PAUL PARK
Coelestis
Roman
Aus dem Amerikanischen übersetzt von ERIK SIMON Deutsche Erstausgabe
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PAUL PARK
Coelestis
Roman
Aus dem Amerikanischen übersetzt von ERIK SIMON Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 0605400 Titel der amerikanischen Originalausgabe COELESTIS Deutsche Übersetzung von Erik Simon Das Umschlagbild ist eine Collage von Jan Heinecke
Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1993 by Paul Park Erstveröffentlichung by HarperCollinsPublishers, New York & London Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Paul & Peter Fritz, Literarische Agentur, Zürich (# 50153) Copyright © 1996 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Ebner Ulm ISBN 3-453-094461-1
Simon Majaram hat die vierzig Jahre dauernde Reise zu den Sternen auf sich genommen, um die legendären Coelestis zu erforschen, eine majestätische, rätselhafte Spezies. Als er am Ziel ist, muß er feststellen, daß die Siedler von der Erde sie inzwischen ausgerottet haben. Sie hielten diese Eingeborenen für Dämonen und Teufel. Und deren einstige Sklaven, die Aboriginals, eine zweite intelligente Spezies auf dem Planeten, haben sich den Menschen auf unheimliche Weise angeglichen. Die Aboriginals und auch manche Siedler sahen in den Coelestis Götter. Und Götter sind nicht sterblich. Sie kehren zurück und lehren die Menschen das Fürchten.
Dieses Buch ist für KAREN ARAM HELEN BERRY TERRY BISSON DENNIS BOUTSIKARIS JULIE COHEN ELLEN DATLOW ANDREW FAILES JOHANNA FEINBERG SHELLY FRIER BONNI GOLDBERG DEBORAH HEDWALL JUDY JENSEN LISA JOSE LYNN LATSON ROGER LAWRENCE BETTY LUNDQUIST MARTHA MILLARD DOUG MILLER PETER MURPHY LISA NOWELL ROSE QUINN STAN ROBINSON CARL RUBIN AUDREY THIER
mit Liebe.
KAPITEL EINS
1a: Bilder von daheim Sie war seit ein paar Tagen Gast der Familie, während sie sich von der letzten Behandlungsrunde erholte. Es ging ihr gut. Doch im Bett sollte sie Mund und Kehle mit gefütterter Gaze bedecken. Auf der Bettdecke hatte sie die Notenblätter für die Sonate ausgelegt. Sie saß im Schneidersitz darüber und versuchte, ein Muster in den Büscheln von Noten zu erblicken, vielleicht die Andeutung einer Landschaft oder eines Gesichts. Etwas, das ihr helfen könnte; auf dem Schoß hatte sie einige Postkarten von England. Der Windermere-See, die Kathedrale von Durham, Trafalgar Square. Auch ein Programm – ein richtiges Programm, keine Kopie – einer Aufführung von Beethovens Klavierkonzert Nr. 5 mit John Bock in der Royal Albert Hall. Das war jetzt lange her; wer vermochte zu sagen, wie lange? Das Datum darauf hatte nichts zu bedeuten. Doch gewiß war Bock tot und im Himmel. Schreie und Gelächter drangen zu den Fenstern ihres Zimmers herauf. Auf der Wiese spielten sie eine erste Runde Krocket. Sie saß sacht hin und her schaukelnd auf der Decke. Sie schloß die Augen und hob das Programm an die Lippen, sog den schwachen Duft der Welt ein. Da lag noch ein Foto auf dem Laken. Sie legte das Programm hin und griff danach. Sie drehte das Bild um. Es war ein Porträt von ihr selbst, vor ein paar Jahren aufgenommen. Sie war für eine Aufführung am Ursulinum zurechtgemacht, wo sie zur Schule gegangen war.
Sie lehnte das Foto gegen ein Kissen. Und sie begann die Gaze von ihrer Wange zu lösen und erprobte mit besorgter Hand die Weichheit der Haut über ihrem künstlichen Kiefer.
1b: Der Konsul »Na, jedenfalls werden Sie gutes Wetter haben«, sagte der Konsul vom Fenster her, wo er stand. Sein Ton schien nahezulegen, es könnte regnen. Gewisse Aphasie-Kranke, die nicht verstehen, was man ihnen sagt, können trotzdem auf der Grundlage anderer Merkmale ganze Gespräche führen. Nach achtzehn Monaten Übung hatte Simon einen Teil derselben Empfänglichkeit für Gesten und Tonfall entwickelt. Er saß an seinem Schreibtisch, fingerte an der rot-weißblau gestreiften Krawatte, die umgebunden zu haben ihm schon allmählich leid tat, und dachte an Kleinigkeiten. Der Konsul lächelte. »Ich beneide Sie«, sagte er. »Es klingt nach einer lustigen Party.« Doch das kleine Zappeln seiner Finger schien ein anderes Gefühl anzudeuten. »Warum fahren Sie dann nicht an meiner Stelle? Sir, die Einladung lautet auf Ihren Namen. Sie sind es, den sie dort haben wollen – ich kenne sie kaum.« Der vierte Juli war ein Staatsfeiertag. Das ganze Personal des Konsulats war zu Hause geblieben. In Simons Büro war seit Freitag nicht Staub gesaugt worden; bis zum Montag hatte der kalkähnliche Staub alle Oberflächen bedeckt. Jetzt, am Dienstag, türmten die Schuhe des Konsuls Wellen weißen Kalks auf, während er über den Teppich ging. »Ich würde gern«, sagte er. »Ich würde wirklich gern.« Dann runzelte er die Stirn. »Aber ich habe zu tun.« Mit der rechten großen Zehe
rieb er seitlich an seiner linken Ferse und hinterließ einen kleinen Fleck. »Bitte, Sir, ich kenne sie kaum. Wenn Sie wirklich gern hin möchten, dann, denke ich, kann ich hier die Stellung halten.« Simon legte die Hand besitzergreifend auf einen Stapel Mappen auf seinem Tisch: purpur, rot und orange, ein Spektrum abnehmender Dringlichkeit. Ins Gesicht des Konsuls trat ein schmerzlicher Ausdruck, als täte es ihm weh, beim Wort genommen zu werden. Er stand neben dem Schreibtisch und langte nach der orangefarbene Mappe. »Nein, nein, mein Junge«, sagte er. »Sie fahren. Bitte. Gönnen Sie sich die Freude. Es werden ein paar… wichtige Leute da sein.« Schon abgelenkt, ließ er seine Stimme versickern, während er den ersten Vorgang in der Mappe musterte. Es war eine Ölkonzession, die Simon für Extz (9) Petrolion vorbereitete, äußerst komplex, aber auch äußerst nutzlos. Seit über zwei Jahren hatte niemand etwas von der Gesellschaft gehört. Beim Lesen bewegte der Konsul die Lippen. Simon wandte das Gesicht ab. »Es ist bloß die Information über die SeePipeline«, sagte er. Er sah zu, wie die Staubvorhänge sacht vor dem offenen Fenster zitterten. Die Jalousien warfen Streifen von Dunkelheit in den Raum. Sie verblaßten, als eine Wolke vor der Sonne vorbeizog. Der Deckenventilator über seinem Kopf hob die Ecken der Papiere auf dem Schreibtisch. Simon stand auf und ging zum Fenster. Er spähte durch die Ritzen der Jalousie auf die weiße Straße hinab. Hinter ihm hatte der Konsul es sich in einem Lehnstuhl bequem gemacht, die Mappe in der Hand, und bewegte die Lippen zu den Worten der gegenstandslosen Konzession.
»Ich würde mich auch am liebsten entschuldigen«, gestand Simon schließlich. »Ich finde überhaupt keinen Draht zu denen, um die Wahrheit zu sagen. An einem Tag wie diesem werden sie besonders schlimm sein. Sie werden vor drei Uhr stockbetrunken sein, und ich werde zwischen irgend einem fetten Ingenieur und einer rot angelaufenen Witwe festsitzen, die mir erzählt, wie schwer es ist, einen anständigen Koch zu finden.« »Ich sehe, Sie haben die Gästeliste durchgesehen«, murmelte der Konsul, ohne den Blick zu heben. »Ich weiß, wen Sie meinen.« »Das war nicht nötig. Ich war voriges Jahr dort. Ich brauche nicht wieder hinzugehen; sie können mich auch so schon nicht leiden. Es sind Rassisten, das zum einen. Und dann mußte ich eingestehen, daß ich ihr Lied vom Star-Spangled Banner nicht recht kannte. Ich hatte nie davon gehört.« »Das nennen wir ›Expatriotismus‹«, sagte der Konsul und legte vorerst den Finger an die Stelle, wo er gerade war. »Sie müssen zugeben, daß es sie verwirrt haben muß, jemandem zu begegnen, der tatsächlich in Nordamerika war. Es muß sie betrübt haben. Keiner von ihnen war dort.« »Ich mache ihnen keinen Vorwurf. Ich war so dumm, die Rede darauf zu bringen. Ich will sie einfach nicht wiedersehen.« Ein Windstoß ließ die Blenden der Jalousie klappern. Simon fand die Schnur und zog heftig daran; die Jalousie rasselte nach oben und verschwand im Schlitz am Oberrand des Fensterrahmens. Er schob die Hand hinaus durch die Lagen weißen Tülls, bis er freie Luft erreichte, und bewegte dann den Arm zur Seite, so daß eine Lücke von zwei Fuß entstand. Ungedämpft schlug das Licht auf seine Wangen und sein Gesicht herab und bahnte sich den Weg ins Zimmer. Hinter
ihm verließ ein verirrtes Blatt Papier den Schreibtisch und segelte zu Boden. »Nichtsdestoweniger«, erklang die weiche Stimme des Konsuls, »ist es in den Bergen wahrscheinlich kühler.« Das Konsulat stand in einer Gegend voller weißgetünchter Häuser mit flachen Dächern, nicht weit vom Hafen. Simon blickte über die Dächer hinweg, dann in die Straße hinab. Ein Mann war am Eingang des Hauses gegenüber erschienen, eine gebeugte, schmale Gestalt, in weiße Gewänder gehüllt. Zögernd und nach beiden Seiten Ausschau haltend trat er in den Staub und zog dabei einen kleinen Schlitten die Rampe hinab. Simon sah zu, wie er sich die Straße entlangmühte, den Rücken gebeugt, den Kopf mit Stoffstreifen umwickelt. »Es ist die Art, wie sie sie behandeln, was ich nicht ausstehen kann«, sagte er nach einer Weile. »Sie lassen sie sich in ihren Bergwerken und auf ihren verdammten Feldern totarbeiten und reden immerzu nur davon, wie faul sie sind, und wie dumm, und wieviel sie trinken. Nach einer gewissen Zeit kann ich es einfach nicht ausstehen.« Er ließ den Vorhang los und wandte sich wieder dem Zimmer zu. »Sie übertreiben«, erwiderte der Konsul und hob die Augenbrauen, ohne von der Mappe aufzublicken. »Außerdem werden ein paar Eingeborene da sein. Ich glaube, ich habe davon gelesen.« »Nur ihre besonderen Lieblinge. Sie werden’s sehen.« Der Konsul war mit der Konzession fertig. Er hob den Kopf und musterte Simon eine Zeitlang, ohne etwas zu sagen. Dann zuckte er die Achseln. »Wo ist die Einladung?« fragte er. »Hab ich sie?« »Sie ist da.« Es war das vierte Papier in der Mappe. Der Konsul hielt es hoch. »Sie irren sich«, sagte er. »Junius Styreme wird
kommen, seine Tochter auch. Haben Sie mir nicht von ihr erzählt? Sie wird ein musikalisches Zwischenspiel darbieten – Beethovens Klaviersonate Nr. 31, Opus HO. Das scheint eine seltsame Auswahl von Musik für eine Grillparty zu sein.« Er ließ die Einladung sinken und schaute Simon darüber hinweg an. »Ich habe sie spielen hören«, sagte er. »Sie ist nicht brillant, außer wenn man bedenkt, was sie ist. Das Erstaunliche daran ist, daß sie überhaupt spielt. Freilich, mit lauter neuen Fingerknöcheln…« Er hielt inne. »Es ist der einzige Grund, weshalb ich hingehen könnte«, räumte Simon ein, und der Konsul lächelte. Er war ein kleiner, dünner, ironischer, unverheirateter Mann. Ausdrücke huschten rasch über sein schmales Gesicht: Lächeln ohne Freude, Stirnrunzeln ohne Zorn. »Nehmen Sie es nicht als einen Gefallen von mir«, sagte er und rutschte in seinem Sessel zurecht. »Erst recht nicht als Gefallen für Sie. Ihnen ist klar -neun Zehntel von dem, was wir hier tun, dienen dem Anschein. Besonders jetzt. Die Menschen in diesem Sektor sind starr vor Angst. Wenn sie manchmal ein bißchen unduldsam wirken, dann ist das wahrscheinlich der Grund.« »Sie meinen den Angriff auf Gundabook.« »Natürlich. In den letzten paar Jahren haben zwanzig Prozent der Grundbesitzer in diesem Gebiet ihr Land verkauft und sind nach Osten gezogen. Jonathan Goldstone hat einen guten Schnitt damit gemacht, dieses ganze Land fast umsonst zu kaufen, aber er tut es nicht darum. Er tut es, um zu zeigen, daß er keine Angst hat. Diese Art Mut verdient unsere Unterstützung, egal, was Sie oder ich von ihm persönlich halten mögen. Oder, wie ich annehme, politisch.« Simon lauschte eine Weile dem Surren des Ventilators. »Ich nehme an, Sie haben recht«, seufzte er. »Ja, und ist es wirklich so viel verlangt für einen von uns, im Rolls mit fliegenden Fahnen hinzufahren und etwas gegrilltes
Huhn zu essen und sich ein bißchen Beethoven anzuhören? Es könnte den Leuten die Illusion von Sicherheit geben. Das ist alles, wozu wir wirklich nütze sind, jetzt, wo die Kommunikation so schwach ist. Das…« – er wies auf die Mappe auf seinem Schoß –, »das ist alles Unsinn.« Man konnte nicht feststellen, weder an seinem Tonfall noch an der Handbewegung, ob er es ernst meinte oder nicht. Simon sagte: »Wenn das wahr ist, Sir, würden Sie sich dann nicht selbst darum kümmern wollen? Ich meine, wenn es so wichtig ist.« Doch dann mußte er lächeln, als sein Chef in Gelächter ausbrach – eine seltsame, rasche Pantomime von Heiterkeit. Das nächste Gesicht des Konsuls war trauriger. Gedankenversunken, mit gerunzelter Stirn saß er da und starrte das Medaillon im Teppich an, ohne aufzublicken, als Simon an ihm vorbeiging, um sich wieder hinter seinen Schreibtisch zu setzen. Viele von den älteren Kolonisten waren Trunkenbolde, und Simon ertappte sich oft dabei, wie er in der Luft rings um sie schnüffelte, wenn sie sprachen, während er versuchte, dem Zickzack ihrer Unterhaltung zu folgen. Bei seinem Chef vermutete er jedoch ein subtileres, verborgeneres Laster, den Gebrauch von Medikamenten, die präzise Sprache oder klares Denken nicht behinderten, sondern statt dessen den Willen zur Bewegung angriffen. Die ganze Zeit seit Samstag, als die Relaisstation den Videochip von New Manchester durchgegeben hatte, hatte der Konsul die Kleidung nicht gewechselt. Er hatte auf dem Sofa in seinem Büro geschlafen und seine Mahlzeiten am Schreibtisch gegessen. Bei alledem aber hatte er keine Arbeit getan, keine Anrufe entgegengenommen. Er hatte seine Zeit damit verbracht, auf und ab zu gehen oder Romane zu lesen oder aus dem Fenster zu starren. Ruhige Stimmungen folgten auf besorgte. In seinem
Büro hatte er bei geschlossenen Türen den Chip immer wieder abgespielt. »Der Wagen wird um elf hier sein«, sagte er. Er stand auf. Er blieb mitten auf dem Teppich stehen und blätterte die orangefarbene Mappe bis zu Ende durch, ehe er sie wieder auf den Schreibtisch legte. »Da ist noch etwas«, sagte er und berührte den Schneegestöber-Briefbeschwerer auf Simons Schreibunterlage. »Sie werden sich vorsehen, nicht wahr? Ich habe Ihnen einen einheimischen Fahrer gegeben, jemanden, der die Gegend kennt. Er ist da oben zur Schule gegangen. Er wird durch Gundabook fahren, aber steigen Sie nicht aus. Wir wollen nur Flagge zeigen.« Er stand vor Simons Schreibtisch und fummelte an dem Briefbeschwerer herum, warf ihn müßig hoch und fing ihn wieder auf. Auf der Schulter seines grauen Anzugs war ein dunkler Fleck. Simon musterte ihn. »Was meinen Sie?« fragte er. »Worin liegt die Gefahr?« Der Konsul zuckte mit den Achseln. Der Fleck kroch ein paar Zoll aufwärts und verblaßte dann. »Das bleibt unter uns«, sagte er. »Obwohl Sie manches davon schon wissen. Gundabook ist von einer Gruppe namens NLC, National Liberation Coalition, niedergebrannt worden. Haben Sie sich je Gedanken gemacht, was ›Coalition‹ bedeutet?« »Eigentlich nicht.« »Ich auch nicht. Aber ich habe Informationen aus dem Büro des Bürgermeisters bekommen. Jemand behauptet, unter den Terroristen Stammes angehörige der Dämonen gesehen zu haben. Augenzeugen. Was würden Sie dazu sagen?« »Ich würde sagen, daß ich Gerüchte gehört habe. Dann würde ich sagen, daß sie seit zwanzig Jahren ausgestorben sind.« »Ja. So ist es.« Der Konsul lächelte, runzelte dann die Stirn. »Und doch gibt es Beweise. Fotografische Beweise.« Er
machte eine Pause. »Sie werden das Goldstone gegenüber nicht erwähnen, oder?« »Natürlich nicht.« »Sie werden nichts von alldem erwähnen. Wir sind aufgegeben worden – Sie verstehen.« Er sprach mit untypischer Eindringlichkeit und nahm für einen Moment Blickkontakt auf. »Sie sind nicht hier geboren worden. Aber ich habe gewöhnlichere Dinge als dies erlebt, und binnen sechs Monaten Standardzeit hatten sie Kreuzer der Air Force über Shreveport. Von New Manchester. Dämonen im Territorium – ich habe ihnen davon berichtet. Ich habe es beschrieben.« Er hielt den Briefbeschwerer hoch. »Sagen Sie«, fuhr er nach einer Pause fort, »kommt in London wirklich solcher Schnee vor?« Simon schüttelte den Kopf. »Kaum.« Der Konsul legte den Briefbeschwerer wieder auf den Tisch, mit übertriebener Sorgfalt auf die Ecke der Schreibunterlage. »Sie wissen, wovon ich rede«, sagte er. »Nicht ganz, Sir. Ich…« Abgelenkt hielt Simon inne. Das Gesicht des Konsuls hatte sich für einen Augenblick zu einem verkniffenen, gekränkten Ausdruck verschlossen. In all den Monaten, seit er hier arbeitete, hatte Simon das noch nie gesehen. »Es gibt hier fünf Millionen Ureinwohner im Bereich unserer Rechtsprechung. Siebzehntausend von uns. Moral ist ziemlich wichtig.« »Das ist mir klar.« »Was immer wir tun könnten, wäre hilfreich.« »Ja.« »Ich sage Ihnen das, damit Sie sehen, wie dringlich es ist. Damit Sie angemessen reagieren können, um den Leuten, die
Sie heute nachmittag treffen, wieder Sicherheit zu geben. Außerdem ist das vertraulich.« »Ich verstehe.« »Sie haben Gerüchte gehört. Vielleicht habe ich selbst ein paar Andeutungen fallen lassen.« »Ja, Sir.« Der Konsul fingerte in der ausgebeulten linken Jackettasche und holte ein versiegeltes Kuvert hervor. »Bringen Sie das Jonathan Goldstone. Geben Sie es ihm, sobald Sie ankommen. Sagen Sie ihm nicht, daß es von mir kommt. Sagen Sie, wir haben es hier erhalten.« Er legte das Kuvert auf die Schreibunterlage. Dann nahm er aus derselben Tasche ein Stück Papier, zusammengefaltet, zerknittert und krumm. Abermals mit übertriebener Sorgfalt legte er es neben das Kuvert vor Simon. »Das ist Gundabook«, sagte er. »Reverend Jamieson hatte unmittelbar vor dem Angriff Aufnahmen von einem kleinen Ligaspiel gemacht. Das war die letzte auf dem Film.« Simon faltete das steife Papier auseinander und breitete es aus. Er ließ den Fingernagel über die Reihe vermummter Gestalten gleiten. Sie waren der Kamera zugewandt. Manche hatten automatische Waffen. Manche hatten die Fäuste erhoben. »Es ist gestellt«, sagte er. »Natürlich. Die Kamera wurde am Ort des Geschehens verlassen aufgefunden.« Auf dem Foto stand das Jugendzentrum von Gundabook schon in Flammen. Schwarzer Rauch verdeckte den größten Teil der Fassade. Die Terroristen hatten einige Körper ihrer Opfer herausgezogen und auf dem Rasen ausgebreitet. Sieben vermummte Ureinwohner standen in einer Reihe darüber und dahinter, am Fuße eines Haufens Mobiliar, das aus dem
Gebäude gezerrt worden war. Zwei trugen Sweatshirts der Universität von Shreveport. »Die da ist Harriet Oimu«, sagte ‘der Konsul und zeigte auf die Zentralfigur in der Reihe. »Alle anderen sind noch nicht identifiziert.« »Was ist mit dem Mann?« Ein Mensch, vermummt wie die anderen und doch instinktiv sofort zu erkennen, stand abseits auf der obersten Stufe. In der rechten Hand hielt er das Ende von etwas, das vielleicht eine Kette war. »Judas Ischariot«, sagte der Konsul, und in seinen Augen glitzerte unvermittelt Feuchtigkeit. »Er hat ein Kreuz am Revers.« Selbst in der Körnung der Vergrößerung war es zu sehen, übers Herz des Mannes geheftet. Die Kette war schwerer auszumachen. Vielleicht war es nur ein Wiedergabefehler. Vielleicht hatte der Mann die Hand bewegt. Oder vielleicht bedurfte der Verstand eines Anhaltspunktes, um den Zusammenhang des Mannes mit den Dämonen zu erklären. Den Erzfeinden. Mindestens sieben Fuß groß, ragten sie hinter den Trümmern zerbrochener Stühle auf. Es waren nur zwei, und einer stand vorn und zeigte seine langen, kraftvollen nackten Beine. Seine beredten Arme, die graziösen Hände waren in einer flehentlichen Geste ausgebreitet. Simon hatte die Sprache am Warburg-Institut für Fremde Kulturen studiert. Doch dieses Muster erkannte er nicht. »Was sagt er?« fragte der Konsul. »Ich weiß nicht.« Der Konsul schniefte. »Ich war mir sicher, daß Sie mir etwas sagen würden. Der Gouverneur meint, niemand soll das sehen. Aber ich habe ihm gesagt, daß Sie ein Recht haben, es zu wissen. Denn Sie begeben sich in Gefahr. Sie haben das Recht, vorbereitet zu sein.«
»Ich erkenne die Form nicht. Es ist schwer, wenn man nur ein Foto hat.« Das Gesicht des Dämons erschien im Profil – ohne Ohren, ohne Mund, scharf, unnatürlich. In seinem haarlosen und unförmigen Kopf steckte ein fremdartiges Gehirn. Ihn einfach nur zu sehen, und sei es auf einem Foto, gab Simon ein Gefühl der Erregung, der Unzulänglichkeit. Natürlich waren auch die Ureinwohner auf dem Bild fremdartige Wesen. Doch es war lange her, seit er sie zum letztenmal so betrachtet hatte. Die er kannte, Diener und die gutsituierten Leute, die er auf Parties und Empfängen traf, waren so vollständig assimiliert worden. Sie waren niedergeworfen. Gezähmt. Doch dies hier war echt. Es war vielleicht das, was er gesucht hatte, als er von der Erde hergekommen war. »Homo coelestis«, sagte er. Wenn man in sie drang, wußten alle Kolonisten Geschichten aus der Zeit ihres Großvaters, Geschichten von der zweiten Ausbreitung: Wie die Dämonen die Farmen angesteckt und ihre eingeborenen Sklaven gezwungen hatten, wieder und wieder gegen die Barrikaden anzurennen, indem sie ihren unveränderten Geist mit Gewalt und Schmerz anstachelten, gleichgültig, ob jene lebten oder starben. Simon hatte die Geschichte des Konsuls schon früher gehört. Jetzt bereitete er sich wieder darauf vor. Er bereitete sein Gesicht vor. »Als ich fünf Jahre alt war«, sagte der Konsul, »brachten die Boys meines Vaters den Körper eines Kleinen, Neugeborenen mit. Sie ließen ihn von einem Stock herabhängen. Und jedermann war froh, weil wir dachten, es sei der letzte, den wir je zu Gesicht bekämen. Seine Augen waren voller Käfer. Die Boys hatten mit ihren Macheten darauf eingehackt. Als mein Vater durch den Außenwall hereinkam und von seinem Jeep stieg, fielen sie alle im Staub auf die
Knie. Die Ureinwohner – sie weinten alle vor Dankbarkeit. Das Band sei zerrissen, sagten sie. Sie sagten, es sei alles ausgestanden.« Er schüttelte den Kopf und hob die. Faust zum Munde. »Bei Gott, was waren wir damals stolz. Stolz auf unsere eigene Kraft. Wir waren damals die Helden, mit unseren Behandlungsmethoden und Drogen. Wer hätte all diese Schuldgefühle vorhersagen können?« Der Ventilator drehte sich immer weiter. »Wer hätte das vorhersagen können?« wiederholte er. »Dämonenkrieger in Gundabook. Alles, was wir getan, jede Entscheidung, die wir getroffen haben – seht sie euch an. Sehen Sie sich ihre Gewehre an, ihre Kleidung. Eingeborene, die Aufstand spielen, nachdem wir sie mit Thomas Jefferson und Mao Tse-tung vollgestopft haben. Alles, was sie sind, verdanken sie uns. Es wird einem übel davon.«
1c: Katharine (I) Als sie die Musik zum erstenmal gesehen hatte, wußte sie, daß sie von der Jungfrau Maria handelte. Beethoven war nicht einmal Katholik gewesen, soweit sie gehört hatte. Dennoch wußte sie, daß es das gewesen sein mußte, was er meinte. Als ihr Vater es fertiggebracht hatte, eine Aufnahme zu finden, eine CD von Wilhelm Ganz, hatte sie es sich immer vom zweiten Satz an angehört, weil sie nicht hören wollte, wie er es anders spielte. Die Musik vermittelte ihr schon ein Bild, das keine gewaltsame Veränderung duldete. Ähnlich empfand sie in bezug auf andere Teile des Zyklus. In Opus 81A erhaschte man manchmal einen Blick auf eine andere Szene, das Martyrium ihrer Namensheiligen, Katharina, auf dem Rad, in den harschen Kaskaden der Noten wie von
Blitzen erleuchtet. Und den langsamen Satz von Opus 13 hatte sie auf ihren Notenblättern in ›Die Kreuzabnahme‹ umbenannt. Auch dort konnte man die Heilige Jungfrau sehen, insbesondere in den Akkorden der linken Hand – eine harte, müde, ernste Frau, die Augen ausgetrocknet von den vergossenen Tränen. Doch im ersten Satz von Opus 110 war sie noch jung, und man konnte sich einen ganzen Introduktionsteil voll einer Art geordneter Leichtfertigkeit vorstellen, ein Thema der jungen Maria, das Beethoven nie niedergeschrieben hatte. Statt dessen hatte er sich entschieden, mit dem Augenblick der Verkündigung zu beginnen, was in seiner Version kein Engel war, sondern einfach ein Dreiklang in As-Dur, unvermittelt, unwiderruflich, die ersten Regungen eines neuen Lebens im Schoße des Mädchens. Katharine Styreme saß auf ihrem Bett in Goldstone Lodge und studierte die erste Seite der Partitur. Vom ersten Akkord an floß das Leben Christi unaufhaltsam dahin, und doch war es eigentlich eine kleine Sache, in sich gekehrt, mezzopiano, der erste Schlag einer winzigen Faust, der erste Stoß Seines Fußes. Und dann ein Augenblick des gefaßten Zweifels, der Hoffnung. Meine Seele preist die Größe des Herrn. Katharines Armbanduhr schlug die Viertelstunde, und sie stand auf, um ihre Tabletten zu nehmen. Ihr Kosmetikkoffer lag offen auf der Fensterbank; sie holte ein Glas Wasser und blieb am Fenster stehen, schaute hinaus, wo andere Gäste auf der Wiese Softball spielten. Sie ergriff eine der braunen Kapseln. Auf diesem Längengrad stand die Sonne weniger als halbhoch am Osthimmel. Sie warf lange Schatten und ein angenehmes Licht durch einen Ring sich zusammenballender Wolken. Katharine wandte sich ins Zimmer zurück, um die Effekte auf der Tapete zu bewundern. Dies war das
luxuriöseste Gästezimmer des Hauses. Das Glas, die Möbel, alles importiert. Wie viele von ihrer Rasse, überlegte Katharine, waren jemals hier gewesen? War sie die erste? Sie schluckte die Pillen und trank das Glas fast leer. Als sie es auf die Fensterbank stellte, klopfte es an die Außentür. »Herein«, sagte sie und wartete dann, sah zu, wie ihr Vater – es konnte nur er sein – ganze zehn Sekunden lang vergeblich am Türknopf rüttelte, bis sie den Teppich überquerte und die Tür aufzog. Er stand auf seinen Stock gestützt da. »Du fehlst mir«, sagte er einfach. »Ich bin heraufgekommen, um meine Arznei zu nehmen.« Katharine trat zur Seite, um ihn einzulassen. Er hatte einen neuen Anzug angezogen, schön geschnitten und mit Polstern um seine gebrechlichen Schultern. Doch selbst dabei sah er heute aus, als sei er dem Tode nahe. Seine Perücke wirkte ihm zu groß, und bei all der Chemotherapie war seine Haut unnatürlich weiß geblieben, als sei sie von weißem Staub bedeckt. Außer Atem trat er ein paar Schritte ins Zimmer, und einen Moment lang kam es Katharine vor, als könnte sie hören, wie sich sein Herz abmühte, so verklumpt und angeschwollen, daß es kaum schlagen konnte. Er streckte ihr die Linke entgegen, sie nahm sie und geleitete ihn zum Fenster hinüber. »Mein Hals ist heute steif«, beklagte er sich. »Bitte komm nach unten und leiste mir Gesellschaft. Bis zum Konzert sind es noch etliche Stunden.« Er spähte im Zimmer umher, die Augen riesig unter seiner Brille. »Das ist nett«, sagte er. »Ja, Vater, nicht wahr? Es ist hübscher als mein Zimmer voriges Jahr.« »Voriges Jahr hat mir Jonathan nicht so viel Geld geschuldet.« Styreme streckte eine schwache Hand aus.
Er beugte sich vor, so daß er über den Rasen hinwegspähen konnte. »Sieh dir diese Wolke an!« sagte er. »Möglicherweise wird es regnen.«
1d: Gundabook Ein saurer Geruch in der Luft, und Simon schluckte, als er in den Wagen stieg. Um Zeit zu verbringen, ließ er den Fahrer den langen Weg nehmen, über die Esplanade und auf der Uferstraße. Der Hafen war an diesem Morgen still, zu Ehren des Feiertags. Als sie am Wasser entlangfuhren, sah Simon fünf plumpe Galeonen in einer Reihe, die an der Reede dümpelten. Da draußen gewann das Meer einen satten Orangeton unter dem hellen Himmel. Das Meer war klein und schmal, eigentlich ein See, nur hundert Meilen lang. Das Wasser war nicht tief. In Ufernähe stieg sein Mineralgehalt allmählich an und ließ die Farbe des Wassers durch ein Dutzend Töne changieren, die schließlich mit den staubweißen Sandbänken der Lagune verschmolzen. Hie und da reichten Arme reinen Wassers bis ans Land, und diese waren voll von Booten. Simon sah Regsamkeit da draußen: Strichmännchen zogen Schlitten und stolperten über Krusten von halb überflutetem Alkali. Und an der Reede glitten kleinere Boote zwischen den ankernden Galeonen hin und her, die dunklen Segel in der Ferne verschwimmend, wenn sie sich vom Lande entfernten. Schließlich verließ der Rolls die Uferstraße und fuhr zurück durch die Stadt. Bei der Reinigungsfabrik bogen sie vom Lyndon-Johnson-Boulevard ab und durchquerten eine Slumsiedlung, wo Hafenarbeiter wohnten – ein Labyrinth von eisernen Dächern und gekalkten Lehmwänden. Während
Simon auf dem Rücksitz hin und her rutschte, ließ der Fahrer den Wagen durch die engen Gassen preschen, den Finger auf der Hupe. Ein alter Mann sprang zur Seite, und Simon lehnte sich vor, um Einspruch zu erheben. Er klopfte nachdrücklich gegen die gläserne Trennscheibe. Doch da waren sie schon durch und fuhren auf der Fredrick Douglass nach Westen, die Auffahrt zum Damm hinauf. Zu beiden Seiten erstreckte sich die Lagune bis zum Horizont, eine flache, von nichts unterbrochene Ebene. Hie und da hatte der Wind den Staub fortgeweht und die harte, schwarze Oberfläche darunter freigelegt, so schlüpfrig und glatt wie Eis. Simon sah ein vereinzeltes Gleitboot gegen den Wind kreuzen, riskant auf einer Kufe ausbalanciert. Simons Fahrer trat aufs Gaspedal, und der große Wagen ruckte vorwärts. Erst unlängst geräumt, lief die Straße vierzehn Meilen ohne eine Kurve, bis sie auf die weißen Anhöhen des Kontinents traf. Der Wagen beschleunigte stetig, und bald umgab ihn eine brüllende Staubwolke. Gelegentlich, wenn er auf einen Fleck traf, wo sich Mineralien angesammelt hatten, sprang er unheilverkündend hoch, bis Simon nach dem Sprachrohr langte. »Fahren Sie bitte langsamer«, ordnete er an. »Bitte ruinieren Sie nicht den Wagen.« Und dann fiel ihm noch ein: »Halten Sie an, wenn Sie nach Gundabook kommen.« Sie passierten den Kontrollpunkt am Ende des Dammes. Der einsame Polizist salutierte, als sie vorbeifuhren. Simon wandte den Kopf, um ihn im Rückspiegel zu beobachten, eine dürre graue Gestalt mit einem Turban auf dem Kopf und einem Leuchtstab in der Hand. Dann verschwand er; der Fahrer bog auf die Schnellstraße ein. Zwanzig Meilen südlich lag Shreveport, das amerikanische Verwaltungszentrum. Im Osten lag die unerbittliche Wüste. Der Wagen wandte sich nach Norden und Westen, an Landfall vorbei.
Neun riesige Kuppeln liefen im rechten Winkel von der Straße weg, eine Linie silberner vorgefertigter Hügel. Sie waren vor fast achtzig Jahren in der Hoffnung auf eine größere Bevölkerung, größeren Energiebedarf errichtet worden, seinerzeit, als das Landgewinnungsprojekt noch neu war und noch Erfolg hatte. Zwei Kernspaltungs-Generatoren waren installiert worden; jetzt war einer mehr als genug. Die übrigen Kuppeln wurden zur Lagerung von Ausrüstung benutzt, die noch kaum ausgepackt war, obwohl andere Projekte viele Einzelteile verschlungen hatten. Neuerdings hatten sich die Kuppeln vor allem als praktische Lagerhallen erwiesen, obwohl das Landefeld noch ziemlich weit entfernt lag. Der Wagen fuhr meilenweit an Hangars von Transportgesellschaften vorbei und dann am Eisenbahndepot. Dessen Hof lag voller Pyramiden von Molybdänit, jede mit Planen und Gummireifen bedeckt; auf der anderen Seite der Straße, vielleicht eine Meile seewärts, erhoben sich sechs Öltanks, auch sie wie geologische Formationen. In dieser Landschaft inmitten der immer enormeren Bauwerke war es, als würde das Auge auf das letzte davon vorbereitet, dessen Anblick niemals wirklich erfaßt oder begriffen werden konnte – es war zu groß. Landfall war die Basis des Aufzugs, der zu der viele hundert Meilen entfernten Station hinaufführte. Sogar seine Fundamente waren zu groß. Es dauerte fünf Minuten, bis sie das am nächsten zur Straße hin gelegene passiert hatten: eine undifferenzierte Masse weißen Betons. Das Kabel selbst verschwand fast sofort nach oben im Himmel. Eine halbe Stunde später schaute Simon zurück und sah nichts. In den Monaten nach seiner Ankunft hatte er ab und zu einen Blick auf die gegeneinander ausgewogenen Lastkörbe erhascht, jeder eine Meile lang. Er hatte gesehen, wie sie ins Sonnenlicht eintraten. Jetzt war der Fahrplan natürlich unterbrochen.
Sie verließen das Ufer, und eine Stunde lang fuhren sie zwischen den Anhöhen hinauf, wo sich die Farben in dem Maße veränderten, wie sie weiter oben in gemäßigtere Zonen kamen. Die Sonne lag während der Fahrt hinter ihnen. Hier auf dieser Welt war die Sonne immer am Aufgehen, immer am Untergehen. Menschen lebten in einem Streifen von achtzehnhundert Meilen entlang des großen Meridians, der Tag-und-Nacht-Grenze. Der Wagen fuhr auf sie zu, westwärts. Nach einer Weile schaltete Simon die Klimaanlage ab und drehte die Fenster nach unten. Die Luft hatte ihren chemischen Geschmack verloren. Abseits des Ufers gewann das Land eine unnatürliche Schönheit. Als er seinerzeit ins Land gekommen war, hätte Simon nicht geglaubt, daß er seiner jemals überdrüssig werden könnte, hätte sich keine Zeit vorzustellen vermocht, da seine Fremdheit ihn nicht mit Hunger und Zufriedenheit erfüllte. Jetzt, da er sich in die Ledersitze zurücklehnte, versuchte er, seinen Gesinnungswandel zu analysieren. Manchmal entdeckte er jetzt in sich sogar für Dinge Nostalgie, die er immer gehaßt hatte, für die trüben, verregneten Straßen seiner Kindheit in Golders Green, für die Betontürme, die nach Urin, nach Rosenkohl und Bier stanken. Er würde diesen Geruch nie mehr wahrnehmen, das war vorbei. Zum Glück. Vielleicht, dachte er, während er aus dem Fenster des einherjagenden Wagens starrte, waren es nur diese Wörter, etwas Magisches an diesen Wörtern, das ihn eine Enge in der Kehle empfinden ließ. Es war nichts Rationales daran. Es gab in seiner Vergangenheit nichts zu vermissen. Ausgenommen vielleicht die Struktur des Tages, die Proportionen und Rhythmen des menschlichen Lebens dort, wo die Sonne aufund unterging, wo der Morgen der Nacht folgte, der Sommer dem Frühling.
Als er frisch im Lande eingetroffen war, hatte er über so viele Dinge gestaunt – den Reichtum und die Verschwendung, die riesigen benzingetriebenen Autos, die verblüffende Vielfalt der Nahrung. Doch am meisten über das dauernde Tageslicht. Monatelang kam es ihm so vor, als würde er niemals müde werden, wenn er sich um drei Uhr morgens auf einem Spaziergang durch die Straßen von Shreveport unter dem gelben Himmel fand, mit den Fingern schnipste und vor sich hin summte. Zwei Stunden Schlaf genügten ihm, während seine Seele unter der reglosen Sonne austrocknete und seine Erinnerung an die Nieselwolken von London abbröckelte und entschwand. Später ließ er dann oft sein Fahrrad am Straßenrand stehen und lief hinaus in die weiße Salzpfanne, belebt von der geringeren Schwerkraft, dem beißenden Wind. Jetzt aber, da er sich aus dem Fenster lehnte, schien die Luft durch seine Lungen zu pfeifen, ohne Erfrischung zu bringen. Die Berge kamen ihm steril vor, unerbittlich: hundert Meilen ohne einen Grashalm. Als sie aus dem Zabrisky-Tunnel heraus und ins Crystal Reef kamen, wirkte selbst diese schimmernde Landschaft niederdrückend auf ihn, ihr Anblick schien beschwerlich zu sein. Wenige Wagen begegneten ihnen, und ihm war bewußt, wie sich die schmale Straße durch die ausgedehnten Felsformationen schlängelte und wie er selbst auf dieser Straße war, abgekapselt, unwichtig. Das Licht fiel in Kaskaden von den Quarzithängen, es tat den Augen weh, es troff von den Gipfeln aus rohem Quarz, es war wie Wasser in diesem ausgetrockneten Land. Sie kamen auf das Plateau hinauf. Hier machte das Land abermals einen Wandel durch. Sie fuhren zwischen Streifen von weißem Kristall und grauem Schiefer hindurch, vermischt mit Bentonit und Lehm. Eine Abfolge unnatürlicher Töne: Gelb, Knallrosa, Orange, Rot, und dann waren sie oben auf dem Plateau, und Simon sah in der Ferne das Gebirge. Hier
atmete er erleichtert auf, denn jetzt kamen sie in Gegenden, die von Menschenhänden wenigstens berührt worden waren. Berührt und verändert. Sie passierten eine verlassene Tankstelle, und die Straße folgte dem längst ausgetrockneten Bett eines Baches. Simon starrte aus dem Fenster. Er hörte zu, wie die Kieselsteine von den Kotflügeln des Wagens wegsprangen. Sie fuhren an einem Dornenbaum vorbei, dann an einer Reihe Wollbäume. Es war ein enormes Projekt gewesen, hier Boden herzustellen, auf einer Welt ohne eigene Photosynthese. Zwar war die Erschließung von Wüsten eine von dem vielleicht halben Dutzend menschlicher Wissenschaften, für die sich die letzten zweihundert Jahre über wirklich die Not als Mutter der Erfindung erwiesen hatte, dennoch war es bei der Arbeit immer wieder zu Fehlern und Niederlagen gekommen. An anderen Orten hatten sich die Bakterien länger gehalten, fruchtbarer mit Sand und Lehm zusammengewirkt. Selbst mit Bewässerung war dies hier eine harte Landschaft, und die gelegentlichen Bäume, die Felder trockenen Krauts zu beiden Seiten der Straße machten sie nicht weicher. Und langweilig war sie auch. Sie waren noch vierzig Meilen von Goldstone Lodge entfernt. Simon drehte das Fenster hoch und lehnte die Wange dagegen. Es war Zeit, in Schlaf zu sinken, und er spürte, wie der Wagen voranstürmte, als sei er teilweise von der Last seines Bewußtseins befreit. Als er erwachte, schleuderte der Wagen heftig. Er setzte sich auf und schaute nach vorn durch die gläserne Trennscheibe, noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Fahrer ihn im oberen Rückspiegel betrachtete. Schweiß perlte auf seinen Lippen. Sie überquerten eine Anhöhe und fanden sich unvermittelt in einer Ansammlung von Häusern. Schatten flackerten auf der Straße vor ihnen. Simon sah, wie die Finger des Fahrers über die Hupe glitten, sah ihn abermals in den Spiegel schauen.
Dann war da eine Bewegung auf der Straße, ein schwarzer Fleck rechterhand. Der Fahrer drückte auf die Hupe, riß das Steuer herum, doch nicht rechtzeitig – etwas prallte gegen den rechten Kotflügel, ehe er auf die Bremse trat. Rutschend kam der Wagen in einem Geröllschauer zum Stehen. Simon lauschte dem Geräusch der Kiesel, die vom Dach abprallten. Er hatte sich den Kopf am Türgriff gestoßen. Als er sich aufrichtete und sich das Auge rieb, sah er zu seiner Überraschung den Fahrer reglos auf dem Vordersitz sitzen, den Kopf unter die Höhe der Windschutzscheibe gebeugt, fast zur Mitte des Lenkrads. Für einen Augenblick glaubte Simon, der Bursche sei verletzt. »Ah«, sagte er, öffnete die Tür zur Linken und trat auf die Straße hinaus. Er griff nach der Tür des Fahrers und zog sie auf; der Mann zitterte. Sein Kopf war gesenkt, seine Lippen bewegten sich. Er untersuchte das Zentrum des Lenkrades, die Augen zu Schlitzen verengt. Simon fühlte sich schwindlig. Er richtete sich auf und schaute übers Dach, und erst da hörte er ein Winseln von der anderen Seite des Wagens her. Sie hatten einen schwarzen Hund überfahren, eine LabradorKurzhaar-Mischung. Er lag mit gebrochenem Rückgrat zehn Fuß neben dem rechten Vorderrad, seine Zunge hing in den Staub. Simon ging zu ihm hin. Er hockte sich nieder und hob den schweren Kopf des Hundes an. Die Kreatur knurrte und versuchte ihn zu beißen. »Bringen Sie die Waffe«, rief Simon, und als er wieder hinschaute, sah er den Fahrer an der offenen Tür stehen. Er hatte die Aurox-MPi hinter dem Sitz hervorgeholt. Augenblicklich duckte sich Simon hinter den Kotflügel, doch der Mann stand nur da, die Waffe auf dem Arm. »Mein Gott, nein«, rief Simon. »Nicht die. Im Handschuhfach ist eine .22er. Nein, egal.« Der Hund zuckte
plötzlich, öffnete das Maul, als würde er sich erbrechen, und lag still. »Gundabook«, flüsterte der Fahrer. Zum erstenmal blickte sich Simon um. Der Wagen war bei der Mitte eines kleinen Platzes zum Stehen gekommen, den von drei Seiten rohe zweistöckige Gebäude umgaben. Etliche davon waren von Vandalen abgebrannt und demoliert worden: eine Bank, eine Ambulanz, ein Lebensmittelladen, eine Kirche. Ihre Ziegelfassaden waren dunkel vom Ruß und mit Graffiti beschmiert: TOD DEN SCHWEINEN, FREIHEIT FÜR THEODORE OIMU und sogar, wie Simon überrascht feststellte, YANKEE GO HOME. In der Mitte des Platzes stand eine zwölf Fuß hohe Nachbildung der Freiheitsstatue, mit Slogans der NLC überpinselt. Ihr Kopf war abgeschlagen worden und in einen Haufen zerbrochener Flaschen und verbrannter Konservendosen gerollt, der sich vom Eingang des Ladens her erstreckte. Simon stand auf. Der Schatten der enthaupteten Statue fiel tief und schwarz fast bis zu dem Leichnam zu seinen Füßen. Die Sonne drückte ihn mit schwerer Glut nieder. Es wehte kein Wind. Die kleinen Fahnen zu beiden Seiten des Kühlers hingen schlaff herab. Der Union Jack, die Stars and Stripes – Symbole von Ländern, die nicht mehr existierten, außer hier in den Köpfen der Leute. »Wir sollten den Besitzer des Hundes ausfindig machen«, sagte er. »Hund, kein Besitzer.« Eine Ansammlung niedriger Gebäude stand hinter ihnen an der vierten Seite des Platzes – runde Hütten von der typischen Bauweise der Ureinwohner. Ein Mann hockte nahe am Eingang einer davon, mit heraushängenden Hemdzipfeln und das Gesicht von einer Sonnenbrille bedeckt.
»Nein«, sagte Simon. »Tun Sie die Waffe weg. Hier ist niemand.« Er rieb die Hände gegeneinander und wischte sie dann mit dem Taschentuch ab. Lu Four Slut in Camden Town hatte einen Labrador gehalten. Er stopfte das Tuch in die Seitentasche seines Jacketts und ging ein paar Schritte auf den Wagen zu. Der Fahrer regte sich nicht. Er stand einfach kopfschüttelnd da, das weiße Gesicht aufwärts verdreht, und seine geschminkten Lippen zitterten. »Primitiv«, sagte er schließlich, den Mund von der Anstrengung des Sprechens verzerrt. Er zeigte auf die ausgeweidete Kirche und bekreuzigte sich dann fachmännisch, von rechts nach links, dann von links nach rechts. Was meinte er? Was meinten sie überhaupt? Der Fahrer war ein modifizierter Ureinwohner, das heißt, er hatte freiwillig eine von zwölf chemischen Behandlungen gewählt. Einst entwickelt, um die Verbindung zwischen den Dämonen und ihren eingeborenen Sklaven zu unterbrechen, waren sie seither verfeinert worden, um Genuß zu bereiten, die Stimmung zu regulieren, Nervenbahnen zu blockieren, unnatürliche Fluktuationen in den Hirnmustern zu glätten, um, soweit es bei fremdartigen Geschöpfen möglich war, die Erfahrung menschlichen Denkens nachzubilden. Doch wirkten sie? Das hatte sich Simon immer gefragt. Woher sollte man es wissen? Der Fahrer hätte sich niemals die komplizierteren, individuell codierten Medikamente leisten können, die höhere Funktionen erlaubten – im Gegensatz zu den Styremes oder, wie Simon vermutete, den meisten Mitgliedern der NLC. Der Kiefer des Mannes hing schlaff herab. Hatte er Angst? Es war ein Dämon an diesem Ort gewesen. Vielleicht spürte er es. Simon schaute auf seine Uhr. Es war so still hier. Die Stadt der Menschen war verlassen. Simon wandte sich um und ging auf die Häuserreihen der Eingeborenen zu, dahin, wo der
Mann mit der Sonnenbrille gehockt hatte. Der Fahrer protestierte: »Sir, bitte, Sir.« Doch Simon beachtete ihn nicht. Er überquerte den Platz, der jetzt leer war. Er ging zwischen den Hütten der Dienerschaft hindurch. Es waren nicht viele. Die eigentliche Stadt der Ureinwohner lag dahinter auf der anderen Seite des Bahndamms. In der Nähe der Sonne bildeten sich Wolken. Froh, nach zwei Stunden im Wagen draußen zu sein, stieg er die Schotterböschung hinauf und überquerte die Gleise, die in weitem Bogen in die Ferne nach Deseret führten. Die Stadt lag zu seinen Füßen, wie erwartet. Sie war entlang einer Müllkippe errichtet. Im Vergleich zu der ausgeweideten Stadt hinter ihm war sie voll Leben. Keinerlei Bauordnung war hier durchgesetzt worden. Die Stadt bereitete sich aufs Geratewohl eine halbe Meile weit aus, ohne Straßen, ohne Wasser, ohne Strom. Häuser aus Planen. Baracken aus Metall und Sperrholz. Die Leute lebten in Autowracks, in Vierhundert-Liter-Tonnen. Viele von den Häusern schienen nur ein paar Fuß hoch zu sein, Männer krochen auf Händen und Knien hinein und heraus. Andere hatte Pappstücke auf dem Boden ausgebreitet und lagen darauf unter schwarzen Regenschirmen. Es war ein schöner, kühler Tag. Simon wandte sich nach links und ging die Gleise entlang, vom Bahnhof fort. Unterhalb von ihm knieten sich Leute hin und erleichterten sich, indem sie ihre Ausscheidungen erbrachen, was ihn stets aufs neue anwiderte. Es fuhren keine Züge mehr. Leute lebten in Löchern, die sie in den Damm gegraben und mit Plastik ausgeschlagen hatten. Betonierte Kabeltunnel beherbergten ganze Familien. Er hörte ein Geräusch auf dem Schotter hinter sich und wandte sich um. Ein Ureinwohner stand dort, etwa zehn Fuß entfernt.
Er war sehr klein, kleiner als Simons Fahrer, und auch anders. Eingeborene Diener in Shreveport und den Territorien wurden für gewöhnlich einer chirurgischen Behandlung unterzogen, für die ihre Familien oder ihre Arbeitgeber bezahlten, um ihre Gesichter annehmbar zu machen. Etwas, um ihren leeren Gesichtszügen Ausdruck zu verleihen. Nur ein paar Stückchen Plastikknochen unter der Haut – Andeutungen von Augenbrauenbögen und Wangenknochen und Kinn –, und sie lernten schließlich, sie in vagen Andeutungen eines Lächelns oder Stirnrunzelns zu bewegen. Sonst war die Kommunikation zu schwierig, zu irritierend. Doch dieser Mann auf dem Eisenbahngleis war unberührt, roh. Er stand nach vorn gebeugt, Rücken und Schultern rund, die Arme lang, die Hände fast ohne Finger – dick und plump. Und dennoch war es eine menschliche Gestalt, und darum war es schwer, fast schmerzhaft, ihn aus der Nähe zu betrachten. Simons Augen schienen ihn verändern zu wollen, Einzelheiten ergänzen, ihn aufrichten, seine Glieder gerade zu strecken, den kleinen kahlen Kopf aufs richtige Maß zu bringen. Sie taten es automatisch, und es bedurfte einer bewußten Willensanspannung, damit Simon ihn deutlich sah, ihn mustern konnte, während er näher kam, denn er näherte sich auf seinen kurzen Beinen mit graziösen, trippelnden Schritten. Sein Gesicht war ausdruckslos, weiter nichts – bleich und ungeformt, voller kleiner Falten und Erhebungen, die nirgends hinführten und kein Muster ergaben. Und mittendrin ein lippenloses Loch, ein zahnloser Mund, und darüber zwei bernsteinfarbene Augen. Es war nichts Bedrohliches an ihm. Er war weder stark noch schnell. Seine Bewegungen wirkten zögernd, unsicher. Dennoch trat Simon am Gleis entlang zurück und hob die Hand, als der Ureinwohner nahe kam, als wolle er einen Angriff abwehren.
Zwei Löcher nahe am Halsansatz: die Ohren. Er preßte die gepolsterten Handflächen darauf und hockte sich hin, und er wandte das Gesicht zur Seite, zu der Menschenstadt. Reagierte er auf Simon? Oder vielleicht auf etwas anderes; und Simon wandte ebenfalls den Kopf, halbwegs gefaßt, aus jener Richtung eine laute und schmerzerfüllte Stimme zu hören.
1e: Dämonen (I) IN UNSEREM GEIST SIND WIR ALLEIN. HIER IN DER DUNKELHEIT. O SKLAVE O SKLAVE O MENSCH. TU NICHT WEH. BRINGE UNS NICHT HINAUF. IN DIESE SONNE. NICHT MEHR. NICHT WIEDER. NEIN.
1f: Die Party Doch er hörte nichts. Simon schaute zurück über die Dächer der verlassenen Häuser, dorthin, wo sein Wagen mitten auf dem Platz stand. Und plötzlich ging ihm auf, daß die NLC vielleicht noch hier war, in einem verlassenen Gebäude verborgen. Daß sie sich zurück an den Ort ihres spektakulärsten Erfolges geschlichen hatten, um eine Anzahl reicher und isolierter Angriffsziele in Reichweite zu haben. Wie von einem Lufthauch getragen kam ihm der Gedanke, daß Harriet Oimu diese Stadt womöglich als eine Art Heimat betrachtete. Vielleicht war das der Grund, warum ihn der Konsul gebeten hatte, hier durchzufahren. Die Spekulation beschäftigte ihn, während er zurück zum Rolls ging, und für den Rest der Fahrt. Sie färbte auf seine Stimmung ab, ließ sie düsterer werden, während das Wetter
sich verdüsterte, während sich langsam aus dem Nichts ein Sturm zusammenbraute. Um eins ballten sich um die Sonne leuchtend helle Wolken zusammen, die einzigen Wolken am ganzen Himmel. Die Luft wirkte schwer, und während Simon die letzten paar Meilen selbst fuhr, breiteten sich die Wolken von dieser einzigen Quelle her aus, ordneten sich zu komplizierten Linien, von keinem Windhauch gestört, bis sie den ganzen Himmel bedeckten. Und dann kam der Regen, ein plötzlicher Wolkenbruch. Von Gundabook an war das Land gedüngt und bewässert. Es veränderte sich rings um ihn, während er weiterfuhr: seine Wesensmerkmale wurden von Schichten der Zivilisation überdeckt. Die Salzwände, die orange, weißen und gelben Mineralformationen verschwanden, an ihre Stelle traten Erdboden und Grasfelder. Mit dem Regen drangen neue Gerüche zu ihm, Gerüche von daheim. Einmal hatte seine Schule einen Ausflug aufs Land gemacht. Sie hatten Stunden gebraucht, um dorthin zu gelangen, und meilenweit halbverlassene Vorstädte durchquert. Als sie schließlich am Ziel waren, war es feucht und grün gewesen. Hier war selbst nach den Anstrengungen von Generationen Grün noch selten. Die Straße führte geradewegs aufs Gebirge zu, zwischen Feldern und Zäunen zu beiden Seiten. Regen spritzte gegen die Windschutzscheibe. Jeder Tropfen setzte einen neuen Geruch frei. Am Wegweiser bog er von der Hauptstraße nach Osten ab. Er passierte die Sicherheitskontrolle – zwei Männer in Hemden aus Jeansstoff. Ihre roten Armbinden waren beide mit einem groben Strichmännchen gezeichnet, wie von einem Kind gemalt. Jonathan Goldstones Bruderschaft. Sie salutierten seinem Wagen, als er vorbeifuhr, obwohl sie keine Soldaten waren.
Er fuhr durch ein schmiedeeisernes Doppeltor, verziert mit dem Wappen der Goldstones – Bohrtürme auf gelbem Grund. Davor war das Gras trocken und welk. Dieser Regen war eine Seltenheit. Doch als er sich innerhalb der Mauern befand, wirkten die herabprasselnden Tropfen besser am Platze. Sechzig Jahre Bewässerung hatten aus dem Park einen Dschungel gemacht. Fächerpalmen, Jakarandabäume und Magnolien, unter sagenhaften Kosten importiert, waren zu wirren Dickichten gewachsen, während die Eichen am Straßenrand schon fünfzig Fuß hoch waren. Zwischen ihnen hindurch erhaschte Simon ab und zu einen Blick auf die Lodge, ein rechteckiges Bauwerk, das dem Weißen Haus in Washington nachgebildet war. Jonathan Goldstones Großvater – hieß es – hatte seinem Baumeister die Xerokopie einer Fünfzig-Dollar-Note gegeben und ihm gesagt, er solle sein Möglichstes tun. Der Wagen fuhr über eine Steinbrücke eine halbe Meile vom Haus entfernt. Ein kleiner Bach, dicht mit Rohrkolben bewachsen, kräuselte sich zu beiden Seiten fort. Er markierte die Grenze des Dickichts; am anderen Ufer wuchs Gras einen langen Hang hinauf, bis zur Veranda des Hauptgebäudes, wo es sich an Scharen von Zierblumen brach. Da und dort gingen unter den Bäumen die Strahlen von Rasensprengern hin und her, bei dem Regen überflüssig. Simon parkte auf dem Gras unter einem großen Tulpenbaum am Ende einer langen Reihe von Wagen, die sich vom Hause herabzog. Er blieb sitzen, trommelte mit den Fingern ans Lenkrad und wartete, daß der Regen aufhörte. Dann wandte er sich um und blickte durch die Trennscheibe auf den Rücksitz. Der Fahrer lag auf dem Rücken und schnarchte durch die Nase. Als Simon in Gundabook zum Wagen zurückkehrte, hatte er ihn schon betrunken gefunden. Der Mann hatte eine Flasche
aus der Fahrgastbar geholt und einen tüchtigen Schluck genommen. Simon war kaum zwanzig Minuten weg gewesen, doch der Bursche war bereits außerstande zu fahren. Simon packte ihn auf den Rücksitz, wo er auf der Stelle das Bewußtsein verlor. Ein neuer Rekord, dachte Simon ein wenig bitter und lehnte die Ellbogen über die Trennscheibe. Er nahm die Flasche Bourbon aus dem Fach. Jemand klopfte über dem Kopf des Fahrers gegen das Glas. Simon langte herüber und öffnete die Tür. In der Öffnung zeigte sich Ronald Starker mit einem Regenschirm in der Hand. Er redete sofort drauflos: »Simon, alter Junge – ich dachte, Sie könnten einen Schirm gebrauchen.« Er spähte ins Wageninnere, über den Anblick des Fahrers auf dem Rücksitz erstaunt. »Ich sag«, fuhr er fort, als Simon die Flasche wieder ins Fach stellte, »Sie haben ihm doch keinen Whisky gegeben, oder?« Simon betrachtete ihn voller Abneigung. Er hatte Starker mehrmals bei offiziellen Zusammenkünften in Shreveport getroffen, und es war jedesmal das gleiche gewesen: der Anzug makellos, die Manieren idiotisch. Er war eine Operettenfigur, die Parodie auf einen Engländer, und Simon hatte ihn im Verdacht, er profitiere davon, daß er die Rolle angenommen hatte. Sogar jetzt, da er offensichtlich abgelenkt war, schwang eine spöttische Note in Starkers Ton: »Sie dürfen ihnen keinen Whisky geben. Das ist die erste Regel hier draußen. Ihnen niemals Whisky geben. Sie haben nicht den Kopf dazu.« Er sah selber alles andere als nüchtern aus. Simon zuckte die Achseln. »Wir hatten einen Unfall«, sagte er, während er ausstieg. Unter dem Baum hatte der Regen fast aufgehört. »Wir können ihn nicht einfach hierlassen«, sagte Starker. »Nicht mit diesen Flaschen hier. Er wird sich umbringen.« Er gab Simon den Schirm, beugte sich in den Wagen und nahm
die Flaschen aus dem Fach. »Wir schließen sie im Kofferraum ein«, sagte er und nahm die Autoschlüssel auf Simons Hand. Sein Akzent hatte nachgelassen, während er sprach, doch sobald er die Flaschen sicher weggepackt hatte, kehrte er zurück. »Ein Unfall, sagen Sie?« »In Gundabook. Wir haben einen Hund überfahren.« »Schwache Leistung.« Simon nahm die Autoschlüssel zurück, und sie gingen unter dem tröpfelnden Regenschirm schweigend auf das Haus zu. Ronald Starker war ein feingliedriger Mann mit gelbblondem Haar und einem dümmlich-verschlagenen Gesicht. Doch sein Schnurrbart war robust, er kräuselte sich aggressiv über den schmalen Wangen. Simon musterte die Oberlippe des Mannes, ob da nicht Klebstoff zu sehen war. Doch was soll’s? fragte er sich, auf gelangweilte Art wütend. Er widerstand der Regung, hinzulangen und dem Burschen den Schnurrbart vom Gesicht zu reißen. Was, wenn er echt war? Geschah ihm recht – seit 1936 hatte niemand mehr in einem ordentlichen Gespräch den Ausdruck ›schwache Leistung‹ gebraucht. Auf dem Rasen kamen sie an den Überresten eines abgebrochenen Softballspiels vorbei. Diener gingen über das sorgsam gepflegte Gras und hoben Schläger und lederne Fanghandschuhe auf, während sich Spieler und Zuschauer auf der Veranda mit Handtüchern abrieben. Ein paar winkten ihnen zu, als sie näher kamen. Starker lächelte und hob die Linke über den Kopf. »Sie können von Glück reden, daß Sie an diesem lächerlichen Spiel nicht teilhaben mußten«, sagte er. »Da ist Kricket doch was anderes, was?« »Ich kann Kricket nicht leiden«, gab Simon zur Antwort, obwohl er es nie gespielt hatte. Doch der Mann war fort. Er hatte die Schöße seine Jacketts hochgerafft und war die letzten paar Meter zur Veranda gerannt. Ein hübsches Mädchen kam
ihm von oben entgegen, in den Händen zwei Gläser mit Champagner. Simon schüttelte den Kopf. Über ihm boten die Wolken eine harte Oberfläche wie ein Dach dar, und es war dunkel geworden. Er blieb stehen, um den Handschuh eines ersten Malspielers aufzuheben, der zu seinen Füßen im Gras lag. Als er sich aufrichtete, sah er seine Gastgeberin darauf warten, ihn zu begrüßen. Sie stand abseits von den anderen, allein auf der untersten Stufe, die Hand ausgestreckt. »Ich bin so froh, daß Sie kommen konnten«, sagte sie mit dem netten schleppenden Südstaatenakzent, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte. »Mr. Mayaram, nicht wahr? Sie müssen uns entschuldigen – wir haben Ihren Konsul erwartet, Mr. Clare.« Ein Kellner beugte sich herab, um ein Sturmlicht auf der Treppenflucht hinter ihr anzuzünden, und es leuchtete durch ihre Wolke weichen weißen Haars. Obwohl sie von kleinem Wuchs war, vermittelte Naomi Goldstone dennoch den Eindruck von Würde und Kraft. Sie stand aufrecht, den großen Kopf sorgsam am Ende des langen Halses balanciert, die Hand vor sich ausgestreckt. Sie trug ein einfaches Kleid von chinesischer Seide. »Er ist leider verhindert«, sagte Simon. »Er hatte einen Empfang beim Gouverneur.« Er senkte den Regenschirm, so daß er den Handschuh unter den Arm klemmen konnte, und hielt die Hand vor, um ihre Finger zu berühren. »Wir haben Ronnie Starker nach unten geschickt, um nachzusehen, ob mit Ihnen alles in Ordnung ist. Ich hoffe, er hat dafür gesorgt, daß Sie sich wie zu Hause fühlen?« »Nicht ganz«, gestand Simon. Mrs. Goldstone lachte und trat aufs Gras. Sie war barfuß.
Sie nahm den Handschuh unter seinem Arm hervor und ließ ihre rechte Hand an dessen Stelle gleiten. Sie wandte ihn vom Haus weg und führte ihn ein paar Schritt auf den Rasen zurück, während er den Schirm über sie beide hielt. »Nun ja«, sagte sie. »Ich kann mir denken, für einen richtigen Britisher muß er irritierend sein.« »Ein bißchen. Er kann doch nicht wirklich so reden. Ich meine, die ganze Zeit.« »Nicht doch, natürlich nicht. Seine Eltern waren Australier. Er tut es nur, um sich über Sie lustig zu machen.« »Ja«, sagte Simon. »Mich überrascht nur, daß er mich der Mühe wert hält.« »O ja – das ist wirklich eine Überraschung, wie?« Mrs. Goldstone brach in Gelächter aus, brachte sich dann aber zum Schweigen, indem sie den Baseballhandschuh an die Lippen legte. »Oje«, sagte sie. »Mr. Mayaram – es macht Ihnen doch nichts aus, wenn wir Sie necken? Der interessanteste unverheiratete Mann, den es im Territorium noch gibt – es macht Ihnen doch nichts aus, wenn Ronnie eifersüchtig ist?« Sie standen fast in der Mitte der Rasenfläche, nun wieder dem Haus zugewandt. Der Regen traf den Schirm mit dicken, tönenden Tropfen. Zwanzig oder dreißig Leute hatten sich um einen gedeckten Tisch auf der Veranda versammelt, wo der Kellner Sekt servierte. Manche von den Männern trugen Smokings, manche Uniformen oder Blazer und manche Shorts und T-Shirts. Bei den Frauen gab es ein ähnliches Stilspektrum – die meisten trugen lange Kleider, doch einige hatten Blue Jeans an und sechs oder sieben nur Badeanzüge. Sie waren aus dem Schwimmbecken heraufgekommen, als es zu regnen begonnen hatte. »Das ist meine Tochter«, sagte Mrs. Goldstone und zeigte auf eine junge Frau in einem Netzbikini. Dann wandte sie sich wieder ihm zu. »Sagen Sie, Mr. Mayaram«, sagte sie und
drückte seinen Arm. »Sie besitzen nicht zufällig einen Hund, oder? Nein? Gut, dann sollten Sie vielleicht lieber nach oben gehen und sich frisch machen. Sie müssen nach der langen Fahrt müde sein.« Simon ließ sein Lächeln erstarren, während er sie zurück zur Treppe geleitete. Zwei ältere Frauen kamen herab, um sie zu begrüßen, und Simon blieb lange genug, um vorgestellt zu werden. Er hielt eine Weile den Schirm, doch beim ersten Anzeichen einer Wetterbesserung verließ er seinen Posten. Sobald sich in der dichten Wolkendecke der erste Spalt zeigte, entschuldigte er sich und lief die Treppe zur Veranda hinauf. Er vertraute den Schirm einer Zierurne an und ging ins Haus, um eine Toilette zu suchen. Ist es Rassismus? fragte er sich, als er den Vorsaal entlangging. Ist es weiter nichts als das? Sind sie darum so? Die Tür zum Bad schien verklemmt zu sein, er drückte sie mit Gewalt auf und sah einen eingeborenen Diener auf dem Fußboden sitzen. Der Raum war eng und vollgestellt, und der Mann schien das meiste davon einzunehmen. Seine Beine waren gekreuzt, die Hände vor der Brust in der FünfkäferHaltung. Seine Augen waren geschlossen, ›nach innen gekehrt‹, wie seine Leute sagten. Die Rechte zitterte. Eine leichte Vibration schien von ihm auszugehen, schien ein leises Summen zu erzeugen. Normalerweise hätte Simon die Tür geschlossen und wäre gegangen. Doch er war wütend. Oder halb wütend und halb neugierig – er blieb stehen und klopfte gegen den Türpfosten, bis er hinter sich ein Geräusch hörte. Da war eine Frau, sie trat an ihm vorbei in den Raum, und mit dem Band ihrer Schürze schlug sie dem Mann übers Gesicht. »Fauler«, sagte sie mit fremdartigem und harschem Eingeborenenakzent, »fauler, fauler Junge.« Ihr Rücken war verkrümmt, entweder durch einen chirurgischen Eingriff oder eine natürliche
Mißbildung, so daß sie den Mann kaum kräftig schlagen konnte. Dennoch hob er die Hände, um sein Gesicht zu schützen. Das Summen glitt in eine andere Tonlage, und Simon schloß die Tür. Gegenüber und ein Stückchen weiter trug eine andere Tür auf einem angehefteten Stück Papier die Aufschrift ›Frauen‹. Simon ließ sie offen, während er sich Gesicht und Hände wusch. Nach vorn auf das Waschbecken gestützt, betrachtete er sich in dem herzförmigen Spiegel. Das Wasser perlte auf seinen dunklen Wangen, tropfte von seinem dunklen Kinn herab. Auf der anderen Seite der Wand spielte jemand Klavier. Genauer gesagt, jemand spielte immer wieder denselben Akkord. Jemand schlug auf das Klavier wie auf einen Gong, und doch klang es jedesmal anders. Jedesmal gab es einen kleinen Unterschied in Anschlag, Lautstärke, Klarheit. Der Klang setzte für einen Moment aus und begann dann wieder. Simon wischte sich die Hände ab und kämmte sich. Er spülte die Toilette, obwohl er sie gar nicht benutzt hatte, und trat in den Korridor. Er folgte dem Klang des Klaviers durch vier leere Salons, bis er einen mit ein paar Leuten darin fand. So plötzlich, wie es begonnen hatte, war das Unwetter vorübergegangen. Simon blinzelte in das neue Sonnenlicht, das von einer Wand mit hohen Terrassentüren hereinströmte. Risse und Spalten hatten die schwarzen Wolken durchbrochen; Flecken von Schatten und reflektiertem Licht machten das Muster des Steinfußbodens komplizierter. In der Tür zögerte Simon. Junius Styreme stand auf einem leuchtenden Marmorquadrat in einer Ecke des Zimmers. Seine Tochter saß neben ihm an einem Flügel. Styreme stand auf seinen Stock gestützt da und nickte vor sich hin. Simon vermutete, daß sein Anzug tausend Dollar gekostet hatte. Dennoch verbarg er weder die grundlegende
Andersartigkeit des alten Mannes, noch, wie nahe er dem Tode war. Ein Leben mit psychotropen Medikamenten hatte seine Knochen in brüchige Stöckchen verwandelt. Antikollagen, die Alterungsessenz, hatte ein Krebsgeschwür in seinem Herzen aufblühen lassen. Es hatte seine Gelenke erstarren lassen, seine Finger zu Klauen gekrümmt. Im Gegensatz dazu war Katharine Styreme ein Wunderwerk der Kunst: ihr glänzendes schwarzrotes Haar, ihr schön geformtes Gesicht. Den Kopf hatte sie fast bis auf die Tasten gesenkt. Als Simon über die grauen und weißen Steinplatten näher kam, wandte sie ihm das Gesicht zu und stand dann verwirrt auf, während der letzte Akkord verklang. Doch selbst seit Simon sie zuletzt auf dem Empfang der Bankiers im Kapitol gesehen hatte, hatte sie sich verändert. Gewiß war ihre Taille damals nicht so schmal gewesen. Oder ihr Kleid nicht so eng. Sie trug an einer kleinen Kette ein goldenes Kruzifix um den Hals. »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte er. Styremes Augen waren unter seiner Brille verschwunden. Sie hatten sich zu Schlitzen verengt. Doch Simon glaubte einen Funken von Wärme im Lächeln auf Katharines Gesicht zu spüren. Vielleicht war es nur Höflichkeit, aber vielleicht erkannte sie ihn wieder – auf dem Empfang waren sie einander vorgestellt worden. Sie hatte nach der Akustik in der Albert Hall gefragt. Doch ehe er sich vergewissern konnte, welche Art Lächeln es war, verschwand es. Der unausstehliche Ronnie Starker war in einer anderen Tür aufgetaucht und rief ihnen etwas zu. Seine Schuhe schlitterten über den Fußboden. »Will Sie nicht unterbrechen, alter Junge«, sagte er im Vorbeigehen. »Naomi läßt was ausrichten. Ehrengäste, was?« Und dann an Junius Styreme gewandt: »Sie hat mich geschickt, Sie zu suchen. Auf der Veranda wird Sekt serviert.«
»Wir trinken nicht.« Die Augen des alten Mannes waren kaum zu sehen. »Nein, natürlich nicht. Aber es gibt echtes Apollinaris. Das letzte, das Sie je zu sehen kriegen werden.« Weitere Stimmen. Durch die Tür hinter Simon traten zwei Männer ins Zimmer, mit Stetsons und Bindern. Sie tranken Bier aus Plastikbechern. Einer war in Simons Alter, der andere zehn Jahre älter. Der junge hatte einen schlechten Teint. Er legte seinem Begleiter die Hand auf den Arm. »O Gott«, sagte er und schaute an Simon vorbei. Der junge Mann trug einen Kammgarn-Mantel, der ältere ein gelbes Hemd mit Taschen und Perlenknöpfen. Er war voriges Jahr auf der Party gewesen: ein Bergmann namens John Grant. Auch er runzelte die Stirn, als er Styreme erblickte, doch dann entspannten sich seine Züge, und er kam mit ausgestreckter Hand auf Simon zu. »Na, wenn das nicht Karl Marx ist«, sagte er. »Was ist dieses Jahr mit Ihnen los? Wir waren fix und fertig hier draußen. 12:5, ehe das Spiel abgebrochen wurde.« Auf seiner Gürtelschnalle hatte er einen Klumpen Platin von der Größe und der Form einer Kröte. »Simon Mayaram«, sagte Simon, während er ihm die Hand schüttelte. »Ja, ich weiß. Sie sind beim Konsulat.« Ronald Starker zog die Styremes weg, zur anderen Steinfußbodens komplizierter. In der Tür zögerte Simon. Junius Styreme stand auf einem leuchtenden Marmorquadrat in einer Ecke des Zimmers. Seine Tochter saß neben ihm an einem Flügel. Styreme stand auf seinen Stock gestützt da und nickte vor sich hin. Simon vermutete, daß sein Anzug tausend Dollar gekostet hatte. Dennoch verbarg er weder die grundlegende Andersartigkeit des alten Mannes, noch, wie nahe er dem Tode war. Ein Leben mit psychotropen Medikamenten hatte seine Knochen in brüchige Stöckchen verwandelt. Antikollagen, die
Alterungsessenz, hatte ein Krebsgeschwür in seinem Herzen aufblühen lassen. Es hatte seine Gelenke erstarren lassen, seine Finger zu Klauen gekrümmt. Im Gegensatz dazu war Katharine Styreme ein Wunderwerk der Kunst: ihr glänzendes schwarzrotes Haar, ihr schön geformtes Gesicht. Den Kopf hatte sie fast bis auf die Tasten gesenkt. Als Simon über die grauen und weißen Steinplatten näher kam, wandte sie ihm das Gesicht zu und stand dann verwirrt auf, während der letzte Akkord verklang. Doch selbst seit Simon sie zuletzt auf dem Empfang der Bankiers im Kapitol gesehen hatte, hatte sie sich verändert. Gewiß war ihre Taille damals nicht so schmal gewesen. Oder ihr Kleid nicht so eng. Sie trug an einer kleinen Kette ein goldenes Kruzifix um den Hals. »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte er. Styremes Augen waren unter seiner Brille verschwunden. Sie hatten sich zu Schlitzen verengt. Doch Simon glaubte einen Funken von Wärme im Lächeln auf Katharines Gesicht zu spüren. Vielleicht war es nur Höflichkeit, aber vielleicht erkannte sie ihn wieder – auf dem Empfang waren sie einander vorgestellt worden. Sie hatte nach der Akustik in der Albert Hall gefragt. Doch ehe er sich vergewissern konnte, welche Art Lächeln es war, verschwand es. Der unausstehliche Ronnie Starker war in einer anderen Tür aufgetaucht und rief ihnen etwas zu. Seine Schuhe schlitterten über den Fußboden. »Will Sie nicht unterbrechen, alter Junge«, sagte er im Vorbeigehen. »Naomi läßt was ausrichten. Ehrengäste, was?« Und dann an Junius Styreme gewandt: »Sie hat mich geschickt, Sie zu suchen. Auf der Veranda wird Sekt serviert.« »Wir trinken nicht.« Die Augen des alten Mannes waren kaum zu sehen. »Nein, natürlich nicht. Aber es gibt echtes Apollinaris. Das letzte, das Sie je zu sehen kriegen werden.«
Weitere Stimmen. Durch die Tür hinter Simon traten zwei Männer ins Zimmer, mit Stetsons und Bindern. Sie tranken Bier aus Plastikbechern. Einer war in Simons Alter, der andere zehn Jahre älter. Der junge hatte einen schlechten Teint. Er legte seinem Begleiter die Hand auf den Arm. »O Gott«, sagte er und schaute an Simon vorbei. Der junge Mann trug einen Kammgarn-Mantel, der ältere ein gelbes Hemd mit Taschen und Perlenknöpfen. Er war voriges Jahr auf der Party gewesen: ein Bergmann namens John Grant. Auch er runzelte die Stirn, als er Styreme erblickte, doch dann entspannten sich seine Züge, und er kam mit ausgestreckter Hand auf Simon zu. »Na, wenn das nicht Karl Marx ist«, sagte er. »Was ist dieses Jahr mit Ihnen los? Wir waren fix und fertig hier draußen. 12:5, ehe das Spiel abgebrochen wurde.« Auf seiner Gürtelschnalle hatte er einen Klumpen Platin von der Größe und der Form einer Kröte. »Simon Mayaram«, sagte Simon, während er ihm die Hand schüttelte. »Ja, ich weiß. Sie sind beim Konsulat.« Ronald Starker zog die Styremes weg, zur anderen Tür hinaus. Der alte Mann stützte sich auf den Arm seiner Tochter. Etwas an ihrem Aussehen, etwas an den glatten Flächen ihres Gesichts schien eine Kruste über unermeßlichen Tiefen anzudeuten. Ihre schweren Lippen, ihr langer und schmaler Kiefer – sie war so anders als die Frauen und Töchter der Siedler. Es war sogar, dachte Simon, etwas Exotisches an ihrem Geruch. »Gottverdammt«, sagte der jüngere Mann. »Jedenfalls stinken sie. Egal, wie sie es zu verbergen versuchen. Man riecht immer, wenn sie im Zimmer waren.« John Grant zuckte mit den Achseln. »Sie ist in Ordnung, denke ich.« »Von außen. Das sind gespaltene Gene für eine Million Dollar, was du siehst. Plastische Chirurgie. Wirklich verlockend, bis man näher ran kommt.«
»Was meinst du?« »Keine Vagina. Der Alte wollte die zwanzig Riesen dafür nicht ausgeben. Weil sie römisch-katholisch sind - wenn du sie heiratest, legt er das vielleicht drauf. Um das Geschäft zu versüßen.« John Grant schüttelte den Kopf. »Ich will dich nicht fragen, woher du das weißt«, sagte er. »Frag nicht.« Der Jüngere streckte die Hand aus. »Spike Laudenberg«, sagte er. »Simon Mayaram.« »Hören Sie«, sagte Spike Laudenberg. »Nein, warten Sie – Sie brauchen ein Bier.« Er umklammerte Simons Ellbogen von unten. »Sie haben draußen auf dem Rasen ein paar Fäßchen angestochen. Tut's Coors?« Er führte sie wieder durch die Tür und eine Folge von Lförmigen Korridoren auf eine Seitenveranda hinaus und auf den Rasen hinab. Im Schatten eines Rhododendronbaumes verteilte ein alter Diener über die Kante der Hauptveranda hinweg Bier. Er hatte ein breites, fettes Gesicht und eine Lücke in seinen keramischen Zahnreihen. »Tut's Coors?« fragte Laudenberg wieder. Simon zuckte die Achseln. Plötzlich durstig, nahm er einen großen Schluck aus dem Plastikbecher, den man ihm in die Hand gedrückt hatte. Doch der Becher war so breit, daß der Bierspiegel kaum zu sinken schien, egal, wie kräftig er trank. Schließlich ließ er atemlos den Rand sinken und starrte über das nasse Gras hinweg, das in der Sonne glänzte. Der Konsul hatte recht gehabt. Es war ein schöner Tag. In der Ferne zog sich das Unwetter über eine Reihe holzkohlenfarbener Berge zurück. Über ihm sang im Rhododendron eine Grasmücke, ein importierter Vogel, dessen Art rasch ausstarb, nachdem sie den größten Teil der
einheimischen Insektenfauna vernichtet hatte. Trotzdem klang es schön. »Hören Sie«, sagte Spike Laudenberg. »Ich habe mich gefragt, ob Sie uns irgend etwas Neues erzählen können.« Simon nahm noch einen Schluck. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich will Ihnen sagen, was ich weiß. Der Konsul hat vier Botschaften nach New Manchester geschickt, im Abstand von zwei Monaten. Seither hat sich die Situation natürlich verschlechtert.« »Das ist das einzige, was alle wissen«, sagte Laudenberg. »Aber Sie waren dort. Scheiß auf New Manchester – Sie waren auf der Erde. Sie waren vor kürzerer Zeit dort als sonst jemand.« Simon war vor etwa zwei Jahren im Lande eingetroffen, mit dem letzten Schiff, das Passagiere befördert hatte. Außer ihm waren es lauter Wissenschaftler gewesen, unterwegs zum Observatorium der Shackleton-Station auf der dunklen Seite des Planeten. Er war als einziger in Shreveport geblieben. Er nickte. »Meine Neuigkeiten - diese Art Neuigkeiten – sind vierzig Jahre überholt. Über vierzig Jahre. Sie haben nichts zu bedeuten.« »Gut, sagen Sie’s mir«, beharrte der Mann. »Alles, was Sie wissen. Hat es eine Revolution gegeben? Einen Krieg?« Simon schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen nicht die Antwort geben, die Sie brauchen. Diese Worte bedeuten nicht, was Sie denken. Nicht mehr. Nicht, als ich dort war. Der Himmel weiß, was sie jetzt bedeuten.« Es trat eine Pause ein. Dann fuhr John Grant fort, als ob Simon nichts gesagt hätte: »Das ergibt keinen Sinn. Wenn es Krieg gibt, da habe ich tausend Tonnen überschweres Äonium, das jetzt einfach nur allmählich zerfällt. Sie könnten es billig kriegen.«
Sechs oder sieben andere Männer waren von den Bierfäßchen heraufgekommen. Sie trugen Cowboystiefel und Westernhemden, die allgegenwärtige Uniform der Bergleute aus der Westregion. Wie John Grant waren es zähe, braungebrannte, sorgenvolle Männer; das letzte Jahr war schwer für sie gewesen. Der Zusammenbruch des Verkehrs, von dem ihr Lebensunterhalt abhing, hatte sich in der Geschichte der Kolonie nicht zum erstenmal ereignet. Doch diesmal fiel er mit den Vorboten innerer Unruhen zusammen. »Im Ernst«, sagte einer. »Bei mir vergammeln sechs Monate Arbeit einfach im Schuppen. Daß es nicht mehr ist, liegt nur an diesem jüdischen Rechtsanwalt von der CLU. Nichts für ungut«, sagte er und schaute sich in der Runde um. »Meine Jungs sind seit neunzehn Wochen im Streik, da brauche ich sie wenigstens nicht zu bezahlen. Wenn ich diesen Hundesohn wieder auf meinem Besitz sehe, erschieße ich ihn todsicher. Was, wenn das ein normales Jahr gewesen wäre?« Lange Stunden auf offiziellen Empfängen hatten Simons Fähigkeit zu Wutausbrüchen ausgedörrt. Wenigstens war es ein schöner Tag – während er den Anschein gespannten Zuhörens bewahrte, ließ er seine Aufmerksamkeit schweifen. Fünfzehn Fuß hinter dem Kopf des Bergmanns glitt ein Schmierkäfer durch die Luft und stieß sein langsames Brummen aus. Während er gedankenschwer nickte, beobachtete Simon, wie die Grasmücke ihren Zweig verließ. »Nichts dergleichen«, sagte er. »Lokale Probleme, weiter nichts. Sie haben jetzt Morde. Krawalle. Selbstmorde statt Krieg. Es gibt nicht viel, worum man kämpfen könnte.« Spike Laudenberg beobachtete ihn. »Was ist mit Krankheiten?« Simon blickte unbehaglich zu Boden. Dennoch fühlte er den starren Blick des Bergmanns auf seiner Wange drücken. Er spürte, wie der Mann ihn abschätzte, wog, ihn unbefriedigend
fand, und in diesem Augenblick ließ der Druck nach. Laudenberg grunzte und wandte sich ab. »Das sieht übel aus«, sagte er zu Grant. »Richtig übel. Es liegt an der Umwelt, ganz bestimmt.« Er nahm einen Streifen Kaugummi aus der Jackentasche. Seine Augen waren klar und blau. Der ältere Bergmann schüttelte den Kopf. »Das ist so verdammt frustrierend. Vor vier Jahren hatte ich eine Gelegenheit, ein anderes Geschäft hinzuzunehmen, aber jedermann machte so viel Geld, es hatte einfach keinen Sinn. Jetzt ist es zu spät.« Simon runzelte die Stirn. Er machte mit der Zunge ein leises »Tt« des Mitgefühls und nahm dann wieder einen Schluck Bier. Das Bier war entschieden hilfreich. Er fragte sich jetzt, warum er sich so selten vorsorglich vollaufen ließ. All diese nüchternen Momente – sie kamen ihm jetzt so verschwendet vor. »Recht hast du«, sagte ein anderer Mann. »Ich sitze bloß untätig rum. Der Binnenmarkt, zur Hölle damit. Christianman« – das war der Name eines eingeborenen Geschäftsmannes – »hat diesen Scheiß zugemacht.« »Der Binnenmarkt«, wiederholte Simon und nickte bedeutungsvoll. Er dachte: Bloß betrunken zu sein, reicht nicht. Nur, wenn es direkt zur Bewußtlosigkeit führt. Der Bergmann redete weiter und erklärte die Missetaten des Christianman-Kartells – wie sie ganz klein mit Waren angefangen hatten, für die sich niemand weiter interessierte, und dann mehrere bedeutende und unfaire Monopole errichtet hatten. Simon betrachtete die Lippen des Mannes und versuchte abzuschätzen, wieviel er trinken müßte und wie schnell, bis sich Bewußtlosigkeit einstellen würde. Er stellte sich vor, wie er zu Boden sank, ein seliges Lächeln im Gesicht, während John Grant ihm mit einem Handtuch Luft zufächelte.
