Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 708
Colemayns Suche Der Sternentramp in Manam-Turu
von Hans Kneifel
Auf Terra ...
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Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 708
Colemayns Suche Der Sternentramp in Manam-Turu
von Hans Kneifel
Auf Terra schreibt man gerade die Jahreswende 3818/19, als der Arkonide, eben noch dem sicheren Tode nahe, sich nach einer plötzlichen Ortsversetzung in einer unbekannten Umgebung wiederfindet, wo unseren Helden alsbald ebenso gefährliche Abenteuer erwarten wie etwa in der Galaxis Alkordoom, der bisherigen Stätte seines Wirkens. Atlans neue Umgebung, das ist die Galaxis Manam-Turu. Und das Fahrzeug, das dem Arkoniden die Möglichkeit bietet, die fremde Sterneninsel zu bereisen, um die Spur des Erleuchteten, seines alten Gegners, wieder aufzunehmen, ist ein hochwertiges Raumschiff, das Atlan auf den Namen STERNSCHNUPPE tauft. Das Schiff sorgt für manche Überraschung – ebenso wie Chipol, der junge Daila, der zum treuen Gefährten des Arkoniden wird. Inzwischen sind rund drei Monate verstrichen, und der Arkonide und der Daila haben schon so manches Abenteuer zwischen den Sternen und auf fremden Welten bestanden – immer auf der Suche nach der Gefahr, die bereits weite Teile von Manam-Turu zu bedrohen scheint. Während unsere beiden Helden gegenwärtig als Gefangene an Bord der ZYRPH’O’SATH einen Flug ins Ungewisse antreten, blenden wir um und zurück zu einem Geheimnisvollen, der ohne eigenes Zutun ebenfalls an den Schauplatz Manam-Turu versetzt wurde. Wir meinen den Sternentramp – und es geht hier um COLEMAYNS SUCHE…
Die Hauptpersonen des Romans: Colemayn – Der Sternentramp auf der Suche nach Atlan. Zenneck und Cyrga – Zwei junge Pharster werden entführt. Tuffelsyt – Ein Händler der Sensationen. Sculcy – Ein einflußreicher Pharster.
1. Ein Sternentramp kann – scheinbar – getötet, aber nicht vernichtet werden. Überleben ist alles. Ungeschicklichkeit wird nur zweimal verziehen. Mit einer guten Überraschung kann man jemanden ebenso erschlagen wie mit einem Beil – vorausgesetzt, sie gelingt. Colemayns Planetentagebuch. * Zuerst flutete meine Erinnerung zurück. Plötzlich war alles wieder da: Es war wie ein Schock. Ich lebte! Ich erinnerte mich, also existierte zumindest mein Verstand. Der blaue Turm in der Ebene von M’Shosh, die vielen Gefängniszellen, die aussahen wie schillernde Seifenblasen, das plötzliche Ende in Explosionen, Glut und Feuer. Eine unsichtbare Kraft preßte mich gegen die Wand; zwischen Rauch und Flammen tauchte der Arkonide auf. Ich wußte, als der grelle Blitz uns beide blendete, daß er denken mußte, ich wäre tot. Auf jeden Fall verschwand ich mit erschreckender Plötzlichkeit. Die Hitze – ich hatte es deutlich gefühlt – versengte gerade noch mein Haar, die Brauen und wenige Teile der Kleidung. Bläulich-weißes Feuer hüllte mich ein und schmetterte mich hinweg. Wohin? Mein Überlebenspotential war bewußt außerordentlich hoch. Die Gründe hierfür liegen in der Natur der Sache. Ich konnte also damit rechnen, daß ich auch physisch unversehrt war. Alles andere war von zweitrangiger Bedeutung. Ich holte zum erstenmal bewußt tief Atem. Kühle, fast kalte Luft umgab mich. Meine Erfahrung sagte mir, daß ich ungehindert atmen konnte. Die Zusammensetzung war innerhalb tolerierbarer Grenzen. Ich öffnete die Augen: Dunkelheit. Über mir sah ich winzige Lichtpunkte. Es waren Sterne. Als ich mich bewegte, erkannte ich einen kleinen, kraterübersäten Himmelskörper mit roter Albedo. Ein zweiter, blau widerscheinender Mond bewegte sich so schnell, daß ich seinen Weg vor den Sternen mit meinen Augen verfolgen konnte. Ich lebte – wieder. *** Das Wesen, das sich aufstützte und umschaute, lag auf einer Fläche raschelnden Laubes. Es war Nacht; nur im Westen zeichnete sich am Horizont ein heller Streifen ab. Sein oberer Rand war schweflig gelb; eine seltsame Erscheinung. Der Zweibeiner stand auf. Er war zweimal so groß wie die Bewohner dieser Welt. Auf seinem Kopf trug er eine eng anliegende Mütze von gelber Farbe mit einer roten Quaste darauf. Schon allein wegen dieser merkwürdigen Kopfzier paßte der Fremde nicht in die Landschaft. Seine Kleidung, aus unterschiedlichen Fellteilen zusammengesetzt, war noch weniger schützend. Schutz war in diesem Teil des Planeten derart wichtig, daß sich sogar die Evolution der Pflanzen danach ausgerichtet hatte. Der Fremde bewegte seine Gliedmaßen, dehnte die Muskeln und lauschte in die Umgebung hinein – es schien keine Gefahren zu geben. Der Fremde schien sich nicht sonderlich wohl zu fühlen. Ihm war es wohl zu kalt, denn in westlicher Richtung, dorthin, wo sich der helle Streifen abzeichnete, ging ein kalter Luftstrom über den Boden hinweg. Es war so dunkel, daß der Fremde gerade seine weitere Umgebung nur schwach erkennen konnte. Die Silhouette einzelner Bäume zeichnete sich gegen den Nachthimmel ab. Der Fremde spürte, daß die Oberflächenanziehung so war, wie er es brauchte, zumindest konnte er sich normal auf dieser Welt bewegen.
Wieder richtete er den Blick auf den hellen Streifen. Dort mußte nach seiner Erfahrung die Sonne aufgehen. Im Westen? Er verschob die Erörterung dieses Problems auf später. Trotzdem blieb es rätselhaft, warum sich der Grad der Helligkeit nicht veränderte. Der Fremde bückte sich, tastete umher und zog schließlich aus einer der vielen Taschen eines Rucksacks eine Lampe. Der breitgefächerte Lichtstrahl flammte auf. Aus dem Mund des Mannes kam ein langgezogener Fluch. »… kein Wunder, daß es mich friert!« stellte er fest. Alles, was er in der Reichweite des Lichtes sehen konnte, war mit körnigem Schnee, dicken Schichten von Rauhreif oder mit Eis bedeckt. Sein Lagerplatz zeichnete sich, durch die Körperwärme hervorgerufen, deutlich als feuchter und’ dunkler Fleck ab. »Verstehe!« sagte der Fremde. Er hob den Rucksack, nachdem er ihn sorgfältig ebenso kontrolliert hatte wie das Zubehör des Zeltes, und schnallte ihn um. Er zögerte ein wenig, dann hatte er sich entschlossen. Mit weit ausholenden Schritten ging er nach Westen. Nach einiger Zeit hatte er das erste Erlebnis: Die Helligkeit schien zuzunehmen, und der kalte Wind um seine Füße verlor etwas von seiner Schärfe. Trotzdem hielt der Fremde nach einer weiteren halben Stunde an, kramte in seinem Rucksack und zog zwei leichte, fast kniehohe Stiefel hervor. Er massierte seine Zehen. Eine Socke zeigte ein großes Loch. Dann wechselte er die Stiefel gegen die Sandalen, grinste zufrieden und ging, leicht vornübergebeugt, kraftvoll und schnell weiter. Die Helligkeit nahm tatsächlich zu. Natürlich versuchte der Fremde, entlang seines Weges Zeichen von Leben zu entdecken. Noch begriff er nicht ganz, wie er die vielfältigen Spuren zu deuten hatte – und überdies gab es hinter ihm Geräusche, die ihn mehr und mehr beunruhigten: das Knistern gefrorener Gewächse, und das Klirren berstenden Eises. »Reichlich ungastliche -Gegend * hier!« knurrte der Wanderer. Langsam veränderten die einzelnen Punkte der unbekannten Sternbilder ihre Position. Hoch über dem Fremden entstand langsam eine weißliche Wolke in Zirrusform. Ein Mond, der mit der blauen Farbe, verschwand hinter dem östlichen Horizont. Der Rucksack schien den Dahinmarschierenden nicht zu behindern, obwohl er keineswegs leicht wirkte. Während der Fremde durch reifbedeckte Pflanzen watete, einem Busch auswich, der sich beim Näherkommen eines Lebewesens plötzlich schüttelte und lange Ranken nach ihm ausstreckte, arbeitete unaufhörlich sein Verstand. Über den zwingenden Auftrag, der sein Leben und Handeln bestimmte, war er nunmehr höchst geteilter Meinung, wie er sich eingestehen mußte. Dennoch änderte sich für ihn, wenigstens augenblicklich und in der nächsten Zukunft, nichts. Sein erstes Vorhaben: feststellen, wo er war, und eine Transportmöglichkeit suchen. Möglichst ein Raumschiff oder etwas Entsprechendes. Der Sinn hinter diesen Aktionen: Atlan suchen und finden! Er begriff nach einigen oberflächlichen Messungen, daß neue Sterne im – von ihm definierten – Osten aufgingen und andere im Westen verschwanden, also mit dem deutlicher, größer und heller werdenden Lichtstreifen verschmolzen. Das Land, das er durchlief, war fast völlig eben. Scharfzackige Felsen oder Berge zeichneten sich gegen die Helligkeit ab. Er blieb stehen, drehte sich um und schaltete den Handscheinwerfer ein. Im grellen Licht sah er, daß er verfolgt wurde. Hinter ihm bewegten sich weiße Dornen, unterarmlang, die an fahlgelben Ranken saßen. Diese Ranken, versehen mit doppelt kopfgroßen Kugeln aus pflanzlichem Material, waren
