Michael Ignatieff
Charlie Johnson in den Flammen Roman Aus dem Englischen von Werner Locher-Lawrence
C. Bertelsmann
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Michael Ignatieff
Charlie Johnson in den Flammen Roman Aus dem Englischen von Werner Locher-Lawrence
C. Bertelsmann
Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Charlie Johnson in the Flames« bei Chatto & Windus, London. 1. Auflage Copyright © Michael Ignatieff 2003
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2004 beim C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Satz: Uhl+Massopust, Aalen Druck und Bindung: GGP Media, Pößneck Printed in Germany ISBN 3-570-00802-9 www.bertelsmann-verlag.de
Charlie Johnson ist Kriegsjournalist. Während des Bürgerkriegs in Jugoslawien wird eine unschuldige Zivilistin brutal ermordet. Beim Versuch, die Frau zu retten, erleidet Charlie selbst schwere Verbrennungen und ein psychisches Trauma. Nach seiner Genesung nimmt er sich vor, in Zukunft ehrlich zu sich selbst zu sein: Er trennt sich von seiner Ehefrau, gibt seine Stelle auf und macht sich alleine auf die Suche nach dem Mörder der Frau. Spannender, in der Tradition der Moderne nüchtern und unspektakulär geschriebener, in die Tiefe gehender Roman von Michael Ignatieff: Voller Aktualität, über Kriege, Brutalität und Kaltblütigkeit in der Welt, wobei der Schwerpunkt darauf liegt, wie man selbst damit umgeht sowie mit der ungelösten Frage des „Warum“.
Für Suzanna Zsohar, die bereits vor mir an ihn glaubte.
1
Als Charlie Johnson den Hubschrauber sah, war er sicher, dass alles in Ordnung kommen würde. Der Chopper senkte sich auf das stoppelnackte, müllübersäte Feld neben den Flüchtlingszelten und kam ihnen so nah, dass Charlie sein Gesicht mit den Händen vor dem Dreck und dem Müll schützen musste, der von den Rotorblättern in die Luft geschleudert wurde. Durch die offene Tür des Choppers sah Charlie die Sanitäter, wie sie ihre Sicherheitsgurte aufschnappen ließen und die Bahre hinauswarfen. Der Anblick ließ ihn sich wieder jung fühlen, wie ‘71 in Da Nang. In gebückter Haltung rannten sie unter den Rotoren durch. Sie hatten ihre Helme auf, zwei junge amerikanische Gesichter hinter hochklappbaren Visieren, die gezackten Zeichen der 6. Marine-Division auf den Schultern. Es war lächerlich, Charlie wusste es, aber der Gedanke, dass sie damit sicher in den Armen des Imperiums waren, trieb ihm die Tränen in die Augen. Sie knieten sich neben sie. Einer prüfte den Tropf, den Jacek die ganze Zeit hochgehalten hatte, und streckte den nach oben deutenden Daumen in seine Richtung, während der andere ihre Körperfunktionen überprüfte, Hand an der Halsvene, Augen auf die Uhr gerichtet, gefolgt von einem schnellen Blick zu seinem Kumpel, unlesbar hinter den getönten Gläsern. Dann hob er den Verband quer über ihren Rücken an und musterte die Wunde mit ausdruckslosem Blick. Charlies Händen schenkten sie keine weitere Beachtung, mit den Verbänden fühlte er sich wie ein Kind mit zwei Nummern zu großen Fäustlingen. Es war toll, wie schnell sie waren, wie sie sich auf
das Wesentliche konzentrierten, sie mit geübter Routine auf die Bahre hievten. Eins, zwei, drei, so wurde Fürsorge zum funktionierenden Räderwerk. Dann rannten sie gebückt zum Chopper zurück. Charlie stolperte hinter ihnen her, die Hände nach vorn gestreckt, mit Jacek, der ihn halb stützte, damit er das Gleichgewicht nicht verlor. Sie setzten Charlie einen Funkhelm auf, weil er selbst nicht dazu in der Lage war, gurteten ihn fest, gleich neben der Bahre. Einer der Sanitäter hob kopfschüttelnd die Hand zu Jacek hin, der verzweifelt aussah, aber zurückwich, noch mehr in sich zusammensank und sich abwandte. Als sie abhoben, die Bahre sicher in ihrer Halterung vor der offenen Tür und Charlie auf dem Klappsitz daneben, konnte der nur noch die Panda-Hände zu einem Winken hochrecken. Der Hubschrauber gewann Höhe, Jacek unter ihnen wurde kleiner und wandte sich endgültig ab, das strähnige blonde Haar im Rotorwummern auffliegend, allein auf dem Feld. Die ganze lange Nacht über hatte sie gestöhnt und den Kopf von einer Seite zur anderen geworfen, aber jetzt war sie ruhig und hielt die Augen geschlossen. Er vermutete, dass die Schmerzen aufgehört hatten, ihr Schmerzempfinden weggebrannt war, ausgedörrt. Ein Sanitäter schob den versengten Baumwollstoff ihres Kleides über einem unverletzten Teil des linken Arms hoch und gab ihr eine Spritze. Ein anderer zog Jaceks Tropf heraus und ersetzte ihn durch einen neuen. Die klare Flüssigkeit stieg, spülte Mineralien und Glukose in ihre Venen. Draußen auf dem Feld war es ihm nicht aufgefallen, aber jetzt im Hubschrauber merkte er, dass sie nicht gut roch. Der Geruch nach Frau vermischte sich mit dem von Schweiß, Urin und der Süße verbrannten Fleisches. Während des Flugs war es nicht möglich, sie zu säubern, und alles, was zu sagen war, gaben sie bereits per Funk an die Basis durch. Über seine
Kopfhörer konnte er ihr Gespräch verfolgen. Der Klang ihrer Militärstimmen wirkte beruhigend auf ihn: »Weiblich, zwanzig bis fünfundzwanzig, Zivilistin, Verbrennungen dritten Grades, rund fünfundzwanzig Prozent, voraussichtlich keine weiteren Verletzungen.« Und dann eine Reihe von Zahlen zu Pulsschlag und Blutdruck, die für Charlie keine Bedeutung hatte, sowie Verschiedenes in Vorbereitung ihrer Ankunft. Alles schien gut zu laufen: Sie warteten auf sie, Traumaspezialisten der Navy, in einem strahlend weißen OP. Charlie wollte ihr all das sagen, aber sie sprachen nicht dieselbe Sprache, und der Lärm des Choppers machte sowieso jedes Gespräch unmöglich. Sie rasten von einer Wolkenbank in die nächste, und als sie ihre Augen wieder öffnete, glühten sie in dem wechselnden Licht. Sie starrte auf die graugrüne Innenverkleidung des Choppers, die Kabel, die in ihren Helmen verschwanden und hin und her zuckten, während die Maschine nordwärts donnerte. Dann fiel ihr Blick auf ihn, fixierte ihn, ausdruckslos. Er hoffte, sie wusste, dass Rettung nur Minuten entfernt war. Er griff nach ihrer unverkohlten Hand und hielt sie fest. Alles, was sie verband, war das Wissen um das Geschehene. Aber das reichte. Selbst wenn sie miteinander hätten reden können – es war nicht nötig. Jetzt, am Ende ihrer Qualen, der Erlösung nahe, ließ der Schock ihren Blick verschwimmen. Ihre Augen schlossen sich. Charlie zog seine Hand weg, um ein Stück von ihr abzurücken. Der Geruch ließ ein Würgen in ihm aufsteigen. Durch den Mund schnappte er nach Luft und drehte das Gesicht zum Fenster. Sie – vor allem Jacek – hatten getan, was sie konnten: der Tropf und der Verband aus dem Erste-Hilfe-Kasten, den sie ihr mit Stoffstreifen von Jaceks Hemd über den Rücken banden. Über das Satellitentelefon hatten sie den Hubschrauber gerufen und dann die Nacht über neben dem Jeep gesessen und
gewartet, dass er kam. Mit seiner verbundenen Hand hatte Charlie ihre Hand gehalten, der Schmerz hatte sie apathisch gemacht und er wusste nicht, was er sonst hätte tun sollen. Das Warten auf das Tageslicht und das Aufklaren des Wetters war kaum zu ertragen. »We’re air-ready«, versicherte die Flugkontrolle wieder und wieder über Satellit, »aber wir haben noch keine Flughöhe.« »Scheiß auf euer verfluchtes air-ready, Scheiß auf die Flughöhe! Schafft das Ding endlich her!«, schrie er in den Hörer und warf ihn auf die Gabel. Charlies Schwäche, in heiligen Zorn auszubrechen, euphorisierte ihn normalerweise, wie George C. Scott, wenn er Patton spielte, aber als er diesmal den Hörer auf die Gabel donnerte, schmerzte seine Hand so sehr, dass er aufschrie. Jacek nahm ihm das Telefon weg, und ob es an seiner polnischen Geduld oder an seinen Gebeten lag, kurz danach kam die Startgenehmigung. Rettung lag nur eine Stunde entfernt, und es war exakt, was sie brauchten: erstklassige amerikanische Traumaspezialisten in Zelten, direkt neben dem Flugfeld. Charlie kannte den Ort: Vor einem Monat hatte er ein paar in ein Minenfeld geratene Jordanier aus der Friedenstruppe interviewt, die von den Amerikanern zusammengeflickt worden waren. Die, die reden konnten und nicht als verbundene Fleischklumpen an HerzLungen-Maschinen hingen, hatten ihm versichert, dass die Ärzte große Klasse waren. Auch sie würde die besten Ärzte haben. Wenn sie erst in Sicherheit waren und es ihr besser ging, würde er ihr sagen, wie großartig sie gewesen war, verbrannt und mit zerfetzter Kleidung: wie sie durch die Dunkelheit stolpernd den Pfad aus dem Tal, wo ihr Haus gestanden hatte, herauf geklettert war, zu den Wäldern auf der anderen Seite der Grenze, beim Flüchtlingslager. Einen einzigen Aussetzer hatte sie, rutschte ohne einen Ton von sich zu geben weg und
fiel wie ein verlorener Schal zu Boden. Charlie konnte nichts tun wegen seiner Hände, aber Jacek und Benny verschränkten die Arme und trugen sie wie ein Sessellift mehr als einen Kilometer weit bis auf die Anhöhe. Jacek war unvergleichlich. Wortlos, mit zusammengebissenen Zähnen ihr Gewicht aushaltend. Was Benny anging, nun, der konnte einen Körper in alle Ewigkeit durch die Dunkelheit bergauf schleppen. Als sie sie absetzten, richtete sie sich auf und rannte und rannte, geradeaus, dem Pfad folgend, als ob sie gewusst hätte, dass die Rettung nur in dieser Richtung liegen konnte. Sie musste den Weg gut kennen. Er begann direkt gegenüber von ihrem Haus auf der anderen Seite der Straße und führte in den Wald am Ende des Dorfes. Vor dem Krieg hatte es dort keine Hunde, Heckenschützen und Patrouillen gegeben. Da war es nichts als ein Pfad. Einer der vielen, die von den Hirten benutzt wurden. Mit Beginn des Krieges dann musste sie die Kämpfer gehört haben – ihre Kämpfer –, die nachts von der Anhöhe auf der anderen Seite der Grenze über den Pfad und an ihrem Haus vorbeimarschiert waren, um die Milizen unten im Tal und ihr blaues Halbkettenfahrzeug anzugreifen. Und jetzt, völlig am Ende, hatte sie bestimmt geglaubt, dass ihr Wissen sie retten würde. Ich werde diese Ausländer auf dem Pfad führen, und oben auf der Anhöhe wird jemand da sein, der meine Schmerzen beendet. Deshalb war sie ihnen, nachdem Jacek und Benny sie abgesetzt hatten, vorausgelaufen. Mitgenommen wie sie war, hatte diese Frau sie durch die Dunkelheit in Sicherheit gebracht. Der Schock und der Schmerz waren zu groß gewesen, als dass sie hätte zurückblicken können. Ihr Haus brannte nieder, ihr Dorf stand in Flammen. Charlie wusste, was ihr erspart bleiben musste, was sie niemals sehen durfte: wie sich die Hände vor das Gesicht pressten, der Körper sich zusammenkrümmte und die Beine unter sich zog, vergeblich
nach Schutz vor den Flammen suchend. Wenn sie ihn so gesehen hätte, ihren eigenen Vater, vielleicht hätte sie sich einfach fallen lassen und aufgegeben. Doch sie stieg mit den Ausländern zur Anhöhe hinauf. Sie gaben ihr immer wieder zu trinken. Und sie lief und lief. Sie hatten nicht geglaubt, dass sie es schaffen würde, aber sie tat es. Sie war vom Haus in Richtung Wald gerannt, wo Charlie, Jacek und Benny sich versteckt hatten, die Arme nach vorn gestreckt, das Feuer auf ihrem Rücken ein lodernder Umhang. Das Haar, der Rücken, das Kleid in Flammen, alles in Flammen, die sich an sie schmiegten, während sie rannte. Er sprang auf die Straße, um sie aufzuhalten, denn er wusste – mit wahnsinnsgleicher Klarheit –, dass Rennen ein Fehler war. Rennen fachte die Flammen weiter an. Du rennst nicht, wenn du Feuer gefangen hast, das steht in jedem Buch, du wirfst dich hin und rollst dich auf dem Boden. Er stellte sich ihr in den Weg, und sie rannte in ihn hinein. Und so rollten sie zusammen durch den roten Dreck der Straße, bis sie zu einem Bündel verschmolzenen Fleisches geworden waren. Charlie hörte nicht auf, ihr mit den Händen auf den Rücken zu schlagen, um die Flammen zu löschen. Als wäre er, Charlie Johnson, durch ihre verzweifelte Umarmung erwählt und wie sie mit Flammen gesalbt. Sie rollten durch den Dreck und er hörte sich schreien, und als er die Augen wieder öffnete, lag sie auf ihm, nach Benzin und verbrannter Haut stinkend. Sie zitterten beide, hielten in ihrer Bewegung inne, weil sie wussten, dass der Trupp sich womöglich immer noch am anderen Ende der Straße befand. Wenn sie sich nicht bewegten, dachte er, würde man sie vielleicht für tot halten. Er spürte ihre und seine Angst. Er konnte das Prasseln des Feuers auf den brennenden Dächern hören und die Rufe und das Popp-Popp leichter Waffen. Sie waren so eng ineinander
verschlungen, dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte, aber er hörte ihr Stöhnen an seinem Ohr. Und dann kreuzte Jacek sein Blickfeld, rannte tief geduckt mit der Kamera drei, vier Meter weiter, warf sich zu Boden und fing an zu filmen. Das Material würde, wie sich herausstellen sollte, unbrauchbar sein – das Haus in Flammen, das blaue Halbkettenfahrzeug, wie es zurückstieß und hinter der Biegung aus seiner Sicht verschwand. Als Jacek die Szene im Kasten hatte, riss er die Kassette heraus, stopfte sie sich in die Tasche und rannte zu ihnen herüber, um ihnen auf die Füße zu helfen und sie in den Wald zu bringen, bevor der Trupp zurückkam. Nur dass er nicht zurückkam. Die Dunkelheit nützte ihnen. Der Trupp würde keinen Hinterhalt riskieren. Charlie wusste, dass sie ihr Versteck verlassen und die Frau auf dem Weg, auf dem sie gekommen waren, mitnehmen konnten. Erst später, oben auf der Anhöhe, wurde ihm klar, dass Jacek etwas getan hatte, das er all die Jahre, die sie zusammenarbeiteten, noch nie getan hatte: Er hatte die Kamera zurückgelassen. Während des ganzen Aufstiegs dachte Charlie, dass sie womöglich sterben könnte. Aber jetzt sah alles danach aus, dass sie überlebte. Warum auch nicht? Es gab keinen Grund, dass etwas außer Kontrolle geriet. Er sah nach unten, konnte die Lichter des Flugfeldes erkennen und spürte, wie der Chopper schnell an Höhe verlor. Bald würde es klares Wasser und saubere Bettwäsche geben. Chirurgenscheren würden ihr die versengten Kleider vom Leib schneiden. Schwestern würden Salben und Tinkturen auftragen, die Haut mit Eisbeuteln kühlen. Nährstoffe und Plasma würde ihre Adern durchströmen, und sie würde schlafen. Und wenn sie aufwachte, würde er da sein, um sich zu versichern, dass sie okay war. Sie würde Transplantate erhalten und über Monate behandelt werden, alles auf Kosten
der US-Navy. Sie würde nicht wieder zurückgehen, weil man ihr Dorf niedergebrannt hatte und ihr Vater nicht mehr da war. Aber sie würde leben und sie war jung und das war immerhin etwas. Was Charlie selbst betraf, so wusste er, dass er am Ende war. Dreißig Jahre lang hatte er sich mit Verbrechern, Glücksrittern und mit Drogen voll gepumpten Gangstern an irgendwelchen Checkpoints zwischen Kabul und Kigali herumgeschlagen, aber niemals hatte ihn jemand direkt angegriffen, nicht wirklich. Er hatte Kugeln über seinen Kopf pfeifen hören, doch nie geglaubt, dass sie tatsächlich ihm galten. Er hatte das Feuer gesehen und nie geglaubt, dass es ihn erfassen könnte. Bis zu diesem Nachmittag. Als er die Hände von ihrem Körper nahm und sah, dass sie mit den verkohlten Resten ihres und seines Fleisches bedeckt waren. Später, während sie auf den Hubschrauber warteten, saß er in der Finsternis und zitterte am ganzen Körper, nichts mehr in sich als Angst und Schrecken. Er war am Ende. Er hatte Jacek zurückgelassen und war zu müde, sich darüber Gedanken zu machen. Nie, niemals ließ man jemanden aus dem Team zurück, und die Kollegen würden ihn das spüren lassen, auch wenn es nicht seine Schuld gewesen war. Er war kein Held, aber dieser Gedanke störte ihn nicht im Geringsten. Wenn du nicht weißt, was Angst ist, kannst du auch nicht darüber reden. Das Kommando blauer Halbkettenfahrzeuge waren völlig unbemerkt gekommen, so gut getarnt, dass Charlie erst begriff, dass sie da waren, als die Dächer am anderen Ende des Dorfes zu schwelen und brennen begannen. Er konnte nicht glauben, was er aus der Sicherheit seines Verstecks sah, als der Trupp von Haus zu Haus zog, Menschen auf die Straße trieb, halb angezogen, und die Männer fortschaffte. Er hatte keine Ahnung und wahrscheinlich würde auch sie nicht erklären
können, warum sie die Einzige von all den Frauen im Dorf gewesen war, die sich widersetzte. Sie lief zum Anführer des Kommandos, flehte um ihr Haus, ihren Besitz, ihren Vater, der noch drinnen war. Sie war so aufgewühlt, dass sie den gelben Plastikeimer nicht einmal bemerkte, als er hinter ihr aufstieg – bis ihr das Benzin auf den Rücken klatschte. Charlie beobachtete das alles aus seinem Unterschlupf am Rand der Lichtung. Der ganze Trupp trug Tarnmasken, nur der Anführer nicht. Er hatte seine heruntergezogen, als wollte er sagen: Seht her, ich bin es, der das Feuer entfacht, ich bin es, den ihr zu fürchten habt. Das Feuerzeug schnappte in seiner Hand auf, und er berührte ihren Rücken damit. Der Anführer sah zu, wie sie davonrannte, fiel sogar einem seiner Männer in den Arm, als der auf ihren Hinterkopf zielte. Er ließ sie laufen. Er hatte alle Zeit der Welt. Er sah sie springen und an ihren Kleidern zerren, bis sie hinter der Biegung verschwand. Dann stieg er in sein Fahrzeug, und der Trupp zog sich im Rückwärtsgang aus dem Dorf zurück. Ihre Hand war kalt, als er sie streichelte. Würden sie einander je wieder so nah sein? Er wusste, dass ihn das, was sie durchlebt hatten, sein Leben lang in aller Härte verfolgen würde. Sein Bemühen, sie zu retten, würde nie die Tatsache aufwiegen können, dass er hatte mit ansehen müssen, wie alles passiert war, ohne etwas tun zu können. Der Hubschrauber schwebte kurz über dem Boden und setzte dann auf. Die Türen wurden aufgezogen und sie hatten eine Rollbahre direkt unter den Rotoren. Sie hoben sie darauf, und ein paar Sanitäter eilten mit ihr über den Teer davon. Zwei von ihnen fassten auch ihn bei den Ellbogen, aber er schüttelte sie ab. Er sagte, er könne gehen. Sie ließen ihn hinter der Gruppe her laufen, die mit ihr in die Notaufnahme eilte. Er konnte die niedrigen, raupenartigen Umrisse des mobilen Marinelazaretts erkennen, das braune Netzwerk aus Zelten, in denen sie sich
um Minenopfer und medizinische Notfälle aus der Kampfzone kümmerten. Die Luft war kalt und roch nach Flugbenzin. Die Kommandos zur Überwachung des Flugverbots arbeiteten rund um die Uhr. Ein Stück entfernt, am Ende der Rollbahn, standen Nighthawks, zum Start bereit. Aus den Turbinen glühte es purpurn. Er spürte, wie mit jedem Schritt die Angst weiter von ihm abfiel. Nicht weit vor sich, im Licht der Halogenbögen im Eingangsbereich des Lazaretts, konnte er die Schwestern sehen. Er folgte der Rollbahre durch die niedrigen, mit VierzigWatt-Lampen beleuchteten Korridore. Während er jungen Chirurgen in OP-Kitteln und Marinepflegern in Braun begegnete, wurde ihm bewusst, wie verdreckt und blutverkrustet er war und wie schlecht er sich fühlte. Sie hielten ihn zurück, als die Bahre durch zwei auf- und zuschwingende Plastiktüren in den Untersuchungsraum geschoben wurde. Zwei Sanitäter platzierten ihn auf einen Stuhl. Eine Schwester flößte ihm süßen Milchkaffee ein, und das Zittern hörte auf. Dann versorgten sie seine Hände. Sie legten ihn auf ein Bett, hängten ihn an einen Tropf. Eine blonde Schwester, den Mund hinter einem krankenhausgrünen Mundschutz verborgen, nahm seine Hände in ihren Schoß und reinigte sie mit Tupfern. Alles tat ihm weh, und als er es ihnen sagte, gaben sie ihm eine Spritze. Er fühlte nichts mehr, lag auf dem Rücken und beobachtete die von der Nacht übrig gebliebenen Motten, wie sie immer wieder gegen die nackten Glühbirnen flogen, die sich von der Spitze des Zeltdachs zu den Seiten hinunterzogen. Ventilatoren brummten gegen die Hitze an, Zeltbahnen bauschten sich, der Staub verbrannter Mottenflügel filterte das Licht, und Charlie fühlte, dass er es heil nach Hause geschafft hatte. Er lag auf dem Rücken, die Augen offen, als ein junger Chirurg in Grün hereinkam. Der Mann wollte wissen, ob er sie kannte, und Charlie fragte:
»Was meinen Sie?« Und der Mann antwortete, die weibliche Zivilistin sei bei ihrer Einlieferung verstorben – dead on arrival, oder kurz danach, verbesserte er sich, und da er sie nun weiter abwickeln müsse, brauche er ihren Namen. »Sie hatte keinen«, sagte Charlie. Den Rest seines Lebens sollte er sich fragen, wie er sich je hatte erlauben können zu glauben, dass es anders hätte ausgehen können.
2
Charlie lag in einem Bett im Esplanade, ein paar Kissen im Nacken, eingewickelt in ein Badetuch. Etta lag neben ihm. Ihre Haut war feucht vom Duschen, und sie roch nach einer Gesichtscreme, die er nicht kannte. »Was ist das für eine Creme?«, fragte er und hob seine verbundene Hand, um ihre Wange zu berühren. »Weiß nicht mehr«, erwiderte sie. Sie trug einen Hotel-Bademantel und hatte sich ebenfalls ein paar Kissen unter den Kopf geschoben. Es war weit nach Mitternacht. Er hatte mehr oder weniger geredet, seit sie angekommen war. »Erzähl weiter«, sagte sie. Benny hatte den Jeep bis an den Rand der Anhöhe gefahren, wo die lang gestreckte Schlucht, die hinunter ins Tal führte, begann. Es war zwei Uhr morgens. Sie waren der Konkurrenz entwischt, und wenn sie es richtig anstellten, würden sie zum Frühstück zurück in der Bar sein und um einiges schlauer als die anderen Teams. Sie ließen, was sie konnten, im Jeep: Lampen, Batterien, Ersatzkassetten, den Erste-Hilfe-Kasten. Der Pfad fiel etwa fünfzig Meter von der Stelle, an der sie parkten, steil ab. Sie liefen hintereinander, lauschten auf den Atem der anderen und das Geräusch ihrer Stiefel auf den Steinen. Sie mussten ohne Licht absteigen, und so stolperten sie unsicher vorwärts, griffen nach herabhängenden Zweigen und fluchten. Ja, er hatte Angst gehabt und sich deprimiert gefühlt. »Wieso deprimiert?«, wollte Etta wissen und langte nach der Schachtel Zigaretten auf dem Nachttisch. Sie rauchte nicht, aber er, wenn er sich fühlte wie jetzt. Sie zündete eine für ihn an und schob sie ihm zwischen die Lippen.
Vor Beginn des Krieges hatten die internationalen Beobachter, die entlang der Grenze patrouillierten, Charlie Bilder von einer Kommandoeinheit der Rebellen gezeigt, die in Schwierigkeiten geraten war, als sie ins Tal hatte vordringen wollen. Irgendein abgebrühter Kerl von der internationalen Spurensicherung hatte aus nächster Nähe ein Polaroidfoto nach dem anderen geschossen. Charlie hatte sich achtundzwanzig davon angesehen, einschließlich das von einer in ihrem Tarnanzug ausgesprochen gut aussehenden Frau mit braunem Haar. Sie wirkte völlig verschreckt, verständlicherweise, schließlich war sie in einen Hinterhalt geraten und hatte wahrscheinlich nichts bemerkt außer dem Mündungsblitz in der Dunkelheit, bevor sie ihr Leben wie einen Vogel davonflattern spürte. Ja, er hatte Angst, und Angst deprimierte ihn. Es war ein Zeichen von Unreife, in seinem Alter noch so mit der Gefahr zu spielen. Gefahr verlangt nach Notwendigkeit, und die gab es hier nicht wirklich. Sie gingen über die Grenze, mitten im Krieg, hinunter ins Tal, um ein paar Bänder aufzunehmen, die bezeugen sollten, dass die Grenzorte nicht wie behauptet von der Gegenseite gehalten wurden, sondern von Bennys Leuten. Es war eine »positive Geschichte«. »Positive Geschichten zahlen meine Miete«, sagte Jacek immer. Dieser hervorragende Kameramann, melancholisch, introvertiert, mit dem ausgreifenden Schritt eines Jägers und strähnigen blonden Haaren, die ihm wie Hundeohren bis auf den Kragen der abgetragenen braunen Lederjacke hingen. Charlies Augen zuckten: Er wusste, er war nicht richtig da, solange ihn der Gedanke an Jacek so zerriss. Sie stiegen also in der Finsternis die Schlucht hinab, auf der falschen Seite der Grenze, weil es eine positive Geschichte war, weil alle Teams beim Flüchtlingslager schon überlegt hatten, wie sie’s anstellen könnten. Doch am Ende hatten die
alle nicht den Mut gehabt, nur sie. Und ja, gerade weil sie die älteste Crew in der Bar waren, mit den meisten Kilometern auf dem Buckel, hatte ihr Mut schließlich die Entscheidung herbeigeführt. Das war es, was er versuchte, ihr zu erklären: angefangen mit dem Abend, als Jacek und er in der Bar zu viel getrunken hatten und Benny sagte: »Wenn ihr’s nicht glaubt, bring ich euch hin.« Tja, da mussten sie gehen. »Warum?«, fragte sie. »Santini war auch da.« »Und?« Was sollte er antworten? Santinis Anwesenheit hätte keine Rolle spielen sollen. Hatte sie aber. Es war ein Fall von tief sitzender Abneigung – gegen Santinis maßgeschneiderte Safarijacke, seine Ordentlichkeit, die einen auf die Palme brachte, und ja, zugegeben, auch seine Jugend, die einen die dümmsten Dinge tun ließ. Die Angst, lächerlich zu erscheinen, war einer der Hauptgründe, warum Männer lächerliche Dinge taten. »Du verstehst schon«, sagte er. Sie schwieg – und das war gut so, denn er hatte keine Lust, sich von ihr vorhalten zu lassen, was für ein Idiot er gewesen war. Einen Teil der Schuld schob er auf die American Bar. Ein absurder Name für eine absurde Kneipe. Sie lag einen knappen Kilometer von den Flüchtlingszelten, der Steigleitung und den Frauen entfernt, die sich die Unterhosen nach einem Ausflug zum Splittergraben wieder hochzogen, in einer stinkenden Gasse lag sie und hatte einen außergewöhnlichen Garten, so wie sich einer eine Oase vorstellte, mit verrücktem Pflaster, das immer wieder abgespritzt wurde, und einem kleinen Springbrunnen, umgeben von mächtigen Kiefern gegen den Schmutz und die Verkommenheit der Stadt. Abend für Abend hingen dieselben ausländischen Journalisten auf den weißen Gartenstühlen, vergifteten sich mit Alkohol und taten nicht mal so, als wüssten sie, worauf sie warteten. Sämtliche
Flüchtlingsgeschichten, all die Storys, die einem ans Herz gingen, waren längst abgedreht, und über den Krieg selbst ließ sich nichts berichten, denn der war völlig unsichtbar. Man konnte die Nighthawks hören, manchmal die Detonationen sehen, die ein-, zweimal die Woche so nahe waren, dass der Boden wackelte. Sonst aber, dachte Charlie, hätte er genauso gut in seinem Büro hocken und alles auf dem Bildschirm verfolgen können. Der Kerl, den sie Benny nannten – es war nicht sein wirklicher Name, und er hielt ihn für unter seiner Würde –, war Kellner in Dortmund gewesen und Charlies erstem Eindruck nach unbrauchbar. Er gab an und markierte den großen Macker. Jacek glaubte nicht, dass er unbrauchbar war, sondern nur einer, der nicht zugeben konnte, dass er lieber im friedlichen Dortmund gewesen wäre statt hier, wo sein so genanntes Volk für seine so genannte Freiheit kämpfte. »Dem ist es peinlich, Angst zu haben«, meinte Jacek, was bedeutete, dass man Benny trauen konnte, einfach weil seine Schwächen offen zutage traten. »Wie bei uns allen«, fügte Jacek hinzu und blies seinen polnisch-katholischen Gedanken mit einer Rauchwolke in die Luft, wo sie zwischen den Kiefern hängen blieb. Benny hatte den Kämpfern seine Glaubwürdigkeit bewiesen, indem er ein paar Uzis aus Deutschland geschmuggelt hatte. Er sprach von seiner Heimat unten im Tal, obwohl das eigentlich, wäre er ehrlich gewesen, Dortmund war. Er sprach perfekt Deutsch, und wenn er was getrunken hatte, erzählte er von seiner deutschen Frau und den Kindern, dem städtischen Schwimmbad am Ende ihrer Straße und all dem Geld, das er verdienen würde, wenn er erst einen eigenen Laden aufmachte. Oder was anderes. Charlie konnte sich kaum an all den Unsinn erinnern, den sie sich beim Trinken erzählt hatten, auch wenn es jetzt plötzlich wichtig schien, denn in der Bar war die
Entscheidung gefallen. Nach einer Woche Gelabere ohne Ergebnis kam Benny eines Abends zurück und flüsterte, der Brigadeführer hätte ihn »ermächtigt«, sie zu dem »Kommandoposten« zu führen, der vier Kilometer den Pfad entlang neben dem ersten Dorf unten im Tal lag. »Herr im Himmel«, sagte Charlie, und Etta nahm ihm die Zigarette aus dem Mund und drückte sie aus. Charlie lag so nah bei ihr, dass er die Geräusche ihres Körpers hören konnte, das sanfte Auf und Ab ihres Atems. Es war alles sehr angenehm und doch auch beunruhigend, denn Charlie hatte es darauf ankommen lassen. Sie waren noch nie so zusammen gewesen und hätten besser ihre Körper erkunden sollen, statt einfach so nebeneinander zu liegen, eine Vertrautheit voraussetzend, die es gar nicht gab. Er hatte sie angerufen. Einfach so. Noch was, das sinnlos schien, ihm aber im Moment logisch vorgekommen war. Was ihn weiterreden ließ, war, dass sie nicht überrascht klang und ihn auch nicht fragte: »Warum ich? Warum dort? Bist du sicher?« Sie sagte nur: »Ich hab’s gehört. Bist du okay?« Und er: »Warum? Hör ich mich komisch an?« »Ja«, sagte sie, und er gab zu, dass er nicht ganz in Ordnung war. Sie war von London hergeflogen, um bei ihm zu sein. Das war schon was. Er war dankbar, als sie in die Lobby trat. Als er ihr das sagte, antwortete sie: »Ich mag keine Dankbarkeit. Dann fühle ich mich wie Mutter Teresa.« »Ist glücklich besser?« Im Aufzug küsste sie ihn zärtlich auf die Lippen. Es war das erste Mal. Über den Verband an seinen Händen verlor sie kein Wort. Er hatte etwa sechsmal in dem Hotel gewohnt, und nach der Nacht im Marinelazarett war es der Ort, an dem er sein wollte. Das Hotel hatte düstere, gewundene, mit Teppichböden
ausgelegte Drittes-Reich-Korridore und hohe Decken. Es hieß, im Zweiten Weltkrieg sei es das Hauptquartier der Deutschen gewesen. Es gab also eine Art dubiosen Glamour in der Vergangenheit. Zudem taten die Angestellten so, als erinnerten sie sich an Charlie, und das war alles, was er von einem Hotel erwartete. »Was machen wir hier?«, fragte Charlie sie plötzlich. »Wir unterhalten uns, Charlie«, antwortete sie. Daran hatte Charlie nichts auszusetzen. Während er so dalag, kam ihm der Gedanke, dass er fast nichts über sie wusste, nur dass sie aus jener Grenzregion stammte, wo die Ukraine, Ungarn und die Slowakei aneinander stießen und wo, zumindest früher, Juden, Rumänen, Ungarn und Ukrainer zusammengelebt hatten. Sie überließ es ihm herauszufinden, zu welcher Gruppe sie gehörte. Da war ihr Akzent, der Geruch ihrer Gesichtscreme, der knappe Schnitt ihrer Kostüme, nichts sonst war ihm je besonders an ihr aufgefallen bis zu dem Moment, da er eingecheckt hatte, nach dem Telefon griff und wusste, dass er sie anrufen musste. Sie hatte keine der nahe liegenden Fragen gestellt, warum er zum Beispiel nicht nach Hause zu Elizabeth fuhr. Ihre Bereitschaft, naheliegende Fragen ungefragt zu lassen, war beeindruckend. Eigentlich war alles, worauf er gehofft hatte, dass sie ihm zuhörte, ohne sich darum zu kümmern, ob sie eine Zukunft hatten. Er wollte sein altes Leben nicht wieder aufnehmen. Er hoffte, es bliebe jenseits des Regens, der unablässig in den Hotelhof fiel. Wünschte sich, dass es immer weiterregnete und sie dem Regen durch die weißen Vorhänge, die sich in der Brise bauschten, würden lauschen können. »Erzähl weiter«, sagte sie. Es dauerte zwei Stunden, bis sie unten im Tal ankamen. Sie verließen den Schutz der Bäume dort, wo der Pfad auf der staubbedeckten Straße, die durch das Dorf führte, auslief. Es
gab vielleicht fünfzehn Häuser, aber sie konnten sie nicht alle sehen, da die Straße eine Biegung machte. Sie kletterten über ein paar niedrige Steinmauern und duckten sich unter einer Wäscheleine hindurch. An der Mauer des ersten Hauses blieben sie reglos stehen und warteten darauf, dass das Geräusch ihrer eigenen Schritte verklang. Lauschten auf die Tiere im Stroh hinter den Wandlatten einer Scheune. In einem Fenster oben nahmen sie eine kurze Bewegung wahr, als hätte man sie entdeckt. Ein Viertelmond tauchte hinter schwarzen Wolken auf und verschwand wieder. Sie hörten die Aufklärer und F16 über sich. Ihr Donnern übertönte ihre Tritte. Jacek eilte umher, hielt den Körper gebückt. Sie hatten sich die Gesichter nicht geschwärzt – es war nicht klug, so zu tun, als wäre man ein Kämpfer –, und so leuchteten sie wie Laternen, wann immer der Mond hinter den Wolken hervorkam. Benny hatte sich verlaufen und tat so, als ob nicht, ging für alle sichtbar mitten auf der Straße. Der Kommandoposten der Rebellen, zu dem sie wollten, war nirgends auszumachen. Die Straße verlor sich und ihnen lief die Zeit davon, die sie brauchten, um vor den ersten Patrouillen zurück auf der Anhöhe zu sein. Beim letzten Haus des Dorfes – dort, wo der Wald wieder begann – blieb Benny stehen. Sie traten in den Schatten einer Scheunenwand. Er klopfte an die Tür. Unglaublich, er schien nach dem Weg zu fragen. Das war der große Fehler gewesen, dachte Charlie, sie da mit reingezogen zu haben, die beiden, deren Namen er nie erfahren sollte, ihnen damit die Folgen aufgehalst zu haben. Das hätte nicht passieren dürfen. Aber es blieb keine Zeit zum Überlegen, denn Benny winkte schon aus der offenen Tür, und sie tappten in den Raum, schwere Gestalten, die zu viel Platz einnahmen, zu viel Lärm machten. Es befanden sich Leute im Raum, aber man konnte
sie nicht erkennen. Und dann schoben sie Hände – vielleicht Bennys, vielleicht die von jemand anderem – einen Durchgang entlang und einige Stufen hinunter. Der Geruch nach Erde, Schimmel und Feuchtigkeit sagte ihm, dass es der Keller war. Und dann standen sie da und lauschten dem Knarren der Dielen über ihnen, Jaceks schwerem Atem und dem Pochen des eigenen Blutes. Es war eine Art Kriechkeller, nicht hoch genug, um aufrecht in ihm stehen zu können, Schmutz auf dem Boden und irgendwo in der Dunkelheit Zwiebeln. Sie bewegten sich nicht, blieben, wo sie waren, eingerahmt vom Dämmerlicht, das durchs Fenster fiel, lauschten den Dielen über ihnen. Dann plötzlich Stille. Keine Patrouillen bis sechs, war Bennys Mantra gewesen, und jetzt rollte es draußen über die Straße: ein blaues Halbkettenfahrzeug, um zehn vor fünf. Man hörte es, bevor man es sah: dröhnenden Motorenlärm, und dann, durch die Spinnweben des Fensters, die Kette, vielleicht fünf Meter entfernt. Man konnte die Stiefel vom Fahrzeug springen hören, Schritte auf Schotter. Und so verharrten sie schweigend in der Dunkelheit, atmeten den scharfen Geruch von Bennys Schweiß ein, sahen hinaus, während Jacek sein Gesicht aus dem Licht, das durchs Fenster fiel, in den Schatten schob, dann reglos dastand und zur Schwarzen Muttergottes von Tschenstochau betete. Über ihnen Stille, nicht mal das Geräusch von Gewicht, das von einem Fuß auf den anderen verlagert wurde. Die Leute oben, wartend in der Dunkelheit. Unglaubliche geistige Wachsamkeit: Zeit, darüber nachzudenken, ob ihre Fußabdrücke draußen auf dem schmutzigen Weg noch sichtbar und der Miliz aufgefallen waren. Zeit für alle möglichen Überlegungen: Benny hat uns verraten – hat er nicht; er wird durchdrehen – wird er nicht. Alles geht dir durch den Kopf, nur nicht das, was passiert.