Zu spät begriff er, wie schlau sein Fahrer gewesen war. Der Mann hatte seine Chance gesehen und sie sofort ergriffen. »Dieser Hundesohn von einem Wilden«, fuhr der Bergmann fort. »Er wird nicht zufrieden sein, bis wir alle tot sind.« »Nie zufrieden«, wiederholte Simon. Er nahm wieder einen großen Schluck Bier. Bis zum Boden des Bechers schien es noch so weit wie eh und je zu sein. »Brr da«, sagte eine tiefe Stimme neben ihm. »Bei dem Tempo halten Sie nie bis zum Dinner durch.« Simon senkte den Becher. Neben ihm stand die Tochter der Gastgeberin, das Mädchen, das ihm Naomi Goldstone zuvor gezeigt hatte. Sie hatte ihren Bikini ausgezogen und trug jetzt anscheinend ein Männerhemd und weiter nichts. Sie legte die Finger auf seinen Arm. »Natasha Goldstone. Meine Mutter hat mich geschickt, um nach Ihnen zu sehen. Sie sagt, Sie haben hübsche Augenbrauen.« Der Bergmann hatte den Hut abgenommen, und Natasha lächelte. »Gehen wir hier weg«, flüsterte sie und zog Simon am Arm. »Es gibt mehr Leute, mit denen man sich unterhalten kann, als die paar hier.« Dennoch nickte sie Spike Laudenberg zu, und dann hatten sie kehrt gemacht und gingen auf das Haus zu. Sie lachte: »Was die Augenbrauen betrifft, bin ich mir nicht sicher, aber im übrigen hatte Mutter jedenfalls recht. Diese Kerls sind die größten Arschlöcher hier. Kein Wunder, daß sie halb blau sind.« Sie gingen einen Schotterweg entlang, der zu beiden Seiten von winzigen Büschen gesäumt wurde. »Kein Wunder«, stimmte Simon gesellig zu. Sein Herz, das ihm in den letzten paar Minuten in den Magen gerutscht war, wogte jetzt gewichtig in seiner Brust. Er musterte Natasha mit Wohlgefallen. Ihr schwarzes Haar hing wild um Gesicht und Schultern, eine ungebürstete Masse von Locken. Sie hatte unregelmäßige Züge; Simon stellte sich vor, daß jemand, der
sie im Profil von rechts und von links sah, glauben könnte, er sähe zwei verschiedene Frauen, oder vielleicht dieselbe Frau in unterschiedlicher Stimmung. Nase und Mund ragten kräftig vor. Sie hatte lange bloße Beine. »Und wie lautet das Urteil?« fragte Natasha. Verlegen wandte sich Simon ab. Doch sie zog ihn am Arm und lachte. »Trotzdem, Sie sollten sich nicht mich ansehen. Ich bin eher die Vermittlerin für den Ehrengast.« »Mr. Styreme?« »Gott, sind Sie schwer von Begriff. Ich meine seine Tochter, obwohl ich Sie warne – es wird sich kaum ausmachen lassen. Aber ich habe ihr geholfen, sich die Nägel zu polieren, und Ihren Namen erwähnt. Sie sagte, sie hat Sie bei einem Empfang für ihren Vater getroffen, und Sie waren interessant – das ist wörtlich zitiert. Das erstemal für sie. Sie hat das nie über jemanden gesagt, also habe ich mir den Rest gedacht. Sie wäre wütend, wenn sie es wüßte.« Simon hörte das leise Tuckern eines Walnußkäfers von irgendwo links. Sein Gesicht fühlte sich heiß und sonderbar an. »Also irren Sie sich vielleicht.« Natasha hob die Schultern. »Natürlich kann ich mich irren. Sogar wahrscheinlich. Aber wenn Sie besseres zu tun haben – Gott, entschuldigen Sie, daß ich Sie Ihren Freunden entführt habe.« »Sie haben recht. Tut mir leid. Ich bin nur überrascht, daß Sie von mir gesprochen haben. Woher wußten Sie, daß ich komme?« Natasha lachte. »Ich hatte mit Mom gewettet. Wir haben uns Gedanken gemacht, weil Dad gesagt hatte, daß die Einladung ein Test war, daß, wenn der Konsul selbst kam, es bedeuten würde, daß wenigstens eine Person in der Verwaltung auf unserer Seite steht. Wenn sie aber einen Untergebenen schickten, würde es bedeuten, daß sie ihn aufgegeben hatten.
Aber natürlich hielten Mom und ich die Finger über Kreuz, weil wir uns vorstellten, daß wahrscheinlich Sie der Untergebene sein würden, und Sie sehen wenigstens gut aus. Und weit herumgekommen sind Sie auch, um nicht mehr zu sagen.« Sie hatten die Ecke des Hauses erreicht. Natasha Goldstone schien eine Menge Schnitte und Kratzer am rechten Schienbein zu haben. Simon betrachtete sie, dann hob er den Kopf. »Kennen Sie sie gut?« »Wen?« »Katharine Styreme.« »Wir sind immer ins Sommerlager am Meninjau-See gefahren. Vorher waren wir zusammen in der Schule, nur daß ich die Nonnen nicht ausstehen konnte.« »Sie sind also Freundinnen.« »So ungefähr. Gott, Momma hat mir gesagt, daß Sie ein hoffnungsloser Fall sind, aber niemals, Sie wären schwachsinnig. Sie sagte, Sie könnten fünf Sprachen sprechen.« Simon schüttete sein Bier aufs Gras und schaute in den Becher. »Tut mir leid«, sagte er. »Und ich bin dankbar, daß Sie mich dort drüben rausgeholt haben. Aber Katharine Styreme… es ist nur… also, sie ist schön, nicht wahr?« Natasha starrte ihn mit offenem Mund an und lachte dann. »Sie armer Idiot«, sagte sie. »Schon in Ordnung – ich hab vergessen, wo Sie herkommen!« Sie ergriff wieder seine Hand und zog ihn über den Rasen den Hang hinan. »Und sehen Sie zu, daß Sie diesen dummen Becher loswerden«, sagte sie, als sie die Stufen zur Veranda hinaufstiegen. »Da drin trinken sie richtigen Sekt. Aus Frankreich oder so.« Simon hörte, wie sich irgendwo ein Streichquartett einspielte. Eine Menschenmenge hatte sich um die Doppeltür versammelt,
die ins Haus führte. Simon deponierte seinen Plastikbecher in derselben Zierurne, die Starkers Regenschirm enthielt, als sie sich dem Gedränge an der Tür zugesellten. »Ich hab ihn gefunden, Momma«, hörte er Natasha sagen. »Er verplemperte seine Zeit gerade mit dem Dingsda. Mit dem Clu Clucks Clan.« Der gedeckte Tisch, wo Diener Getränke serviert hatten, war verlassen. Drinnen, hieß es, sei eine Kiste mit neuerem, besserem Stoff aufgemacht worden, und die Leute drängten sich mit Gläsern in der Hand. Der Tanzsaal, der vor zwanzig Minuten, als Simon ihn auf der Suche nach einer Toilette durchquert hatte, leer gewesen war, war jetzt voller Menschen. Auf einem Podium am westlichen Ende stimmten vier ältere Männer ihre Instrumente und fixierten finster mit betrübten und verlegenen Gesichtern ihre Notenblätter. Das Glasdach war geöffnet worden, und die Säulen, die es trugen, waren mit Rittersporn und Winde bedeckt. Simon starrte mit offenem Mund nach oben. »Ich bin froh, daß es nur ein bißchen geregnet hat«, sagte eine Stimme neben ihm. »Im März hatten wir einen Hagelschauer, der die meisten von diesen Fenstern zerschlagen hat. Er begann nachts gegen zehn, und um zwölf war die Sonne wieder da.« Simon senkte den Blick und erkannte den Gastgeber, einen stämmigen Mann mit grauem Bart. Sein kahler Kopf glänzte im gefilterten Licht, wohl, wie Simon annahm, infolge einer künstlichen Politur. Er war größer als Simon und immens breit, seine Hemdbrust ausgedehnt wie ein Stück Polartundra. Ein Diamantring glitzerte in einem Ohr. »Jonathan Goldstone«, sagte er, als Simons Hand inmitten seiner Faust verschwand. »Ich hatte gehofft, Mr. Clare würde selbst kommen.« »Dieser Wunsch scheint allgemein verbreitet zu sein.«
Mr. Goldstone gab Simons Hand unbeschädigt frei. »Kein Wunder. Wenn man an den Fingerspitzen über einem Abgrund hängt, dann muß man sich schon fragen, welche Chancen man hat.« »Ja, natürlich. Aber ich bin sicher, wenn Mr. Clare von irgend einer Veränderung wüßte, wäre er lieber selbst gekommen und hätte es Ihnen gesagt.« Goldstone blickte über Simons Kopf hinweg in die Menge. »Gut, damit sind Sie aus dem Schneider. Wo ist Natasha? Sie sollte Ihnen Sekt bringen.« Die Musiker auf dem Podium fingen an, sie spielten eine arhythmische, atonale Version von ›An der schönen blauen Donau‹. Goldstone hörte einen Augenblick lang zu und schüttelte dann den Kopf. »Herr im Himmel.« Simon wandte sich der Musik zu. Neben seinem Ellbogen war ein Diener mit einem Tablett voller Horsd’œuvres aufgetaucht. Er streckte die Hand aus, um eins zu nehmen; er schaute für einen Moment in die klaren, betrübten Augen des Mannes, ehe er zum Dank lächelte. »Urteilen Sie nicht zu hart über sie, Sir«, sagte er. »Musik und Tanz sind unsere Konzepte, nicht ihre.« »Eins-zwei-drei, eins-zwei-drei – um Himmels willen, es ist ein Walzer«, sagte Jonathan Goldstone. »Außerdem irren Sie sich: sie haben behauptet, sie könnten spielen. Wenn sie zu mir gekommen wären und gesagt hätten: ›Tut mir leid, Mr. Goldstone, Musik und Tanz sind Ihre Konzepte, nicht unsere‹« – hier ahmte er den hiesigen Akzent so exakt nach, daß Simon vielleicht gelacht hätte, wenn er nicht gerade das vorwurfsvolle Gesicht des alten Dieners betrachtet hätte –, »dann hätte ich sie nicht angestellt. Na schön, nehmen wir’s leicht. Aber sie haben sich angeboten.« Simon zuckte die Achseln. »Es besteht eine Nachfrage.«
Mr. Goldstone wählte mehrere Happen aus und legte sie in einer Reihe auf seine breite linke Handfläche. Dann winkte er mit den Fingern, und der Diener verschwand. Die improvisierte Bar, wo man Getränke ausschenkte, lag hinter Simon, so daß er abermals überrascht war, als Natasha plötzlich aus dem allgemeinen Lärm auftauchte, mit drei Glas Sekt in der Hand neben ihm stand, und mit ihr Mr. Styreme und seine Tochter. Der alte Mann war außer Atem. Er stützte sich auf seinen Stock, die Füße gespreizt, den Stock vor sich hingestellt und beide Hände auf der Krücke. Das empfindliche Gummiende des Stocks hinterließ eine kleine Spur auf dem Parkett. »Was meinen Sie?« fragte Mr. Goldstone. »Mayaram hier sagt, daß ich von diesen Musikern nicht zuviel erwarten darf, wo sie doch Eingeborene des Territoriums sind. Danke«, fügte er hinzu und nahm den Gipfel von Natashas sorgsam balancierten Gläserdreieck herab. »Das meine ich nicht«, rief Simon. Aber Natasha hielt ihm ein Glas hin und kicherte. In dem Augenblick, als er es nahm, verstrich die Zeit für Erklärungen, und kaltes Schweigen trat an ihre Stelle. »Der junge Mann nützt niemandem mit Herablassung«, sagte Junius Styreme. Er ließ seine Bifokal-Brille einen Zoll auf seiner Nase herabrutschen und hob dann den Kopf, um Simon durch die untere Hälfte anzustarren. Dann wandte er den Kopf zur Seite, als wollte er die Musik besser hören. »Strauß, ja?« fragte er. »Richard Strauß«, fügte er mit gekonntem deutschen R hinzu. »Johann, Papa«, murmelte Katharine. »Ja, natürlich. Johann Strauß der Jüngere, nicht wahr?« »Das ist richtig, Sir«, bestätigte Simon demütig. »Und ich meinte nicht…«
Doch Katharine unterbrach ihn. »Musik ist die Sprache der Seele«, sagte sie. Ihre Stimme klang sonderbar in ihrer umgeformten Kehle, ein wenig heiser, aber trotzdem angenehm. »Ganz meine Meinung«, sagte Goldstone zufrieden, indes die Sonne auf seine Kopfhaut schien. »Aber Mayaram denkt, es ist mehr genetisch.« Er nippte am Sekt und rollte den Schluck wie ein Kenner auf der Zunge. »Was meinen Sie?« fragte er und schaute zu Simon herüber. »Es ist ein Pol Roger ‘97 – fast der letzte gute Vorkriegsjahrgang.« Simon ließ den Wein im Glas rotieren, trank aber nicht. Er schaute Katharine Styreme an, in der Hoffnung, sie würde den Blick erwidern. Als sie es schließlich tat und dabei den schönen Kopf wandte, sprach er wie zu ihr allein. »Ich glaube, daß ich über diese Dinge sprechen kann«, sagte er, »weil meine eigene Rasse viele Jahre lang unterworfen gewesen ist, erobert und kolonisiert von denen, die man die Europäer nennt. Wenn wir es lange Zeit geschafft haben, als Kultur und als Rasse zu überleben, dann, weil wir unsere eigenen Traditionen nicht aufgegeben haben, während wir alles aufnahmen, was wir konnten. Zum Beispiel haben meine Lehrer sogar in Zone sieben darauf bestanden, daß wir in unserem Musikstil unterrichtet werden, während sie uns vedische Schriften und die Upanischaden lehrten…« Das war gelogen. Traditionen dieser Art gab es nirgends mehr in London. Er hatte es um des Effekts willen gesagt, und der Effekt war schlecht. Zu spät wurde ihm die Falle bewußt, die er sich selbst gestellt hatte. Katharine Styreme blinzelte ihn an, ein einziges Mal. »Sie sind kein Christ?« Simon brachte ein Lächeln zustande. »Sie sind keiner. Und doch heißen Sie nach Simon dem Zeloten, einem der Zwölf.« »Ja, stimmt. Mein Vater…«
Jonathan Goldstone grinste und kratzte sich am Bart, während der alte Mann Simon weiterhin durch die untere Hälfte seiner Brillengläser musterte. Natasha kicherte und nippte am Sekt. Was Katharine betraf, so lag in ihrem Blick eine grimmige Glut, die Simon an die Göttin Kali denken ließ, in der sich Zorn mit betörender Sinnlichkeit paarte. Ihr Auge selbst war von einer bemerkenswerten Farbe, ein dunkles, goldbraunes Orange, mit Streifen von Gold durchmischt. »Wie seltsam das ist«, sagte sie zu Natasha. »In den fast zweihundert Jahren, seit ihr zum erstenmal hierher gekommen seid, habt ihr uns zwei gewaltige Gaben gebracht. Eine ist das Geschenk der europäischen Musik, und die andere ist die Botschaft von Jesus Christus. Und doch wissen so viele von euch keins von diesen Dingen zu schätzen. Ihr tragt einen Schatz bei euch, den ihr nicht verstehen könnt. Und gleichzeitig erniedrigt und versklavt ihr unser Volk und verschmutzt und verwüstet unser Land.« »Wir sind die unwürdigen Gefäße einer höheren Macht«, schlug Goldstone vor und grinste immer noch, bis sich Katharine ihm zuwandte. »Ich glaube, das ist wahr«, sagte sie.
1g: Der Angriff Natasha Goldstone konnte nicht älter als neunzehn sein. Nach dem Abendessen zeigte sie ihm das Haus, und sie liebten sich in einem Schlafzimmer im Obergeschoß. Akkordeonmusik drang durchs Fenster, vermischt mit Stimmen von der östlichen Rasenfläche, wo sich die Gäste noch um die Grills sammelten. Die Sonne warf weiches weißes Licht über die Staubdecken, die alle Möbel bedeckten. »Ich schwöre bei Gott«, sagte sie. »Du hättest mit Katharine gehen
sollen. Obwohl sie dir das vielleicht nicht versprechen könnte.« »Sie mag mich nicht.« »Nein, das ist einfach ihre Art. Außerdem kann sie reden. Erniedrigt und versklavt – ihr Vater hatte Sachen an, um Gottes willen.« »Trotzdem.« »Wieso sollte sie dich nicht mögen? Du bist wahrscheinlich sogar richtig im Vatikan gewesen. Vielleicht sogar in der Carnegie Hall.« Simon langte neben dem Bett hinab nach der Sektflasche. Er richtete sich zum Trinken auf den Ellbogen auf, dann beugte er sich herunter, um etwas von der warmen Flüssigkeit in Natashas Mund fließen zu lassen. Sie hatten ihre Kleidung nicht abgelegt. Das heißt, sie hatten die Hemden anbehalten; seine Jacke und seine Hose, ihre Jeansshorts lagen zerknittert am Fuße des Betts. »Sei still von ihr«, sagte er, und sie kicherte. Er drückte sie zwischen die Kissen und küßte sie unterm Ohr. Ihr langes weißes Hemd war vorn aufgeknöpft; er stellte die Flasche wieder auf den Fußboden und schob dann seine Hand unter ihr Genick, und ließ sie dann den Körper abwärts wandern. Überall, wo die Sonne sie berührt hatte, war sie braungebrannt, was die Weichheit ihrer Brust doppelt schön erscheinen ließ, das Weiß ihrer Haut dort und weiter unten doppelt weiß, im Gegensatz zu seiner eigenen. Das Haar wuchs dicht in ihren Achselhöhlen und in einem Kreis um jede Brustwarze; er küßte und leckte sie dort sanft und schob sich dann langsam tiefer, fuhr mit der Zunge über den unteren Teil ihres Brustkastens, über ihren flachen Bauch. Und währenddessen langte seine Rechte noch tiefer, zupfte an dem dichten Haar um ihre Scham, kämmte es mit den Fingern und berührte sacht die Haut darunter. Seine Linke glitt unter ihren Rücken, und
dann bewegte er sie ihr Rückgrat entlang abwärts, knetete die Muskeln am Kreuz, bis sie sich von der Matratze aufbäumte und sich dann zurücksinken ließ und auf seine Handfläche setzte. Er griff mit den Fingern die Spalte zwischen ihren Hinterbacken entlang, spreizte sie, ohne sie aber zu berühren, denn obwohl an ihr noch etwas von seiner Feuchtigkeit geblieben war, hatte sie noch keine eigene, bis er die rechte Hand an seinen Mund führte und die Finger einen nach dem anderen befeuchtete und etwas Speichel in die Handfläche brachte. Akkordeonmusik drang von unten herauf. Jemand ging langsam draußen den Korridor entlang, an ihrer verschlossenen Tür vorbei. »Uh, Baby«, seufzte Natasha, und dann berührte er sie, drang mit den Fingern in sie ein, sanft und dann kräftig. Er fühlte sich ruhig, glücklich, doch geistesabwesend, obwohl er durchaus eine etwas bescheidene Art von Erektion hatte; es wirkte so abgeklärt und so seltsam. Er öffnete sie mit der Linken und steckte dann den rechten Daumen in sie, drang vor, bis sein Fingernagel unter einer Fleischkugel zu liegen kam – was war das, vielleicht ihr Muttermund? Er war in ihr flacher als bei den meisten anderen Frauen. Er ließ den Daumen kreisen. Sie bäumte den Rücken auf, ihm entgegen; sie war naß. Und dann schien ihre Feuchtigkeit die Konsistenz zu ändern – sie wirkte zäher, er spürte mehr Reibung, ihre Muskeln waren gespannt und sie trocknete aus, empfindlich für seine geringste Bewegung, und so zog er die Finger aus ihr heraus, aus Angst, ihr weh zu tun. Seine Gedanken rannen langsam, und wie es manchmal geschah, schienen sie sich auf einzelne Bilder zu konzentrieren: Schnee auf den Houses of Parliament. Der Briefbeschwerer in der Hand des Konsuls. Der eingeborene Polizist mit seiner braunen Uniform und seinem Turban, durch das Rückfenster des Rolls gesehen. Einzelne Bilder, die den
Platz des Denkens einnahmen: Er hockte in Gundabook im Staub, den toten Hund in den Händen. Er zog seine Linke unter ihr hervor und glitt zwischen ihre Beine. Er leckte einmal an ihr, versuchsweise, und ließ ihren Geschmack sich mit dem der Grillsauce in seiner Kehle vermengen. Dann stemmte er sich hoch, um sie zu betrachten, bewunderte die Lust auf ihrem sommersprossigen Gesicht, bewunderte die Schwellung ihrer kleinen Brüste, ihr schwarzes Haar, auf dem Kissen ausgebreitet. Ihre Augen waren geschlossen. Mit der rechten Hand strich er das Haar von ihrem Schamhügel zurück, und dann beugte er sich herab, um ihre Lippen zwischen seine Lippen zu nehmen, und küßte sie langsam und sorgfältig, bis kam, was er für den Orgasmus hielt, denn sie entspannte sich und zitterte und lag still. Seine Finger waren verkrampft, wo sie sie zwischen ihren gepreßt hatte, und er hatte sich die Unterseite der Zunge an seinen Schneidezähnen geschnitten. Dann setzte er sich auf, und sie lächelte. Sie kreuzte die Beine unter sich, so daß er mit dem Kopf auf ihrem Schoß lag. Er ließ den Kopf auf ihrem braunen Schenkel ruhen, wischte sich mit dem Handrücken die Lippen ab und zog ein Stück Haar aus dem Mund. Sie legte die Hände auf seinen Kopf. »Ich habe heute einen Hund getötet«, sagte er. Eine Falte erschien zwischen ihren Brauen, während sie die Information aufnahm. Sie schüttelte den Kopf, und er fuhr fort: »Mein Fahrer hat einen Hund überfahren. Es war eine Art Labrador.« »Heute?« »Auf der Herfahrt. In Gundabook. Der Hund muß in der Stadt zurückgelassen worden sein.« Sie hatten das Fenster geöffnet, um Luft hereinzulassen. Weiße Tüllgardinen hatten reglos in der ruhigen Luft
gehangen; nun zitterten sie leicht. Natasha faßte sich an den Kopf. Ein kalter Windhauch strich über ihr Gesicht, und Simon sah, wie der Schweiß auf ihrer Wange trocknete. Kein Geräusch drang vom offenen Fenster her zu ihnen und Stille erfüllte die Korridore des Hauses. Die Musik hatte aufgehört. Simon langte neben dem Bett nach unten und ergriff die Sektflasche. Er nahm einen kleinen Schluck, fast den letzten. Und dann nahm er einen größeren und behielt ihn im Mund, und er drückte sie aufs Bett zurück. »Nein«, sagte sie und versuchte sich wegzudrehen. Doch er war beharrlich; er drückte sie nieder und spreizte ihre Beine, und er fühlte den Sekt auf seiner Zunge prickeln. Er neigte sich wieder in sie und leckte sie, und dann zitterte und schrie sie, ihre Finger in sein Haar verkrallt. Dann war alles still, und in diesem Augenblick hörte Simon den Klang des Flügels, die Introduktion der Sonate, leise und doch deutlich aus dem Tanzsaal zwei Etagen tiefer heraufdringen – der erste Akkord und dann der erste hohe Triller von Tönen, und vor seinen Augen stand das Bild von Katharine Styreme, tief über die Tasten gebeugt. Ihr Gesicht war gerötet, ihre Augen von einer Antwort erfüllt. Von einem Gefühl – von etwas. Beschämt, mit einem unguten Gefühl drehte er das Gesicht zu Natashas Magen hin. Sie streichelte seinen Kopf, und dann spürte er eine Erschütterung in ihrem Zwerchfell. Er aber lauschte der Musik. So schön war sie. »Was ist?« fragte er und hob den Kopf. Sie drehte sich auf ihre Seite und wimmerte leise. Ihr schwarzes Haar lag auf dem Kissen ausgebreitet. »Was ist?« fragte er wieder. Doch sie schüttelte den Kopf und weinte leise, die Hände vor die Augen gepreßt. Er setzte sich im Bett auf und starrte an ihrer Schulter vorbei aus dem Fenster.
Irgendwo aus dem Park drang ein Geräusch wie das Brechen eines Stocks, eines vom Baume gerissenen Astes. Und dann ein anderes Geräusch, das das Glas klirren ließ. Ein leichter Druck gegen sein Gesicht. Die Musik hatte wieder aufgehört.
1h: Dämonen (II) Immer wurden sie hinausgebracht, um Haß in dieser Welt des Lichts zu sehen. Der Wagen hatte sie aus der Dunkelheit geholt. Aus dem verbrannten Haus. Während der Fahrt waren sie eingesperrt gewesen, hatten sich mit den Händen berührt, doch dann kam die Explosion, und der Wagen erbebte, stockte und erbebte, dann hielt er an. Die Fenster öffneten sich, und das Licht drang ein. Da war ein großes Haus. Leute hatten Gewehre und Benzinkanister. Andere kamen heraus. Manche waren auf das Gras zu fortgelaufen. Ein Mann hatte ein großes Gewehr, und er hielt es, ehe sie ihn auf der Treppe erschossen. Das Licht fiel von dem großen Himmel herab, und es zeigte all die Gesichter mit den an die Zähne zurückgezogenen Lippen, die Zungen an den Zähnen, die offenen Münder, die im schmerzhaften Licht herumfuchtelnden Arme. Wie bei dem anderen Mal, hatte es schon begonnen, als sich der dunkle Wagen öffnete, und sie wurden mitten in den Haß hinausgeschleudert, ohne eine Warnung als die Explosion und das Erbeben und Anhalten des Wagens. Schon sprangen Flammen empor. Sie verbargen die Gesichter in den Händen, der Mittelpunkt eines Kreises und dann die beiden Brennpunkte einer Ellipse, denn man hatte sie von ihm weggezerrt und zu Boden. Er wäre mit ihr gegangen, wären nicht die scharfen Ketten gewesen. Doch im Geiste hatte er die Arme um sie geschlungen, und sie ihre Arme um ihn, und ihr Gesicht war an seinem. »AH«, sagte sie, »AH, AH, AH, AH«,
was nur eines bedeutete, denn er spürte die Schüsse und das Feuer, und in der abgesonderten Dunkelheit, wo er und sie einander immer umarmten, war es, als hätte sie ihn freigegeben, wäre fünf Schritte beiseite gegangen. Sie hatten sie mit dem brennenden Schmerz verletzt. Gefesselt war er und angekettet, angekettet von den elenden Sklaven, und er war so schwach, so schwach, so schwach.
KAPITEL ZWEI
2a: John Clares Traum Wie üblich, nachdem er seine Schmerzmittel genommen hatte, fiel es dem Konsul schwer einzuschlafen. Um neun hatte er einen halb erwarteten Bericht von einem Überfall auf Goldstone Lodge gehört. Er hatte sich in seinem Büro eingeschlossen. Sein Rücken und seine Nasennebenhöhlen hatten halb zehn Medikamente erfordert, und um zehn wieder. Dazwischen und danach versuchte er zu arbeiten, versuchte zu lesen. Er ging mit schnellen, leichten Schritten auf dem Teppich hin und her und schlug die Hände gegeneinander. Er schloß die Jalousien und zog die Vorhänge zu, doch noch immer drang die Sonne herein, die ewige Sonne. Gegen Mitternacht nahm er sich wieder das Video von New Manchester vor. Er betrachtete es viele Male. In seinem Lehnstuhl sitzend, die Füße hochgezogen, fand er schließlich eine Art Ruhe, ein stumpfsinniges Wachsein. Doch wenigstens wanderte sein Geist nicht länger über das Gesicht seines entführten Assistenten und berührte es zwanghaft, wie er sich manchmal vorgestellt hatte, es mit bloßen Fingern zu berühren. Oder vielmehr war es nicht dasselbe, denn zuvor hatte Mayaram in seiner Vorstellung immer geschlafen, wenn er ihn berührte, selbst in glücklichen Schlaf versunken. Doch nun waren Mayarams Augen offen, und sein Gesicht war sorgenvoll und vielleicht ein wenig angespannt, vielleicht auch ein wenig vorwurfsvoll, als er den Konsul anschaute – zu Unrecht natürlich. Diese Vorfälle waren ein furchtbarer Schock gewesen.
Ein stumpfsinniges Wachsein. Doch für kurze Augenblicke schwieg sein Geist. Im Lehnstuhl sitzend, starrte er auf den Bildschirm an der gegenüberliegenden Wand und sah sich wieder und wieder den Videochip an. Mit der Fernsteuerung ließ er ihn rückwärts laufen, vorwärts. Er schaltete ihn ab, dann wieder an, ließ das Schlußbild mit der Sonne über einem See stehen, mit den blauen Bergen Afrikas, einer kleinen Schar Zugvögel. Was war dieses Bild? Es existierte nicht mehr. Seit zweihundert Jahren nicht. Er ließ das Video zum Anfang zurücklaufen, das letztemal, wie er sich vornahm. Er wollte es dieses eine letzte Mal studieren, um zu sehen, ob es da ein Detail gab, das ihm womöglich entgangen war. Doch als er das Video laufen ließ, stellte er fest, daß er die Stimmen nachahmte und einen Kommentar lieferte, als säße er hier zusammen mit noch jemandem, vielleicht Mayaram. Er hätte es Mayaram zeigen sollen, ehe der abfuhr. »Was für eine gräßliche Farbe«, sagte er. »Wir leisten bessere Arbeit.« Fünfzehn Sekunden lang betrachtete er die neue Flagge, die, wie er annahm, dem Dritten Nordseebund gehörte, vor dem Siegel des Außenministeriums drapiert. »Ein dreifach Hoch dem Orange, Rosa und Lindgrün«, murmelte er. Dann fügte er Mayarams Stimme ein, vernünftig und mitfühlend: »Das läßt einen begreifen, wie arm sie sind.« Die Flagge, anscheinend stroboskopisch beleuchtet, verschwand flackernd. »Man sollte meinen, daß sie uns nötiger brauchen, als wir sie«, bemerkte der Konsul zu sich selbst. »Dieser Schwachkopf hat wahrscheinlich sein ganzes Leben unter einer Kuppel verbracht. Wahrscheinlich fährt er in einem Elektrobus mit sieben Meilen pro Stunde zur Arbeit.« Eigentlich wußte John Clare kaum, wie das Leben auf New Manchester war, abgesehen von den Schlüssen, die er aus
ihren Einfuhrlisten gezogen hatte. Er war nie dort gewesen. New Manchester lag über einen Streifen von Planetoiden ausgebreitet, der nächste über sechs Lichtjahre entfernt – oder fünf Monate für ein unbemanntes Frachtschiff. New Manchester war ihr Handelspartner gewesen, der bei weitem nächstgelegene Kontaktpunkt. Weil es ursprünglich ein britischer Außenposten gewesen war, lief der ganze Nachrichtenverkehr damit über ihn. Dennoch war es erschreckend, wie wenig er über sie zu erfahren versucht hatte, dachte er niedergeschlagen, jetzt, da es zu spät war. Er berührte die Fernsteuerung, und das Video lief ein paar Einstellungen weiter. Ein Gesicht erschien auf dem Bildschirm, von Streifen statischen Rauschens dreigeteilt. Sorgenzerfurcht und grün schwebte es etliche Fuß über den Schultern eines Torsos, der an einem Schreibtisch saß. Dann senkte es sich so sanft wie ein Exxon-Shuttle herab. Der Beamte war in einen halbdurchsichtigen gefütterten Anzug gekleidet, der aus einem unidentifizierbaren Material hergestellt war. Wohl etwas, um seine Haut zu schützen. Seine grüne Haut: ansonsten sah er chinesisch aus. Seine Lippen öffneten sich, und eine Weile sprach er lautlos, bis sich der Ton einstellte. »Die Flamingos«, sagte er, »die einst dieses stolze Marschland zu Tausenden durchwateten, sind nun fast ausgestorben. M’boko sagt, daß, wenn der letzte Vogel fort ist, seine Familie den See auch wird verlassen müssen.« »Das ist meine Lieblingsstelle«, murmelte der Konsul vor sich hin. Er berührte eine Taste an der Fernsteuerung. Unter dem Bild auf dem Schirm wurde plötzlich ein überlagertes Bild sichtbar: ein Junge, der in einer hellen Landschaft hockte. Er hob die Hand und winkte. »Sagen wir, es hat eine Revolution gegeben«, sagte Clare. »Ich würde diesen Müll auf jedem Kanal senden.«
»Ihre Hauptnahrung, ein aquatischer Vertreter der TaroFamilie, wächst gut auf diesem sumpfigen Boden. Doch zum Gedeihen benötigt sie Guano…« Die Stimme des Ansagers verschwamm im Rauschen und wurde allmählich von der des Beamten an seinem Schreibtisch ersetzt. Einen Augenblick lang schien es, als käme sie aus dem Munde des hockenden Jungen, der lächelte, während er eine große Wurzel hochhielt. »Es ist zu perfekt, um nicht gestellt zu sein.« Clare ließ das Bild ein paar Sekunden lang anhalten und dann ein paar Einstellungen zurücklaufen, so daß die Gesten des Jungen einen abgehackten Tanz ergaben. Irgendwie war die Übertragung von New Manchester mit etwas anderem vermischt worden, mit dem Hauch einer Sendung von der Erde selbst vielleicht, quer über ein Drittel der Galaxis hinweg. Doch wer immer es gesendet haben mochte, und wann auch immer, es mußte schon Hunderte von Jahren alt sein. Vielleicht war es ein Teil eines historischen Archivs gewesen, Teil einer Vision von einem gemeinsamen Erbe, einer gemeinsamen Sprache, die nicht mehr existierte. Es sich anzusehen hieß, zurück in die vorkoloniale Zeit zu schauen. Die Landschaft verblaßte, der Junge verschwand. Der Beamte saß an seinem Schreibtisch. »ORM«, sagte er. »Positiv nein, 998 unverändert, John Clare. DB (Nr. 4). Rest knapp Frachtlimit total. Zahlplan retour, toto. Vite, kein Grund. Notlage ist permanent, XLL. Nitschewo. Fuck u (2). 20 Stunden hier. Nur unbefugt, 101010cp6. Keine Anfrage bis diese Seite, Juno. Adios, goodbye. Dreißig Sekunden um.« Clare berührte die Taste. Das Bild vom Gesicht des Beamten erzitterte auf dem Bildschirm. Darunter lag, für einen kurzen Augenblick klar hervortretend, eine Umrißkarte von Afrika, wohl aus dem späten zwanzigsten Jahrhundert. Die Lebensräume der Flamingos waren rot eingetragen.
John Clare ließ mit einer Fingerbewegung das Bild ein paar Szenen weiterlaufen. Nun erstreckte sich die Landschaft ins Weite, die Farbe war auf einmal vollkommen, auf einmal wirklich: der blaue See, rosa von Vögeln, der blaue Himmel und die blauen Berge. »Das war’s«, sagte er. »Vorbei. Sie haben uns abgeschaltet.« Als er schließlich doch einschlief, noch immer im Sitzen, noch immer mit hochgezogenen Füßen, träumte er, daß er nackt war, und seine bloße Haut klebte am Leder des Lehnstuhls fest, während er sich herumwarf und wälzte, und von Zeit zu Zeit setzte er sich auf und rieb sich das Gesicht. Er träumte, daß die automatischen Fensterläden geschlossen waren – das Zimmer war dunkel. Doch noch immer türmten sich rings um ihn die wuchtigen Möbel: der Schreibtisch, die Sessel; das war kein Schlaf. Müdigkeit hatte seine Sorgen zugespitzt, weiter nichts. Dunkelheit hatte seine Gedanken verwirrt und jeden einzelnen in Tarnbilder gehüllt. ›Mayaram‹, dachte er, und in seinem Traum setzte er sich auf, um sich den Videochip anzusehen, und er sah ein Auto über Sandwellen abwärts fahren, zum Wasser hinab. Mit dem Finger auf der Fernsteuerung erhöhte er die Vergrößerung, und er sah das Gesicht des jungen Mannes am Fenster des Rolls, als er am blauen Ufer des Sees entlangfuhr. Flamingos wurden von der Stoßstange beiseitegeschleudert. Doch es gab an diesem Seeufer auch Dämonen, obwohl er sie nicht sah. Die Erde war für ihn nicht mehr als ein Traum, ein Bild auf einem Monitor. Noch während er zuschaute, sah er ein anderes Bild an die Oberfläche seiner Gedanken steigen, eine andere Sonne, die durch jene weiche, strahlende Sonne hindurch brannte, und jetzt holperte der Rolls durchs Grenzland, durch die giftigen Ablagerungen eines anderen Sees – wirklicher in der Erinnerung, weniger wirklich im Traum –, wo John Clare Kind gewesen war. Dort hing die rote
Sonne knapp überm Horizont, dort verströmte sie sich Tag und Nacht über die lange Salzfläche, dort erschien die Luft selbst jenen dünn, die sie ihr Leben lang geatmet hatten. Dort hatten sich in den dunklen Bergen hinter dem McElroy-See gehalten, und in seinem Traum erinnerte sich John Clare, und er sah es am Seeufer, während der Rolls hinab holperte: einen Kreis von Ureinwohnern um den Körper. Seine Handgelenke waren zusammengebunden, die Fußgelenke ebenfalls, und sie hatten einen Stock unter den Knoten durchgesteckt und ihn von den Bergen herabgetragen, den Kopf nach hinten herunterhängend, den großen Kopf. Ohne Mund, ohne Ohren; die Augen waren trocken und voller Insekten, sein geheimer und zwingender Geist schwieg, und seine Haut war an hundert Stellen durchbohrt. John Clare war fünf Jahre alt. Weil er ein Kind war, konnte er ein Kind erkennen. Er hatte zu weinen begonnen. Er hatte nicht aufgehört, als sein Vater ihn hochnahm und in den Armen hielt; er hatte nicht aufgehört, als sein Vater ihm einen Klaps gab; er hatte nicht aufgehört, auf seine Weise um jenes kleine Wesen zu klagen, dem diese Welt schließlich gehörte. Der Rolls holperte das Seeufer entlang aufs Grenzland zu, der Dunkelheit entgegen. Wo war Simon jetzt? Der Wagen holperte am Rande des Sees hinab durch die blutroten Schatten. Er blieb abrupt stehen, bis zu den Radkappen im bitteren Wasser. Das Mädchen war auch drin.
2b: Gefangene Simon schlief. Seine Träume waren voller Bilder, die ihn tief unter die Oberfläche der Welt gezogen hatten. Und er mußte von ihnen lassen, um zum Erwachen emporzusteigen, und als er erwachte, waren sie weggesunken, unwiederbringlich.
Simon erwachte im Dunkeln. Das war so selten in diesem Land; einen Augenblick lang stellte er sich vor, wieder im Schlafzimmer seiner Wohneinheit in Golders Green zu sein, unermeßlich weit entfernt. Kalt war es auch. Er wälzte sich auf den Rücken, auf die Campingmatte aus Schaumgummi, von der er über Nacht heruntergerutscht war. War es wirklich Nacht gewesen? Jetzt war Dämmerung, es fühlte sich an wie Morgendämmerung, und in der Luft hing eine klamme Kühle, die sich nach einer Morgendämmerung in London anfühlte. Er konzentrierte sich und brachte es halbwegs fertig, die Augen zu fokussieren. Über ihm war Licht, vereinzelte Lichtstreifen auf der Stuckwand. Schwach, abgestumpft, reglos war es, gelb, rot, jener falsche Farbton, der alles Leben hier falsch erscheinen ließ. Er hob die Arme ans Gesicht; sie waren an den Handgelenken aneinandergefesselt. Er befand sich in einem kleinen Raum ohne Möbel und mit einem Fenster hoch oben nahe der Decke. Coke-Flaschen und Styroschaumbehälter für Fertignahrung waren über den Fußboden verstreut, inmitten schlammiger Fußspuren. Katharine Styreme war bei ihm, sie saß mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Er sah ihren Mund und sah, wie er sich bewegte, und in diesem Moment hörte er ihre Worte, obwohl er sie vorher nicht wahrgenommen hatte. »Gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnade«, sagte sie. »Du bist gesegnet unter den Frauen, und gesegnet sei die Frucht deines Leibes, Jesus.« Die Vertrautheit der Worte, von ihrer sonderbaren Stimme überlagert, hatte eine Wirkung wie das falsche Licht, und für einen Augenblick kam sie ihm fremd vor, durch und durch fremd. Je größer die Ähnlichkeit, um so grotesker der Effekt, denn in anderer Beziehung glich sie einfach einer Frau, einer Frau, die mit ihrem dunklen Haar im Dunkeln saß, das Gesicht
von Tränen verquollen. Sie saß da, ein Knie hochgezogen, den Kopf nach hinten gegen die Zementmauer gelehnt. Sie hatte ein Universitäts-Sweatshirt und ein Paar Jeans an. Simon lag noch in den Sachen da, die er bei der Gefangennahme trug. Sie stanken. »Jungfrau, aller Jungfraun Zier«, sagte sie. »Demutsvoll bet ich zu dir.« Er war jetzt verloren unter ihnen, und je mehr er ihre menschliche Erscheinung zu schätzen wußte, um so größere Furcht empfand er. Als er neu ins Land gekommen war, war es ihm beruhigend vorgekommen, wie nahe sie den Menschen waren, wie vertraut in Erscheinung, Sprache, Gebräuchen. Zumindest diejenigen, mit denen er zu tun hatte: Nach über hundert Jahren der Besetzung hatten Medikamente und chirurgische Eingriffe und die Zeit jedes Band zu ihrer Vergangenheit zerrissen. »Gegrüßt seist du, Maria«, sagte sie. »Seine Wunden sind auch dein, tauche meine Seele ein, in sein Blut, bis daß sie rein.« Er erschauderte. Und doch, wie schön sie war. Und gewiß war sie ihm in diesem Augenblick im Geiste nahe. Gewiß fühlte sie dieselbe Hilflosigkeit, dieselbe Isolation, dieselbe Furcht. Ihre Handgelenke lagen aneinandergefesselt in ihrem Schoß. Ihre Haut war zerschrammt, wo sie sie geschlagen hatten. »Wo sind wir?« fragte er. »Gegrüßt seist du, Maria«, sagte sie, dann biß sie sich auf die Lippe. Sie wandte den Kopf langsam zur Seite, so daß er ihr Profil gegen die hellere Wand sehen konnte. Über ihr das rote Licht. »Wir sind im Grenzland«, sagte sie. »Heute bringen sie uns über den Rand.«
»Wie spät ist es?« fragte er, eine dumme Frage, und sie schüttelte den Kopf. Er hob die Hände, um seine Augen zu berühren, dann setzte er sich langsam auf. »Was ist passiert?« »Sie waren bewußtlos. Man hat Ihnen eine Injektion gegeben.« Wie andere aus ihrer medikamentös behandelten Klasse, sprach sie das Wort mit einer gewissen Befriedigung aus. Ihre Lippen schlossen sich danach sittsam, während er dasaß und versuchte, seine Gedanken wieder zu sammeln. Er erinnerte sich an den ersten Teil ihrer Fahrt, mit verbundenen Augen auf der überdeckten Ladefläche eines Lkw, immer ihren Körper neben seinem spürend. Andere waren bei ihnen gewesen, waren über sie hinweggetreten, als der Lkw anhielt. »Was haben sie gesagt?« »Ich soll einen Brief an meinen Vater schreiben.« Sie legte die Wange an die Wand. »Sie werden es sehen.« Er versuchte zu lächeln. »Wie fühlen Sie sich?« »Sie haben meine Tabletten zurückgelassen.« Sein Gesicht war angespannt. Er öffnete weit den Mund, um es zu dehnen. »Vielleicht bringen sie später welche«, sagte er gedankenlos. »Aber ich brauche meine. Sie haben sie in der Lodge gelassen.« Dann: »Sie haben es absichtlich getan. Um mich zu quälen.« »Oh«, sagte er. »Oh, das glaube ich nicht.« Und dann: »Wie fühlen Sie sich?« Sie wandte ihm das Gesicht zu, und er sah den Bogen ihrer Augenbrauen, ihren dunklen Mund. »Ich weiß nicht.« Er lächelte, und sie lächelte auch, und dann war ihr Gesicht tränenüberströmt. »Hier ist etwas. Ich spüre, wie es darauf wartet, hereinzukommen. Ich spüre, wie es anklopft.« Für einen Moment schaute er zur Tür, und sie schüttelte den Kopf. »In meinem Geist.«
»Was kann ich tun?« sagte er, und sie war ganz wie eine Frau, wie ein Mensch, der einen Schmerz nicht aussprechen konnte – sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, was.« Er kam auf die Knie und streckte die Hände nach ihr aus. Sie lehnte sich kurz vor, so daß ihre Stirn die Außenseite seiner Hände berührte, dann zog sie sich zurück. »Ah, Gott«, sagte sie. »Sie werden uns fortschaffen.« Weiter tat sie nichts, und nach einer kleinen Weile lehnte er sich zurück. Er streckte sich auf der Matte aus, die Hände über den Kopf zurückgelegt, und lauschte winzigen Geräuschen: dem Vorbeihuschen einer Schabe hinter der Wand, und vielleicht einer Bewegung in ihm selbst. Er schaute zu dem rot verschmierten Lichtfleck hinauf, der diagonal auf dem weißen Stuck über ihm lag. Es roch nach Fett und Kleister und dann noch etwas, auch etwas von ihrem Geruch, als sie sich neben ihm hinlegte. Mit ihren Handschellen war sie unbeholfen; sie hielt die Hände unten, die Ellbogen gestreckt, so daß ihre Schultern sich von der Matte hochwölbten. »Keine Angst«, sagte er, ein gedankenlos dahergeredeter Trost, denn in der Steifheit ihres Körpers spürte er eine Anspannung, die viel tiefer als Furcht saß. Und dennoch, mit einer Tapferkeit, die ihn anrührte, lehnte sie den Trost nicht ab, sondern drehte sich auf die Seite und an ihn heran, soweit ihre Handschellen es erlaubten. Aber war es denn Trost? Man konnte so leicht Mitgefühl haben, zu wissen glauben, was jemand anderer empfand. Die Verbindung war so schwach, sogar in den besten Zeiten – doch jetzt? Wer vermochte auch nur zu sagen, ob diese Drogen funktionierten? Sie schienen ein bestimmtes Verhalten zu erlauben, weiter nichts – ein pharmakologischer Durchbruch, der Ergebnisse ermöglichte, der bestimmte Teile von ihr abschaltete. Zusammen mit anderen Drogen, die sie altern
ließen, und dennoch, wer wußte es? Wer wußte, was sie jetzt eben fühlte? Sie zitterte leicht, und vielleicht war das der Beginn eines physischen Entzugs, der sie umbringen würde. Sie hatte diese Medikamente jeden Tag genommen, seit sie lebte. Er stellte sich vor, wie sie allein in einem Haus stand, in dem sie aufwuchs, und sie hielt einen Ring mit fünfzig Schlüsseln zu Türen in der Hand, die niemals aufgeschlossen worden waren. »Der Herr ist mein Hirte, darum wird mir nichts fehlen«, sagte sie. Und dann sank ihre Stimme zu einem Murmeln herab, doch er folgte den alten Worten – einem der wenigen christlichen Gedichte, die er kannte. Sie beendete den Psalm, war ein paar Minuten lang still und begann dann wieder von Anfang an. Simon wälzte sich auf den Bauch. Unter den zerknüllten Papierabfällen auf dem Boden waren ein paar Fotos, Schnappschüsse, mit einer PolaroidKamera aufgenommen. Es war jetzt leichter, in dem Raum etwas zu erkennen. Wolken waren von der Sonne jenseits des kleinen Fensters gewichen und erweckten die Illusion eines Morgens. Simon stemmte sich auf den Ellbogen hoch und langte nach einem der Bilder, zunächst nur aus müßiger Neugier. Doch als er es in der Hand hielt und betrachtete, gewannen die Worte von Katharines Gebet eine unverhoffte Bedeutung. Es war ein Foto von Goldstone Lodge. Es war ein Foto von der Osttreppe, wo das Bierfäßchen gewesen war. Er sah es auf der Seite in der Ecke liegen. Auf der Treppe eine Reihe vermummter Gestalten, wie in Gundabook. Abermals hatten sie die Körper ihrer Opfer auf dem Gras ausgebreitet. Jonathan Goldstone lag auf dem Rücken. Seine Hemdbrust war beschmiert und blutig, sein Mund stand offen, die Augen waren geschlossen.
Neben ihm, das Gesicht vom weißen Haar bedeckt, lag seine Frau. Simon erkannte das Muster ihres chinesischen Kleides. Abseits der Treppe, näher zur Kamera, lag Natasha Goldstone zusammengekrümmt auf der Seite. Abgesehen von dem aufgeknöpften Hemd, war sie nackt. Simon lauschte dem Murmeln von Katharines seltsamer, heiserer Stimme hinter sich. Er legte die Hand über das Bild, blickte zu dem Licht an der Wand und schaute dann wieder herab. Er suchte die Dämonen. Wie in Gundabook hatten die Terroristen Möbel auf den Rasen geschleppt. Der Dämon stand in einem Trümmerhaufen zerbrochener Möbel und schaute über seine Schulter zurück. Seine langen Finger formten in der Luft eine Figur. »Sie werden uns umbringen«, sagte Katharine in einem Ton, in dem zu wenig Ablehnung schwang. »Nein. Gott, nein, wir sind Geiseln. Wir sind ihnen nur lebendig von Nutzen.« »Sie werden uns dem Ungeheuer zum Fraß vorwerfen. Es wird uns mit seinem Geist töten.« »So ist es nicht«, erklärte er und nahm Zuflucht zur Pedanterie. Er legte das Foto zwischen ihnen auf den Boden. Unbeholfen mit seinen Handschellen, hielt er die Handfläche über das Bild von Natasha Goldstone und konzentrierte sich statt dessen auf den Dämon, auf das feine Muster seiner Finger. Er hatte die Sprache am Warburg-Institut studiert. »So ist es nicht«, sagte er wieder. »Er ist genauso ein Gefangener wie wir. Sie haben ihn an eine Kette gelegt – sehen Sie.« Er fuhr mit dem Fingernagel über die Hände des Dämons. »In seinen Knöcheln liegt Schmerz«, fuhr er fort. »Schmerz und ein Gutteil Angst. Und sehen Sie das hier – es bedeutet ›Wo bist du?‹ Über die Schulter zurückgewandt – Sie sehen, daß unter dem Tisch etwas verborgen ist, wo der Junge kauert.«
»Da ist noch einer«, sagte Katharine ausdruckslos. »Da muß noch einer sein«, stimmte Simon zu, ohne zu überlegen. »Vielleicht eine Geliebte oder eine Frau -sehen Sie diesen Krümmung des vierten Fingers? Das ist eine Verkleinerungsform, glaube ich. Und er hat Angst, sehen Sie. Vielleicht ist da noch einer, und der ist verletzt.« Sie sagte nichts, also sprach Simon weiter, immer schneller. »Sehen Sie das. Das Bild, die Art, wie es gestellt ist, soll uns Angst machen. Es sieht aus wie etwas, das wir kennen, sehen Sie – zumindest oberflächlich. Ein Dämonenkrieger und sein Trupp Sklaven. Zwei Dämonen vielleicht. Ich denke, es ist genau andersherum. Vielleicht ist er ein Mutant oder zurückgeblieben – jedenfalls halten sie diesen armen Kerl gefangen. Schließlich müssen die von der NLC unter Medikamenten stehen. Studenten die meisten. Vielleicht Leute, die man kennt. Sie sind nicht empfänglich für diese ganze Gedankenkontrolle. Nicht mehr. Und ich bin es nicht. Und Sie auch nicht. Oder zumindest…« Er hielt inne, als ihm bewußt wurde, daß er sie auf diese Weise, in dieser Richtung nicht trösten konnte. An der Tür ertönte ein Rasseln, und sie wurde mit einem Knall aufgestoßen. Simon und Katharine setzten sich mühsam auf. Zwei maskierte Gestalten standen in Schatten des Korridors, eine hielt eine Maschinenpistole. Die andere trat in den Raum – eine Frau. Sie trug ein T-Shirt der Sorbonne. Über ihren weißen Armen war es ausgebeult. Diese paar Glückspilze – die Reichen, die Gebildeten, diejenigen, die sich chirurgische Behandlung leisten konnten –, sie waren wie Amerikaner in alten Filmen mit ihrem Kaugummi, ihren Gewehren. Ohne ein Wort langte sie herab nach der Kette von Simons Handschellen und riß ihn auf die Füße; er gab sich Mühe zu folgen, statt Widerstand zu leisten, denn die Haut an seinen Handgelenken war wund. Er trottete
in den Korridor hinaus, von der Dunkelheit und dem raschen Aufstehen benommen; er stolperte. Der Mann an der Tür führte ihn den Korridor entlang, doch dann stürzten zwei weitere Männer an ihnen vorbei und zerrten Katharine heraus. Er hörte, wie sie sich hinter ihm wehrte, doch sie brachten ihn rasch nach draußen ins Licht. Sie gingen durch ein Loch in einer Wand hinaus. Das Haus war neu, aber zerstört und verlassen, ein Farmhaus im Grenzland, und draußen erstreckte sich das goldene Gras. Der Wind blies ihm ins Gesicht. Einige Lkws und Lieferwagen standen in einer schlammigen Fahrspur -es war Weideland, jetzt aufgegeben. Die Wiesen erstreckten sich bis zum Horizont, und die Sonne stand tief, sie hing in einem ewigen Sonnenuntergang über den Bergen im Osten. Hinter ihm schlugen sie sie, und er drehte sich schnell genug um, um zu sehen, wie sie sich losriß und nach draußen aufs Gras torkelte, auf einen niedrigen Drahtzaun zu. Eins von den Gewehren ging los, ein falsches knallendes Geräusch. Eine Frau mit einem Barett schoß einmal, in die Luft, und Katharine wandte sich um, Gras an den Knien, Blut an den Handgelenken. Ihre Lippen bewegten sich, doch kein Ton kam heraus. Simon glaubte, sie bete, bis er die Worte hörte. »Schwanz«, sagte sie. »Schwanzlutscherin«, und dann noch ein paar Stückchen zögerlicher Unanständigkeiten, die in ihrer heiseren Stimme so sonderbar klangen. »Du kannst meine Scheiße fressen«, sagte sie fast im Plauderton, und dann begann sie zu weinen. »Sie braucht ihre Tabletten«, sagte er, und der Mann neben ihm nickte. Er sah ängstlich aus, schockiert. Keiner regte sich, und sie hielten ihre Gewehre nach unten. Wie jung sie auf einmal wirkten. Simon ließ sie stehen und ging auf Katharine zu, mit den Füßen das Gras teilend. Aufgelöst sah sie zu, wie er kam, schön, in Tränen aufgelöst.
2c: Ureinwohner Nach dem Überfall, als er sich wohl genug für ein Gespräch fühlte, sprach Junius Styreme mit dem Gouverneur, dem britischen Konsul und dem Haushaltsausschuß. Später fuhr er zurück nach Fair Haven, seinem Haus in Shreveport, im Eingeborenenviertel. Sein Chauffeur öffnete ihm die Wagentür, und dann brachten ihn die Wachen, die er angestellt hatte, den Fußweg entlang. Auf der Vordertreppe verließen sie ihn. Statt sich mit der Unfähigkeit seiner eigenen Leute abzufinden, hatte Styreme schon immer Menschen als Diener eingestellt, die nach dem Gesetz nicht bei ihm wohnen durften. Darum war an diesem Nachmittag das Haus sowohl makellos als auch leer. Die Reinigungskräfte waren während seiner Abwesenheit gekommen, hatten Staub gesaugt und gewischt und sein Abendessen neben die Mikrowelle gestellt. Einen Augenblick lang dachte er wehmütig, er habe vielleicht Hunger, doch das war es nicht. Er nahm ein in Folie eingewickeltes Schweinskotelett und schlug es zweimal auf den Rand des Küchentischs. Dann ging er durch die Doppeltür weiter ins Speisezimmer und blieb stehen, die Hand auf eine Sessellehne gestützt. Er wurde von einem plötzlichen Schwindel ergriffen und geschüttelt; er senkte den Kopf, und als er ihn wieder hob, schien sich der Raum vor ihm in eine entmutigende Unendlichkeit von Sofas und Tischen mit Glasplatten zu dehnen. Ein Innenarchitekt hatte diesen Ort eingerichtet. Es gab nur ein paar Stühle, die hart genug waren, daß er darauf sitzen konnte. Den Teppichen unter seinem Stock fehlte es an Solidität, also ging er sorgfältig auf dem langen Streifen Holz, der am Kamin und den Bücherregalen entlanglief. Durch die Verandatür ging er ins Musikzimmer. Katharines Flügel war da, und der Tisch
mit ihren Noten und Studien. Manchmal hatte er spät nachts genau hier neben der Gardine gestanden, gerade an der Tür. Er hatte zugesehen, wie sie arbeitete, die Sonne vom Oberlicht auf dem Haar, die Lesebrille auf der Nase, und manchmal hatte er mehrere Minuten lang so gestanden, ohne etwas zu sagen – nicht, weil sie über eine Unterbrechung verärgert oder unzufrieden gewesen wäre (es war ja auch eine Freude, ihr schmallippiges Lächeln zu sehen, wenn sie ihn gewahrte), sondern einfach um des Vergnügens willen, ihren Gesichtsausdruck zu beobachten. Es war ihr Ausdruck, wenn sie über den Notenblättern und Textseiten hockte, der ihn glauben ließ, er habe das Schwierigste vollbracht, was es bei einem Volk gab, das sich unterworfen oder alles verloren hatte – das Wissen weiterzugeben, daß das Leben lebenswert war. Selbst unter den Werkzeugen des Eroberers gab es Dinge, aus denen sich Glück schöpfen ließ, und vielleicht war das der einzige Ort, wo es jetzt in diesen traurigen Zeiten Glück gab. Diese Terroristen bei Goldstone, was war das, wenn nicht Verzweiflung? Sie hatten kein Glück gefunden. In den Fugen zwischen ihrem Leben und dem Leben der Menschen hatten sie keins gefunden. Er humpelte zur Klavierbank hinüber und ließ sich darauf nieder. Mit starrem Blick betrachtete er, wie die Bügelfalten seiner Hosen über seine spitzen Knie fielen, und hob dann den Kopf. Auf dem Notenständer lag ein Brief. Ein Brief in einem Kuvert ohne Aufschrift; er nahm ihn und drehte ihn in der Hand. Er wußte, daß er ihn schließlich öffnen würde. Wozu sonst saß er hier? Doch noch wendete er ihn ein paarmal hin und her. Es lag etwas darin, nicht nur ein Blatt Papier. Er hielt ihn gegen das Oberlicht. Es war Haar, stellte er fest, eine Locke von Katharines Haar. Langsam, vorsichtig stand er auf. Er hinkte durchs Zimmer. Katharine hatte in einem Nebenraum ein Bett untergebracht, und er starrte es durch die offene Tür an. »Es paßt mir besser
als im Obergeschoß«, hatte sie gesagt; sie hatte recht. Ein kleiner weißer Raum – er stand in der Tür, das Kuvert noch immer in der Hand. Ein kleiner Schrein für die Heilige Jungfrau in dem ansonsten leeren Kamin, und während alles andere im Zimmer einfach und hübsch ordentlich war, war der Schrein kompliziert und ungeordnet: ein Haufen alter Blumen, alte Kerzenstümpfe, Streichholzschachteln, Weihrauchpulver und zerknitterte Notenblätter, alles um die Füße einer kleinen schwarzen Skulptur aufgehäuft. Es war die heilige Jungfrau, aus Ebenholz geschnitzt, mit dicken Brüsten und dicken Hinterbacken und einem dicken trinkenden Kind. Sie war aus Ghana, 1910 dort von einem Missionar gesammelt. Sie war ein Weihnachtsgeschenk von ihm gewesen. Daneben und im Gegensatz dazu die blanke Oberfläche ihres Arzneitisches – die Flaschen mit den Medikamenten in einer Reihe aufgestellt. Davor vier Spritzen in einer Samtschachtel. Ein offenes Buch mit Gedichten. Zum Schluß ein elektrisch gekühltes Fläschchen mit Antikollagen, der Alterungsessenz, ohne die menschliche Erfahrung nicht mit Erfolg nachgelebt werden konnte. Er mußte es wissen. Das Zeug war im Begriff, ihn umzubringen. Nach dem Angriff bei Goldstone, nachdem das Feuer gelöscht war, hatte er Feuerwehrleute in die Überreste von Katharines Zimmer geschickt, um nachzusehen, ob sie ihre Arzneitasche dort finden könnten. Doch wer vermochte in diesem übervollen Wirrwarr irgend etwas finden? Er hatte Angst. Wie er dem Gouverneur gesagt hatte, konnte er sich an den Augenblick der Trennung nicht einmal erinnern, als während der Sonate das Gewehr losgegangen war. Seine Augen waren geschlossen gewesen. Sie war fort gewesen, ehe er es merkte. »Ah, Gott«, sagte er. »Ah, Gott.« Er zog das Kuvert auf. Es war nicht verschlossen. Eine Haarlocke, die Farbe, die er
gewählt hatte. Auf dem einzelnen Blatt Papier stand: »$ 100000. THEODORE OIMU. LEISTE EINEN BEITRAG.« Es durfte keinen Befreiungsversuch geben, keine Nachforschungen, kein Lösegeld. Der Gouverneur hatte es gesagt. »Ich weiß, daß ich Ihnen vertrauen kann«, hatte er gesagt, »denn Ihre Interessen sind dieselben wie unsere.« Ehe Menschen auf diese Welt gekommen waren, hatte sein Volk seine Kinder ohne Schwierigkeiten sich selbst überlassen. Sie hatten diese Art Liebe nicht gekannt. Nun war ihm, als müsse sein Herz zerspringen. Er wußte, es war ein Geisteszustand, eine Illusion. Was konnte man tun? Nichts, dachte er und fand eine Art Trost in dem Wort. Er hielt die Mitteilung hoch über den Kopf und ließ sie auf die Tischplatte fallen. Atemlos, erstickt, floh er aus dem Haus, so schnell seine gebrechlichen Beine es fertigbrachten. Er schloß die Hintertür auf und ließ sie offen. Er ging auf die Grenze seines Grundstücks zu. Die Sonne schien stark, und einen Moment lang blieb er stehen, auf seinen Stock gestützt, die Gedanken verwirrt. Doch dann stellte sich seine Brille langsam auf das Licht ein; die Welt erschien allmählich immer erträglicher, während er auf dem Fußweg und zum Tor hinaus ging. Er bewegte sich die Straße entlang. Eine Reihe goldblättriger Ginkgo-Bäume stand zu beiden Seiten des betonierten Trottoirs. Er humpelte zwischen ihnen dahin, vorbei an den Villen und Bungalows wohlhabender Ureinwohner-Familien. Diese nahmen selbst in Shreveport nicht viel Raum ein, selbst in der Hauptstadt der Amerikanischen Territorien; nach kurzer Zeit erreichte er den Radialkanal. Sein Ufer wurde diesseits bewacht und von Polizei kontrolliert, an der Bordkante reihten sich Autos. Doch auf der anderen Seite des Kanals häufte sich im Wasser Abfall, und die Leute dort drüben lebten in kleinen Hütten.