eine Spur langsamer, aber sie kamen von drei Seiten und zielten eindeutig auf ihn. Der Lichtkegel schwenkte herum und richtete sich auf einen Teich, noch einen Steinwurf weit entfernt. Das Wasser wurde bewegt. Es zeigte nicht einen erstarrten Spiegel, was eigentlich anzunehmen gewesen wäre. Der Wanderer zuckte die breiten Schultern unter der farbigen Felljacke und ging weiter, auf dieses neue Phänomen zu. »Wo Licht ist, gibt’s Wärme. Vielleicht auch nette Wesen, die mir einen heißen Glühwein anbieten«, murmelte er und setzte sein Tempo herauf. Er traute seiner Umgebung nicht mehr, seitdem er die Dornen gesehen hatte. Als er den Tümpel erreichte, verharrte er wieder für eine Minute oder mehr. Ein Sternentramp wie er kannte sicherlich nicht alle Erscheinungsformen des Lebens auf so vielen Planeten, daß er deren Zahl nicht mehr wußte. Aber vieles kannte und wußte er, und er vergaß selten etwas Wichtiges. Er tauchte seinen Finger in die Flüssigkeit, schmeckte und nickte. »Stark salzig, wie ich dachte. Und Tiere, wie zu erwarten.« Ihm gegenüber hockten bepelzte Tiere, nicht größer als Hasen. Sie tauchten, wie er, ihre Pfoten ins Wasser und leckten sie schmatzend ab. Von ihnen kamen die Bewegungen, die den Wasserspiegel zerrissen. Unzählige andere Spuren, ausnahmslos aus der Richtung der Helligkeit und auch dorthin zurück führend, sagten ihm, daß kleinere und größere Wesen hier den Salzbedarf ihrer Körper stillten. Weiter. Er beschleunigte seine Schritte. Noch war er weder hungrig noch stark durstig. Der Schock, der ihn während der seltsamen Versetzung getroffen hatte, schien seine Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigt zu haben. Aber die Kälte machte ihm trotz der Anstrengung allmählich zu schaffen. Er lief den Hang eines großen, aber niedrigen Hügels hinauf und versuchte, einen Rundblick zu gewinnen. In der Richtung, aus der er gekommen war, sah er im Widerschein jenes Lichtes, das die langgezogene Wolkenschicht traf, eine Landschaft aus Schneedünen, eigenartig dunklen Bäumen oder jedenfalls hohen Gewächsen, aus Buschwerk und jenem kriechenden Gras, durch das er sich bis jetzt fortbewegt hatte. In weiter Ferne versperrte ein Gebirge den Blick, dessen Hänge er im Licht des roten Vollmonds undeutlich erkannte. Und in etlichen Kilometern Entfernung, im Westen, erkannte er auch auf dem Boden eine undeutliche Trennlinie zwischen Hell und Dunkel. Nebel versperrte die Sicht. Eine Wolke sah er, die aus aufsteigendem Dampf entstand und eine zweite, die über einer Art Schneesturm oder Hagelschauer entstand. Die pflanzlichen Verfolger hatten ihre schleichende Bewegung wohl aufgehört. Hatten sie aufgegeben? Noch war der Fremde nicht mißtrauisch; er witterte noch keine Gefahren – zumindest nicht angreifende Tiere oder andere, unmittelbar physische Gefährdungen. In den langen Jahren seiner vielen Wanderungen hatte er einen fast untrüglichen Sinn dafür entwickelt und glaubte sich hinreichend unerschütterlich. Er grinste in sich hinein; die Haut seines Gesichts begann zu schmerzen. Die Sterne? Sie sagten ihm, daß er sich nicht mehr in der Galaxis Alkordoom befand. Darüber gab es in seinen Überlegungen keinen Zweifel. Es war wohl eine weite »Reise« gewesen, sagte er sich. Zu welchem Zweck? Das Wissen, wo er sich befand, half ihm jetzt aber nicht weiter. Andere Überlebensfähigkeiten waren gefragt. Er begriff zunächst schlagartig, daß er sich auf einem Planeten befand, der seiner Sonne stets dieselbe Seite zukehrte. »Ich begreife«, stieß der Wanderer hervor. »Planet mit gebundener Rotation; ein Einseitendreher sozusagen.«
Die Trennlinie zwischen Licht und Dunkel war also der Terminator. Von anderen Welten wußte der Tramp, daß innerhalb enger Grenzen Licht und ewige Dunkelheit verschoben wurden. Das erklärte einige Eigentümlichkeiten des Gebiets, das er gerade durcheilte. Irgendwann würde Sonnenlicht auch auf diese Stelle treffen, und die Dunkelheit verschob sich in die andere Richtung. Er ließ den Hügel hinter sich und stapfte eilends auf die ersten Nebelbänke zu. Er befand sich also in der Terminatorzone. Von rechts hörte er nach weiteren fünfhundert Schritten genau die Art von Geräuschen, die er nicht mochte: eine Gefahr näherte sich. Dröhnende, stampfende Geräusche, vermutlich Tritte eines schweren Wesens. Ein dunkles Trompeten wie von einem verärgerten Elefanten, dazu mindestens zwei Stimmen, die hell und durchdringend schrien. Der Fremde rannte plötzlich. Im Schutz von regungslosen Büschen und einem glänzenden, schmelzenden Eisblock kauerte er sich auf den gefrorenen Boden, öffnete eine Klappe des dunkelgrünen Rucksacks und holte einige Metallteile hervor. Die Handschuhe verhinderten, daß seine Haut an den eiskalten Metallgegenständen kleben blieb. Mit absolut sicheren, aber keineswegs schnellen Bewegungen schraubte er drei Teile zusammen und klinkte einige andere in die richtigen Aussparungen. Als er sich wieder aufrichtete und mit einem knappen Schwung den Rucksack aufnahm und die Tragegurte festhakte, hielt er ein einfaches Gewehr in der Hand. Es war eine simple Waffe, die fast unter allen Umständen funktionierte, und deren Geschosse er nötigenfalls mit einfachen Mitteln selbst herstellen konnte. Um den Mund des Hakennasigen lag ein grimmiges Lächeln. Das Stampfen und das Geschrei kamen näher. Das Wesen näherte sich aus Nordwest. Es tauchte plötzlich aus dem Nebel auf. Größer als drei Männer, breitgebaut, wuchtig und fast weiß. Ein runder Kopf mit zwei geraden, breitschaufligen Stoßzähnen und einer Menge langer Tentakel, die zwei heftig zappelnde und kreischende Wesen, halb so groß wie der Fremde, festklammerten. »Sieht gefährlich aus, das Bürschchen!« knurrte der Mann, hob die Waffe an die Schulter und wartete. Das Riesentier hatte zwei Beutestücke in den verknoteten Tentakeln, und die Beute wehrte sich. Der Wanderer sah schärfer hin, das Tier schien ihn noch nicht bemerkt zu haben. Als der Fremde erkannte, daß die Beute keinesfalls Tiere waren, bewegte er den Lauf der Waffe, so daß sie dem Schädel des Riesentiers folgte. Ein Schuß löste sich mit einem donnernden Krach, einem armlangen Blitz und einer Wolke stechenden Rauches. Der Tiergigant reagierte anders, als der Fremde erwartet hatte. Mit einem trockenen Knacken glitt ein neues Geschoß in die Kammer. Die heiße Hülse flog zischend ins Eis. Das Tier stemmte seine sechs Beine in den Boden und schlitterte meterweit geradeaus. Eine Wolke Eiskristalle, zu Nebel zerstäubt, flog auf. Die Tentakel peitschten wild umher, die beiden Gefangenen befreiten sich und entwickelten dabei verblüffend große Kräfte. Das Geschoß hatte eine tiefe Streifwunde in den runden, pelzbedeckten Schädel gezogen. Dunkles Blut trat aus. Während der erste der Freigekommenen zu Boden fiel, wieder hochsprang und auf drei Beinen hinkend die Tentakelenden ergriff und daran zerrte, senkte das Tier den Kopf. Die schaufelartigen Schneiden der Stoßzähne schnitten in den Boden, warfen ihn auf, und das Raubtier schrie donnernd auf, wie ein gigantischer Löwe. Kleine Augen, unter eisverkrusteten Fellbündeln fast versteckt, suchten nach dem Feind. Die Tentakel verknoteten sich förmlich, während sich der Riese zu drehen begann. Die Ohren schoben sich aus dem Fell heraus und wurden, während sie sich in verschiedene Richtungen drehten, größer und durchscheinend.