Charlie stand auf, eingehüllt in sein Badetuch, ging zum Vorhang, schob ihn beiseite und sah in den Regen hinaus. Kam zurück zum Bett, legte sich wieder hin und lehnte sich an ihre Schulter. Sie lächelte, aber ihm schien das alles nicht richtig: Was machte er hier? Warum lehnte er den Kopf an die Schulter einer Frau, die er nicht wirklich kannte? »Erzähl weiter«, sagte sie. Charlie schüttelte den Kopf. »Es ist gut zu reden, sagen sie immer. Warum eigentlich? Ändert das irgendetwas?« »Du hast mich gebeten zu kommen«, sagte sie. »Ich weiß nicht, warum.« »Ja. Aber es macht nichts.« »Warum tust du das?« »Charlie.« Als sie seinen Namen sagte, fiel Charlie auf, dass sie es genauso tat wie Jacek, wenn er eine Diskussion beenden wollte. Es funktionierte. Jemand musste ihm helfen, mit den sinnlosen Ausbrüchen hilfloser, hoffnungsloser Selbstbezichtigung aufzuhören. Er fand wieder zu sich. Sie ist in Ordnung, dachte er. Investiert nicht zu viel in ihr Hiersein, hält nicht den Atem an, will nichts von mir. Wäre er aus London hergeflogen, um sich das anzuhören? Nicht ohne Hintergedanken. Wie zusammen im Bad rumzuplanschen, die Minibar übereinander auszuschütten und aufzulecken. Nichts dergleichen hatten sie getan. Überhaupt nichts hatten sie getan. Sie duschte. Er duschte. Sie verband ihm die Hände mit dem Verbandszeug der Navy neu, packte eine kleine Tasche aus und hängte ein Kleid in den Schrank. Seine Sachen steckte sie in einen Wäschebeutel des Hotels, rief den Service an und bat, sie wegzuwerfen und neue zu besorgen, die gleiche Größe, in der Stadt. Er ließ das alles ohne Widerspruch geschehen. Sie übernahm die Verantwortung. Ihm gefiel das. Die dunklen Wolken hoben sich, und alles, was
er tun musste, war dazuliegen mit ihr und es sich von der Seele zu reden.
Etta war, was er eine »Bürofreundschaft« genannt haben würde, obwohl er nun nicht mehr wusste, wie er sie bezeichnen sollte. Sie war bereits da gewesen, als er den Job annahm, und lange Zeit schenkte er ihr keine Beachtung. Sie ging nicht raus. Sie war da, wenn man zurückkam. Sie managte seinen Bereich und war berühmt für ihre Effizienz, ihre Unnahbarkeit und dafür, dass sie Punkt sechs den Griffel fallen ließ. Sie hatte vier Redakteure überlebt, »the smart boys«, wie sie sie nannte. Charlies Verachtung für Bürohocker war maßlos und beruflich gesehen selbstmörderisch, während sie mit würdevoller Geringschätzung auf sie herabsah, wofür er sie mit der Zeit bewunderte. Bei einer Gelegenheit sagte er ihr, dass sie sich gut als Fürstin eines kleinen Landes eignen würde. Sie lachte und fügte mit ihrer tiefen Stimme hinzu: »Nein, Charlie, es reicht, dich unter der Fuchtel zu haben.« Sie blieb. Alle wurden jünger und jünger, bis auf Charlie und Etta. Er vermutete, dass sie beide etwa im gleichen Alter waren, obwohl – bei Frauen wusste man nie. Es wurde viel über Etta gemunkelt, meist in sexueller Hinsicht, wegen ihres Parfüms und verschiedener cremefarbener Outfits, die selbst die Langweiler der Branche das Kreuz durchdrücken und Witterung aufnehmen ließen wie ausgehungerte Hunde. Aber weil sie aus Osteuropa stammte und »für sich blieb«, älter war als die meisten aus den verschiedenen Teams, hatte niemand was versucht oder, falls doch, nichts darüber erzählt. Natürlich wusste sie alles, weil die Abrechnungen auf ihrem Schreibtisch landeten. Alles, was sich an männlicher Verkommenheit in den Zettelbergen fand: Abstecher in den Puff, Rechnungen für Tripperbehandlungen,
hard-core-Dienstleistungen aller Art. Alles ging über ihren Tisch, begleitet von Ausreden und Lügen. Charlie hatte es selbst ein paarmal versucht, aber es nicht geschafft, sie zu täuschen. Mit ausdrucksloser Miene hörte sie ihm zu und schob dann zwei seiner Formulare zurück, damit er sah, dass sie von seinen Schurkereien alles andere als beeindruckt war. Sie wurden Freunde, ohne dass er sich hätte erinnern können, wann. Langsam, über die Jahre. Er setzte sich auf den Rand ihres Tischs, brachte ihr einen Becher Kaffee aus dem Automaten und unterhielt sich mit ihr, gewöhnte sich an die Art, wie sie zuhörte, aufmerksam und unvoreingenommen. Immer schien sie zu wissen, worauf er hinauswollte, lange bevor er auf den Punkt kam. Er erzählte ihr von seinen Aufträgen, und weil sie Flüge und Hotels gebucht und sich um die Kontaktleute gekümmert hatte, wusste sie Bescheid. Sie wusste, wo man in Peschawar oder Luanda eine anständige Kamera erstehen konnte, und einmal hatte sie ein Flugzeug gechartert, um ihn aus Kigali rauszuholen, als niemand mehr dort landete. Ihre Fähigkeiten waren etwas, worauf er sich draußen im Feld verließ. Man konnte ihr rasch seine Geschichte erzählen, sie brauchte kaum Erklärungen. So hatte sich eine Art Komplizenschaft entwickelt. Auf den Job beschränkt, wie ihm jetzt bewusst wurde, denn weder erzählte er von Zuhause, noch gab sie je auch nur das kleinste Detail ihres Privatlebens preis. Das einzige Mal, als er sich ein wenig in diese Richtung vorwagte und fragte, was sie am Wochenende machen würde, sah sie ihn über ihre Brille hinweg an und sagte: »Das geht dich gar nichts an.« Und dann warf sie ihn raus, weil sie zu arbeiten hatte. »Papier, Papier, Papier«, sagte sie. »Raus hier, Charlie. Ich hab zu tun.« Dann kam der Tag, als er von der Beerdigung in den Staaten zurückkehrte. Sie sprach ihn auf dem Flur an und meinte, er sehe nicht gerade gut aus. Er ging in ihr Büro, ließ sich auf den
Stuhl vor ihrem Schreibtisch fallen und erzählte ihr von seinem Vater, Leutnant in einem Ingenieurskorps der Armee, aus Des Moines, gut eins neunzig groß, der 1945 das Kriegsgefangenenlager in Wiesbaden befreit hatte, in dem Mika interniert gewesen war. Er nahm Mika mit nach Dedham, Massachusetts, wo er eine Amerikanerin aus ihr machte und ihr das Gefühl gab, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, bis Mika ihn an jenem Sonntagmorgen tot neben seiner Werkbank auf dem Garagenboden fand, Herzschlag mit dreiundsechzig. Jede Schraubzwinge, jeder Steckschlüssel, jeder Kreuzschlitz noch an seinem Platz an der Wand. Wenn Charlie heute darüber nachdachte, war Franks Tod der Beginn einer schlimmen Zeit gewesen, denn Mika hatte vierzig Jahre lang beschützt wie ein junger Vogel im Nest gelebt. Als er nicht mehr da war, hörte auch sie auf zu existieren. Weshalb ihr Sohn, Charles Johnson, der wie sein Vater in den Krieg zog und sich auf seine Kraft verließ, wie sie es getan hatte, jetzt in Ettas Büro saß und mit den Tränen kämpfte. Man konnte die Tatsache, dass sie in diesem Hotel zusammen waren, mit jenem Bekenntnis erklären, dachte er, nur sollte man nicht übertreiben. Abgesehen von diesem einen Mal, als er über den Tod seiner beiden Eltern gesprochen hatte, war es zu keinen großen Geständnissen mehr gekommen. Da war eine Menge, das sie nicht wusste, zum Beispiel, warum er nach der Entlassung aus dem Marinelazarett sie und nicht seine Frau angerufen hatte. Doch er wusste auch keine Antwort darauf. Und jetzt saßen sie hier in diesem Hotel und warteten darauf, dass sich ihnen der Grund offenbarte. Und dann würde er entweder in sein Leben zurückkehren oder es einfach hinschmeißen. »Du bist unten im Keller, Charlie«, sagte sie. Der Trupp kam nicht ins Haus, da sowieso noch nicht. Das gepanzerte Fahrzeug bewegte sich langsam voran. Seine
Ketten machten ein Geräusch wie heiße Kohlen, die durch einen Rost fielen. Niemand rührte sich, nicht im Keller, nicht im Haus über ihnen. Stundenlang ging das so. Sie saßen nur da. Irgendwann trat irgendwer zum Pinkeln an den Zwiebelhaufen. Der Gestank, der dabei aus dem Dreck aufstieg, war kaum auszuhalten. Ein Mann konnte aus Rastlosigkeit sterben. Zu glauben, man könne die Warterei kontrollieren – das war der Weg, sich kaputt zu machen. An diesem Tag lernte er von Jacek, wie man wartete: indem man sich an einen besonderen Ort polnischkatholischer, wachsamer Reglosigkeit begab, beobachtete, wie die Sonne von einer Seite des schmutzigen Fensters zur anderen wanderte, wie die Grashalme draußen einer nach dem anderen im Sonnenlicht aufflammten. Aber dann verließen die Leute das Haus. Durch das Kellerfenster konnte Charlie einen alten Mann und eine Frau sehen, die seine Tochter sein musste. Die beiden arbeiteten im Gemüsebeet. Die Patrouille kam zweimal vorbei. Wenn der alte Mann und die Frau da draußen waren, um von den Fremden in ihrem Keller abzulenken, machten sie das gut. Wenn sie sie verraten wollten, machten sie das ebenfalls gut. Charlie hatte keine Ahnung, was passieren würde. Das Licht nahm langsam ab, und die Dunkelheit, in deren Schutz man fliehen konnte, zog herauf, als Benny sein Funkgerät einschaltete und sein »Bitte kommen!« hineinwisperte. Jacek lehnte den Kopf an die Kellerwand und schloss die Augen. »Idiot«, flüsterte er. Genau. Als würden die Patrouillen nicht sämtliche Frequenzen überwachen. Dann kam eine kratzige Antwort, leise, aber klar. Das bedeutete, dass sie los mussten, denn die Patrouillen würden dahin kommen, wo sie Bennys Signal angepeilt hatten. Benny ging zuerst, winkte sie aus dem Keller herauf und bedeutete ihnen zu rennen. Sie eilten den kurzen Durchgang
entlang ins Freie, überquerten die Dorfstraße und verschwanden zwischen den Bäumen auf der anderen Seite. Als sie den Wald erreichten, drehte sich Charlie um und sah zurück: Aus dem Fenster des Hauses blickte jemand zu ihnen herüber. »Wir hätten sie nicht zurücklassen dürfen.« »Es ging zu schnell«, sagte sie. Sie war nicht da, um ihn freizusprechen. Aber er überwand den Wunsch, sie zurechtzuweisen, weil er begriff, dass nicht sie es war, der es um Absolution ging, sondern ihm. Benny hatte sich nicht ganz verlaufen, nur um etwa fünfhundert Meter. Sie fanden den Kommandostand der Rebellen auf dem ersten Grat zwischen den Kiefern, in Sichtweite des Hauses. Wobei »Kommandoposten« lächerlich klang: Es war nichts weiter als ein gut getarntes Loch, das man für eine Tierfalle hätte halten können. Es waren drei, Dorfburschen, sehr jung und nicht unbedingt Vertrauen einflößend. Sie hatten ihre Gesichter geschwärzt, sodass sie im Dämmerlicht des Waldes wie echte Killer aussahen. Charlie erkannte Schnellfeuerwaffen, Zastovos, panzerbrechende Granaten und Munition in Ladestreifen. Jacek war glücklich, eine neue Kassette einlegen zu können. Charlie gab atemlos einen Kommentar in die Kamera in der Erdkuhle, versuchte gerade so laut zu sprechen, dass man ihn verstand, ohne dass sonst jemand aufmerksam wurde, die rotgeränderten Augen der Kämpfer im Hintergrund gerade noch erkennbar. »Sieht nach was aus«, sagte Jacek, nachdem er sich die Sequenz noch mal angeschaut hatte; doch Charlie wusste, dass es nichts Besonderes war. Die Kamera ließ alles flacher erscheinen, sog die Gefahr aus jedem Augenblick. Aber Gefahr oder nicht, für den Job war’s gut. Charlie hatte einen Streifen im Kasten, der bewies, dass die Rebellentrupps nach wie vor kaum vier Kilometer von der Grenze entfernt aktiv waren. Und die
Zwanzig-und-noch-was-Alten dösten in der American Bar. Alles, was sie jetzt noch zu tun hatten, war, das Material zurück auf die Anhöhe zu schaffen, das Satellitentelefon im Jeep zu erreichen und das Material weiterzubeamen. »Damit Shandler dir auf dem Flur begegnen und sein so bedeutsames Nicken zuteil werden lassen konnte«, sagte Etta. »Scheiß auf Shandler und sein bedeutsames Nicken«, sagte Charlie. Er rutschte langsam nach unten, um den Kopf in ihren Schoß zu legen. Sie spielte nicht mit seinem Haar, streichelte ihm nicht das Kinn und fuhr auch nicht über seine Brauen. Sie ließ ihn in ihrem Schoß ruhen, das war alles. Von Zeit zu Zeit steckte sie ihm eine Zigarette zwischen die Lippen. Seine Handflächen schmerzten, und wenn er sie gegeneinander reiben wollte, hielt sie ihn davon ab. »Sie haben Glück gehabt«, hatte der Arzt gesagt. »Hätten Sie ein paar Millimeter mehr verloren, wäre es ernst geworden.« Eine halbe Sekunde mehr. Die erschreckende Wertlosigkeit des Glücks. Etta fragte, ob er Jaceks Material gesehen habe. Er schüttelte den Kopf. Es gab einen Fernseher im Zimmer, aber er wollte den Wettlauf nicht verfolgen. Santini war wahrscheinlich in diesem Moment dort unten. Blut lockte die Fliegen an. Sie dachten, alles würde sich fügen, zu dritt mit den Dorfburschen in der Erdkuhle hockend, noch eine halbe Stunde, und die Dunkelheit würde ihre Flucht den Pfad hinauf verbergen. Ihre Naivität versetzte ihn noch im Nachhinein in Erstaunen. Nach fast dreißig Jahren im Geschäft: Wie oft hatte man auf ihn geschossen? Wie oft hatten er und Jacek die Nase über eine Mauer gereckt und hin und her überlegt: Sollen wir weg? Oder bleiben? Wie geht’s weiter? Wie weit ist es bis zu der Mauer da drüben? Alles hing von solchen Entscheidungen ab. Süchtig machte es nicht. Das sagten nur Leute, die keine
Ahnung hatten. Es fühlte sich nicht an wie eine Sucht, nicht verrückt oder unkontrollierbar. Es ging um die Überzeugung, die einem eine gewisse Art von Erfahrung gab, oder zumindest um das, was er fühlte, wenn er und Jacek gemeinsam ein Risiko abschätzten. Sie wussten es einfach. Wussten es verflucht noch mal einfach. Wenn sie irgendwas in Rausch versetzte, dann war es dieses Wissen. Die Erfahrung zweier alter Jäger, die immer zusammen auf die Pirsch gegangen waren. Jacek gehörte dazu: sein Gang, seine lange Nase, seine Wachsamkeit, die Art, wie er den Kopf reckte, wenn er zuhörte. Aber all dieses Selbstvertrauen, all dieses Wissen hatte sich in Nichts aufgelöst. Von jetzt an würde Charlie nie mehr ganz sicher sein. Noch zitterten seine Hände nicht. Aber bald. Da war er sich sicher. Alle alten Säcke fingen früher oder später an zu zittern. Jetzt war er dran. Bei Sonnenuntergang machten sie sich auf den Weg. Es waren etwa zwei Stunden bis zur Anhöhe, aber sie kamen nur hundert Meter voran, bevor sie sich erneut verstecken mussten. Das Schießen begann, und sie dachten, dass man sie unter Feuer genommen hätte. Das dachte man immer. Aber nein. Nichts schlug durch die Bäume. Sie waren absolut sicher. Es war unten im Dorf. Die Panzerfahrzeuge, vier an der Zahl, waren zurückgekommen. Die Soldaten traten die Türen ein, zerrten die Männer heraus auf die Straße, während andere brennende Fackeln hineinwarfen. Jacek und Charlie beobachteten zwischen den Bäumen hindurch, wie das erste Fahrzeug klirrend vor dem Haus stoppte, in dem sie sich versteckt hatten. Das drehbare Geschütz schwenkte über die weißen Wände, das rote Schieferdach, den Garten, in dem die Frau und der Mann ihre Frühlingssaat ausgebracht und sogar eine Blechdose an einen Stecken gebunden hatten, um die Vögel zu verscheuchen.
Drei Soldaten in blau-schwarzen Gefechtsanzügen betraten das Haus, und wenig später hörte man dreihundert Meter entfernt im Schutz der Kiefern Holz bersten, Glas splittern und einen Schrei, obwohl durch die Wände gedämpft, so klar, so durchdringend, so verloren. Du hast das Gesicht im Schmutz vergraben, die Hände auf die Ohren gepresst. Als Charlie aufsah, stieg ein vierter Mann im Kampfanzug aus dem Panzerfahrzeug und trug einen Kanister zur Tür. Die Dorfburschen in der Kuhle hätten das Feuer eröffnen können, das wäre das Mindeste gewesen, was sie hätten tun können, aber damit wären sie selbst zum Ziel geworden, ohne dass sie den Halbkettenfahrzeugen gewachsen gewesen wären. Also saßen sie nur da, fassungslos wie Charlie und Jacek. Da war die Frau bereits auf der Straße und lief schreiend auf den Anführer zu. Charlie wanderte im Hotelzimmer auf und ab, das Badetuch war ihm von den Hüften gerutscht. Bis auf die Verbände an den Händen war er nackt. Kümmerte sich nicht darum, ob er lächerlich aussah, war wieder da draußen, tatsächlich wieder da draußen, mit dieser Geschichte in sich drin, die herausgezogen werden musste wie ein schmutziger Splitter. Sie beobachtete ihn vom Bett aus. Einer vom Trupp kippte Benzin aus einem Kanister über Türstöcke und Fenster, den Gartenzaun, die Pflanzen und den grasbewachsenen Weg zur Tür. Sie schrie den Anführer an, die Fäuste erhoben, als das Benzin auf sie niederging, und sein Feuerzeug ihren Rücken berührte. Zusammen mit ihrem Haus ging sie in Flammen auf, ein orangeschwarzer Spinnaker, in den der Wind griff. Jacek setzte die Kamera in Gang, formte, den Blick durch den Sucher gerichtet, mit den Lippen polnische Gebete. Sie kam über die Straße in ihre Richtung gerannt. Der Anführer sah ihr nach und verwehrte ihr die Gnade der
Henkerskugel. Dann kletterte er in sein Fahrzeug, stieß hart zurück und wendete, um die Operation zu beenden. Das war der Punkt, an dem deine Lähmung durch die Angst aufhörte. Du stürmtest aus der Deckung und liefst auf die Straße. Sie rannte, und ihre Arme waren wie Feuerflügel, rannte in dich hinein, eine Umarmung aus Flammen – und dann wart ihr beide auf dem Boden, rolltet durch den Schmutz der Straße. Zehn Minuten vielleicht, um wegzulaufen, bevor die Patrouille zurückkam. Die Dorfburschen gaben vielleicht Feuerschutz, vielleicht auch nicht. Du erinnerst dich, wie du sie hochgezogen, aufgesetzt, wie du deine und dann ihre Hände betrachtet hast, die Beine und der untere Teil des Körpers intakt, aber Schultern und Oberarme verkohlt, und diese schreckliche Wunde quer über ihren Rücken. Jacek holte seine Wasserflasche heraus und leerte sie über ihre Schultern aus. Sie schrie auf. Allein Jaceks Instinkt konntest du vertrauen. Benny zitterte und sprach mit sich selbst, Jacek sagte ihm, er solle ihr aufhelfen, falls sie laufen könne – was ging –, und sie in den Schutz der Bäume bringen. Sie sah nicht zurück zu ihrem brennenden Haus. Ihr Vater war noch drin, aber es war zu spät. Er erinnerte sich, dass Jacek Benny bei den Schultern gepackt, ihn geschüttelt und gesagt hatte: »Wir nehmen sie mit.« Und als Benny erwiderte, das könnten sie nicht, kam ein knappes »Shut up!« Sie flößten ihr Wasser ein und schütteten es ihr über den Rücken. Sie sagte nichts, schien nichts zu fühlen und fiel zu Boden. Benny und Jacek hoben sie auf und trugen sie den Großteil des Wegs. Und dann lief sie zu ihrem Erstaunen voraus, wie besessen, den letzten Kilometer bis zum Rand der Anhöhe, wo sie, endlich in Sicherheit, erneut zusammenbrach. Hinter ihnen kam Charlie, stolpernd, fallend, sich an den Bäumen abstützend, aufschreiend, wenn seine
versengten Hände über Rinde schrammten. Und den ganzen Weg über hatten sie nur einen Gedanken: Alles kommt in Ordnung, wenn wir sie nur auf die andere Seite bringen. Und dann: Alles kommt in Ordnung, wenn wir sie erst im Chopper haben. Und dann: Alles kommt in Ordnung, wenn… Er stand mitten im Hotelzimmer und betrachtete seine Hände. Durch die Fenster drang schwaches Licht und das Geräusch des Regens. »Was mache ich hier?« Er weinte, voller Schmach, nackt, die nutzlosen Hände auf und nieder bewegend, als glaubte er, so dem Brennen Herr werden zu können. »Was mache ich?« Etta kam zu ihm, stellte sich vor ihn, öffnete ihren Bademantel. Er trat näher, sie umfing ihn, sagte nichts, hielt ihn einfach nur fest. Und er hielt sie, seine Handgelenke auf ihren Schultern, die verbundenen Hände ganz nah an ihrem Körper. So standen sie lange Zeit.
3
Er begann zu zittern und sie führte ihn zum Bett und deckte ihn zu, die verbundenen Hände flach auf seiner Brust. Sie ging ins Bad, und als sie ein paar Minuten später zurückkam, schlief er, den Mund geöffnet. Er wirkte alt und verletzlich. Sie legte sich neben ihn und betrachtete ihn, wie er schlief. Schlief dann selbst ein, wachte auf und küsste ihn. Die Nachttischlampe brannte noch, und sie sah, wie sich seine Augen öffneten, als sich ihre Lippen den seinen näherten. Er streckte den Arm nach ihr aus, aber sie lächelte sanft, schob seine Hand beiseite und sagte: »Lass mich.« Sie setzte sich rittlings auf ihn, hielt seine Hände auf den Kissen fest. Mit dem Ausdruck vertrauensvoller Offenheit in den Augen ließ er sich von ihr lieben. Sie waren beide erstaunt darüber, dass das so einfach ging nach allem, was geschehen war. Und als das bekannte, lustvolle Gefühl in ihr aufstieg, schien es Etta, als würden sich die regennasse Nacht und die Enge des Zimmers in die Möglichkeit einer gemeinsamen Zukunft weiten. Sie kannte sich aus mit der Hoffnung und wusste, wie man sie zügelte, aber in diesem Moment war sie verlockend. Als Charlie ein paar Stunden später aufwachte, saß sie im Sessel auf der anderen Seite des Zimmers, hielt eine Tasse Tee in den Händen und blickte aus dem Fenster. Er lag da und betrachtete sie. Der Geruch ihres Körpers war auf seiner Haut und in den Laken. Er glaubte immer, dass Männer so dachten wie er. Bei Jacek war es so. Aber Etta war eine Frau, und da wusste man nicht so recht. Er dachte, wie zum Teufel soll das jetzt weitergehen? – Sie nicht. Sie kam zu ihm, setzte sich
seitlich aufs Bett und gab ihm etwas von ihrem Tee zu trinken. Als er vollkommen wach zu sein schien, fragte sie: »Wie hast du sie zurückgelassen?« Auf einem Tisch im Behandlungszelt, ungeschützt, allein, entblößt. Dann runtergerollt von dem Tisch in einen Leichensack und dann… Himmel Herrgott. Er griff nach dem Telefon, aber sie war schneller, wählte die Nummer des Lazaretts und hielt den Hörer an sein Ohr, während er sich aufsetzte. Die männliche Stimme in der Vermittlung des Lazaretts der 6. Marinedivision erklärte Charlie, dass die weibliche Zivilistin, da sie keine Verwandten gehabt habe, verbrannt worden sei. Eingeäschert, verbesserte er sich. Und die Asche? Charlie wollte es wissen. Das seien betriebliche Details. Charlie sagte, dass das keine gottverdammten betrieblichen Details seien. »Die Frau war…«, und hier zögerte er, wägte die Alternativen ab – ich bin mit ihr verwandt, sie war eine Freundin und so weiter – und entschied sich für: »Ich war bei ihr, als sie starb«, obwohl auch das nicht stimmte. Der Mann sagte, er verstehe, Sir, und es tue ihm Leid, aber er könne nichts daran ändern, denn die Asche sei schon beseitigt worden. Da verlor Charlie die Fassung. Er begann zu brüllen, das sei verflucht noch mal nicht der Punkt, der verfluchte Punkt sei – worauf Etta den Hörer auflegte. Charlie lief im Hotelzimmer auf und ab, schrie, dass sie nicht mal ihre Asche und ihr Eigentum aufbewahrt hätten; was immer da gewesen sei: ein verkohltes Kleid, ein Schuh, möglicherweise ein Ohrring oder ein Ring, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, ob sie irgendwelchen Schmuck getragen hatte. Etta sagte, sie bezweifle, dass da irgendwas gewesen sei, aber Charlie schien nicht zuzuhören. Er steigerte sich in einen Wutausbruch hinein, und sie wusste, wie der aussah. Als Shandler ihm mitgeteilt hatte, dass sie jemand
anderen und nicht ihn nach Kabul schicken würden, war er zurück in sein Büro gestürmt, hatte eine volle Flasche Perrier gepackt und sie gegen das Dartboard auf der Rückseite seiner Tür geschleudert. Darauf kam sie, blieb in der Tür stehen und sagte, er solle aufhören, sich wie ein Kind zu benehmen. Er brach in Gelächter aus und schoss die Scherben vor seinen Füßen in ihre Richtung. Jetzt lief er durch den Raum und wetterte gegen die schreckliche Gleichgültigkeit des modernen Lebens – gegen die schwarzen Plastik-Leichensäcke, Industrieöfen, um Menschen zu verbrennen, Spülbecken aus rostfreiem Stahl, Gummihandschuhe, die ganze Höllenmaschinerie, die ein menschliches Wesen auf ein Nichts reduziere –, als sie ihm sagte, er solle sich anziehen und aufhören zu reden. Er gehorchte schweigend, fühlte sich, als hätte man ihn gerade geohrfeigt. Sie legte ihm ein Hemd über die Schultern, zog seine Hände durch die Ärmel und machte die Knöpfe zu. Während sie ihm Unterhose und Hose reichte und ihn beim Ankleiden stützte, lächelte sie ihm aufmunternd zu und versuchte, ihn an das Glück der Nacht zu erinnern, das sie bewahren sollten. An seinem schweren, zähen Blick jedoch konnte sie erkennen, dass er anderswo war. Er sah, wie die Frau hinter den beiden zwillingsartigen Plastiktüren am Ende des Zeltkorridors verschwand, wo die Chirurgen arbeiteten. Sie war nicht wieder herausgekommen, und heute, am Tag danach, begriff er – und das sagte er mit absurdem Nachdruck –, dass er ihr kein ordentliches christliches Begräbnis verschafft hatte. Wobei, fügte Etta ruhig hinzu, sie keine Christin war, und sie kannten noch nicht mal ihren Namen. Als Etta ihm den Mantel um die Schultern legte und ihn hinaus in die regengewaschene Aprilluft führte, kam er sich vor wie ein rekonvaleszenter Wahnsinniger. Er beugte sich ihr mit dumpfer, gezeichneter Würde und folgte ihr in ein
schwermütiges Cafe, wo sie einen Kaffee bestellten. Er saß in einer Ecknische und starrte durch die schmutzigen Fenster auf die Leute draußen. Sie holte die Antibiotika und Schmerztabletten von der Navy aus ihrer Tasche, zählte je eine in ihre Hand und gab sie ihm mit dem Kaffee zum Schlucken. Er ertappte sich bei dem Gedanken, was Annie um diese Zeit wohl machte. Die Zeitverschiebung eingerechnet, waren sie wahrscheinlich gerade in der Morgenandacht, wobei, weil er nie dagewesen war – er war keiner dieser perfekten Väter – wusste er nicht, wie die Aula, in der die Andacht abgehalten wurde, aussehen mochte. Er glaubte sich daran zu erinnern, sie sagen zu hören, dass sie beteten. »Was für Gebete?«, hatte er sie gefragt. Und Annie hatte mit der Stimme, mit der sie die dümmeren Fragen ihres Vaters beantwortete, erwidert, dass es um Gott gehe und die Menschen zu lieben und so weiter. Der Gedanke an Annie erfüllte ihn mit einem Gefühl von Schwerelosigkeit, als befreie ihn jemand von allem. Er wollte Etta davon erzählen. Sollte das Gefühl, Vater zu sein, einen nicht in dieser Welt verwurzeln, einem die Sicherheit geben, zu jemandem zu gehören? Seine Frage, ob sie Kinder hätte, verneinte Etta. »Warum nicht?«, fragte Charlie, und sie sagte, es sei einfach nicht dazu gekommen. Den deutschen Geschäftsmann, der sie mit neunzehn aus ihrem kleinen Ort geholt hatte, habe sie nicht heiraten wollen, und auch nicht den später, der sie nach London und schließlich in Charlies Büro gebracht hatte. Aber da war sie längst wieder allein. »Vermisst du es?«, fragte Charlie, und sie antwortete: »Vermissen? Was?«, als wollte sie sagen, dass Kinder zu haben keine besondere Bedeutung hatte, dass es nicht die Lösung für irgendwas sein konnte, einen schon gar nicht in der Welt verankerte und sich in ihr zu Hause fühlen ließ. Sie sprach nicht alle Gedanken aus, aber doch genug, und Charlie sagte
düster, dass er ihr schon bald ihre Weisheit übel nehmen werde. »Gott«, sagte sie, »hast du ein Talent zum Miesmachen.« Sie ärgerte sich, dass er drauf und dran war, ihr kleines Glück zunichte zu machen. Aber er sah so deprimiert aus, als sie das sagte, dass sie seine Handrücken berührte und sie leicht drückte, als wollte sie ihn daran hindern, noch tiefer zu sinken. Sie zog ihn an den Ellbogen hoch und hinaus auf die Straße, hakte sich bei ihm unter und versuchte ihn aufzumuntern. »Wohin führst du mich?«, wollte er wissen. »Bist du schon mal hier gewesen?« War sie nicht, aber sie wusste, wonach sie suchte. Sie fanden das Einkaufsviertel. Sie führte ihn mit einer Zielsicherheit, die darüber hinwegtäuschen sollte, dass sie sich verlaufen hatte. »Wohin führst du mich?«, fragte er wieder, gereizt. »Wir müssen etwas für sie tun«, antwortete sie. Die Kirche, die sie entdeckte, war ein dunkler, heruntergekommener Ort, wo der Putz von den Wänden blätterte und sich offenbar nur Mäuse, Fledermäuse und alte Frauen aufhielten, die zwischen den Kerzenständern und Heiligenbildern hin und her gingen und herabgebrannte Kerzen mit den Fingern löschten. »Bist du religiös?«, fragte er. Die heilige Agnes, Cäcilia und Katharina starrten Charlie von feuchten Wänden an. Er hatte das dringende Bedürfnis, diesem Ort zu entfliehen und eine Kneipe aufzusuchen, aber sie hielt ihn am Arm fest. Sie gingen zu einer Alten, die bei den Kerzenständern vor sich hin döste, kauften zwei Kerzen und trugen sie zu einer der Nischen. Die Luft war schwer vom Geruch des Wachses, von Ruß und Feuchtigkeit. Sie zündete die Kerzen an und setzte sich auf einen wackligen Stuhl. Er tat es ihr gleich, und beide betrachteten die flackernden Kerzen, die größer waren als die anderen. All das – auch wenn sie es verdrängte – rührte irgendwo aus ihrer Vergangenheit. Er fand
es gut, dass ihr Instinkt sie hierher zurückgebracht hatte. Natürlich war es sentimental, sich mit Dingen zu trösten, an die man nicht glaubte, obwohl sie ihn nicht wirklich trösteten. Doch er hatte wieder eine Schicht ihres Wesens aufgedeckt. Der innere Aufruhr ließ nach. Er saß neben ihr und spürte, wie stumme Trauer in ihm hochkroch. Eine Kerze war für sie, die Frau, die er hatte retten wollen, was ihm jedoch nicht gelungen war, die Frau, die niemals hätte sterben sollen, aber starb. Für wen war die andere Kerze? Ein Robert-Johnson-Blues stahl sich in seinen Kopf, und er sah zwei Lichter am letzten Waggon eines Güterzugs, weit weg auf dem Gleis: The blue light was my baby And the red light was my mind. Auf der Straße vor der Kirche sagte sie ihm, dass sie ihn mit zurück nach London nehmen werde. »Ich brauche also Begleitung?« »Sieh dich an«, sagte sie. »Wie?«, fragte er mit einem boshaften Lächeln, drehte sich im Kreis auf der Straße, die Arme ausgestreckt. Passanten schoben sich an ihm vorbei und sahen ihn mit unbeteiligter Neugier an. »Dann sag ich’s dir«, antwortete sie. »Du siehst halb tot aus und brauchst eine Woche zuhause im Bett.« »Kein Interesse. Wie wär’s mit was zu trinken?« Charlie sah sich um nach einer Kneipe, der Blick leer und rastlos zugleich. »Ich fliege heute, und du auch«, sagte sie. »Flieg ohne mich«, erwiderte er und sah ihr ins Gesicht. Sie wollte ihn nach Hause holen. Er war nicht in der Verfassung für einen Bummel und sie nicht hier für ein Abenteuer. Es war keine Frage von Moral, was scherten sie
seine Frau und sein Kind, sie wollte nur nicht gemeinsam mit ihm in Verrücktheit verfallen und alles nur noch schlimmer machen. Als sie ihn jetzt so ansah, da auf der Straße, ein wenig abgerissen und mürrisch, wusste sie, dass sie genug hatte. Wenn er so war wie jetzt, mit dieser Härte im Blick, konnte ihn nichts davon abhalten, alles zur Seite zu schieben, auch die Fäden, die sie in der Nacht zwischen sich geknüpft hatten – ein Mann, der sich ein Spinnennetz aus dem Gesicht wischte. »Ich ertrage dich so nicht«, sagte sie. »Wie? So?« »Auf der Suche nach einer Möglichkeit, dich noch mehr zu verletzen«, sagte sie. »Etta.« Er versuchte, ihre Hände zu ergreifen, aber sie entzog sie ihm. Er versuchte es wieder. »Bleib.« »Fahr nach Hause, Charlie. Zu deinem Kind. Deiner Frau. Komm wieder zu dir, dann sehen wir weiter. Du gehörst ins Bett, und ich will nicht die Krankenschwester spielen.« »Ich will keine Krankenschwester.« »Doch, wolltest du, und jetzt weißt du plötzlich nicht mehr, was du willst, und ich kann dir nicht mehr helfen.« Sie öffnete ihre Brieftasche, nahm seine Pillen heraus und steckte sie ihm in die Taschen seines Mantels. »Nun komm schon, Schatz.« Sie schüttelte den Kopf und wandte sich rasch ab. Er sah ihr nach, bis sie hinter einer Ecke verschwand. Das ging schnell, dachte er. Sie war die Effizienz in Person und ganz bestimmt nicht sein Schatz. Er kippte ein paar selbst gebrannte Pflaumenschnäpse in der nächsten Kneipe, und als er zurück ins Hotel kam, hatte sie bereits ausgecheckt. Er saß auf dem ungemachten Bett, fühlte sich erbärmlich und hasste sich dafür. Sie hätte eine Nachricht zurücklassen müssen, dachte er säuerlich. Das tut man einfach.
