwi schen insgesamt 104 massiven kugelförmi gen ›Einbauten‹ mit jeweils um die 262 Ki-
lometer Durchmesser, die in mehreren Scha len angeordnet sind. Und in diesen Einbau ten misst du die Emissionen der Aggregat komplexe an?« »Ja.« »Deine Landsleute sind bei dieser Bau weise dem Prinzip des minimalen Material aufwands für eine maximale Wirkung ge folgt«, ergänzte ich der Varganin gegenüber. »Die Kugelschalen überschneiden oder überlappen einander. Ihre Oberflächen, die sie teilweise mit anderen teilen, tragen daher weniger Gewicht oder Druck …« »Mir ist das Prinzip durchaus bekannt«, unterbrach mich Kythara kühl. Sie hasste es, wenn ich schlauer als sie sein wollte, und ich hätte mich für meinen belehrenden Ton in den Hintern beißen kön nen. Selbstverständlich wusste sie, um was es ging. »Wir haben einen Teil der Stadt VARXODON in Wabenbauweise errichtet«, fuhr sie fort. »Alle Waben nutzen die Wände der Nachbarzellen mit; dadurch ergibt sich die höchste Stabilität bei geringstem Ge wicht. Arkonidische Architektur ist diesen Grundgesetzen der Ökonomie oftmals sträf lich aus dem Weg gegangen, wenn ich zum Beispiel an die traditionelle Trichterbauwei se eurer Wohngebäude denke …« Autsch, das tat weh! »Mein Volk dachte stets schöngeistig und baute mehr fürs Auge«, verteidigte ich schwach. »Ich möchte es anders formulieren: Ihr schertet euch wenig um das, was die Natur vorzeigte, und wolltet, hochnäsig, wie ihr nun mal seid, Kunst, Architektur und Ästhe tik revolutionieren.« Jetzt ging sie allerdings zu weit! »Mein Liebe, ich darf darauf hinweisen, dass wir immerhin die Kugel als Form für Raumschiffe in der Milchstraße zum Stan dard erhoben haben.« »Ich glaube kaum, dass ihr selbst jemals auf eine derart einfache und brillante Idee gekommen wärt … das passt so gar nicht zu deinem Gerede vom Schöngeistigen.« Kythara saß da, beherrscht und entspannt,
Chaos im Miniaturuniversum und zog provokant über jene Werte her, die meine Arkoniden stets voll Stolz als ihr Ver mächtnis, ihr Geschenk an die Völker der Milchstraße betrachtet hatten. Jahrtausende lang waren wir es gewesen, die Kultur und Zivilisation wie ein Licht in der Dunkelheit vor uns hergetragen hatten. »Ästhetik und Logik müssen sich nicht unbedingt widersprechen, so wenig wie Lo gik und Emotion. Wir beherrschen beides.« »Ich verstehe!«, unterbrach uns Gorgh plötzlich. »Ihr demonstriert mir arkonidisch varganisches Balzverhalten! Ich konnte die ser fruchtlosen Diskussion lange Zeit nicht folgen, aber jetzt ist mir alles klar.« Wäh rend er befriedigt mit den Greifzangen klap perte, fügte er hinzu: »In mancher Bezie hung seid ihr beiden wirklich … witzig. Ha. Ha. Ha.« Gorgh lachte? Ihr habt euch in seinen Augen fürchterlich lächerlich gemacht, sagte mein Extrasinn, und es lag eine gewisse Spur Erheiterung in seiner mentalen »Stimme«. Um ehrlich zu sein: auch in meinen. Aber wir haben wirk lich dringendere Probleme. »Um zum Thema zurückzukommen«, ru derte Kythara hastig zurück, die sichtlich keine Neigung zeigte, Gorghs Schlussfolge rungen zu diskutieren. »Es gibt also einen Hohlraum, der einen Durchmesser von 1200 Kilometern aufweist. Wir wissen nicht, was sich darin befindet. Die Hohlraumwandung ist etwa 800 Kilometer stark …« Sie schwieg kurz und nickte mir zu weiterzuma chen. Ihre Art des »Friedensangebots«. Die kleine Pause nutzte Gorgh-12, um pedan tisch ihre Aussage mit »zirka 780 Kilome ter« zu berichtigen. »… mit der genannten Optimalstruktur in vielfältigen Kugelschichten, mit möglichst wenig ›Füllmaterial‹ und zusätzlich verstärkt durch weitere Bogen, Brücken und Säulen«, rekapitulierte ich, den Ball aufnehmend, den Kythara mir zuspielte. Vergleichbar der Bauweise einer mittelal terlichen irdischen Kathedrale, fügte der Extrasinn hinzu.
37 »In den Kugelschichten wurden Aggrega te eingelagert, deren Funktion wir bis dato nicht kennen«, fasste ich weiter zusammen. »Wahrscheinlich sind es jene der Umset zer.« »Wir können spekulieren, dass sie ange sichts einer geplanten Verbindung zum var ganischen Mikrouniversum errichtet wur den«, fügte Kythara hinzu. »Das Äußere, so, wie wir es kennen, in Schwarz und Dunkelgrün, mit all seinen ab gerundeten Formen, ist dann nicht mehr als eine Tarnung«, mutmaßte ich. »Um dem rie sigen Komplex den Anstrich zu geben, na türlichen Ursprungs zu sein.« Ich überlegte. »Hattest du nicht auch das Gefühl, als tauch ten wir zwischen den Armen und Veräste lungen eines überdimensionierten Korallen stocks hindurch? Und als befänden wir uns im Inneren eines … Lebewesens?« »J … ja.« Die Varganin wirkte überrascht – und erleichtert. Offensichtlich hatte sie dasselbe wie ich empfunden, sich aber nicht getraut, über diese doch etwas krude Theorie zu sprechen. »Ich konnte nichts dergleichen spüren«, sagte Gorgh in der ihm eigenen sperrigen Redeweise. »Aber ich hätte noch ein Detail meiner Messungen anzubieten.« »Noch etwas?« Interessiert blickten wir ihn an. »Die Station pulsiert auf hyperdimensio naler Basis. In jenem gleichmäßigen Rhyth mus, dem wir bereits öfter in Dwingeloo be gegnet sind. Alle 1,3753 Sekunden.« Nun – damit hätten wir rechnen können. Und dennoch war ich, gelinde gesagt, über rascht. »Das passt umso mehr zu der Theorie, dass wir es mit einem Organismus zu tun hätten«, murmelte Kythara. »Es ist, als nä herten wir uns dem Herzen. Durch Bahnen, die durchaus jenen von Blutgefäßen ähneln und hinab zum Zentralorgan führen.« »Du erinnerst dich an das, was Farangon über seine Erlebnisse hier in der Anaksa-Sta tion erzählte?«, fragte ich Kythara. »Ja. Dass er auf Schritt und Tritt abson
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derlichen Effekten und Phänomenen begeg net sei, die die Orientierung massiv er schwert hätten. Und dass mehrere Varganen eine geistige Verschmelzung mit den Um setzer-Aggregaten der Anaksa-Station ein gegangen wären.« »Leider wissen wir nicht, ob und wann der Cappin gelogen hat«, spann ich den Fa den weiter. »Aber auch Kalarthras erzählte von mentalen Impulsen, die er in einer der Verdickungen der Akkretionsscheibe ge spürt hätte.« »… stark überlagert von einem fremdarti gen, rein instinktgesteuerten Bewusstsein. Das, wie er glaubte, jenem eines Varganen ähnelte.« »Ich denke, dass ich mich nochmals mit Farangon unterhalten sollte.« »Du redest von einer … hochnotpeinli chen Befragung?« Kytharas Wortschatz war bemerkenswert. Dieser Begriff war in den dunkelsten Zeiten Terras für ein Verhör mit Hilfe von Folter methoden verwendet worden. »Ich werde jene Mittel anwenden, die not wendig sind«, wich ich aus. Ich war kein Freund übertriebener Bruta lität, und ich bemühte mich, stets das Leben zu achten. Selbst das eines Feindes. Doch die Größe unserer Gegner, dieser gewaltige Berg an Schwierigkeiten, der vor uns an wuchs, höher und höher wurde, ließ das Le bensglück eines Einzelnen banal und neben sächlich erscheinen. Ich war zu jeder Schandtat bereit, als ich die Zentrale verließ.