Eine eiserne Fußgängerbrücke führte hinüber: Betonstufen und dann ein eiserner Weg. Das Treppensteigen fiel Junius Styreme schwer. Auf halbem Wege stützte er die Hand auf das Kettengeländer, rang um Atem und schaute hinunter. Am anderen Ufer waren ein paar hiesige Männer. Während er hinsah, stiegen sie in den Schlamm hinab. Sie wateten ins Wasser hinaus und standen einfach da, das Wasser um ihre zerlumpten Beine. Sie sprachen nicht; sie schauten nicht hoch. Auf der anderen Seite begannen die Slums. Es war ein anderer Verwaltungsbezirk, kein Teil der Stadt selbst, obwohl dort die meisten Leute hausten, die in der Stadt arbeiteten. Dennoch, auf den Stadtplänen war das alles freies Gelände. Junius Styreme, das Herz voll von einem Schmerz, der allen anderen Schmerz in den Hintergrund drängte, der sich wie eine Droge durch seine trockenen Kapillaren ausbreitete, der ihm erlaubte, auf neue Art Kraft zu sammeln, streifte mehrere Stunden lang durch diese Slums. Nach innen gewandt, drang ihm wenig von dem, was er sah, ins Bewußtsein. Als er zwischen den Häusern aus Teerpappe und den Hütten aus Karton einherging, wiederholten sich endlos dieselben Szenen. Dennoch kam ihm jede einzelne neu vor, ein neues Bild, vergessen, sobald es wahrgenommen war. Viele von den Behausungen reichten ihm kaum bis zur Brust, und manchmal konnte er durch die leeren Türöffnungen Leute schlafend daliegen sehen, obwohl es mitten am Tage war. Andere saßen am Boden oder lagen auf Zinnstreifen, und niemand hatte etwas zu tun. Und überall gab es Alkohol; die Leute lagen besinnungslos im Schlamm oder dösten nickend mit Flaschen in der Hand vor sich hin. Er wanderte zur Deponie hinab. Dies war in gewissem Sinne der Mittelpunkt der Stadt und unterhielt die höchste Einwohnerkonzentration. Hierher kamen die Rohmaterialien, aus denen der ganze Rest gebaut war: die Autowracks, der
Metallschrott, das zerbrochene Holz. Während Styreme hinabhinkte, kreisten über ihm Schwärme von Vögeln, und der Gestank schlug ihm in die Nase. An manchen Stellen ragten die Müllhaufen zwanzig Fuß hoch. Nur ein kleiner Abschnitt der Deponie enthielt Haushaltsmüll. Der Rest war Industrieabfall verschiedener Art. Es gab einen Tümpel von blauer Flüssigkeit in der Nähe von Styremes Standort. Hinter ihm erhob sich eine Pyramide von Plastikfässern. Jedes trug das Logo einer gewissen Santander Erdölchemie-Gesellschaft, von der Styreme Aktien besaß. Leute lebten in Häusern, die aus Müllbeuteln errichtet waren, Häusern, die immerzu einfielen und immerzu wieder aufgestellt wurden. Und hier gab es mehr Leute: lange Säcke hinter sich herschleifend, durchkämmten Männer die Abfallhaufen, auf der Suche, auf der Suche… Allmählich sammelten sich mehr Leute an. Und er brauchte lange, bis er begriff, daß sie ihn beobachteten. Sie suchten eine Art Wechselwirkung, obwohl noch keiner etwas gesagt hatte. Doch sie kamen näher, und es schien, als brauche er sie nur wahrzunehmen, um sich bedroht zu fühlen, und dann ballten sie sich um ihn, drängelten und rempelten ihn an und grapschten nach seinen Händen. Auf einmal kam ihm der Geruch ihrer aneinandergedrängten Körper zu Bewußtsein. Sie waren nicht froh, ihn zu sehen. Sie flüsterten in einer Sprache auf ihn ein, die er nicht mehr kannte, mit Worten, die aufdringlich an seinem Gedächtnis zerrten, wie die Männer an seinen Ärmeln zogen. Er öffnete den Mund und brachte nichts heraus. »Bitte«, sagte er schließlich auf englisch – ein Wort, das sie in noch größere Wut zu versetzen schien. Obwohl es noch keine Anzeichen für Gewalt gab, lag etwas Bedrohliches in der Art, wie sie ihn umringten und dabei mit ihren ausgehungerten Stimmen summten und plapperten. Styreme raffte die Aufschläge seines Jacketts zusammen. Dann langte
er in die Innentasche und holte etwas Geld hervor, ein paar Shreveport-Dollars. Doch sobald sie das Geld erblickten, schloß sich die Menge enger um ihn, verdoppelte den beharrlichen Druck. Styreme senkte den Kopf und fuchtelte mit dem Stock am Boden, plötzlich besorgt, er könnte auf dem Müll und dem unebenen Modder die Balance verlieren. Er versuchte, sich vorwärts zu einem flacheren Stück Boden durchzukämpfen, doch niemand wich zurück. Er starrte Füße und Beine eines Mannes an, der direkt vor ihm stand. Nach einer Weile hob er zögernd, beschämt den Kopf; der Mann hatte exakt seine Größe. Er stand da, einen Dollar in seiner schmalen Klaue – ein unmodifizierter Ureinwohner. Das heißt, er war nur einmal geimpft worden, wie es das Gesetz von den Mittellosen verlangte, mit einer billigen Injektion, die die Bindung an die Dämonen unterbrochen hatte, die seine Seele zerbrochen hatte. Doch kein plastischer oder genetischer Chirurg hatte ihn je berührt; Styreme starrte in das Gesicht und wunderte sich, wie fremdartig es ihm vorkam. Ein Mann von seiner eigenen Art, und doch um soviel fremder und bedrohlicher als die Menschen, mit denen er jeden Tag zu tun hatte – deren Gesichter waren durchschaubar, verglichen mit diesem. Haarlos, flach, bleich, die Nase eine winzige Einbuchtung, der Mund ohne Lippen und ohne Zähne, ein winziges Loch. Unverständliche Laute gingen von ihm aus, von ebensolchen Mündern ringsumher. Dann hörte Styreme zwischen diesen Lauten einen anderen, genauso mißmutig, doch mit anorganischer Bestimmtheit – es war in der Tat ein Motor. Ein Jeep kam um die Ecke eines Sandhaufens. Er war mit leeren Fässern beladen, und der Fahrer war ein Mensch. Styreme spürte eine Woge der Erleichterung. Der Jeep änderte die Fahrtrichtung und kam auf ihn zu. Der Fahrer hatte die Windschutzscheibe heruntergeklappt, und er fuhr schnell
über die Bodenwellen, so daß die Fässer hinter ihm herumsprangen und klapperten. Er kam geradewegs auf die Menge zu, ohne zu bremsen. Vom Beifahrersitz nahm er einen Gegenstand, einen elektrischen Viehtreiberstock. Er funkelte im Licht. Styreme spürte in der Menge ringsum Unsicherheit aufkommen, zu langsam, zu ziellos, als daß man es eine Panik hätte nennen können. Die Leute drifteten weg; als der Jeep ihn erreicht hatte, war er fast allein. Der Fahrer erhob sich vom Sitz und schwang seinen Stock. »Hah!« rief er, und bei dem Klang verliefen sich die Männer, die noch geblieben waren. Über eine kurze Strecke bewegten sie sich mit großer Geschwindigkeit, dann blieben sie stehen. Manche hockten sich hin und starrten herüber; andere nahmen ihre Beschäftigungen im Müll wieder auf. Styreme humpelte zum Jeep hin. »Hah!« sagte der Mann wieder und hielt den Stock hoch. »Hau ab«, sagte er. Doch dann kam ihm allmählich Styremes Kleidung zu Bewußtsein, und er senkte die Hand, nun unschlüssig. »Hören Sie bitte«, begann Styreme. Dann hielt er inne; der Mann sprang aus dem Wagen, den Stock vorgestreckt. Styreme hob die Hände. »Fallenlassen«, sagte der Mann, und Styreme ließ seinen Stock in den Schmutz fallen. Noch immer hielt seine Hand ein paar vereinzelte Dollars umkrampft. Der Mann kam auf ihn zu, Rücken und Knie gekrümmt; er trug schwere Arbeitskleidung und über dem Herzen ein angestecktes Namensschild. »Stewart«, stand darauf. »Dreh dich um und leg die Hände auf den Wagen.« Styreme überlegte, ob es angebracht wäre, den Mann beim Namen zu nennen, und entschied sich dagegen. Er lächelte. Er öffnete die Hand und ließ die Dollarscheine wegwehen, dann wandte er sich um und tat, wie ihm geheißen. Der Mann trat
hinter ihn und klopfte auf der Suche nach Waffen seinen Körper ab. Auf einmal erschöpft, ließ Styreme den Kopf sinken. »Wo ist dein Paß?« fragte der Mann, doch dann fand er ihn. Es war ein beeindruckender Gegenstand, vom Gouverneur unterschrieben. Nun spürte er die Wirkung: der Viehtreiberstock, den der Mann hinter sein Ohr gehalten hatte, wurde zurückgezogen.
2d: Die dunkle Linie Simon saß nach vorn gebeugt da, die Handschellen an einem Ring im Armaturenbrett festgekettet. Die Straße war eine unbefestigte Piste, und gelegentlich fuhren sie querfeldein. Dann holperte der Wagen über die Spurrinnen, und die Fesseln nagten an seinen Handgelenken, wie sehr er die Füße auch gegen den Boden stemmte. Es wurde allmählich dunkel. Den ganzen Tag lang war das Licht flach über die Felder gefallen. Jetzt versank die Sonne, in eine prächtige Staubschicht gehüllt, tatsächlich im Osten hinter ihnen, ging hinter einer dunklen Bergkette unter. In diesem Land war es ein furchteinflößender Anblick. Simons Fahrer, ein junger Mann, schien es auch furchteinflößend zu finden. Er schluckte oft, leckte sich die trockenen Lippen. Die meisten von der NLC hatten es nach den ersten paar Stunden aufgegeben, ihre Masken zu tragen. Dieser Mann hieß Frank, oder zumindest hatte ihn einer der anderen so genannt. Er hatte ein langes, nervöses Gesicht, das dem eines Menschen sehr angenähert worden war. Doch nachdem er ihn ein paar Stunden lang beobachtet hatte, kam Simon zu dem Schluß, daß er sich nie weit außerhalb der menschlichen Variationsbreite befunden hatte. Manche Ureinwohner waren so, und in Franks
Persönlichkeit lag etwas – eine Aufsässigkeit, die schmerzliche Unsicherheit kaschieren sollte –, das über alle Grenzen hinweg vorzukommen schien. An der Universität hatte Simon viele seinesgleichen gesehen; dieser Mann sah aus wie ein frischer Aussteiger, ein paar Jahre jünger als Simon, wenn solch ein Vergleich jemals irgend eine Bedeutung haben konnte. Jetzt hatte Franks Unsicherheit den höchsten Grad erreicht. Er war Zeuge von Katharines Worten gewesen, als sie im Gras an dem Zaun stand, und vielleicht hatten sie ihn erschüttert. Vielleicht erschütterte ihn auch, daß sie immer weiter in den Planetenschatten vordrangen – er folgte den Rücklichtern des Wagens vor ihnen. Seine eigenen Scheinwerfer gaben kaum Licht. Sie waren ein rudimentäres Stück Autodesign, nur bei Nebel oder Regen zu gebrauchen, und von äußerst niedriger Leistung. Es war das erste Mal, daß sie Simon erlaubt hatten, sich aufzusetzen, außerhalb des geschlossenen Laderaums zu fahren, und er fragte sich, ob auch das eine Folge von Katharines Ausbruch war. Vielleicht kam es ihnen jetzt wichtig vor, ihre beiden Geiseln getrennt zu halten. Vielleicht meinten sie – wer weiß? Aus welchem Grund auch immer, Simon spürte in seinem Fahrer eine Verletzlichkeit. Frank starrte durch die Windschutzscheibe voraus, murmelte vor sich hin, und die Kabine war erfüllt vom Gestank seines Schweißes. Ein Füller stak in der Brusttasche seines kurzärmeligen Hemdes. Sie holperten weiter in die Dämmerung, vorbei an verlassenen Farmen. Einmal fuhren sie durch ein kleines Dorf, dessen Türen in der Dunkelheit offen standen. Vor fünfundzwanzig Jahren hatten hier Menschen gelebt, doch jetzt reichte das Licht nicht mehr aus, um irgend etwas wachsen zu lassen. Der Schatten vom Terminator des Planeten kroch über die Felder.
»Wohin bringt ihr uns?« fragte Simon. Frank bewegte verzweifelt den Kopf. Verstehst du? sollte es bedeuten. Verstehst du? Die Dunkelheit ringsum wurde dichter, die Berge hatten den Rand der großen, matten Sonnenscheibe berührt. Vielleicht war es ihnen egal, was er erfuhr, vielleicht war es ihnen egal, ob er jetzt aus dem Fenster schaute, weil sie vorhatten, ihn zu töten. Vielleicht konnten sie jetzt mit ihm sprechen, weil es nichts zu bedeuten hatte. Er wollte nicht wissen, was sie ihm womöglich sagten, ohne daß es sie kümmerte. Seine Neugier hatte sich verflüchtigt. Sie befanden sich jetzt auf der Straße, einer der alten Dämonenstraßen, die geradewegs ins Dunkel führten. Er lehnte sich zurück, soweit seine Handschellen es erlaubten, und schloß die Augen; es war unerträglich. Hier in dieser neuen Welt war es unerträglich. An einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit hatte er Stunden und Tage damit zugebracht, seinen eigenen Tod anzustarren, verliebt in den Gedanken daran. Doch er hatte es verlernt – hier war es unerträglich, mehr als einen scheelen Blick darauf zu werfen, immer nur für ein paar Momente. Er öffnete die Augen wieder. »Habt ihr etwas von meiner Regierung gehört?« fragte er. Wieder jene flinke, abrupte Geste. Simon kannte die Antwort. Er wußte, daß Clare ihn aufgeben würde und damit recht hätte. Die Überzeugung, daß etwas Richtiges und Korrektes geschah, gab ihm Kraft; er starrte voraus in den Schatten, die alte steinerne Straße entlang. Frank schluckte, eine langsame Bewegung, die über die ganze Länge seiner Kehle zu laufen schien, bis sie unterm Hemd verschwand. Ein Plastikbehälter, aus dessen Verschluß ein Trinkhalm ragte, stand auf dem Sitz neben ihm. Er nahm ihn hoch und sog daran. Er war leer. Er ließ ihn zu Boden fallen. »Ihr habt einen Dämon hier?« fragte Simon.
Frank blickte ihn an. Er fuhr zu schnell über einen Riß in der Straße, und die Handschellen schnitten Simon in die Haut. Sie folgten einem weißen Lieferwagen; vielleicht waren die Dämonen dort drin. Wo war Katharine? Wie als Antwort griff Frank in seine Brusttasche und holte eine Tablette heraus, die er trocken zu schlucken versuchte. Sie blieb ihm im Halse stecken, und schließlich mußte er sie hinterkauen. »Was wird mit ihr geschehen?« fragte Simon. Frank schüttelte den Kopf. Doch sein Ausdruck deutete nicht auf Ärger oder Ungeduld hin – eher auf Resonanz. Er wußte es nicht. Mit seinen eigenen Medikamenten ging er jedenfalls keinerlei Risiko ein; er stieß mit dem Finger an seinen Gaumen, um festzustellen, ob ihm da noch Pulver entgangen war, das er herunterwürgen mußte. Sie folgten den Lichtern des Wagens vor ihnen und anderer Wagen vor diesem. Jetzt schienen sie heller, als die Welt flackernd erlosch. Die Sonne war ein Farbstreifen über den schwarzen Bergen hinter ihnen. Sie berührte die Gespenster von Bäumen nicht mehr, die Wände der verlassenen Gebäude, an denen sie vorbeifuhren. Sie hatte keine Wirkung mehr. Jetzt war es nur noch eine Verdichtung des Lichtes, eine Verdichtung des Schattens, und der Schatten würde dichter werden, bis er trübe war. Sie hielten an, um Benzin zu tanken. Ein Ureinwohner kam mit einem großen Kanister von einem der Lkws weiter vorn und füllte den Tank. Frank schaltete den Motor aus, stieg aus und blieb an der Kühlerhaube stehen. Simon ließ den Kopf nach vorn aufs Armaturenbrett sinken. Die Scheinwerfer waren jetzt abgeschaltet, und er schaute durch den oberen Teil der Windschutzscheibe nach oben. Keine Sterne. Der Wagen an der Spitze fuhr wieder weiter, seine Rücklichter flammten auf. Beim Zuschauen erhaschte Simon abermals einen Blick auf seinen eigenen Tod, und wieder
konnte er nicht hinsehen. Das Seitenfenster neben ihm stand einen Spalt offen, er wünschte, er könnte es schließen. Ein kalter Wind wehte aus Westen, von der Trennlinie her, vom Eispanzer auf der anderen Seite der Welt. Er hatte Hunger, war müde, durchfroren, verwirrt, und plötzlich konnte er nicht glauben, daß diese Karawane aus der Luft nicht zu sehen sein sollte. Oder vom Boden – die Bergbaustadt Ludlow war nicht weit entfernt. Er mußte glauben, daß die Polizei in Shreveport sie aufspüren konnte, wenn sie es versuchte. Aber vielleicht war es ihnen egal. Vielleicht lohnte es das Risiko nicht. Oder vielleicht war das alles Teil eines größeren, verborgenen Plans. Dem Konsul war so viel daran gelegen gewesen, Simon an seiner Statt zu Goldstone zu schicken. Frank stieg ein und ließ den Motor an. Die Tür stand noch offen, die Innenbeleuchtung ging an, und auf der Windschutzscheibe sah Simon im Spiegelbild des eigenen Gesichts das von Clare aufflackern, sein freudloses Lächeln. Oder vielleicht erhaschte er in dem fahlen Licht einen Blick auf die gemeinsame Struktur aller menschlichen Gesichter; er wandte den Blick zur Scheibe vor Frank und sah nichts, nur den Schatten einer Bewegung, als der Mann für einen letzten Zug eine Zigarette an die Lippen führte und dann den Stummel wegwarf. Er schloß die Tür. Das Licht ging aus.
2e: Katharine (II) Über einer Bergkette elfhundert Meilen westlich von Goldstone senkte sich die Dunkelheit herab. Zu unterschiedlichen Jahreszeiten rückte die Grenzlinie vor und wich zurück, entsprechend einer kleinen Exzentrizität in der Umlaufbahn der Welt. Doch es gab auch eine übergeordnete Bewegung, langsamer und unaufhaltsam. Der Schatten glitt
allmählich von Westen nach Osten, vielleicht eine Meile pro Jahr, und er hatte Dörfer und Farmen verschlungen. Das war die Folge der enorm langsamen Planetenrotation, eine Umdrehung in neunzehntausend Jahren, kaum wahrnehmbar, außer im Grenzland, wo die Sonne alle Tage glühend am Horizont stand und die toten Bäume lange Schatten warfen. In der Nähe von Ludlow weidete Vieh auf ehemaligen Weizenfeldern. Die Dämonenstraße folgte einem trockenen Flußbett und bog dann zu den Bergen ab. Katharine Styreme saß auf dem Vordersitz des weißen Lieferwagens. Von einer Stelle in der Nähe ihrer Füße zog frostige Luft herauf. Sie konnte das einschätzen, ohne es zu fühlen, denn ihre Haut war naß und heiß. In ihren Ohren stand ein fernes Klingeln. »Heilige Maria, Mutter Gottes«, betete sie. Sie bewegte die Lippen, doch kein Laut kam hervor. »Bitte für mich Sünderin jetzt und in der Stunde meines Todes.« Schritt für Schritt untersuchte sie ihre Symptome. Sie konnte nicht sagen, ob sie sich normal fühlte oder nicht. Sicherlich war es ihre konzentrierte Anspannung, die das unmöglich machte. Sicherlich war es unter diesen Umständen nicht allzu seltsam, sich fiebrig zu fühlen, ein fernes Geräusch tief innen im Ohr zu hören, wie die schwirrende Woge von Stille, die am Schluß eines Musikstücks kommt. Sie hatte den Tag über nichts gegessen, und im Innern fühlte sie sich schmierig und verknotet. Nur daß sie sich kleiner Empfindungen bewußt war. Der Sitzbezug unter ihren Beinen war aus zwei Arten Stoff hergestellt, von denen eine bei ihr einen Juckreiz erzeugte. Ringsum hörte sie eine Myriade kleiner Geräusche – das Rauschen des Windes und das Holpern von der Straße, doch auch ein halbes Dutzend verschiedene Motorgeräusche, manche andauernd, manche mit Lücken. Auch viel Knarren
und Rasseln aus dem Wageninnern. Insekten, die draußen im Gras pochten – war es normal, so viel zu hören? Oder konnte jemand, der sich konzentrierte, sie alle hören? Ihre Kehle war trocken. Die Sonne war hinter den Bergen versunken. Der Himmel über ihnen hatte sich mit einer Kruste überzogen. Er wirkte so fest wie das Dach einer Höhle, und er war von all den lädierten Farben des Sonnenuntergangs erhellt – trübem Purpurrot, Grau und schmutzigem Gelb. Wolken hingen herab wie Stalaktiten, feucht und fest. Sie spürte ein Jucken in der Nähe des Nabels, und sie fuhr sich mit den Fingern unter den Hosenbund, über die nackte Haut. »Ah, Gott«, hauchte sie und zog die Finger zurück. Sie sah sich auf der ersten Stufe einer Treppe, und die führte hinab in ein Universum, eine Hölle von neuen Empfindungen. Ein erster Schritt zur Strafe und Auflösung. Sie dachte an die Worte des heiligen Johannes Chrysostomos: »Dann wird es sein, daß unsere Augen geöffnet werden und der Schleier weggezogen wird.« Ein stechender Geruch stieg durch die Lüftungsklappe hoch. Sie lehnte den Hinterkopf an die Trennwand zurück und schloß die Augen. Eine Minute lang konzentrierte sie sich und lauschte den Klängen des Motors, dem Atem des Fahrers. Das Jucken hörte auf. Sie fuhren immer weiter ins Dunkel. Sie döste vor sich hin. Als sie die Augen wieder öffnete, war neben der Straße eine Wand, eine rohe Steinmauer. Und dann kamen sie unter einem Steintor hindurch, und das Geräusch der Räder klang auf dem neuen Pflaster anders. Was war das hinter ihrem Kopf? Sie hörte ein Pochen im geschlossenen Frachtraum des Lieferwagens. »Heilige Maria, Mutter Gottes«, betete sie. »Bitte für mich Sünderin.«
Sie bogen um eine Ecke, und der Boden fiel ab. Eine lange, gerade Straße führte hinab in ein von Bergen umringtes Tal, und am Grunde sah sie eine Ansammlung von Gebäuden. Licht drang aus den Fenstern und Türen einiger rechteckiger Steinbauten. Nie hatte etwas weniger einladend ausgesehen. Der Lieferwagen hielt auf der Kuppe der Anhöhe. Er fuhr an den Rand und ließ einige von den folgenden Wagen vorbei. Katharine wandte das Gesicht, um aus dem Seitenfenster zu schauen, und dabei lauschte sie dem Geräusch von der anderen Seite der provisorischen Trennwand.
2f: Dämonen (III) ICH UND ICH. IN MEINEM GEIST WEISS ICH. IN DIESER IHRER WUNDE WEISS ICH. JETZT DER DUNKLE TRAUM, DER AUS MIR HERAUSSTRÖMT. ICH BIN GESCHNITTEN, ABGESCHNITTEN, NIEDERGESCHNITTEN UND NICHTS NEIN.
KAPITEL DREI
3a: Vorletzter Rings um ihn erhoben sich in der Dunkelheit die zerfallenen Ruinen. In alter Zeit, ehe das Licht entflohen war, ehe die Menschen kamen, war dieses Tal eine Stadt gewesen. Jetzt lebten in den Gebäuden Sklaven, aufrührerische Sklaven, die das Gesetz gebrochen hatten, das Band zerrissen und die Welt hilflos gelassen. Er hinkte ein paar Schritte vorwärts. Angekettet stand er inmitten des Schutts im Freien, unter dem dunklen Himmel. Hier lag kaum noch ein Stein auf dem anderen. Hinter ihm der einzige noch intakte Teil des Gebäudes, der eine Raum, wo seine Schwester lag. Es war ein Zeichen, wie schwach er war, daß die Sklaven ihn hier unbeobachtet stehenlassen konnten; er schloß die Augen. Hauptsache, ihnen entkommen – ein winziges Zittern in seinem Geist, und er trat hinüber in die Totenwelt. Sklaven vermochten diesen Schritt nicht mehr zu tun, und Menschen hatten es nie vermocht, und nun war er allein in der toten Zeit mit dem Dach über seinem Kopf. Er spürte, wie ihn ein Schwindel ergriff, und er setzte sich auf die flachen Steine, die Arme um die Knie geschlungen. Nach einer Weile hob er den Kopf, und er saß in der großen Schule. Alles war in Dunkelheit gehüllt, doch im Geist, abgetrennt von der Wahrnehmung seiner Augen, sah er vage Formen und Bilder: eine Reihe Steinsitze entlang einer Wand. In der Mitte des Fußbodens das Podium mit dem Thron. Die kalte Tafel von Amat III. und ihr Sarkophag. Sein Vater hatte es ihm erzählt, hatte ihm den Weg gewiesen und es wirklich werden lassen,
und in der Erinnerung, die sein Vater mit ihm teilte, konnte er diese Halle in ein flackerndes Licht tauchen, eine flackernde Kerze hoch an die bemalten Friese halten, die an jeder Wand entlangliefen, an die langen Prozessionen von Porträts, die dahinschwindenden Farben. Er war in einen Mantel gekleidet, den Martin aus einer Decke angefertigt hatte. Es war ein langes, grobes Gewand, bequem nur dann, wenn er sich hinsetzte. Wie jetzt. Jetzt wurde es von der eigenen Steifheit von seiner Haut ferngehalten, und er konnte sich darin zusammenkuscheln, seine Arme aus den Ärmeln ziehen und sie um seine knochige Brust schlingen. AH, AH, dachte er, SO ZU LEBEN. ZURÜCKGEZERRT. Er stand auf und humpelte ins Freie. Seine Fußgelenke waren mit einer drei Fuß langen Kette verbunden. Seine Füße froren auf dem kalten Stein. Er humpelte die Sitzreihe entlang. Bilder erschienen ihm, Kombinationen aus den Erinnerungen seines Vaters und einem anderen Sinn, der nichts mit Sehen zu tun hatte. Das Sehvermögen taugte nichts in dieser urtümlichen Dunkelheit. Statt dessen lauschte er den Vibrationen seines Körpers. Da er keine Ohren hatte, kein Gehör, das ihn ablenken konnte, war er für diese Vibrationen überaus empfänglich, und er fühlte, wie sie durch seine Finger liefen, in seine Brust, seinen Bauch. Die Mischung dieser Bewegungen und die Schwankungen ihrer Intensität teilten ihm Ort, Masse und Geschwindigkeit aller Objekte ringsum mit, in gewissem Sinne sogar ihre Form. Formen tappten auf der Dunkelheit hervor. Er streckte seine lange Hand aus, um das Gesicht einer Statue anzufassen, und im letzten Moment, als seine Finger ihren kalten Schädel berührten, gesellte sich zu seiner Wahrnehmung plötzlich sein Tastsinn, dazu seines Vaters Erinnerung und auch sein Gesichtssinn. Denn nun, da er sich bewegt hatte, gab es wirklich einen winzigen Lichtschimmer in dieser dunklen
Halle. Er sickerte durch einen Spalt in einer entfernten Tür herab. Er wandte sich um und humpelte hin, und als er das tat, trat auch ein anderer Rhythmus in seinem Körper hervor, den er am Rande seines Bewußtseins stets wahrgenommen hatte, doch der jetzt an Intensität gewann, als er sich der Tür näherte. Ein rauher Rhythmus von Atem und einem schlagenden Herzen, unberechenbar in der Brust des einzigen anderes Wesens seinesgleichen, und er fühlte es in seinem eigenen Körper, als er zu diesem Licht hinan hinkte und dabei die Hände ausstreckte, um die Gesichter der Statuen zu berühren, denn er ging durch eine Doppelreihe von Statuen. Die Wände kamen auf ihn zu, und er bog um eine Ecke. Das Licht war hier stärker und direkter. Dies war die Halle der Geister, der Raum der Toten, und er humpelte zwischen den großen Sarkophagen entlang. Hier waren die großen Männer und Frauen seiner Rasse im Tode hingebettet worden, in Stein versiegelt. Das Licht von der fernen Türöffnung fiel spärlich über die langen Gestalten, und er konnte die Umrisse der auf die Seiten gemalten Todesszenen sehen. Szenen aus der Zeit der Invasion. Als die Mörder gekommen waren. Wie viele waren ihren Kugeln und ihren heimtückischen Krankheiten zum Opfer gefallen? Er kam am Grab von Amat II. vorüber und ließ die Finger über das gemalte Bild gleiten, wie sie Blut erbrach. Doch in gewissem Sinne war sogar das alles, diese Halle, die Könige und Königinnen, eine Schöpfung der Menschen gewesen. Ehe die Invasoren kamen, hatte sein Volk nicht so gebaut. Sie hatten es nicht gebraucht. Nein, sie hatten es von ihren Mördern entlehnt, und sie hatten sich verändert, und dann waren sie alle gestorben, und süße Dunkelheit hatte das Tal nach und nach erfüllt. Sie war süßes, schwarzes Wasser, das durch den Boden eines Bootes sickerte, bis es versank.
Das Licht war jetzt stärker, und er hatte die Tür erreicht. Licht drang durch den langen senkrechten Spalt neben dem steinernen Türrahmen; die Tür stand ein paar Zoll weit offen. Er legte die Hand auf die geschnitzte Holzoberfläche neben dem Riegel und bewunderte das Spiel des Lichts auf seinen bleichen Fingern, zögerte, ehe er die Tür aufdrückte. Dann legte er Kraft in seine Hand, einen langen, langsamen Druck, und dann flutete das Licht auf ihn ein, stach durch den weiter werdenden Spalt und tat den Augen weh. Es war, als leiste ihm das Licht Widerstand, und er drückte fester, bis die Tür schließlich nachgab, aufgestoßen, und er stand in der wirklichen Welt des Lichts. Jetzt spürte er im ganzen Körper den Herzschlag seiner Schwester und ihren Atem. Sie lag auf einem niedrigen Bett in dem kleinen Zimmer. Es gab hier auch Hitze, ausgestrahlt von einem zylindrischen Petroleumbrenner neben ihrem Kopf. Sie lag auf der Seite, um ihre Wunde gekrümmt. Während des Angriffs auf das weiße Haus hatte man ihr in den Magen geschossen, und nun schlief sie. Reverend Martin saß bei ihr. »Keine Veränderung«, signalisierte er mit seinen schwerfälligen Händen. Im Gegensatz dazu schienen die Hände des Dämons eine perfekte Ausdruckskraft zu haben, sogar für ihn selbst. Er konzentrierte sich auf die Bewegungen, die er machte. Er formte die Hitze und das Licht des kleinen Zimmers zwischen seinen Fingern und zeichnete Muster in die Luft, die sowohl über eine abstrakte Schönheit als auch über vielerlei Bedeutung verfügten Kleine, flatternde Bewegungen seiner Fingerspitzen bedeuteten: »Ah, ah, ich ertrage es nicht.« Eine Unterabteilung eines größeren Musters – er umschrieb mit der Handfläche eine Rundung. Das bedeutete: »Kann ich etwas tun?« Auch: »Was ist geschehen?« Auch: »Was wird aus mir?« Und gleichzeitig griff er mit seinem Geist aus nach
seiner Schwester, versuchte, einen Eingang in die Festung kraftlosen Schmerzes zu finden, die sie um sich errichtet hatte. ICH BIN HIER, sagte er zu ihr, doch es gab kein bestätigendes Zittern in der Luft, kein Mitschwingen in den Synapsen seines Hirns, keinen Hinweis, daß sie ihn vernahm oder verstand oder es auch nur wollte. Oder fast keinen. Denn er spürte sie noch innerhalb ihrer ungefügen Mauern, ihren Geist, der brannte wie eine weißglühend geschmolzene Flamme, immer intensiver im Zusammenziehen und Erschlaffen. Und es war, als sei da eine Gestalt im Herzen der Flamme, eine Feuerechse, die schrie: VERLASS MICH NICHT. Und auch: ICH MUSS GEHEN. »Ich sehen nicht mehr ich tun«, signalisierte Reverend Martin mit kurzen, abgehackten Gesten. »Wunde Infekt und kein hier. Kein Arznei. Ich falsch sein zu dir. Nicht sehr hoffen.« Er stand auf, so daß sich der Dämon hinsetzen konnte. Sie lag auf einem Strohbündel, das auf ein niedriges Steinsofa gelegt worden war. Der Dämon setzte sich darauf und streckte die Hand aus. Er schloß die Finger um ihre schmale Schulter, wo sie unter der Decke hervorragte. Er spürte, wie das Feuer unter ihrer Haut brannte. Er spürte ihre Wunde, den nagenden Schmerz tief in ihren Eingeweiden, wo die Schrotkugeln eingedrungen waren. Mit der anderen Hand machte er eine plötzliche Bewegung. »Kannst du sagen, warum das geschehen ist?« Reverend Martin zuckte die Achseln, eine Menschengeste, und der Dämon wandte sich zu ihm hin, um zu schauen. »Mann bei weiß Haus. Er Gewehr. Gewehr versteckt in Kleidung. Später wir ihn töten.« »Bitte, ich sagte warum. Ich meine warum.« Dann, nach einer kurzen Pause: »Ich war dabei.« Der Dämon, der nur die linke Hand zum Sprechen benutzte, konzentrierte sich auf einfache Bedeutungen. Seine Rechte, mit der er seine Gefühle hinzugesetzt hätte, seine
Vieldeutigkeit, lag still und empfänglich auf der Schulter seiner Schwester. ICH BIN HIER, sagte er, und dann lauschte er mit seiner Berührung. »Leider ich nicht sehen«, stammelte der Priester. Er sprach laut, mit großen, schweren Gesten, obwohl der Dämon in der Nähe war. »Frau Oimu Gatte Mann ist in Gefangener. Shreve Port. Er riesig stark. Regierung Kämpfer. Sie fangen Gefangener für tauschen. Zwei Gefangener. Auch Geld – sie wollen.« Die Geste war so grobschlächtig, so groß, daß der Dämon nicht hinzuschauen brauchte. Er spürte die Vibrationen in seinem Körper. Doch er blickte aufs Gesicht seiner Schwester, seiner älteren Schwester, und erinnerte sich an all die Male, da er es von Bedeutung erleuchtet gesehen hatte, von feinem Ausdruck, von dem Lachen, das immer unter ihrer Haut zu brennen schien, spöttisch, aber nicht grausam, eine deutlich zu unterscheidende Nuance von Weiß. Lachzorn hatte er es genannt. Manchmal hatte er es rings um sie brennen sehen, wenn sie auf ihn wütend war. Alles vorbei jetzt. Die Farbe war tiefes Rot. Tief hinab und trocken. Es hatte sich von ihrem Gesicht zurückgezogen. Sie lag zusammengekrümmt auf der Seite, mit Decken zugedeckt. Ihr Gesicht ruhte in der Armbeuge, und ihre Hände regten sich nicht. Ihre Augen waren manchmal geschlossen und manchmal offen, doch nie blickte sie ihn an. Er hörte der Bewegung von Reverend Martins Händen zu. Da er nicht hinsah, konnte er sie flüssiger machen. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich wußte nicht, daß es so sein würde. Es ist meine Schuld.« Es war Martin, der sie in der Höhle gefunden hatte, als ihre Mutter gestorben war. Er hatte für sie gesorgt, ihre Sprache erlernt. »Mach dir keinen Vorwurf«, sagte der Dämon. Er
bewegte die Füße, und die Kette zwischen seinen Knöcheln klirrte auf dem Fußboden. »Ich wußte nicht, daß das geschehen würde. Ich dachte nicht, daß sie euch benutzen würden.« »Mach dir keinen Vorwurf. Ohne dich wären wir gestorben. Wir wären verhungert.« »Sie haben mir versprochen, daß sie euch gut behandeln würden. Sonst hätte ich niemals…« Der Dämon hob drei Finger. »Sie hassen uns«, sagte er einfach. UND WIR HABEN KEINE MACHT ÜBER SIE, fügte er in Gedanken hinzu. »Ich dachte, es könnte ein echtes Bündnis sein«, fuhr Reverend Martin fort. »Ich dachte, es wäre eine gute Sache für die Welt. Ich dachte, sie würden euch lieben, wie ich euch liebe, wenn sie sich die Zeit nähmen.« Der Dämon ließ die Schulter seiner Schwester los, teils, um deutlicher zu sprechen, teils wegen der Wunde in seinem Bauch, wenn er sie berührte. Auf einmal war es unerträglich. »Haß vergeht nie«, sagte er. Und dann, da er es nicht aushielt, versuchte er sich auf andere Dinge zu konzentrieren. »Aber sag mir, was jetzt geschieht.« Er wandte sich wieder dem Priester zu und reduzierte damit abermals die Sprache des Mannes auf halbe Sprache. Reverend Martin, der den Kopf gesenkt hatte, hob ihn jetzt. »Ich nicht sehen«, sagte er. »Kein Plan sie. Nicht kämpfen. Menschen ist jetzt bereit. Zu stark. Wir fangen Gefangenen in Gold Stone. Weiblich Oimu wartet für Mann vielleicht hier. Warten auf Leute drehen. Herum drehen.« Was versuchte er zu sagen? Revolution vielleicht. »Und ich?« »Männlich Oimu Arzt was ich weiß.« »Er wird sie nicht anrühren.« »Nein. Ja. Er gut Mann. Er helfen Schwest kann sein.«
»Nein, wird er nicht.« Er wandte sich wieder ihr zu und zog die Decke um ihr Kinn hoch. Ihre Haut war bleich, und all die Sprechlinien rings um die Augen schwiegen jetzt. »Und ich?« sagte er, ohne den Blick zu wenden. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, was sie mit dir tun werden. Ich dachte, bei ihnen sei ein Platz für euch – sie haben es versprochen. Aber Dr. Oimu – sie haben Pläne. Vielleicht können sie ihr Leben retten.« »Sie haben keine Verwendung für uns.« Der Heizer brauchte mehr Petroleum. Die Flamme war im Begriff herunterzubrennen. Seine Schwester lag auf ihn zu gekrümmt. Nun bewegte sie ein kleines Stück, rutschte, zuckte, zuckte vor Schmerz, und er legte die Hand hin, um ihn zu teilen. Wieder berührte er sie an der bloßen Schulter. ICH BIN HIER, sagte er. Dann öffnete sie ihm ihren Geist, und er ging hinein, und es war, als trete er in einen heißen Sturm von Angst, und die Empfindung war so stark, daß sie seine Gedanken auslöschte.
3b: Fortschritt »Unsere Religion handelt vom Tod«, sagte Katharine Styreme. »Tod und Erlösung. Darum ist sie in Zeiten wie dieser so trostreich.« Sie lagen in einem Nest aus Decken in einem anderen kleinen steinernen Zimmer in der Nähe. Hinter dem Ort des ausgetilgten Dämonenpalastes waren zahlreiche Einraumgebäude in Vierergruppen angeordnet, von matschigen Wegen getrennt. Sie bestanden aus Stein mit Wellblechdächern, von denen viele eingestürzt waren. Doch etliche von den Gebäuden hatten noch Türen, die sich
verschließen ließen; Simon und Katharine lagen in einem davon. Eine Petroleumlampe auf dem Boden gab Licht. »Ich weiß, daß du von diesen Dingen weißt, aber es ist wichtig, daran zu glauben«, sagte sie. »Das Martyrium ist nicht die schlechteste Möglichkeit. Es ist die beste. Solange man an Jesus Christus glaubt. Viele von den wichtigsten Gestalten eurer Kirche waren Männer und Frauen, die ganz buchstäblich zu Tode gefoltert wurden.« Der Klang ihrer Stimme enthielt unter vielem anderen einen Bruchteil Befriedigung. Ihre Lippen schlossen sich über den Worten. Simon schüttelte den Kopf. »Bitte hör auf, davon zu reden«, sagte er. Sie sprach seit Stunden von nichts anderem. Doch auf sonderbare Weise: In ihren Worten lag Nachdruck, nicht aber in ihrer Stimme. Es war, als sei das, was sie sagte, so offensichtlich, daß es nicht einmal mehr von Interesse war. Oder als ob sie in Wirklichkeit an etwas anderes dächte. Vorher hatte sie zitiert – aus der Bibel, vermutete er –, Aufzählungen von Katastrophen und seltsamen apokalyptischen Bildern, aufgesagt in abwesender Monotonie. Irgendwie hatte die Stimme den Bildern mehr Kraft verliehen, als beschreibe sie etwas abstrakt Wahres. Etwas, das ihr vor langer Zeit widerfahren war. Er hatte geglaubt, es würde sie beruhigen, wenn er sie reden ließe, und vielleicht war es auch so. Doch nun jagten in seinen Gedanken Huren und Könige und siebenköpfige Tiere einander über eine graue, sturmzerfurchte Landschaft. Er hatte nie jemanden von diesen Dingen sprechen hören. Es gab nur noch sehr wenige Christen in Golders Green, in London. »Hast du den Teufel gesehen?« fragte sie unvermittelt. »Was?« »Den Dämon auf dem Bild – hast du ihn gesehen? Sie haben ihn hier.« Ihre Stimme hatte ein neues Tempo gewonnen, eine Schärfe.
»Es ist kein Dämon«, sagte er mit schwankender Stimme. »Man nennt sie nur so. Es ist eine andere Rasse von Ureinwohnern, wie ihr. Eine Person.« »Du weißt gar nichts darüber. Sie haben uns weh getan, und sie haben uns zu Sklaven gemacht.« »Das war vor langer Zeit.« »Das spielt keine Rolle. Die Welt hat eine dunkle Hälfte und eine helle, und sie sind von der dunklen. Sie sind Satans Geschöpfe, und sie haben uns mit unseren Sünden beherrscht, bis ihr kamt.« Er setzte sich auf, um sie anzusehen. Sie war wieder in ihre unbarmherzige Monotonie verfallen, doch sie zitterte. Sie lag auf der Seite. Ihre Augen waren offen, und sie starrte in die Flamme der Lampe. »Ihr habt die Kunde von Jesus Christus gebracht«, sagte sie. Er hob das Gesicht und blickte in die Ecken des Raumes. »Möglich«, sagte er. »Aber es waren die Drogen, die es geschafft haben. Barivase 9-12, und dann die übrigen.« Ihr Atem ging langsam und sacht. »Vielleicht«, wisperte sie, »vielleicht genügt, wenn man keine Drogen hat, der Glaube allein.« Er ließ den Kopf sinken, um sie anzuschauen: ihre stolze Nase, ihr schmutziges Haar. »Entschuldige«, sagte er. Ihre Pupille hatte sich im Licht verengt. Ihr goldenes Auge, übernatürlich voll, übernatürlich klar, glänzte von der Flamme der Lampe. Ihre schönen langen Wimpern, auch sie golden, schienen kleine Teile des Lichts einzufangen. Aus dieser Entfernung sah Simon, wenn sie zwinkerte, den kleinen Einschnitt an ihrem Lid, wo es eingesetzt worden war. »Sie waren voller Sünde«, sagte sie. »Alle haben das gesagt. Sie trieben Unzucht und gingen nackt und begingen Blutschande. Sie verletzten jedes Gebot. Sie lebten für ihre
Empfindungen – alle haben das gesagt. Ihre Empfindungen waren… kraß.« Das Licht vergoldete auch ihre Haut – ein reicher, goldbrauner Ton. Sie hatte den Ärmel ihres Sweatshirts hochgezogen, und er sah die Haare auf ihren goldenen Armen, jedes einzelne sorgfältig eingepflanzt. Sie hatte aufgehört zu zittern. Sie lag still; jetzt drehte sie sich auf den Bauch. Er sah, wie unter dem Hemd ihre Brüste zurechtrutschten. Sie schloß die Augen, öffnete sie dann. »Ich bete, daß mein Vater in Sicherheit ist«, sagte sie. Und dann: »Erzähl mir von London.« In seinen Gedanken konnte ein Bild von Goldstone Lodge kaum Gestalt annehmen, ehe es von der Kuppel von St Paul’s verdrängt wurde. Mit jedem Bild stellten sich Gefühle ein: Angst und Bedauern und unbestimmte Schuld wichen einer gewissen gnädigen Nostalgie. »London ist eine schöne Stadt«, sagte er nachdenklich. »Es sind noch viele schöne Gebäude aus alter Zeit übrig. Es liegt an der Küste, an der Mündung eines Flusses namens Themse, und es gibt viele Brücken. Sie haben einen Zoo und einen botanischen Garten, und Theater im West End.« »Ist es sehr groß?« »Ja, es ist sehr groß. Fast eine Million Menschen aus aller Welt. Sie haben dort eine Menge Dinge, die man andernorts kaum findet. Es gibt eine Universität mit englischer Sprache, und sie ist gut. Altmodisch.« »Wie hier.« »Nicht wie hier.« Sie lag da und starrte in die Flamme. »Ich kann mir die alten Gebäude vorstellen«, sagte sie. »Ich würde gern hinfliegen. Weißt du, ich habe Filme und Fotos gesehen, und es sieht so schön aus. So grün.«
Simon drehte sich auf den Rücken. Er faltete die Hände unterm Kopf. »Es ist nicht wie hier. Nicht mehr. Vor zweihundert Jahren war es vielleicht so. Vor dreihundert Jahren: wie ein Garten. Jetzt ist es eher eine Wüste.« Sie sagte: »Ich habe Dias von allen Konzerthäusern. La Scala und das Salle Playel. Es wäre so wundervoll, einfach nur dort zu sein, einfach drinnen. Westminster Abbey – warst du da?« »Ja.« »Der Tower von London und der Louvre. Und Notre Dame. Einfach nur die Orte sehen, wo die großen Ereignisse der Geschichte stattgefunden haben. Wo die großen Männer und Frauen unserer Geschichte wirklich gestanden, wirklich gelebt haben. Die Bühne, wo Sarah Bernhardt Hamlet gespielt hat.« »Sei nicht enttäuscht.« Simon schaute zur schwarzen, kalten Decke hoch. »Es ist noch da, aber es ist anders. Die Leute sind arm. Sie sterben jung, vor allem die Frauen. Niemand lebt lange genug, um etwas zustande zu bringen. Die meisten aus meinem ersten Kreis -weißt du, was ihr meine Eltern nennen würdet – waren an Krebs gestorben, als ich fünf Jahre alt war. Meine kleine Schwester, sie ist auch gestorben.« »Krebs. Aber ich habe jetzt Krebs. Ich spüre es in der Brust – gerade nur die Anfänge. Aber das ist es wert, weißt du. Es ist es wert, dazuzugehören.« »Die Leute dort sind arm«, wiederholte Simon mit seiner eigenen Monotonie. Das war seine Bibel. »Du verstehst das nicht. All die Dinge, die ihr hier für selbstverständlich haltet. Heißes Wasser. Gutes Essen. Hübsche Kleidung. Freizeit. Etwas anderes als Sojabohnenpaste zu essen. Einen eigenen Wagen zu fahren. An einem schönen Tag im Freien zu stehen und in die Sonne zu blicken, ohne die Schutzbrille aufzuhaben. Dort gibt es seit langem nichts von alledem. Nicht für die Allgemeinheit. Ich
sage dir, als ich hier eintraf, glaubte ich, ich sei gestorben und in den Himmel gekommen.« Da schaute sie ihn an, ein rauher, fester Blick. »Ist es das, was für dich Himmel bedeutet? Heißes Wasser? Nein – Gottes Haus ist auf der Erde. Er hat sie in sieben Tagen erschaffen. Dieser Ort – hier ist Er niemals gewesen.« Sie legte die Wange wieder auf die Decke. »Es war schön«, sagte Simon. »Aber sie haben es aufgebraucht, und jetzt ist es weg. Jedermann erwartete, daß eine neue Idee an die Stelle all dessen treten würde, was sie verschwendeten. Aber niemandem ist etwas eingefallen.« Mit dem Zeigefinger malte sie neben ihrem Auge ein Muster auf die Decke. »Jemand hatte eine neue Idee«, sagte sie nach einer Weile. »Darum seid ihr hier.« »Natürlich. Ich sage nicht, daß es keinen Fortschritt gibt. Das Verkehrswesen und das Raumfahrtprogramm, sie mußten ihnen höchste Priorität geben. Früher zumindest.«
3c: Katharine (III) Später schlief er ein. Sie lag neben ihm und spürte seine Nähe. Seinen Geruch. Seinen Atem. Das Geräusch seiner kleinsten Bewegungen. »Mutter Gottes«, betete sie. »Heil’ge Jungfrau, steh mir bei. Daß ich nicht verloren sei… o Gott.« – denn jetzt fühlte sie es. Sie fühlte das Prickeln ihrer Haut. Wie lange wartete sie schon – fünf Tage? Länger? Wartete, daß es anfing, und jetzt fing es an. Jetzt hatten sich der Schock, die Not, die Macht der Vorahnung alle erledigt. Sie konnten nicht die Erklärung für dieses Prickeln ihrer Haut sein, für dieses Verlangen nach Berührung. Nichts konnte dafür eine Erklärung sein.
Sie hatte die Sonate gespielt. Sie hatte den ersten Satz gespielt und die Stelle erreicht, wo sich das Kind in Marias Schoß regte. Und als sie sie die Treppe zum Wagen hinabzerrten, hatte sie die roten Flammen emporschlagen sehen. Wo war ihr Vater jetzt? Aber vielleicht könnte er sie schon nicht mehr wiedererkennen. Sie konnte sich selbst nicht wiedererkennen. Früher hatten sie ihr kalte Hamburger zu essen gegeben und sie zur Latrine hinausgeführt. Jetzt lag sie auf dem Rücken und hob die Füße vom Boden ab. Ihr Mastdarm fühlte sich an, als ob eine eingefettete heiße Flasche in ihre Eingeweide geschoben würde. Ihre Brustwarzen waren hart. Ihr Mund füllte sich mit Speichel, so daß sie ihn immer wieder hinunterschlucken mußte; neben ihrem Kopf war die Decke naß davon. »Heil’ge Mutter, gieß den Schmerz«, flüsterte sie, »jeder Wunde in mein Herz.« Tränen rannen ihr aus den Augen, Speichel von den Lippen. Sie drehte sich herum, zurück zur Petroleumlampe, und betrachtete die komplizierten Lichtornamente, die von der Flamme ausgingen. Sie warfen ihr Muster an die Wand: dünne Linien von Licht, und wenn sie genau hinschaute, sah sie, wie es sich in die Spektralfarben aufspaltete. Plötzlich nahm sie die Zunge in ihrem Munde wahr, ein Bündel Muskeln, das sich ständig bewegte, bewegte. Sie spürte, wie ihr der Schweiß den Brustkasten hinabrann. Das Zimmer war kalt, und sie brannte; sie warf die Decke beiseite, die ihr auf der Haut kratzte. Jedesmal beim Ausatmen sah sie Kristalle im Nebel ihres Atems. Simon Mayaram lag neben ihr und schlief. Er war ganz nahe, und ein großer Teil seines Körpers war jetzt unbedeckt. Sie richtete sich auf einen Ellbogen auf und musterte ihn, besonders die Vorderseite seiner schmutzigen Hosen. »Ah, Gott«, sagte sie und hielt sich die Ohren zu, als ihr bewußt wurde, daß dieses Geräusch, das unerträglich und
bedrohlich wie eine Auseinandersetzung wilder Tiere wirkte, Simons leichtes Schnarchen war. Sie kannte das Geräusch. Sie hatte es in den letzten Tagen und Nächten mehrmals gehört. Doch warum dröhnte es ihr jetzt in den Ohren, warum zitterte sie, warum spreizte sie die Knie und stemmte sie gegen den Boden? Sie zog die Decke über Simon hoch und rückte sie an seinem Kopf zurecht. Dann legte sie sich wieder auf die Seite. Sie steckte die Hände zwischen die Beine und preßte die Schenkel zusammen. »Red mit mir«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Red mit mir«, sagte sie lauter und hörte zu, wie das Grummeln seiner Schnarchlaute plötzlich aufhörte. Und es war, als habe er aufgehört zu atmen; sie hörte nichts von ihm, überhaupt nichts, einen Moment nach dem anderen – stimmte etwas nicht mit ihrem Zeitgefühl? Dennoch wollte sie ihn nicht berühren; wie peinlich war es schon, daß er hier war mit seinen aufdringlichen männlichen Geräuschen, seinen aufdringlichen Gerüchen. Wie unangenehm, daß er bei ihr lag und sich zweifellos Intimitäten einbildete, die es nicht gab, nicht geben konnte. »Ah, Heilige Mutter, beschütze mich«, murmelte sie und preßte die Schenkel gegen ihre Hände. Und doch brauchte sie ihn. Allein, ohne ihn, würde sie den Verstand verlieren. Sie stünde dem Dämon nackt gegenüber, und was war schlimmer? Ja, sie würde ihn berühren, sie würde ihn wecken, sie würde ihn zum Atmen bringen. Sie würde nicht allein sein; sie ertrug es nicht. Sie würde nicht allein in der Finsternis liegen und diese allmählichen Veränderungen registrieren. Sie würde nicht mit Brennen und Jucken in der Finsternis liegen und sich fragen, ob seine Träume ihn hatten steif werden lassen. Warum war er so still? Sie streckte die Hand aus, um ihn zu berühren, um ihn an der Schulter zu rütteln, und sie würde ihn kräftig rütteln, gewaltsam, damit er keinen Fehler machte. Es
nicht mit Zärtlichkeit verwechselte. Sie ergriff seine Schulter und hörte ihn lange, glucksend seufzen. Sie hielt ihn an der Schulter und spürte mit unerträglicher Deutlichkeit die Textur seines Hemdes, den Muskelballen darunter. Unerträglich – sie rüttelte ihn wach, zog die Hand zurück, hörte befriedigt, wie er nach Luft schnappte, sah befriedigt zu, wie er sich aus dem Schlaf hochrappelte, schluckte, grunzte und sich aufsetzte. »OTOT pißsteif«, sagte er. Dann schluckte er, schüttelte den Kopf. »Was ist los?« »Du hast mich gestört. Dein Schnarchen.« »Oh.« Er legte sich wieder in das Nest von Decken. Sie drehte sich auf die Seite, von ihm abgewandt, die Knie an die Brust gezogen, und er legte sich neben ihr hin, auch auf der Seite. »Rühr mich nicht an«, flüsterte sie, doch er grunzte nur und lag still. »Wie war es, als du hergekommen bist?« Einen Augenblick lang befürchtete sie, er sei wieder eingeschlafen. Doch dann begann er zu reden, langsam und leise. Sie hörte den Schlaf in seiner Stimme. Normalerweise präzise und deutlich, waren seine Worte jetzt verschliffen, von Erschöpfung verzerrt. Worte und Sätze waren auf sonderbare Weise unterteilt; manchmal liefen sie ineinander, manchmal lagen lange Pausen dazwischen, die sich nicht aus dem Sinn ergaben. Und es war, als hörte sie ihm mit gespaltenem Gehirn zu, und mit einer Hälfte nahm sie die Bedeutung wahr und ließ die Worte Bilder in die Luft zeichnen. Mit der anderen hörte sie auf den Klang der Worte, und sie war auf neue Weise dafür empfänglich, für die verknoteten Konsonanten, die schlüpfrigen Vokale. Mehr noch: Es war, als läge in jedem Wort ein anderer Sinn, der sich aus der Bedeutung des Klanges
selbst ergab. In jedem Satz steckte ein anderer Satz, denn jeder Klang, ob rauh oder glatt, weich oder feucht, schien in sich eine kleine Konsequenz an Gefühl zu tragen. Und während er sprach, fühlte sie mit dem halben Verstand, wie sie in einer chaotischen Landschaft von Wörtern umherwanderte, und jedes folgende Wort war auf seine Art so komplex, erforderte eine eigene Antwort, wie eine eigenständige Naturerscheinung. »An das meiste davon erinnere ich mich nicht«, sagte er mit verschliffenen Tönen, so daß ›das meiste davon‹ wie eine dunkle Linie ferner Berge war, die in sich die Möglichkeit, die Vorahnung hübscher Täler wie auch schroffer Gipfel barg. Das ›ich‹ war ein riesiger Baum, der vor ihr aus dem Boden hervorbrach und Schutz über dem Kopf zu versprechen schien, denn der Himmel war veränderlich. Das ›nicht‹ war wie ein kleiner, nasser Haufen von Dosen oder Flaschen, Müll am Wegesrand. Denn jedenfalls gab es einen Weg, der aus der Richtung seiner Sätze bestand, und manchmal krümmte er sich in sich selbst zurück, und manchmal verlor sie ihn ganz. »An das meiste davon erinnere ich mich nicht. Es ist etwas Seltenes, weißt du. Diese Art Reisen. Denn man ist über vierzig Jahre unterwegs. Niemand will die Reise machen«, sagte er. »Weil man alles aufgeben muß. Als ob man stirbt. Man läßt alles hinter sich, für immer«, sagte er, und das ›läßt‹ war wie eine dicht belaubte Hecke, die neben der Straße entlanglief, und ›alles ‹ hockte dahinter, ein verstohlenes wildes Tier, das auf ewig da war, auf ewig verborgen. »Wofür? Einen Ort, wo sie eine tote Sprache sprechen. Ich habe sie gelernt. Große Worte, jedes einzelne mit seiner Bedeutung. Nicht wie daheim. In Golders Green ist die Sprache disponibel. Etwas, das wegzuwerfen wir uns leisten konnten.
Und wir haben Fortschritte gemacht. Wir sind vorangegangen. Vielleicht darum. Freiheit. Disponibles Denken. Die wenigsten wollen das aufgeben. Nicht für diesen Kram. Nicht, um zurückzugehen. Nicht in ein zwanzigstes Jahrhundert, das es nie gegeben hat. Diese Welt ruinieren, wie die unsere ruiniert worden ist.« Der Weg hatte sich zu einer Straße verbreitert, während er sprach, und sie war voller lautloser Autos mit zurückgeklapptem Verdeck, und jedes enthielt eine Familie, die lächelte, lachte. Und sie fuhren eine gerade Straße entlang, auf die untergehende Sonne zu, und vielleicht gab es auf der langen Fahrt Schwierigkeiten, die eine allmähliche Veränderung ihrer Gesichter bewirkten. Streit brach aus, und es gab finstere Mienen und lange Gesichter, als die Geräte sich leerende Tanks anzeigten. Auf der Fahrt warfen die Leute Abfall aus ihren Wagen: zerknitterte Zeitungen und Zigarettenschachteln, sogar Glasflaschen, die auf dem betonierten Randstreifen zerschellten. Und mit bedrohlicher Geschwindigkeit wurde es dunkel, denn Simon schwieg nun, und Katharine fürchtete, er sei wieder eingeschlafen. »Und du?« fragte sie. Ihre eigenen Worte trugen keine Bedeutung. »Außerdem ist es schwierig. Beängstigend. Menschen sind dabei umgekommen. Die Schiffe sind nicht für Passagiere gemacht. Nicht für Menschen. Schneller als Licht. Sie bringen einen um, und dann erwecken sie einen wieder. Man ist an einem Ort. Dunkel und klein. Ein Sarg. Nichts – wer würde das schon wollen? Man muß verrückt sein.« Er machte eine lange Pause, dann fuhr er fort. »Ich war bei Ärzten gewesen. Das übliche. Zweimal vorher hatte ich versucht, mich zu verletzen. Als ich im Amt für Fremdsprachen arbeitete.
Sie wollten jemanden herschicken. Es gab eine wissenschaftliche Expedition. Also kam ich. Ich bin Linguist«, sagte er, und sogar mit geschlossenen Augen sah sie seine leuchtende Zunge. »Ich wollte die Entdeckung sehen. Homo coelestis, ehe sie alle verschwunden waren. Ein langer, dunkler, stiller Ort. Es war ein Tod. Vielleicht etwas am Ende davon. Der Himmel vielleicht. Die Hölle.« »Wie hast du…?« fragte sie. Die Worte waren leere Hülsen, die vom wolkenlosen Himmel fielen, sich ruckweise herabsenkten, im selben Rhythmus wie ihr Körper, denn sie ließ jetzt sacht die Schultern rucken, die Hand zwischen ihre Beine gepreßt. »Mich verletzt? Einmal bin ich allein nach Silver Flat gegangen. An dem Ort hatte es früher einen Unfall gegeben. Ich bin über den Drahtzaun geklettert. Einmal«, sagte er, »habe ich mich geschnitten.« Wieder war der Baum da. Doch jetzt war er anders: Noch stand er aufrecht, doch seine Rinde war verletzt, und Saft troff hervor. Und er stand in einem Tümpel, einem flachen, klaren Tümpel wie ein Spiegel. Und die Straße schien dort aufzuhören, schien an dem runden Ufer ein Ende zu finden, angehalten vielleicht vom Klange ›t‹ in dem Wort ›geschnitten‹. Es schien kein Weg voran zu führen. Sie stand am Ufer des kleinen Tümpels, schaute hinab auf seine spiegelnde Oberfläche und bewunderte den Anblick des schwarzen Baums mit der verwundeten Rinde, die kahlen Äste und Zweige beschwörend gegen den grauen Himmel gereckt. Und als er wieder zu schnarchen begann, war es ein Murmeln in den Wolken.
3d: Kontakt im Fleische Sie lag auf der Seite auf der Steinplatte, in die Krümmung seines Körpers gekuschelt, den langen Rücken gegen seinen Brustkorb gepreßt. Reverend Martin hatte den Heizer hochgedreht, ehe er ging. Es war heiß in dem kleinen Raum. Der Dämon hatte den Verband auf ihrem Magen gewechselt. Er konnte ihr das Hemd nicht mehr ausziehen, ohne ihr weh zu tun. Also hatte er es in Streifen gerissen, und nun lag er bei ihr unter den groben Decken, hielt sie fest, spürte ihre nasse Haut an seiner. Er versuchte, sie von Bewegungen abzuhalten. Selbst die kleinste Bewegung erfüllte sie mit stechenden, ruckartigen Schmerzen, und er nahm sie wahr. Manchmal zuckte ihr Körper unkontrolliert und krampfte sich zusammen; er hielt sie fest, damit es aufhörte, und um die Kaskade nackter und halluzinatorischer Bilder zu fühlen, die aus ihrem Fleisch und in seins strömte. Sie war im Begriff, ihn zu verlassen. Ihre Haut brannte an seiner. Von Schmerz, Fieberwahn, Wut verzerrt, entrangen sich ihr die Bilder mit unerträglicher und ständig wachsender Geschwindigkeit – ihre Erinnerungen und seine, denn seit seiner Geburt hatten sie kaum eine Stunde getrennt verbracht. Neue Erinnerungen bewohnten seinen Körper, unerträglich deutlich, und er spürte in sich einen zerrenden Schmerz, als alte Bilder aus seiner Vergangenheit sich verzogen, um den neuen zu entsprechen. Er sah die Stufen des weißen Hauses und was dort geschehen war – ein Chaos ohne Ursache und Wirkung in seinem eigenen Gedächtnis –, auf einmal neu und unvermittelt klar. Er sah, wie seine Schwester ihn zu Boden zog, sah, wie sie das Gewehr in der Hand des dicken Mannes auf der Treppe begriff, sah, wie sie ihn zu Boden zog und selbst den Schuß empfing. Und es dann bereute.
KLEINES DING, wütete sie. KLEINES DING (und das war es, wie sie ihn immer genannt hatte) – KLEINES DING (der Gedanke, der seinen Körper jetzt wie Schrot traf) – AH KLEINES ELENDES DING DU SCHULDEST MIR DEIN LEBEN. DEIN KLEINES LEBEN ICH HABE DEIN KLEINES LEBEN GERETTET. Sie war seine Schwester, seine Beschützerin. In den tiefsten Tiefen seines Geistes dachte er so von ihr. Die tiefste Bibliothek seines Geistes enthielt Bücher voller Bilder, und sie war in ihnen allen. Doch nun fand er sich von neuen Bildern bedrängt, neuen Erinnerungen, die auf seine eigenen gepreßt wurden. Kraftvoll, in leuchtenden Farben, unwiderstehlich und erbarmungslos – die Höhle, in der sie gelebt hatten, im Dunkeln. Die Höhle mit dem kleinen Eingang, die immer tiefer führte. Das weiche Bett, wo sie alle schliefen. Als ihre Mutter nicht gekommen war, war sie hinausgegangen, um sie zu suchen. Er hatte gewartet, zitternd vor Angst. Doch nun sah er sie in den schwarzen Felsen über den Körper ihrer Mutter gekauert. Über den enthaupteten Körper. Fuhr mit ihrer Hand über die Schußwunde in der Brust ihrer Mutter. Die Rückseite ihrer Rippen, in der großen Wunde sichtbar. Der durchgehauene Hals. Zurück in Richtung der Höhle blicken und denken: AH KLEINES DING, ICH WERDE DICH JETZT VERLASSEN. BESSER, DICH HUNGERN zu LASSEN. Über eine weite Strecke war sie die Felsen entlang geirrt. Dann war sie zurückgegangen. Jetzt bereute sie es. Hier, jetzt, in seinen Armen. Sie hätte gehen sollen. Sie hätte weglaufen sollen. Und doch hatte sie… AH AH AH ICH HABE DICH GENOMMEN KLEINES DING. ALLEIN UND ICH WAR GANZ UND STARK. DU BIST DAS KLEINE DING, DAS MICH ZERBROCHEN HAT. Er fühlte ihr Herz in seinem Körper schlagen. Und noch einen anderen Druck. Reverend Martin war hier. Er war durch
die Tür gekommen. Jetzt stand er in der kleinen Kammer, halb ab gewandt. Er beugte sich hinab, um den Ofen nachzustellen. ICH HÄTTE DEN PRIESTER TÖTEN SOLLEN – der Dämon löste sich, setzte sich auf. Der Kontakt war unterbrochen. Einen Augenblick lang saß er still, schweigend, dann hob er die Hände. »Was?« »Nichts.« Der Priester machte sich an dem Gerät zu schaffen und richtete sich dann auf. Seine ungelenken, grobschlächtigen Gesten. »Kein Ding. Warten.« »Sie stirbt.« »Wir warten hoffen. Wir warten Brief Theodore Oimu. Er kommen. Nicht kommen schlecht. Doktor und dick Mann. Ich weiß helfen ist nur helfen.« Er ging ein paar Schritte durch die Kammer. »Warten jetzt. Kissen.« Der Dämon setzte sich auf, aus dem Bett heraus. Die Kette schwang zum Boden hinab und tat seinen Gelenken weh. Der Kontakt war unterbrochen. Er lehnte sich zurück gegen die Steinmauer und schloß die Augen. Auf diese Weise schloß er alles außer seinen Empfindungen aus. Sie jagten und huschten über seinen Körper ohne Deutlichkeit oder Sprache.
3e: Theodore Oimu stirbt im Gefängnis von Shreveport Nur ein paar Augenblicke schienen vergangen zu sein, seit er eingeschlafen war, und dann weckten sie ihn. Sie weckten ihn, indem sie in der Nähe seines Auges ein Streichholz anzündeten. Dr. med. Theodore Oimu, Sprecher seiner Rasse, sechsfacher Gewinner des vom Gouverneur verliehenen Preises für Soziale Tüchtigkeit, vormals Mitglied des Lehrkörpers am Custis Medical College, prominenter Erfinder und Genetik-Dozent,
Gründer der National Liberation Coalition, lag in voller Kleidung auf der Pritsche seiner Zelle im Gefängnis von Shreveport. Er lag in dem fensterlosen schwarzen Raum auf der Seite, den großen Kopf auf den Arm gebettet, und als er erwachte, blinzelte er und kniff die Augen vor dem Licht zusammen, das so nahe an seinem Gesicht flackerte. Er roch es, spürte die kleine Hitze. Und sofort wußte er, daß er in Schwierigkeiten war. Er langte nach seiner Brille auf dem Nachttisch. Sie war nicht da. Im Gefängnis ist jede Unterbrechung der Routine ein Grund zur Angst. In den letzten paar Monaten war er oft verhört worden. Letzte Woche täglich, manchmal zweimal täglich – lange Sitzungen, in denen er verschiedene Dinge gestanden hatte. Doch diese Verhöre hatten an anderen Orten des großen Gebäudes stattgefunden. Die Wachleute waren tagsüber gekommen, und sie hatten an die Tür geklopft. Die Flamme erlosch, und es war wieder dunkel. Oimu hörte ein Kratzen, und dann tauchte die Flamme weiter weg wieder auf. Jemand beschirmte sie mit den Händen und brachte sie dann wieder nahe an sein Gesicht. Doch in der Zwischenzeit gelang es Oimu, über das Licht hinaus zu schauen, in die Augen des Mannes, der es hielt. Der Mann hockte neben der Pritsche am Boden. Er war in Schwarz gekleidet. Er hatte eine rote Armbinde mit einem rohen Symbol darauf. Er trug eine Maske, ein weißes Stück Stoff, das um seine obere Gesichtshälfte geknotet war. Grobe Augenlöcher waren hineingeschnitten. Oimu ächzte und drehte sich auf den Rücken. Zuvor hatten seine Wächter immer blaue Uniformen oder sonst die Abzeichen der Polizei von Shreveport getragen. Das war etwas Neues, und er hatte davon gehört. Jonathan Goldstones Bruderschaft des Menschen.
Seine Zellentür öffnete sich einen Spaltbreit, und gegen das Licht im Korridor sah er zwei weitere Männer in den Raum schlüpfen, beide in Schwarz gekleidet, beide maskiert. Der zweite schloß die Tür wieder, und als das zweite Streichholz abgebrannt, war es dunkel. Einer von den Neuankömmlingen schaltete eine Bleistiftlampe an. »Hier«, sagte er, und Oimu erkannte die Stimme, denn er hatte ein umfassendes Gedächtnis und ein scharfes Gehör. Er kannte sie und konnte sie doch nicht identifizieren. Der zweite Mann kam heran und hielt die Lampe vor sich. Der erste, der noch immer am Boden hockte, nahm sie. Er richtete sie auf Oimu. Der Doktor lag auf dem Rücken und spürte, wie der Lichtschein über sein Gesicht glitt. In dem dunklen Raum erinnerte ihn das an eine Untersuchung beim Augenarzt. »Aufwachen«, sagte der erste Mann überflüssigerweise. Wieder erkannte Oimu die Stimme. Wieder konnte er sie nicht einordnen. »Wer sind Sie?« fragte er. »Das spielt keine Rolle«, sagte die Stimme. »Nur ein pflichtbewußter Bürger. Nur ein pflichtbewußter menschlicher Bürger.« Oimu zuckte zurück und hob die Hand, um die Augen abzuschirmen. »Leuchten Sie mir bitte nicht in die Augen«, sagte er. »Was wollen Sie?« »Nur eine Information.« »Aber ich habe Ihnen alles gesagt. Bitte…« Er versuchte, sich mit dem Ellbogen aufzustützen, und hielt dabei die Handfläche gegen das Licht. Doch der Mann packte ihn an der Kehle. Ohne sich zu erheben, ohne die Lampe zu bewegen, die er feinfühlig in der Linken hielt, streckte der Mann die Hand
aus, packte ihn an der Kehle und drückte zu. Seine Hand war sehr groß, sehr stark. »Laß den Mist«, sagte er. »Verscheißer du uns nicht. Wir sind nicht die Polizei. Nicht die beschissenen Kollaborateure von der Polizei. Wir sind“ nicht auf deiner Seite«, versicherte er. Unvermittelt machte Oimus Armbanduhr ein klingelndes Geräusch. Der Mann atmete kräftig aus. Es war ein weicher, stechender Lufthauch gegen Oimus Gesicht, und dann ließ der Mann ihn los. »Zeit, daß du deine Pille nimmst.« Oimu setzte sich auf. Der Mann blieb, wo er war, den Kopf auf Höhe von Oimus Hand, als der automatisch nach der Tablettenschachtel auf dem Tisch griff. Daß sein Kopf sich niedriger als der von Oimu befand, machte ihn eher noch bedrohlicher. »Wo ist meine Brille?« fragte Oimu. »Kann ich ein Glas Wasser haben?« Er schluckte seine Tablette trocken hinunter. Der Mann unter ihm gab die Hockstellung auf. Er setzte sich auf den Boden, die Knie hochgezogen. Ein breiter, bloßer Unterarm lag auf seinem Knie, und mit der anderen Hand hielt er die Lampe hoch, auf Oimus Gesicht gerichtet. »Hier gibt’s so ‘ne Art Unterschied«, sagte er im Gesprächston. »Du kennst uns einfache Leute. Wir sind nicht reich.« »Bitte. Kann ich Mr. Isobel sprechen? Er ist der NachtDiensthabende…« »Mr. Isobel ist auf unserer Seite. Inoffiziell. Alle sind inoffiziell auf unserer Seite. Oder sie werden es sein, sobald sie die Fakten erfahren. Wir sind nicht die Behörde des Gouverneurs.«
Einer von den an der Tür stehenden Männern grunzte. Er rauchte eine Zigarette. Oimu sah zu, wie sie aufglühte, dann wieder schwächer glomm. »Wir wollen wissen, wo deine Frau ist«, sagte der stehende Mann. »Ich habe Ihnen gesagt, ich weiß es nicht.« »Uns hast du gar nichts gesagt«, sagte der Mann am Boden. »Die Leute, mit denen du geredet hast, die wollten es nicht wirklich wissen. Wir wollen es wirklich wissen.« »Ich verstehe nicht.« Wieder roch er den stechenden Atem des Mannes. »Sie wollten es nicht wissen. Weil sie nichts in der Sache tun wollen. Sie haben Jonathan Goldstone sterben lassen, weil sie Angst hatten. Vielleicht wollten sie, daß er stirbt. Vielleicht haben sie doppeltes Spiel mit ihm gespielt. Mit Jonathan Goldstone und seiner Familie.« »Ich verstehe nicht.« »Hm, ich weiß nicht, ob ich Lust zu Erklärungen habe. Ich weiß nicht, ob das der richtige Ort und die Zeit ist. Ich sag soviel: Die Behörde des Gouverneurs hat nicht viel damit zu schaffen. Das Konsulat, die Polizei. Die haben uns abgeschrieben.« »Sag uns, wo deine Frau ist«, sagte der Mann an der Tür. »Ich weiß es nicht. Ich würde es Ihnen sagen, wenn ich es wüßte.« Der Mann, der am Boden saß, schüttelte den Kopf. Die Lampe noch immer in der Hand, griff er in die Tasche seines Hemdes und holte ein loses Stück Kaugummi hervor. Er wickelte es mit den Fingern der Rechten aus und steckte es in den Mund. »Wir wollen es wirklich wissen«, sagte er. »Wir haben keine Angst vor euch. Fünf Millionen, fünfzig. Egal. Wir können
euch nicht unsere Leute ermorden lassen. Das wird nicht passieren.« Für ein paar Augenblicke kaute er seinen Gummi. »Aber ich habe damit nichts zu tun«, widersprach Dr. Oimu. »Ich bin vor dem ersten Angriff verhaftet worden.« »Aber du weißt verdammt gut Bescheid drüber, oder? Woher weißt du das?« »Man hat es mir bei den Verhören gesagt. Bitte, meine Frau und ich haben unterschiedliche Vorstellungen über diese Dinge. Sie ist mir keine Rechenschaft schuldig. Ich habe sie seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Und ich billige auch nicht, was sie getan hat – ich habe Gewalt nie gelten lassen. Naomi Goldstone, ich habe sie gekannt. Ich…« Er hielt inne, dann fuhr er fort: »Wer sind Sie? Ich erkenne Ihre Stimme.« »Weil du mich auch kennst. Du kennst uns alle. Du hast uns viele Male getroffen, damals, als du noch irgend so ein schwanzleckender Kanake mit ‘nem miesen Toupet warst…« »Ich erinnere mich nicht. Ich…« Der Mann am Boden hatte die Lampe hingelegt. Er hatte schwarze Autofahrer-Handschuhe aus der Tasche gezogen und war dabei, sie anzuziehen, schob jeden Finger einzeln zurecht. Oimu hörte das langsame Kaugeräusch von seinem Gummi. »Wir wollen es wirklich wissen«, sagte der Mann an der Tür. Oimu holte ein paarmal tief Luft, dann öffnete er den Mund, um zu schreien. Doch ehe er es tun konnte, war der Mann am Boden aufgestanden, hatte ihn mit der Rechten wieder an der Kehle gepackt und drückte sie zu. In der Linken hielt er die Lampe, und er hielt sie jetzt nahe heran, leuchtete Oimu in die Augen, auf die Nase. Oimu spürte, wie das Licht über sein Gesicht glitt. Es war wie ein Finger darauf. Er schloß die Augen. Der Mann hatte ihn unterm Kinn gepackt, und er konnte kaum atmen. Sein Mund stand offen,
und er fühlte, wie die Lampe hineinglitt. Er spürte das Metall an seinen Zähnen. »Wir haben dieses Land aufgebaut, und wir werden es behalten«, sagte der Mann. »Wer will es uns wegnehmen? Schwanzlutschende Mutanten wie du? Nein. Wir haben euch erschaffen. Ohne uns gibt’s euch nicht.« Oimu bekam kaum Luft. Er fühlte sich benommen, schwach. Aber wie gut wäre es, dachte er, die Wahrheit zu sagen. Jetzt, zu guter Letzt. Damit sie begriffen, wie klein sie waren in der Geschichte dieses Ortes. Wenn es tausend Jahre dauert – sie werden verschwinden, wir werden bleiben. Doch wie soll ich es sagen? dachte er, nunmehr benommen, mit hungerndem Hirn. Welchen menschlichen Redner würde ich nachahmen? Welchen menschlichen Helden? Nichts Echtes. Wie sollen sie mir glauben, wenn ich Englisch spreche, wie mich verstehen, wenn ich es nicht tue? Doch er ertrug es nicht, so zu sterben. »Drywater«, röchelte er, und sofort verschwand die Lampe aus seinem Mund, der Druck auf die Gurgel ließ nach. »Vorher in Gundabook. Jetzt Drywater.« »Danke«, sagte der Mann. Dann wurde der Griff an Oimus Kehler wieder enger, und dann konnte er nicht mehr atmen und kein Geräusch mehr machen.
3f: Sex(I) Drywater war der Name der Ruinenstadt der Dämonen. In seiner Steinkammer dort erwachte Simon. Katharines Gesicht lag neben ihm. Sie schlief nicht. Er spürte ihren Atem auf seinem Gesicht. Er wandte sich ihr zu. Sie lag in die Decken gewickelt, das Gesicht ein paar Zoll von seinem entfernt.