Er sah unter den Kissen nach und zog die Schubladen des Nachttischs heraus. Seine Hände schmerzten, als er auch noch die Bibel ausschüttelte. Keine Nachricht. Einen Augenblick lang saß er still da und spürte seiner schlechten Laune nach, überlegte, wer ihm die Verbände wechseln würde. Das Telefon klingelte zwanzigmal, bevor Jacek abhob. »Ich hab die Tiere gefüttert«, sagte er. »Sie hat es nicht überlebt«, sagte Charlie. »Ich weiß.« »Was zum Teufel haben wir uns bloß gedacht?« »Keine Ahnung.« »Wie bist du zurückgekommen?« »Gefahren.« Nördlich die Küste hinauf, Charlie wusste, wo sie den Jeep zurückgegeben hatten, und dann mit dem Flugzeug nach Hause. »Und Benny?« »Hör mir auf mit Benny.« Als Charlie fragte, ob er kommen und ein paar Tage bleiben könne, sagte Jacek, da müsse er erst mit Magda reden. Der Hörer wurde hingelegt, und Charlie lauschte der Stille in Jaceks Welt. Dann nahm er ihn wieder auf und sagte, Magda denke, er solle erst nach Hause zu Elizabeth. Elizabeth. Ihr Name klang kalt und klärend. Im Geist sah er jene vertraute Geste, betrachtete sie aus der Distanz, als ob das alles nichts mit ihm zu tun hätte, wie sie ihr Haar aus dem Gesicht schob, wenn sie die Flöte nahm, wie sie den Blick auf die Noten richtete und zu spielen begann. Sie sah immer nur die Noten, nicht ihn, niemals ihn. Sie hatte nur Augen für die Musik – ein trüber, selbstmitleidiger Gedanke, aber so war es. Wie konnte er Elizabeth erklären, was geschehen war? Wie um Himmels willen sollte sie das begreifen? Sie war eine gute Frau und auch zärtlich gewesen, und er hatte keinerlei Grund zu verbreiten, dass sie ihn nicht verstehe und ihn
vernachlässige oder worüber sonst sich andere Männer beklagten. Er konnte sich nicht beschweren. Es war nur so, dass er Zuflucht suchte, und das Merkwürdige an seinem Zuhause war, dass es ihm nie Zuflucht gewährt hatte. Charlie war beeindruckt von seinem Gedankengang, als hätte sich ein Rätsel seines einstigen Lebens endlich geklärt. »Komm schon, Jacek. Lass mich die Schweine füttern«, sagte er. »Dann fahr ich nach Hause. Versprochen.« »Fahr erst nach Hause, Charlie. Magda hat Recht.« »Alle sagen, ich soll nach Hause. Warum nur?«, fragte Charlie. Jacek machte sich nie die Mühe, Charlies rhetorische Fragen zu beantworten. Das war mit das Beste an ihrer Freundschaft. Und wenn Charlie etwas wirklich wollte, war es sowieso reine Zeitverschwendung, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Also sagte Jacek, sie könnten zusammen die Schweine füttern. Auf dem Flughafen behandelten ihn alle freundlich. Weil seine Hände verbunden waren. Die Leute hielten ihm die Türen auf, trugen seine Umhängetasche. So sollte man es öfter machen, dachte er, nur dass seine Hände jetzt schmerzten und er am liebsten den Verband heruntergerissen hätte. Es gab nur zwei internationale Gates, und der Flug nach London war noch nicht geschlossen, und so fand er sich plötzlich in Richtung des London-Flugs laufen. Doch Etta stand nicht in der Schlange, sie musste bereits auf ihrem Platz sitzen. Er konnte sie nicht zurückrufen, und überhaupt wusste er nicht, was er hätte sagen sollen. Also stand er hinter der Scheibe und beobachtete, wie das Flugzeug langsam auf die Startbahn rollte. Zu winken wäre dumm gewesen, aber genau das hätte er gern getan. Sein Flug war ausgebucht. Sie hatten ihn auf einen Mittelplatz gezwängt. Neben ihm saß ein Mädchen, das einen scharfen Geruch verströmte, auf dem Fensterplatz eine alte Frau, die döste. Das Mädchen schenkte ihm den Wodka ein,
weil er mit den drei kleinen Flaschen, die er hatte bezahlen müssen, nicht zurechtkam. Sie lächelte ihn an, aber sie konnten sich nicht verständigen, und so blieb Charlie nur sein Wodka als Gesellschaft, die Ellbogen an den Körper gepresst und die Knie in den Sitz vor ihm gedrückt, während sich die Rückenlehne in seinen fünften Nackenwirbel bohrte. Dass es der fünfte war, wusste er, weil ein Arzt ihn zwanzig Jahre zuvor operiert hatte. Die Narbe bewies es – übrigens die einzige Narbe, die sein Körper aufwies. In einem Leichenschauhaus wäre sie genau das, was ein Ermittler ein besonderes Kennzeichen nennen würde. Damit wäre er wahrscheinlich identifizierbar, sollte der Rest von ihm nicht mehr wieder zu erkennen sein. Das waren unangenehme Gedanken, aber ohne weiteren Wodka wurde er sie nicht los. Er musste eingenickt sein, denn als er die Augen wieder öffnete, standen links und rechts von ihm Tabletts mit Essen auf den Tischchen. Die Stewardess befand sich mit ihrem Wagen schon weiter hinten. Seine Wodkafläschchen waren weggeräumt worden, und er spürte den Schmerz in seinen Händen. Das Mädchen verspeiste zuerst ihren Salat und zog dann die Folie vom warmen Teil des Essens. Es war Rindfleisch mit einer Soße, das Fleisch rot, saftig und mit schwarzen Grillstreifen. Charlie schloss die Augen, aber der Geruch ließ ihn nicht wieder einschlafen. Das Flugzeug fing an zu rucken, und die Anschnallzeichen leuchteten auf. Der Fleischgeruch war überall. Er musste aufstehen. Jetzt. Sofort. Charlie versuchte über das Mädchen zu klettern, verzog das Gesicht, als seine Hände die Lehne ihres Sitzes packten, während sie einen Schrei ausstieß und ihr Tablett festhielt. Auf dem Gang teilten sie immer noch Essen aus. Er schob sich an ihnen vorbei. Eine der Stewardessen wollte ihn aufhalten und machte ihn auf die Anschnallzeichen aufmerksam. Aber er kümmerte sich nicht darum und erreichte sicher die hintere
Toilette, wo er sich einschloss und auf die Knie fiel. Und so wurde er in einem polnischen Passagierflugzeug, auf den Knien, die Klobrille mit den verbundenen Händen umklammernd und sich in die Schüssel erbrechend, während eine Stewardess von außen gegen die Tür hämmerte, zum ersten und nicht zum letzten Mal eingeholt vom Anblick und Geruch des verkohlten Fleisches auf dem Rücken der brennenden Frau.
4
Als er Jacek entdeckte, der beobachtete, wie er die Gangway herunterkam, wusste Charlie, dass er schrecklich aussehen musste. Aber Jacek, der Charlie schon öfter in so einem Zustand gesehen hatte, sagte nichts, nahm ihm nur die Tasche ab und ging mit ihm zum Wagen. Charlie hatte halb einen Saab erwartet, irgendwas Ausgefallenes, weil er annahm, dass all die Freiberufler-Dollars einen polnischen Millionär aus Jacek gemacht hätten, aber es war ein alter Lada, der nach Hund roch. Jacek holte die Scheibenwischer aus dem Handschuhfach und brachte sie an. Charlie fühlte sich wie in den Achtzigern, als er Jacek zum ersten Mal getroffen hatte. Dezember 1981 in Warschau. General Jaruzelski, der mit der gefährlich aussehenden dunklen Brille, hatte den Notstand erklärt. Charlie und seine Crew filmten, wie die Polizei Feuerwehrschläuche auf die Menge richtete. Der Wasserstrahl erfasste eine Frau, die aus einem Hauseingang kam, und begann sie im Kreis herumzuwirbeln. Es war fantastisches Material: die Frau, wie sie herumgewirbelt wurde, trief nass und wie unter Schock. Der Wasserstrahl riss ihr die Handtasche aus den Händen; dann schlug sie hin, sodass man ihre Beine, Strümpfe und Unterwäsche sehen konnte. Und der Mann am Schlauch fegte sie über den Bürgersteig, hin und her, wie ein Stück Müll Richtung Gosse. Fantastisches Material – das dachte er in dem Moment, die Unwürdigkeit der Situation erkannte er erst später, als sie es im Büro noch einmal sichteten. Er debattierte gerade darüber, wie viel näher seine Crew noch rangehen sollte, als er Jacek entdeckte, einen verschwommenen Umriss neben sich, einen Mann in einer
Lederjacke, der Bilder von der Frau machte, die da über den Bürgersteig rutschte, auf die Beine zu kommen versuchte und erneut umgeworfen wurde, während die durchnässte Menge hilflos zusah. Jacek arbeitete sich näher heran, und plötzlich hielt er eine Mülltonne hoch über dem Kopf und schleuderte sie auf den Mann am Schlauch, der voll von ihr erwischt wurde und rückwärts gegen den Tankwagen taumelte. Der Schlauch fiel zu Boden, und die Messingdüse schlug von einer Seite zur anderen. Während ein anderer Mann das Wasser abstellte, hatte die Frau Zeit, sich aufzurappeln und in der Menge zu verschwinden. Dann griff die Polizei von der anderen Seite des Platzes her an und sie packten Jacek, und alles, was Charlie sehen konnte, waren ihre Schlagstöcke, die auf Jacek nieder gingen. Als Charlie näher kam und die Schlägerei zu filmen begann, wandten sich die Knüppel auch in seine Richtung, und er fand sich mit einer Platzwunde am Kopf in einem Militärkrankenhaus wieder. Er versuchte sich zu rechtfertigen und wartete darauf, dass man ihn des Landes verwies. Aber erst nachdem er Jacek gesehen hatte, auf einer Rollbahre im selben Krankenhaus, mit seinen nassen Jeans und der Lederjacke, die Hände auf der Brust gefaltet wie eine mittelalterliche Grabskulptur, gelassen unter einem großen, blutigen weißen Verband dreinblickend. Jacek drehte sich zu Charlie und deutete mit einem Nicken an, dass er ihn erkannte, als sie ihn auch schon weiterschoben. Der Trick mit der Mülltonne brachte Jacek achtzehn Monate ein, und als Charlie ihn das nächste Mal bei der SolidarnoscVersammlung in einer Danziger Werft traf, waren neun Jahre vergangen. Jacek lehnte an der Rückwand des Versammlungsraums, achtete nicht auf die Rede – Reden interessierten ihn nie besonders –, sondern fotografierte die in Kittel gekleideten Werksfrauen, die den Wodka hereintrugen, ohne dass die Wortführer je Notiz von ihnen nahmen. Er war
ein guter Fotograf, trotzdem gelang es Charlie im Handumdrehen, ihn zu überreden, ins, wie er es nannte, Filmgeschäft einzusteigen. Von da an waren sie unzertrennlich: Slowenien im Sommer 1991; Novska und Pakrac, Oktober 1991; Sarajewo, Weihnachten 1992; Mostar, Sommer 1993. Dann Mogadischu, Luanda und Huambo, Kabul, alles aufgereiht in seinem Kopf wie die zahllosen Filmkassetten. Immer wieder Reisen in die Hölle, jedes Mal. Jacek schien die Dinge unter Kontrolle zu haben, indem er alles auf den kleinen schwarzen Rahmen seines Suchers begrenzt hielt. »Sieh«, war alles, was er meist nur sagte, wenn es schlimm wurde. »Sieh«, wenn er die Geschichte im Kasten hatte. Er machte eine Geste zur Kamera hin, und Charlie sah in die digitale Wirklichkeit und dachte: Ja, so wie Jacek es aufgenommen hat, kann ich damit umgehen. Sie hatten zusammen die Welt gesehen, allerdings zu sehr aus der Nähe, um zu begreifen, was das alles bedeutete. Manchmal fühlten sie sich wie Zuschauer eines brutalen Stücks. Natürlich wollten sie auf die Bühne und die Dinge stoppen. Doch diese Stücke ließen sich nicht stoppen. Das Schlimmste war, dass ihre Erfahrungen verblassten, die Kontur verloren, ein schlechtes Stück, das dem nächsten folgte. Alle sagten, sie hätten ein interessantes Leben. Das stimmte, und es war idiotisch, sich zu beklagen. Aber nach einer Weile wurde alles zu einer bloßen Abfolge von Aufträgen, einer Reihe Storys, die man erzählte, wenn man nach Hause kam, und die einen mit dem Gefühl zurückließen, dass man ihre Realität nicht mehr erkannte. »Wir leiden an zu viel Erfahrung«, sagte Jacek einmal. »Wir haben zu viel, um zu wissen, was wir damit machen sollen.« Das war der Grund, weshalb Jacek begann, einzelne Aufträge abzulehnen und auf seinen Hof mit den Schweinen zu verschwinden, wo ihn niemand erreichen konnte. Er überlegte sich weit besser als
Charlie, mit wem er sich einließ, und war alles in allem vernünftiger. Charlie dachte über all dies nach, als sie auf die vierspurige Straße einbogen und es zu regnen begann. Jacek sagte nichts. Große deutsche Sattelschlepper kamen ihnen entgegen und schwemmten den Regen mit einem Wummern über den Wagen, das ihn erzittern ließ. Er wusste nicht, wohin sie fuhren, nahm jedoch an, dass es der Hof war. Charlie schlief in seinem Mantel ein. Als sie ankamen, war es zu dunkel, um irgendwas zu erkennen. Sie rumpelten und kurvten über einen Feldweg. Die Scheinwerfer des Ladas tanzten über die Ränder dunkler, nasser Furchen. Es war alles neu für ihn, und ihm wurde bewusst, dass er Magda nie kennen gelernt hatte. Er war einfach davon ausgegangen, dass Jacek und sie ihn aufnehmen würden. Er verlangte den Leuten einiges ab, erst Etta und jetzt diesen beiden, und ihm gefiel nicht, was das über seinen Gemütszustand verriet, seine schreckliche Hilflosigkeit. Charlie wollte alles erklären, aber es war zu spät. Die Scheinwerfer erfassten die Scheune und das weiße Haus, und schon rollten sie über den Schotter vor die Haustür. Und dort, in dem offenen Durchgang, der nach hinten in die Küche führte, stand Jaceks Frau. Sie hatte ihr Haar hochgesteckt, trug Jeans und darüber etwas, das aussah wie eins von Jaceks karierten Hemden, und weiße Socken. Ihre Brille war ein Stück auf die Nase gerutscht. Sie hatte gekocht. Ende vierzig, schätzte er. Alles, was Jacek je über sie erzählt hatte, war, dass sie vom Übersetzen lebte und den Hof führte. Sie war, wie er es einmal philosophisch nannte, »das Prinzip meiner Existenz«. In dem Moment, als ihre Blicke sich trafen, fühlte Charlie sich schlecht. Sie musterte ihn genauso prüfend wie Etta, nur dass diese inzwischen schon zurück in London sein musste und ihn nicht
mehr würde sehen wollen. Charlie stand in der Küche, stumm vor Sehnsucht. Magda brachte Wodka. Sie tranken, während die Töpfe unter einem roten Licht neben ihnen auf dem Herd zischelten. Jacek sagte etwas auf Polnisch zu Magda, die daraufhin zu Charlie schaute, der mitgenommen aussah, unrasiert war. Ein Hemdzipfel hing ihm aus der Hose, und auf dem Hosenbein prangte ein Fleck von Erbrochenem. Sie sagte: »Da haben wir also einen Fall von post-traumatic stress disorder.« Sie betonte die Silben klar und mit einem ironischen Unterton, wie um sich von dieser amerikanischen Bezeichnung, wenn auch nicht ganz, so doch deutlich zu distanzieren. Charlie lächelte. »Ich sehe das nicht so«, sagte er. »Ich wollte nur einfach nicht nach Hause.« »Warum nicht?«, fragte sie. »Weil ich noch nicht so weit bin«, antwortete er. »Dann bringen wir Sie so weit«, sagte sie. Auf dieser Basis, das war zu sehen, konnte sie ihn bei sich aufnehmen, ohne seine Frau zu hintergehen. Charlie dachte, dass er für sein ungewöhnliches Einfühlungsvermögen in ethische Prinzipien bei Frauen Lob verdient hätte. Magda trank ihren Wodka aus und verschwand dann in einen anderen Raum, aus dem sie mit Verbandszeug, Pflaster und Desinfektionsmittel zurückkehrte. »Für Ihre Hände.« Er tastete seine Taschen ab, suchte nach etwas und begriff, dass er seine Navy-Pillen vergessen hatte. Da stand er also, die Person, die er manchmal spielte, aber eigentlich nicht mochte: der hilflose Kerl. Es dämmerte ihm, dass Etta wie gewohnt Recht gehabt hatte: Es ging ihm schlechter, als er gedacht hatte. Aber für Etta war es zu spät.
5
Magda schnitt den Verbandsmull von seinen Händen und untersuchte die Wunden sorgfältig im Licht über dem Küchentisch. Die Fingerkuppen und der untere Teil der Handflächen sahen am schlimmsten aus. Charlie betrachtete die rot umrandeten eiternden Stellen mit Desinteresse. Doch sie beugte sich darüber, roch daran und verzog das Gesicht. Sie hielt seine Hände mit festem Griff und reinigte jede einzelne Verletzung mit Desinfektionsmittel, das sie auf Q-Tips tropfte. Es tat weh, und er fühlte sich wie ein Kind, wie er ihr da gegenübersaß und sie so konzentriert arbeiten sah. Sie war eine gut aussehende Frau, dachte Charlie. Besonders ihr Nacken, vom Kragen des karierten Hemdes bis hinauf zum Haaransatz, gefiel ihm. Er verspürte den Wunsch, sich vorzubeugen und sie zu küssen, sie zu überraschen. Das war jedoch keine gute Idee, mit seinem besten und einzig wirklichen Freund auf der anderen Seite des Raums, der mit dem Glas in der Hand zu ihnen herübersah. Es war ein schlechtes Zeichen, dass Charlie sich so leicht beeindrucken ließ. Ein Bündel Sehnsucht, dachte er, und es war eine Schande, das zu sein. Sie trug eine Salbe auf, verband die Hände dann wieder und maß sogar seine Temperatur. Als sie das Thermometer zwischen seinen Lippen herauszog, sagte sie, wenn es ihm am nächsten Morgen nicht besser gehe, werde sie den Arzt rufen. Charlie sagte, er brauche einen Wodka, und so saßen sie um den Tisch herum und tranken, ohne ein Wort zu sagen. Das Schweigen war alles, was er brauchte, dachte Charlie, und er lauschte dem Wind, der um das Haus blies, und spürte, wie der feine Wyborowa ihn sich von innen her leichter fühlen ließ.
Sie quartierten ihn oben im Zimmer eines ihrer Söhne ein, der an der Uni studierte. Jacek knöpfte Charlie das Hemd auf und half ihm aus der Hose. Als Charlie allein war und die tief über ihn hinwegjagenden Wolken durch das Dachfenster über seinem Bett anstarrte, die Hände geschwollen und schmerzend, dachte er, dass er vielleicht für lange Zeit hier bleiben werde. Als er aufwachte, war es Nachmittag und das Dachfenster mit einer Decke aus Schnee bedeckt. Schnee im April war etwas Ungewöhnliches in der flachen baltischen Tiefebene. Und so stand er am Fenster und war glücklich. Was für ein wunderbarer Ort, dachte er. Es fiel ihm schwer, sich anzuziehen. Seine Hände fühlten sich so wund an wie zuvor, aber er glaubte, dass er kein Fieber mehr hatte. Unten war es ruhig. Die Dinge schienen alle für sich in ihrem eigenen Lichtkreis zu stehen: Jaceks Timberland-Stiefel, schmutzig und ausgetreten, nahe der Haustür; ihre Slipper direkt daneben; Kartoffeln in einer Schüssel auf dem Küchentisch; in der Spüle zwei Teller, in denen Suppe gewesen war, und im Zimmer mit dem Fernseher ein T-Shirt, ihres, auf der Couch. Charlie berührte es und hörte durch die halb offene Tür des Zimmers gegenüber Magda fragen: »Charlie?« Und dann sah er Jaceks nackten Fuß, der die Schlafzimmertür zustieß. Charlie ging zurück in die Küche, öffnete die Kühlschranktür mit dem Ellbogen und schaffte es, eine Halbliterflasche Milch an die Lippen zu heben. Er leerte sie, drehte sich um, sah aus dem Fenster und betrachtete den Schnee, der den Lada bedeckte. Es war nicht gut, im Weg zu sein, dachte Charlie, aber er wusste nicht, wohin er sonst sollte. Also lehnte er sich an die Spüle und beobachtete, wie es draußen schneite. Es dauerte eine Weile, bis sie kamen. Magda trug einen blau gestreiften Bademantel. Sie roch gut, als sie seine Hände nahm und die Handflächen nach oben drehte – ohne die Verbände zu
öffnen. Sie inspizierte nur sorgfältig seine Arme, um zu sehen, ob sich die Entzündung ausgebreitet hatte. »Waren Sie mal Krankenschwester?«, fragte Charlie. Sie schüttelte den Kopf. »Elizabeth hat angerufen.« »Wie findig von ihr«, sagte Charlie und zog eine Grimasse. »Wir haben ihr gesagt, dass Sie vielleicht ein paar Tage hier bleiben.« »Danke«, sagte Charlie und verspürte den Wunsch, seinen Kopf auf ihre Schulter zu legen. Dieses Verlangen, seinen Kopf auf etwas Weiches, Weibliches zu legen, geriet außer Kontrolle. Er lächelte, und sie lächelte zurück. »Der Doktor kommt in einer halben Stunde. Sie brauchen Antibiotika.« »Ich brauche ein Alibi.« Sie wandte sich ab und füllte den Wasserkessel über der Spüle, sah hinaus in den Schnee, zärtlich wie jemand, der diesen Blick liebte und wie der Schnee die Welt weich machte und verschwinden ließ. Warum etwas erklären? Er wollte nicht nach Hause, und da Magda seine Frau und sein Kind nicht kannte, musste sie auch nicht wissen, warum. Jacek war ebenfalls in einen Bademantel gehüllt und barfuß. Er setzte sich an den Küchentisch und rieb sich das Gesicht. Als sie den Tee vor ihn hinstellte, umschloss er die Tasse mit beiden Händen und sah nach draußen. Sie stand beim Fenster neben der Spüle, und Charlie erschien das Zusammensein der beiden, jetzt, in diesem Moment, als die größte Annäherung an das Glück, die er seit langer Zeit gesehen hatte. Er dachte auch, dass das nichts mit ihm zu tun hatte und er im Grunde nicht bei ihnen sein sollte. Ohne ihn wären sie glücklicher. Auch Etta hatte angerufen. Sie hatte mit den Versicherungsleuten gesprochen, sagte Jacek, und auch wenn
sie nicht gerade glücklich darüber waren, die im Tal zurückgelassene Kamera würde ersetzt werden. Etta hatte eine Geschichte erfinden müssen, aber sie hatten ihr geglaubt. Das waren fünfunddreißigtausend Dollar, um die Jacek sich keine Sorgen mehr zu machen brauchte, dennoch, seine fast schon erotische Beziehung zu seinen Kameras würde ihn die, die im Tal zurückgeblieben war, vermissen lassen. »Sie ist absolut die Beste«, sagte Jacek und meinte Etta. Charlie nickte und schwieg, als Jacek hinzufügte, dass sie ihm erzählt habe, sie werde sich ein paar Wochen frei nehmen.
Der Doktor fuhr mit einem neuen Allradgeländewagen auf den Hof. Sein kahl geschorener Kopf glänzte, und er brachte Kälte und Schnee mit ins Haus. Er, Jacek und Magda besprachen etwas auf Polnisch, als er Charlies Verbände am Küchentisch wie ein blutiges Fischpaket aufwickelte. Charlie saß stumm da, während seine Temperatur gemessen wurde, sie von ihm sprachen, Antibiotika aus der Tasche genommen und auf den Tisch gestellt wurden. Er sah auf seine geschwollenen roten Hände, lauschte den Stimmen, fühlte sich müde und verwirrt. Der Doktor nahm einen Wodka, und Magda und Jacek schlossen sich ihm an. Charlie gaben sie stattdessen ein Glas Wasser und drei verschiedene Tabletten, die er schlucken sollte. »Aber ich will einen Schnaps«, sagte Charlie, worauf Magda antwortete – und der Doktor zustimmend nickte –, wenn er nicht genau das tue, was man ihm sage, käme er für einen Monat ins Krankenhaus und verliere möglicherweise seine Hände. Charlie wusste, dass das nicht stimmte, aber es entmutigte ihn dennoch. Noch bevor er irgendwie protestieren konnte, hatten sie ihn wieder nach oben ins Bett verfrachtet. Zu Charlies Erstaunen
holte der Doktor einen Tropf aus der Tasche. »Ist der für mich?« »Für wen sonst?«, sagte Jacek, während der Doktor ihn darum bat, den Ärmel hochzuschieben. Er war also krank, dachte Charlie, krank genug, um für ewig hier zu bleiben. Es war wie ein Freispruch, und als Charlie einschlief, unter dem kalten Schneezelt über dem Dachfenster, kam es ihm vor, als müsste er nie wieder in sein altes Leben zurück. Als er am nächsten Morgen erwachte, stach ihm die helle Vormittagssonne in die Augen, und er wusste, er hatte von der brennenden Frau geträumt. Nichts Eindeutiges, was ihr Bild betraf, nur der körperliche Eindruck, dass sie sich an ihm festhielt; ein seltsames Gefühl, voller Verlangen, wie sie ihren Körper gegen seinen presste und die Flamme zwischen ihnen hin und her sprang. Mit dem Unterschied, dass nichts wehtat. Und als sie zusammen hinfielen, fühlte er ihre Brüste auf seinem Körper. Es war seltsam, so weit weg in einem Bett zu liegen, diese Sehnsucht nach ihr zu spüren und ihren Namen flüstern zu wollen. Von unten drang Kaffeeduft herauf. Er setzte sich auf und zog den Tropf aus dem Arm, wollte in die Hose steigen, konnte aber die Knöpfe nicht schließen. Also ging er in einem von Jaceks Bademänteln, den er mit den Ellbogen zuhielt, nach unten. Magda saß am Küchentisch und arbeitete, mit einem Manuskript und einem Wörterbuch. Als sie ihn sah, stand sie auf, band ihm den Gürtel des Bademantels zu und zupfte hier und da etwas zurecht. Er war unrasiert und fühlte sich schmutzig, versuchte sich wegzudrehen, als sie ihm nahe kam, damit sie seinen Atem nicht roch. Es wurde langsam lächerlich, dachte er, aber als er an den Herd ging, um sich Kaffee einzuschenken, konnte er weder die Kanne heben noch sonst was tun. Er drehte sich um, sah sie an und zuckte hilflos mit den Schultern. Sie trat zu ihm und hob eine Tasse an seine
Lippen, wischte einen Tropfen von seinem Kinn, als er fertig war. »Zurück ins Bett«, befahl sie, und er gehorchte. Er brachte sogar den Tropf wieder an, fühlte sich besiegt. Eine Woche ging das so. Die beiden wechselten sich mit dem Füttern ab. Er entschuldigte sich immer wieder, fühlte sich erbärmlich und unfähig, sich zu konzentrieren. Der Doktor kam, und es gab andere Tabletten und neue, schicke Verbände mit einer hell glänzenden Folie. Er schlief und erwachte und sah die Flüssigkeit durch den Tropf rinnen und die Sonne und die Wolken, die über ihm am Dachfenster vorbeizogen. »Ich sollte in einem Krankenhaus sein«, sagte er zu Jacek. »Das bist du, dreh dich um«, erwiderte der und wusch Charlies Rücken mit einem Schwamm. »Ich sehe schon«, fügte Jacek hinzu, »viel länger hältst du es nicht aus.« »Ich träume ständig von ihr«, sagte Charlie. Jacek war im Bad nebenan, leerte die Wasserschüssel und drückte den Schwamm aus. Er antwortete nicht. »Vielleicht sollten wir damit aufhören«, wagte Charlie sich weiter vor. »Mit dem Reisen.« »Magda sagt das Gleiche.« »Und du?« Jacek kam zurück und setzte sich auf den Rand von Charlies Bett. »Wir machen das zusammen. Du bist gut. Ich bin gut. Jemand anders macht’s nicht so gut.« »Warum überhaupt das Ganze?« Sie schwiegen. Sie wussten, warum sie es taten, aber es schien lächerlich, die Gründe noch mal aufzuzählen und abzuwägen, jetzt, wo alles falsch gelaufen und jemand umgekommen war. Entweder ging’s weiter oder nicht, und sie wussten beide nicht, wie sie sich entscheiden sollten. Eigentlich hing es nicht davon ab, was sie in diesem Moment sagten oder dachten, sondern wie es später sein würde, wenn
neue Aufträge kämen, wenn sich irgendwo auf der Welt eine Situation zuspitzte und sie das Verlangen verspürten, mittendrin zu sein, zusammen. Sie wussten, was der Fehler gewesen war: Benny zu vertrauen, den Charlie instinktiv als Spieler erkannt hatte. Am Ende ging es immer um die Einschätzung eines Unbekannten: Würde er Wort halten? Betrog er einen? Würde er in der Lage sein zu improvisieren, wenn die Dinge aus dem Ruder liefen oder im Chaos endeten? Benny war der Fehler gewesen, aber welche Art Fehler? Die Art, vor der einen nichts und niemand schützen kann. Sie hatten versucht, die Frau zu retten; nichts von all dem, was passiert war, hatten sie vorausgesehen; sie waren nicht verantwortlich für den Krieg; sie hatten ihre Arbeit erledigt. Das war’s. Nur dass es das nicht war. Oder sein würde. Oder sein konnte. »Was sagt Magda?« »Dass es ein zu hoher Preis nur dafür ist, sich lebendig zu fühlen.« Es war mittlerweile dunkel, und das Licht auf Jaceks Gesicht kam von der Leselampe. Er saß vornüber gebeugt, die Hände auf die Knie gestützt, den Blick in die Ferne gerichtet. Das lange dünne Haar fiel nach vorn und verdeckte halb sein Gesicht. Er sah aus, wie er immer aussah, müde und ein wenig abwesend und doch auf dem Sprung. Charlie begriff, dass er sich in all der Zeit, die sie zusammen arbeiteten, nie gefragt hatte, ob Jacek noch konnte, dass er sich nie Gedanken darüber gemacht hatte, ob sein Freund das gleiche hohle, verzweifelte Gefühl mit sich herumtrug wie er. Magda hatte Charlie glauben lassen, dass Jacek immun gegen diese Art Verzweiflung war. Möglicherweise gab es keinerlei Schutz gegen dieses Gefühl, nicht einmal durch eine Frau, die alles für einen tat.