14. Atlan/Farangon Das Anti-Psi-Feld, das den verräterischen Cappin umhüllte, war unverändert. Die bei den Varg-Einheiten hatten sich ebenfalls nicht von der Stelle gerührt. »Was ist Lüge, und was ist Wahrheit?«, fragte ich Farangon. Ich wusste, dass er mich hören konnte – aber er bewegte nicht einmal den kleinen
Finger. Ausdruckslos starrte er vor sich hin, blinzelte ab und zu und ließ ansonsten die Welt Welt sein. (Farangon konnte den Arkoniden hören. Doch er wollte dem Arkoniden die Kontakt aufnahme keinesfalls erleichtern.) »Was ist Trodar für dich?«, nahm ich einen neuen Anlauf. »Was kann die Lehre des Trodar für eine Bedeutung besitzen, dass du mit deinem eigenen Volk abschließt und dessen Ideale an völlig fremdartige Lebewe sen verrätst?« (Farangon würdigte ihn keiner Antwort. Wenn Atlan nicht spürte, was es bedeutete, eins mit Trodar zu sein – wie sollte er es mit billigen Worten erklären? Er selbst hatte es ja nicht verstanden, ehe er den Lordrichter berührt hatte. Bis aus seiner Panik Verste hen geworden war.) Wiederum keine Reaktion. Die Daten, die mir zur Verfügung standen, bewiesen hinge gen etwas völlig anderes. Farangons Augen lider hatten gezuckt, als ich von »Verrat« und »Trodar« gesprochen hatte. Auch die Atemtätigkeit war geringfügig erhöht, und der Puls erreichte durch die Befragung jenen Standard, den die Cappin-Völker gemeinhin als gesund empfanden. Bis vor wenigen Mi nuten noch hatten seine Körperfunktionen jenen eines Wesens im Winterschlaf ent sprochen. (Farangon hielt seine Körperfunktionen mustergültig beherrscht. Der Arkonide mochte aus den geringsten Informationen seine Schlüsse ziehen, und diese Gelegenheit wollte er ihm keinesfalls geben. Gleichmut war seit jeher seine Stärke gewesen. Er konnte Atlans Enttäuschung förmlich spü ren. Trodar gab ihm Kraft, Trodar schützte ihn.) Ich wagte einen riskanten Vorstoß. Ich lieferte dem Verräter heikle Informationen. »Wie du sicherlich bemerkt hast, haben wir das Miniaturuniversum hinter uns gelassen. Deine ach so mächtigen Lordrichter konnten uns nicht daran hindern, vor ihrer Nase zu rematerialisieren. Es war eine Leichtigkeit, ihnen zu entkommen. Und noch weniger an
Chaos im Miniaturuniversum strengend war es, ins Innere der Anaksa-Sta tion vorzudringen. Ich würde sagen, dass du deine neuen … Herren grenzenlos über schätzt.« Farangons Brustkorb hob und senkte sich mittlerweile heftig. Schweiß stand auf seiner Stirn, und die Hände ballten sich unendlich langsam, durch das Kraftfeld behindert, zur Faust. (Der Feind wollte ihn schmähen und mit billigen Tricks aus der Reserve locken. Doch ein Garbyor konnte, wenn es darauf ankam, in aller Ruhe und Gelassenheit Situationen wie diese aussitzen.) »Ich will dich nicht mit Einzelheiten lang weilen«, fuhr ich fort, »aber wir konnten mittlerweile Struktur und Aufbau der Station katalogisieren. Etwas, das den Lordrichtern und ihren Lakaien in all den Jahren nicht ge lungen ist. Glaubst du denn wirklich an die Unfehlbarkeit deiner neuen Herren? Bist du so ein treues Schoßhündchen geworden, oh ne eigenen Willen, dass du ihre Lügenge spinste nicht durchschaust? Willst du nicht akzeptieren, dass sie schwach sind, schwä cher als drei vernünftige Wesen, dass diese so genannte Religion und der Glaube an Trodar Mittel zum Zweck sind, um unbe darfte und einfach gestrickte Gemüter wie deines in eine billige Lebenslüge zu drängen …?« (Die Schmähungen waren billig und ge mein, und sie trafen Farangon tief ins Herz. Eine leichte Zurechtweisung war wohl ange bracht.) »Genug!«, brüllte der Cappin mit tiefer, verzerrter Stimme. »Ersticken sollst du an deinen blasphemischen Worten!« Sein Puls raste, die Körperspannung hatte deutlich zugenommen. Ich kontrollierte die Impulsserien, die ihn bestrichen. Ein Ent kommen blieb ihm verwehrt. Varg-1 sorgte dafür, dass Farangon nicht dazu kam, seine hypersensiblen Sinne anzuwenden. »Warum gebe ich mich eigentlich mit dir ab – mit einem Chargen ohne Rechte, der nicht einmal gut genug ist, den Saum des Gewandes eines Lordrichters zu küssen?
39 Wobei ich das ohnehin für ein zweifelhaftes Vergnügen halte, bei all dem Dreck, der die sen seltsamen Wesen anhaftet? Kein Wun der, dass sie sich nicht einmal trauen, uns ih re zweifelsohne hässlichen Visagen zu zei gen. Feige sind sie, das sag ich dir: feige und charakterlos …« (Nach wie vor hielt Farangon den kräfti ger werdenden Impulsen der Wut aus seinem Inneren stand. Eine weitere Abmahnung war angeraten. In aller Ruhe vorgetragen, denn der Arkonide verdiente nicht einmal seinen Zorn. Jegliche Gefühlsregung war schlicht und einfach verschenkt.) »Sei endlich ruhig!«, schrie der Gefange ne, wälzte seinen Körper im eng anliegen den Korsett vielfältiger Strahlung hin und her, versuchte, der teilweisen Paralyse seiner Glieder zu entfliehen. »Du kannst ruhig weiter strampeln, an deine neuen Freunde denken und daran, wie du ihre Füße leckst. Ich bedaure es zutiefst, dir jemals vertraut zu haben. Einem Wesen, das lügt, sobald es den Mund aufmacht, und das die eigene Mutter verkaufen würde, um seinen Besitzern zu gefallen. Alles, was du jemals erzählt hast, erweist sich nach und nach als Unwahrheit.« Genussvoll zählte ich auf: »Die Stärke der Lordrichter im Ver gleich zu der unsrigen. Pah! Die schlechten Bedingungen hier im Schatten des Dunkel sterns. Eine maßlose Übertreibung – oder spürst du etwa ein Rütteln des Kardenmo ghers? Willst du den Kurs sehen, den wir problemlos hier gezogen haben, im Inneren der ach so gefährlichen Anaksa-Station? Und schließlich das Märchen über vargani sche Bewusstseine, über die dieser Lordrich ter Yagul Mahuur in deiner Gegenwart er zählt haben will. – Alles nicht wahr, nichts davon ist zu spüren …« (Oooh – wie billig die Tricks des Arkoni den waren! Farangon durchschaute ihn, hatte dank Trodar keine Mühe, ruhig und besonnen zu bleiben. Nichts würde er verra ten, gar nichts. Ein paar Worte der Zurecht weisung musste er sagen; angesichts der Verblendung Atlans waren sie wohl ver
40 schenkt, aber dennoch notwendig.) »Ich habe nicht gelogen!«, heulte der Cappin auf. »Natürlich musste ich dir und Kythara Teilwahrheiten liefern, um meine Geschichte glaubwürdig zu machen.« Nun sprudelte es nur so aus ihm heraus. »In den ersten Jahrtausenden nach dem Durch bruchsversuch der Varganen kam es zu un kontrollierten Entstehungen Zehntausender Supernovae. Erst als die an den Experimen ten beteiligten Varganen sich in völliger Verzweiflung mit der Station verbanden, konnten sie den Durchbruch halbwegs ab dichten. Seitdem sind sie untrennbar mit Anaksa verbunden, ohne die Verbindung zum Mikrokosmos völlig verschließen zu können. So hat es der Lordrichter erzählt, und so ist die Wahrheit. Ich konnte schließ lich nur Vertrauen schaffen, indem ich euch Teile der Wahrheit erzählte. Auf dem Ver trauen, das ich aufbaute, basierte die Falle für euch. Es gibt keinen Tod, es gibt nur Trodar. Es gibt kein Leben, es gibt nur Tro dar …« Farangons Stimme verlor sich in eintöni gem Gemurmel, als er in einer Litanei die Kriegsphilosophie der Horden der Garbyor herunterbetete. »Du warst ein Lügner, und du wirst im mer einer bleiben«, wiederholte ich hä misch. Konnte ich den Cappin nochmals aus der Reserve locken? »Wahrscheinlich bist du niemals auch nur in die Nähe der Anak sa-Station gekommen.« (Nichts hatte er verraten, gar nichts. Dank den Lordrichtern, Dank dem Schwert der Ordnung, Dank Trodar. Farangon war so glücklich, und es war so schön, Teil dieses herrlichen Ganzen zu sein, das für ihn da war, ihn schützte, ihn in die Ewige Horde beordern würde, wenn es so weit war …) »Es gibt keine Angst, es gibt nur Trodar. Es gibt keine Freude, außer in Trodar …« Nein. Weitere Provokationen fruchteten nichts mehr. Zu tief war der Verräter in sei nem sinnlosen Gebrabbel versunken. Ich gab den beiden Varg-Robotern An-
Michael Marcus Thurner weisung, die Psi-Fesselfelder noch enger zu setzen, und verließ den Raum. Nun – Farangon war leicht zu übertölpeln gewesen. Wahrscheinlich wirkten die Um stände, unter denen er gefangen gehalten wurde, beschränkend auf Geist und Ver stand. Er hatte die Wahrheit gesagt, was sei nen Bericht über die Begegnung mit dem Lordrichter Yagul Mahuur und dessen Er zählungen über varganische Bewusstseinsre ste im Inneren der Anaksa-Station betraf. Ich hatte zumindest die Gewissheit, dass uns in den Tiefen der Station noch weitere Über raschungen erwarten würden. Du weißt also, dass du nichts weißt, fügte der Extrasinn ohne jede Häme hinzu. Ich konnte nichts darauf erwidern.