Jetzt gelang es auch dem anderen Gefangenen, sich vollends zu befreien. Der Fremde sah, daß ihre Köpfe blutig waren, auch die Tentakel waren an vielen Stellen von den scharfen Zähnen verwundet. Eines der schlangenähnlichen Fangwerkzeuge baumelte hin und her. Offensichtlich waren Nervenstränge durchtrennt. Die Wesen sahen ihn und rannten taumelnd, hinkend und eine Doppelspur von Blutstropfen hinterlassend, auf ihn zu. Zwei Dinge hatten ihm gezeigt, daß es sich nicht um Jäger und gejagtes Wild handelte. Die breiten Riemen, die sich über einem grünlichen, langzottigen Fell kreuzten, dazu metallene Reifen um die vier Beine. Und in dem grellen Geschrei hatte der Wanderer mindestens drei Worte gehört und verstanden. Vielleicht hatte er sie falsch interpretiert, aber sie bedeuteten etwas. Also handelte es sich bei der Beute eindeutig um intelligente Wesen. Er winkte mit beiden Armen. Die vierbeinigen Pelzwesen hielten sich an den Händen aneinander fest. Der Fremde bemerkte erstaunt, daß sich ihre kurzen Arme zu dehnen schienen, und zwar auf das Zweifache ihrer ursprünglichen Länge. Die Körper waren gedrungen, fast so breit wie groß. Trotz der Verletzungen bewegten sie sich kraftvoll und schnell. »Hierher!« schrie der Fremde. Sie kamen auf ihn zu und schnatterten schrill. Das Riesentier hatte eine neue Beute erkannt. Es riß den Schädel hoch. Die Tentakel rollten sich zusammen, ein riesiger Rachen mit mehreren Reihen Zähnen öffnete sich. Die Schaufeln wirbelten Eis und schwarzes Erdreich hoch. Beide Vorderbeine hoben sich, und riesige Krallen erschienen. Dann stürmte das Tier trompetend los. Der Fremde hatte überlegt, wie ein tödlicher Schuß anzubringen wäre. Die Waffe dröhnte auf. Das Geschoß bohrte sich zwischen den Augen in den Schädel, der Gigant zuckte zusammen, schüttelte sein mächtiges Vorderteil und donnerte noch fünfzehn Schritt weiter. Der Wanderer brachte sich mit einem weiten Satz in Sicherheit, strauchelte und fiel mit dem Rücken in einen Strauch. Das Raubtier brach drei Schritte später zusammen. Als der Körper aufschlug, flogen splitternde Eistrümmer nach allen Seiten. Der Mann rappelte sich auf, klopfte Schneekristalle von der Pelzkleidung und lief den beiden Wesen nach, von denen er annahm, es wären Bewohner der warmen Hemisphäre dieser Welt. Sie versuchten, ohne Umwege und geradeaus durch die Nebelschwaden, die Zone der Helligkeit zu erreichen. Als der Schütze hinter ihnen her rannte, sah er mehr als deutlich die Spur der Blutstropfen. »He! Wartet! Ich helfe euch!« rief er und tauchte in den Dunst ein. Nach einem schnellen Spurt fiel er fast über die beiden Bewohner der Warmzone. Jetzt erst wurde ihm bewußt, daß sie nicht mehr weit vom Licht und der Wärme entfernt waren. Er sah fast jede Einzelheit scharf und genau. Die Wesen waren etwa sechzig Zentimeter groß. Ihr dichter Pelz mit auffallend langem Haar war von olivgrüner Farbe. Um ihre Köpfe lagen breite Bänder, an denen über den großen schwarzen Augen Ringe befestigt waren, die eine dünne, transparente Haut als Bespannung trugen. Der Fremde kauerte sich neben die beiden in das halb nasse, halb reifüberzogene Gras, deutete auf sich und sagte langsam: »Ich bin Colemayn.« Eines der Wesen blutete aus einer weit klaffenden, schnittartigen Armoder Schulterwunde. Der Unterschied war wegen des Pelzes nicht genau zu erkennen. »Zenneck«, meinte eines der Wesen mit durchdringender Stimme. Das andere stieß Klagelaute aus
und rief: »Cyrga.« Colemayn holte ein Päckchen hervor, schüttelte eine Flasche und sprühte ein schmerzstillendes, desinfizierendes Mittel auf den Schnitt, dann wickelte er mit einigen Schwierigkeiten eine breite Binde um Schulter und Arm. In den Gesichtern mit den dreieckigen Mündern war der Pelz Weicher, kurzhaariger und dünner. Zenneck stand auf und winkelte ein Hinterbein ab. Er deutete mit hornbedeckten Schuppenfingern und dreieckigen Krallen auf das fellbedeckte Gelenk. »Zenneck«, sagte er und setzte zwei, drei unverständliche, aber klar ausgesprochene Worte hinzu. Er zeigte nach Westen. Gestenreich und mit wenigen Worten bedeutete Colemayn ihnen, daß er ihnen helfen würde. Sie schienen zufrieden zu sein, als er die Waffe über den Rücken hängte, ihre Hände ergriff und die Kleinen mit sich zog. »Keine schwierige Sprache, Zenneck und Cyrga«, sagte er und versuchte, während sie durch den Nebel stapften und humpelten, Teile der Sprache zu analysieren und zu verstehen. Mit Alkordisch hatte das, was er hörte, bestenfalls entfernte Ähnlichkeit. Chernogg, das war die Eisbestie gewesen. Dieses Tier konnte hur kurze Zeit im Licht und in der Wärme bleiben. Es hatte die beiden überfallen und entführt, um sie in Ruhe fressen zu können – in der gewohnten, kalten Umgebung. Sie nannten sich Pharster. »Der Planet ist Pharst!« Sie bejahten. Trotz ihrer geringen Größe und des possierlichen Aussehens waren ihre Körper massig und schwer. Colemayn hatte alle Mühe, sie mit sich zu ziehen. Aber jetzt wurde es von Schritt zu Schritt wärmer und heller. Die Pharster zogen die Hautbrillen über ihre Augen und sahen aus wie seltsame Fellwesen mit riesigen Taucherbrillen. Nach einer mühsamen Wanderung durch zunehmend nasseres, wärmeres und sumpfigeres Gebiet kamen sie, schätzungsweise nach Stunden, in den Bereich der wirklichen Sonnenstrahlung. Das Gestirn – Vogenmuker genannt – stand in einem tiefblauen Himmel, halb aus dem Horizont aufgetaucht. »Dort!« schrillte Zenneck und zeigte mit dem linken Arm, der sich um fast das Zweifache verlängerte, nach rechts. Direkt vor ihnen verlief die tief eingedrückte Spur des Chernogg. Colemayn bog ab und zog die Pharster mit sich. Sie befanden sich in der ewigen Abendzone von Pharst. Binnen einer Strecke von zweihundert Metern änderten sich Vegetation und Aussehen der Landschaft abrupt und völlig. »Häuser. Stadt. Eltern«, verstand Colemayn. Ein Pfad, der später in einen gepflasterten, von Gras durchwucherten Weg überging, wand sich zwischen hohen Gräsern, einem Ackerrand und Bäumen hindurch, die größer wurden und schließlich Früchte trugen. »Das wird auch Zeit, daß ich endlich in eine zivilisierte Gegend komme«, sagte Colemayn zufrieden. Der Acker, an dessen Ecke sie vorbeigekommen waren, erstreckte sich kilometerweit nach allen Seiten, füllte kleine, abgeflachte Täler aus und zog sich über Hügel hinweg. Gebäude tauchten auf. Die Pharster ließen Colemayns Hände los, und er zog die Handschuhe aus. Die Bauten waren mehrstöckig, sanft gerundet und ließen deutlich erkennen, daß sie einer fortgeschrittenen Technologie entstammten. »Ich hoffe, eure Leute bedanken sich gebührend, daß ich euch gerettet habe.« »Wir jung. Eltern«, glaubte er zu verstehen. Um so besser, dachte er sich. Vielleicht hatte er noch ein wenig mehr Glück, und die Pharster besaßen in der Nähe einen gutausgebauten Raumhafen mit viel Schiffsverkehr. Allerdings deutete nichts darauf hin.
Die Kleinen rissen sich los und rannten auf das dritte Haus in der Reihe zu. Die Bauwerke lagen im langen Schatten großer Bäume, die fast scheibenförmige Kronen hatten. Ruhig und voller Neugierde folgte Colemayn den beiden Pharstern. »Höchst unpraktisch«, brummte er, »daß ich die Sprache noch nicht beherrsche.« Aus allen Richtungen kamen Pharster aus den Häusern und hasteten auf das Haus von Zenneck und Cyrga zu. Wolken trieben in rascher Folge über den tiefblauen Himmel und auf die Dunkelhälfte zu. Colemayn setzte sich auf einen steinernen Sockel, der viel zu niedrig war, und nahm sorgfältig die Waffe auseinander. Er verpackte sie wieder in den ölgetränkten Lappen und schob dieses Bündel in eine wasserdichte Rolle. Dann richtete er den beruhigenden Blick seiner treuen braunen Augen auf die näherkommenden Pharster. »Überschäumende Dankbarkeit scheint nicht gerade ihr hervorstechender Charakterzug zu sein«, brummte er und suchte in seinem Rucksack. Tatsächlich fand er einige Brocken Eßbares und zwei Schluck schales Erfrischungsgetränk. Minuten später war er von mindestens dreißig Pharstern umstanden. Sie alle trugen jene seltsamen Hautbrillen. Die Folie war braun eingefärbt; also waren die Planetarier helligkeitsempfindlich, sogar hier, in der Abendzone. Einige trugen Waffen. Aus dem Elternhaus von Cyrga (weiblich?) und Zenneck (ihr »Bruder?«) kamen ebenfalls Bewaffnete und bahnten sich aufgeregt einen Weg. Colemayn verstand nicht viel, aber was er verstand, freute ihn nicht. »Diese kleinen Teufel«, sagte er und stand auf. Schweiß glänzte auf der dunkelroten Haut und auf der scharfgekrümmten Hakennase. »Sie haben mich bei Papa und Mama angeschwärzt!« Langsam sagte er in der fremden Sprache: »Eure Kinder. Eisbestie, ich getötet. Sonst Kinder tot.« Aus der Antwort konnte er heraushören, daß Zenneck und Cyrga eine ganz andere Darstellung gegeben hatten. Zwei Pharster sprangen vor und packten den Rucksack. An der Schnelligkeit und Leichtigkeit der Bewegungen sah der Sternentramp, daß die Vierfüßigen über große Körperkraft verfügten – jetzt hatte er endgültig Gewißheit. Abwehrend hob er die Arme. »Nein. Ich brauche Hilfe. Ihr kennen Mann wie ich? Atlan Name?« »Du. Gefängnis. Du Schuld an Wunde.« Gefängnis also. Besser als ein Kampf, den er verloren hätte. Voller Melancholie bemerkte er zu sich selbst: »Höhenflüge und tiefste Depressionen kennzeichnen den Lebensweg eines Weltenwanderers. Im Moment habe ich wohl schlechte Karten. Sei’s drum.« Er folgte den Pharstern, die ihn durch die halbe Siedlung schoben und in eines der letzten Häuser brachten, die sich am Rand der breiten, weißen Straße befanden. Er fragte noch einmal nach Atlan, wiederholte die Frage mit anderen Worten. Er bekam keine Antwort. Entweder wußten die Pharster wirklich nichts, oder sie ließen ihn bewußt im Zweifel. Im zweiten »Stockwerk« des offensichtlich leerstehenden Hauses gab es einen Raum, der groß genug für seine Bedürfnisse war. Colemayn versuchte, die technischen Möglichkeiten und die Höhe der pharstischen Zivilisation abzuschätzen, und unaufhörlich wanderten seine Blicke umher. Hinter ihm wurden Türen verschlossen. Er war ein Gefangener und beschloß, es freiwillig zumindest eine Weile zu bleiben. Um das Haus und vor einigen Türen stellten sich die Olivgrünen als Wachen auf. »Sehen wir uns erst einmal gründlich um«, meinte Colemayn und fing an, sein provisorisches Gefängnis überaus gründlich zu untersuchen. Es war eine vorzüglich eingerichtete Wohnung – für Pharster.
»Das ist erst der Anfang der Schwierigkeiten!« sagte Colemayn knapp.