»Deine Frau hat wieder angerufen«, sagte Jacek. »Jeden Tag bisher.« Charlie antwortete nicht. Seiner Erfahrung nach sprachen Männer mit anderen Männern nicht über ihre Frauen. Nicht wirklich. Das eine oder andere, ja, aber nichts, was tiefer ging. Alles, was Charlie beispielsweise über Magda wusste, war, wovon sie lebte und dass sie und Jacek zusammen waren, seit er aus dem Gefängnis entlassen wurde, in dem er wegen der Mülltonnengeschichte gesessen hatte. Über Elizabeth wusste Jacek nicht das Geringste; nicht, dass sie Flötistin war, Musiklehrerin und heute stellvertretende Schuldirektorin. Alles das schien unwichtig und nur davon abzulenken, was ihm an seinem Verhältnis zu Jacek am besten gefiel: dass sie zusammen jagen gingen. Unten im Tal war es nicht das erste Mal gewesen, dass Jacek sein Leben gerettet hatte. 1994 im Kar-Te-Seh-Krankenhaus in Kabul zum Beispiel, als Hekmatyars Einmarsch jede einzelne Lehmwand, hinter der sie Schutz suchten, in Staub verwandelte: Jacek zog ihn in den Jeep und zurück ins Intercontinental, Charlie wäre sonst in die nächste Salve gerannt. Und Charlie hatte sich dafür in Huambo revanchiert, als Jacek sich hinter der Lagerwand hervorgewagt hatte, um den Jungen mit der Narbe im Gesicht zu filmen, wie er die Straße entlang auf sie zukam, Rambo auf Dope, schießend und tanzend, die Waffe in der Hüfte, Kugeln nach links und rechts verteilend und dabei auf den Fußballen hin und her springend. Er schoss die Straße entlang wie ein Kind, das mit dem Schlauch um sich spritzt. Jacek überlegte, dass, wenn er die Kamera jetzt auf den Jungen hielt, der den Schlauch nicht auf ihn richten würde. Weil der Bursche wusste, hey, this is showtime, ich bin im Fernsehen. Die ganze Welt wird mich tanzen sehen. Und so war’s. Er zog an ihnen vorbei, swingend und springend, und Jacek ging mit der Kamera mit und brachte
die geweiteten blutunterlaufenen Augen in den Sucher. Tolle Bilder. Sie hatten einen Preis bei einem Festival gewonnen. Jacek war so auf die Sache konzentriert, dass er den Scharfschützen hinter dem verbarrikadierten Fenster oben im Haus gegenüber nicht bemerkte. Die erste Kugel streckte den Jungen nieder, die zweite hätte Jacek erwischt, aber Charlie war schneller und riss ihn hinter die Wand. Das war es, was sie verband, der Glaube an den sicheren Instinkt des anderen. Es ging so weit, das sie niemand anderem mehr vertrauten, zumindest Charlie nicht. Wobei klar war, dass Jacek auch Magda vertraute und sie eine der Quellen seines sicheren Urteils war, egal, wie groß die Entfernung war, die sie trennte. Jeden Abend spazierte Jacek ein paar Schritte vom Lager weg, vom Biwak, Unterstand oder Hotel, um über sein Mobiltelefon mit ihr zu sprechen. Charlie verfügte zu Hause über keine derartigen Reserven, und er rief nie an, wenn sie im Einsatz waren. Nun, ein paarmal hatte er es doch getan, aber der Abstand war einfach zu groß, um zwischen ihm, in irgendeiner heruntergekommenen Spelunke, und Elizabeth und Annie, zu Hause in der Küche, eine Brücke zu schlagen. Die Verbindung war schlecht, und als Elizabeth sagte: »Lass es in Zukunft lieber bleiben«, widersprach er nicht wirklich. Das war es, warum er nicht nach Hause fuhr. Noch nicht. Er hatte sie geliebt, und es gab Fotos, die es bewiesen: Elizabeth in dem italienischen Sommerkleid mit den Knöpfen, die sie öffnete, um zu zeigen, dass sie nichts darunter trug; sie, wie sie ihn über den Tisch hinweg in dem Restaurant in Volterra ansieht, als gäbe es niemanden auf der Welt außer ihm. Er traute seiner eigenen Erinnerung nicht mehr, doch auf den Fotos konnte er sehen, wie es gewesen war. Es existierte sogar eine Aufnahme von der Tüte mit den Kirschen, saftdurchtränkt und schon halb in Auflösung begriffen, auf dem weißen Laken im Dämmerlicht des Hotelzimmers. Sie
hatten sich die Früchte gegenseitig in den Mund geschoben und auf ihren Körpern zerdrückt – die Fensterläden zugezogen, nackt, damals ganz am Anfang. Diese Kirschen und der purpurne Fleck, den sie auf ihrer Haut hinterließen. Und, mit kühlem Blick aufgenommen, das Foto vorher. Welcher Idiot fotografiert so was, wenn er an einem Sommernachmittag mit einer Frau in ein Hotelzimmer geht? War das sein Archivierzwang? Oder schlimmer: Ahnte er bereits, dass es eines Tages vorüber sein und er den Beweis dafür brauchen würde, dass es so gewesen war? Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass er das alles verlieren, dass es zerstört werden könnte. Sollten auch solche Dinge wie zum ersten Mal verliebt sein, in einem ausländischen Hotel, an einem sonnigen Nachmittag, nicht vor Vernichtung gefeit sein? Egal, wie schlimm sich alles entwickeln mochte? Sollte man sich so etwas in seiner gemeinsamen Erinnerung nicht erhalten können und glücklich darüber sein, dass man es erlebt hatte? Er wusste nicht, wie ihre Erinnerungen aussahen, oder ob sie überhaupt daran zurückdachte. Und wenn er schon dabei war, was hatten er und Annie für gemeinsame Erinnerungen? Er mochte irgendwo da draußen sein, nachts in irgendeiner fliegenverdreckten Unterkunft, und die Zeitdifferenz ausrechnen, um herauszufinden, wo sich seine Tochter in dem Moment wohl befand: von der Schule mit dem Bus unterwegs nach Hause; oder im Bett, den Blick hinauf zu den fluoreszierenden Sternen gerichtet, die sie an die Decke geklebt hatte, um sie langsam verblassen zu sehen, wenn das Licht ausgeschaltet wurde. Nein, es ging nicht um Liebe, sondern darum, was sie tatsächlich gemeinsam hatten. Charlie, mit dem Gewicht von Jacek am Fußende des Betts, überlegte, warum Annie sich, wenn er sie »Erinnerst du dich?« fragte, es so selten tat. Manchmal lag es daran, dass sie noch
zu klein gewesen war, manchmal daran, weil das, woran sie sich erinnerte, nicht in das Bewusstsein ihres Vaters vorgedrungen war. Wie das eine Mal, als sie an einem sonnigen Nachmittag den Mount Assiniboine emporgeklettert waren, sie die Hälfte des Wegs auf seinen Schultern. Sie erinnerte sich weder an den Gipfel noch an den überwältigenden Blick, der einen die »Freude schöner Götterfunken« mit tausend Dezibel wollte anstimmen lassen. Auch nicht, dass sie getragen worden oder wie schön es gewesen war, zusammen zu sein. Ihre einzige Erinnerung war, sagte sie, wie ein Eichhörnchen beim Picknick eine Nuss aus ihrem Rucksack gestohlen hatte. Welches Picknick? Welches Eichhörnchen? Er hatte neben ihr gesessen und es nicht einmal bemerkt. Es war dumm, sich über solche Dinge aufzuregen, aber Charlie konnte nichts dagegen tun. Der Sinn einer Familie lag in der Frage: »Erinnerst du dich, als…?« Damals, in der guten alten Zeit, hatte er dieses Spiel mit seinen Eltern gespielt. Frank und Mika hatten immer froh gelaunt mitgemacht und dem Teppich der Erinnerung, den sie zusammen entwarfen, weitere Muster hinzugefügt. Doch jetzt fragte er sich, ob sie ihm nur seinen Willen gelassen hatten, ihrem Goldschatz. Was waren überhaupt gemeinsame Familienerinnerungen? Was war das, das er und Elizabeth über all die Jahre zusammen geschaffen hatten? Er schätzte an Jacek, dass er lange Zeit schweigend mit einem so dasitzen konnte, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. »Du musst nach Hause«, sagte Jacek. »Ich bin noch nicht so weit«, antwortete Charlie. »Sie klingt nicht gut«, sagte Jacek, ohne Stellung zu beziehen. Es war nicht seine Art, Charlie zu sagen, was er tun
sollte. Doch er wusste, dass Charlies Gewohnheit, die Dinge schleifen zu lassen, ihn früher oder später einholen würde. »Sie ist in Ordnung«, sagte Charlie und glaubte das auch. Elizabeth kam ohne ihn zurecht. Magda brachte auf einem Tablett Suppe. Jacek zog einen Stuhl heran, um ihn zu füttern. Aber Charlie wollte es selbst probieren. Die Flüssigkeit ging ein paarmal daneben, doch es tat ihm gut, sich zu bemühen. Sie saßen da und sahen ihm zu. »Was ist euer Geheimnis?«, fragte er schließlich und betrachtete die beiden, wie sie so vertraut nebeneinander saßen. »Er ist viel weg«, sagte sie und lächelte. »Und wir wohnen zwei Stunden von der Stadt entfernt«, fügte Jacek hinzu, erfreut, dass seine Frau Charlie nichts erzählen würde. Jacek ging hinaus und kam mit einer Flasche Wyborowa zurück. »Zum Teufel mit dem Doktor«, sagte er und ließ sie kreisen. Charlie gefiel die Art, wie sie trank, den Blick auf ihn gerichtet, während sie schluckte. Er blieb noch vier Tage. Es ging ihm besser. Er kam wieder mit seinen Knöpfen zurecht und konnte sich anziehen, konnte nach unten gehen, vorbei an Magda, die am Küchentisch saß und arbeitete, und nach draußen auf den Hof, konnte die Kälte fühlen, die in ihn eindrang. Er verbrachte Stunden in Jaceks Werkstatt und sah zu, wie der alte Kameras auseinander nahm und Stück für Stück reinigte, mit einem Satz feiner Pinsel und einem scharf und trocken zischenden Gebläse. Die Wärme des Ölofens machte sie schläfrig, genau wie die Arbeit. Charlie sah Jacek einfach zu, wie er die einzelnen Teile ins Licht hielt, säuberte und alles auf einem weißen Leintuch anordnete. Er zerlegte zwei Kameras bis auf die Optik und setzte sie dann wieder zusammen. Es war still in der Werkstatt, und manchmal sagte Jacek eine ganze Stunde lang kein Wort. Charlie
empfand das Schweigen wie eine Art Klausur, in der er sich sicher und geborgen fühlte. Zweimal am Tag gingen sie hinaus und fütterten die Schweine, obwohl Charlie die Futtereimer nicht tragen konnte. Also spritzte er mit einem Schlauch den Dreck weg, lehnte sich über die Gitter und beobachtete, wie die Großen grunzten und fraßen und die Kleinen schnüffelten und saugten. Jacek erklärte, dass Schweine seiner Erfahrung nach von allen Kreaturen, die er kenne, diejenigen seien, die einen am wenigsten enttäuschten. Zudem verdiente er ein bisschen Geld mit ihnen. Und wenn Magda den großen Schinken vom Haken in der Speisekammer nahm und davon eine Scheibe für Charlie abschnitt, dachte er, dass dies das Leben sei. Nur dass es das natürlich nicht war. Es war ihres. Abends wurde warm gegessen. Charlie wusch Magda das Wurzelgemüse im Sieb, stand nahe neben ihr an der Spüle. Sie sprachen über das Buch, das sie für einen Verlag in Hamburg redigierte. Sie hörten düstere Orchestermusik polnischer Komponisten – Penderecki, Gorecki, Szymanowski, sagte Magda –, saßen schweigend im Fernsehzimmer, Jacek im Sessel beim Fenster, Magda, die nackten Füße unter sich gezogen, im Sessel auf der anderen Seite des Zimmers und Charlie auf der Couch, den Blick nach oben gerichtet und in Gedanken, ob Musik eine Farbe besaß, und welche Mischung aus Kobalt, Blau und Schwarz das Stück gerade hatte. Seine Frau rief nicht mehr an, und auch Etta meldete sich nicht. Er fühlte sich ausgeglichen, nur dass er immer wieder von der brennenden Frau und ihrer Umarmung träumte. Es war, als bräuchte jeder kleine Ausschnitt der Zeit eine Ewigkeit, um sich zu offenbaren, der Druck ihrer Finger auf seinen Schulterblättern, die Kraft ihrer Wange auf seiner, der unglaubliche Geruch ihres versengten Haars, alles ständig
wiederkehrend, als kämpfe es darum, seine Bedeutung klar zu machen. Er sprach mit Magda über die Frau und suchte nach einem Weg, dieses schreckliche Gefühl von Nähe zu einer völlig Fremden zu erklären, mit der er in einer Umarmung verbunden war, die im Tod endete. Das Gefühl, dass alles ein Fehler gewesen war, ein Witz, eine Protzerei zwischen Männern, mit diesen fürchterlichen Folgen für jemanden, deren Namen er nicht einmal kannte, machte es so schwer, Worte zu finden. Magda hörte zu – wie sie Jacek zuhören mochte, wenn er ihr nachts, Seite an Seite mit ihr im Bett, dieselbe Geschichte erzählte. Und nach einer Weile begriff Charlie: Sie musste es verwirrend finden, dass er zu glauben schien, dass sie wusste, was das alles zu bedeuten habe. Denn sie wusste es nicht: Sie konnte die Frau nur als Symbol für all die anderen getöteten Menschen sehen, die auf das Leben ihres Ehemanns Einfluss genommen hatten und für einen Augenblick vor seine Kamera geraten waren. Sie empfand Mitleid mit den Opfern, aber auf eine abstrakte Weise, während diese Frau für Charlie nichts Symbolisches besaß. Sie war so schrecklich wirklich für ihn, dass er den Geruch ihres brennenden Fleisches nicht aus dem Kopf bekam. »Du wirst nicht immer von ihr träumen, Charlie«, sagte Magda, und Charlie wusste, dass sie Recht hatte. Dennoch tröstete es ihn nicht. Wenn er aufhörte, von ihr zu träumen, meinte Charlie, würde er sie betrügen. Ginge es jedoch weiter, würde sein Leben unerträglich werden. »Was hat Betrug mit all dem zu tun?«, wollte Magda wissen und sah von ihrem Manuskript auf, während Charlie in ihrer Küche herumlief, so weit genesen, dass er die Wodkaflasche halten konnte.
»Weil wir es sind, die wissen, was sie durchgemacht hat. Wenn wir es vergessen, erscheint es noch sinnloser, als es ohnehin schon ist.« »Und wer macht uns zu Mister Memory?«, fragte Jacek von der anderen Seite des Zimmers. Charlie lachte, Mister Memory war das Beste in Hitchcocks »Neununddreißig Stufen«, der Mann aus dem Variete mit dem Oberlippenbärtchen und dem perfekten Gedächtnis, der von den Bad Guys angeheuert wird, um sich den Geheimcode zu merken. Es schien alles ein bisschen weit hergeholt, aber die Schlussszene war wunderbar, als Mister Memory auf der Varietebühne stand, Hannay sich im verrauchten Zuschauerraum erhob und ihn aufforderte, die Geheimformel zu wiederholen, und ehe die Bad Guys ihn aufhalten konnten, spuckte Mister Memory sie auch schon aus, vor versammeltem Publikum. Wirklich ergreifend war der Ausdruck in seinen Augen, als sei er hilflos angesichts des Wissens und des Zwangs, es zu enthüllen. Oben auf der Bühne, mit seinem Bärtchen und der Fliege, gelähmt vom Zwang zu sprechen, konnte er nicht anders, als die geheime Formel herunterzurasseln, bis ihn die Kugel seines Chefs, von der Seite abgefeuert, aus seiner misslichen Lage befreite. »Keiner macht uns zu Mister Memory«, meinte Charlie. »Wir tun es selbst.« Am nächsten Tag bat er Jacek, ihn zum Flughafen zu bringen. Draußen vor dem Haus umarmte er Magda mit den immer noch verbundenen Händen. Und als er ins Auto stieg, freute er sich, dass es ihm gelungen war, sich mit überschwänglichen Bekundungen zurückzuhalten. Dabei war er schon ziemlich überschwänglich gewesen. Ganz nah an ihrem Ohr hatte er gesagt, dass sie einem Fremden Gutes erwiesen habe, und sie hatte geantwortet, dass er nie ein Fremder gewesen sei. Dann hatte sie ihn geküsst, ein kleiner
Kuss direkt auf die Lippen, und er setzte sich ins Auto und war glücklich. Die Straße war nackt und trocken zwischen den gepflügten Feldern, und Jacek sagte so gut wie nichts, bis sie zum Flughafen kamen. »Dann ziehen wir also wieder los, oder?«, fragte er, als der Wagen den Abflugbereich erreichte. »Ich will nach Belgrad«, sagte Charlie. »Um das Schwein umzubringen?«, fragte Jacek, ohne eine Miene zu verziehen. Er öffnete die Tür des Ladas und gab Charlie einen leichten Stoß, um ihm aufzuhelfen. Das war typisch Jacek, dachte Charlie später, als das Flugzeug in Richtung London abhob, einen Gedanken in Worte zu fassen, den sie beide im Kopf gehabt hatten, von dem Augenblick an, als das Feuerzeug aufflammte und an den Stoff ihres Kleides gehalten wurde. Ja, um dieses Schwein umzubringen.
6
Er öffnete die Haustür mit seinem Schlüssel, stand im Flur und stellte die Tasche ab. Dann ging er ins Wohnzimmer und sah auf das Bücherregal, das bis zur Decke reichte und die ganze gegenüberliegende Wand einnahm. Er konnte die Reihen mit Mikas Büchern erkennen, die mit den russischen Titeln auf den Rücken, die er nicht hatte wegwerfen können, als er das Haus in Dedham ausräumte. Er hatte nicht das Herz dazu gehabt und versprach sich ein ums andere Mal, sie eines Tages lesen zu lernen. Die von Frank standen ebenfalls da, eine Reihe Bände über heldenhafte Schlachten, und einige – den »Almanach des Hobbyschreiners« zum Beispiel –, die Charlie aus der Garage gerettet hatte. Beim Fernseher stapelten sich Charlies Videobänder, und neben der Stereoanlage stand seine Bluesund Country-and-Western-Sammlung: fünfzehn Alben von Johnny Cash. »I shot a man in Reno«, sagte Charlie zu sich, »just to watch him die.« Mitten im Raum und so platziert, dass man auf das Erkerfenster sah und einen guten Blick auf die Straße hatte, befand sich der Notenständer mit Elizabeths Flöte. Er sah, dass sie immer noch an Haydn arbeitete. Er war einen Monat weg gewesen. »Charlie?« Sie stand oben auf dem Treppenabsatz und sah ihn an. Er nickte, und sie kam langsam nach unten, trocknete sich dabei die Hände an der Schürze ab. Ihr Haar war hochgesteckt. Sie trug ein schwarzes Kleid und die langen silbernen Ohrringe, die die elegante Form ihres Nackens betonten. »Willst du zu einer Party?«, fragte er.
»Rae und Barbara kommen. Ich bin beim Kochen. Das Leben geht weiter, Charlie«, sagte sie. »Wo ist Annie?« »Bei den Duggans. Für die Nacht.« Er folgte ihr durch das Wohnzimmer in die Küche, die nach hinten hinaus lag. Der Tisch neben der Schiebetür in den Garten war für drei gedeckt. Er sah zu, wie sie ein viertes Gedeck auflegte. »Warum der Bart?«, fragte sie. Er sagte, er habe den Rasierer nicht halten können, aber er werde später nach oben gehen und ihn abnehmen. Er trat an den Schrank, holte die Flasche Single Malt heraus, die dort stand, griff erst nach einem, dann nach zwei Gläsern und setzte sich an den Tisch. Immer noch im Mantel, versuchte er den Korken aus der Flasche zu ziehen. Sie kam herüber, nahm ihm die Flasche ab und schenkte ihm einen kräftigen Schluck ein. »Für dich auch«, sagte er, und sie tat, wie ihr geheißen. Sie leerte das Glas mit einem Schluck, verzog das Gesicht, setzte sich aber nicht zu ihm. Sie machte sich wieder an die Arbeit. Er betrachtete ihren Rücken. Sie hatte schöne Beine, wie ihre Mutter, feste Waden und schlanke Fesseln. »Mit Schweigen kommst du nicht davon«, sagte sie über die Schulter. »Das hast du früher gemacht, aber jetzt ist das vorbei.« Er hatte die Angewohnheit, einfach dichtzumachen, zu verstummen, wenn er nicht wusste, was er denken oder fühlen sollte. Es hatte Zeiten in ihrer Ehe gegeben, da war es tagelang so gegangen, zum Beispiel, nachdem die Sache mit Wie-hieß-sie-gleich-noch ausgestanden war. Wieder reinzukommen erschien ihm jedes Mal wie die Hölle. Er fühlte sich wie ein Taucher, der langsam die Oberfläche erreichen musste, der kabbelige blaue Himmel so weit über ihm, ohne ein Stück näher zu kommen. Das Beste war, die Sache unverkrampft anzugehen, die Umgebung ihren Teil beitragen
zu lassen. Er erinnerte sich an die Zeit, als sie die Wand eingerissen hatten, um die Küche zu vergrößern. Die Geschichte des Raums und des Hauses, in dem er sich befand, holte ihn ein, und genauso taten es die Herdgerüche. Sie bereitete das Hühnergericht mit Gemüse zu, das später in die Röhre kam und schließlich nach Paprika und Pfeffer schmeckte. Er sollte bleiben: Sein Vater war geblieben, seine Mutter auch. Sieh doch, wohin es sie gebracht hat, einander treu bis in den Tod, Mika auf dem Garagenboden mit Franks Kopf in den Armen, russische Gebete für ihn sprechend. So zumindest hatte sie es erzählt. Er war nicht dort gewesen, sondern hier, in diesem Haus, als sein Vater starb, einen Ozean weit entfernt. Er nahm einen Schluck, hielt das Glas zwischen den verbundenen Händen, wusste, dass er etwas sagen musste. »Wenn das Büro nicht angerufen hätte«, begann sie. »Ich konnte einfach nicht.« »Tu uns das nicht an.« »Ich tu gar nichts.« Sie ging nicht darauf ein. »Was ist eigentlich passiert?« Nicht, dass sie es nicht gewusst hätte. Sie musste zehnmal bei Jacek und Magda angerufen haben. Sie musste das Wesentliche von ihnen wissen, und vom Büro. Aber sie wollte es von ihm hören. Das schuldete er ihr. »Wir sind in einen Hinterhalt geraten, und eine Frau ist dabei umgekommen.« »Ich habe die Bilder gesehen, Charlie. Sie hat gebrannt.« Elizabeth stand mit dem Rücken zum Herd, war voller Wut und Ärger, weil es sie ganz krank machte zu denken, dass er sie so abspeisen wollte. Aber er brachte kein Wort mehr heraus. Er versuchte zu verstehen, woran es lag, dass man eine Geschichte nur einmal erzählen konnte – in diesem Fall Etta –,
dass sie einem wegtrocknete, wenn man sie ein zweites Mal erzählen wollte. »Komm schon, Charlie. Erzähl.« Sie bettelte niemals. »Ich hab mich verbrannt. Ich wollte das Feuer ersticken.« »Mein Gott, Charlie, wenn du nur angerufen hättest«, sagte sie mit einer Stimme voller Schmerz. Sie hätte getan, was sie konnte. Sie bemühte sich. Der Ton in ihrer Stimme verriet es. »Ich weiß.« »Du brauchst einen Arzt.« Sie blieb mit dem Rücken zum Herd stehen. Ihre Arme machten eine Geste in seine Richtung. »Meine Hände sind in Ordnung. Wirklich. Willst du sie sehen?« »Ich meine nicht deine Hände.« Es versetzte ihm einen Stich, sie das sagen zu hören. Sie war der Mensch, mit dem ihn eine Geschichte verband, und was immer falsch sein mochte, sie kannte ihn gut. »Ich brauche keinen Arzt.« Sie schüttelte den Kopf, beugte sich vor, sodass ihr das Haar übers Gesicht fiel, als wollte sie sich für einen Augenblick verstecken. Dann richtete sie sich auf, kehrte ihm den Rücken zu und begann eine Zitrone in Scheiben zu schneiden. »Ich hab sie mir verbrannt. Aber sie sind in Ordnung.« Sie rührte etwas in einer Tasse um, machte eine Salatsoße. Er konnte die Zitrone riechen. »Warum Jacek und nicht ich?« Der Rücken blieb ihm zugekehrt. »Ich weiß nicht.« Er wusste es wirklich nicht, jetzt, wo er hier war. Er könnte sagen, dass Jacek das alles mit ihm erlebt habe und sie nicht. Er könnte sagen – aber dann würde sie die Soße nach ihm werfen –, dass so was Männersache war, dass es um den Trost eines Mannes ging, wobei das tatsächlich einem Teil der Wahrheit entsprach. Nichts war mehr klar, nun, wo er hier war und sehen konnte, welche Abfuhr er ihr erteilt hatte, indem er
nicht nach Hause gekommen war, und wie viel von ihm es tatsächlich zwischen diesen vier Wänden gab. Alles verwurzelte ihn an diesem Platz und nahm ihm die Kraft zu sprechen. Ihm fiel der Name des Dorfes in Norditalien wieder ein, und er sah den kleinen picobello aufgeräumten Laden vor sich, vor dem er gestanden hatte, zu groß und unbeholfen, als dass man ihn hineingelassen hätte, während sie drinnen die Gläser kaufte, die nun vor ihm auf dem Tisch standen. Er wusste, warum sie den Tisch so deckte, auch wenn nur Barbara und Rae, zwei Arbeitskollegen, kamen. Warum sie sich so hübsch machte. So hatte es auch ihre Mutter gehalten. Er kannte die Zutaten für ihre Salatsoße – Knoblauch, Dijonsenf, Salz, Pfeffer, ein Teil Zitrone und zwei Teile Olivenöl –, weil es das Rezept ihres Vaters war. Das Gewicht all dieser Dinge lag schwer auf seiner Brust. Doch er schwieg. Sie schüttelte erneut den Kopf und drückte energisch auf die Zitrone. Er wusste, er sollte das Ruder in die Hand nehmen und sie beide in die richtige Richtung steuern. Er wusste auch, welche Richtung das sein würde – es müsste damit enden, dass er seine Hand ausstreckte und sagte, er wolle ins Bett. Vielleicht half sie ihm dann auf und aus dem Mantel und brachte ihn nach oben. Er würde seine Sachen auf den Stuhl werfen, sich ins Bett legen. Sie würde zu ihm kommen und sich neben ihn legen. Mit großer Willensanstrengung würde er seinen Arm ausstrecken und um sie legen, ihr sagen, dass es ihm Leid tue, dass er nicht habe anrufen oder ihr einen Hinweis habe geben können, wo er war. Er sah den Weg klar vor sich. »Geh nach oben und rasier dich«, sagte sie. »In zehn Minuten sind sie hier.« Er tat, wie ihm geheißen. Sein Rasierzeug lag unter dem Waschbecken und nicht an seinem Platz auf der Ablage unterhalb des Spiegels. Dort standen jetzt ihre Wässerchen und Wattebäusche. Er seifte sich ein, vermied es, sich in die Augen
zu schauen und schnitt sich ein paarmal. Als er sich umdrehte, lehnte sie in der Tür und beobachtete, wie sein altes Gesicht sauber unter dem Rasierer zum Vorschein kam. Er machte weiter, musterte sie aus dem Augenwinkel, während er die Schnitte mit einem blutstillenden Stift behandelte. Er sprach ihren Namen in den Spiegel. »Elizabeth.« Liz Drew – das war sie. Älteste Tochter von Bart und Carla Drew aus Norwood, Massachusetts. »Du willst mich verulken«, sagte sie, und ihr Gesicht strahlte, als sie sich das erste Mal auf einer Party in London trafen und er ihr erzählte, dass er aus Dedham stamme, nur ein Stück die Route IA rauf. Und jetzt, nach all den Jahren, war sie immer noch das Mädchen, dem der Erfolg ins Gesicht geschrieben war. Das Alter hatte daran nichts geändert. Sie konnte lächeln wie auf ihrem Examensfoto, jetzt natürlich nicht. Auf absurde Weise fühlte er, dass ihm das zu verdanken war; dass er es nicht in ihr zerstört hatte. Er konnte Bart in der dicken Jacke vor sich sehen, die Carla ihm gegen die eisige Nachtluft gestrickt hatte, und wie sie beide zum Schnapsladen am Ende der Straße schlenderten. Sie kamen, wie Bart glücklich anmerkte, mit genug »Sprit« für eine Rakete zum Mars zurück, und sie tranken alles aus. So sollte Weihnachten sein, sagte Carla, als das Fest vorbei war und er mit ihr die Reste des Baumschmucks vom Boden auflas, Silberfäden auf dem plüschigen Flor des Teppichs. »Charlie.« Er konnte Elizabeth im dunklen Wald hinter dem Haus ihrer Eltern seinen Namen flüstern hören, während sie Seite an Seite über den mit Schnee bedeckten Weg spazierten. »Ja«, sagte sie, »was ist?« – nicht dort, nicht die Vierundzwanzigjährige mit dem Schal um den Kopf gegen die Kälte, sondern hier, die Siebenundvierzigjährige mit dem hochgesteckten Haar und den Ohrringen, in denen sich das Licht aus dem Flur fing.
»Ich weiß nicht«, antwortete er. »Ich meine, was das Essen mit Rae und Barbara angeht.« Mit ironischem Lächeln sagte sie: »Mein Mann, der Kriegskorrespondent, der Kerl, der von Berufs wegen auf sich schießen lässt, kriegt das Essen mit Rae und Barbara nicht auf die Reihe. Nicht zu fassen.« Sie versuchte es mit einem der besseren Tricks aus glücklichen Tagen, mit komisch gemeinter Verachtung. Es hatte tatsächlich funktioniert: Er war der Versager, sie die mit der komisch gemeinten Verachtung. Jahrelang hatte es funktioniert, und im Gedenken daran rang er sich ein Lächeln ab und folgte ihr nach unten zum Essen. Es war die reine Hölle. Rae und Barbara konnten nicht davon aufhören. Sie hatten die Bilder gesehen und wollten alles direkt von ihm erfahren. Er musste seine Partynummer abziehen und dachte, wenn er ein paar Punkte in Sachen richtiges Verhalten gutmachen könnte, dann jetzt. Aber Elizabeth vergab keine Preise. »Die arme Frau«, sagte Barbara, als er zu dem Teil kam, da sie hinter den Plastiktüren des Feldlazaretts verschwand und nicht mehr zurückkehrte. Was ihn wirklich erstaunte, war, wie schnell sich das Schweigen danach mit Worten füllte, wie sie auf andere Dinge kamen, als hätte er etwas Peinliches, aber Unwichtiges gesagt. Elizabeth hörte aufmerksam zu und ärgerte sich bestimmt darüber, dass Rae und Barbara mehr aus ihm herausbrachten als sie selbst. Sie starrte ihn über die Gläser hinweg an, die Hand an ihrer Wange, den Ellbogen auf den Tisch gestützt. Später, als die Unterhaltung sich darum drehte, wie schrecklich doch die Welt war, wie gewalttätig und wie er das nur alles so hinkriegte, ließ sie ihn eine Weile zappeln, bis sie aufstand, die Teller abräumte und ihm unerwartet einen Rettungsanker zuwarf, indem sie das Thema wechselte. Damit war er befreit und konnte sich dem alten
Rotwein widmen, den er vor einiger Zeit gekauft hatte, und ihnen zuhören, wie sie über die Schule sprachen. Rae und Barbara merkten sicher, dass sie in stürmisches Ehewetter geraten waren, aber sie gehörten zu den Leuten, die glaubten, dass ein So-tun-als-merke-man-nichts einem Paar die Klippen umschiffen half. Er blieb schweigsam und folgte ihrer Unterhaltung, hatte Zeit, Elizabeth zu beobachten, so als wäre er nur ein Gast und könnte am Ende des Abends aufstehen und sie nie wiedersehen. Es war gut, dass sie wusste, wer sie war, und dass sie ihr Leben nie auf Annahmen gestützt hatte, die nicht stimmten. Als sie zum Beispiel zum Studium nach London ging, erkannte sie, dass sie es nie in ein Orchester schaffen würde, und war ins Lehrfach ausgewichen. Dort stellte sie fest, dass sie in Verwaltungsdingen noch besser war, und so wurde sie stellvertretende Direktorin, als Amerikanerin immerhin, mit einem noch stärkeren Akzent als er; an der Schule, an der Rae Mathematik und Barbara Chemie unterrichteten. Elizabeth war ihr Boss. Sie mochte ihren Beruf, und Rae und Barbara mochten Elizabeth. Charlie saß dabei und fühlte sich, als wäre er nur auf der Durchreise. Himmel, sie waren in Ordnung, wirklich, aber sie brauchten ewig, bis sie gingen. Hinterher wuschen Charlie und Elizabeth ab, weil die Spülmaschine verrückt spielte. Zum Schutz für die Hände gab sie ihm Plastikhandschuhe, und so konnte er die großen Töpfe und Teller abtrocknen und an ihren Platz stellen. Sie wechselten kein Wort. Es hatte ein freundliches Schweigen sein sollen, aber das war es nicht. Als er das Geschirrtuch weglegte und hinaus in den Flur ging, sah er seine Tasche immer noch dort auf dem Boden stehen. Er hob sie auf und ging zur Tür. Sie lief ihm hinterher. »Wohin, zum Teufel, willst du?«, fragte sie. Sie packte ihn, drehte ihn herum, schüttelte ihn, versetzte ihm einen kräftigen Schlag auf die Brust und stieß ihn zurück in den Flur.
»Was machst du? Sprich mit mir. Du musst.« Aber er konnte nicht, und er konnte auch nicht erklären, warum nicht. Er machte sich los und sagte nur, es tue ihm Leid. Sie rief seinen Namen, aber das änderte nichts. Er öffnete die Tür und trat hinaus in die Nacht. Charlie verbrachte die erste von vielen Nächten im Bahnhofshotel. Er hätte sich Besseres leisten können, aber seiner Meinung nach verdiente er es nicht. Er lag in der Dunkelheit und versuchte einzuschlafen, während aus dem Zimmer nebenan leidenschaftliches Stöhnen drang.
7
Er erwachte im ersten Licht, immer noch angezogen, und lauschte dem Dröhnen der erwachenden Stadt hinter den schmutzigen Vorhängen. Die Tasche, die er bei Magda und Jacek gepackt hatte, stand ungeöffnet am Boden. Er setzte sich auf und tastete nach seinen Schuhen. Es war nicht das erste Mal, dass er in einem fremden Hotelzimmer aufwachte und dachte, er hätte etwas Unwiderrufliches getan, nur um nach und nach zu begreifen, dass dem nicht so war. Doch diesmal fühlte es sich anders an, so als wäre dies der Moment, der Wendepunkt, an dem sein Leben eine neue Richtung nahm. Er stellte sich vor, wie Elizabeth im Dämmerlicht in der Küche stand, unfähig zu schlafen, und wie Annie auf dem Boden des Kinderzimmers bei den Duggans in einen Schlafsack gekuschelt lag. Seine eigene Rücksichtslosigkeit machte ihm Angst. »Lebe ehrlich«, hörte er eine innere Stimme sagen. Was um alles in der Welt sollte das nun bedeuten? Er rasierte sich, obwohl er keine Lust dazu verspürte. Es wäre falsch gewesen, sich gleich zu Anfang gehen zu lassen. Er zog sich um, betrachtete sich im Spiegel. »Lebe ehrlich« – was sagte ihm sein Gesicht? Er konnte seine Mutter und seinen Vater darin erkennen, die alte Mika und Frank, die sanfte Nemesis all seiner Versuche, anders zu sein als sie. Doch die Spuren ihrer Züge waren das einzig Vertraute in dem Gesicht, das er im gelben Licht des Plastikbadezimmers vor sich sah. Es war idiotisch, sich so anzustarren und zu denken, ich bin ein in die Jahre gekommener Kerl in einem Hotelbadezimmer, der
Junge von Mika und Frank, ich habe meine Familie verlassen und keine Ahnung, wie es weitergehen soll. »Lebe ehrlich.« Er sehnte sich danach, sich mit der Welt in Einklang zu befinden, sich wohl zu fühlen in seiner Haut, oder wie immer man das nannte. Er hatte einmal gewusst, wie das war, aber das schien vorbei, seit die Frau gestorben und Etta gegangen war. Er ging die Treppe hinunter und stellte sich mit aller Macht Etta vor, wie ein Voyeur, der durch die halb offene Tür beobachtete, wie sie den Morgenmantel öffnete und ihn damit umschloss. Er sah die Szene wie ein Fremder und konnte doch gleichzeitig seine brennenden Hände auf ihren Schulter spüren, ihren warmen Körper, den feuchten Geruch riechen. Der Gedanke, dass sie da draußen in dieser Stadt lebte, ließ ihn sich weniger heimatlos fühlen, auch wenn er keine Ahnung hatte, wo genau sie war. In der Hotellobby blieb er stehen, durchlebte noch einmal die letzten gemeinsamen Minuten vor der Kirche, sah sich mit den verbundenen Händen herumgestikulieren und so tun, als wäre alles in Ordnung, obwohl er sich miserabel fühlte und keinerlei Kontrolle über sich hatte. Fast musste er lachen. Es war schon eine Menge Talent zur Selbstzerstörung nötig, um sich so ins eigene Fleisch zu schneiden. Als Erstes musste er in Ordnung bringen, was falsch gelaufen war. Er glaubte an den neuen Tag. Das war einer der Lieblingsausdrücke seines Vaters gewesen: »Der neue Tag«. Laut Frank musste, wer sich verlaufen hatte, seine Schritte zurückverfolgen und mit dem neuen Tag einen neuen Anfang machen. Es konnte sein, dass man es viele Male versuchen musste. Das war so ungefähr der einzige Rat, den sein Vater ihm je gegeben hatte. An seiner Werkbank in der Garage hatte er gestanden. Der Bohrer war so laut und seine Stimme so leise
gewesen, dass Charlie nicht sicher war, ob er ihn richtig verstanden hatte. Der neue Tag. Charlie musste ihn finden. Als er vom Münzfernsprecher in der Hotellobby Ettas Nummer wählte, hörte er den Anrufbeantworter mit ruhiger Stimme sagen, dass sie für drei Wochen nicht im Büro sein würde. Dann versuchte er es auf ihrem Mobiltelefon. Als Bereichsleiterin hatte sie die Nummer sämtlichen Teams gegeben, die draußen im Einsatz waren. Daran war nichts Besonderes, nur dass ihre Stimme jetzt alle Anrufer instruierte, sich an Megan zu wenden. Er wusste nicht, wo er es sonst noch versuchen sollte. Er war einmal in Ettas Wohnung gewesen. Vor etwa fünf Jahren hatte er auf dem Weg zum Flughafen die Tickets bei ihr abgeholt. Aber das würde er heute nicht mehr finden. Wahrscheinlich war sie sowieso umgezogen. Sie hatte ihn nicht hineingelassen, nur gelächelt und ihm die Tickets gegeben. Im Hintergrund war klassische Klaviermusik zu hören gewesen. Sie sah jung aus, hatte das Haar im Nacken zusammengebunden und trug ein blaues Kleid. Die Nägel ihrer nackten Füße waren rot lackiert. Sie sah äußerst glücklich und zufrieden aus. Bis hierhin und nicht weiter, hatte sie ihm signalisiert. Er hatte es gleichmütig hingenommen und ihr zugewinkt, als er ins Taxi stieg. Er trat hinaus auf den Platz vor dem Bahnhof und schien nur Augen für das Hässliche zu haben: die Spucke auf dem Gehsteig und das ausgekotzte Essen vor dem Eingang zur UBahn, die blutige Wunde auf der Stirn eines Bettlers. Die das alles wettmachenden Seiten des Lebens musste es doch auch noch geben, dachte er, aber er konnte sie nicht entdecken. Und als er von der in die U-Bahn hinuntergespülten Menschenmasse mitgerissen wurde, hatte er das Gefühl, auf dem Weg in die Hölle zu sein.