15. Atlan Zurück in der Zentrale, erlebte ich mit, wie Kythara aus tranceähnlichem Zustand in das Jetzt zurückfand. Die Varganin schüttel te benommen ihre prachtvolle Haarmähne und nahm einen kräftigen Schluck Wasser, bevor sie sich Gorgh und mir zuwandte. »Ich habe etwas gespürt«, sagte sie müde. »Ein Wesen mit rudimentärem Bewusstsein. Vielleicht instinktgesteuert, vielleicht mit mehr. Es ist so, wie es Kalarthras beschrie ben hat. Ich kann es mit meinen Sinnen ein fach nicht festmachen.« »Dann lass es gut sein.« Ich nickte ihr freundlich zu. Varganen besaßen quasitelepathische Fä higkeiten, die es ihnen erlaubten, ihre Ge danken in den Kopf anderer Lebewesen zu setzen, auch wenn sie dies sehr anstrengte. Umgekehrt gelang es ihnen nicht, das zu er kennen, was ihr Gegenüber dachte. Besten falls Stimmungen konnten sie erspüren. »Auch Farangon hat die Wahrheit ge sagt«, setzte ich Kythara und Gorgh kurz über mein Gespräch mit dem Verräter in Kenntnis. »Was machen wir nun?« Der Daorghor stand neben den von ihm so geliebten Or
Chaos im Miniaturuniversum tungsgeräten und ließ die Greifklauen ner vös auf- und zuklappen. Auf eine besondere Art und Weise fand ich den Insektoiden … liebenswert. Leider zeigte er oftmals einen Mangel an Initiative. »Wir tun das, wofür wir hierher gekom men sind«, beantwortete ich seine Frage. »Wir suchen die Steuerzentrale des Umset zers. Das Nachdringen der Schwarzen Sub stanz aus dem Mikrokosmos muss unbedingt unterbunden werden. So verlockend es sein mag« – ich blickte zu Kythara –, »das ange stammte Universum deiner Landsleute zu gänglich zu machen: Wir müssen diesen Schritt ein für alle Mal unterbinden.« Die goldene Frau blickte mich resignie rend an und schüttelte traurig den Kopf. Sie wusste, was ich von ihr forderte. Sie hatte es immer gewusst. Vielleicht war dies die ein zige und letzte Chance, den Weg zurück in die Heimat zu finden. Jenen Ort oder jenes Universum, das sie vor mehr als 800.000 Jahren verlassen hatte. Und ich musste ihr diese Möglichkeit ver wehren. Empfand man nach dieser unglaublichen Zeitspanne noch so etwas wie Heimweh? Ich konnte es mir schlichtweg nicht vorstel len. Erinnere dich an die Jahre auf Larsaf, warf der Extrasinn ein. An all die fruchtlo sen Versuche, Arkon zu erreichen. An die einsamen Nächte, in denen du zum Himmel gestarrt hast, um deinen Sehnsüchten neue Nahrung zu geben … Dieses Bild war schief. Diese Zeitspanne war vergleichsweise »kurz« gewesen, und ich hatte sie meist in Stasisschlaf in der Un terwasserkuppel verbracht. Dennoch war dein ganzes Denken auf das eine Ziel ausgerichtet gewesen. Ich weiß es, schließlich war ich anwesend. Es gab dennoch einen bedeutsamen Un terschied: Ich besaß ein fotografisches Ge dächtnis. Wann immer ich über die Oberflä che Terras gewandert war und die Augen geschlossen hatte, waren sofort Erinnerun gen da gewesen. An den herrlichen Duft der
41 Wiesen von Arkon I, an das Glitzern und Glänzen prächtiger Städte inmitten schöner Parklandschaften im Licht der weißen Son ne, an den einmaligen Kristallpalast Gos'Khasurn … Ich zweifelte, dass Kythara irgendeine Er innerung an ihre ehemalige Heimat besaß. Die Varganen selektierten ihr Wissen. Be wusst oder unbewusst – sie mussten verges sen. Teile ihrer Lebensgeschichten hörten in ihren Köpfen auf zu existieren, um Platz für Neues zu schaffen. 800.000 Jahre Bilder und Erinnerungen waren selbst im hochlei stungsfähigsten Gehirn nicht unterzubekom men. »Beende dein Zwiegespräch«, forderte Kythara mich auf. »Die Zeit verrinnt, und wir sollten endlich handeln.« Sie wusste um den Extrasinn nur zu gut Bescheid und störte mich normalerweise nicht, wenn ich mich mit ihm austauschte. »Zurück zum Umsetzer«, sagte ich, ohne auf den leisen Vorwurf einzugehen. »Die Aggregate selbst befinden sich in den 104 Hohlräumen, die in der Kugelschale der Anaksa-Station angeordnet sind. Ich glaube aber kaum, dass von diesen aus eine zentrale Steuerung erfolgt. Angesichts der Größe der Station wäre eine Suche nach der Zentralein heit wie jene nach einer Nadel im Heuhau fen. Gibt es Alternativen?« »Erster Ansatzpunkt wäre, den Kontakt zu diesen Wesen zu suchen, die mit der Station verschmolzen sind«, sagte Kythara nach denklich. »Wenn irgendetwas an ihnen noch varganoid ist, werden sie mit mir sprechen.« »Das ist Wunschdenken.« Ungeduldig schüttelte ich den Kopf. »Ewigkeiten sind seitdem vergangen. Wir wissen nicht, wo wir zu suchen anfangen sollten.« »Und wenn wir … die Mittel des Karden moghers einsetzen?«, fragte Gorgh. »Du willst es mit Brachialgewalt versu chen?« Kythara blickte ihn erstaunt an. »So ist es. Bomben. Kurzer Prozess. Ge zieltes Feuer, das die Umsetzer-Aggregate lahm legt. Und damit die ganze Station.« »Das ist blanker Irrsinn!« Die Varganin
42 bemühte sich krampfhaft, ruhig zu bleiben. Ich konnte ihr ansehen, dass sie allein der Gedanke an solch eine Wahnsinnstat er schreckte. »Ich denke, dass wir uns diese Variante so lange aufheben sollten, bis wir wirklich nicht mehr weiterwissen«, fügte ich hinzu. »Wir haben gerade erst erlebt, was Gewalt im Zusammenwirken mit Schwarzer Sub stanz anrichtet. Das hyperdimensionale Cha os im Mikrouniversum von Kopaar war diesbezüglich wohl nur ein kleiner Vorge schmack. Ich gehe gerne ein kalkuliertes Ri siko ein – aber ich bin kein Selbstmörder.« »Umso mehr, als wir herausfinden sollten, was die Lordrichter tatsächlich im Mikro kosmos wollen.« Kythara erhob sich und goss sich aus einer kristallenen Karaffe bernsteinfarbene Flüssigkeiten in ein vor Kälte dampfendes Glas. »Ich könnte auf dieses Wissen verzich ten«, widersprach ich. »Ich nicht!«, fuhr sie mich plötzlich an. »Versteh doch, dass ich ein Anrecht darauf habe!« »Ich will dir keine Illusionen rauben«, sagte ich vorsichtig, »aber du musst dich mit dem Gedanken abfinden, dass ein stabiles Tor in deine … Heimat zu unvorhersehbaren Folgen für das Normaluniversum führen würde. Die Sicherheit muss in jedem Fall im Vordergrund stehen.« Kythara schwieg, blickte mich bloß mit Augen an, die plötzlich feucht schimmerten. Tränen? Bei dieser hartgesottenen, unend lich erfahrenen Frau? Ich wechselte so rasch wie möglich das Thema. »Bislang konnten wir uns auf die Vargiden verlassen«, sagte ich. »Wäre es nicht eine Überlegung wert, sie auf die Var ganen-Bewusstseine anzusetzen?« Überrascht hielt sie inne, ließ fast Glas und Karaffe aus den Händen gleiten. »Das … das wäre eine Möglichkeit!«, hauchte sie. »Wie sollen wir mit den Geisteswesen in Kontakt treten?«, fragte Gorgh-12, der indes vollkommen ruhig geblieben war. »Woher wollt ihr wissen, dass sie noch hier sind?«
Michael Marcus Thurner »Ihre Psi-Aura schützt den Kardenmogher nach wie vor. Das ist Beweis genug. Es soll te uns gelingen, ihre mentale Substanz anzu sprechen. Mit unseren Gedanken, mit unse ren Bitten. Kythara?« Die Varganin nickte mir dankbar zu. Selbstverständlich war sie mit meinem Vor schlag einverstanden. Es war wie der Griff nach einem letzten Strohhalm. Ich fühlte mich angesichts des riesigen Bergs an Problemen, denen wir uns gegenübersahen, ziemlich ratlos. Drei einfache Wesen waren wir, im Inne ren einer unbekannten Raumstation, die wir erobern wollten, während um uns Hyperge witter tobten, seltsame Effekte den Raum zu zerreißen drohten und wir von einer unbarm herzigen Macht verfolgt wurden. Tief atmete ich durch, während sich Ky thara setzte und erneut in Trance versank. Wenn wir Saelin zu erreichen hofften, mus sten wir all unsere Konzentration aufwen den. Möglicherweise hatte Kythara dank ih rer Begabungen die besten Aussichten auf Erfolg – aber wer mochte das angesichts der seltsamen Geisteswesen, der Vargiden, schon sagen? »Was soll ich tun?«, fragte Gorgh ratlos. »Denke an Saelin, wie du ihn auf seinem Heimatplaneten gespürt hast«, sagte Kytha ra. »An das, was du damals fühltest.« »Und es schadet sicherlich nicht, wenn du ein wenig Angst in deine Gedanken ein streust«, fügte ich hinzu.