2. Es gibt kein untätiges Warten. Zeit ist kostbar; jede Stunde hat ihre spezielle Verwendbarkeit. Ehe zu handeln begonnen werden kann, müssen alle Möglichkeiten gründlich erforscht werden. Können ist Macht. Colemayns Planetentagebuch. *** Natürlich war meine Ruhe teilweise vorgetäuscht. Ich hatte wenig Illusionen, Atlan schnell finden zu können. Versuchen würde ich es trotzdem mit der gleichen ruhigen Ausschließlichkeit, mit der ich alle meine Aktionen betrieb. Ich schaltete ein Trivideogerät ein und versuchte, mehr von der Sprache zu lernen. Gleichzeitig benutzte ich die Einrichtungen der leeren Wohnung und hatte lediglich die gewohnten Schwierigkeiten: alles war zu klein, für bepelzte Vierbeiner eingerichtet und für siebenfingrige Klauenhände. Ich fand eine herrenlose Hautbrille und – augenscheinlich – ein Putzmittel, mit dem ich meine Stiefel reinigte. Als zufällig ein Teil des Sprühnebels die Folie der Brille traf, löste sich die Haut fast blitzschnell auf. Ich besaß zumindest eine unerwartet wirkungsvolle Waffe. Ich unterzog meinen Körper einer intensiven Reinigung und Prüfung. Die seltsame Versetzung aus Alkordoom hierher hatte keine spürbaren Schäden hinterlassen. Meine Ausrüstung hatten die Pharster. Sie würden weder mit den Gewürzen noch mit dem übrigen Kram etwas anfangen können. Aus einer Nachrichtensendung erfuhr ich mehr über Pharst, als ich in vielen Tagen auf eigene Faust hätte herausfinden können. Nald-Pharst hieß wohl eine Stadt in der Nähe. Sie besaß einen Raumhafen. Der Planet und sein System lagen in der Galaxis Manam-Turu. Das alles sagte mir nicht viel. Ich untersuchte Küchenfächer und Kühlschränke nach Essen, das meinen nicht geringen Ansprüchen genügte. Verdammt! Wo konnte ich etwas über Atlan erfahren? *** Colemayn suchte in allen Räumen lose Polster zusammen, fand einige Decken und öffnete einige der kleinen Fenster. Sie waren nicht groß genug, als daß er sich hätte hindurchzwängen können. Er hatte gut und reichlich gegessen und eine bräunliche Flüssigkeit gefunden, die wie Wein schmeckte und dieselbe Wirkung zeigte. Der »Sprung« hatte ihn also in eine andere Galaxis gebracht. Es war denkbar, nach den bisherigen Erlebnissen sogar wahrscheinlich, daß der Arkonide ebenfalls in Manam-Turu gestrandet war. Sicher hatte er sich in der wahren Natur der Pharster getäuscht. Die geretteten Kleinen waren nicht dankbar, die Eltern keineswegs erleichtert, und der Rest der Siedlung ließ nur wenig Fähigkeiten zu anspruchsvoller Gastfreundschaft erkennen. »Der Tag ist nahe«, sagte der Sternentramp, der sich sauber und entspannt fühlte, »an dem ich ihnen ernsthafte Vorhaltungen machen werde.« Er unterhielt sich mit den Posten. Sie antworteten knapp, aber bereitwillig. Ständig lernte er mehr. Den Klang der pharstischen Sprache beherrschte er schon fast perfekt. Er ahnte große Schwierigkeiten, die überall auf ihn lauerten – in der Menge konnte er sich schwerlich verbergen. Er mußte sich zuerst zurechtfinden, dann flüchten und schnellstens den Raumhafen der Stadt erreichen. Immer wieder versuchte er zu verstehen, was der Bildschirm zeigte. Die Schrift konnte er nicht lesen, aber er sah eine eingeblendete Zeitangabe und schätzte, daß er etwa einen halben Tag irgendeiner vernünftigen Norm auf Pharst verbracht hatte. Dann schlief er ein, schnarchte laut und war ausgeschlafen, als er etwa zehn Stunden später wieder aufwachte.
Es wurde Zeit, zu handeln. Offensichtlich herrschte inzwischen »Nacht«, also die Zeit verminderter Aktivitäten. Der Himmel war wolkenverhangen. Colemayn roch feuchte Pflanzen; es hatte geregnet. Unsichtbar donnerte ein Raumschiff durch die Wolken. Auf einer der schrägen Rampen, die hier Treppenstufen ersetzten, trappelten die Schritte eines einzelnen Pharsters. »Besuch? Fabelhaft. Sicher wird er mir allerlei vorlügen!« brummte Colemayn und setzte sich auf. Er lehnte sich mit seinem gekrümmten Rücken gegen die Wand und wartete, die Sprühflasche in erreichbarer Nähe. Die Schlösser an den Türen klickten und summten. Vorsichtig steckte ein Pharster seinen bebrillten Kopf herein. Als er Colemayn ruhig dasitzen sah, schlüpfte er in den Raum hinein, blieb aber an der fast quadratischen Tür stehen. »Willkommen!« sagte Colemayn. Er wußte, wann seine Stimme überzeugend klang. »Bringst du Gastgeschenke?« »Ich bin Mutterbruder von Cyrga und Zenneck. Tuffelsyt.« »Angenehm. Colemayn.« Der Pharster wiederholte den Namen. Es klang wie »Kileimeinn.« »Auch recht. Zuhören. Ich suche. Mann-Wesen wie ich. Weißes Haar, so lang. Name: Atlan. Gesehen von ihm? Gehört über ihn?« »Schon gehört. In Stadt, vielleicht.« »Mancher erlebt tiefe Freude erst dann, wenn er schon dicht vor der Aufgabe war«, murmelte der Weltentramp und fuhr fort: »Ehrlich? Großer Schwur? Du hast von Atlan gehört?« »In Nald-Pharst. Dort andere Wesen. Wie du, auch anders. Raumhafen. Du verstehn, ja?« »Leidlich. Wirklich? Atlan?« »Ich gehört. Du immer fragen. Ich dich bringen, nein?« Colemayns Mißtrauen war tief verwurzelt und erhielt hier und jetzt neue Nahrung. Die Chancen standen wahrscheinlich schlecht, daß dieser Tuffelsyt tatsächlich die Wahrheit sprach. Aber wenn er ihn wenigstens zum Raumhafen brachte, war schon viel gewonnen. Aber… trotzdem… vielleicht sagte er doch die Wahrheit? »Du mich bringen nach Nald?« »Ja. Was du mir geben? Du nicht sonderlich reich, Kileimeinn, ja?« »Kommt darauf an. Was willst du? Was brauchst du? Ihr habt meinen Besitz konfisziert, ihr Schelme. Bringt ihn mir, und ich zeige dir ein paar nette Sachen.« Er bekam mit jedem weiteren Satz den deutlicheren Eindruck, man wollte ihn als Handelsobjekt benutzen oder irgendwie verwenden, um Vorteile herauszuschinden. Die Pharster waren also gerissene Geschäftsleute. Sein Gegenüber war deutlich älter und größer als Zenneck und Cyrga. An den Schultern und den anderen Gelenken war der olivgrüne Pelz fast schwarz. Die Hautbrille war größer als die der Kinder. Die Stimme Tuffelsyts klang weniger grell. Colemayn hatte längst entdeckt, daß der Onkel der Kinder am Arm ein Kommunikationsgerät trug, das dem Standard raumfahrender Völker entsprach. Nach einer Pause sagte Tuffelsyt: »Du willst fliehen?«
»Natürlich. Nicht ohne meinen Rucksack – ich meine: du mir bringen mein Besitztum, ja?« »Wenn fliehen, dann schwierig. Extrapreis.« »Was, beim Unvermögen der Facetten, willst du haben für deine Hilfe? Geld? Macht? Einen Mond?« »Ich mit dir kommen. Wir zusammen fliegen und handeln. Ich Mehrheit, du machen… wie sagen? Kontakte mit Fremden, Kileimeinn!« Colemayn nickte bedächtig und versuchte, in dem Gesicht des anderen etwas zu erkennen. Es war schwer, weise und gelassen zu bleiben. Zu Tuffelsyt sagte er: »Die feine Art, sich Freunde zu machen, beherrschst du meisterlich! Ich dir alles geben, was ich haben, klar? Du mich bald bringen zu Atlan. Vorher besorgen mein Gepäck!« Der Evroner Colemayn hätte auch jedem anderen als Tuffelsyt praktisch alles versprochen, um Informationen über Atlan zu bekommen. Er war sogar gewillt, diese Versprechungen so gut wie irgend möglich zu halten. Da es seine Überzeugung war, immer einmal wieder denselben Planeten zu besuchen und dort mit denen, die er als Freunde fand, zu sprechen, gestattete er sich keine andere Ansicht der Dinge und der Wesen. Dies galt auch für Pharst. Jedenfalls wirkten weder seine geduldige Art noch seine Überzeugungskraft auf die Pharster. Er mußte die Sprache noch besser lernen und anwenden, das war die erste Voraussetzung. »Gepäck ist schwierig. Ich muß dafür einen Einbruch wagen«, sagte der Onkel. »Wo ist das Gepäck?« »Im Haus der Sippe. Immer voller Verwandter. Schauerlich. Man ist niemals allein.« »Dein Grimm ist verständlich. Mir ginge es ebenso. Mitunter ist Verwandtschaft höchst problematisch. Ich erinnere mich da plötzlich an eine Familie, die ich auf Tharm kennenlernen mußte. Es waren vierzig Kinder, etliche… ich glaube, das gehört nicht hierher.« Tuffelsyt blieb völlig unbeeindruckt. »Flucht ohne Gepäck: sofort bald«, erklärte er. »Später, wenn mächtig und alles klar, Gepäck holen schwierigkeitsarm.« »Es genügt, wenn ich sprachschöpferisch tätig werde«, murmelte der Sternentramp. »Wann?« Tuffelsyt zeigte auf den Bildschirm, der desaktiviert war seit dem Einschlafen Colemayns. »Schalte ein. In zwei…«, es folgte ein unbekanntes Wort, zweifellos eine Zeitangabe, »…sind Nachrichten, Neuigkeiten, verstehst du? Dann komme ich.« »Und du bringst uns zum Raumhafen?« »Erst dorthin, wo Fremde sind. Wie du. Bestes Versteck.« »Einverstanden. Ich werde bereit sein.« Der Pharster, nicht größer als ein Meter, spreizte in Andeutung eines Grußes seine Krallenklauen und verschloß die Tür sorgfältig hinter sich. Colemayn zuckte die Schultern und schaltete den Bildschirm ein. Zennecks Onkel war zweifelsfrei ein Bursche von begnadeter Skrupellosigkeit. Wenn er ebenso geschickt wie geldgierig war, mußte die Flucht ohne Probleme glücken. Daß er seine Ausrüstung zurücklassen mußte, ärgerte den Tramp. Es war nicht zu ändern. Colemayn schaute aus den Fenstern, sprach mit den Wachen und sagte sich, daß die Pharster von der Sonne geprägt waren. Ununterbrochene Helligkeit war ebenso ungewöhnlich und belastend wie ewiges Dunkel. Da die Pharster ausnahmslos ihre Hautbrillen mit größter Sorgfalt behandelten, waren ihre großen Augen in hohem Maß lichtempfindlich. Ohne Brille dürften sie entsprechend hilflos sein.