Eins ihrer Augen befand sich im Dunkeln, vom Schatten ihrer Nase verborgen, wie sie so auf der Seite lag. Doch das andere starrte ihn ohne zu zwinkern an, eine Kugel von Goldorange, auf eine subtile Weise fremdartig, und es leuchtete im Schein der Lampe. Wie üblich, war er mit einer Erektion aufgewacht. Es lag größtenteils am Harn, und dennoch war er sich dessen bewußt, weil sie so nah war. Ihre Hand war ihm sehr nahe, wußte er. Sie räusperte sich. »Sag mir«, sagte sie. »Hast du mit vielen Frauen geschlafen?« Sie sprach ohne eine Spur Verlegenheit oder Zögern. Es war, als sei das alles von ihr ausgeschwitzt worden; er spürte, daß die Decken um sie feucht von Schweiß waren. »An dem Tag in Goldstone Lodge«, sagte sie. »Hast du mit Natasha Goldstone geschlafen?« Seine Zunge im Mund fühlte sich gefroren an. Er konnte nicht sprechen. Ein Bild von Natasha erschien in seinen Gedanken, wie sie dalag, in ein Laken gewickelt. Er hatte zurückgeblickt, als sie ihn zur Tür zerrten, die Ohren hatten ihm geklungen, als Harriet Oimu wieder ihr Gewehr hob. Er leckte sich die Lippen mit der trockenen Zunge. Neben ihm stand ein Keramikbecher mit Wasser. Er durchstieß die Sphäre von Wärme, die sie umgab, um danach zu greifen. Und dann hielt er inne, als seine Finger gerade den Rand erreicht hatten, denn als er sich bewegte, spürte er sie. Er spürte ihre Hand an der Vorderseite seiner Hose. Er spürte ihre Finger durch den Stoff. Sie suchten sein Glied und schlossen sich darum, so gut sie nur konnten, sanft, fest. Er nahm wahr, wie voll seine Blase war, nahm auch den Geruch ihrer Körper war, obwohl er die ganze Nacht darin gelegen hatte. »Katharine«, sagte er und ließ den Becher los. Sie war näher an ihn herangerückt, und so berührte er sie, als er die Hand wieder senkte, berührte sie an der Wange. Sie
schmiegte das Gesicht in seine Hand, und er berührte fast zufällig ihre silikongespritzten Lippen. Und er spürte, wie er unter ihren Fingern schrumpfte, seine Erektion in dem grobschlächtigen Übergang zwischen Phantasie und Tatsache verlor. Er starrte auf ihr Gesicht hinab und erfaßte plötzlich in seinem Körper ein Wissen, das bis zu diesem Punkt nur abstrakt gewesen war – etwas, wovon er in Büchern gelesen hatte, ehe er hierher kam. Diese Leute waren eine eingeschlechtliche Spezies. Als sie geboren wurde, hatte Katharine einen Penis ähnlich seinem besessen. Er versuchte abzurücken, ein kleines Stück fortzurutschen, doch sie hielt ihn fest. »Katharine«, sagte er. Dann lag er still. Seine Gefühle in diesem Moment kamen ihm chaotisch und undifferenziert vor, eine Wolke mit plötzlichen Lichtblitzen. Er sank durch sie hindurch in eine vertrautere Landschaft aus anderer Leute Erwartungen; er ließ sich zurücksinken und erlaubte ihr, an seinem Reißverschluß zu fummeln, ihn aufzuziehen, hineinzugreifen. »Katharine«, sagte er. Sie hatte das Gesicht abgewandt, in die Decken, um ihn nicht anzusehen. Doch er sah, daß ihre Kehle und ihr Hals angespannt waren, und er sah die alten Schnitte in ihrer Haut, und er fragte sich, wo sie sie geöffnet hatten, um ihre Regenerationsorgane zu entfernen: War es hier, diese lange alte Linie über ihrem Schlüsselbein? Wo hatten sie sie aufgeschnitten, um ihre Kehle, ihre Kiefergelenke umzuformen? Ihre Hand stieß durch seinen Hosenschlitz und öffnete die Vorderseite seiner Unterhose. Dann berührte sie ihn, ihre Finger lagen weich auf seiner weichen Haut. Sie berührte ihn sorgsam, wie ein Arzt. Sie rollte jeden Hoden zwischen ihren Fingern und dem Daumen. Sie fuhr mit den Fingernägeln durch sein Schamhaar. Und dann spürte er, wie sie mit der anderen Hand seinen Gürtel öffnete, ihn weiter aufknöpfte.
»Katharine, hör auf«, sagte er. Noch immer hatte sie keinen Laut von sich gegeben. Sie lag da, das Gesicht in die Decken gedrückt. Fast war es, als gehörten ihre Hände nicht zu ihr, als bewegten sie sich unabhängig von ihrem Willen. Und vielleicht, dachte Simon, mußte es in gewissem Sinne so sein. Nachdem er und sie gefangengenommen worden waren, hatte sie ihm anfangs stundenlang von der Klosterschule erzählt, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte, von dem Glockengeläut und dem Chor, von der steinernen Kapelle mit den Altären für die Heilige Jungfrau und für die heilige Theresia von Avila und für Jeanne d’Arc. Ihre Hände waren sanft und so vorsichtig. Das Gefühl verschaffte ihm ein Vergnügen, das sich von Erregung unterschied; er legte sich zurück und ließ sie gewähren, denn weniger als alles andere wollte er sie verlegen machen, sie kränken. Nur daß er die Hüften anhob, damit sie seine Hose über die Schenkel ziehen konnte. Sie zog auch die Unterhose herunter. Noch immer schaute sie ihn nicht an. Doch schließlich ordnete sie die Decken neu, und dann spürte er sie seinen Körper abwärts gleiten, bis ihr Kopf dort war, wo ihre Hände waren. Schließlich spürte er ihren Atem auf seiner Haut, und schließlich auch ihre Zunge – das Gefühl war weniger sexuell als eher intim. Ihm war, als wüsche sie ihn mit vorsichtigen kurzen Bewegungen der Zunge, als sei sie ein Tier, eine Katze. Seine Haut wurde kühl, wo die Feuchtigkeit trocknete – es gab ihm ein Gefühl von Sauberkeit. Er beugte sich zu ihr hin und fuhr ihr mit den Fingern ins Haar. Einen einzigen Augenblick lang nahm sie ihn gänzlich in ihren kleinen Mund, badete ihn in ihrem Speichel. Dann strebte sie zurück und versuchte sich zu lösen, den Kopf zu wenden. Doch er legte ihr die Hand unter die Wange. Ihre
ganze Wange war unterhalb des Auges naß, und ihm wurde plötzlich klar, daß sie weinte. Ihre kleinen Bewegungen, die kurzen heftigen Atemzüge, von denen er angenommen oder gehofft hatte, sie hätten mit einer Art Leidenschaft zu tun -jetzt begriff er plötzlich, daß sie zu etwas anderem gehörten. Zu etwas Fremdartigerem vielleicht. Etwas, das ihn mit Reue erfüllte, und wieder sah er vor sich das Bild von Natasha Goldstone, in ihr weißes Laken gewickelt. Die Frau an der Tür mit dem Gewehr in der Hand. »Katharine«, sagte er. »Bitte…« Doch dann hielt er inne, teils, weil er keine klaren Gedanken im Kopf hatte, und teils, weil ihr Gesicht jetzt durch seine Hände glitt und sich ihm zuwandte und jeder Antrieb, etwas zu sagen, von der Trauer und dem Zorn in ihren Augen gekappt wurde. Gekappt auch von der plötzlich hereinbrechenden Dunkelheit; sie rollte von ihm weg, um die Lampe auszublasen. Dann stand sie auf. Er spürte, wie sie irgendwo im Dunkel hockte, doch er konnte nichts sehen. Er ließ sich zurücksinken, und ihm war plötzlich kalt, und er lauschte ihrem stoßweise gehenden Atem, während er die Hosen hochzog und sein Glied verstaute. Die ganze Wärme aus den Decken schien sich verflüchtigt zu haben, und sie waren steif und klamm, als er sich aufsetzte und sie um seinen Körper wickelte. Er konnte sie nicht sehen, außer einmal, als sie vor dem vergitterten Fenster vorbeiging. Doch er hörte sie in der Dunkelheit. Er stellte sich vor, wie sie dastand, die Wange an die Wand gelegt, und weinte. Ihre Tränengänge waren Implantate, wußte er, und ein Teil von ihm wollte bei ihr sein, wollte wissen, ob er den Unterschied herausfinden könnte. Er stellte sich ihr Gesicht vor, zu einer Maske des Hasses verzerrt, und ein Teil von ihm wollte nach der Lampe langen und sie wieder anzünden, um diese Maske zu sehen. Statt dessen setzte
er sich leicht zitternd auf und schaute aus dem Fenster. Er ließ seine Pupillen sich für die Dunkelheit weiten. Das Fensterglas war reifbedeckt und matt. Doch durch ein Loch darin sah er ein paar helle Sterne. Plötzlich fühlte er sich müde. Das kam bei ihm nicht selten vor. Oft wurde er von anderer Leute Gefühlen überwältigt. Auch Angst machte ihn schläfrig. Und er hatte Angst – sie lauerte außerhalb seines Gesichtskreises, von der Dunkelheit in etwas Ungeheuerliches verwandelt. Er ließ sich wieder in die kalten Decken sinken. »Wir sind in einer üblen Lage«, sagte er. Bisher hatte wie auf Verabredung keiner von ihnen erwähnt, was ihnen widerfuhr. Keiner von ihnen hatte irgend einen Gedanken über die Zukunft geäußert, über die verborgene Vergangenheit. Es war, als ob diese dunkle Zelle, nur von gelegentlichen Mahlzeiten und Ausflügen zur Latrine durchbrochen, unabhängig von der Welt existierte. Der Druck der Welt hatte ihr eine dunkle Einheit verliehen, ihnen eine Nähe zueinander gegeben, die künstlich war, falsch – jetzt sah er es. Daß die Einheit jetzt zerbrochen war, war vielleicht der Grund, daß er glaubte sprechen zu dürfen; vielleicht tat es ihm auch leid, sie verloren zu haben, und es drängte ihn darum, den äußeren Druck zu erwähnen, als könnte das die Wirkungen der Einheit wiederherstellen. Vielleicht fiel ihm auch nur weiter nichts ein. Und doch war die Stille unerträglich. »Hör mal, was werden wir tun?« Er wußte nicht, wo sie sich jetzt befand. Sie war in der Nähe, in der Dunkelheit verschwunden, atmete, weinte, zornig, traurig, enttäuscht – nein, er erriet es nicht. »Hör«, sagte er. »Sie halten uns als Geiseln. Aber die Regierung wird nichts unternehmen. Sie hätten es schon versucht«, fuhr er nach einer Pause kalter Schweigsamkeit fort. »Sie werden uns nicht helfen, und sie
werden uns nicht auslösen. Wir sind auf uns selbst gestellt. Du weißt das.« Diese Worte, so voller Schmerz, machten ihn müde. Jedes setzte neue Worte frei, neue Gedanken. »Sie befürchten einen Aufstand«, sagte er. »Wenn sie eingreifen. Die NLC – bisher ist das nur eine eng umgrenzte kleine Gruppe. Sie befürchten, daß es sich ausbreitet.« Er hörte sie atmen, stoßweise und leise. »Der Konsul hat mich hier reingeritten«, sagte er. Neben dem Becher Wasser lag das zerknitterte Kuvert. Sogar im Dunkeln wußte Simon genau, wo es sich befand. »Er hat mir einen Brief für Jonathan Goldstone mitgegeben, und ich hab ihn vergessen. Ich hab ihn wirklich vergessen. Ich hab ihn in meiner Tasche gefunden, während du geschlafen hast. Es war eine Zeile. Anonym. Darin stand, daß es einen Angriff auf Goldstone Lodge geben würde. Der Zeitpunkt wurde genannt.« Er hörte sie atmen. »Ich habe darüber nachgedacht, als du geschlafen hast«, sagte er. »Darum hat sich Clare geweigert, selbst hinzufahren – er wollte eine Art Zwischenfall. Er wollte nicht die Polizei benutzen, um die NLC aufzuspüren. Er wollte es inoffiziell lassen, so daß die Leute die Gewalt nicht der Regierung anlasten würden. Vielleicht dachte er, sie würden sich gegenseitig ausrotten, die Bruderschaft und die NLC. Vielleicht dachte er, er könnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, und allermindestens würde es einen diplomatischen Zwischenfall geben, wenn ich darin verwickelt war. So daß er sich vielleicht bei New Manchester beklagen konnte. Oder vielleicht noch weiter. Weiß der Himmel, vielleicht in London, obwohl, ehe sie dort die Nachricht erhalten würden…« Es war absurd. Er legte sich auf dem Rücken und verschränkte die Hände unterm Kopf. Und dennoch, dieses eine Wort, »London«, vermittelte ihm etwas. Keine Erinnerung, sondern einfach ein Gefühl. Ein offenes, leeres
Gefühl. Er schaute durch das zerbrochene Fenster in den Himmel hinaus. »Wenn ich ihm den Brief gegeben hätte«, sagte er, »wäre das alles vielleicht nicht passiert.« Er ließ sich zurücksinken. Schließlich sah er, daß sich die Dunkelheit jenseits des Fensters veränderte. Nach einer Weile wußte er, daß jemand kam, sah eine Taschenlampe flackern, als jemand zwischen den Gebäuden hindurchging. Dann gab es ein Geräusch an der Tür, das Rasseln eines Schlosses und einer Kette. Knarrend öffnete sich die Tür, und jemand trat ein. »Rasch«, sagte jemand. »Kommt.« Der Lichtschein traf Katharine an der Wand und huschte dann zurück zu Simon. »Aufstehen.« Er zog seine Schuhe an. Es war kalt, und er hob eine von den Decken auf und legte sie sich um die Schultern. Ohne hinzusehen, hörte er Katharine in der Ecke, hörte des Geräusch ihres Atems. Vor ein paar Augenblicken war sie ihm fremdartig vorgekommen, doch nun fühlte er, wie etwas in ihm zu ihr hin strebte. Besonders in dieser Situation, wo jede Neuigkeit wahrscheinlich etwas Schlechtes bedeutete, jede Veränderung eine Verschlimmerung war – er wandte sich zu ihr um und war froh zu sehen, daß sie zu ihm kam, durch den Raum kam und neben ihm stehenblieb, die Augen weit offen, mit klappernden Zähnen. »Oh«, flüsterte sie, und dann noch ein paar Worte. Für einen Moment glaubte Simon, daß sie bete, und vielleicht tat sie das auch, doch dann hörte sie auf und schaute ihn an. »Oh, Mr. Mayaram«, sagte sie, »ich hab solche Angst« – und dann lächelte sie. Er bückte sich abermals, um noch eine Decke aufzuheben, und dann wickelten sie sie gemeinsam um ihren Körper, steif vor Kälte, widerspenstig. Dann nahm sie seine Hand und drückte sie, denn beide wußten sie, daß jetzt etwas anders war, etwas war geschehen. Dreimal in vierundzwanzig Stunden war jemand
gekommen, um ihnen Essen zu bringen oder sie zur Latrine zu führen, und sogar ohne Uhren hatten sie es fertiggebracht, den Ablauf festzustellen. Das jetzt war etwas anderes. Der Mann an der Tür ließ sein Licht ungeduldig durch den Raum huschen. »Kommt schnell«, sagte er und gab sich Mühe, bedrohlich zu klingen. Es war niemand, den sie wiedererkannten. Sie stolperten vorwärts, die Beine von der langen Ruhe unbeholfen, und hielten sich fest bei den Händen. Wie seltsam es ist, dachte Simon, denn er empfand einen absurden Trost in diesem kleinen Händedruck. Und weil alle anderen Gedanken voller Befürchtungen waren, versuchte er darüber nachzudenken. Sex hat etwas zu bedeuten, dachte er. Egal, was es ist, er hat immer etwas zu bedeuten. Sie waren nicht gefesselt worden, seit sie über den Rand gekommen waren; sie konnten nirgends hingehen. Doch der Mann zeigte ihnen im Licht sein Gewehr. Er trug eine orangefarbene Wattejacke. Jemand anders wartete draußen, in der Gasse, die ihre steinerne Gefängniszelle von einer größeren Ruine trennte. Ein Fußweg von unebenen Steinen, glitschig von Eis und gefrorenem Schlamm, führte um die Mauerecke. Hand in Hand gingen sie den Weg entlang. Da stand eine junge Frau mit einer Baseballmütze. »Adele?« sagte Katharine. »Adele Borgo?« Doch die Frau wandte sich ab, die Lippen zu einem Schmollen verzogen, das Gesicht unbeweglich. Weiter vorn tauchten weitere Lichter auf; hinter der Ecke führte der Weg bergan. Ein langes, niedriges Gebäude lag am Ende einer kurzen Steigung. In einer Reihe von Fenstern brannte Licht. Das war die Kommandozentrale der National Liberation Coalition. Ihre Fahne – eine erhobene Faust auf grünem Grund – hing schlaff an einer Stange davor. Der Himmel vor ihnen war purpurrot, denn sie schauten zurück in Richtung des Randes, des Terminators.
Als sie den Fußweg hinankamen, fühlte Simon, wie trotz seinen Ängsten seine Stimmung stieg. Das Gebäude war aus weiß getünchten Ziegeln errichtet, eine trostreiche Kombination, die es von den kalten Ruinen der Dämonenstadt abhob. Es war ein Haus, das für Menschen und vielleicht auch von ihnen errichtet worden war; er kannte sich in der Geschichte nicht aus. Doch die Holztür drehte sich in Angeln, und die Wärme sprang ihm daraus entgegen – ihm war so lange so kalt gewesen. Er hörte das Tuckern eines benzingetriebenen Generators. Neben der Tür hing eine Glühbirne. Drinnen zogen sich Glühlampen die Wände entlang, die lockeren Schnüre an den Putz geheftet. An jedem Ende des Vorsaals dröhnte ein Benzinkompressor, und die Luft verströmte einen Petroleumgestank, der sich Übelkeit erregend mit einem anderen Geruch vermischte. In dem engen Raum befanden sich fünfzehn oder zwanzig Ureinwohner. Manche standen, manche saßen am Boden. Manche hielten automatische Waffen. Harriet Oimu stand an einem freien Platz. Hinter ihr saßen im Schneidersitz ein Mann und eine Frau. Oimu war eine Frau gegen Ende der mittleren Jahre, wie Menschen es genannt hätten. Ihr Gesicht war das Produkt weniger geschickter und weniger kostspieliger Chirurgen als das Katharines – sie hatten sie nach einer Mixtur amerikanischer Filmstars aus einem Buch modelliert. Doch die Jahre hindurch war die Textur ihres Gesichts hart und steif geworden, und ihre Züge hatten sich auf subtile Weise neu geordnet. Ihr linkes Auge lag höher als das rechte. Unter einem Ohr hatte sie eine Silikonbeule. Ihr Gesicht wurde auch von einem Ausdruck schrecklicher Trauer, schrecklicher Bosheit verzerrt, der manche von Simons Befürchtungen bestätigte. Als man sie durch die Mitte des
Vorsaals geleitete, versuchte er, Katharine fester zu halten, um ihr Trost zu spenden und selbst welchen zu erlangen. Doch sie strebte von ihm weg. Sie machte tief in der Kehle einen Laut, den er nicht zu analysieren vermochte; sie strebte von ihm weg und klemmte ihren Arm unter den eines Wächters. Sie ging vorwärts, so gut sie nur konnte. Ringsum standen Leute, und bald befanden sich etliche zwischen ihm und ihr. Sie eilte dorthin, wo Mrs. Oimu im Gespräch mit jemandem stand und den Blick durch den Raum schweifen ließ. Als Katharine herankam, wandte sie ihr das Gesicht zu, und Simon sah, daß sie eine Verlängerungsschnur um die Faust gewickelt hatte. Zunächst war er nicht nahe genug, um durch den Lärm der Kompressoren und das Stimmengewirr hindurch zu hören, was Katharine sagte. Ein Ureinwohner mit einer fellgefütterten Weste hielt Simons Bizeps umklammert. Der Mann stieß ihn vorwärts, und jemand vor ihnen trat beiseite. Jetzt konnte er Katharine besser sehen. Er verspürte des dringende Bedürfnis, bei ihr zu sein. Er stellte fest, daß es ihm schwerfiel, ein Dutzend Aliens auf einem Fleck auszuhalten, und fühlte, wie sich seine Eingeweide in flüssiger Panik zusammenkrampften. Er trat vorwärts, hinter Katharine, und hoffte, ihr nahe zu sein, was auch geschehen mochte. Daher berührte ihn ihre Hand beinahe, als sie zurücklangte, um auf ihn zu zeigen, und er hörte sie deutlich sagen: »Lassen Sie mich nicht allein mit ihm. Bitte.« »Bitte« zu sagen, dachte er, entsprach nicht ihrem Charakter. Es zeigte ihre innere Anspannung. »Ich brauche meine Medikamente«, sagte sie. »Verstehen Sie mich denn nicht?« Mrs. Oimu trat einen Schritt zurück. Der Gesprächslärm flaute ab, und Simon empfand eine plötzliche Beimengung von Interesse, von Konzentration. Es waren alles umgeformte Ureinwohner. Sie alle nahmen verschiedene Medikamente ein.
In ihnen allen vermutete Simon eine düstere Faszination, die auch etwas Mitleid enthalten mußte. »Bitte«, sagte Katharine, und sie streckte die Hände aus. Mitleid, vermutete er, doch es war schwer auszumachen. Nichts regte sich in Mrs. Oimus Gesicht. »Was wollen Sie?« »Meine Tabletten. Bitte. Sie müssen meine Tabletten aus Goldstone mitgenommen haben.« Mrs. Oimu zuckte die Achseln. »Dafür war keine Zeit«, sagte sie. Dann wandte sie sich ab, als wolle sie mit jemand anderen sprechen, doch Simon spürte darin eine Falschheit. Ihr Blick ruhte noch auf Katharine, und wozu sollte sie sie beide auch herbringen lassen, außer um etwas mitzuteilen, das sie betraf? Das brachte Simon wieder ihr Dilemma zu Bewußtsein – komisch, wie schwer es war, sich zu konzentrieren, die Aufmerksamkeit zu bündeln. Sorgte er sich um Katharine wirklich mehr als um sich selbst? Mehr darum, daß sie ihn verletzen könnte oder ihn öffentlich zurückweisen oder darauf bestehen, getrennt von ihm eingesperrt zu werden, als er sich um sein Leben sorgte? »Außerdem«, sagte Mrs. Oimu, »kann ich ihnen etwas borgen.« Das war ein Scherz. Von derlei Fehlern waren Ureinwohner ins Koma gefallen oder gestorben, oder sie hatten bleibende Schäden erlitten. Katharine stieß ein kleines Ächzen aus, und Simon fing ein gewisses Echo des Mitgefühls von den umstehenden Leuten auf. Vielleicht hatte Mrs. Oimu es ebenfalls wahrgenommen. Sie wandte sich angewidert um. »Medikamente, ja«, sagte sie. »Das sag ich Ihnen – ja. Barivase, Mellarin, Activol…« – sie nannte die Namen einiger Grundbestandteile. »Worüber würden wir reden, wenn wir nicht darüber reden könnten? Aber verstehen Sie denn nicht?« – hier hob sie die Stimme, als ob sie zu allen im Raume spräche. »Diese Drogen sind das Werk der Eindringlinge. Sie
sind das Mal der Sklaverei. Aber wenn wir die Eindringlinge zum Abzug gezwungen haben werden, werden die Drogen eingestellt. Man wird sie ins Meer werfen.« »Sie wissen nicht, was Sie sagen«, flüsterte Katharine. Simon glaubte, er könne ein Aufflackern von Betretenheit in den Gesichtern ringsum entdecken. Ein Mann senkte den Blick und trat von einem Fuß auf den anderen. Mrs. Oimu wechselte das Thema. Ihre mit der Verlängerungsschnur umwickelte Faust hob sich. Sie schob eine Strähne ihres schwarzen Haars zurück. »Und jedenfalls geht es nicht darum. Um offen zu sein, es spielt sowieso keine Rolle. Aber im Falle so einer ziemlich jungen Kollaborateurin hat es eine gewisse Ironie. Hat er Sie belästigt?« Sie lächelte. Sie wickelte sechs Zoll der Schnur ab und ließ den Stecker herabhängen. »Jedenfalls«, sagte sie, »spielt es keine Rolle. Tatsache ist, ich weiß nicht, was ich mit euch machen soll. Mein Mann ist gestern morgen in Shreveport umgekommen, bei einem Fluchtversuch erschossen.« Sie wandte sich Simon zu. »Sie«, sagte sie. »Wir haben von Ihren Leuten nichts gehört.« Er sagte: »Sie müssen uns trotzdem behalten. Sie dürfen nicht glauben, man wüßte nicht, wo Sie sind.« Diese Bitte um Gnade war komplex, denn sie enthielt eine Drohung – nur indem sie sie als Faustpfand am Leben ließen, konnte die NLC vermeiden, gejagt und zerschlagen zu werden. Simon hatte sich diese Aufforderung zurechtgelegt. In verstreuten Augenblicken in der dunklen Zelle hatte er daran gearbeitet. Jetzt war es soweit. Doch als er zu sprechen begann, stellte er fest, daß Mrs. Oimus Aufmerksamkeit nicht mehr ihm galt. An der Tür war Bewegung aufgekommen. Die allgemeinen Gespräche waren lauter geworden, und viele Gesichter hatten sich jetzt von ihm abgewandt. Manche von den Ureinwohnern waren aufgestanden. Mrs. Oimu ging ein
paar Schritte in Richtung Tür zurück, die Verlängerungsschnur baumelte von ihrer Hand herab. Er fand sich wieder in Katharines Nähe. Doch sie blickte ihn nicht an. Sie starrte zurück zur Türöffnung, und ihr Gesichtsausdruck zeigte jetzt ein solch abruptes Entsetzen, daß auch er sich umwandte. Zum erstenmal sah er den Dämon. Natürlich hatte er die Fotos von Goldstone Lodge und Gundabook gesehen, aber nicht ganz geglaubt, daß sie echt seien. Ein Teil von ihm hatte es gehofft, und nun hatte sich die Hoffnung erfüllt. Trotz aller anderen Sorgen führte ihn dieser Augenblick weit zurück, in die Zeit, da er ein Kind voller Hoffnungen gewesen war, da er zum erstenmal den ausgestopften Leichnam des Himmlischen Menschen im Britischen Museum gesehen hatte. Er hatte das Gesicht gegen die Scheibe gepreßt. Nun, da er über die Köpfe der Ureinwohner hinweg zur Tür schaute, empfand er abermals die Mischung aus Übelkeit und Faszination, die ihn im Saal der Neuweltkulturen ergriffen hatte, als er elf Jahre alt gewesen war. Und noch etwas anderes: Einen Stich von Schrecken, als er sah, wie sich das Wesen bewegte. Es hatte den Kopf eingezogen, um durch die Tür zu treten, und nun richtete es sich auf. Als Simon seinerzeit beschlossen hatte, London zu verlassen, war seine machtvollste Hoffnung gewesen, Kontakt zu diesen Geschöpfen zu finden – zu einer von drei vernunftbegabten Rassen im ganzen Universum, und der einzigen, die mächtiger war als die Menschen. Als er abflog, hatte es hier viele von ihnen gegeben. Als er ankam, waren sie alle verschwunden. Dieses hier war vielleicht das letzte. Es war fast acht Fuß groß. Es war sehr dünn. Sein Rücken war gekrümmt, die Brust eingesunken. Es war in Fetzen gekleidet, und durch sie hindurch sah Simon die gesprenkelte Haut, über zerbrechlich wirkende Knochen gespannt. Seine
harte, dünne Haut, die es absurderweise bis zu unglaublich tiefen Temperaturen warm halten konnte, solange es in Bewegung blieb. Seinen Puls, der zwischen den Strängen an seinem Halse flatterte. Der Dämon hatte den Kopf gesenkt, doch dann hob er ihn plötzlich. Seine Augen blinzelten ins Licht – seine großen, tiefliegenden Augen, die lange Schnauze. Die Form seines Schädels war unter der weißen Haut deutlich auszumachen, die sich dünn und straff über den hohen Scheitel spannte, die ausladende Hirnschale. Knorrige Grate zogen sich über seine Stirn und die Wangen – er hatte kein Kinn, nur ein paar dicke Fleischwülste, die das Loch bedeckten, durch das er seine weiche Nahrung zu sich nahm. »Homo in coelis«, murmelte Simon mit plötzlicher Begeisterung. ›Die Widersacher‹ hatten die ersten Ansiedler sie genannt, doch Simon empfand das nicht. Er fühlte eine kleine schmerzhafte Regung von Kameradschaft, die aus Selbstmitleid erwuchs. Hinter ihm hielt sich Katharine die Ohren zu. Die Ureinwohner wichen vor dem Dämon zurück und drängten sich zu den Wänden hin. Bald konnte Simon seine ganze Gestalt sehen: den kurzen Rumpf, die riesenhaften Beine, muskulös und lang, die ihn in zwei Minuten eine Meile weit tragen konnten. Seine zusammengeketteten Fußgelenke. Die dreizehigen Füße. Die langen Arme und Hände. Die Hände waren erhoben. Simon kannte die Sprache teilweise, doch nicht dieses Wort, und er kannte den Satz nicht, den der Dämon andauernd wiederholte, zwischen seinen Fingern formte. Um Brust und Schultern des Dämons war ein Halfter geschlungen. Eine Kette hing von seinem Rücken herab, und sie war am Handgelenk eines Mannes befestigt, eines Menschen. Er kam jetzt näher und führte den Dämon durch die Mitte des Saales dorthin, wo Mrs. Oimu stand. Die
Ureinwohner wichen beiseite, und ringsum hörte Simon ihre erregten Stimmen murmeln und schreien, murmeln und schreien. Unterwürfig neigte der Dämon den Kopf. Er drückte das Gesicht gegen die Schulter. Doch seine Hände redeten ständig, machten immer wieder dieselben Zeichen, formten die Luft mit derart beredten und exakten Bewegungen, daß Simon, obwohl er die Wörter nicht kannte, dennoch schockartig Bedeutung erfaßte. Solch ein Leid und solch ein Schmerz. Darunter eine Schicht brodelnder Wut. »Was, zum Teufel, ist das?« fragte Harriet Oimu, und der Fluch schien eine schrille Note von Panik in ihrer Stimme zu unterstreichen. »Martin, was fällt dir ein?« Der Stecker hing zwischen ihren Fingern herab, und Simon sah, wie er zitterte. »Er wollte angehört werden«, sagte der Mann. Er trug Jeans und ein blaues Hemd, und ein kleines Kreuz war schräg an seinen Kragen geheftet. Seine Stirn und sein Scheitel waren kahl. Der Rest seines Haars war lockig, drahtig, zu einem kleinen Pferdeschwanz zurückgebunden. Seine Wangen waren voller Pickel, und seine Haut war bläßlich weiß, wohl das Ergebnis zu langen Aufenthalts im Grenzland. »Gottverdammt. Gottverdammt – bring ihn hier raus. Es ist wichtig.« »Ja, er weiß. Er hat gesehen, wie das Motorrad ankam.« Simon schaute auf die Hände des Dämons. Die Bewegungen hatten sich etwas verändert, neue Schnörkel waren hinzugekommen. »Er hat ein Recht, es zu erfahren«, sagte der Mann. »Seine Schwester liegt im Sterben, und seit einer Woche sagt ihr ihm, wenn der Doktor kommt, wird er sie retten. Aber die Wunde ist vereitert, und er weiß es. Bitte, Harriet, er hat versucht, euch zu helfen. Behandle ihn nicht wie ein Tier.«
»Sag ihm, mein Mann ist tot«, sagte Mrs. Oimu. »Er ist tot, und damit ist Schluß.« Es war Simon klar, daß der Dämon diese Worte verstand. Er sah, wie die Bedeutung, und dann die Folgerung, sich in seinen ausgezehrten Zügen spiegelten. Wie sie über das scharfgeschnittene Gesicht glitten, das so eindringlich an bösartige und ausgestorbene Geschöpfe der Erde gemahnte, vielleicht an ein Zwischending von einem Geier, einer Python und einem Wolf. Und das dennoch, oder vielleicht eben darum, wahrhaftiger war, natürlicher und leichter zu entziffern als Mrs. Oimus halbmenschliche Maske. Simon wurde gewahr, daß Katharine nahe bei ihm stand, und er wandte sich um. Sie mußte zu ihm gekommen sein. Er hatte sich nicht bewegt. Aber er wußte nicht, ob es ein bewußter Wunsch gewesen war. Eigentlich schien sie vergessen zu haben, wo sie sich befand. Ihr Atem ging schwer. Sie zog die Luft zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurch. Auf ihren Lippen schlug der Atem kleine Schleimblasen. Ihre Augen waren nach innen gerollt. Ein leises Summen ging von ihr aus, es schien nicht aus ihrem Munde, sondern durch ihr Fleisch zu dringen. Es schien sie in eine Haut von Geräusch zu hüllen. Er ging zu ihr – nur ein paar Schritte. Er streckte die Hand aus. Sie scheute vor ihm zurück, strauchelte dann. Er nahm sie beim Arm, damit sie nicht hinfiel, und hielt sie dann weiter fest. Sie erlaubte es, und keiner von den anderen Ureinwohnern machte eine Bewegung, um ihn zu hindern. Vielleicht hatte sie das Bewußtsein verloren. Es war schwer auszumachen. Er schmiegte sein Gesicht in ihr Haar und fand so etwas Trost. Er fand etwas Trost, als er sie zu Boden gleiten ließ, denn er hatte Angst vor Mrs. Oimu und davor, was sie tun würde. Der Stecker in ihrer Hand bewegte sich.
Der Mann namens Martin hatte etwas gesagt, doch Simon hatte es verpaßt. Der Dämon war jetzt unruhig. Er wippte mit dem Kopf hin und her, und seine Hände bewegten sich schneller, schneller. »Ich sag dir, er ist zu nichts mehr nütze«, sagte Mrs. Oimu. Sie blickte sich im Raum um. Und vielleicht bekümmerte es sie, ihre Gefährten so verschüchtert und in Panik zu sehen, wie sie sich an die Wände drückten. Vielleicht wollte sie sie trösten oder ihre Stärke beweisen, vielleicht ihren Haß, ihr Elend zum Ausdruck bringen. Der Stecker pendelte acht Zoll von ihrer Hand entfernt; nun trat sie vor und schlug ihn dem wehrlosen Dämon übers Gesicht, einmal, zweimal, dreimal.
KAPITEL VIER
4a: Styreme und Clare »Er ist bei einem Fluchtversuch getötet worden«, sagte John Clare. »Es wurde unnötige Gewalt angewendet, und ich bedaure das. Eine Autopsie wurde durchgeführt, und jetzt können wir die Leiche zur Bestattung freigeben. Ich habe Sie herbitten lassen, um Ihnen alle Neuigkeiten mitzuteilen, über die wir verfügen, und um Sie um die Namen und Adressen aller Leute zu bitten, die sich vielleicht der sterblichen Überreste annehmen wollen.« Junius Styreme zuckte die Achseln, eine schmerzerfüllte, langsame, übertriebene Geste. »Mrs. Oimu hält sich verborgen«, sagte er. Er saß auf der Kante eines Schemels im Arbeitszimmer des Konsuls, den Stock zwischen den Knien. John Clare ging im Zimmer auf und ab. »Ja, natürlich. Aber seit die Nachricht von seinem Tod in die Presse durchgesickert ist, hat es Unruhen gegeben, wie Sie wissen. Gestern sind drei Polizisten im Eingeborenenviertel von Shreveport verletzt worden. Außerdem habe ich eben mit Robert Garner telefoniert, dem Kommissar für den Ludlow-Bezirk im Grenzland. Er hat militärische Verstärkung angefordert.« Styreme blinzelte. Der Konsul, der ihn scharf beobachtete, wertete das als kleinen Ausdruck von Unruhe. Als der alte Mann die Augen wieder öffnete, wirkten sie unter seiner Bifokalbrille weiter, deutlicher als zuvor. In den großen Sesseln konnte er nicht sitzen. Die Sekretärin hatte ihm einen Schemel gebracht, und er hockte steif darauf,
in einen makellosen Anzug gekleidet, beide Hände auf den Knauf seines Stockes gelegt. Sein Capuccino und sein Croissant standen unberührt auf dem Tisch neben ihm. John Clare dagegen hatte sich ein ausgiebiges Frühstück bestellt. Bis vor einer Woche hatte er morgens nichts als schwarzen Kaffee zu sich genommen. Doch seit dem Angriff auf Goldstone Lodge hatte er sich eine neue Gewohnheit zugelegt, eine, die, wie er hoffte, die anderen zurückdrängen, ihn weniger nervös und tüchtiger machen könnte. Seit der Nachricht von Dr. Oimus Tod hatte er regelmäßig gegessen, und das hatte ihm letzte Nacht geholfen zu schlafen. Doch dieses Frühstück erregte in ihm Übelkeit. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und schob das Sandwich mit Ei beiseite. Er hatte in seinen Sachen geschlafen. Sein Schlips war zerknittert, sein Hemd fleckig. Stechende Gerüche gingen von seinem Körper aus. Wenn er Styreme genau beobachtete, glaubte er, von Zeit zu Zeit ein leises Flattern an den Nasenflügeln des alten Mannes zu bemerken. »Ich dachte, Sie könnten uns helfen«, sagte John Clare. »Mrs. Oimu vertritt den gewalttätigen Flügel der NLC, und sie trägt die Verantwortung für diese Morde und für das Verschwinden Ihrer Tochter. Wir wissen, daß sie nach dem Angriff auf Gundabook dort geblieben sind und es als Operationsbasis für Goldstone Lodge genutzt haben. Jetzt sind sie weg.« Er zögerte einen Moment, dann fuhr er fort: »Soviel wir wissen, hatte ihr Mann auch keinen Kontakt zu ihr. Zweifellos hat er versucht, sie politisch zu isolieren, sogar vom Gefängnis aus. Er war gemäßigter, und er hat seine Beziehungen zur Geschäftswelt aufrechterhalten. Er war ein Freund von Ihnen.« »Ich habe ihn gekannt.« Der Konsul hatte gehört, daß sich Styreme Tränendrüsen hatte einpflanzen lassen, und etwas in ihm wartete mit trauriger Faszination auf eine Gelegenheit, sie in Funktion zu sehen. Er
sagte: »Wir haben eine Liste seiner Parteigänger vorbereitet, und der Gouverneur hat mich gebeten, sie Ihnen zu zeigen, für den Fall, daß Sie etwas hinzufügen können. Er meinte, Sie könnten uns vielleicht etwas mehr Informationen geben, und vielleicht, wenn Sie irgend etwas über die Unruhen letzte Nacht wissen…« Styreme hob den Blick, und mit einem Teil seines Denkens stellte Clare befriedigt fest, daß beide Augen feucht waren. »Wenn ich etwas wüßte«, sagte der alte Mann, »warum glauben Sie dann, daß ich es Ihnen nicht sagen würde?« Eine Pause trat ein. Tränen zitterten unter Styremes Brille. Wegen der Brüchigkeit, der Gebrechlichkeit seiner Knochen verfügte er über keine der einfachen Bewegungen von Menschen. Er hob nicht die Hand, um die Tränen wegzuwischen. »Offenheit gegen Offenheit«, sagte er. »Ich habe jeden Tag eine Lösegeld-Forderung erhalten. Einhunderttausend Dollar – das ist weiter nichts. Ich würde bezahlen, wenn Sie nicht wären. Heute morgen kam kein Brief. Es hieß Freiheit für Dr. Oimu«, fuhr er fort. »Jetzt ist Oimu tot. Was werden sie tun?« Der Konsul räusperte sich. Der Geruch seines Ei-Sandwichs wirkte auf einmal bedrückend. Er lehnte sich im Sessel zurück und hob die Hand, eine unbeholfene Geste des Mitgefühls. Doch die Tränen des alten Mannes verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren. Er saß da und starrte auf das Muster des Teppichs. »Glauben Sie mir, es tut mir leid«, sagte John Clare. »Simon Mayaram war für mich wie ein Sohn. Glauben Sie nicht, wir wären imstande, die beiden aufzugeben. Ich kann Ihnen sagen, daß unser Plan war, Oimu freizulassen und zu sehen, ob er uns zu seiner Frau führen würde. Jetzt freilich…«
Plötzlich von Verlegenheit überwältigt, ließ Clare seine Stimme versickern. Er beobachtete Styreme, und er sah die Veränderung, als der alte Mann begann, sich nach innen zu wenden. Es war, als zöge er sich an einen Ort in seinem Innern zurück, weit entfernt von der Oberfläche seiner Haut. Schon vorher gebrechlich und feingliedrig, schien er vor den Augen des Konsuls zu schrumpfen, bis er so trocken und steif wie eine leere Puppe dahockte.
4b: Konsequenzen Drywater lag neunzehn Meilen hinter dem Rand. Es wurde von niedrigen Bergen umringt. Nie war hier etwas gewachsen. Dies war die unveränderte Oberfläche der Welt, und sie bestand aus verstreuten Silikatscheiben und porösen Gesteinskrusten. Die Straße folgte den Windungen des Flußbetts. Für die Last- und Geländewagen, die von Ludlow Grange kamen, wirkte die Landschaft gespenstisch, bedrohlich. Die Strahlenbündel ihrer Scheinwerfer zogen eine Spur über große, brüchige, pilzförmige Auswüchse von Tuff, die aus dem uralten Seeboden hervorragten, und glitten über Hügel fettiger Kügelchen – den schlüpfrigen ›Scheißstein‹, der die ersten Pioniere so verwirrt hatte. In der Dunkelheit schwarz, erlangten diese Hügel im Licht eine Mischung ungesunder Farben – Töne von Rot und Braun und Gelb. Der erste Jeep fuhr auf dem Scheitelpunkt der Steigung an den Rand, neben eine Steinsäule. Ein Mann mit einem Gewehr stieg aus. Er blieb minutenlang stehen, schaute seinem Atem nach und über die Lichter von Drywater unten am Ende der gerade abfallenden Straße hinweg, über die verstreuten Bauwerke am Rand, die leuchtende Halle.
4c: Sex (II) Am Grunde der Straße, in einer viereckigen Steinkammer, lagen Katharine Styreme und Simon Mayaram beieinander in einem Nest aus Decken. »Fick mich«, murmelte sie. Doch ihre Gedanken waren woanders. Ihr Körper war für winzige Empfindungen empfänglich. Doch ihr Geist war woanders. Sie lauschte der Musik in den Wänden und in der Luft ringsum, den ersten paar Noten einer imaginären Sonate, einer Sonate für vier Hände, die teils Bartok und teils Liszt war, und nie konnte man mehr als die Hälfte davon auf einmal hören, und sie beschrieb die Treppe, die sie hinabführen würde. Seltsam, wie ihre Musik sie verlassen hatte. Vorher hatte sie ihr immer Trost gespendet. In den harten Zeiten ihres Lebens war sie immer dagewesen. Doch in diesem Gefängnis, als sie in der Kälte lag, hatte sie oft versucht, in Gedanken ihre Lieblingsstücke durchzugehen. In den schwarzen, leeren Stunden hatte sie versucht, sich mächtige und vertraute Melodien ins Gedächtnis zu rufen, und es war ihr nicht gelungen. Vielleicht war es so, wie sie sagten. Vielleicht war die Musik schließlich doch ein Konzept der Menschen, und sie ließ es hinter sich zurück. Ließ es hinter sich am oberen Ende der Treppe zurück. Die Treppe war reich geschmückt, gotisch, eng, von Holz, von einer Art, wie sie es auf Ansichtskarten aus mittelalterlichen Kirchen gesehen hatte. Und vielleicht lag oben die Welt, wie sie in Wirklichkeit war, und Dinge waren fest und simpel und im Herzen tot, und das Licht Gottes spielte auf ihren Oberflächen. Wo Menschen Seelen hatten und alles andere tot war, träge. Wo es keine Engel und keine Teufel gab und ruhende Gegenstände im Zustand der Ruhe verharrten. Wo
die Ursachen klar waren und die Sonne schien, und eine andere Treppe führte aufwärts, dessen war sie sich sicher. Doch nun stand sie zitternd auf den ersten Stufen abwärts, und vielleicht hatte sie schon die Biegung erreicht, den Absatz, von dem aus sie hinab ins Dunkel spähen konnte. Die Musik toste rings um sie, wild und verhalten, pompös und karg, und sie schritt mitten in sie hinab, fühlte die Textur jeder Stufe an ihren bloßen Füßen, fühlte mit grenzenloser Klarheit auch die Berührung von Simons Händen auf ihrem Magen und ihren Brüsten. Sie lag nackt auf dem Rücken inmitten der Decken, und ihre Hände und seine hatten sie ausgezogen, ihre Hände und seine berührten sie. Die Treppe war nicht lang. Auf jeder Stufe stieg und sank die Temperatur, so daß sie, als sie am Grunde stand und ihre Augen sich an den neuen Schatten gewöhnen ließ, sich zugleich heiß und kalt fühlte. Es war, als habe sie nun die Fähigkeit verloren, Extreme zu einer erträglichen Empfindung zu vermischen, und das vielleicht für immer. Vor ihr schien ihr der Weg leuchtend dunkel. Und vielleicht war eben das die Hölle – die grenzenlose Fähigkeit, Dinge voneinander zu trennen, so daß nichts von seinem Gegenstück gedämpft wurde. Sie stand in jener grauen Landschaft am Grunde der Treppe, spürte die Empfindungen in ihrem Körper herbei- und fortströmen, und sie erinnerte sich an eine Predigt des heiligen Robert Bellarmin. Manche Worte hatte sie in der Schule unterstrichen: wie sich geistige Qualen naturgemäß in vier Arten teilten – die der Vorstellung, der Erinnerung, des Verstandes und des Willens. Welch große Furcht sie hatte! Wie scharf ihre Erinnerungen waren, wie bitter ihre Reue, wie verzweifelt ihr Abscheu vor anderen und vor sich selbst. Doch weil in jedem lebendigen Ding ein Teufel des inneren Zwanges steckt, fand sie sich voller Eifer voranzuschreiten; sie ließ den geschnitzten Treppenpfosten los
und stolperte vorwärts, spürte dabei mit völliger Klarheit das geborstene Vulkangestein, von Rauhreif bedeckt. Rings um sie dröhnte das alte Klavier. Sie fühlte Simons Gesicht auf ihren Lippen, und sie öffnete ihm ihren Mund und steckte die Zunge in seinen. Seine Hände waren mit seinem Speichel bedeckt, und sie glitten über ihre Brüste, setzten winzige Gerüche frei. »Wie können wir den Gestank der Hölle beschreiben?« fragte Robert Bellarmin. Sie stand auf dem geborstenen Fels, von Nebel umwirbelt, und vor ihr wichen zwei Schatten zurück. Einer war ihr Vater, der über den unebenen Boden humpelte, auf seinen Stock gestützt, und der durch seine große Brille um sich blickte. Der andere, größer und verhängnisvoller, war die Gestalt des Dämons, dessen beredte Hände sie mit Gesten weiterwinkten, sie vorwärtszogen, als hielten sie in ihrem Körper verankerte Schnüre. »Mutter Gottes«, betete sie. Und mit einemmal nahm sie das Gewicht Simons auf sich wahr, und sie fuhr mit den Fingern zwischen seinen Hinterbacken hinab und leckte das Innere seines Mundes, und leckte sein Kinn, seine Schulter, seine Achselhöhle.
4d: Dämonen (IV) Es war schwer gewesen, sie allein zu lassen, auch nur für eine Stunde. Nun war es schwer zurückzukommen. Schwer, wieder in diesen traurigen Sturm einzutauchen. Mit den frischen Wunden auf den Wangen legte er sich neben sie. Er schwitzte, obwohl die Kammer kalt und dunkel war. Die Wicklungen des Heizers waren nur eine gelbe Spirale. Er lag mit dem Rücken zu ihm; jetzt zog er ihr Hemd ein Stück beiseite, so daß er sie berühren konnte, so daß er ihr Feuer
spüren konnte. Er spürte es unter seiner Haut, und es heizte sein Inneres auf, und es brannte dort wie eine gelbe Flamme. Tagelang war es in sich zusammengesunken, kälter geworden, während ihr Körper von außen nach innen austrocknete und steif wurde. Nun blieb sie starr unter seiner Berührung. Doch das Feuer glomm noch in ihrem tiefsten Innern, und als er sie fest umarmte, fühlte er, wie es wuchs und die Farbe wechselte und durch ein Intensitätsspektrum hindurch aufflammte. Sie spürte ihn jetzt. Sie wußte, daß er hier war. Das Band, unterbrochen, als er fortgegangen war, um mit Harriet Oimu um sie zu kämpfen, wurde nun wieder geflickt. Er hatte das Gefühl gehabt, etwas tun zu müssen, nicht einfach daliegen und auf ihren Tod warten zu können. Doch da er nichts erreicht hatte, außer abermals seine absolute Erniedrigung zu spüren und abermals zu hören, daß sie sterben müsse, tat es ihm jetzt um jede Sekunde leid, die er fern von ihr verbracht hatte. Zumal weil nun, da er sie berührte, jeder Augenblick ein Land zu sein schien, eine endlose Landschaft von gemeinsamen Erinnerungen, von Raum und Zeit, jeder mit seiner eigenen verlorenen Vergangenheit, seiner eigenen verlorenen Zukunft. Daran erkannte er zuerst, daß sie sich verändert hatte, daß sie weicher geworden war, sie und ihr Wille. Denn nun schienen ihre Erinnerungen übereinzustimmen, als erlaube sie ihm nun zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben, die Führung zu übernehmen und sie zu beherrschen, und als hoffe sie, in dieser Führung einen letzten Trost zu finden. Sie lagen beieinander auf dem steinernen Bett. Zusammen nun, Hand in Hand, er voran, führte er sie fort durch ihr gemeinsames Leben, immer auf dem leichtesten Weg. Er führte sie durch ihre früheste Kindheit, als ihr Vater lebte und sie in der Höhle lebten, die von den heißen Felsen und dem heißen Tümpel warmgehalten wurde. Und Vater fing für sie
Käfer in der Falle und zerquetschte sie zu einem Brei. Damals waren noch andere von ihrer Art in den schwarzen Bergen des Randes am Leben, und ringsumher spürte man sie über große Entfernungen im Geist und fühlte ihre Liebe und ihre Sorge. Sie waren die kleinen Kinder, er und sie, sorgsam gehütete Hoffnungen, und sie spürten es jede Minute, jede Stunde; es war das Sternenlicht ihrer Kindheit im Dunkel. Er wußte jetzt, daß sie schwächer wurde, denn sie blieb hinter ihm zurück. Doch statt es leichter zu machen, statt innezuhalten, zog er sie aus einer Art Verzweiflung vorwärts, versuchte ihr mehr und mehr zu zeigen – sich an dies und an dies und dies zu erinnern –, bis sie strauchelte und sich losriß. Sie war neben dem Weg hingefallen. Er kniete über ihr und legte die Hand auf ihr Handgelenk. Zuerst gab es in ihr nichts, was er fühlen konnte, nur Leere und Dunkelheit. Dann begann etwas zu wachsen, ein Feuer, eine Energie, die aus ihr hervorsprudelte und ihn zwischen die Welten zurückschleuderte, wo er sich hinkauerte und sie beobachtete. Und obwohl er wußte, was er sah, und obwohl ein Teil von ihm in Verzweiflung versunken war, stieg doch ein anderer Teil zusammen mit ihr empor, glücklich über diesen letzten Ausbruch des Lebens. Das Feuer schlug rings um sie hoch, brannte auf ihrer Haut, chaotisch, rot und blau, und er erblickte seltsame Schatten und seltsame Formen, als es heißer und heißer wurde und eine falsche, verzweifelte Kraft gewann. Er sah sie gekrümmt am Wege knien, eine schwarze Gestalt - er sah die Rundung ihres Rückens, sah ihre Hände über dem Kopf. Sie gestikulierten und formten Worte, die in Stichflammen fortwehten, und er konnte sie nicht ausmachen, bis er sie in seinem Kopf und seinem Herzen tosen hörte: ICH BIN ICH BIN ICH BIN ICH BIN. Das Feuer brannte die Felsen und den Weg weg, und brannte alles weg außer dem, was war. Und er lag bei ihr auf dem
steinernen Bett, seine nackte Haut an ihrer, und er fühlte, wie ihre Haut ihn verbrannte, ihre Hitze um ihn her aufstieg. Er fühlte, wie ihr Geist emporstieg, den kalten Raum erfüllte, auch ihn mit einem Sturm von Licht und Hitze erfüllte. Er zog die Hände zurück, um seine Augen zu bedecken. Überall rings um ihn pulsierten Farben und brachen sich, Urfarben mit keiner Spur Rot oder Gelb oder Blau darin, mit nichts darin, was Menschen verstehen konnten. Es waren Farben, die den Schweigenden Töne bringen, den Tauben Musik, den Hungernden Nahrung, Liebe den Ungeliebten. Sie bewegten sich in ihm und sprachen zu ihm und flüsterten seinen Namen und riefen seinen Namen immer eindringlicher. Im Geiste schrie er: ICH BIN HIER, doch der Schrei verlor sich in dem Sturm, der rings um ihn tobte, der ihn niederwarf und seinen Augen weh tat, bis er endlich nachließ, abflaute, entwich und für immer verschwand, und er blieb zurück in dem dunklen Raum, in dem dunklen, kalten Raum, ganz allein neben dem leeren Körper seiner Schwester, und er lag im Dunkel. Dann, endgültig und unwiderruflich allein, rief er noch einmal nach ihr, ein Mal, mit all seiner Kraft. Martin Cohen, der in dem Lager-Vorraum wartete, hörte nichts als seinen schnaufenden Atem. Simon, eine halbe Meile entfernt, in seiner Zelle unter den Decken zusammengekrümmt, hörte nichts. Neben und unter ihm schlief Katharine, nackt inmitten ihrer Kleidungsstücke. Sie lag auf dem Bauch. Ihr Körper, golden im Licht der Laterne, erschien ihm unwirklich schön. Er beugte sich herab, um ihre Schulter zu küssen, noch immer überwältigt von der Raserei, mit der sie sich ihm hingegeben hatte, überwältigt davon, wie er es angenommen hatte. Es ist die Furcht, dachte er. Wir werden von unserer Furcht zueinander getrieben. Er strich mit den Fingern über die Seite ihrer Brust, den Brustkorb hinunter und über ihren Rücken, ihre Hinterbacken.
Er kratzte mit dem Daumennagel die getrocknete Kruste seines Spermas ab, in die Furche ihres Gesäßes gespritzt. Er berührte ihre Schulter. Er spürte den Drang, sie von neuem zu besteigen. Ihr Körper strahlte Hitze aus. Er neigte sein Gesicht zu ihr hinab. Er nahm ihren Geruch nicht mehr wahr. Statt dessen sah er zu, wie der Atem durch ihre Lippen ging, die an der Decke auf dem Boden plattgedrückt waren. Er beugte sich herab, um sie auf die Wange zu küssen. Doch nun war sie wach, plötzlich, auf schmerzhafte Weise wach. Ihre Augen öffneten sich jäh, und sie wich vor ihm zurück und schlang sich die Arme um den Kopf. Und einen Moment lang war er verletzt von dem, was er für einen erneuten Anfall von Widersprüchlichkeit hielt. Dann sah er, daß sie Schmerzen hatte, wirklich Schmerzen litt; sie wandte sich um, und ihr Rücken bäumte sich vom Boden auf. Und sie preßte die Hände gegen die Ohren und schrie.
4e: Die Bruderschaft des Menschen Der Mann stand auf dem Scheitelpunkt der Steigung und schaute über die die Dämonenruinen hinweg, sein Gewehr in der Hand. Er hatte den Motor seines Wagens laufen lassen, die Tür stand offen. Er trank aus einer Glasflasche Whisky. Als er fertig war, warf er sie gegen den steinernen Pfosten des Dämonentors. Sie blieb dort hängen, ohne zu fallen. Andere Männer standen um ihn herum, rauchten Zigaretten, kauten Gummi, tranken wortlos.
4f: Reverend Cohen zeigt Mitgefühl Martin Cohen wartete im Lager-Vorraum, in eine Decke gehüllt. Er saß auf der Fensterbank zwischen den Kisten mit getrockneten Lebensmitteln und rieb sich den Mund. Das war so eine Gewohnheit von ihm. Er preßte die Unterlippe zwischen den Fingern. In ihm war ein Zweifel, oder eher eine Überzeugung, die in der von der Laterne erhellten Dunkelheit ein fortdauernder Bestandteil von ihm zu sein schien, die fortdauernde Grundlage von allem, was er getan hatte. Der Grieß in ihm hatte eine Perle gebildet, wenn man es so nennen konnte. In der Schule hatte ihm sein Gedankenbeichtiger einmal gezeigt, wie man ohne aufzuhören betete, wie man ein Gebet unablässig durch den Hippocampus kreisen ließ. Es war eine Übung, die Reverend Geoffrey Kiyingu-Christ, die siebente Hauptverkörperung von Jesus Christus, erfunden hatte, kurz vor seiner Ermordung in Addis Abeba. Es war ein mentaler Trick, nicht schwierig. Doch Martin Cohen, Gewinner von Preisen für Gelehrsamkeit, hatte es nie gelernt. Dieses langsame Rad hatte sich nie für ihn gedreht. Es war eine andere Kraft, die ihn in Bewegung und in Zuckungen versetzte, die ihn in eine Welt des Dienens hinausgetrieben hatte. Das Friedenskorps, das Missionarische Korps; einmal hatte er ein kommunales Gesundheitsprogramm in der Nähe von Deseret geleitet. Es hatte eine Tuberkulose-Epidemie unter den Ureinwohnern gegeben, die gegen Streptomyzin und etliche andere Antibiotika allergisch waren. Er hatte in einem Raum voller Menschen gesprochen, und während er sprach, war ihm ein langsamer innerer Gesang hinter seinen Schläfen zu Bewußtsein gekommen, wo eigentlich das Gebet sein sollte. Er hatte zu reden aufgehört, als wolle er etwas unterstreichen, in Wahrheit aber, um die Worte hören zu können: »Bitte,
Jesus«, was soweit in Ordnung war. Aber dann: »Laß sie alle sterben, bitte, Jesus.« Er hatte seinen Vortrag mit lauter und panikerfüllter Stimme beendet. Er strich sich mit den Fingern über die Augenbrauen, rieb die Runzeln zwischen seinen Augen, als wolle er sie glattstreichen. Er fuhr mit dem Finger weiter über seine kahle Stirn. Was hatte ihn dazu gebracht? überlegte er. War es dieses Gebet? Auf der Fensterbank stand eine Laterne. Sie warf einen runden Lichtschein. Welches Tier zitterte jenseits des Lichtes? Was bewegte sich? Da war etwas; er wartete, und schließlich öffnete sich die Tür, und eine Ureinwohnerin kam herein, eine Pistole in der grobschlächtigen Hand. Sie trat in den Kreis: eine Frau in einer Wattejacke, in einem Rock aus dickem roten Stoff. Ihr Haar war lang und glatt und in der Mitte geteilt. Ihr Gesicht war ziemlich schön geformt, ziemlich ausdrucksstark, was das Kriterium war. Gefühle erschienen auf seiner falschen Oberfläche; sie hatte Angst. Sie stand im Licht, und das Licht spiegelte sich auf ihrer Brille. »Schläft er?« Martin Cohen schüttelte den Kopf. Sie erwartete, daß er etwas sagte. Er schaute sie an, auf einmal empfänglich, dachte er, für alles ringsum: die schneidende Kühle der Luft. Die Kälte der steinernen Bank durch die Decke hindurch. Die Zeit rann langsam, und er machte Gebrauch davon, indem er das Flackern von Gefühlen auf ihrem Gesicht zu lesen versuchte. Sie hatte diesen Auftrag nicht gewollt. Sie glaubte nicht daran. Sie hielt es nicht für notwendig. Und sie hatte große Angst. »Die Revolution ist nicht gekommen«, sagte er. Ihre Brauen zogen sich zusammen, und ihre Linke machte eine kleine Geste. Harriet Oimu hatte ihnen gesagt, daß ein einziger Funke die Welt in Flammen setzen würde. Das Volk würde sich erheben. Doch das hatte es nicht getan. Es hatte einen Zwischenfall in
Shreveport gegeben, aber das war alles. Er hatte im Radio davon gehört. Was also blieb zu tun? Auf der Dämonenstraße weiter ins kalte Dunkel? Und vielleicht war der erste Schritt auf dieser Straße der Mord an einem hilflosen Wesen. »Gib mir die Schlüssel«, sagte sie. Er holte sie aus der Tasche, zuckte dann die Achseln und stand auf. »Ich werde hineingehen und mich verabschieden«, sagte er nach einer Weile und ließ seine Stimme verebben. Wieder machte sie mit der Hand eine Geste. Er schaute ihr ins Gesicht und sah, wie sich Sorge mit Erleichterung mischte. Er drehte sich um und steckte den Schlüssel ins Vorhängeschloß. Er stieß die Tür auf, schlüpfte hindurch und stieß sie wieder zu. In der kleinen Zelle blieb er mit dem Rücken an der Tür stehen und atmete den kalten Geruch des Todes. Der Dämon hatte seine Schwester auf der Steinbank ausgestreckt. Er hatte sie ausgezogen und ihre Glieder ausgestreckt. Sie lag auf dem Rücken, die Hände auf der Brust gekreuzt, so vollkommen wie ein Gipsmodell. Die Linien auf ihrem Bauch und ihren Schenkeln waren zu Gelb verblaßt. Die Einschußlöcher des Schrots waren aufgebrochen, als ihre Haut ausgetrocknet war. Der Raum war kalt und still. Der Dämon hatte den Heizer ausgeschaltet; er saß in einer Ecke am Boden, in Decken eingehüllt. Licht kam von einer Kerze auf der Bank. Es wehte kein Luftzug, und die Flamme blieb hell und ruhig. Martin Cohen hörte das Klirren einer Kette. Der Dämon hatte seine Stellung verändert, die Ecke einer Decke zurückgeworfen, um seine Hände zu zeigen, und die Kette um sein Fußgelenk schurrte über den Boden. Ohne zu sprechen, fast ohne zu denken durchquerte Cohen den Raum und hockte sich hin. Er hatte jetzt einen anderen
Schlüssel in der Hand, einen kleineren, und wortlos fummelte er unter der Decke. Der Dämon streckte sein Bein aus, und Cohen öffnete das Schloß und zog die Kette hervor. Der Dämon machte mit dem Zeigefinger eine Geste. »Ich weiß, ich weiß«, murmelte Martin Cohen. »Ich habe etwas Creme.« Die Haut unter der Kette war wund und abgescheuert. Der Dämon schüttelte den Kopf. »Es wird den Schmerz lindern«, sagte Cohen mit Handbewegungen. »Ich habe etwas in meiner Tasche. Es ist in Ordnung, weißt du«, sagte er. »Ich habe mit Mrs. Oimu gesprochen, und sie…« Der Dämon zwinkerte einmal mit seinen fahlen Augen. Sein fahler Arm, böse, dünn und geschmeidig wie eine Schlange, glitt zwischen den Decken hervor, und seine Hand erfaßte Cohens Handgelenk. Es war eine Bewegung, die das Reden erschwerte, doch erfüllt von einer anderen Art harter Kommunikation; Cohen machte keinen Versuch, die Hand wegzuziehen. Er blieb atemlos dort hocken und hatte das Gefühl, als ob irgendwie kalte Finger in ihn hineingeglitten seien und sich um seine Leber oder seine Lunge geschlossen hätten. Es war eine Kommunikation, die fast Sex glich, zumindest für ihn, eine harte Sexualität, die aus seinen innersten Ängsten über sich selbst zu entspringen schien, aus seiner innersten Schuld. Ah, dachte er, nimm mich, doch der Druck war fort, und Cohen schlug wieder die Augen auf. Die Hände bewegten sich dicht vor seinem Gesicht. Vielleicht war es ein Lichteffekt, doch es schien, als sei alles andere im Raum verschwunden, und er starrte diese Hände an, folgte der geringsten Bewegung dieser Hände, verlangte zu verstehen, als sei in diesen vollkommenen Gesten alles zusammengedrängt, was von Bedeutung war. »Du weißt
nichts«, sagten die Finger, die vor seinen Augen zuckten und seine schulderfüllten Gedanken wiedergaben. »Du weißt nichts«, sagten sie. »Du weißt nichts, nichts, nichts, nichts, nichts. Sie ist fort, fort, fort, fort, fort, fort, fort. Du bist hier mit deinen verkrüppelten Händen. Sprich nie wieder. Du bist ein Wesen von der blinden Rasse, die niemals versteht. Blinde mit Bildern in ihrem Geist, und uns behindert unserer Sehvermögen. Wir sind schwach von der Wahrheit. Wir können nicht widerstehen. Doch ihr seid an der Oberfläche gefangen, auf der Haut der Zeit. Ihr könnt die Gründe nicht sehen, die dunklen Gründe, die lichten Gründe, die weichen Gründe, die harten Gründe, die häßlichen Gründe, die süßen Gründe, die langsamen Gründe und die schnellen.« Sag sie mir, dachte Martin Cohen. »Ich kann sie dir nicht sagen. Eure Augen können sich nicht weit genug öffnen, um sie aufzunehmen. Was wißt ihr über den Tod? Was wißt ihr über das Leben vor uns? Was über das Leben hinter uns?« Nichts. »Nichts, nein.« Die Hände schwiegen, in der letzten Konfiguration erstarrt, die sie immerzu wiederholten. Martin Cohen wandte das Gesicht ab und schloß die Augen. Und in der plötzlichen Dunkelheit erschienen ihm neue Gedanken: So hatte dieses Wesen nie zuvor gesprochen. Die Tote hatte nicht so gesprochen. Vielleicht waren diese Worte, dachte er, aus ihm selbst gekommen, Teil seiner Zweifel und seiner Hoffnung, die darin lebten wie ein ungeborenes Kind. Er hatte kein Talent für diese Sprache, wo jeder winzige Millimeter in der Bewegung eines jeden Fingers einen Unterschied ausmachte, der zu fein für menschliche Gehirne war. Vielleicht waren diese Worte aus seiner Unwissenheit entstanden, aus seiner Schuld, aus der Intensität, mit der er sich bemüht hatte, das Gespräch zu verstehen, vielleicht das letzte,
das je in dieser Sprache versucht wurde. Nein, dachte Martin Cohen, er war dumm gewesen, langsam. Er hatte Worte aus dem geformt, was zu hören ihn verlangte, und in diesem Augenblick erschien ihm sein Verlangen nach Verständnis so dringlich wie ein Schrei, ein lauter Schrei, doch weit entfernt. Und in der Tat war ein Geräusch in ihm, in der Stille seines Geistes. Da war eine Stimme. »Laß sie alle sterben«, sagte sie. Oder vielleicht war es etwas anderes, halb vernehmlich, gehört in der Ferne, und ein Filter in ihm machte dies daraus. Er öffnete die Augen. In diesen Dingen gab es keine Wahl. »Ich habe eine Creme für deine Gelenke«, signalisierte er zögernd, doch der Dämon hatte sich abgewandt, seinen ausladenden Kopf in den Decken vergraben. Er streckte die Hand aus, um das Knie des Dämons zu berühren, zögerte dann, und dann stand er auf.
4g: Katharine (IV) Sie hatte einen Schrei aus der Grube vor sich gehört. Das Wesen in der Grube hatte einen Namen gerufen, und obwohl es sich weit entfernt befand, war seine Stimme unerträglich deutlich gewesen, unerträglich präzise, war in sie eingedrungen und hatten alle anderen Gedanken verdrängt. Einen Augenblick lang, während sie über das gleichzeitig heiße und kalte Felsgestein stolperte, sah sie vor sich ein Abbild ihres eigenen Gesichts, als sei es auf eine Tafel, eine Leinwand oder auf Putz gemalt. Er war unerbittlich, riesig. Und sie sah ihren eigenen kleinen Geist, wie er aus diesem gemalten Mund in die Welt hinausgestoßen wurde: eine nackte, wurmartige Frau, die sich auf gewaltigen gelben Lippen festklammerte, sich wand und gegen den Atem ankämpfte, der sie hinausdrängte.
»Fick mich noch mal«, sagte sie. Sie lag auf dem Bauch am Boden. Der Mann lag über ihr, und sie spürte, wie seine Hand über ihren nassen Rücken strich, und sie fühlte, wie sich sein Glied gegen sie preßte; jetzt verlagerte er sein Gewicht auf ihr, und einer seiner großen Arme umschlang fest ihren Hals. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Sein Gewicht senkte sich auf ihren Rücken, drückte sie gegen den Boden. Sie öffnete den Mund und fühlte den Atem herausschießen. Er bildete vor ihr einen Nebel, der ins Dunkel wirbelte und in dem Kristalle glitzerten, und sie stellte sich vor, wie sie aus ihrem eigenen behaglichen Mund in diesen Nebel hinabkletterte. Irgendwo vor ihr lag die Grube. Sie roch den Schwefel. Gewaltige Gestalten lauerten ringsum in den Schatten, und sie erkannte sie wieder. Sie hatte sie in Bilderbüchern und auf Gebetskarten gesehen, die ihr ihr Vater gegeben hatte. In der Schule hatte sie zu ihnen gebetet. Damals waren sie kleiner gewesen, erreichbar, ansprechbar. Doch nun waren sie gewaltig, von der Größe ihres verlassenen und reglosen Körpers auf den Steinen hinter ihr. Sie beugten sich über den verlassenen Körper; sie waren in Nebel gehüllt und so groß, daß sie nur kleine Teile von ihnen sehen konnte. Dennoch erkannte sie sie: Katharina, unergründlich, in der Hand ihr brennendes Rad. Laurentius mit seinem Rost. Rochus, mit Pestbeulen bedeckt. Thomas Morus. Hildegard von Bingen, die behauptete, im Traum Jesu Vorhaut gekostet zu haben. Die heilige Jeanne d’Arc in polierter Rüstung mit ihrem langen zweihändigen Schwert. Die heilige Theresia von Avila war da, und der heilige Johannes vom Kreuz: alte Freunde, die ihr beim Lernen geholfen und nachts ihr Bett behütet hatten. Sie hatte sich oft um Rat an sie gewandt, war mit moralischen Problemen auf sie eingestürmt, und sie hatten sie nie im Stich gelassen. Wenn sie
erniedrigt oder verletzt worden war, hatten sie ihren Schmerz in sich aufgenommen, in ihre eigenen gequälten, gefolterten, kasteiten Körper. Doch nun wirkten sie verwirrt und hilflos. Sie irrten durch den Nebel und dirigierten einander mit unsicheren Stimmen, die sie wie ein Unwetter umschwirrten. »Helft mir«, betete sie. Sie waren riesig. Sie lag auf dem Felsgestein, nackt und schutzlos. Sie preßte das Gesicht gegen die Steine, verletzte sich dabei die Lippen. Doch dann fühlte sie, wie sich über ihr eine Gestalt formte, und sie fühlte eine Hand ihr Haar ergreifen und ihren Kopf emporziehen. Es war Theresia von Avila, und ihre Hand war grob und stark, und ihre Stimme rauh wie Wind, und sie sagte: »Das ist nicht länger der Ort für Trost. Das ist der Weg, den wir alle allein gegangen sind. Er hat uns durch Länder der Versuchung und des Kummers geführt, und er führte unter den Beinen des Teufels hindurch, und er führte uns zu unserem Tod.« Dann war sie fort. Der Wind hatte sich gelegt, und ihre Finger waren wie Fühler aus Nebel, und der Nebel verzog sich, und Katharine hob den Kopf, und nun konnte sie klarer sehen. Zuerst die Treppe, die einen hinab in die Dunkelheit führte. Am Grunde bewegte man sich über die Steine voran, die zugleich heiß und kalt waren. Und dann hörte man die Stimme des Dämons, die aus der Grube kam, und sie fuhr einem in den Körper und trieb einen hinaus, nackt und klein. Dann ging man weiter durch den Wald der Heiligen, und die Grube lag vor einem, irgendwo jenseits des Diamantsandes, jenseits des schwarzen Glases, jenseits des Eispanzers, und man würde sie finden, ob man sie suchte oder nicht. Der Mann zitterte über ihr, und sie spürte seine starken Arme, seine starken Hände und Finger. Sie lag auf dem Bauch, und er fuhr mit den Fingern ihre Gesäßfalte hinab. Sein Gesicht lag auf der Rückseite ihrer Schulter, und sie hob den Kopf, drehte
ihn und fühlte sein Ohr. Sie küßte ihn, und mit ihrem Munde an seinem sagte sie ihm, was sie wollte. »Warte ein bißchen«, sagte er. »Ich kann nicht warten.« Sie spürte sein Glied an ihrem Bein, und es war schlaff. Zu anderen Zeiten und tags zuvor war das ein Zeichen gewesen, und sie hatte darauf reagiert, indem sie sich ihm zugewandt, es in den Mund genommen und seine Vorhaut zurückgeschoben und es liebkost hatte. Sie war in eine winzig kleine Welt des Gliedrutschens eingetreten, eine Welt, die zu klein war, als daß sie irgend etwas anderes aufnehmen konnte, eine Welt, an deren Schwelle sie alle Ideen, Halluzinationen zurücklassen mußte, sogar alle Wünsche. Es war friedlich in dieser kleinen Welt. Jetzt war es anders. Er gab nicht nach, ließ sie nicht heran, als sie die Hand bewegte. Er lag mit einem Teil seines Gewichts auf ihr, den Arm um ihren Hals geschlungen. »Wir wollen uns ausruhen. Laß uns beisammen sein.« Beisammen, dachte sie, und in der Geisterwelt, wo sie über die öligen Felsen stolperte, sah sie, wie sie zum Himmel emporblickte, als fürchte sie, das Wort ›beisammen‹, lang und flach, schwer und bedeutungslos, könnte plötzlich aus dem dunklen Himmel herabfallen und sie erschlagen. Was meinte er? Beisammen? Wo war er in jener Landschaft? Da war er. Ein schwarzer Hund, der vor ihr auf den Felsen stand. Ein schwarzer Labrador, vielleicht mit etwas Doggenblut, groß und gefährlich, mit brutalen, stumpfen Augen. Völlig schwarz, durch und durch schwarz, außer der roten Spitze seines Gliedes, als er ein Bein bewegte. Dieses Tier, dieses zu Vernunft oder Mitgefühl unfähige Vieh, dieses Geschöpf, das ihr Gewalt antat, wenn sie am schutzlosesten war. Immer wieder. Wie war das möglich? Was
hatte sie hierhergeführt? Sie hatte mit ihrem Vater Klavier gespielt. Sie fühlte den Drang zu schreien, vermochte es aber nicht. Doch ein Laut drang aus ihr, verzerrt und rauh, ein tierischer Laut, und darum reagierte er darauf. Er sprach ihren Namen. »Oh, Katharine. Kathy, was ist los?«, und sie wimmelte unter ihm. Im Geisterland wimmelte sie auf den Felsen, als diese Worte aus dem Himmel auf sie fielen und der Hund knurrte. Jemand klopfte an die Tür, und das Schloß ging klickend auf. Das Gewicht war von ihrem Rücken verschwunden, und sie stützte sich auf den Ellbogen hoch. Sie begann zu lachen, als sie den Mann mit seiner Kleidung herumfummeln, die Hose über seine dunklen, behaarten Beine hochziehen sah. Er warf die Decke über sie und stand dann auf; sie drehte sich auf die Seite. Die Tür stand offen, und ein anderer Mann war da, ein Mensch mit einer Laterne und einer Tasche. Es war der Abtrünnige, der Kiyungu-Priester. Sie hatte gesehen, wie er den Teufel an einem Halsband führte. Sie drehte das Gesicht weg und preßte es in die Decke. In der Geisterwelt kam ein anderer Hund die Steine herabgerutscht, zögerlich und langsam, ein weißer Hund mit einer Spur Orange, den Schwanz eingezogen, die Zähne gefletscht, mit gesträubtem Nackenfell. »Gott sei Dank, daß es noch nicht zu spät ist.« In der Geisterwelt hatte diese Erwähnung Gottes eine merkwürdige Wirkung, und sie studierte sie mit einem Teil ihres Verstandes, während die Hunde sich gegenüberstanden und versuchten, den jeweils anderen zum Zurückweichen zu bringen. Licht spritzte aus den Wolken, und es spritzte auf die Felsen und ließ sie einen Moment lang aufglühen, ehe es wegsickerte. Der schwarze Hund beachtete es nicht; er stand steifbeinig da, den schweren Kopf vorgereckt, während der weiße um ihn herumschlich. Und sie bemerkte, daß bei beiden das Glied
bloßlag, und beide langen roten Spitzen waren aus ihrer Umhüllung hervorgetreten. »Was wollen Sie?« »Ihnen helfen. Ich kann Ihnen helfen, aber Sie müssen sich bereitmachen. Ich komme wieder – es bleibt nicht viel Zeit.« »Was wollen Sie?« Sie hörte, wie er sein Hemd anzog, wie seine Fingernägel gegen die Knöpfe klickten. Sie hörte, wie er erschauderte, als sein Schweiß in der Kälte trocknete. Der andere atmete schwer, und die Laterne in seiner Hand machte ein kleines klirrendes Geräusch. »Sie müssen hier weg. Wir alle müssen das. In zehn Minuten komme ich mit noch etwas Nahrung und Vorräten zurück.« »Wer sind Sie?« »Ich bin ein Mensch. Mein Name ist Martin Cohen. Vertrauen Sie mir, denn jetzt bin ich nicht auf der Seite dieser Leute. Ich war es nie. Nicht freiwillig. Ich bin Priester.« »Aber ich habe Sie gesehen.« »Ja, ich weiß. Ich erkläre es später, aber jetzt ist dafür keine Zeit. Egal – ich sag Ihnen, was ich weiß. Sie müssen diesen Ort verlassen. Wir werden uns in den Bergen verstecken und zurück nach Shreveport gehen. Ich zeige Ihnen den Weg; ich gehe auch.« Der schwarze Hund stand hoch aufgerichtet da. Seine Krallen kratzten über den Fels. Der weiße Hund setzte sich etwa zehn Fuß entfernt auf die Hinterkeulen, den Schwanz eingezogen. Sie waren im Walde der Heiligen, einem nebligen Ort voll gebrochener Bäume und feuchter, fauliger Gerüche. Ein Pfad führte zurück, woher sie gekommen war, gerade und deutlich zwischen den Bäumen hindurch, und ein Streifen glitzernden Wassers kennzeichnete ihn; neben dem Pfad lief ein Graben, der den Steinhaufen umfloß, wo sie jetzt stand und die Hunde
beobachtete, im Ungewissen über den voranführenden Weg, ob sie ihn gehen sollte oder nicht. »Das alles hat fast als Scherz begonnen. Ein verrückter Scherz von Harriet, aber jetzt spielen sie nicht mehr – sie haben mich gefangengenommen. Theodore Oimu ist tot, und niemand hat eine Nachricht geschickt, weder ihr Vater noch sonstwer. Sie hatten gehofft, es würde wenigstens zu einem Streik kommen, aber niemand hat von so etwas gehört. Also wollen sie jetzt retten, was zu retten ist, und weitergehen – Sie wissen, was das bedeutet.« Der schwarze Hund regte sich nicht. »Vertrauen Sie mir nicht. Es spielt keine Rolle. Nein, aber nehmen Sie die Sachen. Nehmen Sie die Nahrung und gehen Sie, weil Sie nichts zu verlieren und kaum eine Wahl haben. Wenn Sie bleiben, wird man Sie umbringen.«
4h: Ein Mord Nachdem Martin Cohen gegangen war, blieb der Dämon sitzen und rieb sich die Knöchel. Da er keine Ohren hatte, begriff er nicht, daß die Tür seiner Zelle unverschlossen geblieben war. Doch mit anderen Sinnen spürte er, daß sich eine Bedrohung zusammenballte, daß jemand auf der anderen Seite der Tür stand. Er war ein Ureinwohner, und er war für ihn blockiert, ihm durch seine Medikamente verschlossen. Er nahm ihn als leeren Schatten wahr, als dunklen Umriß. Keine Wärme oder Licht oder Bedeutung ging von ihm aus. Die Droge bildete eine schwarze Hülle, die das alles abschirmte. Ureinwohner waren anders als Menschen. Sie waren blockiert, doch man konnte sie wahrnehmen, ihre Anwesenheit spüren. Menschen hingegen – es war, als gäbe es sie nicht.