Die U-Bahn war überfüllt, und sie blieben zwischen zwei Bahnhöfen stecken. Er hielt, eingekeilt zwischen den Menschen, die Augen geschlossen. Dann fiel ihm die Geschichte ein, die Etta ihm in jener Nacht im Esplanade erzählt hatte, von Jimmy Soundso, dem Sänger, der in ihrer Heimat ein Star war. Sie sagte, er sehe aus wie ein Australier und singe Liebeslieder über vier Oktaven. Die Leute hielten ihn für den Tollsten überhaupt. In einer Fernsehshow krönten sie ihn sogar zum König, und mit der Krone auf dem Kopf sah er tatsächlich wie einer aus. Sie musste lachen, und er auch. Nebeneinander auf dem Bett liegend, beschrieb sie die paillettenbesetzten Anzüge, die er trug, und wie ihm der Schweiß über das Gesicht rann und die Mädchen in der ersten Reihe sich an ihn zu krallen versuchten. Der Höhepunkt der Geschichte war, wie Jimmy eines Morgens ganz früh vom Krähen eines Hahns auf dem Feld des Nachbarn aus dem Schlaf gerissen wurde, die Pistole packte, die seine Frau auf dem Nachttisch hatte liegen lassen, und anfing rumzuballern, und zwar ohne die Fenster zu öffnen. Das Glas splitterte, seine Frau fuhr erschrocken hoch und flehte ihn an aufzuhören. Seine Stimme überschlug sich, und er fuchtelte mit der Waffe herum und schrie, niemand habe das Recht, König Jimmy zu stören. Ein Schuss löste sich, und Jimmy glitt mit einem Staunen im Gesicht zu Boden. Als seine Frau sich zu ihm hinunterbeugte, starrte er sie aus leeren Augen an, mit einem kleinen sauberen Einschussloch an der Schläfe. Charlie erinnerte sich, wie Etta gelacht hatte, die Hand vor dem Mund und kurz davor, in Tränen auszubrechen, als sie Jimmys Schicksal beschrieb. Sie empfand Sympathie für Jimmy, der, wenn auch ein wenig zu spät, zu verstehen schien, dass das Leben völlig außer Kontrolle geraten konnte. Charlie dachte so intensiv an Etta, dass er überrascht war, als der Zug
in seinem Zielbahnhof hielt und er wie ein Paket auf den Bahnsteig geschoben wurde. Sie war natürlich nicht im Büro, aber er blieb an der Glastür zu ihrem Büro stehen und betrachtete die Ordnung ihres kleinen Reichs: den aufgeräumten Schreibtisch, die Mappen mit den von ihr sauber beschrifteten Etiketten ordentlich im Korb gestapelt. Es war ihm nie aufgefallen, wie das Chaos des Nachrichtenraums – die Zeitungsstöße, weggeworfene Skripte, staubige Bildschirme, Klebezettel und halb leere Kaffeetassen – vor ihrer Tür Halt zu machen und der Ruhe ihres Raums zu weichen schien. Er betrachtete ihren Bildschirm und die Maus, den abgeschlossenen Aktenschrank, und er wünschte, er hätte dem allen schon früher Beachtung geschenkt. Neben dem Kleiderständer entdeckte er ein Paar schwarze, hochhackige Schuhe. Er spürte das Verlangen, sie in die Hand zu nehmen, die Finger innen über das Leder und die Vertiefungen gleiten zu lassen, die ihre Zehen in der Sohle hinterlassen hatten. Doch als er die Klinke herunterdrückte, war die Tür verschlossen. Außer der Putzkolonne schien noch niemand da zu sein. Er setzte sich im Mantel vor seinen Schreibtisch, als ginge ihn das Durcheinander darauf nichts an. Dann blätterte er lustlos in den bereits fünf Wochen alten Zeitungen und in den Papieren, in denen er Ideen für ein Skript festgehalten hatte, fegte alles in den Papierkorb und hielt ihn der Putzfrau im Sari hin, die einen roten Fleck mitten auf der Stirn trug und den Korb wortlos in den schwarzen Plastiksack leerte, der an ihrem Karren hing. Er war mit Anfang zwanzig Journalist geworden, dachte er wie jemand, der drauf und dran war, eine salbungsvolle Rede zu halten oder ein Geständnis abzulegen. Als blutjunger Soldat mit vierundzwanzig war es ihm gelungen, mit seiner Highschool-Schreiberei über Sportveranstaltungen eine Koje auf der »Stars and Stripes« in Da Nang zu ergattern. Er wurde nie in wirkliche Kampfhandlungen verwickelt wie sein Vater,
aber er sah, was die Kämpfe den Männern antaten, die man ins Feldlazarett brachte. Er konnte sich noch daran erinnern, wie er durch die Krankenzimmer ging und mit den Männern sprach, die oben an der Route 9 oder in Khe Sanh verwundet worden waren und Beine oder Arme verloren hatten, und wie er, während er an ihren Betten saß und ihre Geschichten aufschrieb, in ihren Augen etwas gesehen hatte, das Scham in ihm hervorrief, ohne zu wissen warum, auch wenn er es jetzt tat. Er schrieb ein paar Geschichten, alles Lügen, wie tapfer sie waren, und kam mit dem Entschluss zurück, in Zukunft mehr bei der Wahrheit zu bleiben. Nach Da Nang waren dafür fast dreißig Jahre Zeit gewesen, angefangen mit der Linotype und mechanischen Schreibmaschinen bis hin zu elektronischer Nachrichtenverarbeitung und Satellitenverbindungen, von der Kleinstadtzeitung zu Hause in die Hauptstadt und in die Außenpolitik. Von all dem zeugten heute ein eigenes Büro, dessen Tür er hinter sich schließen konnte, eine halbe Sekretärin, drei Auszeichnungen an der Wand und so viel Erfahrung, dass er nicht wusste, was er damit anfangen sollte. Ohne es zu begreifen, hatte er alles auf eine Reihe Geschichten reduziert, die sich erzählen ließen, wenn er betrunken war oder jemanden beeindrucken wollte. Mit diesen Geschichten wollte er wohl sagen: Seht, wie ich lebe! Doch jetzt wurde offenbar, dass er so gut wie unberührt von seinem Leben geblieben war. Er hatte es vielleicht satt, aber er war doch unberührt geblieben, so als wäre alles ein langer, langer Actionfilm ohne Ende gewesen. Bis auf diese Frau natürlich. Er betrachtete seine Hände, den Verband. Es ging ihm besser. Er entfernte die Verbände und warf sie in den Müll. Die neue Haut war rosa und zart. Solange die Leute ihm nicht die Hand schüttelten, war alles okay. »Wo zum Teufel waren Sie?«
Es war Megan, füllig, fröhlich, englisch, morgens die Erste und abends die Letzte, und niemand wusste, wie sie lebte. Mit einem Hund? Mit einer Katze? Wen kümmerte es? Er drehte sich zu ihr und stellte fest, wie sehr ihn ihr Anblick freute, die rosa Wangen, das schlecht geschnittene Haar, wie immer ein wenig schlampig aussehend in einem jener weiten, bedruckten Kleider, die gnädig ihren üppigen Leib kaschierten. »Wir haben nach Ihnen gesucht«, sagte sie. »Habt ihr nicht«, erwiderte Charlie und lächelte. »Jacek hat angerufen, also wusstet ihr Bescheid.« »Doch, haben wir, aber Sie waren einfach verschwunden.« »Ich brauchte eine Auszeit, Meg, ein bisschen Ruhe und Frieden.« »Ihre Frau hatte keine Ahnung.« »Sie ist ziemlich sauer auf mich, zugegeben.« Obwohl Megan Elizabeth nie zu Gesicht bekommen hatte, ergriff sie Partei für sie. Weibliche Solidarität. »Sind Sie in Ordnung?« Ihr wunderbarer Süd-Londoner Akzent – Oahdnung? – gefiel ihm. Sie warf ihm einen zweifelnden Blick zu, einen, der Charlie vorbehalten war, einen, der bestätigte, dass er zu einer anderen Gattung gehörte: Männer im Konflikt mit Frauen. »Absolut, Meg.« Im Flur waren Schritte und Stimmen zu hören. Die Frühschicht erschien für die Ein-Uhr-Nachrichten. Dannie, Martin, die verführerisch schöne Maria. Foster und Imran. »Hallo«, sagten sie. »Hallo«, sagte Charlie und hob die Hand ein wenig. Sie waren nicht wirklich neugierig darauf, wo er gesteckt hatte. Sie wollten es nicht wissen. Die Minimalversion reichte ihnen: dass es einen Unfall gegeben hatte, irgendwas mit seinen Händen.
»Eine gute Geschichte, Charles«, sagte Maria und sah ihn mit einem schmelzenden Blick aus ihren braunen Augen von der Tür her an. Sie war der einzige Mensch auf dieser Welt, der ihn »Charles« nannte. Eine seltsame Person, die verführerisch schöne Maria, eine ernste, melancholische palästinensische Christin, deren Figur, Haut und dunkle Augen Männer mit übergroßen Armbanduhren anzogen, mit behaarter Brust und reichlich Import-Export-Geld, während sie sich, wie sie Charlie bei ihrem einzigen spätabendlichen gemeinsamen Drink gestanden hatte, einen Mann mit Feingefühl wünschte. Worauf Charlie geantwortet hatte, dass es so was nicht gab, nicht wirklich, einen Mann mit Feingefühl. »Danke, Maria«, sagte er, aber er dachte an etwas anderes. »Meg, könnte ich das Band haben? Das ganze Material.« Er hatte die Bilder nicht gesehen, und jetzt war nichts anderes wichtig. Meg kam eine Minute später mit zwei Bändern, dem einen, das sie gesendet hatten, und Jaceks Original. Sie sagte, dass Shandler ihn um zehn sehen wolle. Obwohl Charlie das registrierte und dachte, dass Ärger im Verzug war, steckte er bereits das Band in den Recorder. Meg wollte da bleiben, aber er schob sie hinaus, saß allein da, die Jalousien heruntergelassen, und sah alles nochmal von vorn. Der Beitrag war auf die standardmäßigen neunzig Sekunden zusammengeschnitten und, wie er dem Etikett entnehmen konnte, am Ersten und Sechsten ausgestrahlt worden, also vor etwa einem Monat. Sie hatten seinen Kommentar in der Erdkuhle mit reingenommen. Es war schrecklich. Er sah genauso erschüttert und verängstigt aus wie die drei Dorf jungen in ihren Tarnanzügen direkt hinter ihm. Der Rest des Textes wurde vom schmierigen Stedman gesprochen, dessen Stimme absolut alles – vom Erdbeben bis zur Prominentenhochzeit – mit dem gleichen leeren Pathos bedachte. »Zu sehen sind Einheiten der Miliz in Uniformen
der…« Es waren die Aufnahmen, die Jacek mit dem Zoom gemacht hatte, das blaue gepanzerte Fahrzeug, der Anführer auf dem Weg zum Haus, die Flammen, die von der Tür hochschlugen. Und dann war er näher rangegangen, als die Frau aus dem Haus kam. Der Trick mit dem Feuerzeug war zu sehen. Das Feuer auf ihrem Kleid. Charlie ging näher an den Schirm heran, ließ den Film vorwärts, rückwärts laufen, sah sich die Sequenz wieder und wieder an. Dann legte er das Originalband ein und arbeitete sich durch Jaceks Aufnahmen, alles, was rausgeschnitten und gekürzt worden war. Es gab eine Einstellung – unbrauchbar, weil alles zu schnell ging, zu verwackelt (die hätte sonst einen Preis gekriegt, dachte Charlie) –, wie die Frau auf ihn zulief. Wenn man sie anhielt, bis sie von einem Bild zum nächsten sprang, konnte man im Rauch und der Flammenaureole um die Frau herum ihren sich weit öffnenden Mund sehen. Auf und wieder zu. Auf und zu. Charlie spielte mit den Knöpfen, vorwärts, rückwärts, aber er bekam ihr Gesicht nicht scharf, vermochte es nicht festzuhalten und auszudrucken, damit er etwas in Händen hielt. Sie glitt weg in die Flammen, und alles, was er fühlte, war der Schlag ihres Körpers gegen seinen, der Brandgeruch, das Stöhnen an seinem Ohr. Wenn man aber die Aufnahmen mit der Miliz verlangsamte, bis zu dem Augenblick, wo der Anführer ausstieg und zum Haus ging, dann war dessen Gesicht auf ein, zwei Bildern klar zu erkennen. Charlie drosselte die Geschwindigkeit, hielt das Band an, drückte auf Print und wartete, fühlte sich befriedigt und zumindest einer Sache sicher, während das einzelne Bild aus dem Drucker kam. Er hielt es in der Hand und studierte es, als er in Shandlers Büro trat und dieser ihm einen Vortrag hielt. Es war natürlich nicht leicht, denn schließlich war das Material überall gelaufen, und der Sender hatte das Letzte aus der Sache
herausgeholt. Aber so war es nun mal mit Shandler, ihm gefiel, so zu tun, als spielte Geld keine Rolle. Was eine Rolle spielte, war das Prinzip, obwohl Charlie nie vorauszusehen vermochte, worin es gerade diesmal bestand. Und so musste Charlie sich den ganzen pompösen Vortrag anhören, über professionelles Verhalten, darüber, ihn nicht informiert und die Crew zurückgelassen zu haben, ohne Erlaubnis zu verschwinden, sich nicht um die angemessene ärztliche Versorgung zu kümmern – die ganze langweilige Verwaltungsschelte eben. Shandlers Worte prallten von ihm ab, und er hatte Zeit zu erkennen, wie sehr die Situation dem abgedroschenen Klischee glich: Johnson, der Mann vor Ort, gegen Shandler, den Bürohengst. Der Bürohengst gewinnt. »Was heißt das also jetzt?«, fragte Charlie. »Ich hab mich mit dem Gedanken an Ihre Entlassung getragen«, sagte Shandler. »Und warum tun Sie’s nicht?« »Das Material war gut.« »Und es wäre peinlich, den Mann zu feuern, der sich die Hände dabei verbrannt hat, es zu liefern.« »So was in der Art.« »Sie setzen mich also außer Gefecht?« »Büroarbeit für eine Weile. Freue mich, Ihnen so helfen zu können.« Shandler betrachtete ihn über seine Lesebrille hinweg. »Sehen Sie sich das an.« Er gab Shandler das Bild: von einem Mann um die vierzig, dunkles Haar, ordentlich in seiner knapp sitzenden Uniform, eine Hand ausgestreckt, ein Feuerzeug haltend. »Und?« »Ich muss ihn finden.« »Nicht mit meinem Geld, Charlie.«
Also sagte Charlie, was er immer schon hatte sagen wollen und was er im Geist oft geübt hatte – dieses Mal tat er es wirklich. Er schenkte seinem Boss einen langen, warmen Blick und meinte dann: »Shandler, du bist ein Riesenarschloch!« Danach und nach dem Schweigen, das darauf folgte, hatte Charlie das untrügliche Gefühl, dass damit auch die letzten Brücken hinter ihm abgebrochen waren. Bis auf eine. Er verließ das Büro, fuhr mit der U-Bahn ans andere Ende der Stadt und dann mit dem Bus weiter zu der, wie er glaubte, richtigen Haltestelle. Er wusste nicht sicher – er war nun mal nicht der perfekte Vater –, dass sie diese nehmen würde. Aber sie lag am nächsten bei der Schule. Also wartete er, und tatsächlich näherte sich eine kleine Gruppe Kinder in rot-weißen Uniformen. Sie unterhielten sich so angeregt, dass Annie ganz erschrocken schien, als sie ihn lächelnd dastehen sah. »Was tust du denn hier?«, fragte sie. Die anderen Mädchen machten Platz, damit sie sich mit der seltsamen Kreatur befassen konnte. »Ich hole dich ab.« »Aber du holst mich doch nie ab.« Sie besaß keine Ähnlichkeit mit ihren Eltern, dachte er. Die Gene hatten eine Generation übersprungen, und vor ihm stand eine junge Version von Mika, sah zu ihm auf und blinzelte dabei genau, wie seine Mutter es getan hatte. Sicherheitshalber fügte sie hinzu: »Mama hat gesagt, du bist weg.« »Deine Mama hat Recht. Ich war weg, aber jetzt bin ich für einen Tag zurück und hole dich ab.« Er ließ seine Stimme heiter klingen. Das war es, was das Kinderhaben ausmachte: dass man seine Gefühle unter Kontrolle hielt. Sie schien immer noch verwirrt, als der Bus kam, sie einstieg und ihren Ausweis vorzeigte und er fragen musste, wie viel die
Fahrt kostete. Die anderen drei Mädchen setzten sich ganz nach hinten in den Bus, flüsterten und starrten zu ihnen herüber. Annie ließ sich allein auf einem Sitz nieder und hielt den Platz neben sich für ihn frei. Es rührte ihn, wie sehr sie sich um ihn bemühte, obwohl ihre Freundinnen ihn so anstarrten. Er winkte den drei kleinen Hyänen freundlich zu, als er sich hinsetzte. Er fragte sie, was sie gehabt hätten, und sie schüttelte sich und sagte: »Musik«, und der Gedanke, dass ihre Gene einen weiteren eigenartigen Sprung gemacht hatten, ließ ihn lachen. Elizabeth hatte sich damit abgefunden, dass ihr musisches Talent keine Fortsetzung finden würde, so wie sie sich auch damit abgefunden hatte, dass sie selbst nur dieses eine besaß. Wobei sie der Überzeugung war, dass Charlie nur deshalb über keine musische Begabung verfügte, weil er ein Einzelkind gewesen war. Annie zog ihr Übungsbuch aus der Schultasche, legte es auf ihre Knie und er öffnete es und betrachtete ihre runden, schwerfälligen Buchstaben, die sich bemühten, ihre Gedanken festzuhalten. Er folgte ihrem Aufsatz eine Seite hinunter, hinüber zur zweiten und zur nachfolgenden. Sie war in ihrer Gruselphase, und es gab viel Mondlicht, seufzende Bäume und einen heulenden Hund. Der Hund gefalle ihm, sagte er und schlug vor, ihm eine Farbe zu geben. »Aber es ist stockfinster«, sagte sie. »Man kann nicht sehen, welche Farbe er hat.« »Und was ist mit dem Mondlicht?«, konterte er. Sie sah ihn mit großen Augen an und meinte, dass der Hund wahrscheinlich hellbraun sei. Die kleinen Hyänen waren ausgestiegen, und er spürte ihre Erleichterung darüber. Sie fragte ihn, wo er gewesen sei. Das musste er Elizabeth lassen: Der mütterliche Schutz funktionierte. Er sagte nur: »Weg.«
Als sie ausstiegen, streckte er ihr seine Hand hin, und sie nahm sie. Den ganzen Weg durch den Park fühlte er seine neue, noch empfindliche, wunde Haut auf ihrer. »Ich bring dich nur bis zur Tür«, sagte er, als er den Klingelknopf drückte. »Ich muss zurück zur Arbeit.« »Aber es ist schon fast dunkel«, sagte sie ungläubig. Er streichelte ihr Gesicht und schubste sie sanft ins Haus, als die Tür sich öffnete. Elizabeth verbarg ihren Schrecken und schob Annie in den Flur. »Eine Sekunde nur, Schatz«, sagte sie. Charlie fing einen Blick von Annie auf, die sich nach ihm umsah, bevor die Tür sich schloss. »Mach das nie wieder«, fauchte Elizabeth. »Meine Tochter von der Schule abholen?« »Du weißt verflucht noch mal genau, was ich meine«, sagte sie. »Ich wahre den Schein. Nicht deinetwegen, sondern für sie. Und du wirst tun, was ich sage.« »Oder?« Er wollte hören, mit welcher Drohung sie ihm kommen würde, obwohl er eine ziemlich klare Vorstellung davon hatte. »Oder du siehst sie nie wieder.« Sie wollte ihn schlagen, aber er war schneller und hielt ihren Arm beim Handgelenk für eine Sekunde in die Höhe, dann ließ er ihn fallen. Sie machte einen Schritt zurück, kämpfte gegen die Tränen, wischte sie ab, damit Annie sie nicht bemerkte, drückte die Tür mit der Schulter auf, drehte sich um und ging hinein. Dann schloss sie die Tür hinter sich.
8
Etta flog heim in die kleine Stadt im – wie Charlie es nannte – kleinen Land und ließ sich zurücksinken in den Lebensrhythmus ihrer Eltern. Sie ging mit ihrer Mutter einkaufen und mit ihrem Vater zum Arzt, damit er seine Spritzen bekam. Sie waren achtzig und vierundachtzig und lebten seit ihrer Heirat in derselben Wohnung. Etta saß abends mit ihrem Vater am Küchentisch und spielte Karten, während ihre Mutter das Geschirr abwusch. Nichts hatte sich seit ihrer Kindheit verändert. Die Tapeten nicht und auch nicht der Feuerwehrkalender neben der Tür, auch wenn er jedes Jahr ausgetauscht wurde. Die Rituale waren die gleichen – sie las laut aus der Lokalzeitung vor, ihr Vater nickte, und ihre Mutter stellte die Teller in das Abtropfgestell. Etta war glücklich, zu Hause zu sein. Tagsüber bügelte sie für ihre Mutter und hörte dem Klatsch und Tratsch zu. Der hatte sich gegenüber früher von der Stadt auf ihre Straße und von da schließlich in das Treppenhaus verlagert. Ihr Vater war vergesslich geworden, aber es war eine Vergesslichkeit, die nicht besonders auffiel. Eines Abends stand Etta in der Tür zum Schlafzimmer der beiden, wo sie in getrennten Betten schliefen, lauschte ihrem Atem und hatte das Gefühl, dass sie schutzbedürftig geworden waren wie Kinder. Sie zahlte ihre Rechnungen, vereinbarte mit den Nachbarn, dass das Feuerholz die drei Stockwerke hinaufgetragen und auf dem Balkon gestapelt wurde. Sie unternahm einsame Spaziergänge hinaus auf die nackten Felder vor der Stadt. Eines Abends vor dem Zubettgehen strich die Mutter über Ettas Gesicht und sagte, sie sehe aus, als hätte sie Sorgen. Etta
lächelte und meinte, es sei alles in Ordnung. Ihre Mutter schlug vor, Onkel Stefan einmal zu besuchen. Sein Geschäft laufe gut, und er sei in eine große Villa hoch über der Stadt gezogen. Er lebe immer noch allein. Etta küsste ihre Mutter auf die Stirn und sagte, sie solle sich hinlegen. »Warum besuchst du ihn nicht? Er fragt nach dir.« »Ich freue mich für ihn. Jetzt geh schlafen.« Ihre Mutter verschwand im Schlafzimmer, doch bevor sie die Tür schloss, warf sie ihrer Tochter noch einen besorgten, fragenden Blick zu. Wie immer, wenn sie ihre Eltern besuchte, hielt sich Etta von ihm fern. Es schmerzte schon lang nicht mehr und machte nicht mal mehr viel aus. Sie hatte damit abgeschlossen, wollte ihm aber dennoch nicht begegnen und das auch nicht mit ihrer Mutter besprechen, obwohl sie sich fragte, was ihre Mutter wusste oder nicht. An diesem Abend, als ihre Eltern bereits schliefen, rief Etta Meg an und erfuhr von dem Vorfall mit Shandler und dass es passiert sei, nachdem Charlie sich die Bänder angesehen habe. Jetzt sei er verschwunden, und niemand wisse, wohin. Meg sagte, er habe gelächelt, als er aus Shandlers Büro den Flur entlangkam, und sei geradewegs nach draußen marschiert, mit nichts in der Hand als einem Foto. Etta gefiel die Geschichte nicht, besonders nicht Charlies Lächeln. Die Jahre über hatte sie seine Zweikämpfe mit Shandler verfolgt, und nicht selten hatte er sich anschließend dumm verhalten. Sie dachte an die zertrümmerte Perrierflasche. Jetzt hatte er gelächelt. Endlich frei, musste er gedacht haben. Dieser Gedanke war gefährlich, besonders wenn man Charlie Johnson hieß. Meg erzählte auch, dass Elizabeth angerufen habe. Sie sei in schlechter Verfassung. Nicht, dass sie geheult hätte, aber sie habe wissen wollen, wo sich Charlie aufhalte. Er sei seit Tagen verschwunden, sie habe überall nachgefragt, aber er sei
nirgends zu finden. Elizabeth habe auch gefragt, wo Etta sei. Also habe sie es ihr gesagt. Meg entschuldigte sich, aber Etta meinte, das sei in Ordnung. Gleich darauf rief sie in Polen an. Janek kam an den Apparat, immer noch wach, obwohl es bereits etwa ein Uhr morgens war. Sie war ihm nie persönlich begegnet, auch wenn sie ihn unzählige Male gebucht hatte. Sie kannte Charlies Geschichten über ihn und der Punkt war, Janek war der Verlässlichere von beiden. Als sie Jacek sagte, dass Charlie verschwunden sei, verfiel er eine Weile in Schweigen und erzählte dann, was er zu Charlie am Flughafen gesagt hatte. Jacek sagte, es tue ihm Leid, dass er es gesagt habe. Oder nein, er habe es schon so gemeint, aber Leid in Bezug darauf, wohin es führen könne. Obwohl, sagte Etta, das könnte der Anhaltspunkt sein, den sie bräuchten. Ja, stimmte Jacek zu. Das war ein Anhaltspunkt. Sie gab ihm ihre Nummer, legte auf, setzte sich aufs Bett und rieb sich die Arme. Sie fror. Das Schwein umbringen. Das musste man nicht unbedingt wörtlich nehmen. Charlie übertrieb schon mal. Ließ sich von den eigenen Worten mitreißen. Was nicht hieß, dass er es wirklich so meinte. Er wollte den Kerl vielleicht nur mit seiner Tat konfrontieren. Ja, ihn damit konfrontieren, ihn Angst, Bedauern, alles Mögliche spüren zu lassen. Es bedeutete nicht notwendigerweise, dass er ihn tatsächlich umbringen wollte. Sie holte ihr schwarzes Buch hervor, rief ein paar Vierundzwanzig-Stunden-Nummern an und brachte alles Nötige in Erfahrung, so dass, als Jacek anrief, der sich das Gleiche überlegt haben müsste, und sagte, dass er hinwolle, sie auch für ihn bereits Flüge hatte und er etwa zur gleichen Zeit ankommen würde, zumindest hoffte sie das. Es ging noch um
die Visa, aber wenn Charlie eins erhalten hatte, würden sie es auch, wahrscheinlich am Flughafen. Dann kam Magda an den Apparat und bat Jacek, sie mit Etta allein zu lassen. Die Frauen hatten sich ebenfalls noch nie gesehen, aber das spielte jetzt keine Rolle. Magda sagte, sie mache sich Sorgen, es sei gefährlich, wenn Jacek und Charlie zusammen loszögen. Etta stimmte ihr zu. Die Sache, sagte Magda, habe auch Jacek zugesetzt. Er sei immer noch nicht wieder auf dem Damm und brauche noch Ruhe. Da sie ihn aber nicht aufhalten könne, wolle sie, dass Etta sich der Risiken bewusst sei, wenn die beiden sich jetzt wieder auf den Weg machten. Charlie gehe es um keinen Deut besser. Etta sagte, sie verstehe. Und dann fügte sie hinzu, dass sie mitkäme. »Um ein Auge auf sie zu haben.« Sie lachten, der Gedanke schien so unwirklich, aber es war, wie es war. Sie waren beide nicht zum Retter geschaffen und wussten, dass sich sowieso keiner der beiden einfach so würde retten lassen. Aber man musste sie im Auge behalten. Ihnen war nicht zu trauen. Auch wenn nicht alles wörtlich genommen werden müsste, so konnte die Sache doch aus dem Ruder laufen. Etta sagte Magda, sie solle sich keine Sorgen machen. Als Bereichsleiterin sei es ihr Job, sich auf mögliche Konsequenzen einzustellen, die Crews zu warnen und unter Umständen auch die, denen nicht klar war, was sie taten, dazu zu bringen, dass sie es begriffen. »Ich will, dass Jacek damit aufhört«, sagte Magda. »Ich wüsste nicht, wie das gehen sollte«, antwortete Etta. »Er muss sehen, was ich sehe«, sagte Magda. »Das tun sie nie«, sagte Etta. Am Morgen rief sie Buddy an, Charlies Kontaktmann in Belgrad, und Meg, die meinte, sie werde Elizabeth im Moment noch nicht informieren, nur darüber, dass Jacek ihn suche. Etta hatte auch Elizabeth nie getroffen. Was geschehen war, hatte
allein mit Charlie und ihr zu tun. Sie war zwar nicht nur zu ihm geflogen, um Krankenschwester zu spielen, aber mit ihren Hoffnungen hatte sie sich zurückgehalten. Als Charlie wollte, dass sie blieb, hatte sie versucht, ihn nach Hause zu holen. Aus ihrer Sicht war sie Elizabeth also nichts schuldig, sie konnte ihr jederzeit in die Augen sehen. Wenn sie sich auch nicht vorstellen konnte, dass es besonders angenehm sein würde. Als sie sich von ihren Eltern verabschiedet hatte und im Flugzeug nach London saß, war ihr Problem nicht Elizabeth, sondern Charlie und Jacek. Ihr ging noch immer einer von Magdas Sätzen durch den Kopf. Auf den beiden Männern, hatte sie gesagt, laste ein Fluch, nein, es sei mehr, es sei, als verbände sie eine schreckliche Wut, ein Gefühl, das so gar nicht zu ihrem Mann passe, das ihn aber – sie suchte nach dem richtigen Wort – korrumpiere. So hatte Etta es noch nie gesehen. Magda meinte, dass die beiden Männer, die im Grunde anständige Kerle seien, unmerklich von den Gräueln, die sie in ihrem Beruf erlebten und für deren Dokumentation sie schließlich bezahlt würden, verroht worden seien. Keiner habe bemerkt, was mit ihnen passiert sei, aber als Frau sehe sie die Gereiztheit und Nervosität, die Distanz, der plötzliche Zorn, der sie überkomme, wenn der Korken nicht aus der Flasche gehe, der Wagen nicht anspringe… Nichtigkeiten. Etwas habe Besitz von ihnen ergriffen, höhle ihre Fähigkeit aus, sich vor dem zu schützen, was sie sähen. Was immer es auch sei, es fresse ihre Urteilskraft auf. Magda sagte, man könne sich kaum ansehen, was Jacek gesehen habe, Jahr für Jahr. Etta, die selbst das ganze Material zu Gesicht bekommen, ihm meist jedoch keine besondere Beachtung geschenkt hatte, begriff dennoch, was Magda sagen wollte. Diese Jungen mit ihren Gewehren, die auf ihren Fußballen hin und her tänzelten und alles mit Feuergarben verwüsteten; die zerstückelten, geschändeten
Körper; die weinenden Frauen; die verzweifelten, barfüßigen Waisen – sie alle stahlen sich in sie hinein, ergriffen Besitz von ihnen. Verließen sie nie wieder. So kam es, dass als Charlie und Jacek am Ende etwas erlebten, das ihnen tatsächlich das Herz brach, als sie die Frau sterben sahen, auf diese Weise, zu ihnen aufblickend aus jenem Reich jenseits der Hoffnung, dass da der einzige Weg, sich davon reinzuwaschen, in der Gewalt lag. Etta verstand, was Charlie gedacht haben musste, als er Shandlers Büro mit dem Foto des Milizoffiziers in der Hand verließ. Er hatte geglaubt, frei zu sein, der Wahrheit zu dienen, der heiligen Gerechtigkeit. In Wirklichkeit jedoch bedeuteten Wahrheit und Gerechtigkeit nur Vernichtung. Etta sah ihn so klar vor sich, mit einer Zärtlichkeit, die durch Magdas Gefühle für ihren Mann verstärkt worden war. Charlie war nicht er selbst, und das musste sie ihm klar machen. Das Schwein umbringen. Er sollte begreifen, dass diese Frau etwas Besseres verdiente als Rache. Wir werden dich nicht vergessen. Wir werden dir Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sie sah, wie die Stadt unter ihr aus dem Dunkel herauswuchs. Das Fahrwerk öffnete sich mit einem Stöhnen, das Flugzeug bereitete sich auf die Landung vor und sie wusste, die Chancen, Charlie all dies begreiflich zu machen, standen schlecht. Im besten Fall würde sie ihn ablenken können, Zeit gewinnen, bis er verstand, dass er wie besessen war. Vielleicht klang etwas in ihrer Stimme mit, das ihn innehalten und nachdenken ließ, bevor er etwas tat, das sich nicht mehr rückgängig machen ließ. Einmal hatte er sie bereits gebraucht. Vielleicht hörte er jetzt auf sie.