»Es ist immer gut, den anderen genau zu kennen«, sagte er sich. »Selbst, wenn es sich um gierige Pragmatiker handelt.« Er wartete. Geduld gehörte zu seiner Grundeinstellung. Die Frist, von der Tuffelsyt gesprochen hatte, betrug rund zwei Stunden. Langsam machte sich Colemayn fertig. *** Colemayn bückte sich und streckte den Kopf durchs Fenster. Auf einigen. Feldern sah er riesige Robotmaschinen arbeiten. Ein Gleiter jagte in einigen hundert Metern Entfernung vorbei. Vor dem Haus gingen zwei Posten hin und her. Sie trugen an breiten Gurten, die um ihre Oberschenkel und um den gedrungenen Körper lagen, schwarze Strahlerwaffen mit Griffen für ihre dünnen Hornfinger. Einer richtete die dunklen Augen hinter der großen Brille auf ihn und rief: »Langweilig? Bald wird sich das ändern.« »Wie meinst du das, mein Freund?« fragte Colemayn zurück. Er verbarg seine Überraschung. »Die Zukunft ist völlig unberechenbar.« »Man wird einen guten Gegenwert für dich kriegen. Groß und kräftig. Und du wirkst, als könntest du einiges.« Sie wollten ihn also auf eine noch zu erklärende Weise als Objekt ihres Handels benutzen. Sklavenverkauf? Oder Austausch für andere Pharster. »Ich kann eine ganze Menge, wenn ich will«, antwortete er. Die Wartezeit war fast um. Wie würde Tuffelsyt vorgehen? Auf der gegenüberliegenden Seite hörte man ein grelles Kreischen, dann einen lauten, klirrenden Zusammenprall oder Aufschlag. Colemayn ging zu einem anderen Fenster. Auf der Straße rannten, nahe dem vorletzten Haus, Pharster zusammen. Ein Gleiter war halb in die Eingangshalle eines Hauses hineingerast. Schwarzer Rauch brodelte aus dem Heck, aus dem Innern des Hauses schlugen Flammen, blitzten Funken, und irgendwelche Baumaterialien brannten mit fast weißem Rauch. Auch die Pharster, die Colemayn bewachten, rannten auf die Unglücksstelle zu. Colemayn konnte nicht sehen, ob sich jemand in der Gleiterkabine befand. Die Pharster versuchten mit Wasser, Löschschaum und mit umherschwirrenden Robotern den Brand zu bekämpfen und schrien wild durcheinander. »Wenn das Tuffelsyt war, sieht es verdammt echt aus«, brummte der Sternentramp. Es konnte ein Ablenkungsmanöver sein. Er blieb in der Mitte des Raumes stehen. Tatsächlich flog einige Sekunden später die Tür in die Halterungen. Der alte Pharster stand davor. »Komm. Schnell. Wir haben ein Fahrzeug.« Gebückt rannte Colemayn hinter ihm die Rampen hinunter. »Warst du das mit dem brennenden Gleiter?« »Ja. Altes Modell. Hinten rauf. Kabine zu klein«, rief Tuffelsyt durchdringend. Im Schatten, von der Straße aus nicht zu sehen, schwebte ein alter Gleiter mit allerlei Packen und Ballen auf der Ladefläche. Natürlich gab es in der Kabine keinen Platz für ihn. Während der Pharster ins Innere kletterte und die Tür zuwarf, schwang sich der Sternentramp auf die Ladefläche, setzte sich und lehnte den Rücken gegen die Heckscheibe des Geräts. Als das Fahrzeug anruckte und summend schneller werden wollte, schob sich aus einer splitternden Hecke eine zweite Maschine hervor und raste auf die stumpfe Schnauze des Gleiters zu. Von rechts und links kamen Pharster gerannt. Colemayn duckte sich, als die ersten Strahlerschüsse aufdröhnten. Er hörte Tuffelsyt schreien: »Verdammte Sippe. Sie haben mich gesehen.«
Er feuerte zurück. Colemayn rollte seinen Körper herum in den Schutz der Bordwand. Der gegnerische Gleiter schob sich quer vor das flüchtende Fahrzeug. Aus beiden Kabinen feuerten die Pharster aufeinander. Colemayn wurde von beiden Parteien als wertvoller Besitz erkannt. Das war spätestens jetzt deutlich geworden. Ein Schuß setzte einen Ballen der Ladefläche in Brand. Colemayn zog das Knie an, trat zu und traf das Gepäckstück. Im hohen Bogen schleuderte es aus dem Laderaum und verbreitete üblen Gestank. Ein Pharster schwang sich auf die Ladefläche, als Tuffelsyt den Gleiter herumschwingen ließ und seitlich auswich. Über Colemayns Kopf traf eine Glutbahn das Heckfenster. Es zerbrach mit klirrendem Krachen, die Trümmer begannen zu schmelzen. Der Pharster am anderen Ende der Ladefläche kauerte sich, als ein neuer Schußwechsel über die Bordwände heulte, tief zwischen die Gepäckstücke – ebenso wie Colemayn. Der Gleiter schob sich vorwärts, rückwärts, pendelte nach beiden Richtungen und wurde dann rücksichtslos beschleunigt. Zwischen der Straße und dem Gleiterplatz stand ein einzelner, kleinerer Pharster. Tuffelsyt sah, daß es Zenneck war. Er bremste scharf, riß die Tür auf und packte mit einem wilden Ruck den Kleinen. Dann raste, von wenigen Schüssen verfolgt, der Gleiter über zerwühlten Boden hinweg, durch halb zerfetzte Gewächse, mähte einen Holzzaun nieder und jagte mit heulenden Maschinen über die Piste. »Geschafft!« schrie Tuffelsyt nach hinten. Als der Pharster neben ihm in die Steuerung griff, schlug er ihm den Kolben der heißgeschossenen Waffe auf den Kopf. Kreischend sackte der Kleine zusammen. »He, Kileimeinn! Was ist bei dir los?« Colemayn richtete sich halb auf, ebenso der andere Pharster. Er war unbewaffnet. Es schien sich um ein jüngeres Exemplar zu handeln. Der Fahrtwind wurde stärker und zerrte an dem Fremden, dem Pharster und dem Gepäck. »Alles klar. Ich bin unverletzt«, rief Colemayn. »Auf der Ladefläche ist einer von euch.« Tuffelsyt schaltete, richtete den Rückspiegel aus getöntem Glas ausund fluchte; anders war sein Geschrei nicht zu deuten. »Zenneck! Und Cyrga. Ausgerechnet. Immerhin werden sie uns in Ruhe lassen. Wir haben die Kinder.« »Du hast die Kinder«, rief Colemayn. »Ich brauche sie nicht.« Colemayn ahnte, daß die beiden Geiseln eine arge Last werden konnten. Andererseits kannte er Tuffelsyts finstere Pläne nicht. Dieser Pharster legte eine gefährliche Rücksichtslosigkeit an den Tag. Aber zunächst mußte er mitspielen, denn er brauchte Sicherheit in einem guten Versteck. Die Maschine fegte mit Höchstgeschwindigkeit nach Westen, über eine helle Straße, die in weitgeschwungenen Windungen verlief. »Auf alle Fälle verfolgen sie uns!« schrie Tuffelsyt. »Das ist sicher. Werden sie uns finden?« »Nicht in Aszmo-Village.« »Was ist das?« »Abwarten.« Nach einigen Minuten streckte Tuffelsyt, der auf Autopilot geschaltet haben mußte, seinen Kopf und den Arm mit der Waffe durch das leere Heckfenster. »He! Cyrga! Halte dich still. Keinen Tip an die Sippe. Damit du siehst, daß ich nicht mehr spiele…«
Er feuerte den Strahler ab, traf Cyrga mit einem Lähmschuß ins Schultergelenk und kümmerte sich nicht um das gellende Geschrei der Kleinen. Colemayn hatte den Strahler packen oder den Arm herunterschlagen wollen, aber die Stöße und Vibrationen, von denen der Gleiter gebeutelt wurde, zwangen ihn, sich mit beiden Händen festzuklammern. Er dachte an das Sprühgerät in einer seiner Hosentaschen, zuckte die Schultern und konzentrierte sich auf die Strecke. Vielleicht mußte er allein zu dieser vorgeschobenen Siedlung zurück, um sein Gepäck zu holen. Wälder voller exotischer Gewächse, wie erwartet, Felder, in denen zwischen den verschiedenfarbigen und unterschiedlich hohen Pflanzen große Türme standen; Silos oder automatische Farmen. Ab und zu ein langgestrecktes Gebäude, dann eine kleine Siedlung. Die Gleiterpiste verschwand in einem kalten, langen Tunnel, der schwach beleuchtet war – vielleicht in der Lichtstärke, die von Pharstern als angenehm empfunden wurde. Das Land wurde hügelig, die Straße schwang sich auf die Silhouette einer Stadt zu. War es Nald? Die »Nacht« ging zu Ende. Die Wolkenschicht riß auf und ließ strahlend mittelblauen Himmel erkennen. Der Gleiter raste nach wie vor in halsbrecherischem Tempo auf die Vororte zu. »Ist diese Stadt Nald-Pharst?« brüllte Colemayn durch den heulenden Wind. »Ja. Wir gehen zum Raumhafen.« Die Stadt war auf einem großen, nicht sonderlich hohen Hügel erbaut worden. Es gab nur wenige wirkliche Hochbauten. Weit rechts konnte Colemayn auf dem schlingernden Gleiter mit Mühe die Anlagen eines Raumhafens und einige Raumschiffe erkennen. Dann schob sich ein Wald ’ vor die Aussicht. Colemayn wischte sich das Wasser aus den Augen und hoffte, daß ihn jede Minute näher zu Atlan bringen würde. Der Gleiter nahm eine Abfahrt und befand sich binnen kurzer Zeit mitten in zunehmendem Verkehr. Große Lastengleiter überholten rücksichtslos. Es gab, eine logische Entwicklung, keine Masten mit Leuchtkörpern, und da alles auf die geringe Körpergröße der Pharster zugeschnitten war, wurde die Umgebung für Colemayn zusehends exotischer. Und seine Unruhe wuchs. Dafür gab es ein ganzes Bündel Gründe. Cyrga kauerte leise wimmernd in der anderen Ecke des Laderaums und schien vollständig verschüchtert zu sein. Oder verstellte sie sich nur? Der Gleiter verringerte sein Tempo, bog von der Hauptstraße ab und blieb schließlich am Rand einer Siedlung stehen, die wiederum halb in einem Hügel nahe dem Raumhafen verschwand. Die Maschinen wurden abgeschaltet, und Tuffelsyt riß die Tür auf. Er wirkte so entschlossen, wie ihn Colemayn noch nie gesehen hatte. »Wir sind da. Ihr geht dorthin. Ich verstecke den Gleiter, so gut es geht. Das ist Aszmo-Village. Schnell. Und ihr beide… wenn ihr abhaut, versenge ich euch das Fell. Klar?« Sie schwiegen; es war nicht festzustellen, ob verschüchtert oder voller Rachegelüste. *** Aszmo-Village schien von sprichwörtlicher Sonderlichkeit zu sein. Colemayn sagte sich, daß er leicht großzügig sein konnte, denn dies änderte nicht das geringste an den Umständen. Er packte Zenneck und Cyrga an den harten, hornigen Händen und zog sie mit sich. »Verhaltet euch angepaßt«, sagte er drängend. »Tuffelsyt, euer Onkel, ist zu allem entschlossen. Ich versuche euch zu helfen.« Sie schienen noch Schmerzen zu haben, denn keiner machte einen Versuch, sich loszureißen und wegzurennen. Die Siedlung am Rand der Pharster-Hauptstadt wuchs in Form von Lagerplätzen, verwahrlosten Fahrzeugen, Abfall und Bäumen, in deren Ästen Fetzen und Stücke jeder Art fliegenden Mülls hingen, den ersten Mauern entgegen. Handgroße Tiere mit breiten Nagezähnen