* Für Telepathen mochte dies eine leichte Übung sein. Mir hingegen fiel es schwer, mich auf ein »Hirngespinst« zu konzentrie ren und es herbeizurufen. Sosehr ich mich anstrengte – meine Gedanken schweiften immer wieder ab oder fanden zu anderen Themen. Natürlich war der Kontakt knapp vor dem Hypertrichter viel einfacher zustande ge kommen. Angesichts des Todes neigte man nun einmal dazu, alles, was in einem steckte,
Chaos im Miniaturuniversum abzurufen. »Ich habe ihn!«, murmelte Kythara mit verkniffenem Gesicht. Schlagartig war Saelin da, machte sich auch in meinen Gedanken breit. Aber ach! Was war er bloß für ein dünnes Gespinst geworden. Hauchdünn, durchsich tig, mit Gedanken, so zart und zerbrechlich, dass ich Angst hatte, er würde unter meinen Überlegungen zusammenbrechen. Wir müssen Abschied nehmen!, flüsterte der Vargide. Wir haben getan, was wir konnten. Nein, dachte ich, das könnt und dürft ihr nicht! Wir benötigen eure Gaben ein letztes Mal. Wir sind zu weit weg von unserer Heimat, hallte die ausweichende Antwort. Wir müs sen sie schützen, wir müssen uns schützen. Das Mikrouniversum von Kopaar, in dem wir uns letztmals sprachen – es droht end gültig zu vergehen. Die Nabelschnur zwi schen uns würde damit endgültig zerschnit ten werden. Du, das große Krabbelwesen und unsere … Verwandte – ihr müsst nun al leine zusehen, wie ihr mit der Situation zu rechtkommt. Du kennst unsere Lage, Saelin! Nur noch ein paar Minuten, eine letzte Anstrengung von dir. Bitte! Stell den Kontakt zu dem var ganischen Geisteswesen im Inneren der Anaksa-Station her. Die Stimme in meinem Kopf wurde lei ser, schwächer, nichtssagender, unbedeuten der. Bis sie sich zu einem singulären Punkt zusammenzog und in einem kaum hörbaren Ton auflöste. Eine letzte Information war stehen geblie ben. So beruhigend sie auch sein mochte – sie half uns in der momentanen Situation keinen Deut weiter. Die AMENSOON befindet sich auf einem guten Weg!, hießen die letzten Gedanken des Vargiden, und dann fühlte ich nur noch Enttäuschung.
*
43 »Wie sieht es mit dem Ortungsschutz aus?«, fragte ich Gorgh zuallererst. »Ich kann weiterhin keine ankommenden Impulse anmessen.« Der Daorghor hatte si cherlich ebenfalls Saelins Kontaktimpulse gespürt. Pragmatisch, wie er war, verlor er kein Wort darüber. In gewisser Weise war er ein »Sofortumschalter«. Der Psi-Schutzschild der Vargiden hatte seine Schuldigkeit getan. Letztendlich mus sten wir froh über die Hilfeleistung der Gei steswesen sein. Sie hatten uns heil durch das Portal gebracht, und sie hatten bis zu diesem Moment verhindert, dass wir entdeckt wor den waren. Auch wenn es sie viel von ihrer Kraft gekostet hatte, wie ich mit einem An flug von Betroffenheit merkte. In der von Schwarzer Substanz und weite ren hyperdimensionalen Einflüssen gepräg ten Kugelschale der Anaksa-Station war es den Einheiten der Lordrichter sicherlich nur schwer möglich, die Kennung eines vargani schen Schiffes anzumessen. »Wir sind also wieder am Anfang«, sagte Kythara mit Bitternis. »Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als die Station per pedes zu erkunden.« Fru striert schüttelte ich den Kopf. Mir gefiel der Gedanke ganz und gar nicht, auf gut Glück dieses riesenhafte künstliche Bauwerk, das so löchrig wie Schweizer Käse war, zu durchsuchen. Unsere Zeit war knapp; immer wieder materialisierten ganze Wolken Schwarzer Substanz in näherer Umgebung unseres Landeplatzes. Der Kardenmogher war gewiss ein Spitzenprodukt varganischer Technik und weit über arkonidische oder terranische Einheiten zu stellen. Aber gegen hyperdimensionale Effekte kamen der beste Schutzschild und der beste Stahl nicht an. »Wann?«, fragte Kythara kurz angebun den. »Sofort. Du und ich sowie zwei deiner Roboter. Gorgh bleibt zurück und achtet auf Farangon. Sollten alle Stricke reißen, muss unser Freund allein entscheiden.« Ich wand te mich ihm zu. »Ich verlasse mich darauf, dass du die Situation richtig einschätzt.
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Möglicherweise musst du uns Rücken deckung geben. Dann setzt du alles ein, was der Kardenmogher zu bieten hat. Wenn du allerdings meinst, es gäbe keine andere Möglichkeit mehr, dann …« »… dann bringe ich das Schiff und damit hoffentlich die Anaksa-Station zur Explosi on.« Er sagte es so kalt und leidenschaftslos, dass ich plötzlich Angst verspürte. Wie hatte ich jemals annehmen können, dass mich ir gendetwas mit dem insektoiden Wesen ver binden könnte? »Ich wünsche euch … viel Glück«, sagte Gorgh und legte mir sachte zwei seiner Ar me auf die Schultern. Es war dies eine für ihn ungewohnte Geste, die ihm sicherlich viel Überwindung kostete. Binnen weniger Sekunden hatte mich der Daorghor Lügen gestraft und beschämt glei chermaßen. In ihm steckte weitaus mehr Einfühlungsvermögen und Sinn für Kame radschaft als in vielen arkonoiden Lebewe sen, denen ich im Laufe meiner Existenz be gegnet war. Ich beugte mich hinab und tat es ihm gleich. Zwei Wesen aus zwei verschiedenen Galaxien, die außer einem gemeinsamen Feind so gut wie nichts miteinander ver band, verabschiedeten sich voneinander. Vielleicht für immer.
* Obwohl ich mich mit einem Mal gedrängt fühlte, die Kavernen und Höhlen der Station zu untersuchen, überprüften Kythara und ich die Varganenanzüge mit aller gebotenen Gründlichkeit. Sekunden oder Minuten, die wir jetzt opferten, waren Garantie dafür, das Menschenmögliche getan zu haben, um uns zu schützen. »Ich ziehe Varg-1 und Varg-2 von ihrem Posten ab und ersetze sie durch einen bau gleichen Roboter«, sagte Kythara. Eine reichlich merkwürdige Entschei dung, wie ich meinte. Warum gerade die beiden? Einer war so gut wie der andere.