9
Charlie fuhr auf Autopilot geschaltet ins Moskva, direkt vom Flughafen, wie er es immer tat. Jetzt, wo er aus dem Job war, musste er selbst zahlen, aber er glaubte, er brauche das Moskva, auch wenn es nicht billig war. Er wollte sich wie früher fühlen. Der große, gut aussehende Goran hinter dem Tresen tat ihm den Gefallen. »Wie in alten Tagen«, sagte er und gab Charlie lächelnd den Zimmerschlüssel. Goran hatte ihm immer ein kleines Rätsel aufgegeben. Er war so gut angezogen, und es gab keine Frau, die nicht dachte, er sei interessant. Aber er war Nachtportier im Moskva. Das ließ vermuten, dass er entweder eine aristokratische Seele besaß und sich nichts aus Geld machte oder noch einen Zweit job bei der Obrigkeit hatte. Er trug sich unter Gorans wohlwollendem Blick ein und war sich sicher, dass die Staatsgorillas bald wussten, wo er wohnte. Aber wahrscheinlich wussten sie sowieso längst, dass er hier war. Die charmante Person in der Londoner Botschaft, die die Visa verteilte, würde schon dafür gesorgt haben. Wenn sie es also wussten? Sie hatten ihn hereingelassen, und das allein zählte. Es war beruhigend, wieder in die extravaganten doppelstöckigen Räume zu kommen, mit ihren Innenbaikonen und dem Parkett aus den Dreißigern, im zweiten Stock rechts, wo alle Ausländer untergebracht wurden, vermutlich, weil es so leichter war, sie abzuhören. Und Charlie freute es auch, die spätabends am Treppenaufgang sitzenden Mädchen zu sehen, in ihren Sesseln direkt neben dem Aufzug, wo sie rauchten und ein wenig die Beine öffneten für den Fall, dass einer nicht begriff. Sie sahen umwerfend aus, und wenn er ehrlich war, verspürte er ein
gewisses Bedürfnis. Aber er hatte nie dafür bezahlt, denn er glaubte, es mit etwas Glück und Berechnung anderswo auch umsonst zu bekommen. Also winkte er ihnen freundlich zu, sie winkten zurück und dachten, was für ein Trottel ist das, und er ging allein hinauf in sein Zimmer, allein, aber auch nicht einsamer, als wenn er ein paar Stunden später mit einer zweiundzwanzigjährigen Sonja aufgewacht wäre, die ihn mustern würde wie ein altes Wrack, während sie sich die Zähne mit der Spitze ihres rot lackierten Fingernagels säuberte. Der erste Anruf galt wie immer Buddy. »Etta hat mir gesagt, dass mit Ihnen zu rechnen ist«, sagte Buddy mit seiner leisen, rauchigen Stimme. Charlie war nicht gerade erfreut, das zu hören, sagte aber nichts weiter dazu. Sie hatten schon so oft zusammengearbeitet, dass Charlie nicht mehr wusste, wie Buddy tatsächlich hieß. In seinem Adressbuch stand einfach nur »Buddy«, und Buddy funktionierte wie eine Art Schalter, der in die eine oder die andere Richtung kippte. Entweder hieß es: »Da ist Problem« oder: »Da ist kein Problem.« »Problem« bedeutete in Buddys Wortschatz, dass das, was Charlie vorschlug, Leben kosten konnte, »kein Problem« bedeutete, dass er einen Weg sah, das Risiko von tödlich auf handhabbar zu reduzieren. Als Buddy sich diesmal unter die blaue Markise des Straßencafes setzte, das zum Moskva gehörte, und das Foto studierte, das Charlie ihm gab, der Uniform besondere Beachtung schenkte, die Epauletten betrachtete und nach Hinweisen auf die Einheit suchte, sagte er gar nichts. Dieser Job schien über die gewohnten Kategorien von »Problem – kein Problem« hinauszugehen. Charlie war sich klar, dass sein »Ich-will-diesen-Mann-finden« nicht unbedingt einen Sinn ergab. Zum einen, wo war Jacek? Warum wollte er jemanden finden und hatte keine Crew dabei? Charlie kalkulierte, dass, wenn er nach einem Mann in der
Uniform einer Spezialeinheit fragte, ernst und mit diesem besonderen halbdistanzierten Ausdruck in den Augen, dass Buddy dann glauben würde, es handle sich um eine Geschichte über Kriegsverbrechen. Die hatten sie schon früher gemacht. Charlie hielt es nicht für ratsam, Buddy wissen zu lassen, worum es ging. Er war sich ja selbst nicht wirklich sicher. Jaceks Abschiedsworte am Flughafen gingen ihm durch den Kopf, und damit war eine allgemeine Richtung beschrieben, aber wie die Vorgehensweise im Einzelnen aussehen würde, das war längst nicht klar. Es gab nicht das, was man einen Plan hätte nennen können. Buddy, diskret wie immer, sah die roten Flecken auf Charlies Händen und stellte keine Fragen. Er konnte die nötigen Schlüsse selber ziehen. Charlie war an der Front gewesen und hatte etwas miterlebt, das ihn aus der Bahn geworfen und verstört hatte. Klar war auch, dass das Foto, das er ihm gegeben hatte, aus den Aufnahmen stammte, die sie dort unten gemacht hatten. So fügten sich gewisse Dinge zusammen, und Buddy schien nicht zu bezweifeln, dass Charlie mit einem Auftrag hier war. Es war letztlich wie immer. Womit Buddy dann herausrückte, als er eine Weile nachgedacht hatte, war, dass er ein paar Leute kannte. Was für Leute? Buddy hob die Schultern und schien leicht zusammenzuzucken. Leute eben. Also betrachtete Charlie die Mädchen, die am Cafe vorüberliefen, und überlegte, wie glücklich er doch war, zurück zu sein, während Buddy seine Leute anrief. Charlie verstand die Sprache nicht, aber er hatte den Eindruck, dass Buddy vorankam. Buddy war dünn, ja ausgezehrt, älter als Charlie und hatte das Auftreten eines gescheiterten, in Unehren entlassenen Professors. Vor Jahren hatten sie einmal bis spät in die Nacht hinein geredet, und Charlie erinnerte sich, dass es ständig Gadamer hier und Marcuse da geheißen hatte und die Jahre
von Buddy abzufallen schienen. Er gehörte zu jenen eifrigen, hoffnungsfrohen Marxisten, die in den siebziger Jahren auf Ausländer einredeten und vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz schwärmten. Mittlerweile konnte man von all dem nichts mehr spüren. Geblieben waren allein die Diktion und die gewählte Sprache. Irgendwann nach dem Scheitern seiner akademischen Laufbahn hatte Buddy zehn Jahre in New York verbracht: in Brooklyn, genauer gesagt. Aber das Exil hatte seiner Natur widersprochen. »Selbst in Scheiße ist es besser«, war alles, was er sagte, wenn man ihn fragte, warum er zurückgekehrt sei. Charlie vermutete, dass er eigentlich hatte bleiben wollen, dann aber mit vielen Dingen nicht zurechtkam, zum Beispiel damit, in einer Sprache zu leben, die nicht seine war. Auch eine Suzanna, viel jünger als Buddy, war mit im Spiel gewesen, wenn Charlie sich richtig erinnerte. Während sie zur Fordham Law School ging, hockte er zu Hause und hörte Kurzwellensender. Am Ende kehrte Buddy genau in dem Moment zurück, als sein Land in den Selbstmord stürzte, sprach perfekt Englisch, war noch ein bisschen trauriger als zuvor und ein ganzes Stück älter. »Timing war perfekt«, hatte er einmal gesagt. »Ich verschwinde, und Land geht es gut. Ich komme zurück, und wir sind mitten in Versuch, wie wir es am besten zerstören.« Der eine renitente Widerstand Buddys gegen das Englische bestand darin, dass er die bestimmten Artikel ausließ. Es hieß immer »Problem«, nie »das Problem«. Ansonsten hatte er einen perfekten New Yorker Akzent. Eigentlich schon zu perfekt. Es schien nicht wirklich vertrauenswürdig, so gewandt von einer Sprache in die andere zu wechseln und dabei keine Spur von sich selbst zu hinterlassen. Charlie fragte Buddy einmal danach. »Warum mein Englisch so perfekt ist?« Buddy sann über die Frage nach. »Weil Englisch so primitiv ist, verglichen mit
unserer Sprache.« Dann lächelte er und zeigte eine beeindruckende Reihe langer gelber Zähne. Dennoch, Perfektion war nach Charlies Empfinden verdächtig. Leute mit perfektem Englisch stellten sich am Ende als Agenten heraus. Nur, Buddy anzuheuern hätte wohl zu viel an Fantasie verlangt. Als Charlie ihn so betrachtete, mit dem Telefon am Ohr, an der Zigarette nuckelnd, die ihm an der Unterlippe hing, während er seinen Blick über die Passanten schweifen ließ, dachte er, dass es falsch war, ihm nicht zu trauen. Oder besser: Buddy war zumindest genauso vertrauenswürdig wie jeder andere. Charlie fühlte sich gefährlich losgelöst von seiner Umgebung, sah die Mädchen in ihren Jeans wie auf Zelluloid vorbeispazieren, wie in einer langweiligen Spätvorstellung und nicht im zischenden, schwefeligen Licht der Straßenlaternen. Ihm gefiel dieses Gefühl von Losgelöstheit nicht, und er wollte, dass es aufhörte, aber wie bei fortgeschrittener Trunkenheit ließ es sich nicht einfach so vertreiben. Wenn er darüber nachdachte – Buddy war okay. Er erinnerte sich an jene Nacht, als sie am Kontrollpunkt auf der Autobahn von den Tigern gestoppt wurden. Die Kerle hatten sie einzeln aus dem Jeep gezerrt und in den verschissenen Verhörraum im nahen Bahnhof verfrachtet. Sie hatten Buddy ernsthaft in die Mangel genommen. »Das ist normal«, hatte Buddy ihm zugeflüstert, als der Besoffene mit der Pistole herumfuchtelte und rief, dass er sie verflucht noch mal alle killen werde, verflucht noch mal alle. Was Buddy mit normal meinte, war, dass die Flucherei den Kerl verriet. Wirkliche Killer fluchten nicht. Dieser Mann, dem der Schweiß herunterlief und die Augen im Suff außer Kontrolle gerieten, war nicht wirklich gefährlich, einfach nur unberechenbar, und Charlie sagte sich immer wieder, das ist normal. Und der Besoffene schwenkte die Kanone zur Unterhaltung der Jungs, die vor der Rückwand
seines Büros herumlümmelten. Fieslinge wie die sahen es immer auf den ab, der ihre Sprache verstand, und so traf es Buddy. Und zwar auf Englisch: »They fuck your mother? Arbeitest du deshalb für sie?« »Sie bezahlen mich«, sagte Buddy. »Was zum Teufel zahlen sie dir?« Er gab ihm eine Zahl. »Wie verdammt noch mal heißt du?« Buddy sagte ihm seinen Namen. »Und warum nennt dich dieser Scheißhaufen dann Buddy?« »Das ist mein Spitzname.« Da schlug er ihn. Jacek machte einen Satz nach vorn, aber die Kerle im Hintergrund waren schon bei ihm und setzten ihn wieder hin. »Komm mir nicht komisch, Scheißhaufen.« Das Arschloch brauchte drei Stunden, um nüchtern zu werden, drei Stunden, bis der Giftgehalt der Luft sich verflüchtigt hatte und alle mürrisch übereinkamen, dass es sich um ein Missverständnis handelte. Sie brachten Buddy zurück in den Jeep, der immer noch am Kontrollpunkt stand, umgeben von Tigern, die in schwarzen Müllsäcken über ihren Arbeitsanzügen steckten, um sich gegen den Regen zu schützen. Sie hoben die Schranke und ließen sie durch. Buddy verfiel in Schweigen, während das qualmende Holzfeuer in der Tonne am Kontrollpunkt in ihrem Rückspiegel immer kleiner wurde. Sie passierten weitere vier Kontrollpunkte, bis sie aus der aktiven Zone heraus waren, und Buddy sagte kein Wort. Er nahm nicht mal die Zigarette, die Charlie ihm anbot. Sicher – Buddy war okay. Nachdem er mit seinen Leuten gesprochen hatte, sah Buddys Plan wie folgt aus: mit dem öffentlichen Bus nach Süden zu einer bestimmten Stadt fahren, da in eine Bar gehen, die Buddy
kannte, und warten, bis Männer von der Einheit kamen, um was zu trinken. Die dann zum Reden bringen. Warum gerade diese Stadt? Nun, vor allem, weil die Spezialeinheiten dort stationiert waren und einige der Leute vielleicht was rausließen. Der Grund, warum dort einige reden mochten, war, dass der einzige Reservistenaufstand, von dem man wusste, ebendort stattgefunden hatte. Die Jungs hatten Urlaub gemacht, waren aus der Zone zurückgekommen, gingen zur örtlichen Zeitung und verkündeten, sie würden nicht wieder losziehen, sie hätten die Schnauze voll. Sie organisierten sogar eine Kundgebung direkt vorm Parteihauptquartier. Da könnte es sein, überlegte Buddy, dass einer von ihnen mit dem Finger auf den zeigte, den Charlie sprechen wollte. Aber der Plan war riskant. Die lokalen amtlichen Organe würden sie aus dem Bus holen, wenn sie herausfanden, wohin Charlie und Buddy wollten. Andererseits war es auch hier nicht anders, wenn sie einen mit einem in Uniform reden sahen. Charlie würde sich also unverdächtig machen und Buddys zurückgebliebenen Bruder oder sonst was spielen und zweihundert Kilometer lang kein Wort reden. Es war möglich. Das Ganze einen Plan zu nennen beruhigte, obwohl sie beide wussten, dass es den Namen nicht verdiente. Sie brauchten einen Informanten, sie brauchten Glück. Und beiden war klar, dass sie nicht wussten, was sie tun sollten, wenn sie tatsächlich Glück hatten. »Es ist eine Improvisation«, sagte Buddy. Charlie zog eine Rolle Dollarnoten heraus, Buddy legte die Hand darum, und sie waren im Geschäft. Das Gute an Buddy war, überlegte Charlie, als er zurück in sein Zimmer kam, dass er nie nach irgendwelchen Beweggründen fragte. Er sagte nicht: Charlie, was ist die Story? Was machst du da? Diese lobenswerte Zurückhaltung war nach Charlies Dafürhalten das Ergebnis jahrelanger Arbeit
als Kontaktmann für ausländische Teams. Sie kamen her, hatten verrückte Ideen für Storys, die sie meist von Konkurrenten geklaut hatten, und von Buddy hörten sie nicht ein einziges Warum. Er hatte der »Sie-zahlen-mich-nicht-umzu-denken«-Seite seiner Person erlaubt, ins Kraut zu schießen. Das Ergebnis war weitgehend positiv: Zum Beispiel quatschte er im Wagen der Crew nicht herum, machte bei blödsinnigen Ideen nicht mit und rauchte wenig. Er ließ sich einfach in seinen Sitz sinken und starrte ins Nichts, erzählte nur gelegentlich einen Witz über ein Mädchen, das er in der Stadt kannte, durch die sie gerade fuhren. Die Witze hatten dadurch einen gewissen Charme, dass Buddy sich in der Rolle des glücklosen Opfers einer durchtriebenen Blondine nach der anderen gefiel, auch wenn zu bezweifeln war, dass viel Wahres an diesen Geschichten war. Aber Buddy hatte auch Seiten, die Charlie ärgerlich machten. Einmal waren sie auf eine Flüchtlingsgeschichte hin in die Stadt gekommen. Sie hatten eine Woche damit zugebracht herauszufinden, dass die massakrierten Flüchtlingskinder, die Unschuldigen, die man ans Messer geliefert hatte, eine Fata Morgana waren. Alles, was sie stattdessen fanden, war ein düsteres Hotel am Stadtrand, wo die hingemetzelten Kinder wieder aufgetaucht waren, heil und sicher. Es war komisch, zumindest in der Rückschau, wie sie durch das Motel gestürmt waren. Jacek, gereizt die aufgehängte Wäsche zur Seite schlagend, wütend, dass die Kinder nach allem nun tatsächlich hier waren, verdreckt, müde, heruntergekommen und unverletzt. Der Blick in Buddys Augen zeigte, dass er von Anfang an Bescheid gewusst hatte. Charlie hatte an allen möglichen Orten mit Kontaktmännern zusammengearbeitet, aber keiner hatte so über allem gestanden und sich geweigert, die Katastrophen vorauszusehen, die seine
Geldgeber heraufbeschworen. Es war Verachtung, keine Trägheit, entschied Charlie. Buddy war bereit, sich um Dinge zu kümmern, die andere angerichtet hatten. Wenn aber ein Team, für das er arbeitete, etwas absolut vermasseln wollte, war es nicht seine Sache, die Leute zu stoppen. Charlies Arbeitshypothese diesmal war – nachdem sie immerhin sechs Aufträge oder auch mehr zusammen erledigt hatten –, dass Buddy ihn hoffentlich warnen würde, wenn er Ärger heraufziehen sah. Obwohl, wenn er genauer darüber nachdachte, sah er selbst womöglich den Ärger eher voraus als Buddy. Er hatte ihm nicht die ganze Geschichte erzählt, was hieß, dass es wahrscheinlich zu einigen brenzligen Situationen kommen würde, wenn Buddy herausfand, worauf er sich eingelassen hatte. Aber nach reiflicher Überlegung glaubte Charlie nicht, dass Buddy ausscheren würde. Warum, wusste er nicht zu sagen. Es hatte mit dem Schweigen zu tun, in das Buddy nach dem Vorfall mit den Tigern verfallen war. Während der vielen Kilometer in der nachfolgenden Nacht, als sie von einem Kontrollpunkt zum anderen fuhren und Buddy unverwandt nach vorn starrte, war sein Hass auf diese Menschen zu spüren gewesen und auf das, was sie seinem Land angetan hatten. Solcher Hass war ein Leitstern. Man konnte seinen Kompass danach einstellen, zumindest nahm Charlie das an. Und doch, als er das Licht im Moskva ausschaltete, dachte er, dass es ein weit verbreiteter Fehler im Leben war anzunehmen, dass Überzeugungen ansteckten und dass, wenn man etwas mit kalter Wut empfand, Buddy oder andere auch so fühlten. Charlie hatte nur selten Träume, doch in dieser Nacht träumte er von Annie. Er hatte sie vom Hotel aus anrufen wollen, es dann aber nicht getan, und jetzt konnte er nicht, wie er feststellen musste. Er hatte beim Einschlafen zu den
Vorhängen hinübergesehen, die sich im Wind bauschten, und an sie gedacht. Die Stadt draußen wurde ruhiger und versank in Schlaf. Als er sie im Traum sah, wirkte alles so real, dass er laut nach ihr rufen wollte. Sie waren auf der Insel, und sie stieg in das kleine, stahlgerahmte Boot mit dem Außenbordmotor. Sie war vielleicht vier und trug eine Schwimmweste. Sie trat vorsichtig ins Boot, so wie er es ihr beigebracht hatte. Erst die eine, dann die andere Hand auf die Ruderbank legen, sich nicht hinstellen, einfach vorsichtig auf den Platz rutschen. Sie hatte Jeans an und das rote Oberteil, die Zehennägel an ihren nackten Füßen waren hellgrün lackiert. Als sie saß, im Heck, sah sie zu ihm auf. Ihr Haar war zu zwei Büscheln zusammengebunden. Sie sagte etwas, rief ihm vielleicht zu, auch ins Boot zu kommen, doch er konnte die Worte nicht verstehen. Es war Morgen, und er wusste, dass sie zur Marina hinüberfuhren, um Brot und frischen Kaffee zu besorgen, und der ganze Tag lag noch vor ihnen. Als er aufwachte, hingen die Vorhänge bewegungslos in den offenen Fenstern, und die Stadt lag ruhig in der Dunkelheit.
10
Schließlich herrschte Krieg, und es war nicht klug, in einem Bus, der Richtung Front fuhr, wie ein Ausländer auszusehen. Also spielte er den ganzen Tag über Buddys schweigsamen, nicht ganz zurechnungsfähigen Bruder, während der Bus, eines dieser Abgas speienden Monster, seinen Weg nach Süden suchte, von einem Dorf zum anderen. Auf dem Platz hinter ihnen saß ein Mann, der verdächtig aussah. Deshalb redeten sie nicht, auch nicht, wenn der Bus an einer Benzinsäule hielt und alle ihre Platz verließen, um zu rauchen oder sich zu erleichtern. Selbst nachdem der Mann auf halber Strecke in einer Stadt ausgestiegen war, sprachen sie nicht. Es war ein freundlicher Frühlingstag, und aus den geöffneten Fenstern flatterten die Vorhänge. Charlie dachte an die Busse in Griechenland, ein halbes Menschenleben früher. Das norwegische Mädchen hatte einen Strohhut getragen. Er kannte nur ihren Vornamen. Sie reisten fast den ganzen Tag zusammen, sich ständig des Stücks heißer Haut bewusst, wo sich ihre Körper berührten. Sie musste jetzt fünfzig sein, und er würde sie bestimmt nicht wiedererkennen, wenn er ihr auf der Straße begegnete. Er fragte sich, ob sie sich noch des alten Mönchs auf dem Esel entsann, der in der Dämmerung durch den Zitronenhain ritt. Er fragte sich, wie sie die Nacht am Strand in Erinnerung behalten haben mochte, als sie nackt dalagen und sie sagte, er dürfe, so leise, dass er es zuerst nicht geglaubt hatte. Dann fügte sie noch hinzu: »Aber du musst vorher wieder rauskommen«, weil sie nicht verhütete. Also hielt er sich daran, sie war sehr eng, und vielleicht tat es ihr weh, aber sie beklagte sich nicht. Sie war ein grobknochiges
Mädchen mit breitem Becken, bitterer weißer Haut und Sommersprossen am ganzen Körper. Hinterher hatten sie im Zimmer über der Strandtaverne geschlafen. Mitten in der Nacht kam ein Betrunkener in den Raum gestürzt und fiel auf das Bett an der gegenüberliegenden Wand. Sie warteten, ob er sich bewegen würde, und als er nichts dergleichen tat, entschieden sie, ihn so liegen zu lassen, schwer atmend, mit dem Gesicht nach unten und vollständig angezogen. Als er am nächsten Tag aufwachte, waren seine ersten Worte, auf Englisch: »Who the fuck are you?« Es stellte sich heraus, dass er der Bruder des Tavernenbesitzers und Koch war, in Macclesfields lebte und nach Hause gekommen war, um Urlaub zu machen. Er fand es nicht gerade witzig, dass sein Bruder sein Zimmer noch an jemand anders vermietet hatte. Sein Name war Spiro. Er betrachtete das hübsche blonde Mädchen, das sich die Bettdecke bis ans Kinn zog, als sei Charlie der glücklichste Mann auf dieser Welt. Was in diesem Augenblick auch stimmte. Die Erinnerung daran war so stark, dass Charlie lachen musste, ein halbes Leben später. Die alte Frau mit dem Schultertuch auf dem Platz neben ihnen warf ihm einen befremdeten Blick zu, genau wie der Mann mit der Nase voller geplatzter Adern, der die amtliche Zeitung las. Das war natürlich kein Problem, denn schließlich war Charlie Buddys zurückgebliebener Bruder. Und nur Verrückte lachen ohne Grund. Er war immer noch guter Laune, als sie den Bus im Depot der südlichen Stadt verließen, in der sie laut Buddys Aussage die Reservisten finden würden. Es sah genauso aus, wie er es sich vorgestellt hatte, wobei Charlie begriff, dass ihn nur noch wenige Orte überraschten. Er war in dem Alter, vor dem ihn sein Vater immer gewarnt hatte, wenn Überraschungen seltener und seltener werden. Alles, was man von einer Stadt dieser Größe erwartete, war da: altmodische Kasernen im
imperialen Stil, eine abgeschlossene Barockkirche, ein gelb und weiß gestrichenes Parteigebäude, das einen Park mit umherfliegendem Papier und Kinderschaukeln überschattete, ein vernagelter Zeitungskiosk und die Neonlettern des Hotel Sport, die aufleuchteten, als das Licht dahinschwand wie schmutziges Wasser aus einer Badewanne. Er konnte sich nicht vorstellen, in so einer Stadt zu leben. Die Einwohner kannten nichts anderes und glaubten vielleicht, dass es überall so sei, obwohl nicht viele von ihnen zu sehen waren, die man hätte fragen können. »Ein Kaff«, stellte Buddy fest, während er den Blick über die Szenerie schweifen ließ. Andererseits auch der einzige Ort, der sich dem Krieg verweigert hatte. Die Reservisten hatten sich auf diesem Platz versammelt, gerade mit den Bussen von der Front angekommen, und die Türen zum Parteigebäude eingerannt. Das war der Stadt anzurechnen, dachte Charlie, schließlich beherbergte sie das Hauptquartier eines Teils der Armee und lebte vom Militär, besonders die Kneipen und Bars, in denen die Soldaten becherten, wenn sie dienstfrei hatten. Wie die im Hotel Sport, wo Charlie und Buddy nun – wie der es düster nannte – »für Rest unseres Lebens« zu warten gedachten, bis einer auftauchte. Was sie tun würden, wenn niemand erschien, war nicht klar. Sie hatten keinen Plan B. Das hier musste die Stadt des Gesuchten sein, meinte Buddy, denn die Schulterstücke auf Charlies Foto wiesen ihn als Angehörigen der Sondereinheiten der Zweiten Armee aus. Sie tranken ein paar Bier und lauschten der Musikbox, obwohl es natürlich keine Country-and-Western-Songs gab, die Charlies Seele hätten retten können. Es gab nichts zu tun, als sich die Tristheit des Orts in die Knochen sickern zu lassen. Ein paar Kerle mit Armeehaarschnitt kamen herein, warfen ihnen argwöhnische Blicke zu, leerten ihre Gläser und verschwanden wieder. »Na toll«, sagte Buddy leise.
Es war eine mondlose Nacht. Ein silberner Mercedes, einer dieser schweren Diesel, voller Staub von der Straße, rollte auf den Platz und hielt mit brummendem Motor vor der Bar. Der Fahrer hinter den getönten Scheiben hatte sie beide durch das Fenster voll im Blick. Der Wagen stand eine Weile und fuhr dann langsam weiter. Schotter knirschte unter den Reifen. Buddy entschied, dass es Zeit für einen Spaziergang war. Der Barmann nickte. Fünf Minuten entfernt gäbe es noch eine Bar, sagte er. »Versuchen Sie es da.« Buddy nickte. Sie hatten nicht gefragt. Die Fensterläden der langen Häuserreihen auf beiden Seiten der Straße waren geschlossen. Durch die Ritzen fiel bläuliches Licht von den Fernsehapparaten auf den Bürgersteig. Es schien, als sehe die ganze Stadt fern, möglich, dass sie alle dasselbe sahen. Während sie ein Haus nach dem anderen passierten, konnte Charlie sich die Sendung zusammenstückeln, Blick für Blick durch die Fensterläden. Es war das staatliche Programm, viel kernige Akkordeonmusik mit gestandenen Frauen in Bauernkleidung, die durch ein Studio stampften. Die Leute hätten jedes Programm eingeschaltet, wären sie nur im Besitz einer ausländischen Satellitenschüssel gewesen. Wann immer Kommentatoren und andere große Denker das Regime als das große Übel hinzustellen versuchten, musste Charlie an die schreckliche Mittelmäßigkeit des staatlichen Fernsehens denken. »Kommen Sie, Charlie«, sagte Buddy, mit gesenktem Kopf den Schotter vor sich her kickend. Charlie schwieg. Tatsache war, dass er nicht wusste, was er wollte. Den Dreckskerl finden. Und dann? »Es könnte Probleme geben.« »Die Sie rechtzeitig erkennen sollten.« »Ihr Mann ist bei einer Sondereinheit. Niemand wird uns da was sagen.«
»Seit wann lassen Sie sich von so was aufhalten?« Genau so wollte Charlie die Sache vorantreiben: indem er Buddy provozierte und daran erinnerte, dass Wunder sein Job waren. »Ich kenne jemanden«, sagte Buddy, und Charlie verstand nicht, warum er das nicht früher gesagt hatte. Buddy kannte in all diesen kleinen Städten jemanden. Jemand, das musste ein Mädchen sein, mit dem er einmal geschlafen, ein Mann, dem er einen Gefallen getan hatte, mit dem er im Auto Richtung Front gefahren oder irgendwo in eine Schießerei geraten war. Ihre Namen und Telefonnummern standen alle in einem abgewetzten Adressbuch mit Pappeinband, das er in seiner Jackentasche trug, »nah bei meinem Herzen«, wie er sagte. Diesmal war es eine Reporterin des örtlichen Radiosenders, die hinter den Fensterläden eines kleinen Hauses lebte, eine der gepflasterten Straßen hinauf, an denen der Bus auf seinem Weg in die Stadt vorbeigekommen war. Der Lokalsender war kein schlechter Tipp: Während der Reservistendemonstration hatte sich einer der Radioreporter unter die Menge vor dem Parteigebäude gemischt und die ganze Geschichte in den Äther geschickt – nur deshalb wusste heute überhaupt jemand davon. Der Mann saß immer noch im Gefängnis. Sie öffnete die Tür und zeigte keinerlei Überraschung, anders als die meisten Frauen, wenn Buddy auftauchte. Sie stand da, die Hand an der Tür, und lächelte Buddy an, ließ den Blick über Charlie gleiten und verweilte bei seinen Augen. Das Radio lärmte, Rauch stieg von der Zigarette in einem Aschenbecher auf, an der Decke schimmerte gelblich eine Glühbirne, dazu kamen eine braune Plüschgarnitur, ein ungemachtes Bett und ein Wandschirm aus Plastik, hinter dem ein Bad zu erkennen war und etwas Unterwäsche von ihr an einer Leine über dem Waschbecken. Anna oder so. Charlie achtete nicht darauf. Sie mochte fünfundzwanzig sein, die
Farbe ihres Gesichts war fahl wie Rauch. Warum sahen sie alle so aus, diese Frauen, mit ihren ungepflegten schwarzen Haaren, dieser ungesunden Gesichtsfarbe und dem Ausdruck von Groll, als wärst du, ein Wildfremder, persönlich für das verantwortlich, was aus ihrem Leben geworden war? Sie zog die nackten Füße unter sich aufs Sofa, studierte kurz das Foto, das er ihr gab, und knabberte an einem Fingernagel herum. Sie schaute zu Charlie, aber der sah keinerlei Grund, sie in irgendetwas einzuweihen. Sie fragte nicht, wo das Foto aufgenommen worden war oder worum es Charlie ging. Es war offensichtlich, dass sie ihn kannte. Sie sagte etwas zu Buddy und wandte sich dann an Charlie: »Der Oberst.« Sie nickte unverbindlich und zog an ihrer Zigarette. Dann suchten sie also nach dem Oberst. Sie kannte seinen Namen, überlegte Charlie, denn es war eine kleine Stadt und eine kleine Einheit, und bei seinem Rang musste er einer der ganz Großen hier sein. Charlie hatte keine Ahnung, was sie sonst noch wissen mochte und was sie bereit wäre zu sagen. Möglicherweise war da sogar was zwischen ihr und diesem Kerl. Oder zwischen ihr und Buddy. Sie redeten, ohne ihn anzusehen, und da war alles möglich. Vielleicht überlegte sie, während sie rauchte und das Foto auf den Stapel Zeitungen vor dem Sofa fallen ließ, was es sie kosten würde, Charlie mehr zu verraten. Solche Gedanken gingen Charlie durch den Kopf. Sich ewig damit zu beschäftigen, wie es weitergehen würde, war sinnlos und deprimierend. Er fragte sich, wie weit man ihr trauen konnte. Aus der Art, wie sie sich das Haar aus dem Gesicht hinter ihr linkes Ohr schob, oder ihrem dünnen Lächeln, als Buddy seine Trümpfe auf den Tisch legte, ließ sich keinerlei Schluss ziehen. In seinem Geschäft musste Charlie ständig Vertrauen in irgendwelche Leute setzen. Natürlich war es nie wirkliches
Vertrauen, sondern mehr eine Sache der Risikoabwägung. Sie machte es sicher genauso. Wenn er sie in Gefahr brachte, was machte das? Es war nicht seine Sache, irgendwen zu schützen. Sie waren alle erwachsen. Während sich immer mehr Rauch um die einzelne Glühbirne an der Decke sammelte und er Buddy im Gespräch mit der jungen Frau auf dem Sofa beobachtete, glitt Charlie für eine Weile in jenen Zustand, in dem ihm der Grund für das alles – diese Reise, diese Geschichte, was immer – verloren zu gehen schien. Was bedeuteten diese Dinge für ihn noch? Diese Räume mit fleckigen Tapeten, diese Radioleute und der Krieg anderer Menschen. Er hatte es satt. Er betrachtete das Plakat eines langhaarigen Sängers an der Wand vor ihm und das von Nike an der anderen, auf dem stand: Just do it. Er wollte nach Hause. Aber es gab keins. Diese so sinnlosen wie plötzlichen Stimmungsumschwünge kamen und gingen ohne Vorwarnung und vermittelten ihm das Gefühl, dass alles Zeitverschwendung war. Er glaubte dann, dass ihn ein Leben auf der Jagd nach Geschichten ausgeblutet hatte. Er kannte das alles nur zu gut: mit einem Informanten in einem verdreckten Zimmer hocken, an einem Ort dieser Welt, der ihn nicht scherte. All das empfand er jetzt, aber er wusste auch – und das war der einzige Vorteil des Älterwerdens –, dass diese Zustände vorübergingen und er neue Energie finden würde. Und Energie war das, worum es ging. »Was wollen Sie von ihm?«, fragte die Frau in gutem Englisch. Sie sah ihn an, gelassen, atmete den Rauch ein und hielt ihn in ihren Lungen. Buddy zuckte mit den Achseln, als wollte er sagen, ich habe versucht, es zu erklären, aber ohne Erfolg. »Er hat eine Frau umgebracht, die ich kannte. Ich will mit ihm darüber sprechen.«
Er hatte das nicht sagen wollen, oder zumindest jetzt noch nicht. Nicht mal Buddy wusste so viel, weshalb es jetzt an ihm war, ein überraschtes Gesicht zu machen. Die Frau stieß ein heiseres Lachen aus: »Einfach so?« Charlie lächelte zurück. »Warum nicht?« Warum erst lange rumreden, dachte er. Warum es nicht einfach sagen? Es schien zu funktionieren. Sie rutschte vom Sofa, schob ihre Füße in ein Paar Schlappen, griff nach ihrem Mantel und dem Mobiltelefon, das vor ihr lag, und meinte: »Gehen wir. Ich führe Sie. Wir finden heraus, wo er ist.« Sie gingen zum »Kulturzentrum« der Stadt, einem Gasthof aus der Zeit, als es noch Pferdekutschen gab, mit einem gepflasterten Hof und einem Springbrunnen in der Mitte und ein paar blinkenden farbigen Lichtern um eine kleine Tanzfläche. Es wäre okay gewesen, hätte es nur irgendeine Art von Leben gegeben, aber bis auf ein paar Jungs mit kurz geschorenen Köpfen, die sich mit Mädchen in engen Hosen und Push-up-BHs abmühten, war der Hof verlassen. »Im Sommer ist mehr los«, sagte sie, setzte sich an einen Tisch beim Springbrunnen und winkte dem Kellner. Der brachte Bier, und Charlie fragte sich, was sie hier machten. »Er kommt manchmal«, sagte sie, »der Laden gehört seinem Bruder.« Es gab also einen Bruder. Und wenn es einen Bruder gab, dann musste es auch eine Mutter geben und einen Vater und weiß Gott wen sonst noch, dachte Charlie. Diese Dreckskerle hatten Eltern. Vielleicht hatte er sogar eine Frau und eine Tochter, die so alt war wie Annie, zum Teufel. War ein wirklicher Mensch, mit anderen Worten. Aber warum sollte ihn das kümmern? Nichts als Gefühlsduselei war das. Was für ein Leben hatte man gelebt, wenn es einen überraschte, dass Killer Leben führten wie man selbst? Was sonst sollte ein
Mann sein, der eine Frau angezündet hatte? Natürlich war er ein Mensch wie alle anderen. Charlie pulte das Etikett von seiner Bierflasche. Buddy und die Frau sahen ihm dabei zu. »Was für eine Art Geschichte ist das?«, fragte sie. »Vielleicht überhaupt keine«, sagte Charlie mit einem unbewegten Lächeln. »Ich will einfach nur mit ihm reden.« »Und warum sollte er mit Ihnen reden?« »Wenn er’s nicht tut, geht er nach Den Haag.« Dieser Gedanke war Charlie tatsächlich erst in diesem Augenblick gekommen. Er hatte Den Haag nie ernst genommen. Aber es gefiel ihm, jetzt darauf gekommen zu sein, und so lächelte er, als sie mit sanfter Stimme sagte: »Vorher bringt er Sie um.« Das schien auch Buddys Meinung zu sein. Er nickte und warf Charlie einen Blick zu, der besagte: Hör auf sie, wenn du schon nicht auf mich hören willst. »Woher wissen Sie das?« Sie antwortete nicht, sondern sah ihn nur herausfordernd an, eine fünfundzwanzigjährige Frau, die sich einem Mann entgegenstellte, der doppelt so alt war wie sie. Charlie schüttelte den Kopf. »Er wird mich nicht umbringen. Er will keine Zeugen.« »Was für Zeugen?« Charlie deutete auf sie und Buddy. Er lächelte. Sie nicht. »Scheiße«, sagte Buddy. »Sie scheinen nicht zu begreifen…«, begann sie wieder. »Was begreife ich nicht?« »Er hat ‘92 die Räumungen entlang der Drina durchgeführt. Die Omarska-Operationen.« »Mich wundert nichts«, sagte Charlie gleichmütig. Sie blufften, also bluffte er auch. Er hatte natürlich keine Ahnung gehabt, dass der Oberst diese Art von Geschichte hatte, dass er
Spezialist war, ein alter Hase im Geschäft. Die OmarskaOperationen hatten es in sich gehabt: Moscheen, die in die Luft gejagt wurden, Massenvertreibungen von Frauen und Kindern, die Männer eingepfercht in einen langen Viehstall, das Elend der nackten, bis aufs Skelett abgemagerten Körper, die beschämende Angst in den Augen der Männer. Charlie war dagewesen, mit Jacek. Sie hatten einen Preis für ihre Bilder gewonnen, wenn ihn seine Erinnerung nicht trog. »Überlassen Sie ihn Den Haag«, flüsterte Buddy. »Riskieren Sie Ihr eigenes Leben, Charlie. Nicht meins. Nicht ihres.« »In Ordnung. Verschwindet. Ihr habt euren Job gemacht. Geht.« Aber dazu war es zu spät. Sie sah auf und nickte einem Mann zu, der in diesem Moment durch die Tür kam. »Der Besitzer«, sagte sie. Er kam an ihren Tisch. Sie stand auf und ließ sich von ihm auf die Wangen küssen. Er war so um die vierzig, groß, trug ein gestärktes weißes Hemd und eine eng geschnittene Hose. Er sah gut aus, muskulös, mit meliertem borstigem Haar und der gesunden Farbe von jemandem, der einen guten Schlaf hat, im Winter Ski fährt und im Sommer am Strand Volleyball spielt. Er sprach eine Weile mit der Frau, doch Charlie konnte nicht sagen, ob es um Geschäftliches ging oder um anderes und welche Verbindung zwischen den beiden bestand. Dann stellte sie ihn und Buddy vor. Charlie verstand, dass sie sagte, Buddy und er seien Freunde aus der Stadt. Der Mann glaubte ihr kein Wort. Die Hand war ausgestreckt. Charlie schüttelte sie und nickte. Buddy sprach für sie beide. Der Mann lächelte, hielt seinen Blick jedoch auf Charlie gerichtet. Ganz offenbar kam Buddy nicht zur Sache, weshalb Charlie, nachdem es eine Weile hin und her gegangen war, eine Pause nutzte, um deutlich und auf eine Art, die einen Moment des Schweigens entstehen ließ, zu sagen: »Ich suche Ihren Bruder.«
Charlie begriff, dass der Mann keine Übersetzung brauchte, dennoch wartete er darauf. Buddy war ihm zu Diensten. Der Mann musterte Charlie wie aus der Distanz und kam dann näher. Er legte den Finger auf einen Knopf von Charlies Hemd, zog aber nicht daran. Rieb nur mit der Fingerspitze um ihn herum. Dann sagte er sehr leise etwas, trat zurück, lächelte der Frau und Buddy freundlich zu und verschwand wieder ins Haus. »Ich brauche keine Übersetzung«, sagte Charlie, als sie aufstanden, um zu gehen. »Doch, brauchen Sie«, sagte Buddy. Sie standen unter den Laternen vor dem Kulturzentrum. Die Musik von der Tanzfläche wehte zu ihnen herüber. Der silberne Mercedes, den sie zuvor schon gesehen hatten, fuhr erneut vorbei, wurde langsamer, als nehme der Fahrer sie ins Visier, und brauste dann davon. Die Frau sah ihn an und warf ihre Zigarette weg. »Sein Bruder wird Sie umbringen, wenn Sie sich jemals wieder hier blicken lassen«, sagte sie. »Das wissen wir nun«, erwiderte Charlie. Ihm schien klar zu sein, dass die Frau für den Oberst und seinen Bruder arbeitete und Buddy sich ernsthaft verschätzt hatte. Aber wen störte das? Sie hatten den Gesuchten gleich am ersten Tag gefunden, was, verglichen mit anderen Unternehmungen, an die er sich erinnern konnte, nicht schlecht war. Jetzt stellte sich die Frage: Wie lange würde es dauern, bis der Oberst seinen nächsten Zug machte? »Es hat mich gefreut, wie immer auch Ihr Name war«, sagte Charlie mit fester Stimme zu ihr. Sie betrachtete ihn lange und verschwand dann nach drinnen. Buddy und Charlie gingen durch die verlassenen Straßen zurück zum Hotel Sport. Es war kalt geworden. Die nackten
Platanen reckten ihre Äste schwarz gegen das Licht der Laternen. »Sie wissen nicht, was Sie tun, Charlie«, sagte Buddy. »Stimmt«, sagte Charlie, »und das Gleiche kann ich von Ihnen sagen. Zumindest haben wir das Schwein gefunden. Gleich beim ersten Versuch. Ich wusste, dass Sie es schaffen würden.« »Fuck you«, sagte Buddy düster. Charlie war nicht glücklich darüber, dass sein Humor nicht ankam. Als das Schweigen zwischen ihnen andauerte, begann er sich einsam zu fühlen. Und jetzt endlich, während sie durch die verdunkelte Stadt liefen, erzählte er Buddy die Geschichte. Was sonst blieb ihm übrig? Buddy war gekränkt und verärgert. Vielleicht auch verängstigt, und Charlie, der keine Angst verspürte, wollte ihn damit nicht allein lassen. Er versuchte, Buddy die Geschichte von Anfang an nahe zu bringen. Er versuchte das Aufflackern des Feuerzeugs so realistisch wie möglich zu schildern, wie die Flammen ihr Kleid ergriffen und sie losrannte, versuchte, ihm den Geruch ihres Fleisches und des Benzins zu vergegenwärtigen, wie das Gewicht ihres Körpers auf seinem lastete, als sie sich über den Boden wälzten. Charlie zeigte Buddy die vernarbte Haut seiner Handflächen, als wollte er beweisen, dass das alles wirklich geschehen war. Er wollte, dass Buddy begriff, was er selbst kaum verstand, dass sie – womöglich als Einzige – in jenen kleinen Raum gelangt war, ihn betreten und ausgefüllt hatte, jenen Raum, mit dem er die Welt auf Distanz hielt. Er versuchte, Buddy von Jacek und seiner lächerlichen Hoffnung zu erzählen, sie zu retten, zur Abwechslung einmal etwas richtig zu machen, und wie die Zerstörung dieser Hoffnung ihn, Charlie, auf diesen Weg geführt hatte. Obwohl das nicht der einzige Grund war. Der lag tiefer und war darin
zu suchen, dass er in seinem Reporterleben Zeuge von so vielem geworden war und so wenig getan und nie jemanden gerettet hatte, und jetzt nicht mehr anders konnte. Aber retten war nicht das richtige Wort. »Vielleicht geht es um Schuld?«, unterbrach ihn Buddy bitter. Charlie schüttelte den Kopf. Er fühlte sich nicht besonders schuldig. Was er wirklich fühlte, war nicht in Worte zu fassen, und so lief er schweigend neben Buddy her. Er vermochte nicht auszudrücken, dass er in seinem Leben nie irgendeine Art von Erlösung erfahren hatte, wobei er nicht verstand, woher diese Sehnsucht nach Erlösung stammte. Seit wann braucht Leben Erlösung, hätte er zu jeder anderen Zeit gefragt. Er wollte jemanden, egal wen, von der Notwendigkeit dessen überzeugen, was er tat. Aber Buddy war nicht überzeugt. »Glauben Sie, er ist einziger schlechter Mann in meinem Land? In unserer Welt? Glauben Sie, mit ihm fertig zu werden kann alles wieder gutmachen? Wie dumm sind Sie eigentlich?« »Ich will eine Sache in Ordnung bringen.« »Was meinen Sie damit?« »Ich weiß es nicht.« »Sie wissen es nicht! Himmel, Charlie.« Buddy war empört und lief allein voraus. Charlie wusste Empörte normalerweise zu beschwichtigen, aber in diesem Fall fand er nicht die richtigen Worte. Also schwieg er für den Rest des Wegs zurück zum Hotel. Das Einzige, was ihm in den Sinn kam, war ein Film, den er vor langer Zeit gesehen hatte, kein besonders guter, von einem Griechen, dessen Vater von den Militärs gefoltert und ermordet worden war. Zwanzig Jahre später kehrt der Sohn aus dem Exil zurück und macht sich daran, auf einer ansichtskartenschönen griechischen Insel den Mörder seines
Vaters zu finden. Er will ihn umbringen und kommt deshalb mit einer Waffe. Woran in dem Film sich Charlie erinnerte, war eine lange Szene, in der der Sohn eine in der Hitze glühend weiße Straße zum Haus am Ende des Dorfes hinaufsteigt, in dem der Mörder sein Rentnerleben verbringt. Es stellt sich heraus, dass es der alte Mann ist, der Ziegendung aus einem roten Plastikeimer unter ein paar Tomatenpflanzen vor dem Haus streut. Der Mann ist fraglos der Gesuchte – sein Name steht auf dem Briefkasten. Der Sohn beobachtet, wie der alte Mann seine Pflanzen gießt, seine tropfende Nase abwischt, geht dann bis nach oben auf ein Kliff und wirft seine Waffe ins Meer. Damals hatte ihm der Schluss gefallen, aber Charlie sah sich in einer anderen Situation. Ihm ging es nicht um Rache. Rache war nicht das, worauf er aus war. Es ging ihm um die brennende Frau, und darum, das jetzt – für sein Wohl oder das der Frau – bis zum Ende durchzustehen, wohin immer es führen mochte. Und was bedeutete das nun wieder: Wohin immer es führen mochte? Charlie hatte keine Ahnung. Nur ein Gefühl, das in eine Szene mündete, in der er und der Oberst sich an einem Tisch gegenübersaßen und der Oberst Rechenschaft über sich ablegen musste. Das war es, was er wollte. Keine Rache, sondern Rechenschaft. Damit der Oberst begriff, was es bedeutete, jemanden einfach so umzubringen. Damit Charlie begriff. Damit die Klarheit, die man zum Leben braucht, wiederhergestellt wurde. Etwas in der Art. Und vielleicht noch, dass der Mann Angst verspürte, dass er begriff, wie es war zu verbrennen. Das war es. Ein Handauflegen. Der Funke der Erkenntnis und der Scham würde von einer Seele zur anderen überspringen, den Abstand überwinden. Etwas in der Art. So oder so, etwas Religiöses, ein Augenblick der Gerechtigkeit. Er schloss zu Buddy auf und versuchte den Arm um ihn zu legen, aber Buddy entzog sich ihm.