wühlten im Weggeworfenen. Plakate mit unentzifferbaren Aufforderungen lösten sich von den Wänden, überall sah der Sternentramp Buchstaben und bösartige Zeichnungen. Es stank durchdringend. Der Weg war kaum zu erkennen, aber von Scherben übersät. Das Village selbst bestand aus unterschiedlich hohen Gebäuden, bizarr und eigenwillig errichtet, zwischen denen hölzerne Faltdächer ausgespannt waren oder solche aus einer Art Plastik. Nur eine mittlere Sintflut hätte hier ein wenig Ordnung und Sauberkeit schaffen können. Die Türen, Läden, Fenster, Verkaufstische, Schänken und Restaurants öffneten sich ausnahmslos auf die gepflasterten Gassen. Es herrschte ein unbeschreibliches Lärmen aus Stimmen, Musik und Geräuschen. Niemand verfolgte sie, als sie in dieses Chaos eintauchten. Nach wenigen Schritten holte Tuffelsyt sie ein. Unter den Dächern herrschte gemäßigte Helligkeit; viele Pharster rannten ohne ihre Brillen herum oder hatten sie über die Augen hochgeschoben. »Ein Ort des Handelns, eine Stätte des gegenseitigen Gesprächs«, scherzte Colemayn sarkastisch. »Wie geht es weiter? Wo finde ich Atlan, den Arkoniden, der so ähnlich aussieht wie ich?« »Nur Mut«, gab Tuffelsyt zurück. »Erst ein Versteck für uns. Dann suche ich ihn.« »Ohne Mißtrauen folge ich dir, wohin immer du uns bringst«, antwortete Colemayn. Er rief einiges Erstaunen hervor, wurde aber nicht belästigt. Daraus schloß er, daß in Raumhafennähe sich die Pharster an den Anblick von allerlei Fremden längst gewohnt hatten. Die Kinder und er bahnten sich den Weg durch die engen Gassen und zwischen Mengen hastender und ihre Waren anpreisenden Händlern hindurch. Wenn Tuffelsyt die Verfolger fürchtete, so ließ er es jedenfalls nicht erkennen. Mindestens ein dutzendmal sprach er mit Bewohnern, Händlern oder solchen Pharstern, männlich oder weiblich, was Colemayn nicht unterscheiden konnte, die mit gekreuzten Vorderbeinen in den Türen herumlümmelten. Tuffelsyt schien den Weg genau zu kennen. Er hatte also diese Aktion gut vorbereitet. Colemayn sah in einigen Bereichen dieses Basars, in dem viele Händler auch zu wohnen schienen, andere Fremde. Keinen anderen Evroner, auch kein Wesen, das er in Alkordoom gesehen hatte, vermochte Colemayn auszumachen. Er ertappte sich dabei, wie er nach der großen, schlanken Gestalt Atlans Ausschau hielt – oder nach einem von Atlans Freunden. Es roch nach gebratenen Früchten, nach Fleisch, nach den verschiedensten Gewürzen in jeder denkbaren Konzentration. Hin und wieder verstand der Weltraumtramp, was sich die Bewohner dieser unbekannten Welt einer unbekannten Galaxis zuwarfen. Die Pharster-Kinder klammerten sich an ihn wie in der Dunkelhemisphäre vor ein, zwei Tagen. Ein winziger Platz öffnete sich. In seiner Mitte plätscherte ein Brunnen, in dessen Wasser viel Unrat schwamm. Unter einer abbröckelnden Arkade stand ein Pharster mit fast weißem Fell und winkte mit beiden Händen. »Dorthin!« zischte Tuffelsyt herrisch und legte die Hand an den Griff einer Waffe. Eine seltsame Prozession näherte sich und überquerte hinter den Pharstern den Platz. Humanoid aussehende Wesen, größer als zwei Meter und bemerkenswert hager, in weiße Plastikkombinationen gekleidet und in schwarze Mäntel aus ebensolchem glänzenden Material gehüllt, gaben ein durchdringendes Summen von sich. Ihre Lippen waren breit und schwarz, die Augen bildeten langgezogene Schlitze in einem knochigen, haarlosen Gesicht von fahlweißer Farbe. Die mehrgelenkigen Arme hingen bis zu den spitzen Knien der Wesen herunter. Die Summtöne schienen die Pharster zu belästigen, denn sie wichen hastig aus, starrten die Fremden fassungslos an und duckten sich. Der Augenblick war günstig. Tuffelsyt zog Colemayn und die Kinder in den dunklen Korridor hinein.
»Und hier willst du ausgerechnet mich für längere Zeit verstecken?« fragte Colemayn im Tonfall höchsten Erstaunens. Tuffelsyt führte eine Geste der Zuversicht aus. »Verlaß dich darauf. So schnell findet dich niemand. Kommt, schnell!« Zuerst durchquerten sie einen Teil des stockdunklen Korridors. Türen schlossen sich hinter ihnen. Eine Rampe aufwärts, eine abwärts, dann zwei nach beiden Richtungen folgten, ein Schacht, in den sie hinunterkletterten und einen Rampengang, der mehrmals um Ecken und schließlich in steilem Winkel wieder aufwärts führte. Unaufhörlich gab es unsichtbare Hände, von denen massive Türen geschlossen und geöffnet wurden. Endlich konnte sich Colemayn wieder aufrichten. Sie befanden sich in einer kleinen Wohnung. Die quietschenden Fenster öffnete sich hoch über den Dächern von Aszmo-Village. »Nun, zufrieden? Niemand findet euch, Kileimeinn, ja?« »Aber du bist ebenso sicher wie ich, daß man uns sucht«, wandte der Tramp ein. »Wie lange sind wir vermutlich im Versteck?« Tuffelsyt sperrte unter leise ausgestoßenen Drohungen die Kleinen in ein Nebenzimmer ein. »So lange, bis ich Atlan gefunden habe. Du siehst ein, daß ich ihn erst suchen muß.« »In meiner Lage kann ich es mir nicht leisten, uneinsichtig zu sein.« »Richtig.« Das Zimmer war höher als das erste Gefängnis. Tuffelsyt zögerte; er wollte offensichtlich etwas sagen. Von dem zweiten Fenster hatte der Fremde einen sehr guten Ausblick auf den Raumhafen. Das Versteck schien eines der letzten Häuser des Basars zu sein, halb aus dem Hang des Stadtberges hervorgebaut. Colemayn würde sich bei dem Versuch, zu fliehen, mit größter Wahrscheinlichkeit verirren. Trotzdem spielte er mit dem Gedanken. Er hatte sich viele Einzelheiten gemerkt, aber der Basar war für jeden, der nicht hier tagtäglich zu tun hatte, ein Labyrinth. »Wie lange wirst du brauchen? Wann kommst du zurück? Wie ich hoffe, mit einer guten Nachricht.« »Das mußt du abwarten«, antwortete Tuffelsyt. Er öffnete einen Kühlschrank, aß und trank aus Fertiggericht-Packungen und kontrollierte dann die Waffen und den Inhalt einer umgeschnallten Tasche. »Ich hoffe, es geht schnell.« Habgier? Erregung? Raffinesse oder Niedergeschlagenheit? Der Sternentramp konnte aus dem bebrillten Gesicht nicht die geringste Ausdrucksfähigkeit herauslesen. »Ich hoffe es auch«, sagte Colemayn und suchte sich eine Sitzgelegenheit. Minuten später verschwand der Pharster. Colemayn konnte sich inzwischen einige schwache Chancen ausrechnen. Wenn er flüchtete, erreichte er wahrscheinlich den Raumhafen. Und was dann? Er war der einzige Evroner auf einem Planeten der Pharster, allein, waffenlos und so unauffällig wie ein Sonnenuntergang. Hinter der Tür meldeten sich die Kinder. Auch ihnen durfte er nicht trauen. Trotzdem taten sie ihm leid, denn Tuffelsyts skrupelloses Handeln war eine Auseinandersetzung zwischen erwachsenen Individuen. »Tuffelsyt«, schrie Zenneck. »Er ist böse. Wenn sie ihn erwischen, wird er schwer bestraft.« »Das kann ich mir denken«, antwortete Colemayn beruhigend. Er machte sieb, nachdem er ein Stück Metall gefunden hatte, am Schloß der Tür zu schaffen und sprengte es auf. »Aber er hilft mir. Ihr habt mich verraten und in eine dumme Lage gebracht. Undankbar, das.« Zenneck und Cyrga rannten aufgeregt ins Zimmer hinein. Plötzlich wirkten sie gar nicht mehr verschüchtert. Was sollte er mit den Kleinen anfangen? Er haßte es, allein schon den Gedanken
daran, daß sie als Geiseln mißbraucht wurden. »Wir haben es nicht besser gewußt«, sagte Zenneck. »Tuffelsyt kommt nicht wieder. Sie fangen ihn, den häßlichen Onkel.« »Wer verfolgt ihn?« »Unsere Sippe. Alle. Und die Zwielichtler.« »Zwielichtler? Etwas wie Polizei?« »Ja. Er wird furchtbar gestraft.« »Hört zu!« Colemayn hatte sich schnell entschlossen. »Findet ihr hinaus?« »Ich denke es«, rief Cyrga aufgeregt. »Ganz hinaus!« »Ich stelle eine Bedingung. Ihr müßt es versprechen. Ich lasse euch frei, und ihr verratet mich nicht. Verfolgt mich nicht mehr. Ihr versprecht das? Ehrlich?« Er ging offenen Auges zum zweitenmal das Risiko ein, ihnen eine Spur zu trauen. Die Härte, mit der Tuffelsyt handelte, war ihm zuwider. Aber er hatte buchstäblich auf nichts Einfluß. Er konnte nur reagieren; aber es gab keinerlei Sicherheit. »Versprochen?« fragte er wieder und ging zur Tür. Tuffelsyt vertraute darauf, daß Colemayn nicht wagte, zu flüchten. Tat er es dennoch, war es mehr als leicht, seinen Weg zu verfolgen. Die Kleinen waren unruhig und drängten hinaus. »Wir verraten nichts. Bleibst du hier?« rief Zenneck durchdringend. Colemayn nickte. »Ja. Wenn es zu lange dauert, gehe ich zu denen mit den schwarzen Mänteln«, wich er aus. Die kleinen Pharster rannten grußlos hinaus. Colemayn blieb zutiefst nachdenklich zurück. Atlan! Er horchte tief in sich hinein und sagte sich schließlich, daß Atlan irgendwo in seiner Nähe war. In der Nähe? Das war relativ; natürlich sprach vieles für den Raumhafen der Hauptstadt. Es war natürlich ein Gefühl, denn wirkliche Informationen gab es nicht. Colemayn, noch den Klang der hastenden Füße in den Ohren – die Kleinen versuchten, durch das Wirrwarr von Gängen und Korridoren zu entkommen. »Wenn ich hier bleibe, verraten sie mich mit hoher Wahrscheinlichkeit«, sagte er sich. Augenblicklich begann er zu handeln, und zwar zielgerichtet wie stets in seinem Leben. Er rüstete sich mit Nahrungsmitteln aus. Er fand bei einer schnellen Suche weder Waffen noch etwas, das sich als Waffe benutzen ließ, nicht einmal einen dieser schwarzen Mäntel, mit dessen Hilfe er sich vielleicht vorübergehend verkleiden konnte »Bleibe ich, dann entdecken mich die Leute der Sippe. Das bedeutet, daß ich wieder zum Handelsobjekt werde. Dann schon lieber Faustpfand von diesem Tuffelsyt.« Vielleicht brauchte er den Reinigungsmittel-Sprühapparat. Er vergewisserte sich, daß das dosenförmige Gerät funktionierte und versenkte es wieder in der Tasche. Vorsichtig und so leise wie möglich öffnete er die Tür und machte die ersten Schritte in den dunklen Korridor hinaus. Sein Ziel war, den Basar zu verlassen und zum Raumhafen zu gelangen. Wie er dabei vorgehen sollte… er hatte nur höchst verschwommene Vorstellungen davon.