Der Kardenmogher konnte uns, wenn es sein musste, ein gutes Dutzend weitere der lei stungsfähigen Maschinen zur Verfügung stellen. Wahrscheinlich will sie dir – und sich selbst – eine emotionale Hilfe geben. Varg-1 und Varg-2 hießen ja auch die beiden Robo ter, die euch bei eurer Irrfahrt durch die Varganen-Stützpunkte in der Milchstraße begleitet haben. Auch die Varganin ist scheinbar ein Gewohnheitstier, kam ein ge danklicher Impuls des Extrasinns. Die Varganin ging ans Werk. Wie aus dem Nichts erschuf sie einen neuen kugel förmigen Roboter der bekannten Baureihe. Varg-3 wirkte frisch poliert und roch ein wenig nach Konservierungsmittel, doch sonst unterschied ihn nichts von den beiden anderen Modellen. Kythara bereitete ihn konzentriert vermittels der Positronik des Kardenmoghers auf seine Pflichten vor. Gleich darauf glitt Varg-3 davon und über nahm die Kontrolle über das Stasisfeld Fa rangons. Sollte ich mich von dem Verräter in ir gendeiner Form verabschieden? Nur müh sam unterdrückte ich den Impuls, Farangon in irgendeiner Art und Weise zu demütigen. Ihn glauben zu machen, dass wir nunmehr die Anaksa-Station im Handstreich erobern würden. Verstandesgemäß akzeptierte ich, dass er gegen die Beeinflussung durch die Lordrich ter nichts ausrichten konnte. Andererseits spürte ich kalte Wut. Der Verräter hatte uns lange hinters Licht geführt, mit Raffinesse und Halbwahrheiten tief in die Bredouille geritten. Ich atmete tief durch und verdrängte das Problem Farangon. »Dann auf zur wilden Jagd«, sagte Kytha ra entschlossen und aktivierte den »Gleitermodus« von Varg-1 und Varg-2. Die Kugelroboter veränderten sich geräusch los. Wir benötigten sie in ihrem erweiterten Aktivzustand. Rings um den Körper meines Maschinenwesens formte sich der goldene, halb transparente Leib eines Pegasus. Natür
Chaos im Miniaturuniversum lich wirkte die Gestalt stark stilisiert – den noch kamen augenblicklich Erinnerungen hoch. Jene an Roboter, die riesigen Stieren geähnelt hatten und auf denen ich geritten war; und an Ischtar, die Goldene Göttin … Dies ist der denkbar ungünstigste Mo ment, um über alte Zeiten zu grübeln, mahn te der Extrasinn. Benommen schüttelte ich den Gedankenschwall ab, der mich zu über kommen drohte. »Aufsitzen!«, befahl Kythara. Die zehn Meter breiten Flügel schlugen mittlerweile hoch und nieder, erzeugten eine kräftige Luftbrise. Diese mechanischen Be wegungen waren für eine Fortbewegung nicht notwendig; sie verstärkten lediglich das Gefühl, auf einem lebenden Wesen zu sitzen. Wieder einmal bildete sich eine von der Varganin geforderte Schleuse, diesmal in der Spitze des aufrecht stehenden Karden moghers. Düsternis, durchbrochen von grü nen Farbtönen und blendend weißen Licht strahlen, erwartete uns. »Auf geht's!«, rief Kythara. Mit eleganten Bewegungen hob mein »Pegasus« Varg-2 von den Zacken des Kar denmoghers ab und gewann rasch an Höhe, trug mich unserem unbekannten Ziel entge gen.
* Nach einer halben Stunde Fluges kreuz und quer durch Tunnel, Schächte und Höh len erreichten wir eine weitere Kaverne mit einem Durchmesser von mehreren Dutzend Kilometern. Sie pulsierte. Regelmäßige Kontraktionsbewegungen auf einer seltsam spürbaren Energieebene veränderten den Raum in gleich bleibendem Rhythmus. Noch stärker als an Bord des Kardenmoghers glaubte ich mich in einen lebenden Organismus versetzt. War ich für diesen Körper eine … Mikrobe? Etwas, das er vernichten würde? »Das ist mir alles so vertraut«, sagte Ky thara. Sie wirkte unsicher, fast ein wenig rat
45 los. »Warst du etwa schon einmal hier?« Möglich war es angesichts des einge schränkten Erinnerungsvermögens der Var ganen. »Kannst du dich an irgendetwas erin nern?« Wir brachten unsere Flugpferde nebenein ander zum Stillstand. »Nein«, antwortete Kythara über den Helmfunk. »Aber ich könnte glauben, dass andere Varganen in meiner Nähe sind.« »Das deckt sich wiederum mit dem Ge fühl, von dem Kalarthras berichtet hat. Kon zentrier dich auf diese Eindrücke, so gut es geht. Kannst du sie räumlich irgendwie ein ordnen?« Sie seufzte. »Nein. Es ist, als wären diese Varganen um mich. Überall.« Nun – das überraschte nicht. »Wir landen«, sagte ich und zwang den Pegasus in eine enge Kurve hinab zum von Stalagmiten übersäten Boden. Vorsichtig schwang ich mich aus dem Sitz und betrat erstmals den Boden der Anaksa-Station. Kein Staub stieg auf, als ich die ersten Schritte tat. Säulen mit bizarren Auswüch sen, Erkern und Brücken versperrten mir die Sicht. »Mein Anzug spielt verrückt!« Kythara war neben mir gelandet. »Er zeigt gänzlich unsinnige Messwerte an.« Unsicher trat sie von einem Fuß auf den an deren. Im selben Moment griffen die Effekte auch auf meine Geräte über – und nicht nur das: Die Schwerkraftwerte im Anzug erhöh ten sich; die Heizung begann auf Höchsttou ren zu laufen; der Trinkschlauch bohrte sich mit aller Gewalt in meinen Mund und wollte mir Wasser zuführen. »Weg hier!«, befahl ich. Kythara hörte mich nicht! Selbst der Funkverkehr war zum Erliegen gekommen. Mit immer schwereren Armen bedeutete ich ihr, auf den Pegasus aufzusitzen. Sie ge horchte augenblicklich. Weitere hyperdimensionale Einflüsse, meinte der Extrasinn lakonisch.
46 Keuchend brachte ich mein Schwungbein über den Varganen-Roboter. Mittlerweile musste ich weit mehr als zwei Gravos auf mir lasten haben … Schwarze Substanz materialisierte vor uns. Eine Wolke, so hoch wie ein Haus, leg te sich über eine grotesk geformte Spitze grünschwarzen Materials, hüllte sie ein – und fraß sie auf! Mühsam lenkte ich den Pegasus, brachte ihn in hoch. Stotternd gehorchte er, umflog schwankend den schwarzen Aufriss, in dem nach und nach mehr Materie verschwand. Das Raum-Zeit-Gefüge zerbirst, analysierte der Extrasinn gewohnt kühl. Diese Schwarze Wolke ähnelt einem Tornado, der alles mit sich reißt. In der Tat: Ich fühlte, wie die Dunkelheit an mir zog und zerrte, mich einsaugen und in ein anders gelagertes Universum spucken wollte … »…eil dich!«, hörte ich plötzlich Kytharas Stimme wieder. Sie hatte bereits weitaus mehr Höhe als ich gewonnen und in der Nä he der Wandung der Kaverne Stellung bezo gen. Die Varganin sandte einen unterstüt zenden Traktorstrahl, der mich zu ihr zog, während ich gegen die Bewusstlosigkeit an kämpfte. Der Druck auf meinen Körper er höhte sich mit jedem Augenblick. »Ich hab dich gleich bei mir!«, rief sie mir aufmunternd zu. »Danke«, hauchte ich mit einer Zunge, die Tonnen wiegen musste. Keine Reaktion. Offensichtlich hörte sie mich nicht. Meine Anzugfunktionen hatte es wesentlich ärger erwischt als die ihren. Ein Schatten bewegte sich hinter Kythara. »Pass auf!«, warnte ich sie. Sie kann dich nicht hören, Narr! Die Wand begann immer stärker zu pul sieren, spuckte eine dämonische Gestalt aus, die Varganenform annahm. Eine weitere Fi gur kam zum Vorschein, dunkel und bedroh lich, im flackernden Licht meiner Schein werfer. Konnte Kythara sie denn nicht mit ihren Gedanken spüren? Ich grunzte und brüllte so laut, wie es die
Michael Marcus Thurner Schwerkraft, die auf meinem Körper lastete, zuließ – und erreichte gar nichts. Kythara war voll und ganz darauf konzentriert, mich mit ihrem energetischen Lasso näher zu sich heranzuziehen. Weg von der Schwarzen Wolke in die vermeintliche Sicherheit, in der sie schwebte. Unter größter Anstrengung schaltete ich den Varganenroboter auf Gegenschub, woll te Kythara damit ein Zeichen geben – doch die sonst so zuverlässige Maschine reagierte nicht. Die beiden dunklen Gestalten streckten ihre klobigen Hände nach ihr aus, waren nur noch wenige Meter entfernt. Ich zog meine Stabwaffe aus der Hüftta sche. Schob sie langsam Millimeter für Mil limeter hoch, kämpfte mit aller Kraft gegen das Gewicht an, das mich erdrücken wollte. Hoffentlich war der Strahler funktionsfähig. Kythara wedelte panisch mit den Armen, als ich anlegte. Wiederum versagte der Normal funk in beide Richtungen. Ich konnte ihren Mund sehen, wie er ein »Nein!« formte. Ihre Augen waren hinter dem Visier schirm weit aufgerissen. Hektisch initiierte sie Befehlsketten auf ihrer Armbandkonsole, wohl, um den Schutzschirm zu aktivieren. Glaubte sie im Ernst, ich würde sie töten? Du würdest angesichts der Umstände ge nau dasselbe denken. Ich knirschte mit den Zähnen, während meine Hand hochruckelte. Da, endlich, hatte ich eine der beiden Schimären im Visier, während sie nach Kytharas Schulter griff. Ich feuerte, darauf hoffend, trotz einer plötzlichen Sehschwäche gut genug gezielt zu haben. Ein mentaler Schrei erfüllte meinen Kopf, und im nächsten Moment fühlte ich mich unendlich erleichtert. Das zusätzliche Ge wicht, das auf mir gelastet hatte, war ver schwunden. Sämtliche Effekte, die uns be hindert hatten, waren ebenfalls obsolet. Kythara öffnete ihr Visier und begann, in der dünnen Atmosphäre wie ein Rohrspatz auf mich zu schimpfen. Die Ausdrücke, die sie verwendete, berei
Chaos im Miniaturuniversum cherten meinen varganischen Wortschatz ungemein.