Außer Sichtweite verschwanden sie beinahe. So kalt waren sie, so dunkel in ihren Herzen, daß sie gleichsam nur als Dinge existierten, wie Steine oder Bäume. Und wenn man ihre Bewegung empfand, war es, als fühle man den Wind in den Zweigen eines toten Baumes. Selbst Tiere, selbst Insekten hatten mehr Leben, mehr Farbe in sich und um sich, wenn sie sich bewegten. Dies war ein Ureinwohner, ein Sklave. Er stand vor der Tür und wartete. Dann bewegte er sich. Seine Hände berührten die Klinke. Der Dämon sah zu, wie sich die Tür ihm entgegen öffnete. Er hob den Kopf von den Knien. Es war eine Frau. Es war, was sie ›eine Frau‹ nannten, denn sie hatte lange Haare. Sie hielt eine Waffe in der Hand, eine Pistole mit einem langen Mechanismus auf der Mündung, um den Knall zu dämpfen. Sie hielt sie gesenkt, zu Boden gerichtet. Sie stand in der Türöffnung. Sie war ihm verschlossen. Er saß da und schaute sie an, öffnete und schloß die Augen, nicht wie ein Zwinkern, sondern eher wie Atmen, er sammelte seine Kräfte, spannte den Geist an. Es war eine Art Atmen. Er empfand keine Furcht. Er hatte nichts zu verlieren. Seine Schwester war für immer tot, fort, von ihm getrennt. Ohne Eile trat die Ureinwohnerin ein. Sie bewegte sich die Wand entlang von ihm weg, bis sie so weit von ihm entfernt war, wie es der kleine Raum zuließ. Sie war ihm verschlossen. Sie stand mit dem Rücken zur Wand. Ihre linke Hand, zur Brust gehoben, öffnete und schloß sich. Ihr Gesicht ließ nichts erkennen, keine Farbe, und in der Luft rings um sie war nichts. Er schloß die Augen. In der Geisterwelt saß er zwischen den dunklen Felsen. Er saß auf einem konkaven Bett von Sand und Stein, und er spürte die lauernde Anwesenheit der Gebilde, und
als er die Augen öffnete, sah er, daß Narrendiamanten und scharfe Stücke Basalt im Sand lagen. Er saß zwischen zwei Felsbrocken, und es war Eis auf ihnen. Die Frau war auch da. Sie stand am Grunde einer kleinen Böschung. Eis war dort, ein Stück schwarzes Eis, und sie stand darauf. Sie war schwer zu sehen, fast unsichtbar. Und still. Und reglos. In dieser Welt war sie der Gebieter. Sie stand da, erstarrt und unverwundbar, außerstande, sich zu bewegen, außerstande, sich zu verändern, in ihrem Schutz gefangen. Zögernd, langsam, erhob er sich. Er wischte sich den Staub von den Händen. Er kletterte die Böschung hinab und trat auf das Eis hinaus. Das Eis war die Droge. Es war Mellarin AZ mit einigen komplexen Abwandlungen; seine Schwester hatte ihm die Unterschiede gezeigt. Seine Mutter hatte sie ihm gezeigt. Es hatte einen matten schwarzen Schimmer, fast wie Graphit, und kleine Teilchen leuchteten darauf. Er erprobte es mit dem Fuß. Es war brüchig, dick. Er ging darüber hinweg auf die erstarrte Statue zu, die vor dem schwarzen Himmel fast unsichtbar war. Kleine Pyritsplitter schimmerten wie Sterne. Das Eis umgab sie mit einer dicken Schicht. Er umkreiste sie und kam dann näher. Er sah ihren menschlichen Umriß, der sich von den helleren Felsen abhob ihr langes Haar, ihr Kinn, ihre Nase. Ihren Hals, ihre großen Schultern und die Knochen ihres Gesichts. Doch als er nahe bei ihr war, sah er, daß es eine Form aus Eis war. Darunter, darinnen eingefroren, stand die Ureinwohnerin, die kleine Sklavin. Unverändert, mit ihrem weichen Gesicht. Die Droge umhüllte sie dick wie eine schwarze Rüstung, schützte sie, gab ihr Form. Doch sie hinderte sie daran, sich zu bewegen, zu leben, auf der Welt zu sein.
Er streckte die Hand aus, um ihre Brust zu berühren, und dann fuhr er müder Hand über die kalte, körnige Oberfläche. Er beugte sich herab, um nach drinnen zu spähen. Da war sie. Ihre Augen waren offen, voller Panik, still. Er strich mit der Hand über die Oberfläche ihrer Brust und suchte Schwachstellen, Spalten, Fugen, Linien von hellerer Farbe. Er kratzte mit dem Fingernagel über ihr Herz und fühlte etwas, eine Unvollkommenheit. Er schloß die Augen. Und als er sie öffnete, war er eine Schicht tiefer vorgedrungen. Es war die Welt der Symbole. Hier war es nicht dunkel. Der Himmel hatte nur eine Farbe. Der Horizont war gerade. Auch hier gab es Eis, obwohl es nicht so kalt war. Es glich eher Glas. Hier gab es keine Statue. Doch noch immer stand er auf einer Eisfläche. Sie war vollkommen rund. Er hockte sich hin und legte die Hand darauf. Einige Zoll darunter sah er Wasser. Das Eis war glatt, doch auch hier gab es eine winzige Unvollkommenheit. Was war es? Eine Reaktion. Eine Rebellion. Eine Nebenwirkung. Er fuhr mit dem Daumen daran entlang. Er kratzte mit dem Fingernagel daran. Er kratzte einen Kreis ins Eis. Dann hieb er so kräftig er konnte mit der Seite seiner Faust herab und sprang zurück. Das Eis splitterte entlang der Linie und bildete ein kleines Loch. Er wartete ein paar Augenblicke. Dann breitete er sich über das Eis aus und streckte sich zu dem Loch hin. Er bewegte sich langsam und vorsichtig. Das Loch im Eis war sechs Zoll weit, von wütenden Rändern umgeben, scharf wie Glas. Noch während er hinsah, bildeten sich kleine Kristalle auf der Oberfläche des Wassers. Dennoch wartete er, beobachtete, wartete. Er zog seinen Wollärmel zur Schulter hoch.
Er stieß seinen dünnen Arm ins Wasser hinab und zog ihn dann heraus. Er hielt einen Fisch gepackt, einen großen mechanischen Karpfen mit Plastikschuppen und Stahlflossen und einem großen Maul, das er aufriß, um seine Metallrippen sehen zu lassen, sein Uhrwerk an Stelle der Eingeweide. Der Fisch zappelte in seiner Hand. Er öffnete die Augen, schloß sie und durcheilte die Welten, bis er fühlte, daß das Metall unter seinen Fingern zu Fleisch wurde, und der Fisch schnappte in seinen Händen hilflos nach Luft. Die Ureinwohnerin regte sich. Sie spürte die Gefahr und hob die Waffe. Er saß da, den Kopf auf den Knien. Sie hob die Waffe, zielte. Doch in einer anderen Welt hatte er den Fisch in der Hand, und er drückte ihn zusammen, und der Fisch riß das Maul auf und starb in der fremden Luft. Sie glitt zu Boden. Sie rang um Atem, und ihre Augen standen weit offen. Sie saß mit ausgestreckten Beinen da, und vor sich hielt sie die Waffe, den langen Schalldämpfer auf ihn gerichtet. In der kalten Zelle saß er reglos da. Doch anderswo hockte er neben ein paar Felsen, und er hielt den Fisch mit beiden Händen und preßte ihn hinter den Kiemen. Seine stumpfsinnigen Augen quollen ihm entgegen, und er hielt ihn hoch und starrte ihm in die stumpfsinnigen Augen. Langsam, sorgfältig, drehte die Ureinwohnerin die Waffe um. Sie richtete die Mündung auf sich und drückte ihre Lippen dagegen, preßte das kalte Metall darauf. Er drückte ein wenig stärker, und ihr Mund ging auf, und sie ließ die Waffe hineingleiten. Sie schob sie an den Zähnen vorbei, über die Zunge, an die Rückseite ihrer Kehle, und ihre Kehle schloß sich darum.
Der Dämon hielt den Fisch hoch, und er starrte ihm in die stumpfsinnigen Augen. TU ES TU ES, sagte er, vollkommen lautlos, vollkommen still, vollkommen ruhig.
4i: Spike Laudenberg Sie hatten ihre Wagen auf der Hügelkuppe stehenlassen und waren dann hinabgegangen. Zuerst waren sie vorsichtig gewesen; vier Kundschafter waren vorangegangen. Sie gingen in dem Graben neben der Straße vor und schickten dann eine Meldung zurück, während die anderen in der Kälte warteten. Vertane Vorsicht, vertane Zeit; die Kanaken hatten keine Wache aufgestellt. Es hatte ihn in Wut versetzt. Es hatte ihn in Wut versetzt, während er vor dem Gebäude ohne Dach stand und zusah, wie die Flammen niederbrannten. Es hatte sie alle in Wut versetzt. Sie waren sich wie Idioten vorgekommen. Sie hatten sich zwischen den Felsen rings um das Gebäude hingehockt und es dann angezündet. Sie hatten Brandbomben durchs Fenster geschossen, und als die Türen aufgingen und die Kanaken herauskamen, hatten sie sie getötet. Sie hatten sie wie Vieh abgeschlachtet. Wenn wenigstens einer Widerstand geleistet hätte, wenn einer dem Rauch standgehalten hätte und drin geblieben wäre, wenn einer geschossen und sonst etwas getan hätte, statt nur wie die Karnickel durcheinander zu laufen oder kerzengrade im Scheinwerferlicht stehenzubleiben, dann hätten sie vielleicht etwas Gnade walten lassen können, oder derlei. Und zweifellos waren ein paar entkommen oder von der abgelegenen Gebäuden weggelaufen. Es gab elf Leichen, als sie sie zählten. Nun stand Spike Laudenberg im Dunkeln und sah zu, wie die Flammen niederbrannten. Das Dach war eingestürzt.
Anderen von der Bruderschaft schien das Töten Spaß zu machen, doch ihn hatte es angewidert. Als er ein Kind gewesen war, hatte ihm sein Großvater erzählt, wie sie die unbearbeiteten Kanaken zum Vergnügen gejagt hatten, mit Pfeil und Bogen oben auf dem Windplateau. Als er senil geworden war, hatte er die Geschichte jeden Tag erzählt. Der Ausdruck seiner Stimme veränderte sich mit der Zeit, als das Alter die Prahlerei und die Ausschmückungen verblassen ließ, bis er schließlich einfach nur die Geschichte erzählte, als verstünde er die Worte selbst nicht mehr. Es hatte etwas zu bedeuten. Laudenberg hatte nur einen erschossen, doch er wußte, welcher es war. Er ging zur Eingangsschwelle hinüber. Daneben lag ein Mädchen auf dem Rücken, in eine Jacke aus Jeansstoff gekleidet. Es war keine Wunde zu sehen. Sie lag mit offenem Munde da, und ihr Gesicht war – wie sollte man sagen? – Überzeugend? Er hatte ihnen gesagt, sie sollten die Leichen in einer Grube hinter den Felsen sammeln, und sie überschütteten sie mit Benzin und zündeten sie an. Zwei Männer in Wollhosen und rotkarierten Hemden ergriffen die Frau an den Armen und schleiften sie fort; ihr Kopf hing herab. Laudenberg war betrunken. Sie hatten einen Mann oben auf dem Hügel bei den Wagen gelassen. Jetzt kam er holpernd die Straße herabgefahren. Laudenberg knickte seine Schrotflinte ab und nahm die Patronenhülsen heraus. Er lud nicht nach. Als der Geländewagen herankam, ging Laudenberg zu ihm hin, als treffe er eine Entscheidung, als sei er der Anführer dieser Mörderbande. Er öffnete die Beifahrertür und stieg ein. »Fahr mich zurück«, sagte er. Der Fahrer, ein dickbäuchiger kleiner Mann, trug eine Maske über den Augen. Wie sie alle, trug er seine kleine Armbinde und um den Kopf geknotet seinen kleinen Streifen Leinen. Auf
einmal wirkte es dumm; er kannte den Namen des Mannes und hatte Lust, ihn auszusprechen, irgend einen Satz zu sagen, der sowohl den Namen des Mannes als auch einen Fluch enthielt. Der Wagen stieß zurück und wendete. Sie holperten über Rillen von festgefrorenem Schlamm. Der Fahrer schaltete das Fernlicht an, dann wieder aus. Nebel trieb über die Straße. »Wie ist es gelaufen?« Er zuckte die Achseln. Er war zu betrunken zum Erzählen. Er lehnte die Stirn gegen das kalte Seitenfenster und schaute ins Dunkel hinaus. Der Wagen kam zum Stehen. Der Fahrer schaltete das Fernlicht ein. Laudenberg setzte sich zurück und versuchte etwas zu sehen. Zwei Gestalten erhoben sich aus dem Nebel vor ihnen. Der Fahrer beugte sich vor, um die beschlagene Windschutzscheibe abzuwischen. Seine Hand machte ein quietschendes Geräusch auf dem Glas. Dann saß er da und spähte durch die Wischspuren, die Unterarme auf dem Lenkrad. »Was ist das?« sagte er. Etwa eine Minute lang blieben sie sitzen und schauten. Es war nichts Rätselhaftes daran. In Drywater hatte Laudenberg nach den Geiseln gesucht. Er hatte gefunden, was er für ihre Zelle hielt, doch sie war leer gewesen. Jetzt standen sie auf der Straße. Die Scheinwerfer ließen ihre Haut bleich erscheinen. Sie waren der Kälte gemäß angezogen, in Pullovern und langen Hosen, und der Mann trug einen kleinen Proviantbeutel. Er machte mit der Hand eine Geste. »Was tun wir?« »Wir nehmen sie mit.« Kaum hatte er die Worte gesprochen, beschloß Laudenberg, daß sie es nicht tun würden. Sie würden sie im Dunkel zurücklassen. Ein bißchen Übelkeit stieg in seinem Magen
hoch, und dafür gab es Gründe. Er konnte eben jetzt keinen Ureinwohner ertragen, nicht lebendig. Nicht mit ihm im selben Wagen. Er hatte sein ganzes Leben mit ihnen zugebracht. Jetzt hatte er seine Trennlinie erreicht. »Styreme wird uns bezahlen«, sagte der Fahrer im Ton einer Entschuldigung. »Nein.« Schon sie anzusehen widerte ihn an. Sie stand da und starrte in die Scheinwerfer, einen glasigen, benommenen Ausdruck auf dem Gesicht. Ihr Mund war offen, die Lippen zurückgezogen. Ihr falsches weißes Gebiß – ja. Er wußte alles über sie. Sein Bruder war in St. Kitts gewesen, unweit der Schule, in die sie gegangen war. Er sagte, daß sie sich von zwei Football-Spielern ins Gebüsch hinter der Turnhalle hatte mitnehmen lassen. Unmenschlich. Ureinwohner. Sie stand da und schaute ins Licht, das Haar verfilzt und rotgolden. Dann wandte sie sich halb zur Seite in den Arm des Mannes, und rieb ihr Gesicht an dem Arm. Er hielt seine Handfläche offen hin. Laudenberg öffnete die Tür und ließ die kalte Luft herein. Er nahm die ungeladene Schrotflinte vom Sitz und stieg dann herunter, und in seinem Kopf drehte es sich. »Haut ab!« sagte er. »Gott sei Dank, daß Sie gekommen sind«, antwortete der Mann. Mayaram. »Haut ab!« Spike Laudenberg trat ins Scheinwerferlicht, hob sein Gewehr. »Verschwindet.« Sie drückte die Lippen gegen den Ärmel des Mannes. Sie rieb ihren Mund an dem Ärmel des Mannes. Ihren menschlichen Mund. »Verschwindet«, sagte er. Er machte eine Bewegung mit dem Gewehr, und mit der anderen Hand berührte er seine Maske, froh, sie zu haben.
KAPITEL FÜNF
5a: Simon (I) Der Priester ging fort und ließ die Tür unverschlossen. Er sagte ihnen, sie sollten warten. Simon zog sich an und half dann Katharine beim Anziehen. Sie mühte sich mit den Socken ab, und dann öffnete sich ihr Mund, und sie gähnte. Ihre Augen öffneten und schlossen sich. Auch er fühlte sich müde. Das war sonderbar, denn alles hing jetzt von der Zeit ab. Sie waren in Gefahr; er wußte es, und der Kiyungu-Priester hatte es ihm gesagt. Cohen hatte ihnen Mäntel und Pullover dagelassen, hatte die Tür nicht verschlossen. Zeit war knapp. Doch Simon setzte sich wieder auf die Decken, um Katharine beim Gähnen zuzusehen. Er dachte: Kraft ist leicht, wenn man das Opfer ist. Wenn man durchhalten kann und weiter nichts. Doch sie mußten Entscheidungen treffen. Er legte sich auf den Rücken und verschränkte die Hände unterm Kopf. Dann war er plötzlich eingeschlafen – ein winziges Stückchen Schlaf. Es bestand aus einem einzigen Bild, und man konnte es kaum von einer Erinnerung unterscheiden, außer an seiner Deutlichkeit und der Abwesenheit eines emotionalen Zusammenhangs. Einmal, als er in die Schule ging, hatten sie eine Busfahrt nach Norden unternommen. Jahre vor seiner Geburt hatten sich die Stadtplaner von Birmingham für eine militärische Option entschieden; am Mirpaz Day waren sie hingefahren, um es sich anzusehen, zwanzig Busladungen Kinder. Die Landschaft war öde, verlassen, wie die Mondoberfläche. Manche verfallenen
Häuser standen noch – ein Landschaftspark. Bei einem alten Kraftwerk stiegen sie aus. Er hatte mit seinen Handschuhen an dem Stacheldraht dagestanden, und dann, als niemand hinsah, war er drübergeklettert und weiter über die Huckel roter Erde gegangen. Er nahm den Helm ab – was sogar beim besten Wetter unklug war, denn in dieser Gegend gab es Atmosphärenausfälle. Sein Lieblingslehrer, vierundzwanzig Jahre alt, war dieses Jahr an Leukämie gestorben. Viele in seiner Klasse hatten grauen Star. Doch nun stand er mit bloßem Kopf da und schaute in den hellen Himmel. Das war das Bild: ein kleiner Junge mit offenem Mund, der emporstarrte. Als er erwachte (und er erwachte fast sofort, vom Geräusch einer Autotür aufgeschreckt), behielt er dieses Bild von sich selbst gleichsam vor Augen. Eine einzige Einstellung, wie aus einem alten Film, und als er da lag, wußte er, daß er sie weiterlaufen lassen konnte, und zurück, vorwärts, zurück, und daß sie das Gefühl eines Verlustes mit sich bringen würde. Doch warum? Was gab es zu bereuen? Was gab es an diesem Bild von einem kleinen Jungen zu bereuen? Er lag dort im Dunkel, Katharine neben sich. Sie saß mit offenen Augen da. Er hörte zu, wie die Autotür zufiel. Er fühlte sich so müde. Doch es gab andere Geräusche, Schreie. Er wandte sich um und blickte zu Katharine hin. Sie saß da, das Haar ungekämmt, ihr rostrotes Haar, ihre Haut blitzte im Licht der Laterne, und etwas lag in ihrem Gesicht. Sich selbst überlassen, wäre er vielleicht reglos dort liegengeblieben, um jenes Bild von sich selbst gewunden. Er wäre dort liegengeblieben, bis geschah, was immer geschehen mochte. Doch ihr Gesicht und ihre maßlose Hilflosigkeit – er setzte sich auf, um sie anzuschauen. Seine Hände zitterten. Er fühlte sich benommen, fühlte etwas aus seinen Eingeweiden heraufschießen, einen Drang zu liebevoller Fürsorge, der
seinem Traum entsprang, dem Ort, wo er das Bild des Jungen bewahrte, des kleinen Jungen, der seinen Hut absetzte und zum verwüsteten Himmel jener Welt hinaufblickte, jenes winzigen fernen Planeten, wo es keine Mütter und keine Väter mehr gab. Sie saß mit ausgestreckten Beinen da. Sie sah aus, als lausche sie auf etwas. In ihrem Körper lag die Entspannung, die vom Zuhören kommt. Doch sie schien sich nicht um die neuen Geräusche zu kümmern, das Knallen und die Rufe. Jetzt spürte Simon sie gleichsam auf der Haut, und jedes ließ ihn zusammenzucken, und in seinem Körper war ein Ticken, während er auf den ersten Schuß wartete. Er bewegte sich jetzt. Er stopfte die Decken in den Beutel, den der Kiyungu-Priester mitgebracht hatte. Er hockte vor ihr und half ihr die Schuhe anziehen, und sie schaute zu ihm hoch mit einem verschlafenen Gesichtsausdruck, der ein Lächeln enthielt. Oder auch nicht. Oder vielleicht nur ein kleines bißchen Wiedererkennen, Anerkennung – das genügte, und er erhob sich und half auch ihr auf. Er zog ihr den Pullover über den Kopf und strich ihr das Haar aus den Augen. Es war voller statischer Elektrizität. Er nahm sie bei der Hand und zog sie zur Tür, und sie kam mit, ohne sich zu sträuben. Ihr Gefängnis war ein quadratisches Steingebäude mit jenem einzigen intakten Raum; er führte sie hinaus und in die Kälte. Ihren Beutel in der Hand, führte er sie ein paar rohe Stufen hinab in eine Art Korridor zwischen zwei verfallenen Mauern. Sie gingen auf Holzplanken, die über den Straßenschlamm gelegt worden waren. Sie machten ein dumpfes Geräusch. Doch Geschwindigkeit war wichtiger als Stille; in der Nähe fielen jetzt Schüsse. Simon eilte weiter durch den Korridor zwischen den Wänden, und dann kamen sie auf einen freien Platz etwa hundert Meter von der großen Halle entfernt, wo sie den Dämon gesehen hatten.
Die trockenen Berge erhoben sich rings um sie, sandig und dunkel. Gen Osten war der Himmel trübe, ein violetter Dunst über dem Terminator, und ein paar helle Sterne schienen hindurch. In der anderen Richtung, hundert Meter entfernt, strömte durch Fenster und die offene Tür Licht aus der Halle. Ein gekalktes Gebäude am Ende einer sanften Steigung; Simon wandte sich ab und zog Katherine hangabwärts in die Deckung eines trockenen Flußbetts. Er zog sie hinter ein paar Felsbrocken herab und wandte sich dann zurück, um hinzuschauen. Männer hatten sich bei der Halle gesammelt, wo die Straße einen Bogen machte. Ein weißer Lieferwagen war dort geparkt, und dahinter kauerte ein Mann mit einem Gewehr in der Hand, einer Art Projektil-Waffe. Simon sah, daß es ein Mann war. In seiner stämmigen Statur, seiner Haltung lag etwas Unnachahmliches. Die Aura einer hirnlosen Tüchtigkeit, die unnachahmlich war, einer hirnlosen Bedrohlichkeit, die die Luft vor ihm zu durchschneiden schien. Er zielte mit seinem Gewehr auf die Tür. Eine helle Flamme schlug hervor und verschwand. Näher ertönten Schreie zwischen den Felsen. Simon duckte sich. Er legte Katharine die Hand auf die Schulter. Zu fassungslos, als daß sie reagieren konnten, sahen sie zu, wie ein Ureinwohner den Hügel herab auf sie zugerannt kam. Er trug eine Baseballmütze. Seine offene Parka flatterte hinter ihm. Es war Frank. Sein Hemd war weiß. Und während Simon hinsah, brach etwas daraus hervor, etwas Rotes von der Größe eines Fußballs. In dem Felshang zwanzig Meter hinter ihm stand ein Mann, und er hielt einen Plastikzylinder in der Hand. Das war eine modernere Waffe, obwohl auch sie in der Gegend um London seit hundert Jahren verboten war. Sie kochte Menschen von
innen heraus, ließ sie explodieren, und das völlig lautlos. Statt dessen hörte Simon Franks gurgelnden Schrei. Er kam herab, die Arme ausgebreitet. Simon wandte sich Katharine zu, um ihr die Augen zuzuhalten, die Ohren, um sich zu vergewissern, daß sie in Deckung war. Als er es tat, stand ihm ein Bild vor Augen, wie sie aussehen würde, schaudernd, entsetzt. Und so war er sogar mitten in seiner Sorge um Katharine, um sie beide, erschrocken, wie er sie mit aufgerissenen Augen dreinstarren sah, und über die Form ihres Mundes. Sie sah – wie eigentlich? – irgendwie zufrieden aus. Doch es war auch, als beachte sie es nicht weiter, als richte sie ihre Aufmerksamkeit auf eine andere Feinheit, als finde sie eine neue Bedeutungsnuance in der harten, krassen, blutigen Tatsache – der Junge war jetzt hier unten. Explodiert. Die Brust umgestülpt. Eine Viertelsekunde, doch es genügte. Sie lächelte, und er ertrug es nicht. Er legte ihr die Finger auf die Lippen, um die Krümmung wegzuwischen, und dann berührte er ihre Augen, um sie zu schließen. Er breitete die Hand über ihr Gesicht und zog sie hinter den Felsen herab, bis nichts mehr zu sehen war – der tote Junge und der Mann, und der Mann war zurückgegangen, und alles in der Nähe war ruhig, und sie saßen in der kalten Luft und betrachteten ihren Atem. Sie hatte seinen Ringfinger zwischen den Zähnen, und er spürte ständig die Schärfe ihrer Zähne, bis er die Hand wegzog. Sie lauschten den Schüssen, und sie beobachteten das Flackern von Feuer, das von der fahlen Oberfläche eines Felsens über ihnen reflektiert wurde. Das weiße Haus brannte. Sein Dach brannte. Er hörte das Prasseln und Krachen, die Schreie. »Fleisch«, sagte Katharine, und einen Augenblick lang roch er es. Mit einem Luftzug, das gekochte Herz, die gekochte Lunge des Ureinwohners, und dann war es vorbei.
»Hör«, sagte sie, und er lauschte, und sein Puls schlug, und er hörte nichts als ihre seltsame, rauhe Stimme, und sie summte leise etwas. Er wandte den Kopf, um sie anzuschauen, und sie lächelte mit geschlossenen Augen. Er atmete kräftig aus. Jetzt hatte er Angst. Aus zwei Gründen. Er streckte die Hände aus, um sie fest zu umarmen. Er brachte sein Gesicht nahe an ihrs, bis er an ihrer Haut, in ihrem Haar den Geruch des gekochten Fleisches loswurde. Die Rinne führte von ihnen zur Straße hinab. Sie war nur ein paar Fuß tief, doch sie bot etwas Schutz. Alles Licht im Tal brach jetzt aus dem Dach der weißen Halle hervor. Flammenwände, Funkenströme strebten davon empor. Alle Augen, alle Worte, alle Laute und alle Aufmerksamkeit, dachte Simon, mußten jetzt dort oben gebündelt sein, und so nahm er Katharine an der Hand und führte sie das Flußbett abwärts. Sie folgte widerstandslos. Ihre Schuhe machten in dem trockenen Sand ein knirschendes Geräusch. Die Straße kam aus den östlichen Bergen herab. Sie führte über das Flußbett, eine halbe Meile weiter über einen leeren Kanal. Ein Wagen kam holpernd die Straße herunter. Er überquerte den Kanal und hielt vor dem weißen Haus. »Wir müssen zusehen, daß du zurückkommst«, sagte Simon. »Wir müssen dich nach Hause bringen.« Von der Stelle, wo er und Katharine standen, war es ein Tagesmarsch bis zum Terminator. Und was dann? Es gab eine Stadt namens Ludlow, hundertfünfzig Meilen vom nächsten Ort entfernt. Sie hatten kein Geld. Sie hatten Kleidung und im Rucksack genug Nahrung für zwei Tage. Aber die Männer waren in Autos gekommen. »Was meinst du?« fragte er. Er wandte sich zu ihr um und nahm sie an beiden Händen; obwohl jeder Instinkt ihm sagte,
daß sie jetzt schnell das Weite suchen mußten, denn das Schießen hatte aufgehört. Ihre Meinung hatte jetzt nichts zu bedeuten, und dennoch fragte er. Er wandte sich ihr zu, und wieder war er beunruhigt, als er sah, daß sie ihn anlächelte. Hundert Meter weiter lag ein toter modifizierter Ureinwohner, und sie lächelte ihn an, als vertraue sie ihm. Es war ein benommener, starrer Ausdruck, und ihre Augen standen weit offen, und sie kam näher, und er roch ihren Atem, ihr Haar, bis er sich abwandte. »Wir müssen dich nach Hause bringen«, sagte er, jetzt nur zu sich selbst, denn er wußte, daß ihre physische Nähe hier das Gegenteil von geistiger war, ein Zeichen, wie weit entfernt sie sich befand. Er machte kehrt und führte sie an der Hand. Sie tappten das Flußbett entlang abwärts, durch den Sand, und Silikatreif lag darauf. Eine Kruste, die bei jedem Schritt nachgab. Die Felsbrocken erhoben sich rings um sie, doch noch immer konnten sie das brennende Haus sehen. Sein Feuerschein zog schwache Streifen über die Felsen. Katharine kam widerstandslos mit, und sie blickte immerzu mit benommenem Lächeln um sich, die Augen weit offen, das Gesicht offen, als gehe keine Empfindung an ihr vorbei und als könne keine Idee je Halt finden. War das das Geheimnis ihres Geistes? fragte er sich, während er weitertrottete. War das, war das, war das der Schlüssel? »War das der Schlüssel?« fragte er sich und machte ein kleines Lied aus den Worten, wiederholte sie wieder und wieder, fühlte, wie sich seine Lippen stumm um sie bewegten, fühlte die Finger in den Handschuhen zucken, als schlage er auf eine Tastatur, ohne sonderlich auf seine Umgebung zu achten, bis er jenseits des Kanals hochkletterte und atemlos auf der Piste stand, Katharine hinter sich. Ein Wagen kam vom Feuer her auf sie zu, vom Fuße der Anhöhe. Seine Scheinwerfer stießen in die Entwässerungsfurchen quer über die Straße, und er hörte den
Motor laufen. Es war ein roter Geländewagen. Nebel trieb über die Straße, und der Wagen kam ein paar Meter vor ihnen zum Stehen. Zwei Männer saßen auf dem Vordersitz. Das Glas der Windschutzscheibe war beschlagen, und der Fahrer beugte sich vor und wischte mit dem Ärmel darüber. Als es blank war, erhaschte Simon einen Blick auf sein eigenes unrasiertes Kinn, dem Gesicht des Fahrers überlagert. Er sah, wie sie miteinander sprachen, konnte aber nicht hören, was sie sagten. Er streckte die Hand vor wie ein Polizist, eher wegen Katharine als wegen der Männer; sie schaute an dem Auto vorbei in die Dunkelheit jenseits der Straße, wo ein Geröllhang aus der Sicht entschwand. Die Beifahrertür öffnete sich, und ein Mann stieg aus. Er trug Stiefel und Blue Jeans, ein schwarzes Hemd und eine Lederweste, und die obere Hälfte seines Gesichts war von einem Streifen Stoff verdeckt. Er trat ins Scheinwerferlicht, und er hielt eine gen Himmel gerichtete Schrotflinte. Durch die Löcher in der Maske konnte Simon seine Augen sehen. Sie waren so blau, daß sie sogar in diesem Licht blau wirkten; die Löcher waren ausgefranst, groß, und durch sie hindurch sah Simon die kleinen Fältchen bei den Augenwinkeln. Seine Augen wirkten so ausdrucksstark, und sie standen in solch seltsamem Kontrast zur Leere der Maske; Simon kannte ihn, und sobald der Mann den Mund aufmachte, erkannte Simon die Stimme, obwohl er sie nicht zuordnen oder dem Mann einen Namen geben konnte. Es war nur, daß er die Stimme schon gehört und diese Augen gesehen hatte, und während des folgenden Gesprächs kreiste ein Teil von Simons Denken ständig um dieses Problem, als hätte er einen Vorteil gewinnen oder einen Fallstrick vermeiden können, wenn er nur wüßte, wer der Mann war, wenn er ihm einen Namen, einen Zusammenhang gab.
»Danke, daß Sie angehalten haben«, sagte er. Der Mann hatte ein Gewehr, und er war betrunken. Sein Körper verströmte säuerliche Gerüche, von der Kälte verstärkt, und mit einem Teil seines Gesichtssinns sah Simon, wie Katharine den Kopf wandte, wie sich ihre Nüstern weiteten, wie sie einen Moment lang würgte. Simon selbst fühlte sich wunderbar wach, wunderbar empfänglich, als enthalte alles ringsum Information, die er analysieren konnte, und als könnte ihm das helfen. Er spürte, wie sich der Brennpunkt seiner Aufmerksamkeit an die Gewehrmündung des Betrunkenen heftete, mit ihr zitterte und sich in komplizierten Mustern bewegte und sich dann davon löste und alles berührte. Er sah das brennende Haus eine halbe Meile entfernt am Erde der Straße. Er hörte ein Dutzend verschiedene Geräusche von dort unten. Er sah durch die dunkle Windschutzscheibe, wie sich der Fahrer am Gesicht kratzte. Sie mußten die Wagen auf der Hügelkuppe geparkt haben und dann hinuntergegangen sein. »Können Sie uns mitnehmen?« Die Spitze des Gewehrs stieß hoch und wankte und beschrieb einen kleinen Kreis in der Luft. Die blauen Augen blinzelten. »Das war nicht für euch«, antwortete der Mann. »Euch beide.« »Können Sie uns zurückbringen?« Der Betrunkene bewegte die Lippen, als forme er Wörter, obwohl keine Wörter herauskamen. Und dann: »Warum? Bloß damit ihr seht, wie beschissen die Lage sein kann? Seit Theodore Oimu gestorben ist, hat es in Shreveport jede Nacht Unruhen gegeben.« Die Gewehrmündung beschrieb wieder einen Kreis in der Luft. Der Mann hatte noch etwas zu sagen. »Warum? Einfach, um es euch zu zeigen. Dir und diesem schwulen Clare. Dir und deinen Kanakenfreunden. Das war nicht euretwegen…« Die Mündung beschrieb einen Kreis. »Du hättest sterben können. Wen kümmert’s?«
»Ich verstehe.« »Halt’s Maul! Du bist nicht mal von hier. Fickst du sie?« »Nein.« »Ja«, sagte Katharine. Es war seit einer Stunde das erstemal, daß sie sprach. Die blauen Augen schlossen sich, öffneten sich dann. »Bitte«, sagte Simon. »Sie hat damit nichts zu tun. Sie braucht ihre Medikamente. Es wird auch Geld geben.« »Steckt’s euch in den Arsch«, sagte der Mann. »Du denkst, das ist alles? Wir sind keine Wilden. Nicht wie ihr. Es geht ums Prinzip – ihr hattet eure Chance. Wenn ihr etwas unternommen hättet, hätten wir das da nicht…« Er zeigte mit der Schrotflinte hinter sich. Die Worte drangen aus ihm heraus. »Ihr wollt einen Zwischenfall? Ihr habt einen. Ihr wollt was, worüber ihr euch beklagen könnt? Und was dich betrifft«, sagte er zu Katharine, »ich würde keinen Schritt tun, um dein beschissenes Leben zu retten. Dieser Kampf kommt, und er muß kommen. Denk dran, wenn du in den Spiegel schaust. Denk dran, auf welcher Seite du stehst. Ihr habt die Herzen von Lügnern, jeder einzelne von euch. Unmenschlich. Oimu hat uns gesagt, daß wir herkommen sollten. Er hat uns gesagt, wo wir euch finden.« »Ich verstehe«, sagte Mayaram. »Wir werden nichts sagen.« »Garantiert nicht. Scheiß auf euch – sagt, was ihr wollt. Du glaubst, ich schäme mich?« Die Mündung zeichnete ein irres Muster in die Luft. »Nein. Das war für Jonathan. Jonathan und seine Familie. Du denkst, ihr Leben hatte nichts zu bedeuten? Und eins will ich wissen«, sagte er und wandte sich wieder an Katharine, »woher haben sie es gewußt? Habt ihr es ihnen nicht verraten? Du und dein Vater? Jemand hat den Strom abgeschaltet. Wir hatten nur einen Wachwechsel in Goldstone Lodge, und da haben sie zugeschlagen.«
Laudenberg, dachte Simon, und auf einmal erinnerte er sich an alles. Er erinnerte sich an Natasha Goldstone, ihr weißes Hemd aufgeknöpft. Er erinnerte sich, wie sie am Fenster stand, sich zu ihm umdrehte, und wie Enden des Hemdes im Wind flatterten. Er erinnerte sich an den Mann in der Tür, die Frau hinter ihm mit dem Gewehr in der Hand, und das Bild verschmolz mit einem anderen – der Junge mit der Baseballmütze, der hinter ihm flatternde Mantel, sein Herz, das auf der Brust heraus explodierte. Er schaute Katharine an, und sie starrte ihn mit einer Intensität an, daß es weh tat. »Bitte«, sagte er. »Wir werden kein Wort über das hier sagen. Nehmen Sie uns nur mit. Sie braucht ihre Medikamente. Sie braucht einen Arzt, und Sie können uns nicht einfach hier lassen.« Dann war Stille, denn natürlich konnten sie es. Als wollte er die Möglichkeit betonen, schaltete der Fahrer in dem roten Wagen den Motor aus. Die Scheinwerfer ließ er an. Er öffnete die Tür auf seiner Seite, stieg aus und blieb am Vorderrad stehen, die Hände in den Taschen. Menschliches Chaos, dachte Simon, während er Katharine anstarrte, ihre orangefarbenen Augen.
5b: Katharine (V)
In ihrem letzten Jahr am Ursulinum war sie in einem Stück aufgetreten, und sie hatte Medea gespielt, und sie hatte allein auf der Bühne gestanden, die rote Farbe an den Händen, und ringsherum waren die Lichter gewesen, hatten sie angeleuchtet, ihr in die Augen geschienen. In jenem vollen Saal hatten die Lichter sie allein sein lassen. Hier auf der kühlen Straße, das Scheinwerferlicht in den Augen, warf sie den Kopf in einer Geste aus dem Stück zurück. Sie war allein in der Vergangenheit, und allein in der Geisterwelt, und in der wirklichen Welt, wo die Männer um sie herumstanden, in ihren Bedürfnissen erstarrt. Auf der Straße, die Scheinwerfer auf dem Gesicht, stand sie wie auf dem Gipfelpunkt der Erde, und die Erde krümmte sich nach allen Seiten von ihr weg, und wie aus riesiger Höhe sah sie die Straße und die auf dem Paß geparkten Autos und die Linie, die Licht und Dunkel trennte; auf der anderen Seite das Feuer und das brennende Haus. Unter sich roch sie die Schwefelsümpfe, die Quelle von Elend und Leben, die Teufelsgrube, und jenseits der Sümpfe fühlte sie den Teufel warten. Er wartete im Diamantsand, und in der wirklichen Welt und in der Geisterwelt und auch in der Totenwelt, jenem farblosen Ort, wo sich die Toten um sie drängten. Die Straße entlang, auf das brennende Haus zu, sah sie, wie sie sich um den weißen Lieferwagen versammelten, und sie sah ihre weißen Gesichter, und sogar auf diese Entfernung hörte sie ihre Stimmen, als sie sprachen, ein Summen freundlicher Unterhaltung. Die Männer hatten ihre Körper zu einem benzingetränkten Loch geschleift, doch in der Totenwelt standen sie da und unterhielten sich: Adele Borgo
und die übrigen, und Mormon Thomas, und Frank Blair, der mit ihrem Vetter in der Grundschule gewesen war. Näher bei ihr standen Mr. Goldstone und Mrs. Goldstone und Natasha Goldstone, und weil sie Menschen waren, hatten ihre Körper keine physische Realität, sondern konnten nur aus den Kehlen der Männer hervorbrabbeln, die in der wirklichen Welt um sie herumstanden, im Scheinwerferlicht des Autos. Doch sie kannte sie, und Mr. Goldstone war der Mann mit dem Gewehr, der ihren Namen genannt hatte, und Mrs. Goldstone war der andere Mann, der aus dem Wagen stieg – in seiner Hand lag ihre Bewegung, in der Art, wie er die Hand zum Hals hob. Und Simon Mayaram war Natasha, und sie lebte als Vorwurf in Simon Mayaram, zur Strafe für sie beide, denn er hatte sie damals gefickt, als Katharine Klavier gespielt hatte. Nun sprach sie mit seiner Stimme: »Wir werden kein Wort über das alles sagen«, sagte er. »Nehmen Sie uns nur mit. Sie braucht ihre Medikamente. Sie braucht einen Arzt, und Sie können uns nicht einfach zurücklassen.« Die Totenwelt hatte keine Farbe, und die Luft war schwül und voll von gesprenkeltem Nebel. Sie spürte, daß sie darin in Sicherheit war; von den Toten besessen, konnten sich die Menschen nicht rühren, und so hörte sie eine Zeitlang der Unterhaltung der Goldstones zu – es gab Spannungen, wie üblich, und Natasha wollte etwas, das ihr die Eltern nicht geben konnten, und sie verstanden nicht, was sie sagte. »Ach, vergiß es«, sagte Natasha dann immer, »geh fort, geh einfach fort von ihnen, denn was hilft’s, sie sind unverbesserlich«, und es war wie das eine Mal, als Natasha die Wagenschlüssel haben wollte, um irgendwohin zu fahren. »Sie braucht ihre Medikamente, sie braucht einen Arzt« – was für eine verrückte Ausrede, wenn sie weiter nichts brauchten als ein bißchen Spaß. Sie mußte vorwärtsgehen, nicht zurück. Und in der
Totenwelt riefen die Toten durch den körnigen Nebel nach ihr, und sie sagten »Es ist in Ordnung« und »Nichts hält ewig«. Die seelenlosen Geschöpfe, diese Menschen, die nur in einer Welt leben, wie können sie dich mit ihren Ge wehren, mit ihrem Haß erreichen? »Schau uns an«, sag ten sie, und: »Wir sind frei.« So wandte sie sich von den Scheinwerfern ab, langsam, theatralisch, sie bot ihnen den ungeschützten Rücken dar und ging den Erdhang hinab. Sie ging den Erdhang hinab. Mit jedem Schritt abwärts schien die Luft wärmer zu werden, und es war, als sänke sie durch Schichten zunehmender Wärme hindurch. In der Totenwelt spürte sie die deutlichen Abstufungen auf der Haut, und es war, als existiere die Welt dort als Serie von Kontinuen zwischen krassen Gegensätzen, doch nur ein paar – es gab Dunkel und Licht und Hitze und Kälte, und es gab Hunger und eine Art übersättigter Völle, und es gab Furcht und die Beruhigung, die von winzigen Entscheidungen ausgeht, von Klarheit, von Einfachheit, und es gab Menschen und die freundlichen Toten. Abseits der Straße existierten sie nicht einmal mehr als einzelne Geister, sondern als Dröhnen in ihren Ohren, als wärmender Druck auf ihrer Haut: stärker und schwerer und heißer in dem Maße, wie sie nach Norden und Osten hinabging, auf den Terminator zu. Während sie hinunterging, kamen ihr neue Empfindungen zu Bewußtsein, dazu Klänge in ihren Ohren, die nicht die Stimmen der Toten waren. Doch sie waren deutlicher und schärfer, und ihre Halbschuhe machten in dem groben Boden quatschende Geräusche, und Klumpen von Erde und Schotter rutschten vor ihr den Hang hinab. Sie hörte, wie die Wagentüren zugeschlagen wurden, und begann schneller zu gehen, unsicher geworden, da das Scheinwerferlicht nicht mehr auf sie fiel, da es sie nicht länger beschützte und
heraushob, jetzt, da die Welten sich annäherten und über ihr Männer mit Gewehren waren, und auch unter ihr Gefahren. Sie hob das Gesicht, und die Nebel der Totenwelt teilten sich über ihr und zeigten ihr den Himmel, und sie zeigten ihr das Himmelsgewölbe voller Sterne, jeder einzelne schmerzhaft, heilig und unantastbar. Sie blickte zu einem hin, dem roten Rattenauge in einem Sternbild namens ›Der Rattenfänger‹ und in diesem Moment roch sie etwas, das ebenfalls aus endloser Ferne zu kommen schien, und es unterschied sich von allen anderen Gerüchen, nur der Schemen von etwas im auffrischenden Wind, eine Schärfe, die vergangen war, und sie wandte sich vom Rattenauge ab und hangabwärts, und sie ging den Hang hinab auf jene Andeutung von Schwefelgeruch zu. Dieser Ort, dieser Streifen Land am Terminator, an dem die Sonne sog und zerrte, wie das Meer an einem Ufer nagt, das war der Lebensquell der Welt. Diese Schwefeltümpel, die sich an der Trennlinie entlangzogen – aus ihrem heißen, dunklen, bitteren Wasser war das Leben gekommen, aus dem Schlamm geboren, zur Nahrung für die gefräßige Erde. Einmal waren diese Berge voller Leben gewesen, wovon es nun in der wirklichen Welt nur noch wenig gab. Doch in der Geisterwelt wandte sich Katharine den Hang hinab. Der Wald der Heiligen lag weit hinter ihr, und all der Trost aus ihrem menschlichen Leben war vorbei. Vor ihr lauerten in den Felsen kleine, boshafte Bestien, und sie spürte ihre winzigen Sinne. O Gott, dachte sie, Worte, die jetzt in dieser dunklen, überfüllten Landschaft bedeutungsleer waren, und sie wußte es. Geschöpfe huschten zwischen den Felsen umher, und es gab auch große, vage Wesenheiten. Und eine Kreatur vor allem, so schnell, so stark, so zielstrebig, so nahe – »Bist du da?« rief sie, und wieder hob sie den Blick zum Rattenauge. »Ich bin da.«
Es war Simon. Enttäuscht und erleichtert wartete sie auf ihn. Er kam steifbeinig herab, hatte Angst vor dem Hang. Er winselte, hielt den Schwanz gesenkt, und sein glänzendes schwarzes Fell war mit Schlamm bespritzt. Ein Geruch ging von ihm aus, ein scharfer Geruch von Angst, und dennoch gab ihr seine massige Gestalt Sicherheit, war sie von seiner Loyalität gerührt; dicht am Boden, umkreiste er ihre Füße und hob die Schnauze, um ihre Hände zu berühren. Der Wagen über ihnen wurde gestartet, und dann fuhr er weg. »Sieh, wir müssen in der Nähe der Straße bleiben. Wohin gehst du?« Und so machte er eine Weile weiter, bis sie hinablangte, ihn an der Schnauze faßte und ihm das Maul zuhielt. Bezwungen, verzweifelt bemüht zu gefallen, sank er in den Schlamm, drehte sich auf die Seite und hob die Vorderpfote und auch ein Hinterbein, und sie sah die rote Spitze seines Gliedes hervortreten. Sie drückte gegen die Vorderseite seines Kopfes, und sie gab ihm neue Gedanken, als sie losließ, und er war glücklich, einfach bei ihr zu sein. Glücklich zu tun, was er konnte. Ja, und sie fand Trost darin. Es war ein gutes Gefühl, den Körper sich bewegen zu lassen. Gut, und doch tat es weh. Dieser Tage in der gefrorenen Dunkelheit war sie gekrümmt und geschlossen gewesen, und nun öffnete sie sich. Ihr Kiefer schmerzte, ihr Gesicht tat weh vom Lächeln, und ihre Glieder waren taub und unbeholfen. Ihre Schuhe, an denen Schlammbatzen hingen, waren groß und schwer, und sie stapfte hinab zum ebenen Grund, und der Hund folgte ihr, und dann übernahm er die Führung. Ja, das war richtig. In den Felsen gab es Wesen, subtil und geistig, und sie scheuten vor seiner fühllosen Körperlichkeit zurück. Er ging nach Nordosten, und sie folgte ihm. Das Land öffnete sich vor ihr, und er ging hinein. Zwanzig Meter vor ihr wandte er sich um, um nach ihr zu schauen. Er stand starr und
erwartungsvoll da, dann ging er weiter. Sie folgte ihm, beobachtete, wie seine Fußspuren in dem feuchten Lehm ihre Deutlichkeit verloren, da dieser grobkörnig und trocken wurde. Der Horizont glomm in jenem fortdauernden Zwielicht, und sie gingen darauf zu, und das Land trocknete aus. Die Straße führte hinter ihnen zu dem abgebrannten Haus, und dort waren die Toten. Er lief einen künstlichen Damm von aufgeschüttetem Lehm entlang; sie hatten die Straße mit dem großen Graben gekreuzt, und nun hatten sie sie verlassen und sich nach Osten gewandt. Sie durchquerten den trockenen Kanal und stiegen durch den nachrutschenden Sand hinauf, und das Tal wurde eng. Und später dann öffnete es sich rings um sie, eine unfruchtbare Wüstenlandschaft, durchsetzt mit Felsen und Erdformationen, die im Sonnenlicht vielleicht dramatische Farben aufwiesen – knallige Töne von Rot und Orange und Braun – und die sogar in dem trüben Dämmerlicht eine Art reiche Wärme in sich zu bergen schienen. Die Sonne hatte diese Felsen seit Jahren nicht berührt. Und dennoch fühlte Katharine, als sie durch einen Ring von abgeschliffenen Felsbrocken kamen, der Hund noch zwanzig Meter vor ihr, eine heimliche Wärme aus ihnen hervorsickern und sich auf ihrer Oberfläche sammeln, und ob das nun geschah, weil sie in ihren Felsherzen eine Erinnerung an das Licht bewahrten, oder ob sie das schwache Austreten einer geothermischen Störung spürte, oder ob es ein radioaktives Element gab, das sie jetzt mit ihren neuen Augen wahrnahm – sie schienen fast zu glühen. Sie klomm über einen Basaltvorsprung und einen Basaltsims entlang; er wirkte rauh unter ihren Fingern, vom Wind zerklüftet, vielleicht von der Reibung des Windes erwärmt, vom Auftreffen des Sandes. Luftzüge kamen aus dem Nichts und flauten ab, trockene Luft mit Körnern darin, die über ihre Haut scheuerten.
Sie gingen jetzt bergan. Das tote Haus lag irgendwo hinter ihnen. Sternenlicht stach durch den Schleier am Horizont. Hinter ihr, in der reineren Dunkelheit des Westhimmels, wirbelten und fochten Sternbilder über dem fernen Eispanzer, und sie wandte den Kopf, um nach ihnen zu schauen, wenn sie stehenblieb, um sich auszuruhen oder die zwanzig Meter Abstand zwischen sich und dem schwarzen Hund zu bewahren. In ihrer Erinnerung entfalteten sie sich, ein Gürtel kämpfender Tiere, die Menschen benannt und ihr zum erstenmal im Planetarium am Ursulinum gezeigt hatten, wo sie sie auswendig gelernt hatte, die Namen und die groben, dramatischen Umrisse, die die Sterne selbst nur anzudeuten vermochten. Jetzt schien sie sie wie eine Reihe von Zeichnungen am Himmel zu sehen: den Rattenfänger, den Schützen und die Krabbe, und die Linien schienen über ihr zu glühen, wenn sie zurückschaute. Jetzt war ihr auch bewußt, daß es Nacht war, daß es wirklich Nacht war, und sie betrachtete es und sah es fast wie zum erstenmal. Der Nachtwind blies ihr ins Gesicht, trocknete es aus, trocknete ihren Atem aus. Vorher, bei dem toten Haus, wo sie eingesperrt gewesen waren, hatte sie nicht daran gedacht, und sie hatte sich auf andere Dinge konzentriert. Sie waren wie in einem Abstellraum oder einem Keller eingeschlossen gewesen, und diese Art Dunkel hatte sie schon früher gesehen. Doch nun stand die Tür zur Nacht draußen offen. Nun war es Nacht, und obwohl sie momentan wieder in den Tag strebten, wandte sie sich doch oft um und betrachtete die am Himmel kämpfenden Tiere. Sie fühlte sich von der Dunkelheit sensibilisiert, als müßte, um die wenige Wärme, die gelegentlichen Photonen zu sammeln, ihr Körper sich öffnen, sich strecken, sich entblößen, anschwellen. Sie stiegen bergauf, und Schweiß stand ihr auf dem Gesicht, und der Wind trocknete ihn. Sie stiegen viele Stunden lang
bergauf, und sie wurde nicht müde. Der Himmel hellte sich vor ihnen auf, und eine schmale gelbe Linie bildete sich am Horizont, eine einzige Linie, die die Wölbungen der Berge zeichnete. Die Sterne schienen hier schwächer. Sie folgten einem Pfad, einer grauen Linie mitten durch ein graues Tal. Wogen trockener Erde, trockener Asche umgaben sie. Rechterhand standen sieben Basaltnadeln in einer künstlichen Reihe, von der Hand eines Dämons dort hingestellt. Und während es weiter unten geschienen hatte, als sickere etwas Wärme, eine winzige Strahlung aus dem Stein, war die Wirkung jetzt stärker. Katharine hörte ein Geräusch, ein kleines Summen mit der tiefsten Frequenz, die ihre neuen Ohren wahrnehmen konnten. Es erschütterte sie; sie blieb stehen, um zu lauschen, und als sie das tat, begann sich die ganze Landschaft zu verändern, zum Leben zu erwachen. Licht glomm auf den grauen Hügeln. Wasser strömte tief unterirdisch. Die Felsen selbst schienen mitten in einer Bewegung zu verharren. Der Boden unter ihren Füßen schien unsicher. Sie blickte die Linie des Pfades entlang. Der Boden war dort aufgebrochen, ein Saum hatte sich vor ihr geöffnet, und der Pfad lief an einem Rand entlang. Sie machte sorgfältig einen Bogen darum. Sie spähte über die Kante und trat dann zurück. Das Erdreich fiel unter ihr in Stufen ab, bis es außer Sicht war – im Halbdunkel nicht weit. Wenn sie vorausblickte, sah sie, wie Teile des Pfades eingestürzt waren und im Rand unregelmäßige Einbuchtungen gebildet hatten. An einer von diesen Stellen sah sie an die sechs Fuß neu eingebrochenes Erdreich, wo der Überhang hinabgeglitten war, vielleicht, als der Hund vorbeikam. Eine Flüssigkeit troff hervor, die kein Wasser war, die schimmerte, als sei sie selbst eine Lichtquelle, indes sie mit einer eigentümlichen Öligkeit von einer scharfen
aus der Erde ragenden Felsnase tropfte und einen viskosen Strang bildete. Katharine ging zu dieser Stelle und hockte sich hin. Die Flüssigkeit rann träge über den frischen Aufschluß und setzte einen bitteren Geruch frei. Hier, wo sich der Überhang schon zurückgezogen hatte, fühlte sie sich sicher genug, um an der Kante zu hocken, sicher genug, um hinabzublicken. Sie konnte nicht weit sehen. Doch es war, als schalte sich an der Grenze ihrer Sichtweite ein anderer Sinn ein, etwas, das weniger als Sehen von den äußeren Umständen abhing, und es führte sie tiefer hinab, bildete zusammen mit Klang und Geruch und Erinnerung ein neues Amalgam der Wahrnehmung. Dieser neue Sinn zeigte sich noch in visuellen Bildern, die manchmal flacher und dürftiger als normales Sehen wirkten, manchmal schwerer und gehaltvoller. Projektion und Erwartung gaben diesen Bildern Form, während die Erinnerung ihnen Masse verlieh, und manchmal verließ sie sich auf das eine mehr als aufs andere, auf die Zukunft mehr als auf die Vergangenheit; sie hockte sich hin und beobachtete, wie ein nasser grüner Käfer außer Sicht kletterte, und dann folgte sie ihm Zoll für Zoll hinab über die ausgeformten körnigen Oberflächen, tiefer und tiefer, und dort unten tat sich eine Spalte auf, und sie war klein, aber sehr tief, und der Käfer watete über einen fein strukturierten Hang von Sand und Asche hinab und löste dabei kleine Erdrutsche aus. Am Grunde des Abhangs schüttelte er die Füße frei und blieb unstet in der Nähe des Vorsprungs stehen, als sei er unschlüssig, ob er weiter in dieses enge Loch mit messerscharfen Kanten hinuntersteigen sollte; und da unten gab es ein nasses Geräusch, einen winzigen sauren Geruch. Weiter oben hörte sie den Hund bellen. Sie verlagerte das Gewicht zurück auf die Fersen und schloß die Augen. Wann immer sie in den letzten paar Stunden
gezwinkert hatte, war ihr ein Blitz dumpfen roten Lichtes zu Bewußtsein gekommen. Jetzt blickte sie sich mit geschlossenen Augen in einer roten Landschaft um. Sie hatte dieselben Konturen, oder zumindest waren die Unterschiede fein und schwer auszumachen: eine neue Schärfe vielleicht, das Fehlen von Einzelheiten, der Eindruck von nur zwei Dimensionen. Doch der Hauptunterschied lag nicht in der Form, sondern in der Farbe; diese Landschaft war aus Nachbildern zusammengesetzt, aus aufrührerischen und unnatürlichen Tönen von Rosa, Purpur, Grün, Orange, Rot. In der Luft lag auch ein Zittern, ein ferner Donner, als durchbreche hoch oben ein Düsenflugzeug die Schallmauer. Sie streckte die Hand vor sich aus und spreizte die Finger – sonderbar flach und giftgrün. Und die Eigenschaften des Lichts waren jetzt umgekehrt: östlich, zum Horizont hin, zur Trennlinie hin, war der Himmel von gleichförmigem Purpur. Über ihr hellte er sich in wahrnehmbaren Bändern auf, ein gewaltiges Spektrum. Dahinter, in Richtung des Eises und endlosen Schnees, über Berge hinweg, die die Sonne seit hundert Jahren nicht berührt hatte, befand sich eine weiche weiße Linie. Unter ihren Füßen war der Boden von dunklem Siena, ausgenommen die Kluft, in die der Käfer gegangen war. Dort unten brannte etwas. Simon stand über ihr und hielt eine Wasserflasche. »Ich habe eine Stelle gefunden, wo wir ein paar Stunden Rast machen können. Iß etwas – du mußt ausgehungert sein.« Sie lächelte mit geschlossenen Augen zu ihm hinauf und sah zu, wie das eine Wort ›ausgehungert‹ lebendig wurde und Halt fand, während die übrigen wegrutschten. Simons Fleisch sickerte von ihm weg, bis seine Hüften zu schmal waren, um die Hosen zu halten, die nun herabfielen und bleiche Hüftknochen entblößten. Ja, dachte sie, und sie öffnete die Augen und lächelte zu Simon hinauf. So ein gutgebauter Mann, dachte sie:
seine dunklen Augen und die dunklen Wangen. Das Kinn mit rauhem Haar bedeckt. Er beugte sich herab, um ihren Kopf zu berühren, um sein Gesicht neben ihren Kopf zu bringen. »Ich liebe dich«, sagte er, und sie schloß die Augen. Ja, da war er wieder mit seinen dürren Knochen. Sie rieb die Wange an der porösen Oberfläche seiner Hüfte. Er stand nahe an dem Loch, und während sie hinsah, nahmen die Worte, die er gesprochen hatte, wieder die Form von Insekten an, und sie kletterten mühsam über seine Rippen und das leere Becken hinab, wo sein Geschlecht gewesen war, seine Schienbeine hinab und über seine Schuhe, und über den roten Spalt im Lehm, und hinab in das seltsame und strahlende Loch. Er strich ihr mit seinen dürren Händen übers Haar. Später ging sie mit geschlossenen Augen vor ihm her und folgte der Doppellinie seiner Fußspuren. Später fand sie die Stelle, wo er das Gepäck zurückgelassen hatte, »im Windschatten«, sagte er. Doch der Wind sog an ihr, egal, wo sie sich befand, sog an ihr, ohne sie zu berühren, denn ihr Haar und ihre Kleidung regten sich nicht. In ihren Ohren stand ein Dröhnen, und es nahm nicht ab, als sie sich an einer von Basaltbrocken umringten Stelle hinsetzte. Erschöpft lehnte sie sich gegen den Fels. Er zwang sie zu trinken, zwang sie zu essen. Sie hatte keinen Hunger. Er gab ihr ein nasses Mortadella-Sandwich. Sie behielt ein Stück davon im Mund, ihre Zähne schlossen sich darum, und sie dachte, daß die Säure in ihrem Munde, die Säure, die beim Atmen aus ihrem Magen heraufwallte, es vielleicht auflösen würde und sie es ausspucken könnte. Mit geschlossenen Augen stellte sie sich die lange, von Ringen umgebene Säule ihrer Speiseröhre vor, und es war nichts darin, und sie war gesegnet, leer, sakrosankt. Sie spie die Nahrung aus und legte sich mit geschlossenen Augen zurück. Sie verspürte eine enorme Erleichterung, sich
plötzlich von Dunkelheit umgeben zu sehen, von Bildern, die sie selbst erschaffen hatte, und es war, als hätte Dunkelheit die rote Landschaft ausgefüllt und sich wie ein Nebel um sie gelegt. Vielleicht war es Schlaf, und der Schlaf kam; sie gab sich ihm hin, und bald schlief sie. Doch es war, als gäbe es keine Veränderung in ihrem Bewußtsein, keine Entspannung für das durchgescheuerte, gedehnte Gewebe ihrer Gedanken, sondern nur eine neue Art von Muster, eine neue Bilderwelt – einen Traum von der wirklichen Welt, der kleinen unerschlossenen Welt, als sie ein Kind gewesen war und mit ihrem Vater in Shreveport in der Sonne gelebt hatte. Vor gar nicht so langer Zeit. Ihr Traum handelte von Goldstone vor zwei Sommern, wo sie und Natasha einen Teil ihrer Ferien verbracht hatten. Sie träumte, daß sie mit der Familie im Frühstückszimmer saß und daß Natasha ihr etwas anzuziehen gegeben hatte, ein Sommerkleid, das zu kurz war und sie von der Hüfte abwärts nackt ließ. Sie rutschte mit dem nackten Hintern auf dem Korbgeflecht umher. Mr. Goldstone beugte sich über den Tisch zu ihr herüber, und er sagte ihr, ihr Vater werde jeden Moment erwartet, daß er in diesem Augenblick unterwegs war, und Katharine war von Entsetzen erfüllt, denn sie wußte, daß sie aufspringen müßte, wenn er ankam, um ihn zu begrüßen, daß sie quer durchs Zimmer zu ihm hinlaufen und ihm helfen müßte. Es war ein winziger Traum, fast beruhigend mit seinen kleinen Sorgen, und sie hieß ihn fast dankbar willkommen, denn sie hatte ihn schon früher geträumt. Sie hieß ihn willkommen, klammerte sich daran wie an einen Faden, als wäre es der Faden des Theseus, als er im Labyrinth war und der Minotaurus in der Nähe. Ein Ende davon war um ihre Hand gewickelt. Er war so dünn, so schwach, wenn er straff gespannt wurde, und er spannte sich zurück durch die Felsen und die fremden Hänge hinan und durch den Wald der Heiligen und hinauf ins Licht, und er
führte sie zurück zu Erinnerungen, die alles andere als angenehm waren, und doch brauchte sie sie. Jetzt schlief sie nicht mehr; sie lag da, reglos, und ihre Traumbilder verblichen unmerklich zur Erinnerung – nur ein feines Verblassen der Farben. Da stand sie. Da stand sie in Goldstone Lodge, und sie war vom Schwimmbecken hereingekommen. Natasha und sie hatten den Tag dort damit verbracht, Zeitschriften zu lesen und einander mit Bräunungsmitteln einzucremen. Natasha trug einen schwarzen Bikini; sie selbst hatte einen nüchternen Einteiler, den ihr Vater ausgesucht hatte, und sie war zurück ins Haus gegangen, um ein paar Flaschen Coke zu holen. Mr. Goldstone war da, und er stand in der Küche und hatte eine Art Uniform an, eine Art Khaki-Tarnanzug, und auf dem kahlen Kopf hatte er eine Khaki-Mütze. Er nahm sie ab. Er war ein riesenhafter, angsteinflößender Mann, und er hatte einen Diamantring im linken Ohr, und sie starrte den Ring an, als er näherkam. Er fragte sie etwas, doch sie wußte Bescheid; es war keine Überraschung, als er die Hände auf sie legte. Sie starrte seinen Diamant-Ohrring an, als er sie berührte. Er zog das Oberteil ihres Badeanzugs herab und befühlte ihre Brüste, tastete sie ab, als suche er nach Krebsknötchen. Er küßte ihren Hals, und sein Atem hatte einen süßen, antiseptischen Geruch, und er sagte: »Du bist anders. Du bist ‘ne heiße Nummer, oder? Du bist eine Wildkatze« – was immer das sein mochte. Sein Ausrüstungsgürtel hatte schmerzhaft gegen ihre Rippen gedrückt. Sie öffnete die Augen. Sie lehnte an einer Sandböschung, und jemand hatte sie mit einer Wolldecke zugedeckt. Über ihr ragten Felsbrocken auf. Sie hatte im Windschatten in einer kleinen Sandkuhle gelegen, und es gab nirgends ein Geräusch, und alles war ruhig. Der schwarze Hund lag neben ihr zusammengekuschelt. Er lag in einer Höhlung im Sand. Er schlief. Er träumte, und seine
Füße machten winzige stoßende Bewegungen. Seine Augen standen offen, und die Pupillen ruckten rasch hin und her. Sie zog die Decke weg und kniete sich neben ihm hin. Er atmete unstet, und er roch schmutzig von dem Sandwich, das er gegessen hatte. Seine Zähne waren von einer Schicht überzogen. Sein Atem ging schwer, und im Hintergrund davon hörte sie Worte, seltsame Worte. »Vergiß nicht, daß du mir gehörst, mein Eigentum, mein Werkzeug, und ich erhebe Anspruch auf dich. Getrennt sind wir hilflos, nichts…«
5c: Dämonen (V): Eine Stimme im Traum Du BIST MEIN DING MEIN NICHTSDING UND DER FADEN VERKNÜPFT UNS. OHNE MICH BIST DU FORT ALLEIN WIEDER DA WO SIE WEH TUN. HILFLOS. ICH BIN HILFLOS. DU HUNGERST. ICH HUNGERE JETZT.
5d: Simon (II) Als Simon erwachte, war sie fort. Im Schlaf hatte sie gezittert, doch jetzt war die Decke, die er über sie gebreitet hatte, beiseitegeworfen. Er suchte stundenlang nach ihr, kehrte dabei immer wieder zu der kleinen Zuflucht in den Felsen zurück, die er für sie beide gefunden hatte. Er benutzte die Taschenlampe aus dem Proviantsack, doch der Sand und der Lehm hatten ihre Fußspuren nicht angenommen. Er konnte ihr nicht folgen; andere Leute waren hier entlanggekommen, und die Spuren waren unklar. Er hatte keine Ahnung, welche Richtung sie eingeschlagen haben mochte. Den letzten Tag über waren ihre Gedanken
durcheinander gewesen, und er hatte sie geführt, wie eine Mutter ein verwirrtes Kind führt. Vielleicht war sie weggegangen, um Wasser zu lassen, war ein Stückchen in die Felsen gegangen und hatte sich dann verirrt. »Katharine«, rief er. Es war leicht, sie sich hilflos und in Gefahr vorzustellen; mit der Zeit verdrängten seine Sorgen und Selbstvorwürfe das Denken, und er beschrieb immer größere Kreise um ihren Rastplatz, kehrte dabei oft zurück, um nachzusehen, ob sie wiedergekommen war. Seine Sorge und seine Schuld vermengten sich in seiner Brust und übten einen Druck aus, der ihn angriff und ihn fast zum Weinen brachte. Sein Mund formte Ketten lautloser Worte. Er stieg nach Osten hinauf, wo es heller wurde. Der Horizont kam näher, und die goldene Linie über den Bergen wurde dicker. »Bitte, Gott«, sagte er, »wenn ich sie finde, werde ich sie nicht fortlassen. Ich werde sie nicht im Stich lassen.« Er stand auf dem Gipfelpunkt einer Felswand und ließ den Strahl seiner Taschenlampe kreisen. Er dachte, wenn ich ein Feuer anzünden könnte, dann würde sie es sehen und zurückkommen. Sie würde es von weitem sehen. Doch in dieser Welt, wo alles Leben aus der Dunkelheit kam, gab es nichts zu verbrennen. Mancherorts drangen Öl und Gas an die Oberfläche, doch nicht hier, nicht an dieser Stelle, und er stand in so unfruchtbarem Ödland, daß es nicht einmal daheim etwas Vergleichbares gab – er hatte Bilder von der Spanischen Wüste gesehen, doch selbst dort wuchs etwas. Es gab Reste von Häusern. Menschen lebten dort. Und wenn es keine Zukunft gab, so doch wenigstens eine Vergangenheit. Er setzte sich in den sandigen Lehm und schaute zum Horizont hin, wo der goldene Umriß der Berge nach oben in die Dunkelheit verblaßte. Er sog die kalte, trockene, saure Luft ein, und er hatte das Gefühl, als lauge sie ihn aus, lauge sein
Menschenhirn aus und mache ihn anfällig für falsche Ängste und Halluzinationen. Er rieb sich mit den Fäusten die Augen und stellte sich vor, wie er auf einen Felsrücken kletterte, um ein Feuer zu entfachen. Er stellte sich vor, daß er dort etwas fand, etwas Brennbares. Er stellte sich vor, daß er im Sand den Körper eines Rieseninsekts fand, einer an die zwanzig Fuß langen Kreatur, so alt und brüchig, daß ihre Gestalt nur erahnt werden konnte. Chitinröhren lagen wie Knochen verstreut, und sie waren so trocken und abgeschliffen, daß er dachte, ja, er könnte sie anzünden, und sie würden brennen, und das Feuer würde meilenweit zu sehen sein. Ja, dachte er, und in seinem Halbtraum fühlte er die Erleichterung, die Taten mit sich bringen, denn in Gedanken entzündete er schon das Feuer. Die Flammen schlugen empor. Ja, dachte er, und er sagte es auch. Doch weil er halb schlief, kam das Wort nicht ganz ausgeformt aus seinem Mund. Es war nur ein Geräusch, was er machte, und dann war er wach und stand auf. Er spähte hinab zwischen die Felsen. Er hatte dort unten einen Antwortlaut gehört, und das gehörte nicht zum Traum. »Katharine«, sagte er. Er wartete. Und dann hörte er es wieder, eine menschliche Stimme. Er kletterte von der Felswand hinab. Unter ihm lag eine Sandrinne, sie führte steil abwärts und wurde dann flacher. Er hörte, wie die Stimme zu ihm sprach, und im Geiste machte er Katharines Stimme daraus, so daß sein Geist, noch ehe er die Quelle erreicht hatte, vorausgeeilt war. Er hatte sie schon beruhigt und getröstet, sie schon gerügt, nicht streng, aber entschieden, und ihr erklärt, wie wichtig es für sie beide war, daß sie zusammenblieben. Er hatte ihr sogar ein wenig über ihre Pläne gesagt, darüber, was sie als nächstes tun sollten, wie sie weiter nach Ludlow und dann nach Hause kommen würden. Wie sie in der Klinik in Shreveport Dr. Klemper
finden und wie sie Katharines medikamentöse Behandlung ins Lot bringen und sie zurückholen würden. Er stellte fest, daß er vor sich hin murmelte, während er auf der Suche nach ihrer Stimme über Hügelchen groben Sandes hinabkletterte. Er stellte fest, daß er bestimmte Sätze überdachte und verwarf. Sie war es nicht. Es war der Priester. Es war der KiyunguPriester, und er war in schlechter Verfassung. Simon leuchtete ihm mit der Lampe ins Gesicht. Er saß zwischen zwei Felsen von Autogröße zusammengekauert. Sein schwarzer Pullover war zerrissen, das Gesicht zerschrammt, und es war Blut in seinem Haar. Ein gezackter Schnitt lief über seine Kopfhaut. Seine Augen waren geschlossen. Er scheute vor dem Licht zurück und hob die Hand. Und er redete ununterbrochen; seine Stimme hatte Simon über einen Haufen scharfer Steine zu ihm geführt. »Nein«, sagte er, »laß mich doch. Bloß nicht wieder. Bloß nicht anfassen, mein Gott…«, und dann fiel er in einen der Eingeborenendialekte aus dem Grenzland, sprach schnell und undeutlich mit seinen aufgeplatzten Lippen. Simon verstand nur ab und zu ein Wort. Er war ein kleiner, bleicher Mann, und sein Haar wurde von einem Gummiband zurückgehalten. Seine Haut war grob und fleckig und voller kleiner Löcher und Geschwüre; sein Bart wuchs ungleichmäßig. Das Licht der Taschenlampe zeichnete die Mängel seines Gesichts im Relief, bis Simon es beiseite nahm und ausschaltete. Der Himmel war hell genug, daß man auch so sehen konnte. »Ich bin Simon Mayaram«, sagte er. Das brachte den Mann zum Schweigen. Er saß zusammengekrümmt da, die Arme um die Brust geschlungen, nickte vor sich hin und tat kurze, schnaufende Atemzüge. »Sind Sie verletzt?« Schweigen.
Simon kniete neben ihm nieder. »Können Sie gehen?« »Ja, natürlich kann ich das«, sagte Martin Cohen. »Was meinen Sie, wie ich hier hergekommen bin? Ich bin den ganzen Weg von Jims Gut gelaufen. Fast bis nach Ludlow. Aber man kommt nicht durch, und jetzt gehe ich zurück.« Jims Gut war eine Stadt im Grenzland, es gab dort ein Kupferbergwerk. »Dorthin waren wir unterwegs«, gestand Simon. »Tja, das geht nicht. Sie streiken. Die Kanaken haben Bob Garner getötet, und sie machen die Farmen unsicher. Ich hab’s im Radio gehört. Die Leute sammeln sich im Pfadfinderlager bei Ernestine und Ludlow Grange. Die Miliz ist da.« »Wir müssen hingelangen.« »Das geht aber nicht. Sie meinen Katharine Styreme? Sie würden sie umbringen, und Sie auch. Ich weiß, wovon ich rede.« »Wir müssen gehen. Sie braucht ihre Arznei.« »Klar braucht sie die.« Er öffnete den Mund weit, klaubte etwas heraus und schnipste es weg. »Sie müssen die Straße gesperrt haben. Hier.« Er nahm eine Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche und dann ein kleines Kästchen in einem Lederetui. Es war ein Kurzwellenradio. Er zündete sich eine Zigarette an und machte sich an dem Radio zu schaffen, um eine bestimmte Wellenlänge zu finden. »Hier«, sagte er und wechselte zwischen zwei identisch formulierten Mitteilungen hin und her: Ermahnungen, Ruhe zu bewahren und sich mit einem Minimum an Gepäck zu bestimmten Landeplätzen zu begeben. Die unsteten Stimmen und das Rauschen dazwischen hatten eine unheimliche Wirkung. Immer wieder dieselben Worte. Nach einer Weile drehte Cohen die Skala weiter und suchte einen anderen Sender, dann schaltete er das Radio aus.