3. Philosophen wollen uns erklären, daß das Chaos der natürliche Zustand des Universums ist. War je einer von ihnen im Basar von Aszmo-Village? Ich war dort. Obige Bemerkung stimmt. Aber das brachte mich beider Suche auch nicht weiter. Colemayns Planetentagebuch *** Ein Wesen, das so viele Jahre und Abenteuer überlebt hatte, machte instinktiv mehr oder weniger das Richtige. Colemayn versuchte, den Basar auf dem kürzestmöglichen Weg zu verlassen. Er tappte die zweite Rampe hinunter und schaffte es, auch diese Tür zu öffnen. Nacken- und Rückenmuskeln schmerzten vom vielen Bücken. Es war viel zu dunkel; immerhin erinnerte er sich an den Geruch. Noch hatte ihn niemand entdeckt. »Leicht macht es mir der Arkonide nicht gerade«, murmelte er, schob das brecheisenartige Metallstück unter die Tür und hebelte sie auf, nachdem sich das Schloß nicht öffnen ließ. Knirschend und mit einem Knarren, das jedermann aufwecken mußte, ließ sich die Tür aufzerren. Inzwischen hatten die lieben Kleinen sicher längst die Verfolger alarmiert. Zenneck und Cyrga waren recht frühreife kleine Teufel. Auf ihre Art schienen sie ebenso raffgierig wie Tuffelsyt zu sein. Colemayn wandte sich nach rechts und links. Er tappte durch die Gänge und suchte den Schacht. Nach schätzungsweise einer Viertelstunde riß er eine uralte, mehrmals eingetretene Tür auf und betrat einen Raum, der sich in einer beispiellosen Unordnung befand. Aber er hatte eine Tür, die ins Freie führte – auf einen windschiefen Balkon hinaus. Ruhig schloß Colemayn die Tür zum Korridor und durchquerte mit vier Schritten den Raum. Ihm war die gesamte Umgebung viel zu ruhig. Sein Mißtrauen war längst erwacht, jetzt spürte er in der Magengegend das vertraute Gefühl der zunehmenden Unruhe. Der erste Blick durch schmutzige Scheiben zeigte ihm, daß er sich unmittelbar über der Dachkonstruktion befand. Das verwinkelte, tausendmal geflickte Sparren- und Plattenwerk erstreckte sich hundert Meter weit geradeaus und verschmolz mit dem Gestrüpp der Hügelflanke. »Das erleichtert vieles, beim Schatten der Kosmokraten!« stieß der Sternenwanderer voller Erleichterung aus, riß die klirrende Fenstertür auf und schwang sich auf den Balkon. Jetzt hörte er die Geräusche des Basars, nur wenig durch die Konstruktion gedämpft. Er fühlte, wie der kleine Balkon schwankte und hörte, wie er ächzte. Er ließ sich vorsichtig auf das Dach herunter, sah sich um und tastete mit den Zehen nach einer möglichst festen Stelle. Dann ließ er die Verstrebungen des Geländers los und balancierte auf dem Dach in die Richtung auf den bewachsenen Hügel. Dort konnte er sich besser verstecken als an jeder anderen Stelle dieses Bezirks. Schritt vor Schritt tastete er sich weiter, beide Arme ausgebreitet, vor Anstrengung schwer atmend. Immer wieder knirschten Platten, Bretter und Teile der tragenden Balken unter seinem Gewicht. Unter ihm dudelte eine nervenzerrüttende Musik. Der Takt war derart exotisch, daß er den Sternentramp verwirrte. Pharstische Händler priesen mit gellenden, langgezogenen Rufen ihre Waren und Dienstleistungen an. Bleche schepperten, es klirrte ständig, und durch die Ritzen drang betäubender Gestank zu ihm herauf. Er bewegte sich im hellen Sonnenschein. Die Hitze hatte zugenommen. Nur zum Rand der dunklen Hemisphäre zu trieben dicke Wolken, aus denen hin und wieder Blitze zuckten. Die Sonne stand in Nald-Pharst eine Handbreit höher am blau strahlenden Firmament als über der vorgeschobenen
Siedlung, aus der er kam. Die Entfernung zum Gestrüpp schrumpfte. Hinter ihm startete mit donnernden Triebwerken ein Raumschiff. Colemayn wagte nicht, sich umzudrehen. Noch dreißig Meter. Plötzlich hörte er unter sich das unverkennbare Geräusch von Schüssen. Seine Verfolger, ohne Zweifel. Aber sie hatten einen ebensolchen Zickzackweg zurückzulegen. Noch besaß er einen Vorsprung. »Schneller. Zögern verhindert den Erfolg!« sprach er sich selbst Mut zu. Er vergaß Verfolger, Kinder und Tuffelsyt. Wieder gab federnd und mit entsetzlichem Knarren ein aufgenageltes oder geklebtes Brett unter ihm nach. Er rettete sich, indem er das Gewicht wieder auf den anderen Fuß verlegte, der festen Halt hatte. Der Lärm unter dem Dach wurde lauter, die Erregung wuchs, wieder dröhnten Blasterschüsse. Jetzt ertönten am anderen Ende des Daches, aus irgendwelchen Fenstern, grelle Schreie. Colemayn geriet vorübergehend in Panik. Er wurde schneller und unvorsichtig. Nach zehn Schritten fing er sich wieder, denn er hörte, daß er Geräusche erzeugte, die jeder Pharster trotz des Basars hören mußte. Er blieb stehen, sah sich um und suchte sich in fünfzehn Metern Entfernung bereits die Stelle aus, an der er auf festes Land springen würde. Er fluchte, holte tief Luft und spurtete los. Im Zickzack hastete er dorthin, wo sich die Verstrebungen abzeichneten. Das Dach war voller angewehtem Abfall. Er schaffte rund zehn Meter, zwölf Schritte also, dann rutschte er aus und ruderte haltlos mit den Armen durch die Luft. Der nächste Tritt traf eine Stelle, an der sich dünnes Plastik nach oben bog. Das Dach gab nach, langsam rissen Holzteile aus verrosteten Schrauben, brechend, krachend und splitternd brach ein trichterförmiges Stück herunter. Colemayn fiel senkrecht etwa drei Meter tief. Er schaffte es gerade noch, seinen Sturz halb abzufangen. Er krachte durch ein Dach aus mürbem Stoff über einer Ladentür. Es regnete Holzsplitter, Schmutz und Plastikfetzen. Staub flog auf, als er federnd auf beiden Füßen landete, wieder in die Höhe schnellte und die Sprühwaffe herauszog. Um ihn herum waren dreißig oder mehr Pharster aufgesprungen. Jetzt begannen sie zu kreischen und ihn zu verwünschen. Die Klauenfinger zeigten auf ihn. Einige Schreie verstand er, und als sie auf ihn eindrangen, betätigte er den Hebel. Ein trichterförmiger Nebel schoß aus der Düse und breitete sich aus. Der Sternentramp drehte sich einmal im Kreis, und das Geschrei wurde noch lauter. Die Folie der Brillen zersetzte sich verblüffend schnell. »Haltet ihn!« »Denkt an die Belohnung!« »Die ganze Sippe sucht ihn!« Das Geschrei pflanzte sich fort. Heulend rannten die geblendeten Pharster auseinander. Colemayn bewegte sich zwischen ihnen, schob und zerrte, wurde getreten und angerempelt. Aber er hatte sich die Richtung gemerkt. Der Gang zwischen den Häusern endete nach rund elf Metern an einer Felswand. Dorthin rannte er, drang in das letzte Haus rechts ein und betätigte dreimal die Düse des hochwirksamen Reinigers. Er fand einen weiteren Balkon und sprang mitten in einen federnden Busch hinein, als er seine letzte Chance sah. Zweige und Blätter peitschten seine Haut. Er hielt die Mütze fest, fiel halb durch die Äste und faßte wieder Fuß. Dann rutschte, rannte und robbte er durch die ineinander verfilzte Wildnis, entlang der letzten Baumwerke, schräg den Hang hinauf und in den Schutz größerer Bäume. Er setzte seine
Kraftreserven ein und lief zwischen den Stämmen hindurch, bis der Basar außer Sichtweite war. Aber deutlich hörte er, daß einige Polizisten hinter ihm herschossen. Und zwar nicht mit Lähmstrahlern. Eine Variante seines Vorhabens kam ihm in den Sinn, und er schlug einen Weg ein, der ihn im weiten Bogen um den Basar herum in die Richtung des Raumhafens bringen sollte. Zuerst schien es, als hätten die Verfolger ihn tatsächlich aus den Augen verloren. Als die ersten Gleiter mit blitzenden Laser-Rundumstrahlen erschienen, begann er verzweifelt nach einer Deckung zu suchen. *** Tuffelsyt bezeichnete sich selbst als Händler der Sensationen. Bisher waren sie weitestgehend ausgeblieben; heute hielt er endlich den ersehnten Trumpf in den Händen. Seine Erregung hätte nicht größer sein können. Aber gleichzeitig war der pharstische Händler Realist. Es stimmte, daß er ebenso viele Feinde wie Freunde hatte. Freunde? Nun, bei der endlosen Sonne, es waren weniger Freunde als Händlerkollegen. Sie würden ebenso versuchen, ihn zu betrügen, wie umgekehrt. »Was ist dir dieser Exote wert?« fragte er und tat, als sei er über die Preisgestaltung erhaben. »Was kann er? Wozu ist er zu gebrauchen?« fragte sein Gegenüber. Es war Sculcy, ein uralter Basarhändler mit hervorragenden Beziehungen zum Raumhafen. »Ich kenne ihn nicht lange genug. Aber so sieht er aus.« Er warf ein dreidimensionales Abbild auf den Tisch. Ein zylindrisches Stück Glas, in dem sich Colemayn von allen Seiten betrachten ließ. Tuffelsyt lehnte sich im weichen Sessel zurück. War er schon nicht der Jüngste, so erreichte Sculcy ein bemerkenswertes Alter. Sein Fell war tiefschwarz, er trug im Dämmerlicht des Raumes keine Brille, und seine Finger waren fast weiß geworden. Sie zitterten leicht, als er den Bildzylinder anfaßte und das Warenangebot studierte. »Woher hast du ihn?