»Sie sind eine Gefahr für sich selbst«, sagte Buddy, »und jetzt sind Sie auch eine für mich.« »Ich wollte Sie nicht in Gefahr bringen, Buddy«, sagte Charlie. »Von Ihren guten Absichten habe ich nichts«, antwortete der und schnippte seinen Zigarettenstummel in den Lichtkegel der Laterne vor dem Hotel Sport. »Ich will hier einfach nur weg.« Aber für heute war es dafür zu spät. Der nächste Bus ging um sieben Uhr dreißig morgens. Der Barmann war gleichzeitig auch der Nachtportier und gab ihnen zwei Schlüssel. Die Zimmer im Sport gaben beredtes Zeugnis vom Sexualleben einer Garnisonsstadt: von den Flecken auf dem orangefarbenen Teppich bis zu den von fettigen Haaren verschmutzten Kopfenden der Betten, den verbeulten Matratzen und den Löchern in den Vorhängen, die nur halb an ihren Haken hingen, als hätten zwei miteinander ringend, kratzend und beißend, daran Halt gesucht, sie gepackt und mit auf den Boden gerissen, wo sie es miteinander trieben. Alles roch irgendwie ranzig, nach schimmelndem Verfall, bis tief in die Dinge, sogar die fleckigen Kacheln im Bad. Buddys Zimmer lag am Ende des Flurs, und Charlie hörte, wie er auf die Etagentoilette ging und dann den Schlüssel im Schloss seiner Zimmertür drehte. Charlie öffnete das Fenster und behielt seine Sachen an. Er wollte die Bettwäsche nicht direkt auf seiner Haut spüren. Es gab kein Telefon im Zimmer und niemanden, mit dem er hätte sprechen können. Es war noch nicht sehr spät, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als dazuliegen und das Licht der Scheinwerfer zu verfolgen, das von Zeit zu Zeit den zerrissenen, schiefen Vorhang erfasste. Nach all den Wochen begriff Charlie, dass er – wie der Sohn in dem zweitklassigen griechischen Film – in den Bann eines alten Mythos geraten war. Buddy die Geschichte zu erzählen hatte diesen Bann
gebrochen. Es wurde ihm klar, wie dumm er gewesen war, diesem Mythos zu verfallen. Alle Erlösung, die es geben mochte, lag in einer Geschichte, aber in einer guten, einer neuen, und die, auf die er hereingefallen war, war alt und abgedroschen. Wer glaubte noch an Rache? Oder Rechenschaft? Ja, viele, natürlich. Rache gab es jeden Tag. Doch wer glaubte wirklich noch daran? Wer glaubte, dass er die Welt in Ordnung bringen konnte? Wer dem Motto »Auge um Auge, Zahn um Zahn« folgte, musste davon überzeugt sein, dass es da draußen eine Ordnung gab und es unsere Aufgabe war, sie wiederherzustellen. Komm zu dir, dachte Charlie. Rache ist nichts anderes als ein Euphemismus für ein Verbrechen, und der Wunsch nach Rechenschaft nichts als selbstgerechte Dummheit. Die Welt war nicht in Ordnung, und es war nicht seine Sache, sie in Ordnung zu bringen. Schlag es dir aus dem Kopf, Charlie, sagte er sich, schlag es dir aus dem Kopf. Fahr nach Hause. Zu deiner Tochter. Verlasse deine Frau, wenn nötig, mach ein paar Dinge anders. Komm wieder in Gang. Finde Etta. Sag ihr, dass es dir Leid tut. Sag ihr, dass du ein Idiot warst, völlig verrückt, loco. Befreie deine Seele oder was davon noch übrig ist, bevor es zu spät ist. Die brennende Frau war tot. Er hatte ihrer gedacht, was sie von all den anderen Toten unterschied, die Charlie in seinem Leben gesehen hatte. Er würde sie nicht vergessen. Er hatte sie auf seine Art geehrt. Er hatte es versucht. Jacek hatte es versucht. Es war genug. Genug. Laut ins dunkle Zimmer sagte er dieses Wort: »Genug.« Er hörte, wie sich die Tür öffnete. Kaum ein Geräusch. Der Riegel glitt zurück. Charlie langte nach der Lampe, aber es war zu spät, denn die beiden Gestalten waren bereits beim Bett und hievten ihn mit einer einzigen ihm den Atem raubenden Bewegung an Kehle und Gürtel hoch und aufrecht gegen die Wand. Er konnte ihre Gesichter nicht erkennen, vielleicht
waren sie auch maskiert, denn in dem Bruchteil einer Sekunde, den das alles dauerte, fiel keinerlei Licht auf ihre Züge. Sie hielten ihn über dem Boden an die Wand gepresst, einen Daumen am Kehlkopf, und einer von ihnen schlug ihm mit aller Kraft mitten in den Leib. Der Daumen auf seinem Kehlkopf lockerte sich, und er spürte, wie er fiel. Die Tür schlug zu, und der Schmerz explodierte aus dem Zentrum seines Inneren in dem endlos langen Moment, den er brauchte, um den Atem zurück in seine gequälte Brust zu ziehen. Als Buddy am nächsten Morgen keine Antwort erhielt, rammte er seine Schulter gegen die Tür. Sie flog auf, und da saß Charlie gegen die Wand gelehnt, einen Fluss von Erbrochenem auf seinen Kleidern. Charlies Kopf hing auf die Brust, und als Buddy sich zu ihm kniete und sein Gesicht in die Hände nahm, öffnete Charlie die Augen, konnte aber nicht sprechen. Buddy machte ihn sauber und zog Charlies Hände weg, die wie Krallen gegen den Leib gepresst waren, schob das Hemd hoch und untersuchte den sich noch weiter ausbreitenden Bluterguss über Charlies Magen, direkt unter dem Zwerchfell. Charlie sah auf und versuchte zu sprechen. Buddy sagte: »Charlie, kein Wort.« Buddy hörte den Bus auf den Hof rollen. Er bückte sich und versuchte Charlie auf die Füße zu stellen, aber Charlies Beine waren wie Pudding, und er sank aufs Bett. Also legte sich Buddy Charlies Arm um die Schulter, packte ihn und schleppte ihn hinunter in die Lobby. Der Kerl hinter dem Tresen – der die Schläger hereingelassen haben musste – erhob sich und warf einen Blick auf Charlie, der mehr Befriedigung ausdrückte, als klug war. Zudem war er dumm genug zu sagen, dass die Rechnung für eine Nacht noch nicht bezahlt sei. Da griff Buddy in sein Jackett und zog eine Pistole hervor. Der Kerl hinter dem Tresen hob die Arme, was ziemlich komisch
aussah, als verlange die Pistole von ihnen beiden, sich wie in einem Krimi zu verhalten. Buddy, mit Charlie im Arm, steckte die Waffe zurück in die Innentasche seines Jacketts. Sie verließen das Hotel und stiegen in den Bus. Buddy setzte ihn unter den erstaunten Blicken der Fahrgäste vorsichtig auf einen Fensterplatz. Er bezahlte beim Fahrer, setzte sich neben Charlie und winkte dem Kerl vom Hotel, der auf der Eingangstreppe stand, huldvoll zu. Der Bus fuhr an. Es ergab keinerlei Sinn mehr, so zu tun, als sei Charlie Buddys zurückgebliebener Bruder, und so flüsterte er: »Eine Pistole?« Buddy nickte und sagte, als ginge er nie ohne Waffe aus dem Haus: »Eine 45er Glock.« Sein Blick blieb aus dem Fenster gerichtet. Von allen Wundern Buddys war dies das größte. Benommen vor Schmerz und Erleichterung, hätte Charlie ihn am liebsten geküsst. Eine Pistole. Und mehr noch als die Pistole selbst das, was sie bedeutete: Buddy hatte von Anfang an gewusst, worauf sie sich einließen. Und war die Pistole auch nicht direkt von großem Nutzen gewesen, so hatten sie zumindest eine Hotelrechnung gespart; die Pistole bewies, dass Buddy bis zum Ende dabei sein würde. Aber das war nicht die einzige Überraschung. Buddy wartete, bis sich der Eindruck, den sie bei den anderen Fahrgästen hinterlassen hatten, verflüchtigte und alle wieder aus dem Fenster sahen oder Radio hörten, dann sagte er sehr leise: »Er ist in Belgrad. Sie hat angerufen. Ich hab keine Ahnung, warum.« Charlie wusste es. Sie hatte es aus dem gleichen Grund wie Buddy getan. Um der brennenden Frau Achtung zu erweisen. Damit einer, zumindest dieses eine Mal, begriff, was es bedeutete, jemanden wie Dreck zu behandeln. Sie hatte es verstanden. Sie hatte es in Charlies Augen gelesen. Charlie sah sie vor sich – endlich gewann ihr Bild klare Konturen – mit
ihren nackten Füßen, den lila lackierten Nägeln, der fahlen Haut und dem fragenden Blick, als sie das Foto auf den Tisch vor sich fallen ließ. Wie hatte er glauben können, dass sie sich anders entscheiden würde? Menschen waren immer für eine Überraschung gut. Es war ein Zeichen, fraglos ein Zeichen, obwohl Charlie wusste, dass er, während der Schmerz in seiner Brust wieder zunahm, nicht wirklich bei sich war. Er schloss die Augen. Buddy sah hinaus auf die dunklen, frisch gepflügten Furchen auf den Feldern.
11
Als sie den Bus verließen, war Charlie froh, dass er laufen konnte. Tatsächlich gingen er und Buddy den gesamten Weg den Hügel hinauf zum Moskva zu Fuß. Es war ein heller, kalter Nachmittag. Charlie mochte den Geruch von Kohle und Zigaretten, der in der Luft lag, die Art, wie sich eine Frau vor ihnen in ihrem langen Ledermantel bewegte, wie sich ihre Wadenmuskeln anspannten, während sie die Straße hinaufging. Es tat immer noch weh, aber der Schmerz ließ allmählich nach und zog sich aus dem übrigen Körper in jene faustgroße Stelle unterhalb des Zwerchfells zurück. Buddy rauchte und sog den Rauch tief in die Lungen, während sie die Straße entlangliefen. Er hatte etwas Unnahbares, Ruhiges und Klares. Wegen der Glock, wegen allem. Für Charlie war Buddy der Größte. Buddy teilte Charlies Euphorie nicht. Er verstand den Schlag in Charlies Leib als das, was er war: eine letzte Warnung. Und er verstand ihn als Zeichen dafür, dass er für sie beide denken musste, da Charlie nicht zu begreifen schien, in welcher Gefahr sie schwebten. Was war los mit Charlie? Es wäre erfreulich, einfach davon ausgehen zu können, dass er keine Furcht kannte, aber so war es nicht. Buddy hatte Charlie schon voller Angst erlebt. Charlies schreckliches Desinteresse an seiner eigenen Sicherheit war neu. Einiges von der Schläue und Wachsamkeit, die notwendig waren, um zu überleben, waren ihm verloren gegangen, und so war Charlie zu einer Gefahr für sich selbst und alle um ihn herum geworden. Buddy sagte nichts von all dem, aber die verletzende Art des Schweigens, in das er sich den ganzen Weg über hüllte, ließ Charlie ahnen, was er dachte. Als sie im Hotel ankamen,
gingen sie gleich in die Bar. Die rothaarige ältere Barfrau, die es schon seit Charlies erstem Aufenthalt im Moskva gab, brachte den beiden einen Espresso und ein Glas Pflaumenschnaps. Das war genau das, was Charlies Magen brauchte. Wie Feuer rann der Schnaps durch die Kehle und verbrannte den großen Knoten in seinem Innern. Er trank noch einen. »Also schnappen wir ihn uns jetzt«, sagte Charlie. Buddy schüttelte den Kopf, während er seinen Schnaps herunterschluckte. »Ich werde Sie in ein Flugzeug verfrachten«, sagte er mit Nachdruck. »Sie können hier unmöglich durch Stadt rennen. Sie sind wahnsinnig.« »Ich bleibe«, sagte Charlie lächelnd. »Ich werde Ihnen eine Spritze verpassen lassen. Ich kenne Leute. Sie werden in Flugzeug getragen und kehren zurück zu Frau und Kind, und alles wird gut.« »Ich bleibe«, wiederholte Charlie mit seinem liebenswürdigsten Lächeln. Charlie war klar, dass Buddy sich versichern wollte und sagte, was zu sagen war für den Fall, dass ihm später jemand die Schuld zuzuschieben versuchte. Charlie ließ sich nicht täuschen. Die Pistole hatte ihn sicher gemacht. Buddy war auf seiner Seite. Buddy lächelte sogar, um seine ehrenhafte Niederlage einzugestehen. »Sie gehen auf Ihr Zimmer und schlafen«, sagte Buddy. »Ganzen Tag!« »Geben Sie die Anordnungen?« Buddy nickte. »Und was machen Sie in der Zeit?« »Ich telefoniere.« Charlie glaubte nicht, dass er würde schlafen können, aber er sackte gleich weg, lag wie ausgeknockt voll angezogen auf
dem Rücken. Er wachte auf, mit Schmerzen, trockenem Mund und einsam. Seine Uhr zeigte Viertel vor elf. Er hatte etwa fünf Stunden geschlafen. Jemand klopfte an die Tür. Sie hatten einen Generalschlüssel: Zwei Männer standen im Raum, bevor er die Treppe von der Loggia herunterkommen konnte. Ein Dritter befand sich wartend auf dem Flur. Der, der sprach, hatte dünnes blondes Haar, eine zierliche, schlanke Figur und trug einen Anzug. An seinem Gesicht war außer den wässrigen grauen Augen nichts, an das man sich hätte erinnern können. Charlie gefiel es nicht, so in Socken dazustehen, das Haar vom Schlaf noch ganz wirr. »Sie kommen mit uns«, sagte Wasserauge auf Englisch. »Was gibt es für ein Problem?« Charlie hatte sich schon öfter in einer solchen Situation befunden, und es zahlte sich immer aus, die Dinge in die Länge zu ziehen, auch wenn es offensichtlich war, dass kein Raum zum Taktieren blieb. »Ein Problem mit dem Visum.« »Was ist mit meinem Visum?« »Sie sind Journalist, aber reisen als Tourist ein.« »Deswegen wecken Sie mich mitten in der Nacht auf?« »Ihre Schuhe, bitte.« »Wer sind Sie?« »Das wissen Sie sehr gut.« »Sie könnten weiß Gott wer sein.« Was in dieser Stadt zutraf. Staatlich. Geheim. Miliz. Privat. Wer wusste das? Charlie ging seine Möglichkeiten durch. Flucht war keine. Widerstand auch nicht. Wobei sie bestimmt nicht wollten, dass sie ihn auf dem Flur draußen hinter sich her zerren mussten. Schließlich gab es noch andere Gäste. Sie wollten die Sache ohne Aufsehen erledigen. Wasserauge hielt die Hände in den Taschen vergraben. »Ihre Schuhe«, wiederholte er. »Packen Sie alles zusammen.«
»Warum?« »Sie verlassen das Hotel.« Charlie deutete auf die Loggia, wo das Bett stand. »Die Schuhe«, sagte er. Einer der Männer folgte ihm, der andere wartete unten. Er war also auf eine Mine getreten, dachte Charlie. Der Oberst hatte die nötigen Verbindungen, um Wasserauge in sein Zimmer zu schicken – ganze fünf Stunden nach Ankunft des Busses. Nicht schlecht. Charlie durchströmte eine warme Welle von journalistischem Stolz. Er war nahe genug herangekommen, um das ganze System in Bewegung zu versetzen, das sich jetzt um ihn schloss wie eine Muschel um ihre Beute. Charlie packte seine Tasche, setzte sich aufs Bett und schnürte sich ruhig die Schuhe zu, während der Mann dabeistand, um dafür zu sorgen, dass Charlie nicht auf dumme Gedanken kam. Was er auch nicht tat. Er war todmüde und entmutigt von der Aussichtslosigkeit seiner Situation. Sie würden seinen Pass nehmen, und sie hatten ihn selbst. Es war vorbei. Und Charlie war keiner, der schon damit zufrieden war, es wenigstens versucht zu haben. In seinem Geschäft bekam man die Story, oder man bekam sie nicht. Entweder brachtest du etwas über den Sender oder nicht. A wie Anstrengung war nichts wert. Rausgeschmissen zu werden tat der Karriere nicht gerade gut. Denn das war er, rausgeschmissen worden. Suspendiert. Oder sonst was. Und dann die brennende Frau, tot und unerlöst, nicht allein vom Oberst umgebracht, sondern von all dem, was auch im Ausdruck von Wasserauge zu erkennen war, dieser raubtierhaften Gleichgültigkeit. Als Charlie über das Ende seiner Reise nachdachte, kam ihm der Gedanke, dass sie die einzige Person war, die ihm wirklich wichtig war. Während er den zweiten Schnürsenkel zuband, aufstand und der Mann
seine Tasche nahm und ihm bedeutete, nach unten zu gehen, fragte er sich, ob er nicht vielleicht doch noch über einen Trumpf verfügte, den er ausspielen konnte. Er könnte auf den Flur hinauslaufen und zu schreien anfangen, in der Hoffnung, dass ihn irgendein anderer ausländischer Gast hörte oder dass Buddy – falls er in der Nähe war – etwas tun konnte. Aber wenn er schrie, würden sie ihn wahrscheinlich niederschlagen und die Hintertreppe hinunterschleppen. Und Buddy würde nichts hören. Nur, dachte Charlie und revidierte rasch seine Überlegungen der Stunden zuvor, vielleicht hatte Buddy ja auch seine Hand im Spiel. Der Gedanke deprimierte ihn, aber Charlie war nicht so sentimental, dass es ihn überrascht hätte, wenn es wirklich so gewesen wäre. Die Leute hielten ihn im Grunde für hoffnungslos blauäugig, und er hatte diese Fehleinschätzung seiner Person immer weidlich ausgenutzt. Charlie konnte sich gut vorstellen, wie Buddy einen Handel mit Wasserauge begründen würde. Er würde sagen, dass es in Charlies eigenem Interesse war, in ein Flugzeug oder einen Bus verfrachtet zu werden, einen Schläger an jeder Seite, damit er sich nicht rührte, und hinter der Grenze rausgeworfen werden konnte. Buddy musste mit diesen Leuten leben, Charlie nicht – was Buddy also tat, um zu überleben, war nicht Charlies Sache. Dennoch, der Gedanke, dass Buddy ihn womöglich verraten hatte, machte Charlie krank. Als sie den Gang entlang auf den Brunnen neben dem Aufzug zuliefen, der tagein, tagaus trostlos vor sich hin plätscherte, fiel Charlie auf, dass die Mädchen, die dort gewöhnlich auf Kunden warteten, verschwunden waren. Der Flur war leer. Dennoch gab es da einen Gedanken, der ihn beruhigte: Dadurch, dass er ohne Protest mitgekommen war, hatte er sie zu einem Fehler verleitet. Anstatt den Lastenaufzug
hinten zu nehmen, gingen sie mit ihm die Haupttreppe hinunter. So kam es, dass es Charlie gelang, als sie die Lobby erreichten und sie durchquerten – je ein Schläger rechts und links – und Wasserauge mit der Tasche direkt hinter ihnen –, dass es ihm gelang, auf der zweiten Marmorstufe der Treppe zum Ausgang auf die Straße hinaus, wo ihr Auto wartete, zu stolpern. Es war ein unschuldig aussehender Fehltritt, und er machte keinerlei Aufhebens davon. Er landete auf einem Knie, und das ließ sie einen zweiten Fehler begehen, indem sie ihn bei den Armen packten und hochzogen und jedermann sehen konnte, dass sie ihn mit Gewalt aus dem Hotel brachten. Charlie wusste nicht, ob irgendwer sein Signal bemerkt hatte, aber er hatte tatsächlich genug Unruhe verursacht, dass hinten in der Bar drei Personen, die mit Blick auf die Lobby an einem Tisch saßen und etwas tranken, auffiel, was da vor sich ging. Einer von ihnen war Buddy, die anderen beiden waren Etta und Jacek. Sie waren klug genug, sich nicht zu rühren, obwohl es ihnen schwer fiel, besonders Etta, völlig still sitzen zu bleiben, nachdem sich die gläserne Eingangstür hinter Charlie geschlossen hatte und sie draußen die Autotüren zuschlagen und den schwarzen BMW davonfahren hörten. Sie leerten ihre Brandys und ließen sich Zeit mit der Bezahlung, damit die rothaarige Bedienung nicht auf den Gedanken verfiel, irgendjemandem von ihrem Interesse am gerade erfolgten Abgang aus dem Hotel zu berichten. »Ich rufe die Botschaft an«, sagte Etta, als sie auf der Straße standen. »Ich fahre zu ihrem Hauptquartier«, sagte Jacek, der wusste, wo es sich befand, weil man auch ihn schon einmal dort befragt hatte. »Sie bleiben im Hintergrund«, sagte er zu Buddy, der nickte und verschwand.
Etta fand eine nach Urin stinkende Telefonzelle und schaffte es, genug Kleingeld in den Apparat zu drücken, dass er funktionierte. Der Nachtdienst der Botschaft antwortete beim fünfzehnten Klingeln. Etta brachte den Mann dazu, die Anweisungen in der vor ihm liegenden Mappe, nach denen er hätte einhängen müssen, zu ignorieren. Es war ihr Job, die Leute zu offiziell unerlaubten Handlungen zu verleiten. Als der dritte Sekretär aus dem Bett und an den Apparat kam, ging es vor allem um »Hat das Zeit bis morgen?«, aber Etta verneinte. Sie wusste, wie man so sanften wie unnachgiebigen Druck auf Amtsträger ausübte, dass sie erkannten, was es sie kosten konnte, aufzulegen und nichts zu unternehmen. Den Job nämlich, wie Etta zu verstehen gab. Sie lief den steilen Berg zum Hauptquartier hinunter, am Verteidigungsministerium und an den Wachen vorbei, und bemerkte, wie die Polizeiwagen langsamer wurden, um sie zu beobachten. Sie hatte einen Stadtplan in der Tasche und wusste, in welche Richtung sie musste, vertraute ihrer Sorgfalt, die sie auf dem Flug von London auf das Studium dieses Plans und seiner Straßen in einer Stadt, in der sie nie gewesen war, verwandt hatte. Wenn nötig, würde sie Charlie finden. Natürlich hatte sie Angst. Warum auch nicht?, dachte sie. Was sonst sollte sie fühlen? So versuchte sie mit ihrer Angst umzugehen. »Warum überrascht sein? Warum es nicht einfach zugeben?« Das nahm der Angst das Schwächende und Unwürdige. Einfach nur denken: So ist es nun mal. Die richtige Strategie war, überlegte sie, möglichst viel Lärm zu machen, es zu einer teuren Angelegenheit werden zu lassen, einen ausländischen Journalisten zu deportieren. Je mehr Lärm, desto besser. Wie die Frauen auf der Plaza de Mayo, die ihre Mülleimerdeckel mit Löffeln bearbeitet hatten, direkt vor dem Ministerium in Buenos Aires. Sie hatte es im Fernsehen gesehen und diese Frauen immer bewundert, die auf die Straße
gingen, um herauszufinden, wohin ihre Söhne und Töchter, Ehemänner und Geliebten gebracht worden waren. Wie die Lärm gemacht hatten, Tag und Nacht, über Jahre, genug, um durch Gefängniswände zu dringen, genug, um die Welt aufmerken zu lassen. Sie wollte an die Kraft des Lärms glauben und summte »Ein einig Volk wird nie geschlagen« vor sich hin; etwas, das sie einmal bei einer Demonstration gesungen hatte, bis es lächerlich schien und in ihrer Kehle erstarb. Als sie zu dem düsteren Granitgebäude kam, das hier oben hockte und von dem man auf die Schnellstraße zum Flughafen hinuntersehen konnte, sagte sie sich, dass sie und Jacek nicht nur einfache Spielfiguren waren. Sie hatten Möglichkeiten, Chancen. Sie sagte sich, dass es eine drittklassige Diktatur war, brutal, aber ohne Stil, und dass sie sich vor den Posten in ihren Wachhäuschen nicht zu fürchten brauchte. Aber sie war auch ein Kind des Sozialismus – war selbst Junge Pionierin gewesen – und erinnerte sich an Zeiten, in denen diese Orte eine wirkliche Bedrohung darstellten. Sie konnte sich kaum wehren gegen die Gefühle, die aus einer Kindheit im Kommunismus stammten, Gefühle von Einschüchterung durch Gebäude, bedrohlich wie diese. Sie verwehrten ihr den Eintritt, und der Mann im Wachhäuschen ignorierte ihren Journalistenausweis, bis Jacek, der es hineingeschafft hatte, die Stufen herunterkam. Sie stellten sich an, hielten sie zurück, aber Jacek ließ nicht locker, und er hatte etwas derart Hartnäckiges an sich, dass der Posten offenbar zu dem Schluss kam, es sei einfacher, wenn sich die drinnen mit diesem Verrückten befassten. Etta und Jacek saßen Seite an Seite unter einer fleckigen Glühbirne auf der Bank vor einer Wand und betrachteten das öde Brimborium eines Büros der Staatssicherheit: Plakate mit offiziellen Vorschriften, die an der gegenüberliegenden Wand klebten, die Ecken eingerissen und sich wellend; der
schmutzige Linoleumboden, eine Reihe nicht weiter beschrifteter Türen und eine hohe Theke, hinter der ein Feldwebel saß, der sie gelangweilt musterte. Es war kalt, Etta fror und zog den Mantel enger um sich. Jacek ging zur Theke und versuchte es auf verschiedene Arten. Er konnte sich gut verständlich machen und sagte: »Sind Sie taub?«, dann: »Sind Sie blöd?«, »Wir wissen, dass er hier ist, also bringen Sie uns zu ihm«, worauf immer nur die eine Antwort kam. Der Feldwebel war weder taub noch blöd, sondern intelligent genug, um zu erkennen, dass hier ein Spiel gespielt wurde, in dem auch er eine Rolle hatte, nämlich die zu behaupten, dass sich ein Journalist namens Charles Johnson nicht in ihrem Gewahrsam befand. Etta beobachtete Jacek mit ängstlicher Bewunderung und wünschte, sie könnte es auf sanftere, dafür aber effizientere Weise versuchen, den Feldwebel zu überreden. Aber sie beugte sich Jaceks verächtlicher Furchtlosigkeit und der Art, wie er etwas so Gefährliches in ein Spiel verwandelte, das sowohl dem Feldwebel als auch ihm erlaubte, die Sache im Rahmen zu halten. Am Ende kam Jacek zurück und setzte sich neben sie. Sie warteten. »Wir warten«, sagte er dem Feldwebel. »Das sehe ich«, antwortete der Feldwebel und beugte sich mit einem angedeuteten Lächeln wieder über seine Akten. Dableiben. Wenn sie dort blieben, war es möglicherweise schwierig für sie, Charlie anderswohin zu bringen. Wenn sie dort blieben, tauchte möglicherweise jemand von der Botschaft auf. Sie sprachen nicht und mussten es auch nicht, obwohl Etta Jacek heute zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte. Vorher hatten sie immer nur telefoniert – Reservierungen, Verträge, Mietausrüstung, Flüge –, und
gelegentlich hatte er sie an Magda weitergereicht, weil auf Jacek, was Details betraf, kein Verlass war. Er sah älter aus, als er war. Die Falten in seinem Gesicht und die Müdigkeit, die ihn überkam, als er so ruhig dasaß, zogen ihr das Herz zusammen. Sie musste an Charlie denken und daran, dass sie alte Männer waren und immer noch älter wurden in einem Spiel für Jüngere. Dass sie das wussten, aber nach wie vor versuchten, den Vorsprung ihrer Erfahrung zu nutzen, doch immer mit dem Gedanken, dass er schwand und sie eines Tages aufs Abstellgleis geraten würden mit ihrer Erfahrung, die niemand mehr wollte. Ihr war klar, was Charlie an Jacek mochte: Er machte keine unnötigen Worte, war nicht übertrieben freundlich, genügte sich selbst, verhielt sich ruhig, wenn nichts anstand, war aber zupackend und setzte seine Kräfte ökonomisch ein, wenn es um etwas ging. Und immer dieser wolfartige Blick, mit dem er die trostlose Schäbigkeit dieses Raums registrierte, als nähme er sie durch seinen Sucher ins Visier. Vielleicht dachte er: Was will die hier eigentlich? Aber das kümmerte sie nicht, nicht genug, um eine Erklärung abzugeben. Was sie für Charlie bedeutete, ging allein sie etwas an, und sie war längst Teil der Story. Etwa fünfundvierzig Minuten später erschien eine Vertretung der Botschaft in Gestalt einer kleinen, ungepflegten Frau Anfang dreißig mit runder Brille. Sie kam mit einer Akte unter dem Arm herein und streckte erst dem Feldwebel, dann ihnen beiden eine Visitenkarte entgegen. Darauf stand, dass sie die dritte – politische – Botschaftssekretärin war. Etta war erleichtert. Politisch hatte mehr Gewicht als konsularisch. Es war ziemlich beeindruckend, dachte Etta, wie diese kleine Frau es schaffte, eine Regierung zu repräsentieren und ein formales Gesuch um Zugang zu einem Inhaftierten vorzulegen – in Übereinstimmung mit der Konvention soundso, die
konsularischen Zugang zu allen von den Unterzeichnerstaaten in Gewahrsam genommenen Personen garantierte. Sie schnarrte die Worte in der Sprache des Feldwebels herunter, aber in einem offiziellen Tonfall, in dem, auch wenn es das Kauderwelsch der Diplomatie war, eine gewisse Autorität mitschwang. Sie konnten heraushören, dass sie dem Feldwebel erklärte, die Regierung sei unglücklich, der Botschafter sei unglücklich, das Land werde unglücklich sein und bald auch die ganze Welt. Es war ein von Anfang bis Ende beeindruckender Auftritt, besonders da ihn eine so müde und ängstlich wirkende Frau hinlegte, die die Autorität von Charlies Geburts- und Heimatland verkörperte. Selbst Jacek schien es zu genießen, wie der Wortfluss den Feldwebel dazu brachte, aufzustehen und durch eine Tür in ein Büro zu verschwinden, in der Hand die Karte der dritten Botschaftssekretärin. »Das war gut«, meinte Jacek anerkennend. Sie gab keine Antwort, setzte sich einfach nur neben sie und wartete schweigend. Ihre Abneigung Journalisten gegenüber, den Schwierigkeiten, in die sie gerieten, dem Durcheinander, das sie hinterließen und das sie wieder in Ordnung zu bringen hatte, war so unverkennbar, dass weder Etta noch Jacek ein weiteres Wort an sie richteten. Etta lauschte den Geräuschen des Gebäudes, dem Rauschen des Wassers in den Leitungen, dem Türenklappen irgendwo, einer wirren Stimme, dem langen Schweigen, während dessen sie allein den Schlag ihres Herzens hörte. Er musste irgendwo unter ihnen sein. Sie versuchte sich die Zelle vorzustellen, sah aber nur die sattsam bekannten Bilder vor ihrem geistigen Auge, den Spion in der Tür, weiß getünchte Wände, einen einzelnen Stuhl, alles in gleißendes Licht getaucht, aber nicht seine Zelle, in die sie ihn gesperrt hatten.
Irgendwann in ihrem Leben hatte sie gelernt, sich von allen Bildern frei zu machen, wenn man für etwas kämpfte – in diesem Fall von seiner Gefängniszelle –, weil die es unmöglich machten, die Sache selbst zu sehen. Sie wollte hören, wie Charlie alles beschreiben würde, und er würde es beschreiben, daran glaubte sie mit aller Kraft, er würde es beschreiben, und sie wollte nicht, dass sich irgendwas zwischen seine Worte und ihr Zuhören schob. Als sie aufsah, stand ein kompakter, athletischer, in einen Anzug gekleideter Mann in der Tür hinter der Theke und musterte sie aus wässrig blauen Augen. Er musste bereits eine Weile dort gestanden haben. Etta fühlte sich beobachtet und tat ihr Bestes, seinem Blick standzuhalten und keine Schwäche zu zeigen. Er sah auch zu Jacek und dann zu der Frau von der Botschaft. »Hier herein, bitte«, sagte er und machte der dritten Botschaftssekretärin gegenüber eine Geste. Als sich die Tür vierzig Minuten später wieder öffnete, kam sie als Erste heraus, gefolgt von Charlie, der seine Tasche trug. Als er Etta erkannte, die sich erhob, den Mantel um sich zog und lächelte, und Jacek, der grinsend neben ihr saß, schüttelte er ungläubig den Kopf. »Ich hab zu viel Glück«, sagte Charlie, und er meinte es so. Er küsste Etta, roch den Duft ihrer Haut und umarmte Jacek. Er hatte zu viel Glück. So konnte es nicht weitergehen. Er sollte eigentlich in einer Zelle sitzen oder in einem Flugzeug, das ihn von hier wegbrachte, aber er tat es nicht, weil sie hier waren, weil sie Alarm geschlagen hatten. So konnte es einfach nicht weitergehen. Und Wasserauge machte gerade noch einen Fehler, nämlich, dass er ihn freiließ. Als sie mit der dritten Botschaftssekretärin auf der Straße standen, sagte diese knapp: »Ich sehe Sie morgen früh am Flughafen. Um neun.« Sie nahm seinen Pass aus der Akte.
»Bis dahin behalte ich den bei mir, wenn Sie nichts dagegen haben.« Charlie nickte. Sie stieg in den Botschaftswagen und fuhr davon. »Damit haben wir reichlich Zeit«, sagte Charlie. »Es ist vorbei, Charlie. Du musst diesen Flug nehmen«, sagte Etta. »Klar«, sagte Charlie. »Ich brauch was zu trinken.« Sie kamen gerade noch rechtzeitig ins Moskva, um zu sehen, wie die ersten Stühle auf die Tische gestellt wurden, aber Jacek überredete die Rothaarige, es werde nicht lange dauern, nur ein Glas. Charlie wollte nicht darüber reden, was geschehen war, nicht hier, alles, was er sagte, war, dass sie ihm kein Haar gekrümmt hatten. Aber das stimmte nicht wirklich. Etta konnte es sehen. Etwas war passiert. Sie spürte es an der Art, wie Charlie trank und sie ansah, mit so etwas wie Verzweiflung und sogar Scham, und dann den Blick abwandte. Er erzählte, dass Wasserauge ihn immer wieder gefragt habe, was er unten im Süden gewollt habe, und dass er, Charlie, geantwortet habe, da sie es längst wüssten, habe es keinen Sinn, immer weiter zu fragen. Er sagte das mit einem Lächeln, aber als Jacek von ihm wissen wollte, was er nun vorhabe, sah er Etta an und antwortete mit leiser Stimme, die sich dann völlig im Nichts verlor: »Das Schwein umbringen.« Er sagte das mit dem Blick eines Mannes, der sie vorher noch gern mit sich aufs Zimmer genommen hätte. Etta bemerkte, dass er in jenen unerbittlichen, exaltierten Zustand glitt, in dem er sich Schaden zufügte. Sie sah es in seinen Augen, in seiner spröden Freundlichkeit und seinem Widerwillen, zur Ruhe zu kommen. Und auch in seiner Sehnsucht nach ihr war es zu erkennen, der Wildheit, die mehr mit Wut als mit Verlangen zu tun hatte.