Simon stand auf. »Es scheint Ihnen zu gefallen.« Er dachte an Katharine. Martin Cohen blies den Rauch hervor. Er musterte das brennende Ende seiner Zigarette. »Nein. O nein. Es hätte nicht so kommen müssen.« Und dann zuckte er die Achseln, nicht wegwerfend, sondern als versuche er, etwas zu sagen. Nach einer Pause begann er wieder zu reden, vielleicht, um sich zu rechtfertigen, doch die kleine Lücke reichte aus, um Simons Aufmerksamkeit abzulenken. Er machte sich Sorgen und wollte unbedingt aufbrechen. Er hörte nicht zu. Er stand da, rieb die Hände aneinander, bis die Zigarette aufgeraucht war und Cohen aufstand. Sie gingen zu der Stelle zurück, wo Simon den Rucksack zurückgelassen hatte. Katharine war nicht da. »Ich bin den Pfad entlang zurückgekommen«, sagte Martin Cohen. »Ich hätte sie gesehen. Sobald die Sonne hervorkommt, kann man meilenweit sehen. Es gibt nur einen Weg, den man nehmen kann, und ich hätte sie gesehen.« »Wenn Sie nach ihr Ausschau gehalten hätten.« »Hab ich. Ich habe gehofft, Sie würden diesen Weg entlangkommen. Ich habe versucht, Sie abzufangen.« Simon stand mit dem kleinen Proviantbeutel in der Hand da. Er rief ein paarmal ihren Namen, und dann öffnete er den Beutel. »Ich fürchte, sie hat sich verirrt. Sie braucht ihre Medikamente – sie ist momentan etwas verwirrt.« Sie begannen, die Sandwiches aus dem Beutel zu essen. Sie aßen alle auf, und Simon wickelte die Decke zusammen, und dann tranken sie das Wasser. Danach war nichts mehr zu tun. Simon leuchtete mit der Taschenlampe in den Himmel. Plötzlich war er ungeduldig aufzubrechen, obwohl er nicht wußte, wohin.
»Sie muß außer Rufweite sein«, sagte Martin Cohen. »Wahrscheinlich ist sie zurückgegangen.« Wieso wahrscheinlich? dachte Simon. Was ist für sie ›wahrscheinlich‹? Er fühlte, daß er den Tränen nahe war. Es kam sehr plötzlich, wie eine plötzliche Übelkeit. »Also ich gehe zurück. Wir können nicht hierbleiben. In Drywater gibt es noch Vorräte, und ich weiß, wo sie sind.« Er ging los, und Simon folgte ihm. Sie begannen mit dem Abstieg ins Tal. Cohen humpelte und redete, und sie machten oft eine Pause. Simon verspürte den Drang, ihm zu folgen, ihm zu glauben, zu tun, was er sagte. Cohen kannte diese Gegend, und er hatte nichts gesehen, als er über die Trennlinie kam. Es sei denn, er log; o Gott; den ganzen Weg bergab wälzte Simon seine Bedenken hin und her und ließ die Taschenlampe brennen, und bei den Rastpausen rief er Katharines Namen, und er hörte nur halb hin, wenn Martin Cohen redete. Das genügte. Später sollte er sich erinnern, Tage darauf, als er über das Eis auf die Shackleton-Station zukroch und so erschöpft war, daß seine Augen ihm Streiche spielten und der Mond zu vibrieren schien und große Brocken und Wirbel von Purpur und Orange daraus hervorbrachen und das Eis rot glühte und Formen annahm, die nicht wirklich waren. Dort, wo der Riß in der Ionosphäre fast zu sehen war und die Sternruinen jenseits leuchteten und wo die Strahlung auf seiner Haut zu schimmern schien. Dann sollte er sich an Teile von Cohens Monolog erinnern. Nachdem Kälte und Erschöpfung und Verzweiflung ihm die Sprache genommen hatten, verzehrte er die Erinnerung wie Nahrung. Und Cohens Worte waren ihm nicht geblieben, weil sie wichtig wären oder klug oder auch nur wahr, sondern vielleicht, weil sie, als er sie hörte, der einzige Teil seiner Umgebung zu sein schienen, dem überhaupt etwas Wirklichkeit zukam. Der Weg zurück nach Drywater dauerte unerträglich lange, und selbst als er glaubte, er habe einen
Fußabdruck Katharines entdeckt, der in dieselbe Richtung wies, schienen Sorge und Ungewißheit seine Wahrnehmung der Landschaft auszublenden. Er bewegte sich durch die im Halbdunkel liegenden Lehmhügel wie durch einen leeren Raum oder über eine leere Bühne. »Es hätte nicht so kommen müssen«, sagte Martin Cohen. »Nicht, wenn die Menschen keine Menschen wären. Wenn wir es nicht mit unserem Gift berührt hätten – nein, ich war heute in Jims Gut. Die Kanaken haben mich zusammengeschlagen, aber sie hätten mich getötet, wenn sie Menschen wären. Sie sind nicht von hier. Glauben Sie, es sollte mir leid tun? Ausgerechnet Sie? Sie sollten es besser als jeder andere wissen – Sie kommen von dem Ort, den sie zerstört haben. Wir haben ihn zerstört, und ich habe die Bilder gesehen. Ich habe darüber gelesen. Wälder. Ozeane. Ich habe einen Film über Borneo gesehen, und sie waren im Wald, und die Bäume hatten fünfzig Fuß Umfang. Es gab große rote Affen auf den Bäumen. Kleine – sie liefen über die Äste. Es gab Schweine und Schlangen. Es wuchs soviel, daß die Menschen Krankheiten bekamen. Sie trugen Packen voll Ausrüstung, und dann kamen sie in ein kleines Dorf mit aus Holz geschnitzten Häusern, und die Kinder rannten ihnen entgegen. Überall gab es Wasser -es war auf ihrer Haut. Es stand in Pfützen am Boden. Alles war von Blumen überwachsen – ich habe es gesehen. Sagen Sie mir bloß nicht, daß es immer noch so ist.« »Kaum«, gab Simon zu. »Ja, ich weiß. Wir haben es ruiniert, nicht wahr? Wir haben es aufgebraucht. Sie haben Plastiktüten und Windeln aus dem Öl gemacht und sie dann vergraben. Sie haben alle Wälder abgeholzt. Die Luft ist weg, der Himmel ist weg, und es gibt nichts mehr im Boden und im Meer. Es steigt nur noch totes Wasser hoch, und nichts lebt und nichts wächst mehr. Die Haut der Leute brennt einfach. Ja, und sie sterben. Ich habe den Film
über Augenkrebs gesehen. Es war ein Krankenhaus, sehr sauber mit all den Luftfiltern. Draußen ist es eine Müllkippe, und all die Menschen kämpfen im Müll.« »Das ist nicht wahr«, sagte Simon. »Sie haben im Weltall sechs Welten im Umkreis von tausend Jahren gefunden, und sie haben sie alle ruiniert. Garantiert. Sagen Sie mir nichts davon. Sagen Sie nichts, denn ich weiß es. Ich weiß es, weil es hier dasselbe ist, egal, was man auch anstellt. Hier ist es wie das Haus der Circe im Mythos, Menschen, die in Tiere verwandelt werden, und man braucht nicht einmal böse zu sein, um verwandelt zu werden. Es gab hier zwei Rassen. Zwei uralte, fein ausgeformte Rassen, Jahrmillionen alt, und wir haben die eine ausgerottet und die andere unter Drogen gesetzt und versklavt. Zwei Kulturen total vernichtet, vielleicht die beiden einzigen außer unserer, die es je gegeben hat. Zwei Kulturen, die auf eine Weise verkoppelt waren, die zu verstehen wir niemals auch nur versucht haben – wir haben hundertfünfzig Jahre gebraucht, und fertig. Das Loch in der Atmosphäre über dem Eisfeld; Tatsache ist, daß das schon von industrieller Verschmutzung stammt. Sogar die Insekten – fremde Arten übertreffen die einheimischen um das Zehnfache; wir sind dabei, diesen Ort zu töten. Wissen Sie warum?« Eine Zeitlang gingen sie schweigend weiter. Er sagte: »Weil wir ihn hassen.« Er sagte: »Riechen Sie diesen Geruch?« Simon roch nichts, er dachte an andere Dinge, und bald fuhr der Priester fort: »Das ist Schwefel. Es gibt ihn hier im Grenzland auf der dunklen Seite der Trennlinie. Vor hundert Jahren war das der Ort, wo sie lebten und wo ihre Nahrungskette beginnt, hier im Schlamm. Wußten Sie das? Es ist nicht wie bei uns. Es ist etwas anderes, und wir werden es niemals verstehen.« »Es ist nicht so sehr anders«, sagte Simon.
»Nein. Garantiert weiß ich’s: Sie denken an dieses Mädchen. Sie denken an sie und fragen sich, wo sie ist, und Sie denken, daß sie nicht so sehr anders ist. Vielleicht etwas seltsam jetzt, vielleicht etwas verwirrt. Vielleicht hatte sie ein paar seltsame Halluzinationen, aber wenn Sie sie nach Hause bringen und mit Drogen vollpumpen können, also dann wird sie in Ordnung sein. Es wird ihr gut gehen. Ich habe sie gesehen – nein. Sie ist eine andere Art Organismus. Es ist nur ihr Aussehen, weshalb Sie so empfinden.« Lange Zeit war Schweigen, während sie durch den dunklen Lehm stapften. Und dann begann Cohen von neuem, als hätten sich seine Worte unter neuem Druck gebildet. Als ob sie zwischen seinen zerschundenen Lippen hervorquöllen: »Ich weiß, daß Sie es wissen. Aber bedeutetet es Ihnen genug? Was bedeutet es? Sie leben ewig, beinahe. Sie essen nicht. Sie schlafen nicht, oder sie schlafen ständig. Sie sind eingeschlechtlich. Sie sehen im Dunkeln. Sie erkälten sich nie.« »Seien Sie still«, unterbrach ihn Simon. Und dann: »Ich weiß, daß Sie recht haben. Aber dann haben Sie genauso unrecht. Ich spüre es immer noch. Alles übrige, das ist wie ein Streich. Ihr Geist spielt ihr Streiche. Es ist nicht ihr wahres Ich. Wenn es das wäre, warum sollte sie Angst haben? Warum sollte sie mich brauchen?« Für ein paar Minuten trotteten sie schweigend weiter. »Ich habe mal einen Film über Hirnaktivität gesehen«, sagte Martin Cohen. Er hatte eine Flasche mit Wasser. Von Zeit zu Zeit blieben sie stehen, und dann wischte er die Schrammen auf seinem Gesicht ab. Er berührte sie sanft mit den Fingerspitzen. Einmal nahm er einen Schluck Wasser und spuckte es aus. Er räusperte sich. »Er handelte von uns«, sagte er.
Und etwas später: »Menschen sind wie Götter. Das war der Kern von Geoffrey Kiyungus Botschaft, und es ist wahr. Wir geben und wir nehmen. Wir erschaffen und wir zerstören. Was immer wir berühren, formen wir um. Unwiderruflich. In diesem Sinne sind wir einmalig.« Sie stiegen einen Hang von grobkörnigem weißen Lehm hinan. Martin Cohen streckte die Hand aus, und sie blieben stehen. Eine Zeitlang stand er schweigend da, dann zündete er eine Zigarette an, und seine Worte kamen schneller. »Ich habe es in dem Film gesehen. Die elektromagnetischen Impulse des Gehirns. Sie hatten den Umriß eines Menschenhirns, und Lichter huschten darauf hin und her, um die normale Aktivität darzustellen. Wachen, schlafen – kleine Lichter gingen an und aus, und Lichtströme bildeten Verbindungen, rot und blau. Es heißt, daß wir nie mehr als zehn Prozent unseres Hirns nutzen, und ich habe gesehen, warum. Die Lichter waren nur in ein paar Gebieten. Ganze Abschnitte des Gehirns blieben dunkel. Doch dann zeigten sie einen Ureinwohner – einen unmodifizierten, ursprünglichen. Die ganze Oberfläche seines Hirns war ständig erleuchtet, es war, als spielten Blitze darauf. Es ging darum zu zeigen, wie diese Medikamente seinerzeit entwickelt wurden – um diese Aktivität zu blockieren, sie auszuschalten. Um es dunkel zu machen, außer in ein paar Gebieten, und es ist uns gelungen. Natürlich; wir können alles. Wir sind wie Götter, doch die Taten von Göttern sind immer begrenzt. Begrenzt und absehbar – ein winziger Spielraum, und in diesem Spielraum demonstrieren wir unsere Stärke. Es ist wie der eine Muskel im Kiefer eines Krokodils. Unerbittlich…« Er stieß Rauch aus. »Wir haben neun Zehntel unserer Erfahrung ausgelöscht«, sagte er. »Und dann zwingen wir die Welt in den winzigen Raum, der übrigbleibt, und alles außerhalb dieses Raumes – wir behaupten, daß es nicht existiert. Wir behaupten, daß nur
eins wirklich ist, der Raum, wo wir Macht haben. Doch das ist eine Lüge. Die Welt – Gott, wißt ihr denn nicht, wie groß sie ist?« Sie standen auf dem Gipfel des weißen Hügels, und er zeigte auf die Dunkelheit ringsum. »Im Traum sieht man es manchmal«, fuhr er fort. »Im Wahn – Verrückte sehen es manchmal. Drogen und Alkohol, manchmal. Wenn man lange nichts ißt oder wenn man nicht schlafen kann. Alles, was einen schwach macht, und alles, womit man diesen Muskel entspannt, und man erhascht einen Blick darauf. Geoffrey Kiyungu in seiner Gefängniszelle. Sie haben ihn hungern lassen und ihn gefoltert und dann getötet, aber er hat einen Blick darauf erhascht. Die Welt öffnete sich ein wenig, und er sah einen Teil davon. Wie in der Bhagavadgita, wo Ardschuna zum erstenmal Gott Wischnu sieht und er die ganze Welt ausfüllt. Kiyungu hat gesagt, wir alle sind Christus, daß Christus in uns immer wieder geboren wird, ein Leben nach dem anderen, bis wir es begriffen haben, bis wir unser eigenes Kreuz zum Kalvarienberg getragen haben. Bis wir ihn oder sonst etwas außer uns selbst anbeten und wir verstehen, daß Himmel und Hölle, daß die Sphären des Universums Teil von uns selbst sind, nicht nur als Matapher, sondern als medizinische Tatsache, Teil von uns selbst, Teil unserer Gehirne. O Gott, ist das so schwer? Jeder Mann und jede Frau hat Augenblicke, wo sie es wissen und die Welt aussieht, als könne sie einfach aufbrechen und den Blick auf etwas Neues freigeben. Halluzinationen – glauben Sie, daß sie Halluzinationen hat? Ich habe einmal einen unmodifizierten Ureinwohner gesehen, und er hielt etwas in den Händen, das ich nicht sehen konnte. Aber es war wirklich. Die Wissenschaftler verlieren den Verstand, wenn sie zu erklären versuchen, warum es hier in der Luft so viel Sauerstoff gibt, warum es so viel Öl gibt und sogar Kohle. Sie sagen, die Welt hat sich verändert, daß die Rotationszeit von 19 000 Jahren
etwas Neues ist, daß sie Leben ausgerottet hat, das einst reichlich vorhanden war; sie irren sich. In Wahrheit ist die Welt außerhalb unseres kleinen engstirnigen Bereichs voller Leben, das in unseren Meßgeräten nicht auftaucht. Wir sind diejenigen, deren Augen geschlossen sind. Es ist, als hätten wir unsere Augen geschlossen, und die Bilder, die wir in der Dunkelheit an der Innenseite unserer Lider sehen, machen wir zur Wirklichkeit. Durch eine Willensanspannung. Wir treffen unsere eigene Übereinkunft, und wir machen sie zur Wirklichkeit, und wir zwingen die Welt, darin zu leben. Wir zwingen die Welt in einen Raum, der von unseren winzigen Geistern gefesselt ist. Und das gibt uns Macht, denn es erlaubt uns, in Konzepten zu sprechen, zu denken, zu kommunizieren, die genauso künstlich und selbstbezüglich sind wie Mathematik. Es liefert uns einen Bezugsrahmen, der falsch ist, und wir leben darin wie Götter, denn wir haben ihn gemacht. Es ist, als ob man ein Haus baut, wo die Elektrizität funktioniert und Lebensmittel im Kühlschrank sind, und alles draußen ist der Urwald von Borneo. Der Urwald. Natürlich fürchtet sie sich. Fürchtet sich und ist schwach. Verrückte, Drogensüchtige, Heilige – ihre Welten sondern sich ab.« »Wie meinen Sie das?« »Ich habe sie gesehen. Katharine Styreme – ich habe ihre Augen gesehen. Und ich habe es früher gesehen. Die Ureinwohner im Grenzland hat man nicht modifiziert, sie sind unverändert, und manchmal sieht man sie. Sie können nichts tun. In Wahrheit können sie kaum funktionieren. Sie sind so allein. Verdammt, sie haben wie Tiere gelebt, ehe wir kamen. Sie hatten nicht einmal Feuer oder eine Lautsprache. Das kam alles später; nach vierzig Jahren haben sie sogar an Orten Häuser gebaut, wo die Pioniere nie hingekommen sind. So schnell. Damals sind die Dämonen zum erstenmal aufgetaucht. Dazu haben sie sie gebraucht. Um Karten zu machen. Um
herauszuziehen, was sie brauchten, und es wirklich zu machen.« »Was meinen Sie?« »Ihr habt sie Dämonen genannt, aber sie waren Götter. Jetzt gibt es sie nicht mehr.« Später, auf dem Eis, sollte sich Simon fragen, was das bedeutete. Was für Karten? Sie alle brauchten Karten. Manchmal schien es, als sei die Landschaft auf dem Eis eher geistig als körperlich, wenn das Auge jedes Gefühl für Vorankommen und Entfernung verloren hatte, wenn es die Linie des Horizonts, den Unterschied zwischen vorwärts und rückwärts verloren hatte, und das Eis war wie schwarze Keramik unter den Stiefeln, und das Licht aus dem Riß ließ einen Orkan um ihn toben, brüllte in seinem Kopf. Dann torkelte er ein paar Schritte weiter, und es war, als sei die Welt um ihn in eine moralische Allegorie verwandelt, als stolpere er durch die Nebel der Unwissenheit, während in seinen Ohren der Stolz klirrte. Und seine Schritte hinterließen keine Spur auf dem harten Plateau der Verzweiflung. Cohen war verschluckt worden. Er war in die Grube gerutscht, seine Stimme schwieg für immer. Katharine war eine tote Last in seinen Armen. Und die Wände der Welt stürmten auf ihn ein, bis sie auf seiner Haut zu liegen kamen und ihn bedeckten. Auch in diesem Land um Drywater war nicht viel zu sehen. Es dauerte Stunden, doch schließlich erblickten sie ein einzelnes Licht, und sie standen auf einer Anhöhe und überschauten die Straße. »Ich habe einen Wagen gestohlen«, sagte Martin Cohen. »Nachdem ich Sie verlassen hatte, konnte ich nicht zurückkehren. Die Männer kamen da gerade herunter. Ich sah einen anderen Mann, und ich wußte, daß es die Bruderschaft war. Ich hörte Radio. Sie räucherten die Eingeborenenviertel von Shreveport aus. Die Leute zündeten die Geschäfte der
Eingeborenen an. Ich wußte, daß sie mich töten würden. Deshalb bin ich nicht zurückgekommen, um nach Ihnen zu sehen. Ich bin einfach sofort losgegangen und habe mich versteckt. Was ist passiert?« »Was glauben Sie?« Martin Cohen berührte die Schrammen auf seinem Gesicht. »Ich bin die Straße raufgegangen. Ich dachte, ich hätte Glück. Sie hatten ihre Wagen dort oben auf der Anhöhe geparkt, und ich fand einen, wo der Schlüssel steckte. Ich habe nicht angehalten, bis sie mich anhielten, und sogar da dachte ich, ich könnte es erklären. In Jims Gut. Sie hörten nicht zu.« »Wer?« »Die Kanaken, Mann, die verdammten Kanaken. Sie hatten einen Graben quer über die Straße ausgehoben. Es war einfach Dummheit von ihnen, daß sie mich gehen ließen.« Martin Cohen redete die ganze Zeit. Das ist ein Anzeichen für moralischen Bankrott, dachte Simon später, als der Mann tot war. Jetzt aber war Simon dankbar für das Geräusch.
KAPITEL SECHS
6a: Katharine (VI) Sie ließ den schwarzen Hund zusammengekrümmt im Sand liegen. Sie ging sich den Sonnenaufgang ansehen. Sie folgte dem Pfad. Er führte zu einer tiefgelegenen Stelle in den Bergen, und sie verließ ihn und kletterte einen Vorsprung von weißem Lehm hinauf. Er war hoch genug, daß auf dem Gipfel die Sonne zum Vorschein kam, von den Bergen vor ihr zweigeteilt; sie starrte den gewaltigen goldenen Halbkreis der Sonne an, bis er ihr schwarz vorkam, ein Loch von Dunkelheit, das dennoch weiterhin ein Gefühl von Freude und Wärme ausstrahlte. In diesem Augenblick erschien er ihr als Quelle all der Dunkelheit hinter ihr, und es war, als flösse der wärmende Strom Dunkelheit über sie hinweg, wehe ihr Haar zurück, tose und flüstere in den Höhlungen ihrer Nase und ihrer Ohren. Sie setzte sich im Schneidersitz auf die harte, dünne Sandkruste; sie zerfiel unter ihr zu Pulver. Sie schloß die Augen und beobachtete, wie das Nachbild der Sonne auf ihren Netzhäuten verblaßte. Sie war jetzt im Lande der Stimmen. Alles ringsum hatte eine Stimme. Bei manchen Stimmen überwog der Klang die Bedeutung, bei anderen war es umgekehrt; die Sonne glich einem geschürzten roten Mund am Horizont, und ihre Lippen öffneten sich und zogen sich zurück und verschwanden, und die Dunkelheit in ihrer Kehle breitete sich aus, und ihre Stimme strömte in pulsierenden Wogen. Sie flüsterte in Katharines Ohren, kribbelte auf ihrer Haut und blies den Schweiß weg.
Katharine wandte den Kopf und strich das Haar vom Ohr zurück. Sie ließ den Wind ein. Er brachte Bedeutung herein wie Staub, wie die Sandkörner, die ihr in die Nase geweht wurden, und Korn für Korn spürte sie, wie er ins Innere fand und sich den Weg durch die weichen Gänge bahnte. Sie hörte die Stimmen der Felsen ringsum. Es waren langsame, rauhe, klagende Stimmen, und jede Silbe brauchte Generationen, bis sie ausgedrückt war, und nur indem sie ihren Atem verlangsamte, ihr Herz anhielt und ihr Blut wie Honig durch die Adern strömen ließ, konnte sie sie überhaupt hören. Es waren Elementarstimmen; sie stiegen aus dem Boden hervor, und sie wußte, was sie sagten, oder sie glaubte es zu wissen. Sie hörte das Geräusch, und das war genug. Sie hörte das Geräusch und den Tonfall und die Absicht, und sie fügte die Wörter hinzu. Du wirst sterben, sagte sie sich. Du wirst verhungern und sterben. Du wirst in der heißen Sonne verbrennen. Der schwarze Hund wird dich ficken, wieder und wieder und wieder. In dieser langsamen Welt waren Lebewesen so körperlos wie Geister. Einer kam aus der Nähe, den Pfad entlang, der in die Sonne führte. Er war unsichtbar. Das Licht machte einen Bogen um ihn, und seine Stimme war leiser als ein Flüstern. Ihn wahrzunehmen, war ein Glaubensakt. Er kam den Berg herauf, blieb neben ihr stehen und blickte auf sie herab. Er sprach, und sie konnte ihn im Lärm der Felsen nicht hören. Ihr Interesse war oberflächlich. Er sprach wieder und redete weiter, und schließlich erlaubte sie sich, zu ihm hinaufzusteigen, und sie ließ ihr Blut schneller fließen, und es war, als stiege sie unter Wasser empor, die Klänge des Wassers in den Ohren. Es war, als schaue sie durch die Oberfläche eines Teiches zu einem Manne empor, der am Ufer stand. Als sie näher herankam, konnte sie ihn besser sehen, und das Dröhnen in ihren Ohren nahm ab, bis sie die Oberfläche
durchstieß. Sie durchstieß die Oberfläche und konnte ihn auch hören. Es war der Mann, den sie in Drywater mit der Kreatur an der Leine gesehen hatte. Er hatte ihnen Pullover gebracht. Er hielt ein Radio in den Händen. Die Stimme darin war von einem Gespinst von Rauschen überlagert: eine Frauenstimme. »Den Einwohnern wird empfohlen, sich zum Landeplatz bei Ludlow Grange zu begeben.« »Ich muß Ihnen vom Tal herauf gefolgt sein«, sagte der Mann. »Ich denke, wir alle hatten dieselbe Idee. Aber haben Sie gehört, was passiert ist?« Er streckte die Hand aus, wie um einer Art Unterbrechung zuvorzukommen. Er drehte an der Skala des Radios, und die Frauenstimme erklang deutlicher: »Das Gepäck ist auf zehn Pfund pro Passagier begrenzt. Bitte sichern Sie sämtliches Eigentum. Wir raten Ihnen, Ruhe zu bewahren. Wir raten Ihnen, beim Verlassen alle Türen zu verschließen. Dies sind nur Vorsichtsmaßnahmen, bis die Verantwortlichen festgenommen sind. Wir wiederholen: Bitte bewahren Sie Ruhe.« »Wo ist der Bursche vom Konsulat?« fragte der Mann. Er hörte dem Radio zu, wie es im Rauschen unterging. »Vielleicht ist die Idee doch nicht so gut«, sagte er. »Ich weiß nicht. Sind Sie müde?« »Das liegt an dem Aufstieg«, sagte er. »Aber Ihre Augen gewöhnen sich dran.« »Wo ist Simon Mayaram?« sagte er. »Ich bin Ihnen nachgegangen«, sagte er. »Ich dachte, wir könnten zusammen gehen, aber ich bin froh, daß ich das Radio mitgenommen habe; jetzt weiß ich nicht recht. Wir hätten daran denken sollen, noch ehe wir aufgebrochen sind, obwohl es natürlich verlockend ist. Hören Sie: Es hat Überfälle auf fünf Farmen um Ludlow gegeben, und das Bergwerk ist geschlossen. Die Bergleute streiken, und es heißt, daß Robert
Garner ermordet worden sei. Ich glaube nicht, daß es sicher ist, für keinen von uns.« Nach einer Weile schaltete er das Radio aus. Katharine war froh, denn sein Klang und der Klang von der Stimme des Mannes hatten sie irritiert. Sie hatten an ihren Nerven gekratzt. Vielleicht, weil er recht hatte: Sie war sehr müde. Ihre Haut fühlte sich aufgedunsen an, fett. Sie hatte fette Finger, und sie schob den Ärmel ihres Pullovers über ihr fettes Handgelenk hoch. »Machen Sie mir keine Vorwürfe wegen dessen, was passiert ist«, sagte er. »Es war nicht meine Entscheidung, und ich war genauso gefangen wie Sie. Sie haben mich eingesperrt. In Goldstone hatten sie die ganze Zeit ein Gewehr auf mich gerichtet, und ich habe das nie gewollt. Es tut mir leid um Ihre Freunde.« Ihr fettes Handgelenk, ihre kraftvolle fette Hand. »Ich weiß nicht, warum ich meine Zeit verschwende und mit Ihnen rede«, sagte er. »Ich hätte es wissen können. Was haben Sie gemacht – weglaufen?« Sie öffnete die Augen. Sie schaute ihn an; er war ein häßlicher kleiner Mann, mit fahler Haut und schlechtem Teint. Ein Kreuz war an die Brust seines Mantels geheftet. Das Kreuz befand sich mitten auf seiner Brust, und es teilte ihn in vier Teile. Sie stand vom Sand auf. Sie erhob sich vor ihm, streckte ihre fetten Beine, bewegte ihre fetten Füße, und in diesem Moment war es ein Segen für sie, fett zu sein, eine Quelle von Kraft und Festigkeit und Stärke. Ein tiefer, langsamer Zorn brannte in ihr, ein Glutofen, von tierischem Fett gespeist. Das Feuer flackerte und flammte unzuverlässig auf, und es wurde von all den Drogen und Chemikalien in ihrem vergifteten Körper gespeist, und von all den Plastikteilen, die Ärzte in sie hineingewoben hatten, und von all den Knochenplastiken und den undichten künstlichen
Eingeweiden. Das Feuer knisterte, feucht und giftig, und es erzeugte Hitze und rauhe synthetische Farben und üble Gerüche – seltsame Furze und Rülpser. Ein teurer Ofen, der Müll verbrannte, und vielleicht konnte Reinheit ein Ziel sein, wenn die Hitze nur weit genug stieg, und vielleicht war Müll der einzige Brennstoff, den es gab und jemals geben würde. Sie fühlte all das in sich, und es tat so weh. Es tat ihr mit einem stechenden Schmerz weh, und wie sie da im Sonnenaufgang stand, fühlte sie diesen Schmerz zurück durch ihr Leben wandern, und vorwärts auch. Sie starrte den kleinen Mann vor sich an. Ein Mensch. Ein Mann Gottes. Das Kreuz teilte ihn in vier Teile. Ein Teil war sein häßlicher Körper und ein Teil seine eingeschlossene Seele. Ein Teil war seine Vergangenheit und ein Teil seine Zukunft; sie streckte die Hand nach ihm aus und zog sie dann zurück. Wieder streckte sie die Hand aus und berührte ihn im oberen rechten Viertel. Es war seine Zukunft, und er stand vor ihr. Er trug einen seltsamen Plastikanzug, gefüttert, mit einem Visier. Das Kreuz schimmerte auf seiner Brust. Der Anzug war von grüner Farbe, der Teil, der sich über sein Gesicht und den Kopf schloß, war von hellem Orange. Er glühte fast. Die Sichtscheibe war klar, und sie sah sein Gesicht. Auch seine Wangen schienen zu leuchten – vielleicht waren das Glas oder das Plastik mit etwas behandelt worden, was das Licht verstärkte. Sie hatte von so etwas gehört. Der Mann war erschöpft, abgezehrt. Der Bart sproß ihm über die schwarzen Wangen. Eine Locke schwarzen Haars hing ihm über die Augen. Unter seinen Füßen, hinter ihm, erstreckte sich eine dunkle Ebene, flach wie die Oberfläche eines Teiches. Weißes Pulver hing in der Luft, und manches davon blieb am Anzug des Mannes haften. Ein Klümpchen davon klebte an der
Öffnung vor seinem Mund, wo sein Atem hervorkam; er erzeugte eine Wolke. Katharine spürte, wie der Druck ihres Zorns anstieg. Ihre Eingeweide schmerzten. Sie streckte die Hand aus. »Fassen Sie mich nicht an. Was?« sagte der Mann, die Stimme verstärkt und sonderbar. Sie brachte die Hände zusammen und schlug ihn auf den Plastikgrat seines Rettungsanzugs, etwa da, wo sein Schlüsselbein sein mochte. Dann schlug sie ihn mit beiden Händen ins Gesicht, und ihre Hände waren so angeschwollen und fest wie eine Schweinslende, und sie schlug ihn viele Male. Er versuchte sich zu verteidigen; er ließ das Radio fallen und hob die Arme. Sie hieb noch einmal zu und schlug ihn nieder, und mit ihren Fingernägeln von Plastik schlitzte sie die Haut auf seinem kahlen Kopf auf, und dann ging sie weg. Sie ging weg und begann dann zu laufen, und erst lief sie vorwärts ins Licht und die aufgehende Sonne. Sie stieg bergan, und die Sonne war riesig und rot und heiß und strahlend und hell – zu hell. Sie wollte sie nur sehen. Sie war von Drywater heraufgestiegen, um sie zu sehen. Nur um sie zu sehen. Nur um sich zu vergewissern. Nur um zu fühlen, wie sie ihr in die Augen brannte und auf der Haut prasselte. Nur um die süße Erleichterung zu spüren, als sie sich abwandte. Sie wandte sich ab, machte kehrt und verbarg sich vor ihr in den Schatten der Berge.
6b: Schwefelgruben Der Dämon saß in dem Raum, wo seine Schwester lag, und rieb sich die Fußknöchel. Stunde für Stunde hielt er die Kerzen am Brennen. Das waren die einzigen Lichter in Drywater, nun, da alle fort waren. Die Menschen waren gegangen, die Autos
weggefahren. Die Sklaven waren tot. Er hatte den Körper der toten Sklavin in den Vorraum gezerrt. Die Wunde an ihrem Mund und am Hinterkopf hatte eine schlüpfrige Fettspur hinterlassen, als er sie hinauszog: Sie ließ Schmutz in der Luft zurück, und er zündete die Kerzen an. Aus irgend einem Grunde war ein Vorrat davon da. Im Vorraum standen Kisten davon, zusammen mit vielen anderen Dingen. Er stellte neun Kerzen auf jeden Fenstersims. Elf Kerzen stellte er an den Kopf seiner Schwester, sechs an ihre Füße. Das Wachs bildete Pfützen auf dem Tisch und auf dem kalten Fußboden. Der Dämon saß im Schneidersitz da. Seine Hände waren ruhelos. Er rieb sich die Füße und redete mit sich selbst. Seine Hände formten Muster, bald schnell und fieberhaft, bald langsam. Und ab und zu stand er auf, um neue Kerzen anzuzünden und das Gesicht seiner Schwester zu berühren. Als die Männer gekommen waren, hatte er die Kerzen ausgeblasen. Blind, wie sie waren, hatten sie ihn im Dunkel nicht gesehen. Sie waren nicht so weit gekommen. Jetzt waren sie fort; alle waren fort. Das Licht zog Menschen an, doch es vertrieb andere Tiere. Nun, da die Menschen fort waren, hatte er den Boden mit Kerzen bedeckt. Menschen waren nicht die einzigen Geschöpfe auf der Welt. Noch nicht. Jetzt würde das Licht die Tiere fernhalten. Jetzt spürte er sie manchmal jenseits des Fensters. Sie waren wegen der toten Sklaven gekommen. Die Menschen hatten die Leichen in ein Loch geworfen und mit Benzin übergossen, sie angezündet, doch nun war das Feuer ausgegangen. Benzin war noch da – man sah Tröpfchen davon in der Luft. Es konnte in die Augen beißen. Doch das Feuer war aus, die Menschen waren fort, und jetzt waren die Tiere aus den Felsen gekommen.
Die Tiere mochten keine Menschen. Es war keine Furcht. Sie hatten nichts zu fürchten. Sie lebten außerhalb der Reichweite. Sie waren zu leicht, zu schnell, zu schlau, oder aber zu grob und grundhaft, um je im Netz menschlicher Sinne gefangen zu werden – einem kleinen Netz, leicht zu umgehen, doch dicht, wenn es einen erst einmal gefangen hatte. Er erinnerte sich, wie er mit Reverend Martin in der Höhle gelebt hatte, und er hatte gesehen, wie ein Tier ans Licht kam. Es war aus irgend einem Grund unaufmerksam, vielleicht hirngeschädigt oder zu jung, um es zu verstehen. Er kannte seinen wahren Namen nicht, ebensowenig seine Schwester; niemand hatte ihn ihnen beigebracht. Doch sie hatten Namen erfunden. Dieses war Schnauze. Es hatte keine Augen. Es hatte eine lange, spitze, haarlose Schnauze und einen gedrungenen Körper dicht am Boden. Gedrungene, kräftige Beine; es war so lang wie sein Arm. Es kam ins Licht getrottet, spürte es, wie er glaubte, denn es hielt am Rande des Feuerkreises inne. Sie verbrannten Plättchen von Ölstein, die ein rotes Licht ausstrahlten, und das Tier blieb stehen, wo sich die Schatten über eine Lücke in den Felsen bewegten. Es streckte die Schnauze in die Luft, wandte sie hin und her. Seine Schnauze war am Ende dünn und nackt wie ein Finger. Reverend Martin redete mit seinen ungeschickten Händen, seinen flinken Lippen. Vielleicht hörte er es, und vielleicht roch er es auch – der Dämon kannte sich darin nicht aus. Doch er beobachtete sorgfältig, und obwohl der Priester nicht aufhörte zu reden, wurden seine Hände etwas langsamer, und er ließ darin eine winzige Unsicherheit erkennen, ebenso in einem flüchtigen Stirnrunzeln. Schnauze stolperte vorwärts ins Licht. Es stieß gegen ein paar Kieselsteine am Rande einer Schlammkruste, und sie rollten herab. Der Priester konnte es sehen. Er schaute in die Richtung. Er runzelte die Stirn stärker, hörte aber nicht auf zu
reden; Schnauze stand ein paar Augenblicke lang still, abwägend, doch es hatte keine Angst. Es trottete vorwärts, bis an das ausgestreckte Bein des Priesters. Es berührte sein Bein mit der ausgestreckten Nase, und der Mann stockte, dann redete er weiter. Doch nur mit einer Hand; mit der anderen langte er hinab, um sich am Bein zu kratzen. Er machte eine plötzliche Bewegung, und seine Hand kam in Kontakt mit der Flanke des Tiers. Seine Finger schienen es zu berühren und doch nicht zu berühren. Das Fleisch des Tiers wich ihm aus. Es zog sich von ihm zurück, indes das Tier zurückschnellte, und es machte kehrt und trottete zurück in die Dunkelheit, störte dabei die Lage der Steine, des Sandes. Reverend Martin hörte auf zu reden, eine Hand erhoben. Reverend Martin hatte eine Theorie. Er sagte, es gebe keine Nahrungskette auf der Welt, keine Evolutionskette. Er sagte, da sei eine Lücke. Er fragte sich, ob die Meister und die Sklaven von woanders gekommen seien, einer anderen Welt. Doch er hatte die Schnauze unter der Hand gehabt. Er nahm die groben Lebensformen wahr – kleine Insekten, Käfer und die einzelligen Geschöpfe der Schwefellöcher. Und er nahm die komplexesten wahr. Alles andere existierte nicht für ihn, und in seiner überheblichen, traurigen, menschlichen Art schuf er eine Wissenschaft, eine Theorie, um seine eigenen Mängel zu erklären. Er hatte Erklärungen für das gesamte Weltall. Jetzt waren die Tiere nach Drywater gekommen, und sie schnüffelten bei den toten Sklaven in der Grube herum. Eins war zur Tür heraufgeschlüpft. Er spürte es auf den Stufen draußen. Er spürte die Wärme seines Körpers, spürte seine kleinen Bewegungen, die kleinen Vibrationen seines Gehirns.
6c: Reden »Ich habe für jede Sache gearbeitet, die es gibt«, sagte Martin Cohen, während sie den Weg hinabstapften. »Tatsache ist, ich bin der Schutzheilige gescheiterter Sachen – von Kindheit an habe ich mich freiwillig gemeldet. Ich war beim Friedenskorps; ich war Lehrer an der Missionsschule in Ludlow. Ich habe ein Programm gegen Alkoholmißbrauch durchgeführt. Ich habe geholfen, die Klinik dort zu organisieren – alles freiwillig. Ich war stets Pazifist, und ich bin es immer noch. Ich glaube nicht an Gewalt. Aber die Probleme gehen so tief. Ich habe mein Leben lang für eine Art Kommunikation gearbeitet, eine Art Kooperation, und ich weiß mehr darüber, als jeder andere lebende Mann oder jede Frau. Ich kenne all die Sprachen. Und die Himmelsbewohner, darüber weiß ich auch alles. Bei Gott, ich habe mit ihnen gelebt. Ich bin der einzige Mensch, der das von sich behaupten kann.« »Erzählen Sie davon«, gab ihm Simon das Stichwort. Er dachte: Wenn er nicht so langweilig wäre, wäre er interessant. »Ja, das werd’ ich. Ich habe mit Mrs. Oimu bei der Mission gearbeitet – so habe ich sie getroffen. Ich habe ein kommunales Erweiterungsprogramm organisiert – was wir KIB nennen. Kommunikation, Information, Bildung: es war ein Impfprogramm, aber wir machten im ganzen Grenzland auch andere Arbeit. Sie holten sich Krankheiten von uns, und wir kurierten sie. Harriet sagte, es gebe Gemeinden auf der anderen Seite des Terminators; mir macht es nichts aus, allein zu arbeiten, also bin ich gegangen. Ich hatte Subventionen für sechs Monate. Ich richtete mich zwanzig Meilen südlich von hier ein und wartete, daß sie zu mir kamen. Ureinwohner können neugierig sein. Ich war mit Sprachstudien beschäftigt,
und ich studierte für meine geistlichen Prüfungen – was wir ›Schnittstelle‹ nennen. Ich traf einen Mann namens Paul Smyth. Er war Jäger. Er arbeitete auf einer Ranch in der Gegend von Ludlow, verbrachte aber öfters ein Wochenende westlich der Trennlinie. Er interessierte sich für Archäologie; es gibt hier eine Menge Dämonenruinen aus der Zeit der ersten Pioniere. Es hatte immer Gerüchte gegeben, aber er schwor, daß hinter Rodrigan’s Gorge noch eine Dämonenfamilie am Leben sei. Er hatte seit Monaten dort herumgestochert. Nach ein paar Tagen kam er dann meistens zu mir, einfach, um die Zeit zu verbringen. Einmal kam er mit diesem großen, schmierigen Sack zurück, und ich dachte, er sei schon betrunken. Er begann ein Spiel mit mir: ›Was ist in dem Sack?‹ Er wollte es mir nicht zeigen. Aber ungefähr nach einer Stunde schlief er ein, und ich holte es heraus. Es war ein Dämonenkopf, ganz frisch, am Hals abgehauen. Ich stellte ihn auf den Tisch in meiner kleinen Hütte und starrte ihn an. Dieser lange, hohe Schädel. Es war ein magischer Moment, kann ich Ihnen sagen, während Paul auf dem Feldbett schnarchte. Und der Wind. Und die Dunkelheit. Es war ein weiblicher Dämon, ich konnte es feststellen. Also dann wachte er auf und war wütend. Aber er war betrunken, wissen Sie, und ich zwang ihn, mir zu sagen, wo er den Dämon gefunden hatte. Er sagte, er sei auf dem Rückweg, um etwas Geld zu kriegen, sein Urlaub war zu Ende. Eigentlich glaube ich nicht, daß er sich erinnerte, mir etwas gesagt zu haben – ich packte eine Tasche und ging los, sobald er weg war. Ich durchkämmte das ganze Gebiet, bis ich den Körper fand. Und dann entdeckte ich sie: zwei Halbwüchsige, die in einer Höhle lebten. In einer langen Höhle mit winziger
Öffnung – beinahe hätte ich sie übersehen –, und sie zog sich immer tiefer hinein. Große Schatten im Licht.« Sie kamen jetzt nach Drywater hinab, die Straße entlang. »Ich brachte sie an einen sichereren Ort. Sie hatten Hunger. Ich versteckte sie in einer Ruine in der Nähe meiner Hütte. Ich konnte mit ihnen reden. Ich hatte dieses Buch von Reverend McElroy gelesen – ich beherrsche die Sprache fließend.« Er machte ein paar Gesten mit den Händen. Simon erkannte ›Hallo‹. »Es war traurig«, sagte Martin Cohen. »Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte – es gab so viel, was ich nicht verstand. Sie fingen gerade erst an, mir etwas über die Welt zu zeigen, darüber, wie sie die Welt sehen. Ich habe es alles aufgeschrieben. Und ich verstand sie, das war das Erstaunliche. Nicht wie bei den Kanaken, wo jedes Wort falsch ist. Nein – es wäre eine großartige Arbeit gewesen. Es hätte mich berühmt gemacht. Es war unglaublich wichtig.« »Was ist damit passiert?« fragte Simon. »Es war meine Abschlußarbeit für die Kiyungu-ChristusPrüfungen«, sagte Martin Cohen und rieb sich die schlimm zugerichtete Nase. Er schniefte, rieb sich die Augen. »Wissen Sie, das ist nicht wie mit den Scheißkanaken. Sie sehen so schrecklich aus, aber ich verstand sie. Ich dachte, es müßte eine Art Zusammenhang geben. Sie sind nicht von hier, ich weiß es. Sie sind wie wir, nur besser. Höher entwickelt. Offen. Sie töten nicht, was sie berühren.« »Sie haben Sklaven gehalten.« »Wie wir. Außerdem war das anders. Denken Sie wirklich, die Kanaken brauchten Zwang, damit sie uns haßten und angriffen? Nein – es beruhte mehr auf Gegenseitigkeit. Symbiose. Sie müssen verstehen. Die Kanaken – das war meine Abschlußarbeit, wirklich. Kiyungu sagt, wir müssen den
Christus in uns verehren. Sie wissen, ›Atman‹: genau das sind die Dämonen. Die Welt ist so verwirrend, und wir haben unsere Art, damit umzugehen, indem wir sie ausblenden. Neun Zehntel davon ausblenden. Aber die Kanaken tun das nicht. Sie sind wie Schwämme, die alles aufsaugen. Zuviel eigentlich; zuviel, als daß sie es verstehen könnten. Aber die Dämonen konnten Sinn darin sehen. Sie konnten Muster bilden; sie waren wie Götter, wirklich; so könnte man von ihnen denken.« »Ich verstehe.« »Nein, nichts verstehen Sie. Sklaven und Herren, das ist dasselbe. In gewisser Hinsicht haben die Kanaken sie erschaffen, so wie wir unsere Götter erschaffen haben. Und es hat funktioniert; lesen Sie McElroy. Die Kanaken haben wie Tiere gelebt, bis die Dämonen sie aufgezogen haben. Sie lebten in Höhlen und aßen Käfer aus dem Schwefelwasser. Aber die Dämonen machten ein Muster für sie und zeigten ihnen, wie man denkt. Die wirkliche Welt und die falsche.« »Sie waren Sklaven«, sagte Simon. »Sie verstehen mich nicht. Gewiß, wir haben das alles in der Schule gelesen, die Knochenkirche, die Arbeitsfarmen, die schreckliche Art, wie die Dämonen sie behandelten und ihren Geist kontrollierten, aber wissen Sie, das war erst seit der Eroberung so. Tatsache ist, daß es nie besonders viele von ihnen gegeben hat. Menschen sind vierzig Jahre lang hier gewesen, ehe sie überhaupt bemerkten, daß es Dämonen gab. Diese ganze Bautätigkeit, das kam später. Vielleicht hat sich ihre Kultur verändert, als die Menschen kamen. Ihre Könige, ihr Rat, ihre Paläste in Drywater – das haben sie alles direkt bei uns abgeschaut. Es hat nie besonders viele von ihnen gegeben, und wir haben so gnadenlos Jagd auf sie gemacht, daß wir sie gezwungen haben, Wesen wie wir selbst zu werden. Eng umgrenzt.«
Sie hatten jetzt Drywater erreicht. Der weiße Lieferwagen stand noch vor der Halle. Eine von den Ziegelwänden war eingefallen, und drinnen fanden sie verstreute Balken und glühende Asche.
6d: Eine Folge von Träumen Katharine war auf einem schnelleren Weg zurückgekehrt. Während sie sich in den Bergen zu schaffen gemacht hatten, auf sie gewartet hatten, gerastet hatten, während sie an manchen Stellen den Pfad verfehlten, war sie geradewegs zurückgekehrt. Sie hatte geglaubt, sie würde sie los sein, nachdem sie den Kiyungu-Priester ins Gesicht und niedergeschlagen hatte. Sie nahm an, sie würden weiter dorthin gehen, wohin sie gehörten, daß sie den Pfad gefunden hätten und weiter hinauf ins Sonnenlicht gehen würden. Über die Trennlinie. In die Menschenwelt hinauf. Hinauf zum Landeplatz, und mit einem Flugzeug hinauf nach Shreveport. Sie war umgekehrt, um sie loszuwerden, um ihnen auszuweichen. Sie hatte sich an den Grund der von Wasser ausgespülten Rinnen gehalten, und sie war ohne Halt in Bewegung geblieben, bis sie das Kerzenlicht in Drywater erblickte. Sie verbrannte die Vorräte in ihrem Körper, verbrannte das Fett, brannte die Chemikalien weg. Es war ein schmerzhaftes Feuer. Und doch tat es ihr wohl, sich zu verausgaben, sich zu verbrauchen. Den Grund der Wasserrinne entlang kam sie nach Drywater. Hinter der schwelenden Halle, zwischen den Felsen, fand sie eine Grube mit sieben halb verbrannten Leichen darin. Doch sie überquerte die Straße und den Wendeplatz mit dem weißen Lieferwagen. Sie mußte sich zwischen toten Leuten durchdrängen, und sie standen um die Tür der Halle. Mrs.
Oimu war dort, und sie war nicht so angsteinflößend wie zuvor. Ihre Züge waren weicher, und der Zorn, der ihr beseelendes Element gewesen war, war versickert. Oder sie hatte ihn erbrochen. Katharine erinnerte sich, daß sie in der Bibliothek des Ursulinums die Reproduktion eines mittelalterlichen Manuskripts gesehen hatte; sie zeigte einen nackten Mann im Bett. Im Augenblick seines Todes kroch ein geflügeltes Geschöpf aus seinem Mund, wurde in die Luft ausgestoßen. Diese sieben Toten waren von Zorn aufgequollen gewesen, fett von Bitterkeit und Haß. Das hatte sie geformt, hatte die Umrisse ihrer Gesichter gebildet. Nun erbrachen sie es. Sie erbrachen es alles, und zugleich kamen aus den zerrissenen Beuteln all die chemisch trägen synthetischen Gele hoch und all die sich auflösenden Plastikgelenke und -röhren. Ihre Gesichter fielen in sich zusammen, und ihre Körper schrumpften. Katharine ging zwischen ihnen hindurch. Sie langten nach ihr. Ihre Finger glitten über ihre Arme. Doch ihre Stimmen waren fremdartig, und sie sprachen in der Sprache der Toten. Und sie waren glücklich; sie wußte, daß sie glücklich waren, doch es war ein Glück, an dem sie nicht teilhaben konnte. Es war ein Vorwurf an sie. Das Licht brannte weiter vorn, auf einem Sandhang hinter der Halle. Ein Fenster im Dunkeln: es war das Fenster des quadratischen Steinbaus mit dem Wellblechdach. Daneben erstreckte sich eine ältere, mit einem geschnitzten Fries verzierte Mauer – wohin, war in der Dunkelheit nicht auszumachen. Lange Steinstufen führten von der Tür herab, die offenstand. Auch das war ein Metallblech, das schief in Angeln aus Ketten hing. Ein Stück Kette hing lose von einem Haken am Türrahmen herab; auf der obersten Stufe lag offen ein Vorhängeschloß. Kerzenlicht flackerte durch eine lange
dreieckige Lücke im Türrahmen und auch durchs Fenster. Es warf einen gelben Schein. Erschöpft setzte sie sich auf die unterste Stufe. Sie konzentrierte sich auf das Licht, das über die unebenen Steine herabfloß. Nach einer Weile verlor die Erinnerung der Toten für sie an Deutlichkeit. Sie saß mit gesenktem Kopf da und starrte auf das Felsgestein neben ihren Halbschuhen. Schließlich strich sie sich das Haar aus dem Gesicht und umfaßte es mit der linken Hand und hielt es im Genick. Schließlich riß ein Schauder an ihrem Körper und brach sie auf. Sie beugte sich tief zwischen die Knie hinunter. Sie öffnete den Mund weit. Doch nichts kam heraus, höchstens ein paar lange Speichelfäden. Wie oft hatte sie das getan? Der Geschmack in ihrem Mund blieb derselbe. Sie stellte sich vor, wie sie im rosa gekachelten Bad von Au Gascoygne war, wohin sie ihr Vater einmal mitgenommen hatte. Sie stellte sich vor, wie sie im oberen Bad von Goldstones Stadthaus kniete, an dem Abend, als Natasha ihr Studium abgeschlossen hatte. Um sich vor die Toilette setzen zu können, hatte sie ihr Kleid fast bis zur Taille hochziehen müssen. Es war ihr rückenfreies gelbes Kleid. Sie hatte Angst gehabt, entdeckt zu werden. Krämpfe schüttelten sie. Doch dann beruhigte sie sich. Sie sackte zurück an die Stufen. Erschöpft ließ sie sich in einen Dämmerzustand sinken. Und von ihrer Erinnerung gelenkt, von ihrem geschwächten Willen nicht gedämpft, strömten neue Bilder aus ihr hervor. Sie waren giftiger als die aus den Badezimmern, die zumindest ein Element des Stolzes enthielten, ein Element der Beherrschung. Sie war fünfzehn. Sie stand vor dem Spiegel in ihrem Schlafzimmer in Shreveport, nachdem sie geduscht hatte. Sie bürstete ihr Haar. Damals war es länger. Sie trug einen Bademantel. Ihre Kleidung, die sie sorgsam ausgewählt hatte,
lag auf dem Bett – Blue Jeans und ein weißer Angorapullover. Sie trug bereits ihre Cowboystiefel und versuchte sie einzulaufen. Es hatte keinen Sinn, gab sie jetzt zu, da sie hilflos auf den Stufen saß und sich selbst von dort aus betrachtete. Ihr Vater stand hinter ihr. Sie sah ihn im Spiegel, wie er hinter ihr in der Tür stand, auf seinen Stock gestützt. Er war zwanglos angezogen, das heißt, er trug kein Jackett und keinen Schlips. Er spähte durch seine Brillengläser und schob sich langsam ins Zimmer. Wußte er, daß sie ihn sah? Er betrachtete sie mit einem vorsichtigen, scheuen, verzückten Ausdruck. Er mußte gewußt haben, daß sie das wahnsinnig machte. »Wohin gehst du?« Er wußte es. Oder zumindest den ersten Teil davon – daß sie in einer Stunde von Andrea McClain abgeholt werden sollte, deren Mutter ihr den Wagen geliehen hatte, solange sie nicht in der Stadt war. Und vielleicht wußte er auch den Rest. Vielleicht kannte er unbewußt die ganze Sache, nämlich daß sie Zigaretten kaufen gehen wollten. Dann würde Andrea sie bei der Wohnung ihrer Mutter absetzen, wo ihr Vetter Tommy die Frühjahrsferien über wohnte. Und sie würde mit Tommy bumsen, und vielleicht mit einem von Tommys Freunden aus dem College, wenn jemand Lust hatte, und sie würde ungefähr ein Viertel Glas Bier trinken müssen. Sie erzitterte auf den Stufen und schlang die Arme um ihre Brüste. Vor dem Spiegel strich sie mit der Bürste durch ihr langes Haar, dann legte sie sie beiseite. »Ich hab’s dir gesagt«, erklärte sie. »Andrea kommt vorbei.« Dann griff sie nach dem Haarfön und schaltete ihn ein, teils, um die Worte seiner Antwort untergehen zu lassen. Doch er kam auf sie zu, Zoll für Zoll, und blieb hinter ihr stehen und stützte seinen Stock gegen die Tischplatte.
»Ich mag Andrea McClain«, sagte er. »Ich mag deine Freunde unter den Menschen«, sagte er, und der Fön war nicht laut genug, um seine Stimme zu übertönen. Er stand hinter ihr, und sie bürstete ihr Haar durch und trocknete es Strähne für Strähne. »Komm«, sagte er. »Komm«, sagte er, »laß mich das tun.« Er schaute ihr über die Schulter und blickte ihr durch den Spiegel in die Augen, bis sie sie schloß. Sie schaltete den Fön aus und senkte das Gesicht, bis sie die Spritzenkästen auf der Tischplatte anstarrte. »Komm«, sagte er, »laß mich das tun.« Er nahm ihr den Fön aus der Hand. Er nahm die Bürste. Er begann, ihr Haar durchzubürsten und bei geringer Hitze zu trocknen. Er war so sanft, so gebrechlich und so verlegen. Auch sie hätte vor Verlegenheit sterben mögen, und sie war auch besorgt, als könnte jeden Moment etwas Schreckliches geschehen, etwas Unwiderrufliches. Es gab auch andere Empfindungen, von Erinnerung und Zeit zum Verstummen gebracht, doch noch immer stark, noch immer voll Gift. Schuld und Zärtlichkeit und der Wunsch zu beschützen, obwohl er sie nie beschützt hatte. Diese Empfindungen in ihr waren chaotisch und unterschwellig, und nur eine erhob sich aus der Masse, formte einen Gedanken und durchstieß die Oberfläche ihres Geistes. Woher weiß er es? Ich kann nicht glauben, daß er weiß, wie man das macht. Denn er war so sanft und so gründlich wie nur je ein Friseur. Er muß mir zugesehen haben, dachte sie und empfand einen weiteren kleinen Stich von Bitterkeit und Schuld. Sie saß auf den Stufen in Drywater, die Arme um die Brust geschlungen. Selbst im Halbschlaf spürte sie, wie wund ihr Körper war. Im Traum waren ihre Gefühle oft klar wie Spektralfarben. Doch in diesem Augenblick, da sie auf den
Stufen saß, fühlte sich ihr Geist wie ein Gulli an, eine Kloake, ein Ausguß. Entsündige mich mit Ysop, dachte sie, dann werde ich rein. Im Traum hörte sie hinter sich ein Geräusch. Sie drehte sich nicht um. Sie brauchte es nicht zu tun. Sie saß mit geschlossenen Augen da und sah zu, wie sich das Licht veränderte. Sie stieg auf eine neue Ebene des Schlafes hinab. Sie spürte, wie ihre Finger, die die Muskeln ihrer Oberarme umklammert hielten, losließen. Sie ließ sich gegen die Stufen zurücksinket, und der kalte Stein schien ein bißchen nachzugeben, sich ihrer Form anzupassen. Und bald schon fühlten sich ihre Adern und Gedärme weniger zusammengezogen und verkrampft an. Blut brachte Sauerstoff zu ihren Zellen. Abfall bewegte sich durch die dafür vorgesehenen Gänge. Sie atmete, und ihr Kopf lehnte sich zurück. Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu sehen, daß er hinter ihr stand. Er war einfach da, riesig, kraftvoll, und das Licht entströmte seinem Körper. Sie brauchte nicht hinzuschauen. Er kam die Stufen hinter ihr herab und ging an ihr vorbei und fort über den Sand. Licht spielte auf seinem hohen Scheitel. Sie brauchte nicht hinzuschauen, um ihn gehen zu sehen. Schließlich schien sie mit ihrem neuen Schlaf auch eine neue Art des Träumens zu erwerben. Im Traum öffnete sie die Augen. Er ging die alte Mauer entlang außer Sicht, schritt mit seinen enormen Beinen über den Sand und die Steine. In ihrem Traum fand sie sich aufgerichtet, von neuem erfrischt. Sie stand schwindelnd, ohne Balance auf der untersten Stufe, und dann wandte sie sich um. Die Tür war jetzt offen. Sie schlüpfte durch die Lücke hinein. Sie stand in einer kleinen Kammer. Vor den Wänden standen Regale mit Büchsennahrung und anderen Vorräten. Mäntel und
Rettungsanzüge hingen von einer Reihe Haken herab. Eine Schachtel mit Wachskerzen war geöffnet worden, und die meisten waren weg. In der Nähe lag eine Frau auf dem Gesicht am Boden, die Jacke über den Kopf gezogen. Ihr gegenüber befand sich die Tür zu einer anderen, inneren Kammer. Auch sie war aus Metall. Doch sie war solider als die äußere Tür, fester im Rahmen. Es waren fünf kleine Löcher darin, und Licht schien durch sie hindurch. Auch diese Tür stand halb offen. Licht umriß ihren Rand. Sie stieß sie auf, und Licht strömte heraus, und sie stand auf der Schwelle eines inneren Raums. Sie war auf der Schwelle einer inneren Kammer. Dutzende von Kerzen brannten darin. Sie zogen sich über die Fenstersimse hin. Sie standen in Reihen auf dem Fußboden, die Wände entlang, und sie hatten Rußmuster auf dem blanken Stein hinterlassen. Manche waren heruntergebrannt. Andere waren frisch angezündet worden. Ein Steintisch ragte aus der Wand gegenüber hervor, und er war von Kerzen bedeckt. Lange Wachsnasen hingen herab. Das Wachs verbreitete einen heißen Geruch. Zwischen den Kerzen auf dem Tisch lag ein nackter Leichnam. Seine langen Hände waren auf der Brust gefaltet. Die Augen waren geschlossen. Das Fleisch am Kopf sank zurück und ließ die Umrisse der Knochen hervortreten. Ein Käfig, um die Gedanken festzuhalten, doch sie waren ausgeschwärmt. Hier ist der Körper, sagte sie sich, und sie fühlte, wie ihre Lippen sich bewegten. Der Geist ist fort. Die Seele ist fort. Doch sie hatte keine Gelegenheit, mehr zu sagen; sie trat in den Raum, und dann war Simon Mayaram da. Er stand hinter ihr, und sie wandte sich um. Weil Träume keinen fortlaufenden Zusammenhang haben, konnte sie alles mit seiner plötzlichen Anwesenheit in Übereinstimmung
bringen. Alles um ihn verschwand oder wurde in ihm zusammengefaßt: Der Wachsgeruch schien ein Teil seines Geruchs zu sein. Das Licht schien nur dazu da zu sein, seinen lebenden Körper zu erhellen, seine glänzende dunkle Haut. Ich bin schwarz, aber gar lieblich, dachte sie. Seht mich nicht an, daß ich so schwarz bin. Er schlang die Arme um sie, und sie legte das Gesicht an seinen Hals. Kerzenlicht schimmerte auf der dunklen Haut unter seinem Ohr, auf seinem dichten Haar. Sie kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, atmete seinen Geruch ein, und sie fühlte die Kraft in seinen Armen und die Anspannung in seiner Brust, als er den Atem hervorstieß. Seine Brust zitterte und vibrierte, als er ihren Namen aussprach. »Katharine«, sagte er, »Katharine«. Sie schloß die Augen vollends, doch nur für einen Moment, nur um sich zu vergewissern, daß es auch eine andere Welt gab, und in dieser anderen Welt spürte sie ihn hecheln wie ein Hund, brummen wie ein Motor. Dann öffnete sie wieder die Augen und starrte sein wundersames gewundenes Ohr an. »Oh, es tut mir leid«, murmelte sie. »Es tut mir so leid.« »Du mußt bei mir bleiben. Du kannst nicht so weglaufen. Ich habe mir Sorgen gemacht. Ich hatte Angst, ich würde dich nie finden.« »Es tut mir leid«, sagte sie, und sie meinte es wirklich so. Weil es ein Traum war, konnte sie sich vollkommen ausdrücken. »Tu das bloß nicht wieder. Bitte. Wir müssen zusammenbleiben.« Er küßte ihre Lippen für einen Moment, und sie öffnete den Mund für ihn. »Ich bin froh, daß du wieder hierher gekommen bist«, sagte er. »Das war richtig.«
Aber ich hatte keine Angst, dachte sie. Im Traum öffnete sie seinen dicken, schweren Mantel und ließ ihre Hände daruntergleiten und über seinen Bauch und in die Hosen hinab. Sie hielt ihn in der Hand und formte mit den Fingern eine Scheide für ihn, und er drang mit seiner Anteilnahme in sie ein, fickte sie mit seiner Anteilnahme, seinem Drang, stieß immer wieder in sie hinein. »Hör auf«, sagte er. »Was tust du? Rede mit mir. Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Wir dürfen uns nicht trennen lassen.« Doch er war hart wie Stahl in ihren Händen. »Ich liebe dich«, sagte er, derlei Worte, und sie quollen eins nach dem anderen aus der Spitze seines Glieds und bildeten eine Flüssigkeit; sie schloß die Augen, und es war wie ein Stahlkolben in ihrer Hand.
6e: Kerzenlicht »Wir dürfen uns nicht trennen lassen«, sagte er. »Du bist alles, was ich habe. Du verstehst das. Ich liebe dich.« Sie zog an seiner Gürtelschnalle. Er schob ihre Hände beiseite, umschloß sie mit seinen. Die Dämonin lag auf einem Steintisch, von Kerzen umgeben. »Was glaubst du, was du hier zu schaffen hattest?« fragte er. »Warum bist du zurückgekommen?« »Ich weiß nicht.« »Ich dachte, du hättest dich verirrt. Bist du auf die Straße zu gegangen? Martin sagte, er hat dich nicht gesehen, als er vom Terminator zurückgekommen ist.« »Er hat gelogen.« »Ich bin so erleichtert. Irgendwie wußte ich, daß du zurückkommen würdest. Daß du wissen würdest, daß ich hierher komme, um nachzuschauen.«
»Ich dachte, du würdest weitergehen«, sagte sie. »Ludlow Grange – das hattest du gesagt. Ich dachte, wir würden uns trennen. Das wollte ich. Darum bin ich zurückgekommen.« »Nein. Ich würde dich nie verlassen. Vertrau mir. Bitte schenk mir Glauben.« Ihre Hände und ihre Wangen waren heiß, fiebrig. Sie schaute sein Gesicht an, doch nicht ihn. Er ließ ihre Hände los und hob seine, um ihr ans Kinn zu fassen und es zu fassen und es zu bewegen, damit sie ihn deutlicher sehen konnte. Doch sie schloß die Augen. »Es ist gut, daß du nicht dorthin gegangen bist«, sagte er. »Ich habe Martin Cohen auf dem Pfad getroffen, als er zurückkam. Im Grenzland um Ludlow gibt es einen Aufstand. Wir haben über Kurzwelle davon gehört.« »Ja. Er hat dich belogen.« »Wie meinst du das? Er war dort. Sie haben ihn mit einem Axtstiel geschlagen. Um ein Haar hätten sie ihn nicht gehen lassen.« »Ich habe ihn geschlagen.« Sie phantasierte. Wie er in diesem Raum voller flackernder Kerzen stand und sie bei der Hand hielt, ihr Kinn berührte, ihre geschlossenen Augen betrachtete, fühlte sich Simon von Zärtlichkeit erfaßt, überwältigt. Er legte ihr die Finger auf die Lippen, und sie öffnete den Mund: »Es ist in Ordnung«, sagte er. »Es kommt in Ordnung.« »Er ist mir nachgegangen. Hinauf, wo die Sonne aufging. Ich habe ihn ins Gesicht geschlagen, weil er log. Er war in Goldstone.« Das waren neue Symptome. Sie sprach in einem breiigen Monolog, als schildere sie einen Traum oder eine Wirklichkeit, von der sie wußte, daß sie falsch war. In ihrer Stimme lag keine Überzeugung, obwohl die Worte vernünftig waren. »Du hast ihn geschlagen?«
»Er ist mir nachgegangen. Er war nie da oben.« Simon schlang die Arme um sie und drückte sie eine Minute lang, ohne etwas zu sagen. Über ihre Schulter hinweg blickte er zu der Dämonin. Sie lag vielleicht seit Tagen dort. Ihre Haut trocknete allmählich aus. Ihre langen Hände, über der Brust gekreuzt, vertrockneten zu Klauen. »Wir verdanken ihm eine Menge«, sagte er. »Vielleicht unser Leben. Harriet Oimu wollte uns töten.« Sie stand da und wiegte sich mit geschlossenen Augen sacht in seinen Armen, den Kopf hochgereckt. »Das hat er dir gesagt?« fragte sie. »Das weiß ich.« Er war nur ein paar Stunden von ihr getrennt gewesen, dennoch hatte er vergessen, wie niederdrückend es war, sie in dieser Verfassung zu sehen. Er würde alles tun, dachte er, um sie zurückzuholen. Er würde alles tun. Er erinnerte sich an die ersten Tage ihrer Gefangenschaft, wie sie so wacker gegen diese Wahngebilde angekämpft hatte, die sie nun verzehrten. Sie hatte bei ihm im Dunkeln gelegen und mit ihrer rauhen, sonderbaren Stimme gesprochen – er würde alles tun, damit ihre Stimme wieder diesen Tonfall rauher Intensität gewann. Es war der Klang ihres Kampfes gewesen, und diese neue weiche Stimme war der Klang ihrer Unterwerfung. »Ich dachte, du würdest mit ihm nach Ludlow hinaufgehen. Ihr beide gehört dort oben hin. Ins Sonnenlicht. Darum bin ich zurückgekommen.« Sie phantasierte. Sie brauchte ihn; sie wußte es. Und er wußte, daß sie ihn mochte. Sie konnte es nicht sagen, konnte es nicht zugeben. Doch er fühlte es in der Art, wie sie ihn immer berührte, selbst wenn es unpassend und seltsam war. Auf diese Art gab ihm die Frau, die in ihr eingeschlossen war, Signale, zeigte ihm, daß sie noch da war.
Und doch war es niederdrückend. Er ließ sie stehen und ging zu dem steinernen Tisch. Er hielt die Hände über die ersterbenden Kerzen; viele waren ausgegangen. Er hielt die Hände über den seltsamen Leichnam. Mit stumpfem Blick musterte er ihn: ohne Mund, ohne Ohren, ohne Kinn, und die Augen waren geschlossen. Homo coelestis. Das lange Gesicht. Der hoch aufragende Scheitel. Der gewölbte Schädel. Langer Hals, kurzer Körper und überlange Beine. Die dreizehigen Füße. Der Himmelsmensch – doch diesmal fühlte er keine Erregung, keinen Abscheu, fast kein Interesse, und es war, als wären diese Gefühle so empfindlich, daß sie nicht im selben engen Raum mit seiner Deprimiertheit, seiner Enttäuschung, seinen Ängsten bestehen konnten. Er stand da, den Blick an jene eingesunkenen Wangen geheftet, und das einzige, woran er dachte, war, was Martin Cohen gesagt hatte: wie er kein einziges Mal empfunden hatte, daß die Kommunikation mit diesem Wesen versagt hätte. Hinter ihm wiegte sich Katharine hin und her, ihr vollkommenes Menschengesicht zur Decke erhoben. »Er kann uns helfen«, sagte er. »Er kennt dieses Land. Er hat hier gelebt.« »Uns helfen?« sagte sie mit dieser kleinen Stimme. Er wandte sich um. »Ja. Und wir brauchen Hilfe. Vielleicht traust du ihm nicht ganz, weil er bei der NLC war. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Wir brauchen einander, und wir müssen ihn nicht mögen, um uns von ihm helfen zu lassen. Entscheidend ist, daß er sich auskennt. Er kann uns Wahlmöglichkeiten geben. Auf dem Rückweg haben wir Radio gehört, und überall im Grenzland gibt es Revolten. Es sieht also so aus, als ob wir jetzt nicht dorthin könnten. Also warten wir entweder hier, bis sich alles beruhigt hat, oder er kennt einen anderen Ort, wohin wir gehen können, um abzuwarten. Er weiß, wie man zur
Shackleton-Station kommt, übers Eis. Das ist ein Observatorium zweihundert Meilen westlich von hier, und ich kenne die Leute. Sie waren in dem Schiff, mit dem ich gekommen bin. Dort haben sie einen Hubschrauber und eine komplette Krankenstation – die nächstgelegene. Und einen Arzt für dich.« »Ich brauche keinen Arzt.« »Doch, du brauchst einen.« Er hob die Stimme. Nun, da er sie gefunden hatte, war er voller Zorn und Ungeduld, vermischt mit Schuldgefühlen. »Wie soll ich dir helfen – wie soll ich wissen, was du durchmachst, wenn du dich mir nicht anvertraust? Wenn du nicht darüber redest? Wenn du vor mir davonläufst und versuchst, mich wegzustoßen? Du brauchst dich nicht zu schämen; es gibt nichts, was du mir nicht sagen könntest.« »Ich schäme mich nicht.« Immer noch mit dieser kleinen Stimme. Er fühlte Wut in sich hochsteigen, und um einen Weg zu finden, sie herauszulassen, ging er wieder auf sie zu und schlang von hinten die Arme um sie, und er hielt sie ein bißchen zu fest, zu steif. »Bitte weise mich nicht ab«, sagte er und preßte die Lippen auf ihr Haar. Sie lachte. Es war ein Klang, der ihm fremd war, den er noch nie von ihr gehört hatte. Es war wie ein Hustenkrampf in ihrer umkonstruierten Kehle. »Dich abweisen? Ich werde dich nicht los. Du bist wie ein Hund. Du bist wie ein schwarzer Hund. Ich gehe weg, du folgst mir. Ich komme wieder, du folgst mir.« Er sagte: »Dort oben hätten sie dich umgebracht. Reverend Cohen weiß es; sie haben ihn geschlagen. Er sagt, sie haben ihn mit einem Axtstiel geschlagen, nur weil er ein Mensch war. Was hätten sie dir oder mir getan? Er sagt, sie haben oben bei Jims Gut eine Straßensperre errichtet. Er sagt, daß sie Leute aus ihren Wagen gezerrt und getötet haben.«
»Er hat dich belogen«, sagte sie, wiegte sich dabei in seinen Armen und sprach in schläfrigem Singsang. »Er war nie dort.« Martin Cohen stand im Vorraum. Simon hörte ihn durch die Metalltür hindurch. Er musterte die Vorräte dort. Jetzt schaltete er sein Radio ein und drehte die Abstimmung durch das Rauschen, bis er einen Rock’n’Roll-Sender in Shreveport fand. »I do admit he had a rocking band«, hieß es. »Yeah, they were blowing like a hurricane.« Der Klang setzte sich in Bewegung, kam näher. Ein Klopfen an der Tür, und da stand Martin Cohen, das Radio in der Hand.
6f: Träume (Fortsetzung) Vor allem hatte er keine Ahnung von ihren schmierigen, verknoteten Eingeweiden. Von dem Gewirr aus Stahl und Plastik. Der undichten Naht. Sie hörte dem Radio zu. Der Mann war da, und sie hatte ihn geschlagen, und sie hatte ihm die Wangen zerkratzt. In ihrem Traum ließ Simon Mayaram sie los. Sie entfernte sich von ihm und kreuzte die Hände über dem Magen. Sie wandte ihnen den Rücken zu. Die Dämonin lag auf dem steinernen Tisch, und sie war nackt. Sie war in den Bauch geschossen worden. Katharine sah es jetzt. Schwarze Streifen in dem gelben Fleisch, und sie führten von den Löchern weg, die jetzt leer und trocken waren, und ihre Ränder hatten sich zurückgezogen. Die Musik im Radio hörte auf, dann begann sie wieder. »Driving that train«, hieß es, »high on cocaine.« Simon Mayaram war wütend. »Kommen Sie nicht einfach so herein«, sagte er. »Sie machen ihr Angst. Sie ist jetzt sehr empfindlich.« »Wie Sie bestens wissen.«
»Wenigstens kümmere ich mich um sie.« Im Traum spürte Katharine seine Wut. Es war eine Wut, die er ihr zu geben versucht hatte, doch sie hatte sie zurückgewiesen. Es war wie eine Wärmequelle in jenem Teil des Zimmers. Sie schaute auf die Kerzen, wie sie eine nach der anderen niederbrannten, und dann schloß sie die Augen. »Sie können mich nicht leiden«, sagte der Mann mit den aufgeschürften Wangen. »Um Gottes willen, was wollen Sie denn? Sie sind der Grund, daß wir überhaupt hier sind. Sie und Ihre Freunde. Was wir fühlen, ist nicht entscheidend. Versuchen Sie einfach, ehrlich zu uns zu sein, und wir werden es Ihnen gegenüber auch sein.« »Ja«, sagte der häßliche Mann mit den aufgeschürften Wangen. And you know it crossed my mind, dachte Katharine. Sie stand mit geschlossen Augen da, die Hände am Magen, und bewegte sich nach der Musik. »Ich behaupte nicht, ich sei ein Heiliger«, sagte er. »Aber ich habe niemanden umgebracht. Wenn ich nicht gewesen wäre, hätten sie viel mehr Schaden angerichtet. Ich habe sie gewarnt, und sogar danach hätten sie in Goldstone alle erschossen, wenn ich sie nicht aufgehalten hätte. Ich war genauso ein Gefangener wie Sie.« »Ich glaube Ihnen nicht.« Katharine hörte zu und bewegte sich nach der Musik. Da war eine Lady in Rot – was bedeutete das? War das der Name des Zuges? Oder war sie selbst es? Im Traum sah sie sich in der Mitte der dunklen Gleise stehen, in einen roten Satinumhang gekleidet, mit rotem Lippenstift und roten Ohrringen und roten hochhackigen Schuhen. Sie stand schwankend und unbeholfen auf dem Schotterbett zwischen den Bahnschwellen, und von hinten hörte sie den Lärm und spürte den Wind und sah ihren langen Schatten, der vor ihr ins Dunkel fiel, während die
Lichter des Zugs Nr. 102 aufs falsche Gleis einbogen und auf sie zu kamen, der Lokführer vor Drogen von Sinnen, und er hatte ein Paar gute Augen und sah sie doch nicht. »Schalten Sie das ab«, sagte Simon, und die Musik hörte auf, ging im Rauschen unter, und es war die Stille der langen, dunklen Sommernacht. Sie stand mit geschlossenen Augen da und lauschte dem Rauschen, den Grillen, den Zikaden. »Tatsache ist, daß alles in Ordnung kommt«, sagte Martin Cohen. »Wir haben Nahrungsmittel hier und den Lieferwagen. Ich habe draußen in ihrem Mantel die Schlüssel gefunden. Aber Jesus, wo ist er?« »Wer?« »Der andere. Sie wollte ihn töten. Harriet hatte sie geschickt, um ihn zu töten. Wo ist er? Die Leiche müßte hier sein.« »Wer?« »Der andere Dämon – ist er fort? Wer hat diese Kerzen angezündet? War sie es?« fragte Martin Cohen und meinte sie, Katharine.