16. Gorgh-12 Für Gorgh verschlechterte sich die Situa tion immer weiter. Kurz nachdem ihn Kythara und Atlan ver lassen hatten, waren Funk, Ortung und Au ßenbeobachtung zur Gänze ausgefallen: Von nahezu allen Wahrnehmungen abgeschnit ten, konnte er nichts weiter tun als warten. Es entsprach nicht seinem Charakter, an gesichts der Umstände in Panik zu verfallen. Vielmehr blieb er ruhig und befasste sich gedanklich mit dem »Prinzip Hoffnung«. Ir gendwann einmal, so hatte ihm Atlan er klärt, würden sie ihre Chance erhalten, von der Verteidigung in den Angriff überzuge hen. Sein geschulter, streng logisch arbeitender Verstand wollte sich allerdings nicht da mit abfinden, jegliche Zukunftsplanung auf Chancen, Vermutungen und Möglichkeiten aufzubauen. Er stakste hinab in den Raum, in dem Farangon aufbewahrt wurde. »Ist der Gefangene ausreichend gesi chert?«, fragte er Varg-3. »Ja«, bestätigte der Roboter lapidar. »Gut.« Er wollte sich umdrehen und ge hen, als ihm ein neuer Gedanke kam. Faran gon und ihn vereinte etwas. Sie beide waren jeweils zum Verräter am eigenen Volk ge worden. Er hatte sich aus der Beeinflussung durch das Todesimpuls-Implantat gelöst; der Cappin hingegen war von den Lordrichtern »umgedreht« worden. Waren sie einander in gewissem Sinne ähnlich? Und, viel wichtiger: Wer von ihnen beiden stand auf der richtigen Seite? »Ich möchte mit ihm sprechen«, sagte er zu Varg-3. »Es besteht ein Restrisiko, wenn ich die permanente nervenlähmende Wirkung redu ziere«, entgegnete der Roboter. »Die derzei tigen Bedingungen behindern meine Ar beit.« »Ich nehme die Verantwortung auf mich.«
47 Gorgh zog den Paralysator und hielt ihn si cherheitshalber auf Farangon gerichtet. Er kannte die Unberechenbarkeit hyperdimen sionaler Effekte nur zu gut. Die Arbeit an der Psi-Quelle hatte ihn gelehrt, stets mit dem Schlimmsten zu rechnen. Zeit verging. Der Daorghor ging unterdes sen einmal mehr die Befehlssequenzen für einen Notstart durch. Er war sich sicher, den Kardenmogher innerhalb kürzester Zeit flug bereit machen zu können. »Farangon ist jetzt für ein Gespräch be reit«, sagte der Kugelroboter schließlich. Der Daorghor konzentrierte sich auf den Cappin. Mit Kauleisten, die er kaum unter Kon trolle brachte, sagte der Verräter: »Dan… ke.« Dann grinste er, und in seinen Augen leuchtete etwas auf, was in Gorgh so ge nannte Angst erzeugte.
17. Farangon Farangon wartete auf den Fehler, den die anderen zweifelsohne begehen würden. Tro dars Philosophie war schlichtweg zu mäch tig. Irgendwann einmal würden sich Zweifel und Unsicherheit bei den verhassten Geg nern einstellen. Er würde aus seinem Körper fliehen und dem Lordrichter Yagul Mahuur Bescheid geben, wohin sich Atlan geflüchtet hatte. Farangons Verstand zerfaserte erneut, von einer kräftigen Zugabe an nervenzerrüttender Strahlung getroffen. Immer wieder schwankte er zwischen Sein und Nicht-Sein. Doch die Ergebenheit dem Schwert der Ord nung und den Lordrichtern gegenüber half ihm, sich auf seine Aufgabe zu konzentrie ren. »… mit ihm sprechen«, durchdrang eine Stimme seine Verwirrung. Gorghs Stimme. Plötzlich wusste er, dass der Moment ge kommen war. Es bedurfte nunmehr höchster Konzentration, die Fokussierung auf das ei ne, einzige Ziel: seine körperliche Hülle ab zuschütteln und per Pedotransfer zu flüch
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Michael Marcus Thurner
ten. Und zwar in den Kopf des Daorghor. Dort würde er alles finden, unter ande rem, wie es dem Insektoiden gelungen war, sich Trodar zu entziehen. Yagul Mahuur würde ihn dafür fürstlich entlohnen.
18. Gorgh-12 Gorgh spürte den Angriff Farangons. Sei ne Finger jedoch gehorchten ihm nicht mehr rechtzeitig, wollten sich nicht um den Abzug des Paralysators krümmen. Wie hatte das nur passieren können? Er fand keine Zeit, sich zu wundern, dass er nicht sofort unter die geistige Fremdherr schaft fiel. Vielleicht bin ich wirklich etwas Besonde res, dachte er und schleuderte dann seine ge samte Überzeugung und seinen Willen ent gegen. Und … es gelang, was eigentlich nicht gelingen konnte: Farangons Geist wich ein wenig zurück, überrascht, aber nicht vertrieben. Scher dich fort, Verblendeter!, dachten die beiden gleichzeitig, während ihre menta len Körper einander umkreisten. Gib auf, flüsterte der Cappin-Verräter mit zuckersüßer Stimme. Überantworte dich den Horden von Garbyor, und dir wird verzie hen sein. Schenk mir deinen Körper, und dein Betrug ist vergessen. Belangloses Gewäsch war das, wie Gorgh mittlerweile wusste. Weniger belanglos war, wie er seine eige nen Kräfte erlahmen fühlte. Wenn er eine Chance haben wollte, den angerichteten Schaden wieder zu beheben, musste es rasch geschehen. Was er benötigte, war Hilfe von außen! Wenn's sein sollte, musste ihn Varg-3 para lysieren und seinen Körper ebenfalls in Sta sis versetzen. Der Cappin durfte weder ihn beherrschen noch den Kardenmogher, und fliehen durfte er schon gar nicht. Gorgh kämpfte mit aller Kraft weiter.