Charlie spürte gerade dem letzten Brennen des Alkohols in seiner Kehle nach, als Buddy hereinkam. Charlie musterte ihn, den kurzen grau melierten Bart, die alte Bomberjacke aus Leder, die Zigarette im Mundwinkel, die ordentliche Flanellhose, die zu nichts passte, und dachte, es war nicht möglich, nein, es konnte nicht möglich sein, dass Buddy für Wasserauge arbeitete. Im Gegenteil. Buddy musste Wasserauge genauso – wenn nicht mehr – hassen wie Charlie, und er wollte dasselbe wie er. Er stand auf und zog Buddy nach draußen. »Ich habe sechs Stunden.« »Das genügt. Adresse ist nicht weit«, erklärte Buddy und deutete auf ein kleines schwarzes Auto, das auf der anderen Straßenseite stand. Charlie hatte sich gerade hineingesetzt, als Etta aus dem Hotel gerannt kam. Sie hatte gedacht, Buddy würde ihn stoppen, aber aus irgendeinem Grund war das nicht der Fall. »Charlie, verflucht nochmal.« Sie streckte den Arm durch das Fenster und packte seine Hand. Jacek tauchte hinter ihr auf, und Charlie war klar, dass er das Gleiche dachte wie Etta. »Ich will nur mit ihm reden«, erklärte Charlie und umfasste Ettas Hand. »Charlie, sei kein Narr. Da wird Polizei sein.« »Wir finden schon einen Weg.« »Es ist nicht gut, hier so zu streiten«, meinte Buddy ruhig und schaute sich um, ob jemand sie beobachtete. Charlie sah in Ettas Gesicht, das vom Autofenster eingerahmt war, und sagte: »Etta, ich hab es satt, mich ständig verarschen zu lassen. Verstehst du das?« Sie verstand. Aber das änderte nichts an ihrer Meinung. Er zog seine Hand aus ihrer, und der Wagen fuhr los.
12
Die Adresse, die Buddy hatte, lag auf der anderen Seite des Flusses in einem jener Apartmenttürme, die gebaut worden waren, als es noch ein Land gab und dieses Land eine Zukunft hatte. Buddy fuhr konzentriert, beide Hände am Lenkrad. Der Rauch seiner Zigarette wehte ihm ins Gesicht. Charlie saß auf den Vordersitz gequetscht und nahm Buddy die Zigarette aus dem Mund, streifte die Asche ab und steckte sie ihm wieder zwischen die Lippen. Der Wagen war Buddys mobiles Büro, wie er es nannte, mit den alten Ausgaben einer Zeitschrift auf der Rückbank, die er in jenen Tagen herausgegeben hatte, als es noch eine Kultur gab und er ein Intellektueller war, alle jung waren und Bücher auf dem Rücksitz spazieren fuhren. Das Auto zeigte deutlich, wo sie im heutigen Wettbewerb standen. Wasserauge besaß einen BMW, und alles, was sie verflucht noch mal hatten, war ein Lada mit einem fehlenden Scheibenwischer. Wasserauge machte seinen Job, da war sich Charlie sicher. Der Oberst würde sie also erwarten. Scheiß drauf, dachte Charlie. Nach den Stunden in dem fensterlosen Verhörraum war er froh, in diesem Auto zu sitzen, in der Dunkelheit, mit Buddy an seiner Seite. Es war zu keinerlei Handgreiflichkeiten gekommen, nur dieselben alten Fragen, auf die sie längst eine Antwort wussten, und die unausgesprochene Drohung, dass in diesem neonbeleuchteten Kellerraum mit dem Wassereimer, dem Wasserhahn, dem Abfluss in der Mitte des Bodens und den zwei Gestalten im Hintergrund, deren Gesichter nie ins Licht rückten, alles passieren konnte.
Aber es war nicht dazu gekommen. Wasserauge hatte nicht mit Jacek, Etta, Buddy und der dritten Botschaftssekretärin gerechnet. Ihnen hatte Charlie die paar Stunden Gnadenfrist zu verdanken. Gnade hatte, wie er es verstand, nichts damit zu tun, ob man sie verdiente oder nicht. Sie war nicht die Belohnung für seinen Starrsinn. Sie kam ungefragt, fiel wie das Licht des Mondes auf einen. Und so saß er hier in dieser klaren, stillen Nacht, in dieser schlafenden Stadt, und wunderbarerweise war ihm die Gnade zuteil geworden, das Ende des Weges zu erreichen. Denn genau das würde es sein. Der Hunger würde gestillt werden, und nie wieder würde er etwas mit der gleichen, alles opfernden Intensität zu erreichen suchen. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte sich Charlie versöhnt mit der Zukunft und dem Weg, den sein Leben genommen hatte. Eingepfercht in Buddys Lada empfand er etwas zwischen Erleichterung und Zufriedenheit. Er war bis an die Grenze gegangen. »Que sera, sera«, sagte er und sah Doris Day vor sich, wie sie auf dem körnig schwarz-weißen Bildschirm seiner Kindheit das Lied mit geistloser, anrührend guter Laune sang. Es war zum Lachen, und Charlie lachte tatsächlich, leise für sich, ein kleines Kichern, das Buddy zu ihm herübersehen und ungläubig den Kopf schütteln ließ. Buddy war in ganz anderer Stimmung, was sich daran zeigte, wie er das Lenkrad hielt und rauchte. Er wirkte wütend, in Charlies Schicksal mit hineingezogen worden zu sein und dass der sich darum nicht zu kümmern schien. »Ich mach alles, Charlie, damit Sie nie sagen, ich war Feigling.« Er stieß diese Worte mit solch einem für ihn untypischen Ernst hervor, dass Charlie lächelte. Feigheit hatte Charlie nie mit Buddy in Verbindung gebracht. Er empfand einen Anflug zärtlicher Zuneigung für dieses zerfurchte Gesicht, den tabakgelben Schnauzbart und wollte ihm sagen, dass er ihm
vertraute und wusste, dass er mutig war. Aber er tat es nicht, weil er Zweifel hegte, ob das, was er gerade erlebte, der Wirklichkeit entsprach! Real war, dass Buddy die Glock in der Tasche seiner Lederjacke trug und deren Knauf wie bei einem richtigen Profi für alle sichtbar daraus hervorragte. Charlie langte hinüber und schob sie zurück in ihr Versteck. Wusste Buddy überhaupt, wie man damit umging? Aber darauf kam es nicht an. Mit ihr ließ sich Krach machen. Mit ihr ließen sich Leute einschüchtern. Das genügte. Die Pistole gehörte in die Kategorie »beruhigend«, vielleicht auch »peinlich«, doch sie kam auf jeden Fall mit. »Du bist in Ordnung, Buddy«, sagte Charlie. Über die Brücke, die Auffahrt hinunter und dann rechts. Buddy fuhr auf einen Parkplatz am Fuß des Blocks, in dem der Oberst wohnte. »Hier wohnen viele Offiziere«, bemerkte Buddy und betrachtete das Gebäude. Ein Wespennest, dachte Charlie, und wenn eine Wespe Hilfe braucht, kommen die anderen gleich im Schwarm. Feinsplittriges Autoglas knirschte unter den Füßen, und schwarzes Tonband, aus irgendeinem Kassettendeck gerissen, wehte vorbei und fing ein paar Streifen Mondlicht ein. Einige Lichter brannten noch in dem zehnstöckigen Turm, weiter unten flackerte es blau von Fernsehapparaten. Es war kühl, und Charlies Hände fühlten sich kalt an. Er steckte sie in die Tasche und griff nach dem Kassettenrekorder. Sie schlichen sich nicht wirklich heran, und so bestand auch kein Grund, wie Buddy sagte, »Jemsbond« zu spielen. Der Name stand auf dem Klingelbrett, und sie läuteten. Buddy ging an die Gegensprechanlage und nannte seinen Namen, aber wer immer sich am anderen Ende befand, antwortete nicht. Stattdessen öffnete sich das elektrische Schloss der Glastür mit einem Klicken.
Es war zu einfach, und das beunruhigte Buddy und Charlie. Bei früheren Aufträgen hatten sie Leuten tagelang aufgelauert und nie auch nur die kleinste Bresche in den Wall um sie herum schlagen können. Da waren Hunde oder Polizisten, oder ihre Information stimmte nicht, und alle Spuren verliefen im Sand. Den ganzen Weg bis hierher war er auf erstaunlich wenig Widerstand gestoßen. Natürlich, er war rumgeschubst und eingesperrt worden, aber er und Buddy waren immer einen Schritt weitergekommen, und jetzt schien sie der Oberst auch noch die letzten Schritte hinter sich bringen zu lassen. Er war, glaubte Charlie, auf Befehl des Obersts freigelassen worden. Also lief er in eine Art Falle, sagte sich aber, dass die so schlimm nicht sein konnte, wenn er von ihr wusste. Und wenn es wirklich eine war, ließ sich jetzt auch nichts mehr daran ändern. Es war nicht möglich umzukehren, zum Lada zu gehen, mit den Achseln zu zucken und zu sagen, Buddy, bring mich zurück ins Moskva, bring mich für eine weitere Nacht zurück zu Etta, bring mich zurück in mein Leben. Diese Art von vernünftigem Verhalten, das wusste Charlie, würde er den Rest seines Lebens bedauern. Und er wusste auch, warum. Sie hatten einen Fehler gemacht. Sie hatten versucht, ihn fertig zu machen. Sie hatten nicht begriffen, mit wem sie es zu tun hatten. Jetzt würden sie es herausfinden. Buddy und Charlie drückten gleichzeitig auf den Aufzugknopf und stellten sich vor, wie dumm sie dabei aussehen mussten. Sie lauschten dem düsteren Rasseln der Kabine, die sich von den oberen Etagen herabsenkte. Warteten, bis sie mit einem Knirschen zum Stehen kam und sich öffnete, um sie nach oben zu bringen. Sie fuhren schweigend hinauf, vermieden es, sich anzusehen, und wussten, dass es keinen Sinn hatte, irgendetwas zu planen. Sie hatten keine Ahnung, was sie erwartete. »Du deckst die Tür«, »Ich übernehme das Reden« – was immer sie gesagt
hätten, es wäre zu simpel gewesen, um die Angst zu unterdrücken, die beide ergriffen hatte. Der Aufzug kam auf der zehnten Etage mit einem Ruck zum Stehen. Sie traten auf den Flur, an dessen Ende Licht aus einer geöffneten Tür fiel. Sie gingen darauf zu, einer hinter dem anderen. Buddy überschritt die Schwelle als Erster. Charlie, der noch draußen auf dem Flur stand, hörte, wie eine Stimme Buddy stoppte. »Die Pistole«, befahl die Stimme. »Nimm die Kugeln raus, und leg sie auf den Boden.« Buddy folgte der Aufforderung, ließ die Patronen auf das polierte Holz fallen, beugte sich dann hinunter und gab der Pistole einen leichten Schubs, sodass sie, sich drehend, davonglitt. Die Stimme sagte etwas, und Buddy wiederholte die Worte über seine Schulter: »Er will Sie sehen.« Als Charlie die Türschwelle überschritt, hörte er den Mann sagen: »Mach die Taschen leer«, und als Charlie in sein Blickfeld trat, konnte er sehen, dass der Mann bewaffnet war, eingerahmt vom Fenster, das von den Lichtern der Stadt erleuchtet wurde. Sein Gesicht lag im Schatten, aber er war es, die Beine geschlossen, die Waffe erhoben und Charlie abschätzend. Also sagte Charlie, der wusste, dass es am sichersten war, jegliche unangekündigte Geste zu vermeiden: »Ich fasse jetzt in meine Tasche und hole meinen Kassettenrekorder heraus. Ich habe keine Waffe, okay?« »Okay. Setzen Sie sich.« »Wohin?« Charlie sprach so selbstbewusst, wie er konnte, weil ihm sein Instinkt sagte, es wäre sinnvoll, ein wenig Druck auszuüben, um herauszufinden, ob es irgendeinen Spielraum gab, irgendeine Möglichkeit für taktische Überlegungen. Offenbar nicht.
»Auf den Boden, da, wo Sie stehen.« Sein Englisch war gut und veranlasste Charlie dazu, Mutmaßungen anzustellen – ein Job bei der Botschaft, Spion in London oder Washington –, aber die führten zu nichts. Charlie war klar, dass er es mit einem Mann zu tun hatte, von dem er so gut wie nichts wusste, nur die Bewegung mit dem Feuerzug kannte, die beiläufige Drehung aus dem Handgelenk, den Blick zurück, das Weggehen, die unbeschreibliche, unerbittliche Geringschätzung. Charlie überlegte, ob er den Kassettenrekorder anstellen sollte, bevor er ihn hinüberschob, aber er verwarf die Idee. Der Recorder hatte ein verräterisches rotes Licht und machte ein Geräusch, und der Mann war nicht gerade auf den Kopf gefallen. Also holte er ihn heraus, ging in die Knie und gab ihm einen Stoß. »Auf den Bauch«, befahl der Mann. »Warum?«, fragte Buddy. »Warum nicht? Was haben Sie sonst für eine Wahl, Gentlemen?« Das war nur allzu wahr. Sie lagen bäuchlings auf dem Boden. Er kam näher, stieß die Wohnungstür zu und stand über ihnen. Dann tastete er sie ab. Charlie fühlte kräftige Finger über seinen Körper gleiten, sich an seinen Ohren vorbeischlängeln, durch seine Haare kämmen, hinunter zu den Beinen, Waden, Füßen; sogar die Schuhe betastete der Mann. So wie er da lag, konnte Charlie den Mann zum ersten Mal richtig sehen: Er war zwischen fünfundvierzig und fünfzig, kräftig, muskulös, schlank, trug ein einfaches weißes T-Shirt, Jogginghose, war barfuß, hatte grau meliertes Haar wie sein Bruder und hielt seine Dienstpistole auf Charlies Kopf gerichtet, während er ihn durchsuchte. Ihre Blicke trafen sich, und was immer Charlie erwartet hatte – Angst, Wut oder auch den Ausdruck von Triumph –, es war nicht da. Die Augen, die ihn festhielten, wie
er da auf dem Bauch lag, schienen unberührt, professionell und völlig ohne Angst. Er machte alles richtig, wie Charlie sehen konnte, hatte genug Vertrauen in seine Fähigkeiten, es nachts mit zwei Fremden aufzunehmen. Wenn auch mit Vorwarnung, Zeit, sich vorzubereiten – er machte es gut. Eins war jedoch seltsam: Er hätte das alles Wasserauge erledigen lassen können. Die meisten machten es so. An Kriegsverbrecher kam man nicht heran. Sie überließen es der Polizei, sich um Ausländer zu kümmern, für die eigenen Landsleute wie Buddy gab es Killer. Charlie war sich unsicher, was sein Glück bedeutete, und ihm kam der Gedanke, dass der Oberst alles von Anfang an geplant hatte. Der Oberst trat zurück und sagte mit ruhiger, neutraler Stimme, in der eine Prise Ironie mitschwang: »Ihr seid also Journalisten. Dann interviewt mich.« Charlie und Buddy drehten sich um und setzten sich auf. Er deutete mit der Waffe auf das Sofa hinter ihnen. Er lächelte. Das war ein Fehler, denn das Lächeln war zu perfekt: zu intelligent für ein bloßes Grinsen, aber auch zu selbstgefällig, um etwas anderes zu sein als die Zurschaustellung eines grenzenlosen Egoismus. Es war ein Fehler, denn es erlaubte Charlie, sich zu fassen, nachzudenken und sich ins Gedächtnis zu rufen, was es war, das sie hergeführt hatte. »Könnten wir etwas Licht machen?«, erkundigte sich Charlie, als er auf dem Ledersofa Platz nahm. »Nein«, sagte der Oberst und setzte sich ebenfalls, den Revolver auf dem rechten Knie, die Beine geöffnet, den Körper aufrecht, und sah sie an. Rechts hinter ihm stand ein Bücherregal, und unter einer Tür, die in einen anderen Raum führte, war ein harter Strich weißen Lichts. An der anderen Wand hing ein militärisches Wappen
oder vielleicht auch das Zeichen einer Einheit. Die Wohnung machte einen geräumigen, spartanischen Eindruck, keine Spur von etwas Weiblichem. Aber sicher war nichts. In dem Raum hinter der Tür konnte sich noch jemand aufhalten. Charlie wusste es nicht zu sagen. Das einzige Licht kam vom mondhellen Himmel und dem Leuchten der Stadt auf der anderen Seite des Flusses. Direkt hinter dem Oberst befand sich eine Balkontür, die leicht geöffnet war und durch die kalte Luft von draußen um ihre Füße strömte. Der Oberst war ganz nah. Man konnte seinen Atem hören. »Sind Sie Oberst des zweiten Armeecorps, Abteilung für Spezialoperationen?«, begann Charlie. »Das wissen Sie bereits«, antwortete er. »Waren Sie vor einem Monat im Drenica-Tal?« »Das wissen Sie auch.« »Und Prijedor? ‘92 an der Drina? Man sagt, da waren Sie auch.« »Warum nicht?« »Ja oder nein?« »Wir sind hier nicht in Den Haag. Das, ganze ›Ja oder Nein‹ ist was für Staatsanwälte, und Sie, Mr. Johnson, sind kein Staatsanwalt.« Wieder das Lächeln, ein Aufblitzen weißer Schneidezähne im Dämmerlicht. »An welcher Story schreiben Sie, Mr. Johnson?« »An Ihrer.« »Da gibt’s keine Story.« »Vergessen Sie’s«, sagte Charlie. Er wollte keine weiteren Wortgefechte. Er wollte nicht länger herumspielen. »Was wollen Sie also hier? Und Sie, Mr. Savic, was haben Sie mit diesem Mann zu schaffen?« »Er ist mein Freund«, antwortete Buddy. »Und wozu die Pistole?«
»Weil ich Sie umbringen wollte«, sagte Buddy. Der Oberst lachte leise. »Belgrader Intellektuelle«, sagte er. »Für den Besitz dieser Waffe kriegen Sie drei Jahre.« »Werden Sie persönlich dafür sorgen?«, fragte Buddy. Der Mann nickte und zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: Wenn’s mir Spaß macht – wenn ich will. Buddy spürte, wie sich Charlies Körper auf dem Sofa neben ihm versteifte und nach vorn beugte. Er war erregt wie ein Jäger, der seine Beute im Visier hatte, gleich da drüben, auf der anderen Seite der Lichtung, auf den gezielten Schuss wartend. »Hören Sie«, sagte Charlie. »Da war eine Frau. In Drenica. Vor einem Monat. Ich war mit einer Crew da. Wir haben ein Band.« »Ja, Mr. Johnson, ich kenne Ihre Reportage.« Der Oberst machte eine Geste in den dunklen Raum hinein, als wollte er sagen, dass er eines Abends in genau diesem Raum gesessen und die allabendlichen Bilder der Gräueltaten gesehen hatte, aus dem Programm von irgendeinem der internationalen Networks geschnitten, nur dass es in diesem Fall seine Einheit war und seine Gräueltat, er selbst im Kampfanzug und mit einem Feuerzeug in der Hand. Es war eine von Charlies Hoffnungen gewesen, den Mann zu überraschen. Aber ihm gelang keine einzige Überraschung. Der Oberst wusste alles. Es schien keine Bedeutung zu haben, dass man alles hatte sehen können, dass sein Geheimnis bekannt war und Jaceks Bilder es eingefangen hatten. Etwas in dem Gesicht vor ihm sagte Charlie, dass der Oberst sogar glücklich war, seinen eigenen Film fürs Heimkino zu haben. Charlie hatte sich auf der ganzen Linie verkalkuliert. Er hatte gedacht, der Oberst würde die Frau vergessen haben, nach all den anderen, die in den Jahren des Krieges durch seine und die Hände seiner Einheit gegangen waren. Charlie war da, um ihn
zu erinnern, aber er erinnerte sich auch ohne ihn. Man sah es seinem Gesicht an. Also musste er es jetzt fühlen. Er musste beides: sich daran erinnern und es, ein einziges Mal in seinem Leben, auch fühlen. Charlies Stimme hob sich nicht, sie wurde zu einem Flüstern. Nach jedem einzelnen Wort machte er eine Pause: »Sie – haben – sie – angezündet.« Das Gesicht in der Dunkelheit blieb ausdruckslos. Die Waffe auf dem Knie bewegte sich nicht. »Was ich wissen will, ist: warum? Ich bin kein Staatsanwalt. Ich habe kein Interesse an Gerechtigkeit. Sie werden nie nach Den Haag kommen. Aber ich, ich will es einfach wissen. Warum?« Noch immer bewegte sich der Mann in der Dunkelheit nicht oder sagte etwas. Das Schweigen dauerte an. Durch die offene Balkontür drang das Murmeln des Verkehrs draußen herein. Charlie konnte warten. In dem Moment, als er das Wort Warum ausgesprochen hatte, war alles klar geworden, hatte die ganze wahnsinnige Unternehmung wieder einen Sinn bekommen. Warum? Er wollte wissen, warum ihr Leben am Ende keinerlei Bedeutung hatte. »Denken Sie, sie war irgendein Müll?« Der Oberst schwieg. Er griff auf den Boden, hielt sie dabei weiter mit der Waffe in Schach und hob den Kassettenrekorder auf. Mit seiner freien Hand drückte er den Aufnahmeknopf und stellte das Gerät zwischen sich und Charlie. Jetzt gab es eine rote Kontrollleuchte in der Dunkelheit und ein neues Geräusch: das Rutschen des Tonbands durch sein silbernes Tor. »Warum?«, wiederholte er. »Sie fragen, warum?« Wieder lächelte er. »Weil sie Ihnen Unterschlupf gewährt hat.« Sie hatte ihnen Unterschlupf gewährt. Nur dass sie keine Wahl gehabt hatte. Sie waren in ihr Haus eingedrungen und hinunter in den Keller gestiegen, bevor sie auch nur den Mund
öffnen konnte. Sie hatten nie ein Wort miteinander gewechselt. Aber das machte nichts. Sie hatte sie nicht verraten, und dafür hatte sie zahlen müssen. »Deshalb haben Sie sie angezündet?« Charlie lehnte sich vor. »Damit die anderen von ihrem Beispiel lernen, Mr. Johnson.« Er sagte es ruhig, in rein geschäftsmäßigem Tonfall. Charlie schwieg. Ihr Beispiel. Die anderen. Die Art, wie er das sagte, machte alles Denken unmöglich. »Ihre Gruppe gab ein Signal ab. Wir haben es aufgefangen. Sie haben einen Fehler gemacht, Mr. Johnson.« Buddy konnte den Ausdruck auf Charlies Gesicht nicht deuten, seine völlige Leere. Es schien ihm, als hätte Charlie diese Befragung nicht vorhergesehen, und jetzt starrte er in einen Abgrund. »Was sollte das Ganze überhaupt? Als ich Ihren Bericht im Fernsehen sah, musste ich lachen. Sie haben bewiesen, dass Terroristen eine Stellung vier Kilometer hinter der Grenze unseres Gebiets hatten. Dafür haben Sie Ihr Leben riskiert? Dafür haben Sie ihr Leben riskiert?« Dafür haben Sie Ihr Leben riskiert. Es geht nicht um das, was man will, sondern um das, was dabei herauskommt. Der Oberst sagte noch etwas, ruhig, als konstatiere er eine einfache Tatsache, etwas, das nicht offensichtlicher hätte sein können – einen Satz, der keinen Widerspruch duldete. »Collateral damage. Sie war das, was ihr Amerikaner collateral damage nennt.« Charlie sah ihr Gesicht, ihre Augen, ihren Mund, der sich öffnete und schloss, geräuschlos: Rette mich. Er fühlte ihren Atem auf seinem Gesicht, ihre Hände, die nach seinen Schultern griffen, seine Hände, seine Finger, verschmolzen mit ihrem brennenden Fleisch. »So sprechen Sie von ihr?« Charlie war jetzt so nah, dass Buddy sah, die beiden hätten sich gegenseitig berühren
können. Er dachte, dass sie womöglich lange so verharren würden, einfach nur atmend, und so war das, was folgte, das Letzte, was er erwartet hätte. Mit einem Brüllen in der Kehle sprang Charlie auf und stürzte sich durch den dunklen Raum auf den Oberst, den er am Hals zu fassen bekam. Die beiden Körper krachten rückwärts gegen die Balkontür und hinaus auf den Balkon. Das Glas zerplatzte, als die Tür zurückschlug, Charlie fiel auf den Oberst, die Hände fest um dessen Hals, ein Brüllen zwischen den zusammengebissenen Zähnen wie ein wütendes, gequältes Tier. Buddy war auf den Knien und suchte nach dem Revolver, als er sah, wie der Oberst seine Knie hochbrachte und Charlies Körper in die Luft stieß, während er sich mit den Händen von Charlies Griff befreite. Buddys Hände fanden den Revolver in dem Moment, als der Oberst mit den Beinen nach oben stieß und Charlies Körper auf das hüfthohe Geländer des Balkons hievte. Buddy hob die Waffe und sah, wie Charlie, auf dem Rücken, den Kopf nach hinten im freien Raum, Beine und Leib auf dem Geländer balancierend, sich mit den Armen zu fangen suchte, wie ein Käfer, der auf dem Rücken lag. Er schnappte nach Luft, versuchte aufzusehen. Buddy schrie, aber es war zu spät. Der Oberst gab Charlie einen letzten Tritt und ohne ein weiteres Geräusch wurde er, die Augen weit aufgerissen, ins Leere geschleudert. Der Oberst stand auf, sein weißes T-Shirt war blutverschmiert, aber das Lächeln auf seinem Gesicht sagte Buddy, dass er nichts weiter unternehmen sollte. Wasserauge war in den Raum getreten und hielt seine Waffe auf Buddys Rücken gerichtet. Dann wurde alles langsam, in der langen, zähflüssigen Zeit danach. Buddy konnte in der Ferne die Geräusche der Stadt hören und das Band, das zu seinen Füßen immer noch lief. Das rote Licht glühte. Der Oberst bückte sich und schaltete den Rekorder aus. Wasserauge streckte die Hand
aus, um ihn in Empfang zu nehmen. Doch der Oberst gab ihn Buddy. »Nimm. Es ist euer Interview.«
13
Gerade noch hatte Etta auf dem Parkplatz gestanden, die Hände an die Ellbogen gepresst, um sich zu wärmen, während Jacek auf das Haus zueilte. Dann aber rannte sie schon in Richtung des Geräusches und der Ruhe, die ihm folgte. Hinterher erschien es ihr wie eine Gnade, dass er mit den Füßen zuerst aufgeschlagen und sein Kopf verschont geblieben war. Er lag da wie eine zerschmetterte Puppe, die Augen geschlossen, tot, aber unversehrt. Sie kniete sich neben ihn, und ihr Finger lag immer noch an der Stelle an seinem Hals, wo sie nach dem Puls gefühlt hatte, als Wasserauge und seine Männer herankamen und Jacek sie hochzog und wegbrachte. Sie machte ihren Job wie immer, kümmerte sich um die Freigabe seines Leichnams und arbeitete mit der Botschaft zusammen, um die Papiere für den Flug zurück nach England zu erhalten. Sie war es, die zusammen mit der dritten Botschaftssekretärin den Deal mit den Behörden aushandelte. Buddy wurde freigelassen und durfte zurück in die Vereinigten Staaten, unter der Voraussetzung, dass er nicht über den Vorfall sprach. Ansonsten hatten seine Exfrau und seine kranke Mutter, die beide bleiben mussten, mit Konsequenzen zu rechnen, die zu offensichtlich waren, als dass man darüber hätte sprechen müssen. Buddy machte keine Einwände, und auch Jacek nicht, und so ließ Etta Charlies Feldzug im Nichts verschwinden. Sie stimmte der offiziellen Verlautbarung der Botschaft zu, dass es einen tragischen Unfall gegeben habe, und es überraschte sie nicht, dass keiner der Journalisten vor Ort weiter nachhakte.
Sie begleitete den Leichnam auf seinem Flug nach Hause, beobachtete, wie die einfache Kiste ein- und am anderen Ende wieder ausgeladen wurde. Am Flughafen übergab sie ihn an Shandler und die anderen Kollegen aus dem Büro. Elizabeth war da, gefasst, aber mit rot geränderten Augen. Etta berichtete ihr im Wartesaal des Flughafens, was geschehen war, und gab ihr Charlies Tasche, die er im Moskva zurückgelassen hatte. Sie ging nicht zu Charlies Beerdigung, da sie dort nicht hingehörte. Es war eine Familienangelegenheit. Sie wollte Charlies Tochter nicht sehen, und auch Elizabeth nicht noch einmal. Sie wollte nicht hören, was andere von der Kanzel herunter über ihn zu sagen hatten, weder ihre Trauer noch ihre Abschiedsfloskeln. Jacek sagte, er gehe für sie beide. Das sei in Ordnung, meinte sie. Nach Ende der Zeremonie – in einem Krematorium in SüdLondon –, während der sie in ihrer Wohnung am Küchentisch gesessen und durch die Jalousien hinaus in die graue Leere des Londoner Himmels gestarrt hatte, rief Jacek an. Er sagte, er wolle sich nicht aufdrängen, aber er sei am Flughafen, und der Flug nach Warschau sei nicht ausgebucht, und wenn sie kommen wolle, Magda und er würden sich über ihre Gesellschaft freuen. Innerhalb einer Stunde war sie da und saß während des Fluges schweigend neben ihm. Fuhr dann mit ihm über das dunkle polnische Land, bis die Scheinwerfer des Wagens Magda auf dem Hof vor ihrem Bauernhaus erfassten. Etta stieg aus und ließ sich von einer Frau umarmen, die sie nie gesehen hatte. Sie standen in der Dunkelheit, und dank der Wärme von Magdas Körper gelang es Etta, die Tränen zu unterdrücken. Sie brachten sie in dem Zimmer unter, in dem auch Charlie gewohnt hatte. Sie legte sich schlafen, den Blick durch das Dachfenster hinaus in die Nacht gerichtet. Sie blieb drei Tage, ruhig, antwortete, wenn das Wort an sie gerichtet wurde,
wollte ganz offensichtlich da sein, aber nicht sprechen, und da es Magda und Jacek genauso ging, war ihr Schweigen angenehm und natürlich. Magda saß am Tisch mit Blick auf den Garten und arbeitete an ihren Übersetzungen. Etta saß manchmal dabei, las und ließ dann das Buch sinken und starrte aus dem Fenster. Es war Mai, das Gras war grün, und die Blätter kamen heraus. Die feuchte, kühle Luft roch nach bestelltem Land. Die Schweine bekamen Nachwuchs. Sie ging in Jaceks Werkstatt, ließ sich auf dem Hocker nieder und sah zu, wie er seine Kameras mit dem Gebläse und den feinen Pinseln reinigte. Es war unklar, ob er sich einfach nur beschäftigen wollte oder sich auf seinen nächsten Auftrag vorbereitete. Etta fragte ihn nicht, denn Jacek hätte es womöglich selbst nicht gewusst. Jacek erwähnte, dass Charlie, als er bei ihnen gewesen sei, auch dagesessen und ihm stundenlang bei der Arbeit zugesehen habe. Etta hörte ihm zu, ohne zu reagieren. Sie brauchten nicht zu sagen, dass er immer noch da war, ganz am Rand, wie das Echo, das bleibt, wenn ein Schuss abgefeuert wurde. Er hatte seine Erlösung gefunden, daran gab es nichts zu bedauern, dachte sie, bis auf den Umstand, dass es auch eine Flucht gewesen war. Eines Nachts stand sie im Bademantel allein in ihrem Zimmer. Sie öffnete den Gürtel, wie sie es einmal getan hatte, um ihn ganz zu umfangen. Und da das Zimmer leer war wie alle Zimmer jetzt, empfand sie die ganze Schwere ihrer Verzweiflung. Am nächsten Tag fahre sie wieder, müsse zurück zur Arbeit, erklärte sie. Das Abendessen war vorüber, und sie saßen am Tisch vor dem Feuer, als sie schließlich sagte – ohne Vorwarnung –, dass sie glaube, Charlie sei ein Unschuldiger gewesen. Magda fragte sie, was sie damit meine. Etta starrte auf ihr Weinglas, strich sich eine Strähne ihres blonden Haars
aus dem Gesicht und sagte, sie sei mit achtzehn, in ihrem Land damals, vergewaltigt worden. Ein Freund der Familie, sagte sie, ohne besondere Betonung oder Ironie, verbesserte sich, kein Freund, ein Mitglied der Familie. Der jüngere Bruder ihrer Mutter. So aus dem Blauen heraus, wie es auf Englisch heiße. Er lebe noch in der Stadt, in der sie aufgewachsen sei. Ihre Eltern hätten nie davon erfahren, das Leben sei weitergegangen, als wäre nichts geschehen. Aber das sei der Grund gewesen, weshalb sie nach England gezogen sei und noch einmal von vorn angefangen habe. Magda streckte die Hand aus, aber Etta schüttelte sanft den Kopf, als wollte sie sagen, dass sie keinen Trost suche. Sie sah Magda ruhig an und sagte mit ihrer nachdenklichen Stimme und dem leichten Akzent: »Versteht mich bitte nicht falsch. Es war eine Erfahrung, die mir gezeigt hat, dass wir in einer Welt leben, in der es Menschen gibt, die so etwas tatsächlich tun. Ob sie begreifen, was sie da tun oder nicht, ist nicht wichtig. Warum sie es tun, auch nicht. Worauf es ankommt, ist, dass sie es tun.« Charlie, sagte sie, war ein Unschuldiger, weil er nie sein Erstaunen verlor. Es hätte ihn nicht erstaunen sollen. Es war ein Fehler, sagte sie und sah auf die Spiegelbilder ihrer Gesichter im Fenster. Weder Magda noch Jacek sagten etwas. Magda hatte ihre Hand auf die von Jacek gelegt, als wolle sie ihn vor dem schützen, was da gesagt wurde, als fürchte sie, dass auch Jacek ein Gefangener solcher Unschuld war. Was immer er dachte, Jacek ließ ihre Hand dort ruhen. Sein Blick verweilte auf der Unordnung auf dem Tisch. »Es war ein Fehler«, sagte Etta, »all die Hoffnung und deshalb die Wut, als es passierte.« »Was passiert ist, war falsch«, sagte Jacek.
»Natürlich«, erwiderte Etta und sah ihn voller Zuneigung an. »Natürlich. Aber darum geht es nicht. Warum hat Charlie geglaubt, er könne eine Erklärung bekommen? Warum hat er gedacht, diese Welt, das alles hier« – ihre Hände machten eine ausholende Bewegung und warfen im Licht der Lampe Schatten auf den Tisch – »schulde uns überhaupt irgendeine Erklärung?« Jacek sagte, es sei nicht die Welt, die ihnen eine Erklärung schulde, sondern die Menschen. Ganz besonders einer. Und da erhob sich Etta und ging in ihr Zimmer, kam mit etwas in der Hand zurück. Es war Charlies Kassettenrekorder – so wie Buddy ihn ihr gegeben hatte –, und als sie auf Start drückte, leuchtete ein roter Punkt zwischen ihnen auf dem Tisch auf. Natürlich hatte sie ihn zurückbehalten. Was sonst hätte sie tun sollen? Diese Ungeheuerlichkeit einer trauernden und fassungslosen Witwe geben, diese Geräusche der letzten Sekunden, in denen ihr Mann noch lebte? Oder ihn wegwerfen, in einen Mülleimer im Moskva, damit niemand je zu Ohren bekam, was sie in jener Nacht allein im Moskva gehört hatte? Nein, das hätte sie nicht übers Herz gebracht, denn damit hätte sie Charlie hintergangen, der, was immer auch mit ihm nicht gestimmt haben mochte, für eine bestimmte Wahrheit gestorben war. Also musste sie es jemandem vorspielen, und das konnten nur Magda und Jacek sein, weil sie die Einzigen waren, die verstanden, warum Zuhören ein notwendiger Freundschaftsdienst war und Zeugnis ablegte von einer Liebe, die sie alle für einen Mann empfunden hatten, dessen Gesicht, Stimme, Berührung und Geruch unerbittlich aus ihrer Erinnerung schwanden. Was sie hörten, war Folgendes: das Kratzen von Charlies Schuhen, als er seine Position veränderte, die nackten Füße des
Obersts, das Atmen von Buddy, Charlie und dem Oberst, der Lärm der Stadt in der Ferne durch die Balkontür und menschliche Stimmen, gedämpft, nicht ins Mikrofon gerichtet, wie unter Wasser. Sie hatten angenommen, und Etta ganz besonders, dass das Band ein Geständnis enthalten würde, nicht eine Anklage, die Behauptung, dass es Charlie gewesen war, der das Unheil verursacht hatte, dass der verhängnisvolle Tod der Frau seine Schuld gewesen war. Sie hörten die Stimme des Mannes, der sich jedem Urteil entzog, und sie hörten die ruhige Sicherheit, mit der er seinen Freispruch vorbrachte, seine geniale Flucht aus der Falle der Schuld und vor den Anklagen der Erinnerung. Was sie hörten, war eine Infamie, und da Infamien etwas Geheimnisvolles haben, lauschten sie in atemlosem Schweigen, wie angesichts eines großen Mysteriums. Keiner von ihnen glaubte den Anschuldigungen und würde es auch nie tun, aber die Wahrheit, die sich in ihnen barg, war, ganz wie der Oberst gehofft haben musste, eine Waffe. Jacek stand auf und schaltete den Rekorder mit einer heftigen Bewegung aus, als das Reden aufhörte, und ging hinaus in die Nacht, um allein zu sein. Zurück blieben die beiden Frauen, von denen die eine Charlie geliebt und die andere seine Wunden gepflegt hatte. Sie schalteten den Rekorder wieder ein und hörten zum letzten Mal, bevor Etta ihn nahm und ins Feuer warf, die letzten Sekunden des Bands, das Rachegebrüll aus den Tiefen seines Seins, Charlie Johnsons letztes Wort.