6g: Sie erwacht Da war ein Teil des Traums, an den sie sich nicht erinnern konnte, als sie erwachte und sich auf den Stufen wiederfand. Sie saß auf den Stufen und hörte den Männern hinter sich zu, hinter der Metalltür. Sie hatte etwas versprochen, woran sie sich nicht erinnern konnte, ein wichtiges Versprechen, und sie konnte sich nicht erinnern. So daß sie beim Erwachen schon ein Gefühl des Versagens und ungute Vorahnungen hatte, und sie setzte sich auf die Stufen und schlang die Arme um den Körper. Was war es gewesen? Im Traum hatte sie Simon Mayaram etwas versprochen. Fast war ihr danach, ihn zu fragen; er war
hinter ihr in dem kleinen Raum und zählte Vorräte. Doch es gab noch etwas, das sie aus dem Traum mitgenommen hatte, das Bild einer heraufziehenden gewaltsamen Katastrophe; während sie auf den Stufen saß, tat ihr der ganze Körper weh, und sie schaute hinaus auf die dunklen, trockenen Berge und den rauhen Hang hinab und den Pfad, der nach Westen zu dem schwarzen Glas führte, zum Diamantsand. Vor ihr lagen die Ruinen der Dämonenhalle, die die ersten Siedlern gesprengt hatten, als sie so weit vorgedrungen waren. Nachdem seinerzeit die Barivase erfunden worden war und sie alle Wasservorkommen vergiftet hatten und alle Ureinwohner im Grenzland vergiftet und unter Drogen gesetzt und das Band zerrissen. Da war ihr langer Krieg vorüber, und sie waren unangefochten die Dämonenstraße entlanggefahren, und sie hatte davon in der Schule gehört, am Ursulinum, und sie hatten am Pioneer Day Lieder gesungen und die Geschichte gelernt. Am 12. August des sechsundachtzigsten Jahres nach der Ankunft war das Regenbogen-Bataillon diese Straße entlanggefahren, und niemand hatte es aufgehalten. Das Band war zerrissen, und die Dämonen waren fort ins Dunkel geflohen, und die Pioniere hatten alles gesprengt. Sie hatten den Aquädukt gesprengt, das Theater und den Staudamm und die Versammlungshalle und das Mausoleum und die DrywaterBrücke. Die Königin hatte die Masern gehabt, und sie hatten sie gejagt und gestellt. Katharine saß auf den Stufen der steinernen Kammer, das einzige, was von dem Mausoleum übriggeblieben war. Am Ursulinum hatte sie als Teil einer Zwischenarbeit eine Karte angefertigt, und sie zeigte das einzige intakte Gebäude und einen Teil des Steinfußbodens. Die Pioniere hatten keine Wand stehen, keine Statue heil, kein Grab ungeschändet gelassen. In ihre Arbeit hatte sie Fotos aus jener Zeit eingefügt, die Fresken an der Wand der großen Schule zeigten, dazu das Grab von
Amat III. Sie hatte mit Gips die berühmte Knochenkrypta nachgebildet, deren Wände aus Sklavenknochen errichtet gewesen waren, den Knochen von zwanzigtausend ihres Volkes. Als sie die Arbeit in der Klasse vorgetragen hatte, hatte sie aus der Dankeshymne zitiert, die der erste Rat der Ureinwohner Gouverneur Marr dargebracht hatte. Sie lauschte dem Geräusch der beiden Männer, die sich in der Kammer hinter ihr bewegten. Vielleicht hatte es eine passende Zeit gegeben, eine Gelegenheit. Doch jene grundlegenden Drogen waren weiterhin verbreitet worden, auch als längst alle Dämonen verschwunden waren. Es gab immer bessere, neuere, die mehr Arbeit und bessere Organisation ermöglichten. Die Leute nahmen sie freiwillig; es fand sich immer eine Begründung. Erst vor dreißig Jahren konnten sich die Leute eine neue Art leisten, die ihnen mehr als plattes Vergnügen, platte Passivität bot, die mehr vollbrachte als eine starke Wirkung zusammen mit Alkohol, die es ihnen erlaubte, die Grundlage all dessen in Frage zu stellen. Nicht, daß sie es je getan hätte. Es war zu beängstigend, aufzugeben, was man war. Zu beängstigend, vor allem zu Beginn. Doch jetzt hatte sie die Kontrolle, und sie fühlte sich auch so. Schließlich war es kein fremder Teil von ihr, der ihrem Geist ermöglichte, sich von einem Ding zum anderen zu bewegen, Kausalitätsketten zu bilden. Die Eroberer hatten ihr keinen neuen Geist gegeben. Es war schon immer Teil davon gewesen, doch es war mehr. Sie saß auf den Stufen, und ihre Eingeweide schmerzten. Sie hatte etwas versprochen, woran sie sich nicht erinnern konnte, also schloß sie die Augen und ließ sich ein wenig zurücksinken, zurück, bis sie ihre eigene Stimme sagen hörte: »Ja, ich werde hierbleiben.« Mit geschlossenen Augen hatte sie abermals ein schreckliches Vorgefühl, die Vorahnung einer Katastrophe. Es
war wie Schwindel. Sie öffnete die Augen, stand auf und sah zu, wie sich die Landschaft ringsum veränderte. Sie war wohl zu schnell aufgestanden. Das Blut wich aus ihrem Kopf. Als sie wieder deutlich sah, war sie im lebenden Wald. Das spitze Dach des Mausoleums erhob sich durch die Bäume. Die Sonne stand tief am Osthorizont, und sie trieb rote Schatten durch die Zweige der kleinen, nackten Bäume, die sich langsam bewegten – ihre Borke glich einer Haut, und sie glitten die Felsen entlang und hinterließen schlüpfrige Spuren. Es wehte Wind im Wald, doch auch er schien sich langsam zu bewegen und aus etwas Festerem als Luft zu bestehen. Sie fühlte ihn als steten, unsichtbaren Druck. Auch die Bäume reagierten darauf. Ihre aufgedunsenen Stämme schienen anzuschwellen, um ihn einzufangen, und sie bewegten sich alle in Windrichtung und glitten über die Steine, vielleicht einen Zoll pro Minute. Manchmal schienen kleine Stücke Fleisch von ihnen herabzufallen, Stücke, die am Boden aufklatschten und stillagen, und mancherorts bildeten sie Haufen. Katharine schloß die Augen, und die Bäume waren immer noch da, in jener Welt ausgebleicht, und es war auch in jener Welt, daß sie ihre leisen, bitteren Stimmen hörte und ihren Geruch wahrnahm. Er war eine Welt der Symbole, und das Mausoleum war nicht mehr da, doch die Bäume bewegten sich über die vollkommen runden Steine, und runde Tropfen von Fleisch fielen von ihren Ästen herab, und Blut rann aus ihrer Borke, und in jener schwarz-weißen Welt war der Boden von den Seelen ihrer hingeschlachteten Rasse übersät, den Seelen der Zwanzigtausend aus der Knochenkrypta und den Seelen all jener, die beim Bau der Dämonenmauern und -türme gestorben waren, und den Seelen all jener, die von Menschen getötet worden waren. Der Wind ging durch die Bäume, und in der Welt der Symbole war er Musik. Strudel, Ströme von Noten flossen durch die Bäume, und wenn sie die Augen anstrengte,
wenn sie sich nach innen kehrte, sah sie, wie sich der Wind in seine winzigen Teile aufspaltete, seine Elementarteilchen, und sie waren Noten, Klumpen von Noten, klein wie Moleküle. Sie änderte den Brennpunkt ihrer Augen, und sie wurden größer; sie sah, wie die Achtel und Sechzehntel auf winzigen Schwingen zitterten. Ströme von Noten flossen wie Blasen, und sie erkannte viele von ihnen am Aussehen: der Klavierpart des Andante aus Schuberts Klaviertrio in Es schwebte vorüber, und er verfing sich in einem Zweig und hing einen Augenblick dort wie eine Spinnwebe. Sie entspannte die Augen. Die Musik verschwand, und sie spürte den Wind. Noch etwas: es gab Gefahr hier. Dann sah sie es: Vögel flogen durchs Geäst, schwarze Krähen mit fettglänzenden Schnäbeln, und sie stießen herab, um die fallenden Fleischtropfen aufzufangen. Sie setzten sich auf die Äste und rissen Fleischbrocken aus den Bäumen, und ihre Schnäbel waren scharf wie Scheren. Sie waren die Seelen toter Menschen, und sie jagten Katharine durch die Bäume. Sechs von ihnen flogen zusammen, und Katharine erkannte sie. Es waren die Seelen der Bruderschaft des Menschen, ausgehungert, weil sie noch nicht länger als einen einzigen Tag tot waren. Sie schrien mit ihren offenen Schnäbeln, wütend und leidenschaftlich und voll Haß auf sie und ihresgleichen. Sie waren auf der Dämonenstraße bei Jims Gut in einen Hinterhalt geraten, und da war ein Graben quer über die Straße gewesen, und sie waren von Leuten überrascht worden, die sich im Graben verbargen, und sie waren mit Axtstielen totgeschlagen worden; sie wußte es. Es ist ihnen recht geschehen, dachte sie, und der Gedanke entwich ihrem Körper und stieg über ihr auf, übel wie ein Furz, und sie roch die Grausamkeit darin. Die Vögel rochen es auch. Sie drehten ab und kamen auf sie zu, und sie stießen auf sie hernieder, die Schnäbel weit
aufgerissen. Sie öffnete die Augen und stolperte vorwärts, den Wind im Rücken, ließ sich von ihm treiben. Doch mit offenen Augen sah sie die Vögel nicht, obwohl sie noch spürte, daß sie um sie waren. Die Bäume wirkten hier verkümmert und kleiner, und sie drängte sich mit ausgestreckten Armen zwischen ihnen hindurch, und sie wichen vor ihr zurück, und sie rannte zwischen ihnen über das unsichere Terrain, und der Himmel war voll Donner und Blitzen und regenschweren Wolken. Sie schloß die Augen. Die Vögel schwirrten um sie her. Sie konnten sie nicht sehen; sie waren blind, doch sie folgten dem Geruch ihrer Gedanken, ihrer bösen Gedanken, und ihre Gedanken sickerten aus ihr heraus, während sie den Hang hinablief. Ich habe solche Angst, dachte sie, und ein Vogel kam kreischend an ihrem Ohr vorbei. Doch dann traf sie auf etwas. Ein Felsen erfaßte sie bei den Schienbeinen, und sie strauchelte und fiel und öffnete die Augen. Sie war in einer Felslandschaft voller Farben, die keine Namen hatten, die es auf keiner ihr bekannten Palette gab, in keinem Spektrum. Sie spürte ringsum überall Gefahr, doch sie konnte nicht mit geschlossenen Augen weiterlaufen; sie stand auf und stolperte vorwärts, die Arme um den Kopf geschlungen. Sie hatte sich die Hosen aufgeschlitzt, ein Bein aufgeschürft. Sie stieg in eine kleine trockene Wasserrinne hinab. Sie dachte, die Felsen würden ihr einen Schutz nach oben hin gewähren. Der Sand am Grunde war feucht; bald wurde Schlamm daraus, und sie stapfte hindurch, störte kleine Tiere auf, die darin lebten, die an die Oberfläche kamen, als sie vorbeilief. Manche waren aus Licht, und sie zogen Spuren von orangefarbenem Licht, als sie über den Schlamm wegliefen. Einmal fiel sie hin, blieb für einen Moment liegen und sah zu, wie sie über ihre ausgestreckte Hand sprangen.
Sogar in Zeiten der Gewalt, dachte sie, kann es einzelne Augenblicke geben. Sie lag auf dem Rücken und spürte das winzige Kribbeln der Lichtwesen, wenn sie über ihre Finger sprangen; sie schaute auf und sah beinahe, wie ihr Gedanke in die Luft schwebte. Er blieb auf dem Rand der vorragenden Felsen hocken. Dann war er fort, und sie rappelte sich auf, mit neuem Mut und stark genug, um trockenen Boden zu finden. Sie hatte einen Schuh verloren; es machte nichts; sie hatte neuen Mut; sie spürte das Leben in sich, und jeder Teil von ihr war lebendig. Der saure Geruch des Schlamms war ein Lebewesen, und fast sah sie, wie es durch die Luft glitt und torkelte, sah seinen unansehnlichen, fleckigen Körper, die kleinen Flügel. Kleine Geräusche sprangen um sie her, und sie krabbelten hinab in die Spalten, stapelten sich zu einer undifferenzierten Masse. Die Wände der Rinne wurden flacher. Sie führte in ein breiteres ausgetrocknetes Flußbett neben der Straße. Sie folgte seinen Windungen, strich mit den Händen über Felsoberflächen, die ebenfalls auf subtile Weise lebendig zu sein schienen, die um Millimeter vor ihr zurückzuweichen schienen. Der Streifen Himmel über ihr wurde breiter, und sie versuchte, ihre Gedanken zu beruhigen, sie zum Schweigen zu bringen, sie abzuwürgen und ins Nichts zu schmettern. Dennoch entwichen sie ihr, klein und schwach, und sie verließen sie und schwebten empor, Futter für die Vögel. Die Vögel hatten sich um sie versammelt, und manchmal schloß sie die Augen und sah sie – es waren Menschen, die Seelen von Menschen, die Bruderschaft des Menschen, und sie glitten aus dem Himmel herab auf sie zu, angezogen von ihrer Wut, ihrer Angst. Einer kreiste ganz nahe; sie öffnete die Augen. Die Sonne lag hinter ihr auf dem Horizont. Sie öffnete die Augen und richtete sich gerade auf, und sie folgte ihrem Schatten das Flußbett entlang und konzentrierte sich auf die
winzigen Dinge, die Silikatkruste auf dem Sand, den kleinen Druckabfall, als sie hindurchstapfte. Sie hinkte ein wenig, bis sie den anderen Schuh auszog. Dann fühlte sie sich besser. Sie dämpfte ihren Atem. Sie beruhigte ihr Herz und stand hoch aufgerichtet da, ließ die Spannung aus ihren Schultern und ihrem ungeschützten Rücken weichen, und sie folgte ihrem Schatten, bis die Sonne unterging und er verschwand. Als ihr Schatten fort war, folgte sie dem Geruch. Er kam von irgendwo vor ihr, der Geruch von Schwefel. Sie entspannte sich und ließ ihn in sich einströmen, und sie ging über ein Geröll von kleinen Steinen auf ihn zu. Dann war der Geruch schärfer; sie stand am Rande eines Loches, das in den Boden hinabführte. Schlamm pulsierte darin, und sie roch den heißen Schlamm, und einen Augenblick lang schloß sie die Augen und sah zu, wie über ihr die Vögel ziellos kreisten, die kleinen Gedanken auf gar nichts konzentriert. Sie stand in den Schwefelgruben. Diese kleinen Löcher vor ihr waren Öffnungen der Haupthöhlung, mit ihr durch unterirdische Gänge verbunden. Dampfwölkchen stiegen durch die Basaltengen auf, doch der Hauptkamin lag links von ihr hinter einem Vorsprung von weißem Lehm. Dort drüben hörte sie Wasser tosen. Ringsum waren die Felsen von einem Kupferglanz überzogen. Grieß fiel aus der Luft herab, und es gab auch Käfer in der Luft, winzige Insekten, die auf ihrer Haut landeten und starben. Ein Stück weiter bei den Schwefellöchern waren die Felsen voll davon. Ihre aufgeschichteten Körper bildeten eine Kruste über manchen von den kleinen Tümpeln. Zur Rechten führte die Straße über den Diamantsand. Das Licht lag jetzt im Schlaf, denn die Sonne hinter ihr war gesunken und der Mond vor ihr noch nicht aufgegangen, und das Sternenlicht war nicht stark genug, um die Diamanten leuchten zu lassen. Sie fühlte, daß sie an der Grenze zu einem
neuen Land stand, das vielleicht noch nicht wirklich war, das sich vielleicht erst bildete, während sie hier stand, und alles lag noch im Innern verborgen, war noch nicht verunreinigt, eine Wüste der Möglichkeiten. Sie ging mit offenen Augen den Hang hinunter, verletzte sich die bloßen Füße und kümmerte sich nicht darum. Heiße Steine fielen auf sie herab, und sie ging zwischen ihnen dahin und fühlte sich sicher und stolz. Nicht jeder hätte so weit kommen und sehen können, was sie gesehen hatte. Nicht jeder hätte diesen Schmerz in ihren Plastikeingeweiden ertragen. Nicht jeder hätte diesen von Menschen erzeugten Krebs in ihrem Herzmuskel ausgehalten. Nicht jeder war stark genug; sie schaute auf die Grenze hinab, wo sich Sand und Felsen trafen, und sah dort einen Fußabdruck, eine Reihe von dreizehigen, hochgewölbten Fußabdrücken, die in den Sand hineinführten. Gleichzeitig stieg Verlangen in ihr auf, und es mischte sich mit ihrer Hoffnung und ihrem Stolz und ihrem Schmerz zu einer Gaswolke, so giftig wie nur irgend ein Schwefeldampf, und stieg gen Himmel. Dann wurde sie von hinten getroffen, einmal, dann noch zweimal. Die Vögel stießen herab. Katharine hob die Arme, um ihren Kopf, ihre Augen zu schützen. Sie stolperte über den scharfen Basalt und weiter über die Linie auf den Sand. Sie fiel auf die Knie und beugte sich zum Sand herab, die Arme über dem Kopf verkrampft. Sie spürte, wie ihr unter dem Sweatshirt Blut den Rücken hinabrann. Die Vögel hatten sie verletzt, und sie fühlte das Blut ihre Rippen hinabtropfen. Sie konnte sie nicht anschauen. Doch mit dem inneren Auge gab sie ihnen grausame Schnäbel und Menschengesichter, und aus ihren Krallen machte sie ausgestreckte Menschenhände. Schwarze Haut bedeckte ihre Flügel. Sie durchschnitten die Luft um ihren Kopf, und sie starrte hinab in den Sand zwischen ihren Knien. Der Sand zwischen ihren Knien war schwarz, und
ein Kohlenstoffkristall lag obenauf. Selbst in diesem Augenblick der Angst entging ihr nicht, wie schön er war, wie exakt, wie rein seine Seiten waren. Er schien einen Bruchteil von Licht zu enthalten, als Anlage, Möglichkeit, ein Teil des Mondscheins, der kommen sollte, und doch kein Teil davon, noch nicht. Die Wände des Kristalls wirkten unangetastet. Sie konnten von nichts durchdrungen werden, außer von Licht. Wie sie so hinabblickte, hilflos, die Vögel um ihren Kopf, sah sie wie zum erstenmal die drei Geister der Materie, die zusammenkamen und alles bildeten. Einer war der Geist des Widerstandes, einer war Feuer und Kraft. Und einer – sie hob den Kopf und schaute zum Horizont, zu der Stelle, wo der Mond auf dem Rande der Welt zitterte, und er ging auf, und Silberschein strömte von ihm herab, und der Sand ring um sie explodierte in Diamantfeuer. Offenheit ist alles, dachte sie. Sie hob den Kopf. Die Vögel waren jetzt Schatten hoch oben, sie jagten einander und zeichneten Muster unter den Sternen. Neben ihr floß ein Wasserrinnsal aus den Felsen und verlor sich im Sand. Sie hörte es jetzt. Sie roch es. Sie ließ sich auf die Fersen sinken und wälzte sich dann zu dem Wasser hin, wo es einen Tümpel gebildet hatte. Käfer lebten auf der heißen Oberfläche. Sie legte ihre Sachen ab. Sie zog Sweatshirt und Hosen aus und ließ sie zerknittert im Sand liegen, und dann wusch sie sich mit dem Wasser. Sie rieb das Wasser in ihre Haut und legte sich dann in den heißen Mondschein. Sie streckte sich auf ihrem verwundeten Rücken aus und bot ihre von Menschen gemachten Brüste, ihre von Menschen gemachte Scheide dem Himmel dar. Und sie mußte sich dort wohl gefühlt haben. Sie mußte eingeschlafen sein, denn sie war in der Traumwelt, und bald kam der weiße Lieferwagen die Straße entlanggeholpert. Er
erfaßte sie mit den Scheinwerfern und bog auf den Sand ab, dann wendete er und kam zu ihr zurück. Die Männer waren dort, die Geschöpfe aus ihren Alpträumen, die Hundemenschen, der schwarze Hund und der weiße Hund. Der Wagen hielt, und die Seitentür ging auf. Simon rief nach ihr. Er kam über den Sand auf sie zu. Die Scheinwerfer überwältigten alles andere, auch all die anderen Lichter. In der Traumwelt war alles grau und düster und verwirrend und unwirklich, und die meisten Dinge hatten nichts zu bedeuten. Dinge geschahen ohne Grund, und man konnte nicht verstehen, warum sie geschahen. Oder aber man verstand sie beinahe, und die Dinge erschienen einen Moment lang ungeheuer wichtig, bis sie spurlos verschwanden. Die Menschen sprachen in Rätseln. Simon kniete sich neben sie und schlang die Arme um sie. »Oh, Kathy«, sagte er, »was machst du? Du bist ganz zerschnitten – wo sind deine Schuhe? Was hast du dir angetan? Kann ich dir denn nicht eine Minute lang trauen? Du hast versprochen dazubleiben. Dann lasse ich dich dreißig Sekunden aus den Augen, und du bist weg.« Sie hob die Arme, um sie um seinen Hals zu legen. »Tu es nicht wieder«, sagte er. »Bitte, oder sag es mir einfach. Sag mir, was du fühlst, was du brauchst«, sagte er, und er redete weiter, bis sie ihm die Hand auf die Lippen legte.
KAPITEL SIEBEN
7a: Menschliches Chaos Zum zweitenmal in zwei Tagen saßen Junius Styreme und John Clare zusammen im Arbeitszimmer des Konsuls. Clare hob die Hand: »Ich wollte Ihnen die neuesten Informationen geben«, sagte er. »Weil ich der Meinung bin, daß Sie ein Recht haben, es zu wissen. Um aufrichtig zu sein, ich möchte Sie inständig bitten, uns zu helfen. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das sagen soll, und vielleicht sollte ich es gar nicht tun, aber vielleicht wissen Sie es sowieso. Die Störungen im Gebiet von Ludlow sind größer, als wir vorausgesehen haben. Wir mußten unsere Leute von dort evakuieren. Robert Garner – das ist der Bezirkskommissar – ist möglicherweise umgebracht worden.« Der alte Ureinwohner senkte den Kopf. John Clare behielt die Hand oben. Er starrte den Handrücken an. Sie erschien sehr klein, sehr weiß, sogar ihm. Was bedeutete die Geste? Die Nacht zuvor hatte er nicht geschlafen. Der Schmerz in seinem Rücken und seinen Schultern war so intensiv gewesen, daß er gezwungen war, stündlich seine Medikamente zu nehmen. Er hatte die korrekte Dosierung überschritten, klar; jetzt zitterte eine Hand auf der Tischplatte. Die andere, erhoben, schien nicht in Verbindung mit seinem Körper zu stehen, schien sonderbar weit entfernt zu sein. »Ich werde Ihnen alles sagen«, sagte er. »Weil Sie es zu wissen verdienen.« Er fühlte Mitleid mit dem alten Mann. Das war es vielleicht, was diese Geste mit der Hand bedeutete. »Die Tumulte sind im
Kupferbergwerk ausgebrochen«, sagte er. »Ich kann nicht glauben, daß die NLC rein zufällig in Drywater aufgetaucht ist, auf der anderen Seite der Linie. Es liegen keine dreißig Meilen dazwischen.« Oder vielleicht, dachte Clare, sollte die Handbewegung die kleine Hoffnung abwehren, die jetzt in den Augen des alten Mannes auftauchte. Es war eine winzige Regung seines oberen Augenlids, doch ausgeprägt, kraftvoll und auf groteske Weise deutlich, von den dicken Linsen vergrößert. »Es war ein Massaker«, sagte John Clare und wählte das Wort sorgfältig, als wolle er die Wirkung im Auge des alten Mannes sehen. »Die Bruderschaft des Menschen hat den Ort angegriffen, ohne jede Berechtigung. Harriet Oimu ist getötet worden.« Er hörte auf zu sprechen und ließ die Stille sich zwischen ihnen verdichten, eine durchsichtige Wand. »Und Katharine?« sagte der alte Mann schließlich, mit rauhen Worten, mit einem Flüstern in seiner Kehle, nicht kräftig genug, ein Loch in die Wand zu kratzen. »Wir haben einen Bericht von der Polizeistation in Jims Gut erhalten, ehe sie überrannt wurde. Sie hatten in inoffizieller Kommunikation mit der Bruderschaft gestanden, nach dem Überfall. Das war nach der Ermordung von Dr. Oimu, aber bevor die Straße gesperrt wurde. Sie haben keine der Geiseln an Ort und Stelle gefunden, obwohl sie sorgfältig gesucht haben.« Wieder das dichte Schweigen. Der alte Mann machte ein paar Geräusche in der Kehle, doch sie bedeuteten nichts. John Clare hob die Stimme, ließ die Hand sinken. »Wir hätten sie gern verhört. Aber sie sind anscheinend in einen Hinterhalt geraten. Sie kamen die Straße entlang aus Drywater. Dieser Teil des Grenzlandes ist jetzt ziemlich chaotisch, und niemand weiß, wo sie sind. Sie sind nicht durchgekommen, und sie waren
nicht unter den Evakuierten. Vielleicht halten die Aufrührer sie gefangen.« »Aber…«, sagte Junius Styreme, der auf seinem Stuhl hockte, die Hände über der Krücke seines Stockes verkrampft. Der Konsul beugte sich vor, um ihm ins Wort zu fallen. »Wie gesagt, ich möchte Sie bitten, uns zu helfen. Sie haben großen Einfluß in Ihrer Gemeinschaft.« Styreme räusperte sich. »Das liegt außerhalb meines Bereichs«, sagte er. »Sie haben die Polizei, die Soldaten. Haben Sie keine Nachricht abgeschickt?« Die Hand des Konsuls lag flach auf der Oberfläche seines Schreibtischs gespreizt. Er verlagerte Druck darauf und stand auf. »Ich will es Ihnen sagen«, sagte er. »Sie verdienen es zu wissen. Die Lage ist noch heikler, und niemand ist hier ehrlich gewesen. Der Gouverneur hat es mir gesagt – das ist geheim, Sie verstehen. Aber ich glaube, ich werde es tun – ein paar von unseren Leuten waren gestern hier, und ich habe gesagt, ich hätte keinerlei Botschaft erhalten. Mir war danach, es ihnen zu sagen, aber ich hab’s nicht getan. Aber vielleicht, weil ich Ihnen mehr traue als jenen Leuten. Menschen wie sie könnten das Gesetz selbst in die Hand nehmen. Wohingegen Ihre Interessen dieselben wie unsere sind. Glauben Sie mir, es tut mir leid wegen Ihrer Tochter. Wegen Mayaram. Mehr, als Sie sich vorstellen können.« Ein winziger Ausdruck von Kummer huschte über das Gesicht des alten Mannes, Kummer mit einer Beimengung von etwas anderem. Der Konsul hatte des Gefühl, es klar deuten zu können, eine Mischung von Ironie, Verachtung und Beunruhigung. »Wir denken, daß unsere Interessen dieselben wie Ihre sind«, sagte er abermals. »Ich verstehe.«
»Schreckliche Verluste haben eine Eigenheit. Bei den meisten Leuten ist es wichtig, die Illusion aufrechtzuerhalten, daß wir Hilfe von anderswo bekommen können.« Während er sprach, ging der Konsul durchs Zimmer. Seine Hände und Füße, sein Körper schienen keinen Widerstand seitens der Schwerkraft zu finden. Er glitt durch die Luft und mußte eine Willensanstrengung aufbringen, um stehenzubleiben, als er die Wand erreichte. Mit einem gewandten Fingerschnippen schloß er die Jalousien. Als das Zimmer dunkel war, drehte er sich um und blieb mit dem Rücken zur Wand stehen. Er kramte die Fernsteuerung aus den Seitentasche seiner Jacke hervor, und dann ging der Videoschirm an. Sie sahen sich den Chip schweigend an. »Ist das die Erde?« fragte Junius Styreme, als es vorbei war. Der Konsul glaubte, ein Schaudern entdecken zu können. »Es ist ein See in Afrika«, sagte er. »Beachten Sie das nicht.« Er ließ den Chip zurücklaufen, bis der Nordsee-Beamte an seinem Schreibtisch saß. »Wir sind aufgegeben worden«, fuhr er fort. »Sie werden sehen – vielleicht sogar New Manchester selbst.« Der Beamte auf der Aufzeichnung öffnete den grünen Mund. »ORM«, sagte er. »Positiv nein, 998 unverändert, John Clare. DB (Nr. 4). Rest knapp Frachtlimit total. Zahlplan retour, toto. Vite, kein Grund. Notlage ist permanent, XLL. Nitschewo. Fuck u (2). 20 Stunden hier. Nur unbefugt, 101010cp6. Keine Anfrage bis diese Seite, Juno. Adios, goodbye. Dreißig Sekunden um.« John Clare hielt das Bild an, und die Stille füllte sich mit Rauschen vom Bildschirm. »Ich verstehe nicht«, sagte Junius Styreme. Der Konsul hob die Schultern. »Das ist eigentlich ein uraltes Beispiel, ausgewählt, damit ich es verstehe. Es ist Englisch.
Man benutzt es, um eher Gefühle als Tatsachen auszudrücken. Die meisten von den Zahlen sind Gefühlszustände, Gefühlsquotienten; das ist der wichtige Teil. Das Grunzen und Klicken sind Interpunktionszeichen oder drücken einen Grad aus. Mayaram hat es mir alles erklärt. Er sagte, die Anagramme und Wörter werden auswendig gelernt. Sie drucken jeden Tag im Samisdat Listen von Bedeutungsänderungen.« Schmerzerfüllt und langsam drehte sich Styreme auf seinem Stuhl, so daß er ihn anschauen konnte. Was lag in seinem Gesichtsausdruck? Der Konsul hantierte an der Jalousie, so daß er etwas sah. »Was ist mit dem anderen Film?« fragte der alte Mann. »Das verstehe ich. Die roten Vögel. Die Flamingos.« »Ach, das ist nichts«, antwortete der Konsul ungeduldig. »Es ist ein Irrtum. Es war ein Übertragungsfehler – niemand redet so. Nicht auf New Manchester; gewiß nicht auf der Erde.« »Wie redet man auf der Erde?« »Sie reden anders. Oder wer weiß? Es ändert sich ständig. Das Leben dort ändert sich.« Der alte Mann starrte ihn an. Etwas lag in seinem Gesicht, etwas derart Klagendes und Verletztes, daß der Konsul die Augen schloß und die Faust an den Mund preßte. »Das Leben ändert sich«, zischte Junius Styreme. Seine Stimme war schmerzerfüllt, trocken und rauh, als würde sie unter Druck hervorgestoßen. »Was bin ich? Was ist dann Katharine?« »Tot«, antwortete der Konsul, und er preßte die Faust gegen den Mund, so daß die Worte sich daran vorbeizwängen mußten. »Tot. Und Mayaram auch. Mein Freund Simon. Ich mache mir Vorwürfe.« Der alte Mann starrte ihn an. »Wußten Sie von dem Angriff auf Goldstone Lodge?« fragte er.
»Absolut nichts. Nichts Konkretes.« »Ich hatte ein Gerücht gehört«, sagte der alte Mann. »Aber ich bin hingegangen. Ich habe Ihnen vertraut – warum haben Sie mir nichts gesagt? Waren Sie mir überhaupt irgend etwas schuldig?« »Es tut mir leid.« »Sie war alles, was ich je gehabt habe«, sagte der alte Mann.
7b: Shreveport Er hatte einen Termin bei seinem Chemotherapeuten, doch in letzter Minute beschloß er, nicht hinzugehen. Seine Fahrerin fuhr ihn am Krankenhaus vorbei und dann nach Hause. »Bitte fahren Sie über die Magna Carta«, sagte Styreme, und sie bogen auf einen langen Geschäftsboulevard ein. In einem Theater auf halber Höhe der Straße war eine Bombe hochgegangen, und Junius Styreme drehte sich steif auf seinem Sitz, um das ausgebrannte Zelt zu betrachten. Soweit war es gegangen. Der Rest der Menschenstadt war intakt. Käufer waren unterwegs. Die Bürgermiliz hatte am Ende der Straße Barrikaden errichtet. Der Wagen bog nach Osten in eine Gegend mit Lagerhäusern ab und hielt dann an der Kontrollstelle. Ein Kettenzaun erstreckte sich über die Straße, am Vortag war er noch nicht dagewesen. Bewaffnete Polizisten standen beim Wachhaus, aber sie winkten Styreme durch. Er brauchte seinen Paß nicht zu zeigen. Er drehte den ganzen Körper auf dem Sitz, um die Polizisten zu betrachten. Dann waren sie durch, im Eingeborenenviertel. Es säumte ein paar Häuserblocks weit den Fluß. Auf der anderen Seite, jenseits der Brücke, war die Slumsiedlung der Eingeborenen von Bulldozern eingeebnet worden.
Dann kamen sie in eine Gegend mit reicheren Häusern, obwohl manche davon jetzt leerstanden. Fair Haven sah besonders verlassen aus. Styremes Gärtner, durchweg Menschen, hatten sich seit Tagen nicht blicken lassen. Der Rasen trocknete allmählich aus. Auch in dieser Straße hatte es da und dort Vandalismus gegeben. Styremes Nachbarn war eine Rauchbombe durchs Fenster geworfen worden. Das Pflaster vor Fair Haven war mit Graffiti besprüht worden: »Blödmann, leck mich!« usw. Der Gouverneur selbst hatte Styreme Schutz zugesagt, und am ersten Tag der Unruhen hatte ein Milizmann vor dem Haus gestanden. Jetzt war er fort. Haßerfüllte und obszöne Botschaften bedeckten den Weg zur Vortreppe. Jemand hatte die Tür selbst beschmiert. Jemand hatte ihm das Erkerfenster eingeschlagen. Die Fahrerin öffnete ihm die Wagentür und half ihm heraus. Sie begleitete ihn den Weg entlang. »Geht es Ihnen gut, Sir?« fragte sie. Sie war älter als Katharine, schätzte er. Ein bißchen füllig, dachte er, aber trotzdem hübsch. Er hatte sie zuvor nicht gesehen. Die Agentur hatte sie vorbeigeschickt. »Sind Sie sicher, daß es Ihnen gut geht?« fragte sie. Er gab ihr die Schlüssel, und sie schloß die Vordertür auf. Sie war hübsch, entschied er. Sie hatte Sommersprossen und kurzes schwarzes Haar. Ein kompakter Körper. Sie war nicht groß. »Wie heißen Sie?« sagte er. Er stand auf der ersten Stufe, außer Atem, auf seinen Stock gestützt, mit dem Rücken zur offenen Tür, und er blickte wieder den Weg entlang zu der Stelle, wo an der Bordsteinkante der Wagen geparkt war. Sie blinzelte und schaute empor in die Sonne. »Cathy Thier«, erklang die Stimme des Mädchens. »Katharine«, sagte er, »war der Name meiner Tochter.« »Ich weiß. Es tut mir leid, Sir.«
»Es braucht Ihnen nicht leid zu tun.« Er lächelte ein wenig und wandte sich ihr zu. »Es steht Ihnen gut«, sagte er. In seiner Brust schlug sein Herz mit Mühe. »Würden Sie gern hereinkommen?« fragte er. »Ist das gegen die Regeln?« »Nein, Sir. Ich bringe Sie hinein, wenn ich darf.« Sie machte eine Geste, die vielleicht die Graffiti auf dem Weg meinte. »Das ist so schrecklich.« »Es ist nicht wichtig.« Er nahm ihren Arm und ließ sich von ihr über die Schwelle helfen. Er blickte dabei zur Spitze seines Stockes hinab, und nur einmal warf er einen verstohlenen Blick auf ihr Gesicht, um zu sehen, ob er ihren Ausdruck ausloten könnte, wenn sie das Haus betrat. Menschen zeigten oft negative Reaktionen, wußte er. Doch sie ließ sich nichts anmerken, und vielleicht lag das an dem Luftreiniger, den seine Haushälterin benutzte. Oder vielleicht hielt sie ihr Gesicht aus Höflichkeit unbewegt. Sie schaute sich nur flüchtig in der Vorhalle um. Er lächelte. »Sind Sie zum erstenmal in einem von unseren Häusern?« »Nein, Sir.« Und sie lächelte auch. »Obwohl ich nicht sagen kann, daß dieses hier typisch ist.« »Lassen Sie mich ein paar Sachen vorführen«, sagte er und führte sie durchs Wohnzimmer. Ein Baseball war durchs Erkerfenster hereingekommen. Sie ging zur Seite, um ein paar Glassplitter aufzuheben. »Das ist schrecklich«, sagte sie. »Es spielt keine Rolle. Kümmern Sie sich bitte nicht drum. Ich möchte Ihnen das Zimmer meiner Tochter zeigen.« Sie gingen durchs Eßzimmer auf die Verandatür zu, und dann blieben sie stehen und blickten auf das Piano und in den zusätzlichen Schlafraum. »Sie ist aus meinem Körper gekommen«, sagte er. »Sie verstehen das.« »Natürlich.«
»Natürlich verstehen Sie es. Sie sind ein bißchen jung für eine Arbeit, nicht wahr?« »Es ist ein Ferienjob.« »Klar. Das erklärt es.« Er wußte nicht weiter, und auch sie wirkte unruhig. »Sie sind freundlich zu einem alten Mann«, sagte er. »Ich möchte Ihnen eine Gegenleistung anbieten.« Er kramte in seiner Jackentasche. »Ich habe ein Geschenk für meine Tochter gekauft, wenn sie wieder heimgekommen wäre. Es ist sehr gut. Sehen Sie, es ist Platin. Ich habe es bei mir – haben Sie einen Vater?« Er kramte nach der Schachtel, doch ihr Gesichtsausdruck hielt ihn davon ab, sie aus der Tasche zu ziehen. Es war nicht direkt Abscheu. Dennoch hatte er sich genötigt gefühlt, ihr etwas anzubieten. Sich genötigt gefühlt, sich selbst beinahe bloßzustellen, sich zu erniedrigen. »Sie sehen, ich habe es die ganze Zeit bei mir«, sagte er und beobachtete sie genau. »Lieber nicht. Heben Sie es für sie auf.« Nachdem sie gegangen war, unternahm er einen langsamen Gang wieder ins Musikzimmer hinab. Vor ein paar Minuten, als er mit Cathy Thier an der Verandatür stand, hatte er einen Brief auf der Klavierbank liegen sehen. Jetzt ging er hin, um ihn aufzuheben. Er hatte darauf gewartet. Das Wort ›VERRAT‹ war mit blauer Tinte in kleinen Buchstaben auf die rechte obere Ecke des Kuverts geschrieben. Es war versiegelt, schwer zu öffnen, doch er bemühte sich beharrlich. Drinnen lag eine Haarlocke, weiter nichts. Sie war von einer getrockneten Flüssigkeit steif und dunkel. Sein Arbeitszimmer lag auf der anderen Seite des Eßzimmers in einem Anbau, der in den Garten hinterm Haus ragte. Er humpelte über den langen, leeren Korridor und setzte sich dann sorgfältig an seinen Schreibtisch. Er legte das Kuvert auf die Schreibunterlage, wo er es sehen konnte. Und zwei Stunden
lang ging er seine Steuererklärungen, seine Computerdateien durch. Er hatte sich vor zehn Jahren aus seinem Geschäft zurückgezogen, als er krank geworden war. Doch in der letzten Woche hatte er täglich viele Stunden lang gearbeitet. Das Geld spielte keine Rolle. Aber einiges war noch zu tun. Ihm rannen die Tränen übers Gesicht. Der Stuhl war ihm jetzt zu niedrig. Er mußte sich nach vorn schaukeln, um hochzukommen. Dann schlurfte er wieder ins Musikzimmer, den Brief in der Hand. Er warf nicht einmal einen Blick auf das Klavier, als er daran vorbeiging. Er ging in den zusätzlichen Schlafraum und blieb an Katharines Tisch stehen, während sein Körper vor Erschöpfung zitterte und sich verkrampfte. Er legte den Umschlag hin, nahm die Schachtel aus der Tasche und zog das Platin-Halsband heraus. Es war wirklich schön. Es war mit Smaragden besetzt. Er legte es auf den Tisch und arrangierte es um den Fuß einer kleinen Statue, eines Kruzifix von Topfmetall aus Zentralafrika, seinem Geschmack nach verzerrt, grobschlächtig und häßlich. Aber Katharine hatte es geliebt. Die Uhr im Eßzimmer schlug zwei. Zeit, seine Medikamente zu nehmen. Eigentlich schon darüber, doch das spielte keine Rolle. Er nahm seine Pillenschachtel aus der Tasche, doch seine Hände zitterten, und er ließ sie fallen. Aber Katharine hatte in ihrem Kühlfach auf dem Tisch einen großen Vorrat. Er wußte nicht genau, welche wozu dienten. Doch er nahm ungefähr ein Dutzend von den Kapseln mit den leuchtendsten Farben und zerkaute sie, bis die süße Flüssigkeit herauskam.
7c: Eine Zange Sie lag hinten im Lieferwagen und hörte zu, wie sie sich unterhielten. Sie lag auf einem Bett aus Decken, Seilen,
Stiefeln, Kleidung, Keksbüchsen, Benzinkanistern, Packungen Trockennahrung und Ausrüstung aller Art. Die Straße verlief glatt über den Diamantsand, und sie fuhren schnell. Ihr Kopf lag unter der Höhe des Heckfensters, dennoch sah sie ein wenig durchschimmerndes Mondlicht. Es bildete einen Nebel über ihrem Kopf. Von Zeit zu Zeit schaltete Martin Cohen das Radio ein und hörte, ob es neue Berichte gab. Von Zeit zu Zeit rauchte er auch Zigaretten, und der Rauch sank hinter ihm herab. Die beiden saßen auf den Vordersitzen, doch es gab keine Trennwand. Sie hatten sie ausgebaut. Sie lag da und lauschte ihren Stimmen, betrachtete die Rückenlehnen der roten Vinylsitze und den herabsinkenden Rauch. Dann schloß sie die Augen und konzentrierte sich auf die Gerüche. Sie lauerten ringsum in der gedämpften Dunkelheit, und als sich ihre Augen eingewöhnt hatten, konnte sie sie sehen. Sie glichen Schaben und Nagetieren, Schnecken mit und ohne Haus, die sich in den Ecken des Wagens verbargen. Kleine Gerüche: Terpentin und Benzin und Öl und Wachs und Pappe und Stahl und Gummi. Das Benzin glich einer Schlange, die sich in der Nische für die Ersatzreifen bewegte. Der Zigarettenrauch hockte auf der Lehne des roten Sitzes, ein seltsames Ding wie eine Fledermaus oder ein Vogel. Er breitete die Flügel aus. Von Zeit zu Zeit kurbelte Martin Cohen die Fensterscheibe herunter, und dann drangen neue Gerüche in den Lieferwagen. Der Wind vom Diamantsand her war wie eine Fahne aus weichem Stoff, die durchs Fenster hereinwehte. Als er die Scheibe wieder hochdrehte, schnitt es sie ab, und ein Fetzen davon wurde nach hinten durch den Wagen geweht und verschwand. Andere Gerüche von draußen waren auf die Fahne gemalt: komplizierte und anschauliche Bildzeichen für ›Schlamm‹ und ›Wasser‹.
»Es wird kalt«, sagte Martin Cohen. Sie hatten Radio gehört. »Das wär’s also«, sagte er. »Da können wir auch gleich losfahren.« »Nein, wirklich«, sagte er. »Wir haben den Wagen, wir haben die Vorräte. Wir können es schaffen. Bis Sonntag könnten wir in Shackleton sein. Es sind nicht mal zweihundert Meilen. Es wird nicht einmal besonders schwer.« »Ich weiß nicht.« »Verdammt, Sie haben gehört, was sie gesagt haben. Es kann Wochen dauern, bis sie durchgreifen können. Und wenn sie es schaffen, dann wissen Sie, was passieren wird. Alle diese aufrührerischen Kanaken werden hier durchkommen. Sie werden über die Linie zurückkommen.« »Es sind nicht so viele.« »Es sind genug.« Wenn sie die Augen geschlossen hielt, waren Laute für sie wie Gerüche. Sie hörte den beiden Stimmen zu, und eine war ein feuchter rußiger Geruch, und die andere war heiß und parfümiert, als verberge sie einen anderen Geruch. »Was ich nicht verstehe: Warum haben Sie nicht eine Art Verbindung zu ihnen? Sie waren doch auf ihrer Seite. Warum haben Sie Angst vor ihnen?« »Scheiße«, sagte Cohen, und das roch sie unter dem Parfüm. »Es gab keine Seiten. Hier gibt’s keine Organisation, keine Logik. Bloß Gefühle, die hervorbrechen. Sie kümmern sich nicht um mich – sie hätten mich umgebracht. Harriet Oimu und die anderen waren die Köpfe, was so dafür gelten kann. Sie waren es, die mich kannten. Jetzt sind sie tot.« Katharine legte sich die Hand über die Nase. »Und sie haben Sie in einer schwierigen Lage zurückgelassen, nehme ich an.« Cohen lachte, und der Klang setzte einen dünnen scharfen Geruch frei. »Klar. Darum habe ich mich an Sie gehängt. Ich
denke, wenn ich Sie und Miss Styreme hier herausbringe, werden Sie ein Wort für mich einlegen. Sie wissen, ich bin ein Mann des Friedens. Ich habe nie Gewalt gewollt.« »Ich weiß nicht, ob sie das glauben werden. Jonathan Goldstone ist tot.« »Sie werden es glauben, wenn Sie es ihnen sagen. Ich war nie daran beteiligt. Ich war genauso ein Gefangener wie Sie.« Die Stille erfüllte den ganzen Lieferwagen. »Außerdem«, sagte er, »habe ich Sie gewarnt. Ich habe einen Brief an Ihr Konsulat geschickt und ihnen alles gesagt, was ich über den Angriff wußte. Ich habe ihnen den Zeitpunkt genannt.« Dichte Stille. Dann: »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen glauben soll.« »Nun ja, natürlich nicht. Wie sollen Sie mir glauben? Aber eins will ich Ihnen sagen – Tatsache ist, daß Jonathan Goldstone bigott und wertlos war. Ein Stück Scheiße. Er hat die Bruderschaft des Menschen gegründet. Er war es, der mit dem ganzen Morden angefangen hat.« »Hmmm«, sagte Simon, und das Geräusch war wie ein Schwall Autoabgase, giftig auf so engem Raum. Es überwältigte den Geruch von Jonathan Goldstone, den Geruch seiner Achselhöhlen und seiner steifen Khakiuniform, als er sie damals umarmt und ihre Brüste abgetastet hatte. Dann wurde es von einem anderen Geruch verdrängt, einem weicheren, als Simon sagte: »Und seine Familie?« Dann war wieder Stille, die einen eigenen Geruch hatte. »Ich bin so sehr auf Sie angewiesen, bitte. Ich kann Ihnen helfen, aber ich brauche eine Gegenleistung – ich kann ja nicht ewig hier draußen leben. Ich bin kein Heiliger, ich gebe es zu. Ich bin kein Geoffrey Kiyungu, kein Mahatma Gandhi. Ich denke sogar, daß es eine Belohnung geben wird, wenn ich sie zurückbringe. Sie wissen, von ihrem Vater.«
Wieder lachte er, und der Laut vermischte sich mit seinem Zigarettenrauch, der oben auf seinem roten Sitz die Flügel ausbreitete. »Verdammt«, sagte er. »Ich kann den Mund nicht halten. Ich bin einfach zu nervös. Sie machen mich so nervös, und die da auch. Ich meine, wir werden für sie tun, was wir können, aber denken Sie nicht…? Ich meine, selbst wenn man bedenkt. Sie ist auch gefährlich. Und nicht nur für sich selbst. Sie hat mich kürzlich verletzt.« Wieder eine Pause. Dann: »Was?« »Och.« Cohen mußte das Fenster geöffnet haben, denn viele neue Laute drangen in den Wagen und verblaßten dann: ein Schwall Nacht. Die saubere Luft. Sie waren wie Körpergerüche, die Ausdünstungen einer menschlichen Landschaft, wo die Dünen aus Schultern und Brüsten und Hüften bestanden und der Sand aus Haut. Aus rauher schwarzer Haut, mit Flitter gesprenkelt. Natasha hatte einmal auf einer Party bei Tom McClain Flitter getragen. »Was meinen Sie – sie hat Sie verletzt?« »Mann, ich hab nicht gedacht, daß Sie mir glauben würden. Ich habe sie gesehen, als ich über die Linie zurückkam. Sie ist verrückt geworden. Deswegen bin ich so zerschrammt. Sehen Sie, was sie getan hat.« »Aber Sie haben mir gesagt, daß…« »Ach was, nein. Ich bin nie dort gewesen. Ich hatte zuviel Angst. Ich brauchte nicht hinzugehen. Ich habe auch kein Auto gestohlen. Ich hab’s im Radio gehört. Sie haben Menschen getötet. Ich dachte, sie würden mich töten, also bin ich Ihnen gefolgt.« Dann sagte er: »Tut mir leid, Mann.« Und es tat ihm wirklich leid. Katharine roch es. Sie roch seine Angst. Sie lag in seinem Schweiß. Sie roch seine Zweifel und seine Selbstvorwürfe. Sie lagen in seinem Blut. Sie roch seine Sorge, und die hatte zwei
Teile, einer war schwach und fein, und der andere stank. Es tat ihm leid, daß er so dumm gewesen war. Sie hatte in einem Dämmerzustand zwischen Traum und Wachen gelegen. Jetzt sank sie tiefer in den Schlaf, und die Stimmen der Männer begannen zu verblassen. Gerüche und Klänge wichen von ihr zurück, und sie lag auf der Seite zwischen den Schachteln und Säcken und spürte die kleinen Rucke und Stöße, wie der Wagen über die Piste rollte, über den Sand. Neben ihr, ein paar Zoll von ihrem Auge entfernt, lag eine Radkappe gegen einen Leinensack gelehnt. Der Mond warf gleichmäßiges Licht. Es schlüpfte durchs Heckfenster des Lieferwagens und fiel auf die Chromoberfläche der Radkappe. Alles war ruhig. Die Radkappe ruckelte nicht, während sie über den Sand eilten, und in der Mitte war ein Kreis, glatt wie ein Spiegel, und sie lag da und betrachtete sich. Sie betrachtete sich lange Zeit. In ihrem Geist gab es keine Gedanken, nur Gefühle. Vage Antriebe und Eindrücke – sie öffnete den Mund und musterte ihre Zähne. Und eine Weile später setzte sie sich auf. Sie langte hinter sich und zog hinter den Ersatzreifen den Werkzeugkasten hervor. Sie machte kein Geräusch. Sie ließ die Verschlüsse aufschnappen und öffnete den Kasten. Am Boden lagen zwischen den Schraubenziehern und -schlüsseln eine Zange und eine große Schere.
7d: Simon (III): Er bringt keine Kommunikation zustande Zufällig schaute er nach hinten, ehe sie viel Schaden angerichtet hatte. Mit der Blechschere hatte sie sich das Haar kurzgeschnitten. Ihre Kopfhaut blutete, wo etwas davon
herausgerissen war. Er trat auf die Bremse, brachte den Wagen zum Stehen und schaltete die Zündung aus. Er sprang in den hinteren Teil. Sie hatte zwei von ihren Mahlzähnen herausgezogen und zwei Fingernägel. Als er ihr die Zange aus der Hand nahm, fand er sie am Handteller versteckt: zwei Scheiben aus Polymerplaste und zwei perfekte Plastikzähne. Trauriger war jedoch, was sie mit ihrem Gesicht angestellt hatte: Mit einer Schere hatte sie zu beiden Seiten der Nase in Nähe der Augen Schlitze geschnitten, und sie hatte die zusätzlichen Tränengänge herausgezogen. Sie hielt sie in der anderen Hand. Er bog ihre Finger auf, und da waren sie, zwei kunstvoll miniaturisierte Ventile, zwei winzige Beutel aus synthetischem Gewebe, noch prall von unvergossenen Tränen. Die Schnitte, die sie gemacht hatte, waren sorgfältig und exakt, doch die Löcher reichten tief. Blut tropfte heraus, weniger Blut, als er erwartet hätte. »Oh, Liebes«, flüsterte er. Dann – fast zum erstenmal, seit er auf diese Welt gekommen war, beinahe seit seiner todgleichen Reise von seinem angestammten Ort und aus seiner angestammten Zeit – sprach er ein paar Sätze in der disponiblen Sprache seiner Kindheit: »O.o. Kummer kumm Komet kumm 71 Komma 0,0761 kummbringn.« Dann: »761 Schnell 762 Schneid 761 Schnall.« Er murmelte diese Dinge vor sich hin. Gleichzeitig nahm er Katharine die scharfen Werkzeuge aus den Händen, und er rieb ihre armen Hände. Martin Cohen beugte sich über die Rückenlehne des Beifahrersitzes. »Sehen Sie, was ich meine? Sie wird sich verletzen, und das ist kein Spaß. Vielleicht sollten wir sie festbinden. Sie fesseln.«
»F.f100 fu fuk n2 (2)«, sagte Simon. »Seien Sie still. Bitte.« Er wuchtete die Schiebetür auf und ließ die kalte, reine Luft in den Wagen. Katharines Atem ging gleichmäßig, und sie lag an den langen Sitz des Schlittens zurückgelehnt. Ihre Augen waren gelbe Striche, und sie war träge, kaum bei Bewußtsein. Er trat auf die Straße hinaus. Ringsum erstreckte sich der Sand in die Dunkelheit, schwarzer Sand voller Eisen und Diamantkristalle, die im Mondschein leuchteten. Es war Vollmond. Er schaute zu ihm auf, und fast zum erstenmal kam ihm seine Schönheit zu Bewußtsein. Alles, was er seit seiner Ankunft hier gesehen hatte, war sein ausgebleichtes Gerippe auf der Tagseite der Welt gewesen. Doch nun erhob er sich über der Straße, groß und von Blau und Silber, und ringsumher schnappten die Kristallansammlungen danach und stahlen sein Licht und warfen es in einer Myriade winziger Strahlen zurück, wechselhaft und unstet, wenn Simon den Kopf bewegte. »O du ml Mond Mund Mord metaschwarz«, sagte er leise und vermißte zum erstenmal, soweit seine Erinnerung reichte, den kleinen Mond seiner Kindheit, der vielleicht sogar in diesem Moment über den leeren Ruinen von Nordlondon aufging. Die Straße verlief gerade vor ihm, ohne eine Krümmung. Er sah sie ausgestreckt wie eine stählerne Rune, wie sie im Mondschein schimmerte. Eiskrusten hatten sich auf ihrer Oberfläche gebildet, und an manchen Stellen war das Straßenbett schlüpfrig und naß; es war nicht kalt, vielleicht fünf Grad plus, und der Wind wirkte sonderbar warm. Bittere Gerüche, chemisch und hart, strömten von Osten her herbei. »U.Nr.(2)«, sagte er. »U.t. zwo Punkt 2.«
»Es braucht nicht fest zu sein«, sagte Martin Cohen. »Nur zu ihrem eigenen Besten. Nur mit Stoffstreifen. In der Station finden wir eine Klinik.« »Ja, ich weiß.« Simon hockte sich hin und legte die Hand einen Moment lang flach auf die Straße. Dann stand er auf. »Sie setzen sich hinten hin«, sagte er. »Man kann geradezu durchfahren. Es gibt Markierungen, nicht wahr? Sogar auf dem Eis?« »Oh, gewiß, natürlich. Wie, glauben Sie, haben die ihre Ausrüstung dort rausgekriegt? Sie sind genau diese Straße langgefahren.« »Sie wird vorn fahren, wo ich sie sehen kann.« »Klar.« Martin Cohen öffnete die Tür auf seiner Seite und stieg aus, und zusammen halfen sie Katharine auf den Beifahrersitz. Sie war fügsam, passiv. Ihr Atem ging leicht, und die Augen waren fast geschlossen. Doch als Simon versuchte, ihr die Hände zu öffnen, krampfte sie die Finger um die Schätze in ihrer Hand. Er versuchte die Finger aufzubiegen, hörte dann aber auf – er hatte begriffen, daß es nicht ging, ohne ihr weh zu tun. »Was hast du vor?« fragte er, ungewiß, ob sie ihn hörte oder verstand. Für einen Augenblick schaute er auf zum Mond. »Was hast du vor – es alles herausschneiden? Du wirst deinen Magen auch herausziehen müssen, und die Därme. Wie einer von deinen Heiligen – wenn du erst einmal anfängst, gibt es nicht viel, worauf du ein Recht hast. Nicht viel, was dir gehört.« Das Mondlicht fiel auf ihre hübsche Haut. Ihr Kopf pendelte nach hinten. Vielleicht war es nur ein Einfühlungseffekt, daß sie den Kopf bewegte, doch der Schnitt an ihrer Nase öffnete sich auf der rechten Seite wieder, und ein Tropfen Blut rann unter dem Grind hervor. Er trat zurück und schlug die Tür zu. Dann ging er vor dem Wagen auf die Fahrerseite und stieg ein. Martin Cohen machte
es sich gerade hinten bequem. Er hatte ein paar Decken ausgebreitet. Er redete, doch Simon hörte nicht hin. Er startete den Wagen und fuhr los, geradezu und schnell. Die Straße bestand aus Erde und Schlacke, und er lauschte dem Rasseln der Steinchen, die von den Rädern hochgeschleudert wurden, und er lauschte dem Motor und all den kleinen Knack- und Surrlauten. Sie umgaben ihn mit einem Kokon von Klängen, und sie übertönten Cohens Stimme und Katharines Atmen und das Geräusch, wenn sie auf dem Sitz hin und her rutschte. Was dachte sie, was fühlte sie jetzt, in diesem Augenblick, da sie sich aufsetzte und aus dem Seitenfenster starrte? Was für eine Landschaft sah sie? Mein Gott, die Menschen waren so einsam und ahnten es nicht. Er fuhr weiter durchs Dunkel.
7e: Sie halten zum Wasserholen »Halten Sie da vorn, damit wir Wasser holen können«, sagte Martin Cohen. »Das da in den Bergen ist eine UreinwohnerSiedlung. Sie ist in Ordnung.« Nachdem sie das Mädchen wiedergefunden hatten, hatten sie sich in Drywater ausgeruht und ein paar Stunden geschlafen. Sie hatten allerlei Vorräte zusammengestellt und Radio gehört. Jetzt waren sie auf der Suche nach Wasser. Jemand von der Bruderschaft hatte eine Leiche in den Brunnen von Drywater geworfen, also mußten sie losfahren und welches beschaffen. Sie hatten Benzin und Öl und Reifen, und wenn sie erst den Wasservorrat aufgefüllt hätten, würden ihnen nichts fehlen, hofften sie. Sie waren noch nie auf dem Eis unterwegs gewesen. Auf der dunklen Seite der Welt kam man aus dieser Wüstenebene ins
Bergland, man stieg langsam bis in Höhen von sechs- oder siebentausend Fuß hoch. Hundert Meilen weiter begann das Eis. Es bedeckte die halbe Welt, und das war ein gefährlicher Mist, dachte er. Nahe am Rande des Schildes gab es Lücken im Eis. Es gab Temperaturschwankungen, hatte er gehört, wenn Winde von den geschmolzenen Wüsten auf der Tagseite der Welt aus höheren Atmosphärenschichten herabgesogen wurden. Oberhalb des Eises gab es einen Riß in der Atmosphäre, und die Strahlung war dort stark. Die Shackleton-Station lag am Rande des Plateaus, wo der Eispanzer eben wurde, vielleicht hundertachtzig Meilen von dem Lieferwagen entfernt, der in hohem Tempo die Straße entlangglitt. Mayaram fuhr schnell, übers Lenkrad gebeugt, und kaute auf der Unterlippe. Von Zeit zu Zeit sah Cohen seine Zähne aufblitzen, wenn er die Lippen mit nervösem Zucken zurückzog und Brocken seines unverständlichen Slangs murmelte. Cohen lächelte, als könnte er sich einfühlen. Doch Mayaram war ihm fremd. Wenn man von einem Ort kam, wo niemand das geringste besaß, wo niemand lange genug lebte, um alt zu werden, wo es keine festen gesellschaftlichen Schranken gab, wo alle Kultur verschwunden war und die Leute einen grauenhaften und obszönen Jargon sprachen, dann bewirkte all dieser Druck vielleicht etwas im Geist, veränderte ihn irgendwie. Vielleicht zerbrach er einen in Bruchstücke von Vorurteilen. Cohen hatte die Traditionen immer verabscheut, die Intoleranz seines eigenen Lebenskreises, doch wenigstens waren sie da, etwas, wogegen man sich auflehnen konnte, ein Gefüge, das zu nichts diente, als einen Gegenstand zum Niederbrennen zu liefern. Es war lange her, daß er gewünscht hatte, woandershin zu gehen. Er lächelte abermals, denn natürlich war das alles Bockmist, was er gedacht hatte. Die Scheinwerfer stachen in die Nacht. Er lag gegen eine Seilrolle gelehnt, lauschte dem Plätschern
des Benzins in einem der Kanister und betrachtete Mayarams Hinterkopf, während der durch die Windschutzscheibe starrte. Was für eine Art Mensch war das, daß er von so weit her gekommen war? Daß er gleichsam in der Zeit zurückgegangen war, eine tote Sprache derart gut sprach? Ein Außenseiter. Ein Reaktionär. Garantiert hatte er genau solche Scheuklappen wie alle hier. In Goldstone Lodge, in jenem Zimmer im Obergeschoß, hatte er die kleine Goldstone gevögelt. Harriet Oimu hatte die Frau mitten im Geschlechtsakt getötet. Sie hatte Natasha Goldstone in den Kopf geschossen, direkt vor seinen Augen. Hatte er es gesehen? Keineswegs. Jetzt liebte er jemanden anders. »Vielleicht ändern sich die Menschen«, sagte Martin Cohen. »Vielleicht fallen die Scheuklappen ab – weggerissen, wenn alles zerfällt. Vielleicht ist es eine Art Evolution.« Wie unheilverkündend und dunkel er war, wie bedrohlich und stark und hartnäckig. Seine haarigen Hände hielten das Lenkrad umklammert. »Hören Sie mich?« sagte Martin Cohen. »Halten Sie hier. In diesem Dorf bekommen wir Wasser.« Ob es ihm paßte oder nicht, sie hatten Gemeinsamkeiten. Sie waren hier, fuhren zu schnell auf die Shackleton-Station zu, die voller Männer und Frauen wie Simon Mayaram war. Gewiß hatten sie eine Vision gehabt. Gewiß waren sie um einer Sache willen hergekommen. Etwas hatte sie hinaus auf das Eis getrieben, wo sie Löcher bohrten, die dreitausend Fuß tief in den Eispanzer reichten. Sie suchten Neutrinos, und sie gruben jedesmal ein paar aus. Oder sie hatten ihr Radioteleskop gegen das Rauschen der Sonne abgeschirmt und spähten nach draußen – wohin? Sie waren wie Simon, der durch die Scheibe in die Dunkelheit hinausstarrte. Von ihrem günstigen Blickpunkt außerhalb der Galaxisebene spähten sie hinaus zu dem Schwarzen Loch im Zentrum der
Milchstraße, und das halbe hiesige Jahr lang sahen sie deutlich und unverdeckt die Zerstörung, die es umgab. Und war es nicht traurig, menschlich und traurig, daß sie so weit gereist waren, nur um die paar Photonen zu zählen, die aus dem schwarzen Herzen der Galaxis entwichen, aus einem unfaßlichen Nichts so groß wie die Erde? Er dachte: Es ist unsere Blindheit, die uns in Bewegung hält, die uns zwingt, uns selbst zu verletzen. Sie waren von Drywater zwanzig Meilen über den Sand gefahren, und die Straße wand sich zwischen die ersten niedrigen Berge. Der Lieferwagen durchtunnelte das Dunkel. Einem Teil von ihm war danach zumute zu sagen: Laßt uns kehrtmachen, laßt es uns riskieren. Doch es war eine verlockende Kraft, die sie vorangetrieben hatte. Ihre eigene menschliche Liebe zur Dunkelheit. Oder – wer weiß? Vielleicht würde es leicht sein. Schließlich lebten da draußen Menschen. Er hatte ihren Sender im Radio gehört. »Halten Sie hier.« Die Berge rückten näher. Der Wagen hatte sich eine lange, flache Steigung hochgearbeitet, doch auf dem Gipfelpunkt gab es eine Stelle, wo sie an den Rand fahren konnten. Mayaram bog auf ein Stück Grund ab, das flach und eben wie ein Parkplatz war, und fuhr nur noch im Schrittempo weiter. »Es ist in Ordnung«, sagte Martin Cohen. »Ich habe Ihnen davon erzählt. Sie sind hier unmodifiziert; sie sind im Urzustand, aber harmlos. Wir holen einfach, was wir brauchen, und gehen wieder.« Der Wagen rutschte über die grobe Schlacke und blieb dann stehen. Der Mond war hinter den Bergen verborgen. Mayaram saß da, die Hände ums Lenkrad geklammert. »Es ist in Ordnung«, sagte Martin Cohen. »Ich hole es. Sie bleiben hier.« Er hatte hinten im Wagen einen Vierzig-Liter-Kanister, hinter dem Elektroschlitten. Er zog ihn mit Mühe hervor, dann schob er die Seitentür auf. Mayaram stand dort und zog seine Windjacke an. »Das kriegen Sie nie fort«, sagte er.
Er nahm eine Taschenlampe aus dem Wagen. Cohen stieg aus und richtete sich auf. »Was wird mit ihr?« »Sie schläft. Sie wird die paar Minuten hierbleiben.« »Sie könnte weglaufen.« »Könnte sie. Ich bin nicht ihr Gefängniswärter. Es ist wichtig, daß sie Vertrauen spürt. Und außerdem möchte ich’s sehen.« Die schärfsten Werkzeuge hatte er in die Taschen seiner Windjacke gesteckt, dazu einen kleinen Revolver, den er in Drywater gefunden hatte. »Klar«, sagte Cohen. »Da gibt es was zu sehen, aber wir werden bloß Wasser holen. In der Höhle dort ist eine Quelle.« Mayaram leuchtete zu der Stelle, wohin er zeigte. Diese Berge waren tatsächlich voller Höhlen. Eigentlich befanden sich ringsum Kanaken, obwohl sie sich wie üblich nicht blicken ließen. Wie üblich, schien es ihnen ziemlich schnuppe zu sein. »Sie werden wahrscheinlich ihre Sache machen«, sagte er. »Nur, daß Sie drauf gefaßt sind, und denken Sie nicht, es sei Sex, denn es ist keiner. Oder es ist welcher, aber auch nicht. Es ist eher so etwas wie Essen oder Säugen. Eine Art Ernährung – das ist es, was sie tun.« »Ich habe davon gelesen.« »Klar«, sagte Martin Cohen. »Da gibt es was zu sehen. Manchmal denke ich, daß wir deswegen damals angefangen haben, sie unter Drogen zu setzen. Nicht damit wir gegen die Dämonen kämpfen konnten, wie wir sagen. Aber eine Menge von den ersten Siedlern hier waren Mormonen, ich meine im Grenzland. Neomormonen oder sowas. Barivase ist von einer neochristlichen Chemikerin erfunden worden, und ich kann mir vorstellen, daß sie es einfach entwickelt hat, um sie davon abzubringen.«
Der Schwefelgeruch war hier überwältigend. Mayaram nahm den Wasserkanister aus Plastik. Er ging zum ersten Loch im Felsen, die Taschenlampe in der Linken. Das Licht war im Freien nicht nötig, doch Cohen folgte ihm trotzdem. Er hatte auch eine Lampe dabei, die er nicht anschaltete, bis sie draußen vor dem Loch im roten Fels standen. Sie mußten sich bücken, um hineinzugelangen. Es war so, wie er sich erinnerte. Ein kurzer Tunnel führte in eine größere Kammer, vielleicht zehn Fuß im Quadrat. In die gegenüberliegende Wand war eine Anzahl Steinbecken gehauen worden, und jedes enthielt eine andere Art Wasser. Die Quellen selbst lagen weiter einwärts; das Ende einer alten Röhre, vielleicht aus Drywater geklaut, ragte aus der Wand. Daneben gähnte die schwarze Öffnung eines anderen Tunnels. Er war vor etlichen Jahren auf einer seiner linguistischen Expeditionen hiergewesen. Es hatte sich nicht verändert. Noch immer hockten Ureinwohner zwischen den Steinen. Ein halbes Dutzend von ihnen war in der Felskammer, nackt, die Haut bläulich bleich von den Lichtkegeln. Es war, als könnte man immer nur Teile von ihnen sehen, während das Licht über ihre Körper hinwegglitt: einen Rücken, einen Schenkel. Sie wandten die Gesichter vom Licht ab. Einer stand aufrecht. Er (und fast wider Willen blieb Cohen dabei, ihn mit diesem bedeutungslosen menschlichen Fürwort zu bezeichnen) war an die fünf Fuß groß, und er stand unter einer natürlichen Dusche im Felsen, wo Wasser herabtröpfelt. Er hatte die Hand daran gelegt, und das Wasser rann über sein Gesicht und sein Kinn herab. Er wandte das Gesicht dem Strahl der Taschenlampe zu, und es war leer, weich, nackt, haarlos, glatt, fast ohne Züge. Der Anblick war für Cohen stets aufs neue schockierend und abstoßend, abermals fast gegen seinen Willen. Abstoßend war auch der zweite Ureinwohner, der vor dem ersten kniete und
an seinem ›Glied‹ saugte, einem angeschwollenen Organ von vielleicht neun Zoll Länge. Es war steif, prall von Blut, und zweifellos weckte die Bewegung, das methodische Saugen des zweiten Ureinwohners in menschlichen Zuschauern Assoziationen; Mayaram hielt den Strahl seiner Lampe auf die Stelle, wo sich jenes lippenlose Loch und der fette rote Pimmel trafen. »Sie leben von Wasser«, murmelte Cohen in dem Gefühl, die Stille brechen zu müssen, und sei es, um etwas zu erklären, was Mayaram schon wußte. »Da sind diese Diatome drin, oder was es sonst ist, obwohl nur etwa die Hälfte von ihnen es direkt aufnimmt. Die anderen trinken es, nachdem es ihre Körper durchlaufen hat – es gibt da eine Drüse, die es anzureichern scheint, irgend etwas hinzufügt…« Die Stimme verebbte, doch dann begann er wieder, von der Stille unangenehm berührt und auch von der rücksichtslosen Art, wie Simon Mayaram das Licht auf diesen zahnlosen saugenden Mund gerichtet hatte und dort verharrte und es über das Glied hin und her gleiten ließ. »Es ist sowas wie umgekehrte Entropie, und einem wird schlecht, wenn man es sieht«, fuhr er fort. »Wir wollen also einfach das Wasser holen, denn wir sollten zurückgehen…« Als er das letzte Mal hiergewesen war, war er allein gekommen, und es war nicht annähernd so peinlich gewesen. Es war etwas anderes, wenn man zusah, während ein anderer Mann in der Nähe war. Er wandte sich ab und ging ein paar Schritte auf die Wasserbecken zu. Sie rochen nach Schwefel und anderen Mineralien. Doch er hatte sie noch nicht erreicht, als er von einem neuen Geräusch unterbrochen wurde. Er drehte sich um und leuchte mit der Lampe, und da stand Katharine, die Augen aufgerissen, die Hände am Gesicht. Sie blutete aus dem Nasenrücken und aus der Kopfhaut, und ihre Augen leuchteten im Licht. Cohen
wich in plötzlichem Entsetzen zurück, und Katharine war bei ihm. Er lenkte den Strahl der Lampe von ihr weg, und sie verschwand. Er spürte eine Bewegung nahe an seinem Gesicht; sie scheute zurück. Dann war sie fort, und Mayarams Lampe schwenkte herum und erfaßte ihren Rücken, als sie an ihnen vorbei zur Mündung des hinteren Tunnels ging. Sie hatte die Jacke abgeworfen. Sie trug ein weißes T-Shirt. Es klebte an ihr. Die feuchte Luft glänzte auf ihren Armen.
7f: Dämonen (VI) ICH UND ICH BIN AN DIESEM ORT. Der Dämon richtete sich gerade auf und beugte die Arme. Nach seinem langen Lauf vom toten Mausoleum und der Knochenkrypta war er müde. Er war über den harten Sand gelaufen, und mit jedem Schritt schien seine Brust sich zu weiten, sein Schritt länger zu werden, als ob sich seine Muskeln vom Gebrauch ernährten und nach der langen Gefangenschaft der offene Raum in seinen Körper einginge. Als ob ihm der Schmerz von Tod und Einsamkeit Nahrung geboten, ihn befreit, seine Beine stark gemacht hätte, so daß er ohne anzuhalten unter dem aufgehenden Mond laufen konnte, und die Kristallsteine glitzerten ringsum, und er lief durch die schwarzen Sandhügel, und es war, als ob seine Arme und Beine wüchsen, während er vorankam, und als ob alle Mächte der Welt wüchsen, Kraft sammelten. Er war in die Schwefelberge gekommen, wo die Sklaven lebten. Sie waren wehrlos, und er konnte in ihre Körper und in ihre Herzen eintreten und ihre Herzen erfassen. Es gab hier kein Eis, kein von Menschen geschaffenes Eis, und als der
Mond über den Bergen emporstieg, sah er noch Spuren der Welt in ihren makellosen Anfängen, als alles richtig war. Die Sklaven waren wehrlos, und sie hatten sich ihm geöffnet, und sie hatten ihn voll Liebe willkommen geheißen, und er war eingetreten und hatte sich von ihren Gedanken ernährt.