Farangon war stark und sein Geist geübt in der Übernahme anderer Lebewesen. Doch mit Sicherheit wurde er durch die Schwarze Substanz und hyperdimensionale Effekte in unmittelbarer Umgebung beeinträchtigt, so, wie diese scheinbar Gorghs Kräfte erweiter ten. Ein zusätzliches Problem für den Cap pin waren mit Sicherheit die großen Unter schiede im Aufbau ihrer mentalen Substan zen. Du kannst mich bremsen, Verräter, aber du kannst mich niemals aufhalten, dachte der Cappin in Gorghs Kopf. Fast genüsslich drang er weiter vor, besetzte Sektor um Sek tor seines Geistes. Lass die Waffe los!, befahl Farangon, und gegen Gorghs Willen plumpste der stabför mige Strahler zu Boden. Warum reagierte Varg-3 nicht? Konnte er sich denn nicht denken, was hier passierte? Gorgh hätte so gerne gespro chen, einen Befehl erteilt, doch sein Mund blieb wie versiegelt. Farangon schnitt seinen Willen in Schei ben. Filetierte und klopfte ihn wie ein Stück Fleisch breit, übergoss ihn schlussendlich mit brutzelndem Fett. Nur noch wenige Fa sern jener so genannten ÜBSEF-Konstante waren übrig geblieben, die Gorgh ausmach ten. »Alarm!«, hörte er eine mechanische Stimme aus weiter Ferne. Farangon, der Usurpator, erschrak und gab augenblicklich ein wenig des eroberten Territoriums zurück. Alles hatte sich geändert, alles. Das Gold des Raumes war mittlerweile rußig versengt, die Wände seltsam eingedellt. »Ein reisiges Konvulot Schwerzar Sab stunz ist über dem Kerdonmeghar metariali siert«, sagte Vargh-3 ruckartig und sich ver haspelnd. Er drehte sich ratlos um die eigene Achse, schneller und schneller werdend. Erneut schreckte Farangon ein wenig wei ter zurück, ließ Gorgh Platz zum Überlegen – und Handeln. »Schutzschirme auf volle Kraft!«, befahl der Daorghor laut. »Notstart vorbereiten!«
Chaos im Miniaturuniversum »Notstartsequenz vorberietet«, echote Varg-3. Und fügte hinzu: »Obgebrachen. Treibwerke inaktiv.« Gorgh kannte keine Panik. Situationen wie diese gehörten in aller Ruhe analysiert, um die richtigen Entscheidungen zu treffen. Er blieb ruhig stehen, ohne sich weiter um Farangons Bewusstsein zu kümmern, und horchte genau auf das Schiff. Der Kardenmogher bebte auf eine beunru higend stille Art und Weise. Sanfte Schübe beutelten das Schiff hin und her, unterbro chen von unrhythmischen Querschlägen. Blauviolettes Licht erfüllte plötzlich den Raum. Ein energetischer Bogen spannte sich auf einer Breite von mehr als einer Körper breite von Wand zu Wand. Hochsensible Blockmodule waren dahinter angeordnet, wie Gorgh wusste. Tu endlich was!, rief ihm Farangon pa nisch zu. Ein Ballen Schwarzer Substanz materiali sierte knapp vor Gorgh, begann sich rasend schnell zu drehen, saugte den energetischen Spannungsbogen ab und verspeiste ihn schlussendlich mit widerlichen Untertönen. Aus dem Inneren des Kardenmoghers wa ren Kreischen und Schrillen zu hören. Böden und Wände verformten sich weiter, Ele mente der Wandung zerrissen – oder diffun dierten. Ich muss das Schiff verlassen!, kreischte der Cappin. Seine Gedanken waren … pa nisch und schrill. Ich bleibe hier, erwiderte Gorgh. Und du auch. Besser der Tod, als in deiner Gewalt zu leben. Plötzlich war Farangon fort. Gorgh-12 sah den Körper Farangons. Das Stasisfeld war vollends erloschen, der Leib in sich zusammengefallen, in der Verwand lung zum Gallertklumpen begriffen. Von Varg-3 konnte Gorgh keine Hilfe er warten. Der Roboter taumelte orientierungs los davon und redete wirres Zeug. Da war die Waffe. Er hob sie. Wich einem hauchdünnen Feld Schwarzer
49 Substanz aus, das unnatürliche Kälte aus strahlte. Veränderte den Schussmodus auf »Desintegrator«. Zielte. Tötete Farangon. Ich sagte doch: Du bleibst hier.
* Die Zeit wurde knapp. Er musste den Kar denmogher so rasch wie möglich verlassen. Die Verformungen nahmen immer mehr zu. Seine sensiblen Sehorgane waren bereits jetzt von der Vielzahl an widersprüchlichen Eindrücken überfordert. »Varg!«, rief Gorgh, während er sich in die Zentrale hinaufwuchtete. Dem Antigrav feld wollte er sich unter diesen Bedingungen nicht mehr anvertrauen. Hastig nahm er sei nen Schutzanzug an sich, prüfte ihn ober flächlich, zog ihn rasch über und befahl dem Kardenmogher, eine Schleuse zu erschaffen. Scheinbar seufzend gehorchte die Positro nik, und knirschend öffnete sich eine Au ßenwand. Eine Wolke schwarzer Flocken trieb durch den Boden kommend auf ihn zu, um tanzte ihn schwärmerisch, als wollte sie spielen. »Varg!«, rief Gorgh erneut. Sein Kopf war klar, er spürte keine Angst. Wenn er denn sterben sollte, so hatte er zu mindest das Daorghormögliche getan, um seinen Auftrag zu erfüllen. Er hatte sich nichts vorzuwerfen. Der Kugelroboter tauchte in der Zentrale auf, wimmernd, nach wie vor langsam um die eigene Achse rotierend. »Wir steigen aus!«, befahl Gorgh und warf sich auf den drehenden Maschinenleib. »Kodebefehl Pegasus!« Varg-3 gehorchte wider Erwarten. Er er hob sich stotternd, durchbrach den Vorhang aus schwarzen Flocken und gewann rasend schnell an Höhe. Die so genannte PegasusProjektion, von der ihm Atlan berichtet hat te, formte sich aus. Mit zunehmender Distanz zu jenem
50 Brocken, der einmal der Kardenmogher ge wesen war, verbesserte sich die Funktionsfä higkeit des Kugelroboters. Er warf einen letzten Blick zurück. Das Schiff war in sich zusammengesun ken und zum Großteil von Schwärze ver hüllt. Scheinbar gierig wie ein Schwarm jun ger Daorghor fielen die andersdimensiona len Flocken und Brocken über die Substanz des Schiffes her, fraßen es auf oder leiteten seine Materie in ein anderes Kontinuum ab. Da gab es nichts zu hoffen oder zu deuten – das prächtige Schiff der Varganin war ge storben. Und mit ihm Farangon, der Verräter. Kurz dachte Gorgh zurück: Der Cappin war angesichts der Todesgedanken Gorghs unsicher geworden, hatte die gänzlich anders geartete Denkweise des Insektoiden nicht beurteilen können. So war er in seinen eige nen Körper zurückgekehrt, um seinen Geist an einen Getreuen des Trodar zu senden – womöglich sogar an einen Lordrichter! –, und der Daorghor hatte ihn eliminieren kön nen. Doch das war Vergangenheit und damit abzuhaken. Ihre Rückversicherung, der Kardenmo gher, war nicht mehr. Kythara und Atlan würden keineswegs erfreut sein, wenn er ih nen die Neuigkeit überbrachte. Und damit stand sein Ziel bereits fest: Er musste die beiden … Freunde unbedingt fin den. Ein Versuch, sie über Normalfunk zu er reichen, scheiterte erwartungsgemäß. Also musste Gorgh seinen körperlichen Fähigkeiten vertrauen. Er öffnete den Helm, schnappte heftig nach Luft – und roch die sanften Duftmar ken der Zweibeiner. Der Geruch Kytharas ähnelte dem von wild wachsenden Blumen, der Atlans einem alleine jagenden Raubtier. Gorgh zwang den nunmehr wieder voll funktionsfähigen Varg-3 die Richtung auf, in der er die beiden vermutete. Und dachte während des Fluges darüber nach, ob diese dritte Duftkomponente, die er
Michael Marcus Thurner aufgenommen hatte, wirklich jene von na hendem Tod war.