7g: Eine Wiedervereinigung Sie trat in die Tunnelöffnung, die Augen weit offen, und obwohl sich der Weg gabelte und dann abermals gabelte, und obwohl er durch eine Kammer nach der anderen ins Herz des Berges hineinführte, wählte und irrte und zögerte sie nicht. Sie folgte einem Silberfaden von Licht, der in der Mitte des Gangs verlief, ohne die Wände zu berühren, und er lief durch die dichte feste Schwärze, ohne sie zu verändern, wie eine Ader in einer Schicht Kohle. Doch in dem Maße, wie sie vorankam, vervielfältigten sich diese Lichtfäden und schlossen sich zu einem Tau zusammen, das sie vorwärtszog, und allein sein Umfang und Gewicht füllte die Gänge und zeigte die Wände, und es zeigte ihr die anderen Wesen, die sich auf die Quelle und den Fixpunkt dieses Lichttaus zu bewegten. Sie glitten an den glatten roten Wänden entlang, kleine, langsame, haarlose Tiere von vielen verschiedenen Arten, und manche wimmelten vor Eifer übereinander hinweg, und manche waren blind, von einer anderen Erscheinung vorwärtsgezogen, einem Klangfaden, der sich wie das Licht zusammenfügte. Dennoch schien er nicht lauter zu werden, während sie sich seiner Quelle näherte, doch er gewann auf andere Weise an Umfang: ein stimmloses Summen, das mehr und mehr Raum in ihrem Denken einzunehmen schien, sogar als es außer Hörweite entschwand, das sich durch die Korridore ihres Hirns
ausbreitete und ihre kleinen Gedanken beiseitestieß, sie niedertrampelte und vorantrieb, und sie waren gefangen, blind. Sie bog um die Ecke, und da war er, er stand in der Mitte einer offenen Kammer. Er war riesig. Ein Steinfeuer brannte in einer Grube bei der Wand gegenüber, und der Rauch entwich durch einen Spalt in der Höhlendecke, der hinauf ins Freie führte. Ein Teil des Himmels war zu sehen, und die Luft war hier kälter, frischer. Wasser sickerte durch die Wände herab. Der Boden bestand aus Kristallgrieß und rauhem schwarzen Sand; sie bemerkte das alles, denn sie vermied es, ihm ins Gesicht zu schauen, mied seine Finger, die die Lichtstränge zu sammeln schienen, die Klangstränge. Es waren weitere da, viele. Sie hockten rings um ihn oder knieten oder standen, und er überragte sie alle. Sein Gesicht wirkte so groß wie die ganze Welt, seine lidlosen, brennenden Augen. Und sie wußte, daß sie einer Geburt beiwohnte. Einer von ihrem Volk kniete vor ihm, Brust und Kehle aufgebläht, und er hatte ihm die Kiefer aufgerissen, sie zerbrochen, auf dem Gelenk gelöst. Er rieb die Hände gegeneinander, und das Licht strömte aus ihnen hervor, und dann ließ er die Hände in die Kehle des Knieenden gleiten, Katharine sah sie durch die schlaffe Haut hindurch leuchten. Das Geschöpf hatte Angst und Schmerzen. Dennoch beruhigte er es, und manchmal zog er die Hand zurück, um ihm über den Kopf zu streichen und den Schweiß wegzuwischen. Seine Hände waren um die Knie gekrampft. SIEH ZU, DAS IST FÜR DICH, sagte er, und seine lautlose Stimme explodierte in ihrem Geist. Sie schaute ihn an und seinen gewaltigen Kopf und die Augen, die nicht blinzelten, die sie direkt anzustarren schienen, direkt in das offene und wehrlose Gesicht eines jeden Geschöpfs hier rings um ihn. Und sie stellte sich vor, daß sein Geist groß genug war, um
seine Gedanken über jeden von ihnen zu legen, jedem von ihnen ein anderes Wort, einen anderen Satz zuteil werden zu lassen, jeden von ihnen zu überzeugen, daß er für sie da war, nur für sie, nur für ihre und niemandes anderen Bedürfnisse. SIEH JETZT zu, sagte er ihr, und sie sah zu. Sie sah zu, wie seine Hände in der Kehle des Wesens versanken, hinab in seine Brust. Sie sah zu, wie seine Hände das Innere der aufgeblähten Brust erleuchteten und den Fötus dort erfaßten und herauszerrten, und ihn durch diese lange, zerbrochene Kehle herauszogen, bis der blutige Mund des Wesens einen unmöglichen Ausruf formte und sein zerschmetterter Kehlkopf einen Schrei zustande brachte, um das kleine Kind in seiner Hülle auszustoßen. Er zog das formlose leuchtende Bündel hervor, und er beugte sich herab und biß die Schnur mit seinem winzigen, unsichtbaren, scharfen Mund durch. Er hielt das Kind auf der rechten Hand hoch, und mit den Fingern der linken fuhr er in die ledrige Hülle und schlitzte sie auf. Das ausgeleerte Elternwesen war indessen zwischen seinen Füßen niedergesunken, und andere kümmerten sich um es, vielleicht unter seiner Anleitung; sie sprachen leise Worte der Ermutigung. Er aber riß die ledrige Hülle zurück, um das Gesicht des Kindes freizulegen, und es war leer, formlos, bis er seine Hand darauf legte und der leeren Haut ein paar Züge aufprägte. SIEH ZU, sagte er, und sie sah, wie unter seiner Hand ein Gesicht erschien, das sie beinahe wiedererkannte; es war das Gesicht ihres Vaters. Nur einen Augenblick lang, ehe er es wieder wegwischte, doch in diesem Moment war sie sich zweier gewaltiger Dinge gewiß, und das erste war, daß ihr Vater in Shreveport tot war, und das zweite, daß sich seine Seele in der Hand des Dämons befand. Doch mit einem anderen Teil ihres Geistes fragte sie sich, ob wohl alle anderen Anwesenden in dieser Kammer von rotem
Fels dieselbe Vorstellung hatten, ob jeder von ihnen beinahe das Gesicht des Kindes wiedererkannt hatte, ob jeder von ihnen sich in diesem Augenblick beinahe von der Wahrheit überzeugt gefunden hatte, daß die Seele ewig lebt. Und wie um zu unterstreichen, daß sie noch nicht von ihrem menschlichen Teil frei war und es vielleicht nie sein würde – dem Teil ihres Geistes, der einer Fessel aus ineinandergreifenden Zweifeln glich, einer Kette, die hinter ihr herschleifte –, kamen ihr diese beiden Menschenhunde nachgeschlichen, und sie hatte sie mit sich in die Kammer gezogen. Der schwarze Hund und der weiße Hund, und einer war schwarz und grimmig, und der andere war elend und wimmerte ständig und beklagte sich. Der Dämon stand da und streifte die ledrige Hülle ab. Er strich über die Glieder des Neugeborenen, bis es ein schnüffelndes Geräusch machte. Dann gab er es in die Obhut eines anderen Wesens, eines ausdruckslosen, gesichtlosen Geschöpfs, das es in ein Stück von einem Schal mit PaisleyMuster wickelte. Du BLEIBST BEI MIR, sagte der Dämon, doch seine lautlose Stimme war jetzt weniger eindringlich. Er starrte die Hundemenschen an, und unter seinem verwandelnden Blick begannen sie zu verschmelzen, ein einziger Hund zu werden. Es war ein gefährliches und schmutziges Tier, das auf dem Grat zwischen Flucht und Angriff balancierte. Es hielt den Kopf gesenkt, das Fell auf dem Rücken gesträubt, und es knurrte und winselte, verräterisch und treu, und es würde dich töten und dann für dich sterben.
7h: Hunde Simon stand in der Felskammer, eine Pistole in der einen Hand und in der anderen eine Taschenlampe. Er kaute auf der Lippe und bewegte den Strahl der Lampe von Gesicht zu Gesicht,
von Gestalt zu Gestalt, und versuchte etwas zu verstehen. Doch das Licht schien nie genug zu erhellen. Es war zu grell, zu eng gebündelt, um die Gründe und Verbindungen zu erhellen; es bewegte sich von einem Gegenstand zum anderen und isolierte einen jeden. »219.291,111.1«, sagte er, und jede Ziffer in jeder Zahl bedeutete ein Gefühl, das Lichtjahre entfernt war. Martin Cohen stand hinter ihm, und mit der Rechten schrieb er Muster in die Luft: »Es geht in Ordnung, in Ordnung, in Ordnung«, sagten seine Finger. Doch seine Stimme sagte etwas anderes: »Verdammt, sind Sie wahnsinnig? Stecken Sie die Pistole weg.« Er war der Wahnsinnige. Es war ein Dutzend Ureinwohner in diesem kleinen Raum, und keiner war auch nur durch eine Spur von Medikamenten geschützt. Einer von ihnen war schon verletzt worden. Er lag verwundet zu Füßen des Dämons; der Dämon ragte über ihm auf, frei, ohne Fesseln und gigantisch, mit einem Bündel in der Hand. Seine lange Stirn, die riesigen Augen, die grausame, scharfe, mundlose Schnauze; er machte eine Bewegung, eine Art Trick, und das Bündel verschwand, die Eingeborenen wichen zurück. Sie zogen den Verwundeten weg, und der Dämon war allein, frei, enorm, seine knochigen Finger zitterten in der Luft. Er schaute Katharine an, neigte sein fremdartiges Gesicht zu ihr herab; er war jetzt nackt. Simon ließ den Lichtstrahl über seine Rippen abwärts gleiten, über seine Taille und seine vorstehenden Hüften; er ließ den Strahl die Außenseite des riesigen Schenkels entlang tiefer sinken und dann rasch nach innen schweifen, so daß er einen Blick auf das lange, schmale Glied erhaschen konnte. Nicht dicker als ein Finger, hing es bis unter die Knie hinab, und es zuckte und zappelte obszön. Simon riß den Lichtstrahl beiseite.
»Verdammt. Er muß von Drywater hergelaufen sein«, sagte Martin Cohen. »Er hat den Tod seiner Schwester genommen und gegessen. Sehen Sie sich vor jetzt, er ist stark.« Der Dämon trat vor und breitete die Hände aus. Simon ließ das Licht über Katharines Gesicht spielen. Ihre Augen waren fast geschlossen. Sie wiegte sich langsam auf den Füßen hin und her, und in ihrem Gesicht lag etwas, das wie reine Unterwerfung aussah, das aussah wie der Augenblick, da eine Jungfrau ihren ersten Mann willkommen heißt, ihn einläßt; er ertrug es nicht. Sie stand da und wiegte sich auf den Füßen hin und her. Der Dämon trat auf sie zu. Er ragte über ihr auf, die Hände ausgestreckt, und sie sagten etwas. Nur eine kleine Bewegung, vielleicht nur ein mitfühlendes Zucken seines dominanten Geistes. Es hatte mit Liebe zu tun. Simon schoß ihn in die Schulter. Erst ging die Pistole nicht los. Dann fiel der Schuß. Er machte in diesem geschlossenen Raum großen Lärm. »Scheiße, du verdammtes Arschloch!« brüllte Martin Cohen. Und er sagte noch eine Menge, ein Geplapper unterm Atemgeräusch, nur daß Simon nichts hören konnte. Der Schuß klang ihm in den Ohren. Er schien nicht viel Wirkung auf den Dämon zu haben. Er wandte sich Simon zu und legte sich die Hand auf die Schulter. Doch die Ureinwohner kamen in Bewegung; sie begannen auf ihn zuzufluten, zögernd, unsicher. Er schwenkte das Licht von einem Gesicht zum anderen und hielt die Pistole vorgestreckt. Martin Cohen war im Tunnel verschwunden. Katharine sank zurück, als sei das geistige Band, das sie aufrecht gehalten hatte, plötzlich zerrissen. Er trat vor, um sie festzuhalten, und ließ die Taschenlampe fallen. Oh, dachte er. Von dem Ölsteinfeuer kam ein schwaches Licht. Doch es reichte nicht, um deutlich zu sehen, um das Gesicht des Dämons zu sehen, um die Ureinwohner zu sehen, die auf ihn zu kamen; er hielt die Pistole vor sich. Katharine sank ihm
in die Arme, doch sie vermochte noch zu gehen. Er zog sie rückwärts auf die Tunnelöffnung zu. Und dann drehte er sie um und legte ihr den Arm unter die Achselhöhlen, quer über ihre Brüste. Er schob sie durch die nicht ganz trübe Dunkelheit, die Pistole ausgestreckt, und er hörte die ganze Zeit die Kanaken hinter sich schnaufen. Doch sie unternahmen nichts, und als er die erste Kammer erreicht hatte, spürte er weniger Angst. Katharine konnte selbständig stehen. Daher nahm er sich die Zeit, den Wasserkanister aufzuheben. Er lag auf dem Weg, wo Martin Cohen ihn liegengelassen hatte. Katharine stand zitternd und sich wiegend in der Mitte der Kammer. Die erste Kammer war jetzt leer. Schwaches Mondlicht sickerte durch den Eingang. Unverständliche Laute hallten durch die Tunnels. Es kommt darauf an, dachte Simon, nicht zu zeigen, daß man Angst hat. Es kommt darauf an, zu akzeptieren, was sein muß. Er wußte, daß der Lieferwagen fort war. Also ließ er sich Zeit. Er füllte den Wasserkanister am Rohr, dreiviertel voll. Dann trug er ihn ins Mondlicht hinaus und führte Katharine dabei an der Hand. Er sah die Rücklichter des Wagens eine Meile weit weg, er fuhr bergab, zurück nach Drywater. Nichts regte sich hinter ihm im Tunnel. Er schleppte den Kanister über den freien Platz, über den Kreis von Reifenspuren zur Straße hin. Die .22er in der Tasche fühlte sich schwer an. Ich hätte die Schlüssel behalten sollen, dachte er. Doch es war besser, den Menschen zu vertrauen; im Moment unter dem aufgehenden Mond fühlte er sich stark und in Hochstimmung. Niemand folgte ihnen. Er stand mit Katharine unter dem aufgehenden Mond, der Kanister war dreiviertel voll und Drywater keine dreißig Meilen entfernt. Es war kalt, und es wehte ein kalter Wind. Er hatte Katharine eine Jacke aus dem Lagerraum der NLC besorgt, eine gute, gefütterte, schwere Segeltuchjacke mit Kapuze. Sie lag bei der
Stelle, wo der Wagen gestanden hatte, am Boden; jetzt hob er sie für sie auf und half ihr, sie anzuziehen. Er zog den Reißverschluß hoch. In den Taschen fand er ihre Handschuhe. Sie stand mit ausgestreckten Armen da. Zitternd blickte sie zum Mond hoch. Das Licht fiel auf ihr Gesicht. Eine Zeitlang ging er weiter, und sie folgte ihm. Er blieb stehen, um zu lauschen und zurückzuschauen und sie aufschließen zu lassen; die ersten paar hundert Meter schaute er sich oft um, dann weniger häufig. Doch als sie den Scheitelpunkt der Straße selbst erreichten, blieb er wieder stehen. Katharine stand neben ihm, und als er sich vergewissert hatte, daß ihnen niemand folgte, streckte er die Hand aus und berührte ihre Wangenknochen. Er spürte eine kleine Empfindung, einen kleinen Trost wie einen Mundvoll Nahrung. Ein wenig Bestärkung ging von ihr aus. »Das ist alles, was es gibt«, sagte er. »Das ist, was uns stark macht.« »Das ist, was uns heilt«, sagte sie, und er empfand ein plötzliches Glücksgefühl. Sie hatte ihn gehört; sie hatte zu ihm gesprochen, und bei all der Verstörung zwischen ihnen gab es noch ein Band, das nicht zerriß und das letzten Endes stärker war als das Dämonenband. Sie war hier. Bei ihm. Sie sprach. Das war der Beweis. »Alles andere zählt nicht«, sagte er, und sie schaute zweifelnd drein. Er dachte, er sei vielleicht zu weit gegangen; hatte eine zu kategorische Behauptung aufgestellt, sei nicht empfänglich genug für das gewesen, was immer sie denken mochte. »Wir werden einen Weg finden«, sagte er, um ihr Sicherheit zu geben. »Wir werden einen Weg finden.« Die Berge hinter ihnen waren still. Sie standen in der Mitte der Straße und schauten nach Osten, auf die Ebene hinab. Die Lichter des Wagens waren verschwunden. Es spielte keine Rolle, zumindest im Augenblick. Simon hob den
Wasserkanister auf. Er war zu schwer, also tranken sie eine Menge und wuschen sich Gesicht und Hände. Das Wasser war ätzend und scharf, wie ein Reinigungsmittel. Es prickelte auf ihrer Haut. Er schob eine neue Patrone ins Magazin der Pistole und steckte sie wieder in die Tasche. Als ihre Hände trocken waren, half er ihr, die Handschuhe anzuziehen. Dann nahm er den Kanister, und sie machten sich auf den Weg hinab, zurück nach Drywater, nach Shreveport, den Weg zurück, den sie gekommen waren.
7i: Sex (III) Sie empfand keine Angst. Sie ging neben ihm und sagte Dinge. Die entsprangen einem Ort außerhalb ihrer selbst, keinem Denk- oder Entscheidungsvorgang. Sie sagte: »Ich bin glücklich«, und so war es. Es sprach eine Stimme in ihrem Geist. DIESER SCHMERZ IST NICHTS, sagte die Stimme. SCHAU DIE WELT AN UND FINDE MICH IN DER WELT. Die dunkle Welt erstreckte sich vor ihr, und die Straße lief hindurch. Der Mond stand wieder hinter ihrem Kopf. Die Vergangenheit lag hinter ihr, angeschwollen und erschöpft, denn sie hatte gerade eine Geburt vollbracht. Diese Welt war genauso aus ihr hervorgezogen worden, wie das Kind aus der elterlichen Kehle gezerrt worden war. Und vielleicht war sie ungestaltet und formbar wie das Kind. Vielleicht bestand sie nur aus Möglichkeiten, frei von der Vergangenheit, und die Nabelschnur war abgeschnitten worden. Für einen kurzen Augenblick hatte Katharine sie unter Kontrolle. Der Druck der Notwendigkeit hatte die Welt noch nicht aus der Form gebracht. Das Virus, das anderer Leute Wahrnehmung war, hatte sie noch nicht mit Wahrheiten oder Lügen angesteckt.
Jetzt, in der kalten, freien Luft, spürte sie, wie der denkende Teil von ihr dahinschwand. Hier in der kalten Luft, mit dem Muster der Sterne über sich, dem Rattenfänger und dem Drachen und der Krabbe. Während sie hinschaute, lösten sich diese Muster auf, und all die dunklen Stellen am Himmel füllten sich mit den Sternen, von denen sie wußte, daß sie da waren, bis sie über sich ein Netz ohne Mitte und ohne Rand wahrnahm. Ein Netz von Sternen, verbunden durch feine Fäden, und es gab kein Muster, keine Gestalt, denn diese Dinge entsprangen der Wahrnehmung, der individuellen Schöpfung, für die an diesem neuen Himmel kein Platz war. Menschen hatten es immerzu mit ihrer Welt der Tatsachen, ihrem Himmel von Hypothesen. Sie torkelten blind einher, und in diesem Augenblick fühlte sie sogar für den Hundemann neben sich einen Zustrom von Mitgefühl. Sie nahm seine Hand, um ihn zu führen. Die Klarheit der Seele. Ihre Fortdauer. Das endlose Netz feiner Fäden, die alle Geschöpfe außer der Menschheit verbanden. Jene Fäden, die von ihr ausgingen, waren schwach, fast nicht zu spüren, doch sie gewannen an Stärke. Ihr Körper schmerzte, doch es war der Schmerz, der vom Gebrauch durch lange Untätigkeit verkümmerter Muskeln kommt, und sie scherte sich nicht darum. Die Doppelklinge menschlicher Wahrheit und menschlicher Lügen hatte nicht mehr die Kraft, diese Netze zu durchschneiden, diese Bänder zu zerreißen. Sie spürte die Leute in den Bergen hinter sich. Sie spürte die gewaltsame Liebe, die sie einander vermittelten, die wie Nahrung durch ihre Körper kreiste. Ein Gewebe ohne Mitte, und jeder Knoten hielt einen Stein, der klar war und fortdauernd, und jeder Stein war von allen anderen gleich weit entfernt. Es spielte keine Rolle, wo man sich befand und ob man ging oder reglos verharrte. Nur Menschen waren ruhelos. Nur Menschen taten Dinge, wollten Dinge, veränderten die
wirkliche Welt mit ihren Händen statt mit ihrem Geist. Das war das Mal ihrer Unvollständigkeit, ihrer Isolation, ihres Verlustes. Sie drückte Simons Hand, und er erwiderte den Druck. Siehst du? dachte sie. Sogar du kannst etwas fühlen. Vor ihnen war die Welt plastisch, dunkel, ungeformt. Ihren Ausgang nahmen in ihr die Traumwelt, die Geisterwelt, die Welt der schicksalhaften Stimme. Darin eingebettet waren die Totenwelt, die Zahlen weit, die vergangene Welt, die künftige Welt, die Welt der neunzehn Wolken und alle anderen. Es lag an ihr, sie zu erschaffen. »Ich fühle«, sagte sie. »Ich fühle mich gut«, sagte sie, und hinter ihrem Kopf begann der Mond, die Farbe zu ändern, und die langen Vokale in ›fühle‹ und ›gut‹ waren wie lange Lichtbündel, die sich über die Landschaft ergossen. Silber wurde zu Gold, und das goldene Licht war eindringlicher, durchdringender, und es verbrannte die Diamanten auf der Ebene mit einem Feuer, das heißer und roter wurde, während sie zusah. Der Hundemann sagte etwas, doch es hatte nichts zu bedeuten. Wie sollte es auch? Sie drückte seine Hand, um ihm Sicherheit zu geben und ihn zum Schweigen zu bringen. In dieser Landschaft waren seine Worte verschwendet. »Wie warm es ist«, sagte sie, und ein heißer Windstoß brach aus dem Mond hervor. Er trug einen Plastikkanister auf der Schulter. Er sagte etwas von der Jacke, oder zumindest benutzte er das Wort. Doch sie wandte den Kopf, um den warmen Hauch auf der Wange zu spüren. »Schau nicht zurück«, sagte er, und sie hörte ihn deutlich, aber sie verstand ihn nicht. »Nicht?« fragte sie und versuchte ihm um des Mitgefühls willen etwas Bedeutung einzuhauchen, um der Wärme und der Kraft willen, die vom Berg und vom Mond und von allem hinter ihr durch sie strömten, die jeden Strang dieses
gewaltigen Netzes entlangströmten lind durch sie hindurch, und die die Straße entlang in die Welt wehten. »Es ist gut, mach dir keine Sorgen«, sagte er, und diese Worte waren wie drei kleine Steine und vier Eisplättchen, die von seinen Lippen herabrollten und sich auf der Erde verstreuten. In der Landschaft, die gerade zum Leben erwachte, hatten sie nichts zu bedeuten. Vor ihr floß das rote Licht bergab und in die Wüstenebene, und es verwandelte alles, was es berührte. Der Boden unter ihren Füßen wurde weicher. Der kalte Matsch wurde weicher, und der Klang ihrer Fußtritte änderte sich, glitt über eine kleine Tonleiter tiefer. Über ihr entfaltete sich von Osten her eine Wolkenreihe, ein dünner Schleier von Wolken, der die Sterne verdeckte, doch das Mondlicht herabströmen ließ, ungehindert, reicher, gereinigt und gefiltert. Der Hundemann sagte etwas vom Wetter, und sie drückte seine Hand. Sie gingen mitten auf der Straße. »Ja«, flüsterte sie, und das Wort entschlüpfte ihr, ein scheibenförmiger Klang, der bergab wirbelte, der sich in einem Bogen entfernte, als ihn der Wind erfaßte und zu Boden zwang. Er traf auf eine Erdböschung und versank mit lautem Schmatzen darin; der Hundemann wandte den Kopf, um zu lauschen. »Ich. Fühle. Mich. So. Glücklich«, sagte sie, und die Worte wirbelten den Hang hinab. Vor allem ›Glücklich‹ mit seinem dicken Bauch und dem sonderbaren stumpfen Schwanz, den die zweite Silbe bildete, flog auf einer langen, unregelmäßigen, hohen Bahn. Als es auf den Boden traf, rollte es weiter und grub eine Furche. Eine Armee von Geschöpfen klomm aus dem Loch, als hätten sie in der Dunkelheit auf das befreiende Wort gewartet. Eine Flut von Insekten quoll aus den Erdboden hervor, jedes mit seinem eigenen schillernden Panzer. Manche von ihnen verloren die Balance, und sie rollten und torkelten den Einschnitt entlang.
Der Hundemann sagte etwas, und sie drückte ihm die Hand, um ihm die Vergeblichkeit des Redens zu ersparen. Es war schwer, seine dunklen, behaarten Wangen anzuschauen, seine Lippen, mit einem sicherlich weich gemeinten Ausdruck zurückgezogen. Das Mondlicht schimmerte auf seinen schweren Zähnen, und sie waren scharf und sauber und weiß und nur zu einer Sache zu gebrauchen, und sie wandte sich von ihm ab und fühlte sich besser. Ein Vogel flog oben vorbei. »Endlich gibt es Liebe«, sagte sie, und das Land erhob sich ihnen entgegen. Sie schaute nach dem Vogel. Er erschien ihr als ein Ausdruck von Liebe, ein Vogel von einer großen, wehrlosen Art, die seit Ankunft der Menschen ausgestorben war. Er hatte eine große Flügelspanne, und er schwebte langsam unter dem Mond und glitt langsam durch die Luft, als träfe er immer auf einen geringen Widerstand. Der Mond hatte auf seinen Flügeln und seinem Bauch eine rosige Farbe aufleuchten lassen. Als der Vogel unstet in die Wüste hinabflog, tropfte diese Farbe von ihm herab, als ob ihn ein Strahl des Mondlichts verwundet hätte und sein Blut herabtropfte. Er flog über die Wüste, und Katharine sah dort unten Bewegung, neue Wasserläufe, die zur Zeit der Menschen trocken gewesen waren. Städte ihres Volkes lagen dort unten an den neuen Ufern, und sie sah die glimmenden Feuer, und sie war sich unsicher, ob sie in die Vergangenheit oder in die Zukunft blickte. Die Götter hatten Feuer gemacht, als die Menschen kamen. Weil sie in der wirklichen Welt gegen die Menschen kämpften. Die Gabe des Feuers hatten sie früh erhalten, und wie alle Gaben war es unnötig und gefährlich. Und doch sah sie gern, wie die Feuer über die Ebene ausgebreitet waren, und sie roch den Rauch, der zurückgeweht wurde. Sie öffnete ihren Mantel. Auch der Hundemann sagte etwas von Liebe, doch er hatte den Vogel nicht gesehen. Wie sollte er? Sie wandte sich ihm zu und legte die Finger an die
Lippen, damit er still wäre, denn was er sagte, hatte keine Bedeutung. Sie brachte ihn dazu, den Kanister abzusetzen. Er zitterte vor Kälte. Seine Lippen waren von den Zähnen zurückgezogen. Sie legte die Arme um ihn. Weil sie es nicht ertrug, ihn anzusehen, küßte sie ihn und schloß seinen Mund mit Küssen. Sie spürte, daß sie seine Gefährlichkeit wegküssen und in ihm versiegeln konnte, und je mehr sie ihn berührte, um so kälter und steifer wurde er, während rings um ihn die Welt warm wurde. Sie konnte ihn mit ihrer Berührung erstarren lassen und die Gefahr und die Kälte in ihm versiegeln, all die menschliche Kaltheit aus der Welt saugen und in ihn zurückströmen lassen. »Mein Gott«, sagte er, »deine Hände brennen.« Sie ließ ihre Jacke von den Schultern gleiten. Sie standen auf der Straße nach Drywater und blickten über die sich verändernde Landschaft: die Berge, die emporwuchsen und dann sanken, die Wolken, die sich über ihren Köpfen ballten. Und alles, was falsch gewesen war, der menschliche Geist, der die Welt eingefroren und unveränderlich gemacht hatte, strömte durch ihren Körper in seine kalte Brust. »Ich wußte es«, sagte er. »Ich wußte, daß ich mir deiner sicher sein kann«, und sie strich mit den Händen über seinen Körper und hinab über seine Hose; er war auch dort steif geworden. »Es wird alles gut. Ich weiß es jetzt«, sagte er, und sie beugte sich vor, um ihm den Mund zu versiegeln, so daß die Worte darin blieben. Sie drängte die Worte zurück in seinen Mund, und dann sah sie, wie sich seine Kehle verkrampfte, als er sie hinunterschluckte. Sie waren wie kleine Tabletten, die in ihm explodieren würden; seine Medikamente. »Gott, ist dein Körper warm«, sagte er und sog an ihren Fingern. »Sprich mit mir«, sagte er. »Was fühlst du?« »Das«, sagte sie, und sie hielt sein Glied umfaßt und rieb es, verwundert, daß sie diesem kalten menschlichen Teil jemals
erlaubt hatte, in sie einzudringen. Auch fasziniert von seiner Form und Oberfläche, von seiner kalten Steifheit. Und dieses Zeug in ihm, diese menschliche Schmiere, die seine Achsen sich drehen ließ, sie wollte es noch einmal aus ihm herausziehen, es ihn verschwenden lassen, und was als müßige Faszination begonnen hatte, wurde dringlicher, während er sich ihr zu entziehen versuchte. »Oh, Katie«, sagte er, »dazu ist jetzt nicht die Zeit. Warte, bis wir zu Hause sind.« »Zu Hause?« Sie waren im Lande. Die Felsen und Wasser. Sie ließ ihn los und wischte sich die Finger an ihrem Hemd ab. Dann machte sie kehrt und lief die Straße entlang und ließ ihn den Kanister hinter ihr herschleppen. Sie konnte ihn nicht abhängen. Als sie stehenblieb, war er da. Er legte ihr die Hand auf die Schulter, und sie schüttelte sie ab. »Ist was?« fragte er. »Ich wollte nicht…« Er war der Hundemann, und stehengeblieben war sie, weil sie den anderen von weitem zurückkommen sah, und sie sah die Scheinwerfer des weißen Lieferwagens die Straße entlangkommen. Die Lichtkegel erfaßten sie. Der Wagen bremste und hielt an. Am Steuer saß der Kiyungu-Priester. Er drehte das Fenster herunter. »Steigt ein«, sagte er. Sie wollte nicht. Doch der Hundemann hatte die Hand auf ihrer Schulter. Er schob die Tür auf. »Ich konnte Sie nicht im Stich lassen«, sagte der Priester. »Tut mir leid.« Sie stieg hinten ein, und die Tür schloß sich hinter ihr. Sie legte sich in ihrer klammen Jacke hin, an den Wasserkanister gelehnt, und schloß die Augen. Sie hörte, wie die vordere Tür geöffnet und dann geschlossen wurde. Sie hörte sie reden. Und ebenso, wie die beiden Hunde unter der Hand des Dämons verschmolzen waren, war nun, als sie die Augen öffnete, nur ein Mann da, halb weiß und halb schwarz, halb häßlich und halb schön. Halb stark und halb schwach. Halb picklig und
halb glatt. Er redete und hörte zu, fuhr und ruhte sich aus, redete mit sich selbst: »Ich konnte Sie nicht dort zurücklassen, nicht einmal nach dem, was Sie getan haben.« Schweigen. Dann: »Wir wollen nicht drüber reden.« Dann: »Kehren Sie um.« »Nein, das geht nicht.« »Was meinen Sie? Wir fahren geradewegs zurück nach Shreveport. Wo ist das Radio? Ich fahre nicht weiter. Das ist absurd.« »Nein, das geht nicht, weil in Drywater Ureinwohner sind, wie ich Ihnen gesagt habe. Sie sind überall auf der Straße. Die Bürgerwehr ist durch Ludlow gekommen und hat sie im ganzen Grenzland zurückgedrängt. Das nehme ich an. Ich war noch fünf Meilen entfernt, als ich die Feuer gesehen habe und umkehren mußte. Sie hatten Autos, und Tatsache ist, daß sie höchstens fünfzehn Meilen hinter uns auf dieser Straße sind.« Schweigen. »Darum sind Sie zurückgekommen.« Lachen. »Ja doch. Ich hatte vorher recht gehabt. Morgen kommen wir nach Shackleton, Sie werden sehen.« Schweigen. »Verdammt, ist das kalt.« »Das ist noch gar nichts.« Sie fuhren bergauf. Sie passierten die offene Abzweigung zu den Höhlen. Katharine starrte zum Fenster hinaus. Die Straße überquerte einen Bergsattel und führte dann kurvenreich bergab. »Woher wußten Sie, daß sie es waren?« »Wer?« »Die Ureinwohner. Die Aufrührer. Es hätte die Polizei sein können.« »Halten Sie mich für blöd? Ich habe sie gesehen. Sie hatten ein Feuer angezündet, und sie hatten landwirtschaftliche Geräte von der Garner-Ranch dabei. Einen Traktor, wissen Sie.«
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen glauben soll.« »Scheiß drauf. Glauben Sie mir oder lassen Sie’s. Ja, vielleicht belüge ich Sie; ich habe es schon früher getan. Glauben Sie, da kann man über Pläne entscheiden, und den besten führt man dann aus? Wann haben Sie das je erlebt, oder sonst jemand? Nicht hier. Das ist die Halluzination. Nein, wir irren einfach im Kreise umher und belügen einander, und wir versuchen zu tun, was wir können. Jeder kennt ein kleines Stück von der Wahrheit. So ist es hier immer. So war es von Anfang an. Mist – was ist das?« Er bremste. Katharine saß an den Schlitten gelehnt. Es war ein eigenartiges Gefühl, ihm beim Fahren zuzusehen. Er spähte voraus zu einem Hindernis auf der Straße. Sie sah die Stelle, wo sein kleiner Pferdeschwanz zusammengebunden war, vor seinem weißen Hals, und gleichzeitig blickte sein dunkles Gesicht zu ihr nach hinten. Er langte nach ihr und zeigte mit dem Finger, lächelnd und stirnrunzelnd, doch sie reagierte nicht. Da war etwas in ihrem Geist. Es war wie ein kleines Lied: SCHLAG IHN BRICH IHN MIT ‘NEM STEIN, SONST MIT DEM ROHR Er wandte sich wieder der Windschutzscheibe zu. Katharine suchte den Werkzeugkasten. Er war offen, doch der Hammer war weg. »Da liegt ein Stein auf der Straße«, sagte er. Die Straße war auf einer Länge von vielleicht dreißig Fuß wieder eben geworden, und rechts von ihr lag unter einer kleinen Böschung ein freier Platz. Nackte Leute standen dort zusammengedrängt, und einer trug ein Stück Rohr. Auf der Mitte der Straße lag ein Felsbrocken, und Katharine sah, daß links vielleicht gerade Platz genug war, um ihn zu umfahren. Der Wagen wurde langsamer. »Vorsichtig«, sagte
der Mann, und der Wagen neigte sich die linke Böschung hinab, während er um den Stein herumfuhr. Dann warfen die Ureinwohner Steine, und die Steine schlugen gegen die Seite des Wagens. Ein Fenster bekam einen Sprung, doch das Glas hielt. Dann stand jemand mit dem Rohr auf der Straße, und er zerschlug einen der Scheinwerfer, während der Wagen vorwärtssprang, schneller wurde. Etwas prallte gegen den rechten Kotflügel, und ein Schmerzensschrei ertönte. Dann waren sie vorbei und beschleunigten, während weitere Steine auf das Dach prasselten. »Mein Gott«, sagte der Mann. BRICH IHN BRICH IHN, doch da war kein Stein und kein Rohr. Sie kramte in der Reifenbucht. Ihre Finger schlössen sich um den Schaft eines Schraubenziehers. »Sie sollten lieber wenden«, sagte er. Er hatte die Pistole in der Hand und das Fenster heruntergekurbelt. Doch er fuhr schnell weiter. »Sie sind so ein Arschloch. Mann, ich hätte Sie dortlassen sollen. Denn ich schwöre Ihnen, das ist allen Ernstes Scheiße. Diese Dämonen, Sie kennen sie nicht. Gar nichts kennen Sie, Sie sind nicht von hier. Sie wissen, er ist aus Drywater weggelaufen, und jetzt hat er seine Leute. McElroy hat gesagt, sie ernähren sich von Schmerz. Er war kaum ausgewachsen, und dann ist seine Schwester gestorben. Jetzt läuft er dreißig Meilen wie nichts. Ich habe ihm die Fußfesseln gelöst. Er läuft – er konnte kaum gehen, ich schwör’s. Was denken Sie, was er jetzt tun wird? Sie haben auf ihn geschossen. Sehen Sie.« Abermals bremste er. Katharine setzte sich auf und sah, was er im Lichte des einzigen Schweinwerfers sah: eine Reihe Fußabdrücke im Erdboden, nur die Zehen, wo sie den Boden berührten, jeder Abdruck zehn Fuß vom nächsten entfernt. Sie umklammerte den Schraubenzieher. Doch der Mensch starrte sie an, die Pistole in der Hand. Seine Augen waren vor
Angst aufgerissen. Und noch etwas war in ihnen, das sie mittlerweile erkannte: eine hündische Sturheit.
7j: Auf dem schwarzen Eis Sie fuhren weiter in die Dunkelheit. Wieder führte die Straße bergan, doch sie hatte sich zu einer langen, allmählichen Steigung gestreckt, die sie auf den Eispanzer bringen würde. Zu beiden Seiten wichen die Schlammberge zurück. Nach ein paar Meilen hielt Martin Cohen den Wagen in der Mitte der Straße an. Er zog die Handbremse an und schaltete die Zündung ab. Er nahm seine Taschenlampe und stieg aus, um nach Schäden zu sehen. Er überprüfte den Kotflügel, doch er wies keine Spuren auf. Er schaute auf die Fußabdrücke auf der Straße vor ihnen. Er klopfte gegen die Seitentür und schob sie auf. »Wir wollen hier zum letztenmal Rast machen«, sagte er. »Weiter oben könnte es zu kalt sein, um den Motor abzustellen.« Er zog einen der Zwanzig-Liter-Benzinkanister hervor und begann, den Tank nachzufüllen. »Wir wollen uns was zu essen machen«, sagte er. Er schaute zum Mond hoch. Wolken wirbelten um ihn herum. Wo sie sich befanden, kam für ein paar Minuten ein warmer Lufthauch auf, der dann wieder nachließ oder von einem eiskalten ersetzt wurde. Es war eine Mischung von Temperaturen, wie sie diesen Längengraden in diesen Höhen eigen war. Mit der Zeit würden sie in klarere, ruhigere Luft gelangen. Obwohl sie sogar auf dem Eispanzer gewärtig sein mußten, manchmal von gefährlichen warmen Winden getroffen zu werden.
»Wir müßten den ganzen Weg fahren können«, sagte er. »Harriet hatte die Vorstellung, wir würden in Drywater kämpfen und uns dann auf dieser Straße zurückziehen. Sie dachte, wir könnten die Radiostation in Shackleton erobern. Deshalb hat sie diese Reifen mit Spikes und die ganze Ausrüstung für kaltes Wetter beschafft.« Mayaram hatte die Tür auf seiner Seite geöffnet, saß aber noch immer da und sah das Mädchen an. Ihr Kopf war seitlich zurückgesunken; sie schlief oder war nur halb bei Bewußtsein oder verstellte sich. »Ich bin so müde«, sagte er. »Ja, Sie haben vorher nicht geschlafen. Es geht in Ordnung. Wir fahren noch zehn Meilen oder so, dann sind wir in Sicherheit. Da gibt es eine Stelle, wo wir die Schlafsäcke ausbreiten können und wo ich etwas zu essen machen kann.« Er schloß die Türen und stieg wieder ein. Er fuhr langsam und hielt nach dem Dämon vor ihnen Ausschau. Achtzehn Meilen weiter bog er von der Straße ab. Da lag eine ebene Stelle, ein flaches Stück Fels. Er kochte auf dem Butanbrenner Romanoff-Nudeln, und sie blieben etwa fünf Stunden dort. Das war mehr, als er wollte, und er saß besorgt und irritiert auf dem Fahrersitz und rauchte, während die anderen schliefen. Auf dem Schoß hielt er die Windjacke mit der .22er in der Tasche, obwohl er noch nie mit einer Pistole geschossen hatte. Er saß da und hörte Radio, bis er anfing, sich Sorgen um die Batterien zu machen. Er hörte den Wetterbericht von der Shackleton-Station. Mayaram hatte nichts Nützliches getan. Er saß da, den Kopf des Mädchens im Schoß, und er hatte zwei Portionen Nudeln gegessen. Er hatte versucht, ihr ein paar zu essen zu geben, doch sie hatte sie verweigert. Als er sie mit Gewalt gefüttert hatte, hatte sie sie wieder erbrochen. Später hatte er eine Luftmatratze ausgelegt und war dann mit ihr in ein und denselben Schlafsack gekrochen.
Cohen dachte, daß er sie vielleicht hinten in den Wagen hätten packen und weiterfahren sollen, doch er war sich dessen nicht sicher. Schon der Gedanke, daß sie einander berührten, brachte ihn auf, und er wollte sie nicht stören oder sich einmischen oder sie sehen. Und doch sollten sie nicht so lange bleiben. Er war nicht sicher, was hinter ihnen vorging. In Ludlow waren Soldaten – er hatte die Kurznachrichten gehört. Doch sie waren nicht über die Linie vorgedrungen. Er hatte keine Lust, dem Dämon auf der Straße zu begegnen. Er stieg aus und blieb gegenüber der Seite stehen, wo sie lagen. Er konnte weit zurückschauen. Es gab keine Lichter. Er ging eine halbe Meile zurück und dann eine Viertelmeile voraus und trug dabei die Windjacke wie einen Sack. Mit knackenden Knien hockte er sich nieder, um die Straße zu untersuchen. In dem Maße, wie sie höher kamen, wurden der Lehm und der Sand rarer und durch Felsgeröll ersetzt. Doch ab und zu fand sich noch ein Stück weicheren Bodens, der einen Fußabdruck festhalten konnte. Siedler der Anfangszeit hatten beschrieben, wie Dämonen lange Strecken mit Geschwindigkeiten nahe fünfundzwanzig Meilen pro Stunde liefen. Sie hatten von Hubschraubern aus Jagd auf sie gemacht. Zuerst hatten sie sie in Ruhe gelassen, wenn sie die Trennlinie überquerten, doch als das Band erst einmal zerrissen war, hatten sie sie mit Scheinwerfern bis ins Eis hinauf gejagt. Ihr Puls ging so schnell, die Kälte machte ihnen nichts aus. Martin Cohen lehnte sich auf die Fersen zurück. Er rauchte seine filterlose Zigarette bis auf einen Stummel auf und ließ sie dann neben dem dreizehigen Abdruck fallen. Ah, Gott, dachte er, eine menschliche Vorliebe für Dunkelheit. Er war gerade dabei, den Gummi an seinem Hinterkopf zu lösen, weil er ihn am Haar zog. Doch dann hörte er hinter sich einen Schrei und Rufe. Er stand auf, fingerte nach der Pistole;
als er zurückrannte, hielt er sie in der Hand. Der Schlafsack war voller Bewegung, doch dann tauchte Mayarams Kopf daraus auf. Sein Arm kam hervor. Er hatte etwas in der Hand, ein kurzes Stück Metall, und warf es ins Dunkel. Dann lag der Schlafsack still, und Mayaram kroch heraus. Das Mädchen lag reglos. Er stand über ihr, eine Hand um seine rechte Schulter gekrampft. »Sie hat auf mich eingestochen«, sagte er. »Mit einem Schraubenzieher. Ich habe geschlafen.« »Ich hab’s Ihnen ja gesagt.« Sie standen einfach da und schauten auf sie hinab. Cohen hielt die Pistole in der Hand, steckte sie dann aber weg. »Ich habe geschlafen«, sagte Mayaram und rieb sich die Schulter. »Ich kann es nicht glauben.« Der Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ihres dagegen war völlig leer. Der Rand des Schlafsacks war von ihrem Gesicht gerutscht, und sie starrte mit leerem Blick zum Himmel hinauf. »Mann, ich hab’s Ihnen gesagt. Was haben Sie denn erwartet?« Mayaram antwortete nicht. Er stand da und hielt sich die Schulter, doch er war wohlauf; sein Hemd hatte kaum einen Riß. »Jetzt, wo Sie wach sind«, sagte Cohen, »sollten wir vielleicht zusehen, daß wir weiterkommen.« Die Wolken wirbelten um den Mond. »Vielleicht sollten wir sie im Schlafsack lassen«, sagte er. Mayaram antwortete nicht. Martin Cohen zündete eine Zigarette an. »Hier«, sagte er und schob die Tür auf. Er kramte sein Taschenmesser hervor. Mit der Zigarette zwischen den Zähnen und vom Rauch blinzelnd schnitt er ein drei Fuß langes Stück von der Seilrolle hinter dem Beifahrersitz. »Um sie zu bändigen«, sagte er. »Damit sie sich nicht verletzt.« Er warf die halb aufgerauchte Zigarette fort. Dann kniete er sich hin und zog den Reißverschluß des Schlafsacks
auf, und er spürte, wie die Wärme entwich. Katharine Styreme lag reglos da, und es war ziemlich leicht, ihre Hände an den Gelenken aneinanderzufesseln. Er zog die Ärmel ihres Sweatshirts herab, damit das Seil nicht auf ihrer Haut scheuerte. Mayaram war zu nichts zu gebrauchen. »Sie liebt mich«, sagte er. »Gewiß.« Martin Cohen zog den Schlafsack zu, und zusammen hoben sie sie in den Wagen. »Setzen Sie sich hinten zu ihr«, sagte er. Er schob die Tür zu und kletterte auf den Fahrersitz. Sie fuhren los. »Nein, sie hat es gesagt.« »Was sind Sie doch dämlich.« Er spähte voraus. Die Straße führte geradewegs bergan. Auch mit nur einem Scheinwerfer würde es in Ordnung gehen. Aber nach einer Weile begann er zu reden, nur um sich zu beruhigen. »Er glaubt, daß wir ihn verfolgen. Das ist unser Problem. Er glaubt, wir machen Jagd auf ihn.« »Ich hätte ihn töten sollen.« »Ja, vielleicht. Vielleicht sollten Sie alles töten. Was soll’s.« Und nach einer Weile: »Aber ich glaube, das ist es, was wir tun. Wir töten Götter. Wir machen Jagd auf sie und töten sie. Wie wir Jesus Christus und Geoffrey Kiyungu gejagt haben.« »Sie sind keine Götter«, sagte Mayaram. »Nein? Denken Sie, ein Mensch könnte so weit laufen?« »Nein. Sie hat ihn einmal einen Teufel genannt.« »Ja, kann sein. Aber wenn sie vielleicht Teufel sind, wer kann den Unterschied erkennen, wenn es nur eine Art gibt und sie wirklich ist? Vielleicht können sie an diesem traurigen Ort als Götter gelten. Weil sie sich von sich selbst ernähren, weil sie ihr eigenes Leid verzehren und unseres und es sie stark macht. Jesus Christus war nichts, bis wir ihn zu Tode gemartert haben.«
Von Zeit zu Zeit schaute er in den Rückspiegel. Mayaram saß auf dem Schlitten, die Hand an der Stirn des Mädchens. »Er hat ihnen weh getan«, sagte er. »Haben Sie’s nicht gesehen? Er beherrschte sie durch Schmerz. Ich weiß nicht, was wir unterbrochen haben, aber es war nichts Angenehmes. Die ersten Siedler hatten recht. Wir haben diese Leute befreit.« »Es war eine Geburt«, sagte Martin Cohen. Er schaltete zwischen Fern- und Abblendlicht hin und her. Ein paar hundert Meter weit säumten kleine Felswände die Straße. Dann hörten sie auf, und die eintönigen Felsflächen erstreckten sich in die Ferne. Er warf über den Rückspiegel einen Blick auf das Mädchen. »Natürlich ist sie künstlich gezeugt worden. Im Mercy-Krankenhaus geboren und dann in einem Brutkasten gealtert. Ich erinnere mich an die Anzeige.« Stundenlang fuhren sie weiter. Der Lieferwagen arbeitete sich bergan, eine lange, flache Steigung. Nach einer Weile schaltete er die Heizung an. »Wissen Sie, worum es dabei geht?« fragte Martin Cohen. »Die Menschen treiben es gern auf die Spitze. Die Menschen sehen gern, wie weit sie gehen können. Es wird jetzt kalt. Haben Sie jemals versucht, sich umzubringen?« Lange Zeit Stille. »Nein.« »Dann wissen Sie nicht, wovon ich rede.« Stille. »Ich bin hierher gekommen.« »Ja, dann wissen Sie’s nicht.« Schließlich kamen wieder Felswände, als sie die Berge erreichten. Die Straße war aus dem Felsen gesprengt und gehauen worden, und sie fuhren langsamer. »Ich entschuldige mich«, sagte Martin Cohen. »Ich mußte beweisen, daß Sie mich brauchen. Daß Sie sich mir anvertrauen können.« »Daß Sie sich auf mich verlassen können«, sagte er.
»Daß ich Ihnen von Nutzen sein kann«, fügte er schließlich hinzu. Stille. Und sie krochen Meile um Meile vorwärts. Sie ließen die gerade Steigung hinter sich und gelangten in eine Folge von Serpentinen. Östlich der Straße fiel das Land ins Bodenlose, und auf der anderen Seite ragte eine kupferfarbene Felswand über ihnen auf. Martin Cohen fuhr langsam und hielt Ausschau nach Eis, doch das Straßenbett bestand aus Schlacke und Splitt. Ureinwohner hatten in alter Zeit die Steine für ihre Dämonenherren zertrümmert und kleingehämmert. Doch an manchen Stellen gab es Schneewehen, und Cohen sah aufatmend, daß die Straße geräumt worden war. Die meisten Vorräte wurden nach Shackleton eingeflogen, aber das Personal hielt die Straße sauber, um für Notfälle gewappnet zu sein. Die metallenen Leitplanken sahen neu aus. Sie überquerten eine Folge von Eisspalten. Das alte Mauerwerk war verstärkt und an manchen Stellen durch stählerne Hängebrücken neben den alten Bögen ersetzt worden. Alles war sorgfältig instand gehalten. Cohen war erleichtert, doch ein wenig tat es ihm auch leid, daß die Fahrt so leicht sein sollte, daß sie geradezu bis zur Station durchfahren könnten, daß seine Erfindungsgabe und sein Mut nicht gebraucht wurden. Er wollte Dummköpfen, die es nicht verdienten, Dienste leisten; er wollte sein Leben riskieren. Vor seinem geistigen Auge sah er Erdrutsche und Lawinen und Schneestürme. So war er beinahe erleichtert, als sie auf das Eis kamen und es gefährlich und angsteinflößend fanden. Eine Kettenbrücke spannte sich über einen schwarzen Abgrund, und dann waren sie auf dem Eispanzer. Über viele Meilen am Rande war das Eis rissig und unsicher; sie fuhren über eine Fahrbahn aus Metallplatten, die unter den Spikes klirrten.
Nach den Serpentinen in den Bergen fuhren sie jetzt wieder geradeaus, immer wieder auf Brücken über gefrorene Wasserfälle, schwarze, schmale Klüfte und das Eis durchstoßende Felsen. Im Westen ragten Felsnadeln auf. Doch schließlich traf das unstete Licht des Scheinwerfers nur noch auf Eis. Es war gelb und bröcklig, und an vielen Stellen war es unter der Metallstraße weggesackt. Sie fuhren an Stahlpfeilern vorbei, die nach unten aus dem Blick entschwanden. Der Wagen wurde von plötzlichen Windböen gerüttelt. Und dann hörten sie das Eis: ein Stöhnen und fernes Krachen, denn der Gletscher war hier immer in Bewegung, breitete sich immer aus und verschob sich und schrumpfte. Manchmal lag die Straße auf dem Eis selbst, öfter aber rund ein Dutzend Fuß darüber. Dann, von der geringen Entfernung und dem unzureichenden Licht verwischt, erschien es als ein Streifen wütenden Wassers, gelbe Wellen, die zum Stillstand gekommen und hart geworden waren, in der Zeit verändert, doch nicht in ihrem Wesen. Der Wind trug Geräusche vom Eis heran, die langsame Versionen von Ozeangeräuschen, Ozeanrhythmen zu sein schienen. Und weil die Zeit ihnen langsam vorkam und die gerippte Fahrbahn aus Stahlplatten sich endlos zu erstrecken schien, wirkte die schreckliche Unerbittlichkeit des Ozeans hier betont, so, wie die Bewegung einer Maschine um so unerbittlicher und unaufhaltsamer wirkt, je langsamer sie sich weiterquält. Es war, als würde die Welt härter und als liefe die Maschine in dem Maße immer langsamer, wie das Eis unter ihnen härter wurde, und auch jede Spur von Zufälligkeit im Wind oder in dem langsamen Krachen verlor sich, und alle Geräusche ordneten sich in ein großes Muster ein. Auch das hallende Geklirr der Spikes auf den Metallplatten verlor sich in dem Maße, wie der Wagen langsamer wurde, und das
Geräuschmuster, mit dem die Spikes über die Scharniere zwischen den Platten glitten, trat deutlicher hervor. Das Eis unter ihnen wurde härter. Es änderte auch die Farbe. Der Rand des Eispanzers vermischte sich immer wieder mit einem Gemenge aus Erdboden und Felsbrocken, und das Eis war ein schmutziger Schaum. Sie fuhren über schmutzige Streifen von Weiß und Gelb und Grau und Braun, und nach vielleicht dreißig Meilen schienen auch diese Teil eines Musters zu sein, das langsam dunkler wurde, indes das Eis härter und reiner und tiefer wurde, das Land darunter absank. Als sie die Lichter der Shackleton-Station erblickten, hoch oben auf dem Mount Erebus, zwanzig Meilen entfernt, war das schwarze Eis zu ihnen herausgekommen, und die Fahrbahn lag darauf, nun mit massiven Nieten in der Oberfläche des Panzers verankert. »Sehen Sie«, sagte Martin Cohen. Der Mond stand jetzt tief hinter ihnen. Die Sterne schienen hell und verhängnisvoll durchs Seitenfenster. Das Eis, jetzt vollkommen flach, erstreckte sich nach allen Seiten. Vor ihnen war die Fahrbahn unterbrochen worden.
7k: Die Grube Simon war bei Katharine hinten im Wagen und wischte ihr von Zeit zu Zeit den Schweiß aus den Augen. Von Zeit zu Zeit überprüfte er den Strick um ihre Handgelenke, um zu sehen, ob er ihr weh tat. Sie lag da und schlief, die Augen halb geschlossen. Ein Teil von ihm war bei ihr. Ein anderer Teil war oben in dem Zimmer in Goldstone Lodge. Er sah Natasha Goldstone, von der Taille abwärts nackt, am Fenster stehen. Als die Tür aufging, drehte sie sich um, das Gesicht verzerrt – nein. Der
Lieferwagen hielt an, und unter seiner Hand lag Katharine. Er konnte sie nicht anschauen. Er ließ sie im Schlafsack und kletterte nach vorn. Vor ihnen war eine Lücke in der Fahrbahn. Die Verbindungen waren zerbrochen, die Nieten herausgerissen worden. Eine Lücke von vielleicht siebzig Fuß hatte sich zwischen den Platten aufgetan; eine war zurückgeklappt. Eine war nach links weggerutscht, da alle ihre Verankerungen außer einer zerbrochen waren. Das blanke Eis lag bloß. Es war kein Abdruck darauf, kein sichtbarer Weg. Cohen schaltete den Scheinwerfer aus, ließ den Motor aber laufen. Rechts von ihnen erhob sich ein Berg, ein einfacher schwarzer Umriß gegen einen Himmel von Rot und Purpur. Vor ihnen, über der Wölbung des Eises, waren die Farben sogar noch intensiver: ein wehender Vorhang von Karminrot, mit goldenen Streifen durchsetzt. »Wow«, sagte Cohen über das Dröhnen des Heizers hinweg. Er nahm eine Zigarette aus der Tasche, zündete sie aber nicht an. »Warten Sie, bis wir über diese Wölbung sind, und Sie können den Riß erst richtig sehen.« »Sie waren schon hier?« »Nein.« Auf dem Berggipfel stand eine Funkbake, eine Nadel von roten Punkten, die abwechselnd aufleuchteten. Es gab auch andere Lichter. »Die Shackleton-Station«, sagte Cohen und roch an der nicht angezündeten Zigarette. Während sie hinschauten, kam von der anderen Seite her ein Hubschrauber um den Berg. Ein gelber Suchscheinwerfer stieß von seinem Rumpf herab. Er ging tiefer und geriet dann außer Sicht. Cohen schaltete den Scheinwerfer wieder an. Das Radio lag im Handschuhfach. Er griff danach. Er schaltete es ein und ließ es mit geringer Lautstärke knistern; es kam nichts als Rauschen.
»Na gut«, sagte er, »wir sollten hingehen und es uns anschauen. Ziehen Sie aber den Anzug an. Die Röntgenstrahlung müßte inzwischen ziemlich schlimm sein.« Simon kletterte wieder nach hinten und kramte die Schutzausrüstung hervor. »Das muß Ihrer sein«, sagte er und entfaltete einen grünen Anzug mit einem weißen Kreuz auf der Brust. Cohen lachte. »Nein, der gehört dem Rettungsdienst. Ich hab meinen hier.« Es war schwer, die Anzüge in dem engen und vollgepackten Raum anzuziehen. Als sie sie geschlossen hatten, sahen sie wie Eidechsen oder Insekten oder Schwimmtaucher aus. Vor allem die orangefarbenen Masken mit ihren Atemrosten und Plastikscheiben waren lächerlich und bedrückend. Wenn er Cohen anschaute, fühlte sich Simon absurd, wie in einem Theaterkostüm. Er zog die Windjacke über seinen Anzug, um die Wirkung aufzuheben. Sie stiegen so schnell wie möglich aus dem Lieferwagen, öffneten die Türen so behutsam, als seien es Luftschleusen. Und es war kalt draußen, vielleicht unter minus dreißig Grad Celsius. Jedenfalls erzeugte ihr Atem dicke Dampfwolken. Dicker Rauch quoll aus dem Auspuff des Wagens. Cohen trat aufs Eis hinaus, und Simon folgte ihm. Ihre Stiefel waren wie die Reifen mit Nägeln versehen. Simon war überrascht, daß er sich so sicher fühlte. Das Eis war weich. Die Nägel gruben sich mühelos ein. Er hatte eine Taschenlampe, brauchte sie aber nicht. Nach kurzer Zeit steckte er sie in die Jackentasche zu der Blechschere und der Pistole. Das Eis war rein und schwarz, außer einem Streifen Gelb etwa zwei Drittel der Strecke über die Lücke in der Straße. Es war ein haardünner Riß, doch Flüssigkeit drang daraus hervor. Ein Rinnsal rann davon herab
und verschwand dann rasch, wobei es ein Muster kleiner Rillen im Eis hinterließ. In der Nähe kniete sich Cohen hin, um mit dem Zeigefinger im Handschuh über den dreizehigen Abdruck zu streichen. Dann stand er auf und stampfte mit dem Fuß auf den Riß. »Das ist in Ordnung«, sagte er mit vom Atemgitter verzerrter Stimme. Simon schaute nach Westen. Dort stand ein Feuer am Himmel, und goldene Lichtflammen schlugen zum Zenit empor. Es war, als sei der schwarze Himmel ein Vorhang, den man aufgerissen hatte, auseinandergebrannt, um ein Universum voller Licht bloßzulegen. »Von hier aus können wir gehen.« »Ausgeschlossen. Nicht mit ihr.« Simon stand da, die Hände in den Taschen seiner Windjacke, und schaute auf das Licht. Seine Finger schlossen sich um die Mündung der .22er, und sogar durch den Handschuh hindurch fühlte sie sich kalt an. Er hörte, wie hinter ihm die Wagentür geschlossen wurde. Und dann wandte er sich um. Die Windschutzscheibe war beschlagen, doch noch klar genug, daß er Cohen seine Maske abnehmen sah. Daß er sah, wie er das Fenster herunterkurbelte. »Sagen Sie mir, wenn Sie ein Problem sehen«, rief er, und dann fuhr er aufs Eis, fuhr langsam vorwärts. Simon ging neben der Schiebetür. Dann ertönte ein Krachen, und das Eis begann nachzugeben. Der Lieferwagen sank auf der Fahrerseite bis an die Radkappen ein. Doch Cohen stieg nicht aus. Er gab Gas, ließ die Räder durchdrehen, und dann war alles ringsum ein Bersten, als das Eis brach. Simon riß die Tür auf und zog den Schlafsack mit Katharine darin heraus. Er schleifte ihn übers Eis weg, das rundum wegsackte, das in eine Grube mit dem Lieferwagen am Grunde rutschte; er kletterte die Seite hinauf.
Sie war noch flach, und er kam voran, zerrte dabei den Schlafsack hinter sich her, während der Wagen tiefer einsank. Dann gab es ein riesiges Krachen wie von einer Explosion, und als er zurückschaute, war der Wagen noch tiefer abgesunken. Sie befanden sich am Rande der Grube. Er schleifte den Schlafsack über das schwarze Eis hinauf, wo es gebrochen und hinabgesplittert war. Katharine strampelte in dem Sack; er zog ihn auf das heilgebliebene Eis, ehe er sich umwandte. Das Ende der Fahrbahn sackte ein paar Fuß weit über den Rand der leeren Grube. Er ließ Katharine im Schlafsack liegen und rannte zurück zur Fahrbahn und kletterte darauf an den Rand. »Cohen«, sagte er. Das Eis war jetzt weiß, wo es zu Vielecken zerbrochen war, und Wasser oder eine andere Flüssigkeit sickerte durch den Spalt am Grunde herauf, wo der Wagen versunken war. Er sah eine Ecke seines Daches, einen Teil des Rückfensters, da der Wagen abwärts zeigte, ein Stück vom Auspuffrohr, das Nebel ausstieß, bis der Motor ausging. Katharine war aus dem Sack gekommen. Sie stand auf dem Eis, nur in ihren Halbschuhen und dem Sweatshirt und den Jeans, und hinter ihr war der Himmel aufgesprungen. Wütende Koronen von rotem Licht schlugen aus dem Horizont, und sie stand da und hielt die aneinandergefesselten Hände hoch und wandte ihr Gesicht ins Licht. Es glänzte auf ihren Wangen und ihrer kahlen Kopfhaut. »O mein Gott«, sagte er. Als er zu ihr hinrannte, drehte sie sich um und floh über die Eiswölbung. Er hielt inne, um den Schlafsack zu packen, und dann setzte er ihr nach, doch sie lief schnell. Mit jedem Schritt, den sie zurücklegten, wurde der Horizont heller. Vielleicht hatten Wolken das Ausmaß des Anblicks verdeckt, und jetzt trieben sie beiseite. Sogar mitten in dieser Krise, die vielleicht seinen Tod, Katharines Tod bedeutete, dachte er daran. Er wußte, was er sah. Für ihn war es nicht nur
Licht. Er wußte, daß er ins flammende Herz der Galaxis hinabblickte, in die Zerstörung, die den Strudel umkreiste, in das Schwarze Loch in seiner Mitte. Der Geist ist verräterisch, dachte er sogar in diesem Moment. Es kann nicht erfaßt werden. Während er die Wölbung hinankletterte, wurde hinter ihr immer mehr sichtbar: der Zusammenprall ganzer Sterne, Bruchstücke von Sternen, deren Inneres Millionen Meilen hinter ihnen in langen, blendenden Bögen ausfloß. Blitze von unerträglicher Helligkeit. Die Trümmer des Weltalls hinter ihrem Kopf; sie wandte ihm im Laufen über die Schulter hinweg das Gesicht zu, und in ihren Augen stand solch ein Haß, und solch ein Haß troff aus ihrem Mund, daß er stehenblieb. Er dachte: Ich werde sie nie erreichen. Er dachte: Sie ist von mir getrennt. Er dachte: Ich bin allein. Ich will allein sein. Dann stand dort der Dämon über ihr, weiter oben. Homo coelestis, wie vom Himmel erschienen, und er hatte ihn nicht kommen sehen. Seine Hände waren in einem Muster ausgestreckt, das Simon erkannte: der Zeigefinger gerade, der siebente Finger gebeugt, die Handfläche S-förmig gekrümmt, und dann wiederholte er es wieder und wieder: TÖTE IHN TÖTE IHN.
7l: Katharine (VII) Sie wandte sich um und der Hundemann folgte ihr in seinem grünen Anzug, seinem orangefarbenen Helm, und durch die Sichtscheibe sah sie seine behaarte Schnauze. Sie stand auf dem Eis, und der Sturm toste rings um sie. Es regnete, ein andauernder Regen, der nicht aus Wasser bestand, sondern aus winzigen Teilchen, die auf ihre Haut trommelten und in ihren
Mund fielen. Der Wind zeichnete Muster in den Regen. Er erzeugte rund um sie einen Wirbel und riß ihr die Worte weg, wenn sie schrie. Blitze explodierten an der Sichtplatte vom Helm des Hundemanns und erleuchteten seine Raubtierzähne, seine unerbittlichen Augen. Sie streckte die Hände aus, an den Gelenken zusammengebunden, und zeigte damit zurück auf ihn. Der Sturm und der Wind und der Regen gingen von einem Ort außerhalb ihrer selbst durch sie hindurch; sie wirbelten um ihn und verwirrten ihn. Sie wandte sich den Blitzen zu, die über den Himmel fuhren, die Purpurfeuer in den Wolken entzündeten, und sie sah das Wesen auf dem schwarzen Eis über sich – das Tier, den Dämon, den wechselhaften Teufel, groß wie die ganze Welt mit dem Sturm hinter sich. Er stand aufrecht und nackt und gewaltig da, seine krallenbewehrten Füße, seine hohen Beine wie Säulen, seine enge Taille, seine riesige Brust, die noch vom langen Lauf schwer atmete, sein Puls, der ihm in Hals und Kehle flatterte. Sein hoher Kopf und sein langer Schädel. Sein wechselhaftes Gesicht. Die ausgestreckten Hände, seine Finger, die Muster bildeten und sie wiederholten und den Sturm formten, so daß er durch seine Hände strömte und in sie hinein und wieder aus ihr heraus. Sie spürte, wie die Muster seiner Hände in ihr wuchsen, sie öffneten, als zögen seine Hände selbst etwas aus ihr hervor, als sei da etwas, dem sie Leben verliehen. Sie spürte, wie er etwas aus ihr hervorzog und ihm Gestalt und Kraft gab, so daß sie sich umwenden und dem Hundemann entgegentreten konnte. Es war ein Zorn. Der Dämon brachte ihn zur Welt und gab ihm Gestalt. Doch er kam aus ihr und gehörte ihr allein, eine Wut, die durch ihre verbundenen Hände hinausströmte, die den Hundemann in der Mitte des weißen Kreuzes auf seiner Brust traf, die gegen ihn detonierte und ihn innehalten ließ. Die Wut war neu, formbar und neu, und sie spürte, wie sich ihr Mund weit dehnte, um ihr Ausdruck zu verleihen – einem
fruchtbaren Etwas, das aus ihrem sterilen Körper kam. Der Hundemann stand verwirrt und hilflos da, und sie ging den Eishang zu ihm hinab. Durch die Sichtscheibe sah sie seine wilden Augen. Sie sah, daß er Angst hatte, Angst vor dem neuen Ding, das aus ihr hervorgekommen war. Er zögerte, wich einen Schritt zurück, und dann war sie über ihm, schlug mit den zusammengebundenen Händen auf seinen Kopf ein, trat nach ihm, als er strauchelte und fiel. Er krümmte sich und lag still. Sie stand über ihm und wartete, daß er sich bewegte, doch er tat es nicht. Dann wandte sie ihm den Rücken zu, und die Wut war weg. Sie war im Wirbelwind verschwunden und hatte sie leer und mit weichen Knien zurückgelassen. Sie hockte sich hin und senkte den Kopf. In ihrem Geist sprach der Dämon zu ihr, doch sie hörte es nicht. Der Wind dröhnte um sie und rüttelte an ihrem Gesicht, und der Nieselregen durchnäßte sie und stach sie in die Haut und in die Augen. Sie schloß die Augen. Jetzt flossen die Teilchen durch ihren Körper, ohne sie zu berühren, und der Sturm wurde weicher und ließ nach. Der Wind erstarb. Das Dröhnen in ihren Ohren und in ihrem Kopf erstarb, und abermals war die Welt unter ihr und in ihrer Hand. Doch weil sie gereinigt worden war, weil das Gift aus ihr entleert worden war, war sie nun bereit zu beginnen. Sie war bereit, sich von der Welt ausfüllen und verwandeln zu lassen, so daß sie einen neuen Ort für ihr von der Bürde befreites Ich daraus machen konnte: eine neue Welt, in der all diese Leute und diese Dinge hinter ihr Träume sein würden, Gegenstände in Träumen, Erinnerungen an Alpträume. Sie öffnete die Augen, hielt die Hände hoch. Durch die ausgestreckten Finger sah sie das Wesen auf dem Eis über ihr seinen Atem sammeln, Luft holen, und dann schlug sein heißer Atem über das Eis. Es verwandelte sich, und sie war es, die es verwandelte. Sein Körper verwandelte sich zusehends, und als
sie die Hände bewegte, glitt sie mit ihm durch all die verschiedenen Welten. In jeder war es ein anderer Teil von ihr: der Dämon auf dem schwarzen Berg, und es war fort. Ihr Vater, der an seinem Schreibtisch in Shreveport im Finstern stand und auf dessen Brille sich das Licht vom Computer spiegelte – er war fort. Jonathan Goldstone in der Küche mit seinen tastenden Fingern – er war fort. Die Heilige Theresia in dem Bilderbuch im Ursulinum mit ihrer um den Kopf flammenden Gloriole – sie war fort. Katharine schloß die Augen und öffnete sie, und sie war in der Traumwelt und in der Geisterwelt und in der Totenwelt, und in jeder Welt war das Wesen in anderer Gestalt bei ihr. Es war der Basilisk, das Tier, das im Geist lebt und Gedanken frißt und eine Spur von Tod in den Tunneln des Hirns zurückläßt. Es war das fleischgewordene Wort, und es war ihr Wort, das ihn erschaffen hatte. Es war ihr Ding und ihre Schöpfung. Im Sturm der Abstraktionen war es das flache Licht, das sie auf den Boden warf. Im Meer der Zahlen war es ihre Insel der Eins. Sie schloß die Augen, und das Eis erstreckte sich in die Ferne, und es war Wasser, ein heißes Meer flachen Wassers mit einer in der Mitte aufragenden Steinsäule, an der Spitze zerbrochen. Vögel nisteten dort, süße Vögel mit langen weißen Schwingen, und sie tauchten in die Gischt hinab, und einer von ihnen, der größte und ihrer aller Königin, flog in den Himmel empor, der blauer wurde, je höher sie stieg, immer blauer, als sie die Flügel ausbreitete, und ihr weißer Bauch war schutzlos, und krachend fiel der Schuß. Der Hundemann kauerte am Boden, die Hand um eine Pistole gekrallt. Der Vogel schlug ins Meer. Drei Schüsse ließen Staub von der Steinsäule sprühen, und sie sah in einer Reihe die drei Einschüsse. Sie öffnete die Augen, und der Dämon war da, die Hände an die Brust gepreßt. Und der Sturm war fort, und der Wind jagte nicht durch sie hindurch, dröhnte ihr nicht in den
Ohren, und sie hörte ihn in ihrem Geist, den verwundeten Basilisken voller Schmerzen, der ihre Gedanken erbrach: TÖTE IHN TÖTE IHN. Sie wandte sich hangabwärts. Der Hundemann kam auf sie zu, und wieder schlug sie ihn mit den verbundenen Händen, die Finger zusammengekrampft. Sie schlug ihn auf den Plastikanzug und auf den Helm. Doch diesmal bewirkte es nichts. Jetzt war er unbesiegbar, also wandte sie sich ab und lief wieder das Eis hinauf, stolpernd, mit geschlossenen Augen. Es waren noch Worte in ihrem Geist, doch sie hörte sie nicht, bis sie sich herabbeugte, den Kopf senkte und sich nach innen dem Orte zukehrte, wo Gabe und Geber eins werden, wo der Schöpfer und das Ding und der Benutzer eins werden, wo das Tier auf dem Eishang und sein Anbeter vereint sind, wo jeder dem anderen Ausdruck verleiht. Da sie sich nach innen kehrte, spürte sie ihn in ihrem Körper, die Stimme leise und verletzt, schwer auszumachen, bis sie sich in die Welt der Symbole begab und darüber hinaus an die Grenze zur Welt des Todes selbst: eine flache Mauer bis zum Horizont mit einer Zeile Buchstaben darauf. Und sie torkelte die Wand entlang und glitt mit der Hand über die Oberfläche: ICH IN MEINEM KALTEN RAUM ICH BIN ALLEIN UND HIER BIN ICH AM ENDE DOCH ES GIBT WELTEN UND WELTEN UND WELTEN WO ICH NIE AUFHÖREN WERDE DENN ICH BIN DER STAB DER DIE WOLKEN SCHLÄGT DER KLÖPPEL DER GLOCKE DER TEIL VON DIR DER FÜR IMMER FREI IST. Die letzten Worte waren blaß, undeutlich. Da war ein Loch in der Wand, und sie schlüpfte hindurch. Sie wandte sich um, doch sie fand den Weg nicht mehr. Abermals war sie in der wirklichen Welt, wo es keine Rolle spielte, wer sie war. Sterne flackerten an dem wüsten Horizont, eine Kaskade von Licht. Es war der Strudel, und sie hatte davon in der neunten Klasse gehört. Über ihr auf dem Hang, zu einem Haufen Glieder
zusammengesunken, ein sterbender Himmlischer in seinem dunklen Blut auf dem Eis. Sie hatte den Mantel verloren, und ihr war sehr, sehr kalt.
KAPITEL ACHT
8a: Die Shackleton-Station Sie standen außen vor dem Glas und schauten hinein. Sie lag in einem weißen Bett in einem weißen Raum. Die Infusionsflasche hing über ihrem Kissen, und sie lag zusammengekrümmt auf der Seite, fast im Schlaf. Ihre Hände waren unter ihrer Wange gefaltet, und Simon sah die Spuren am Handgelenk, wo die Fessel eingeschnitten hatte. Dr. LaTanya Watanabe stand neben ihm. Sie war die Leiterin der Station. Dunkel und großgewachsen; sie war fünfzig gewesen, als sie die Heimat verlassen hatte. »Es tut mir leid um Ihren Freund«, sagte sie. »Wir haben das Fahrzeug geborgen, doch wir konnten nichts tun, um ihn zu retten.« Simon antwortete nicht. Er war mit Krücken aus seinem Bett gekommen, nur um durchs Glas hineinzuschauen. »Es war noch Mellarin in ihrem System«, sagte Dr. Watanabe. »Wir haben zwar Anpassungen vorgenommen, aber es ist immer einfacher, wenn man auf einer Grundlage aufbauen kann.« Sie war aus Seattle, also sprachen sie Englisch miteinander. Es war eine Sprache, die sie gut beherrschte, doch mit geringem Wortschatz und einem abgehackten, eigenartigen Akzent. »Sie kommt in Ordnung.« Simon hatte die Hand ans Glas gelegt, und sie berührte ihn am Handgelenk. Er drehte sich zu ihr um, und sie lächelte. »Es kommt in Ordnung«, wiederholte sie. »Aber wir mußten alles neu aufbauen. Ihr Haar wird warten müssen.«
Er nickte, und sie berührte abermals seine Hand. »Ich wollte es Ihnen persönlich zeigen«, sagte sie, »weil ich Ihnen sagen muß, wie beeindruckt ich war, als ich hörte, was Sie getan haben. Ich habe nie von solcher Art Heldentum und Aufopferung gehört. Der Außentrupp hat mir gesagt, als sie Sie gefunden haben, hatten Sie Ihren eigenen Schutzanzug ausgezogen, um ihn ihr zu geben.« Unbeholfen zuckte er die Achseln. Die Glasscheibe war doppelt. Katharines Gesicht war klein und grau. »Wir haben alles eingebüßt, als der Wagen einsank«, sagte er wie zur Erklärung. »Nur der Schlafsack, und ich habe ihn mir um die Schultern gewickelt.« »Ja, sie ist eine glückliche Frau, und Sie haben ihr das Leben gerettet. Unter erheblicher Gefahr, muß ich Ihnen sagen. Sie sind lange der Strahlung ausgesetzt gewesen. Sie hätten besser daran getan, den Anzug anzubehalten und sie in den Schlafsack zu wickeln. Sie ist besser ausgestattet, um das Ultraviolett auszuhalten. Wir liegen hier direkt am Rand der Strahlungszone. Das Loch in der Schicht kann unsere Beobachtungen erleichtern, aber es macht den Aufenthalt draußen hart.« »Ich habe nicht daran gedacht.« »Nein. Ich wollte nur sagen, daß Ihre Hingabe mir Hoffnung gegeben hat. Vor allem, wenn man bedenkt, was sie ist. Es ist fast das erste Mal, seit ich hier bin, daß mir etwas Hoffnung gegeben hat.« Seine eigene Hoffnung war, daß sie bald still sein möge. Einen Augenblick lang dachte er, er könnte ihr den Finger auf den Mund legen, ihr den bandagierten Finger in den Mund hineinstecken, um aufzuhalten, was zu sagen sie im Begriff war. Sie sagte: »Es ist eine neue Hoffnung, daß wir zusammenarbeiten können, jeder von uns. Diese letzte Woche war entmutigend. Ich meine, obwohl es kaum Tote gegeben
hat, obwohl ich gehört habe, daß die Soldaten im Gebiet von Ludlow nicht auf Widerstand gestoßen sind, hatte ich den Mut verloren. Ich dachte, allein schon, daß es geschehen konnte, zeigt einen Mangel an Verständnis und Zusammenarbeit, nach so langer Zeit. Als ich also hörte, daß Sie beide zusammen die Kreatur getötet haben, die all das ausgelöst hatte, war ich erleichtert. Und daß Sie Ihr Leben gewagt haben, um sie zu retten. Es war wichtig für uns alle, aber besonders für mich.« Es gab keine Fenster in der Station, und die weißen Korridore krümmten sich nach beiden Seiten weg. Sie wurden von langen Leuchtstoffröhren erhellt. »Wir lieben uns«, sagte er. Er schob die Krücken unter seine Achseln und schaute zu seinem Fuß hinab. »Ja, ich weiß. Und ich sage, es ist schön und voller Freude. Und so selten. Man hört immer, was für Bestien Männer sind, wissen Sie. Das ist, was man lernt. Es ist schön zu sehen, daß es nicht wahr ist. Ich wünschte nur, ich hätte jemanden wie Sie vor zwanzig Jahren getroffen. Miss Styreme ist eine glückliche Frau. Nein, bitte, ich mache Sie verlegen.« Sie war hübsch und grauhaarig, und sie lächelte ihn an. Auf der anderen Seite der Glasscheiben lag Katharine eingekrümmt zwischen den Kissen ihres weißen Betts. Ihre Augen waren beinahe geschlossen.