19. Atlan Ich wartete nicht ab, bis sich Kythara be ruhigt hatte, sondern zog sie mit mir, raus aus der Kaverne. Es ging weiter hinab in die Tiefe der Station, und unser Flug glich mehr oder weniger einer Flucht vor dem Unheim lichen, das uns überall und jederzeit begeg nen konnte. Eindrücke wie aus einem Alp traum huschten in rascher Folge an uns vor bei. Riesige Hohlräume wurden von bizarr verformten und verdrehten Gängen abgelöst, die sich immer weiter verengten, um uns schließlich ins Innere eines weiteren Raumes zu entlassen. Böiger Wind pfiff uns um die Ohren, erzeugte eine Kakophonie schril ler und nervtötender Tonfolgen. Ab und zu brachen um uns Türme oder Spitzen ab, fie len lautlos zu Boden und wurden binnen kürzester Zeit assimiliert. »Es gibt so viele Augen hier«, rief mir die sonst so beherrschte Kythara zu. Ich wusste, was sie meinte. Wohin wir auch blickten, starrten uns Einschlüsse im dunkelgrünen Felsgestein entgegen. Sie wa ren meist oval geformt. Im Inneren der For men glühten schwarze Pupillen, die uns zu folgen schienen. Vielleicht war dies die Wirklichkeit, viel leicht waren unsere Sinne lediglich über reizt. Die vielfältigen Messinstrumente un serer Anzüge verweigerten letztendlich eine Auskunft, was wahr und was irreal war. Zu unserem Glück taten die Varganenro boter wieder ihre Dienste. Dennoch blieben wir möglichst nahe am Boden, um einem zu tiefen Fall vorzubeugen, sollten die Aggre gate erneut ausfallen. »Bleib in Bewegung«, sagte ich zu Kytha ra. »Lass dich keinesfalls irritieren.« Das war leichter gesagt als getan. Die Eindrücke verdichteten sich, raubten uns schlichtweg die ohnehin dünne Atemluft. Das Licht unserer Scheinwerfer schien rich
Chaos im Miniaturuniversum tiggehend zu versickern. Schatten bewegten sich, formten Gesichter, Hände, Brüste, Ar me, Beine. Allmählich bekam ich einen ungefähren Eindruck dessen, was die Armeen der Lord richter hier unten erlebt haben mussten. »Wir sollten umkehren«, sagte ich schließlich. »Es wird immer schlimmer.« Ich ließ den Pegasus in einer weiten Kur ve wenden – und prallte beinahe gegen eine Wand. Dort, wo soeben noch eine schlauchförmi ge Passage zwischen zwei Höhlen gewesen war, ragte nunmehr Felsgestein hoch, dessen sedimentartige Ablagerungen wie Lavab rocken zu Boden fielen. »Unmöglich!«, entfuhr es Kythara, die neben mir zum Stillstand kam. »Das muss eine Sinnestäuschung sein.« »Oder aber eine Verschiebung der Reali täten«, sagte ich. »Materie wechselt zwi schen den Universen hin und her, ver schwindet und rematerialisiert.« »Was tun?«, fragte die Varganin ratlos. Vorsichtig tastete ich über das Gestein. Es vibrierte leicht, und es fühlte sich selbst durch die Handschuhe des Anzugs warm an. Und es entsprang zweifelsohne keiner Einbildung. »Es gibt wohl kein Zurück mehr. Wir flie gen weiter.« Angst und Verzweiflung überschwappten mich plötzlich, wie ich sie endgültig abge schüttelt geglaubt hatte. Dies hier war … der Vorhof zur Hölle.
* Immer mühsamer wurde das Vorwärts kommen, immer bedrohlicher reagierte die Umgebung auf uns. Als würden Angriffe ei ner unbekannten Macht mit Hilfe der Schwarzen Substanz vorgetragen werden. Bislang waren die Attacken noch ziel- und planlos gewesen. Doch nach und nach wuchs ein Gefühl der Bedrohung in mir – und wohl auch in Kythara, die sich mit weit aufgerissenen Augen dicht neben mir auf
51 hielt. Wir flogen und flogen und flogen. Allmählich vergaß ich, was wir hier ei gentlich verloren hatten.
* Wir fanden uns abrupt und übergangslos in einer völlig anderen Welt wieder. Kythara und ich standen auf der Oberflä che eines Mondes. Die Varg-Roboter waren verschwunden. Am Horizont ging soeben ein roter Gasriese auf, von einem bunt schil lernden Ringsystem umgeben. War dies eine Vision von vielen, die wir in den letzten Stunden über uns hatten erge hen lassen müssen? Oder ein Blick hinter die Kulissen auf die unumstößliche Wahr heit? War dies der ursprüngliche Standort der Anaksa-Lebensform, bevor sie in die Umlaufbahn um den Dunkelstern gezwun gen worden war? Ja – mittlerweile sprach ich, soweit es mein überreizter Verstand zuließ, von einer Lebensform, wenn ich an die Station dachte. Sie wirkte so vital und lebendig. In ihr steckte mehr Leben und Lebenswille, als ich derzeit in mir selbst spürte. »Flüchten«, hauchte Kythara. Sie hielt sich an meiner Schulter fest und blickte wie ich auf den hochsteigenden Gasriesen. Schwarze Substanz umgab uns. Das wussten wir, das konnten wir spüren. Sie lauerte auf ihre Chance. Wollte uns umfangen, auffres sen, irgendwo und irgendwann ausspucken. »Es schneit so schön«, flüsterte die Var ganin. Sie begann zu singen. Ein Lied voll gutturaler Laute, die nichts mehr mit ihrer Muttersprache gemein hatten. »Setz dich zu mir«, forderte sie mich auf und ließ sich einfach fallen. »Schauen wir dem Schnee zu. Wie er fällt. Komm!« Schnee war doch weiß und nicht schwarz? Oder? Ich beutelte den Kopf, versuchte, das Ver gessen zu verdrängen. Narr!, schimpfte der Extrasinn. Du musst auf den Beinen bleiben. Deinen Verstand beisammenhalten.
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Michael Marcus Thurner
Warum?, fragte ich ihn. Er wusste keine Antwort – und schwieg. Wir legten uns nebeneinander nieder, blickten hoch in die Unendlichkeit, die von lustig dahinschwebenden Schneeflocken durchbrochen wurde. Sie machten mir plötzlich Angst. Unermessliche Gier ging von ihnen aus. Ich wusste augenblicklich, dass ich nicht liegen bleiben durfte. Angst und Verzweiflung drückten mich zu Boden. Die Gefühle lahmten so sehr, dass selbst ein Atemzug zum mühsamen Kampf gegen die Gleichgültigkeit und den Tod wurde. »Siehst du sie?«, fragte mich Kythara mit
gepresster Stimme. »Ja«, antwortete ich. Furcht, Panik und Verzweiflung hatten Gesichter und Leiber erhalten. Jene von Varganen, die mit eitrig schwä renden Körpern auf uns zugekrochen und zugehumpelt kamen, die Arme gierig nach uns ausstreckten. Ich lag da, kicherte vor Angst und wusste, dass ich den drei Wesen nichts entgegenzusetzen hatte. ENDE
ENDE
Endstation Anaksa von Uwe Anton Die Abenteuer Atlans rund um den Dunkelstern gehen ihrem dramatischen Ende entgegen: Fast scheint es so, als bestünden trotz der nahezu erdrückenden Übermacht der Lordrichter in Dwingeloo gute Chancen, ihnen einen Strich durch die Rechnung zu machen. Dazu fliegt Atlan zurück zum Dunkelstern. Mit ENDSTATION ANAKSA
Chaos im Miniaturuniversum Kommentar: Daten zu Dwingeloo Kommentar
von Rainer Castor
Dwingeloo 1 (terranische Bezeichnung, als LEDA 100.170 geführt). Basisdaten: Distanz zur Milchstraße: 16,28 Mio. Lichtjahre, Durchmesser: ca. 35.000 Lichtjahre, ca. 10 Milliarden Sterne; eine Balkenspirale vom Typ SBc. Dicht benachbart befindet sich Dwingeloo 2 (LEDA 101.304) – die beiden galaktischen Zentren sind nur knapp 80.000 Lichtjahre voneinander entfernt. Dwin geloo 2 ist 16,299 Mio. Lichtjahre von der Milchstraße entfernt; Durchmesser: ca. 20.000 Lichtjahre, ca. 2 Milliarden Sterne; eine irreguläre Galaxis, die ihre un regelmäßige Form dem Gravitationseinfluss von Dwingeloo 1 »verdankt«. Von der Erde aus betrachtet, befindet sich Dwinge loo im Sternbild Cassiopeia (wie z.B. auch Andromeda) – und hierbei ziemlich exakt in Höhe der galakti schen Hauptebene, so dass Gas, Staub und die Ster ne der Milchstraße eine direkte Beobachtung er schweren. Dwingeloo weist bemerkenswert viele far benprächtige planetare Nebel auf, in deren Zentren sich jeweils rotierende Neutronenstern-Pulsare befin den – alle mit der übereinstimmenden Pulsperiode von 1,3753 Sekunden, die Strahlung liegt vorwiegend im Radiofrequenzbereich. Die Supernovae ihrer Ent stehung scheinen allesamt nur wenige hunderttau send Jahre zurückzuliegen! Noch auffälliger ist, dass die betroffenen Sonnen bzw. Pulsare so angeordnet sind, dass sie als Kugelschalen Raumsektoren »umschließen«, die bis zu einige hundert Lichtjahre Durchmesser erreichen. Raumsektoren überdies, die insgesamt rund ein Drittel von Dwingeloo ausmachen und in denen es zu unerklärlichen Störungen des Raum-Zeit-Gefüges (Veränderungen, Instabilitäten etc.) zu kommen scheint. Etliche der zu den Kugel schalen gehörenden Sonnen erweisen sich als über aus starke Hyperstrahler; wiederholt werden von dort heftige Strukturerschütterungen angemessen – so als würden ganze Flotten (oder vergleichbar große Mas sen) permanent auf der Stelle transitieren.
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