« »Er kam aus der Dunkelhälfte. In so kurzer Zeit wie niemals einer zuvor lernte er unsere Sprache. Er ist brauchbar, weil er klug und besonnen zu sein scheint. Fast so kräftig wie ein guter Pharster.« »Was wollte er hier?« »Er sucht einen seiner Leute. Dieser heißt Atlan und hat, im Gegensatz zu den kurzen Borsten von Kileimeinn, schulterlangen Kopfpelz. Er muß schnell versteckt werden. Es gab gewisse Auseinandersetzungen innerhalb der Sippe.« »Ich verstehe. Heiße Ware. Laß mich überlegen.« Im Hinterzimmer des Ladens war es ruhig. Dicke Vorhänge schirmten Lärm ebenso ab wie das grelle Licht. Auch Tuffelsyt hatte die Brille von den Augen genommen. Vor ihm stand ein anfeuerndes Getränk; aus dem hohen Becher mit den Griffmulden kam ein grünlicher Dampf und sank entlang des Metalls langsam nach unten. Der Alte trank Tee, der stechend sauer roch. Tuffelsyt wollte seinen Gefangenen loswerden, aber nicht um jeden Preis. »Du hättest noch solch einen Fremden?« murmelte der alte Händler. Seine Erfahrung war nicht geringer als sein Alter. Um den Preis, weniger Gewinn zu machen, aber schneller ans Ziel zu kommen, hatte sich Tuffelsyt zuerst an ihn gewandt. »Ich muß erst herausfinden, ob er auf Pharst ist.« »Wo vermutest du ihn?« »In jedem Fall am Raumhafen.«
»Der erste wird mich zum anderen führen, zu Atlan. Atlan scheint von ungeheurer Wichtigkeit zu sein. Verhandeln können wir später – hilf mir, Sculcy. Ich brauche ein paar gute Adressen am Raumhafen. Es sind zu viele Schiffe dort.« »Wer weiß, daß du den Kileimeinn aus der Obhut der Sippe entfernt hast?« erkundigte sich der Alte spöttisch. Die Gelenke der vier Beine, die über die Vorderkante des alten Sessels mit dem zerschlissenen Bezug herunterhingen, zuckten nervös. Im Basar wurden Gerüchte ebenso schnell gehandelt und umgeschlagen wie Gewürze oder umstürzlerische Ideen – nur billiger. »Die Sippe, inzwischen wohl viele Zwielichtler, und natürlich auch unsere Kollegen hier.« »Du wirst auf deine alten Tage noch berühmt!« »Hoffentlich auch reich.« Der Greis reichte ihm ein Stück Folie, auf dem eine Anzahl Namen standen. »Du weißt, daß du wenig Zeit hast?« fragte er. Tuffelsyt machte flüchtig die Geste der Bejahung. »Und eine Menge mißgünstiger Konkurrenten. Wenn sie wüßten, wo der Fremde ist, würden sie das Geschäft machen wollen.« »Ich lasse meine Verbindungen spielen«, versicherte Sculcy einigermaßen glaubwürdig. Seine Stimme war tief und brummend. »Eines ist sicher: beide Exoten müssen so schnell wie möglich von diesem Planeten verschwinden.« »Genau das ist auch meine Absicht. Es eilt. Der Fremde mit der Fellkleidung ist noch sicher in meinem Versteck. Ich melde mich* wenn deine Namen etwas taugen.« »Die Adressen sind gut. Mache daraus das Beste.« »Die Chance meines Lebens.« Tuffelsyt leerte den Becher und rückte die Brille wieder über die Augen. Er warf dem Alten, ehe er sich wieder ins Gewühl der Händlerstadt stürzte, einen langen Blick zu. Der Greis lauerte wie eine Eisbestie hinter dem überladenen Arbeitstisch, auf dem unter mildem Licht sich zahllose Gegenstände stapelten. »Gibt’s noch etwas?« erkundigte ’ sich Sculcy argwöhnisch. »Was tue ich, wenn sie mich erwischen?« »Das ist dein Anteil am großen Geschäft«, erklärte der Händler wenig hilfreich. Tuffelsyt schloß die Tür, nickte den beiden Gehilfen zu und befand sich in einer größeren Gruppe von Besuchern und Händlern, die aufgeregt redeten. Sie beachteten ihn nicht, als er in die Richtung auf einen der vielen Eingänge hastete. Tuffelsyt duckte sich und schlug einen Haken. Er tauchte in einen schmalen Seitengang ein, als er die Patrouille der Zwielichtler entdeckte. Sie schienen gründlich zu suchen, denn sie sperrten einen breiten Basarkorridor ab und unterzogen die Händler einer drängenden Befragung. Wut und Enttäuschung, gemischt mit Angst, machten sich in Tuffelsyt breit. »Die Sippe! Ich hab’s geahnt!« stöhnte er heiser und versuchte, sich unauffällig zu verhalten. Er mußte hier hinaus! Jeder kannte ihn. Die Wächter über Ordnung, rechtes Verhalten und einwandfreie Moral waren kaum zu bestechen. Dafür wurden sie aus den Abgaben zu gut besoldet. Sie trugen flache Helme, in die mehrere Kommunikationsgeräte eingebaut waren. Ihre Oberkörper waren durch farbige Halbpanzer aus speziellem Plastik geschützt, und jede Farbe kennzeichnete einen Rang. »Suchen Sie mich?« fragte er sich und verwand hinter einem Paravent, an dem die Preisschilder baumelten. Oder suchten sie die Kinder und den Fremden?
Beides war gleich bedenklich. Es mußte diesmal klappen! Das erste wirklich große Geschäft in seiner gesamten Karriere. Seine Erregung wuchs, als er an einer Reihe von Verkaufsläden vorbei kam, aus denen mit aufforderndem Lächeln die Frauen der Händler lehnten, ihm Scherzworte zuriefen und kicherten. »Das erstemal, daß wir dich rennen sehen, Tuffel!« »He! Keine Zeit für einen Happen?« »Hier!« Ein Arm reichte ihm ein schwarzes Glas. Er brauchte eine Stärkung, außerdem half es ihm bei der Tarnung. Mit einem Schluck stürzte er das starke Getränk hinunter. Er keuchte ein Dankeschön, warf der Händlerin das leere Glas zu und wandte sich um. Mißtrauisch richteten die Zwielichtler ihre verstärkten Brillen in seine Richtung. Aber sie schienen ihn nicht direkt anzustarren mit ihren optischen Hilfsmitteln. Trotzdem war es ein neuer Schock. Tuffelsyt schaffte es, unbemerkt von den Wächtern das Labyrinth des Basars zu verlassen. Er schaute sich um und wußte, daß er an der falschen Stelle ins Freie gekommen war. Sein Gleiter stand auf der gegenüberliegenden Seite des Ödlands um den Basar. Die Angelegenheit erforderte Schnelligkeit und nötigenfalls einige Improvisation. Tuffelsyt rannte zu der nächsten Ansammlung von Gleitern. Mit wenigen Griffen gelang es ihm, einen älteren, reichlich mitgenommenen Lastengleiter zu öffnen und zu starten. Sekunden später war er auf dem schlaglochübersäten Weg zur Verbindungspiste, und nach einer scharfen Kurve schob er den Geschwindigkeitsregler ganz nach vorn. »Dort muß er sein. Irgendwo am Raumhafen!« Mittlerweile war Mittag vorbei. Entlang des Terminators zwischen Sonne und ewiger Kälte ballten sich riesige Wolken. Sie reichten vom südlichen bis zum nördlichen Horizont. Die Sonne brannte heiß herunter, und die Schatten zogen harte Linien. Die technischen Anlagen und die Schiffe des Hafens wurden größer und deutlicher; Licht und lange Schatten spielten auch auf den weißen, runden Gebäuden, die zwischen den halb unterplanetarischen Lagerhallen standen. Der Lärmschutzwall mit seinem Tunnelsystem kam näher. Summend und nach faulendem Gemüse stinkend bohrte sich der Gleiter in die halbdunkle Doppelröhre und schoß nach einigen Minuten, stark abgebremst, wieder in die Helligkeit hinaus. Mit fünf Händlern oder Angestellten der Hafenbehörde sollte Tuffelsyt sprechen. Er wußte genau, daß inzwischen Sculcy seine Verbindungsleute angerufen und ihnen Verhaltensregeln gegeben hatte. Das sicherte ihm eine schnelle Erledigung, aber diese Händler waren wohl auf den Alten eingeschworen. Er mußte, geschickt vorgehen. »Und auch hier habe ich nicht nur wahre Freunde«, murrte er. Der Gleiter beschrieb eine weite Kurve und hielt in einer Lücke zwischen einer Doppelreihe abgestellter Geräte. Tuffelsyt bemühte sich, auch hier nicht aufzufallen. Er parkte die Maschine zwischen zwei riesigen Transportern und dachte verzweifelt, daß es für sein Vorhaben besser Nacht sein sollte. Immer wieder heulten die Gleiter der Zwielichtler über die Außenbezirke. Die Wächter suchten ihn oder den Fremden. Oder beide. Aber sie hatten keine klaren Vorstellungen. Tuffelsyt bewegte sich schnell, aber nicht auffallend hastig auf das erste Gebäude zu. Langsam machte sich echte Angst bemerkbar. Traf er auf einen Angehörigen der Sippe, war er verloren. Und die Sippe war zahlreich, ihre Angehörigen steckten praktisch überall in Nald-Pharst. Zuerst suchte der Händler den Namen, der ihm am meisten versprach – der Leiter des Sicherheitsdiensts. Er wußte sicherlich Bescheid darüber, ob es wirklich einen Fremden mit diesem Namen und Aussehen im Bereich des Hafens gab.
Der Sekretär war so lange von kühler Höflichkeit, bis Tuffelsyt den Namen des alten Händlers nannte. Dann winkte er ihn durch die nächste Tür in das Büro von Callac. »Schatten mit dir, Tuffelsyt! Du hast eine große Schleuse aufgezogen«, sagte der Pharster. »Und viele nennen deinen Namen.« »Entweder mit Neid oder aus Verärgerung«, gab Tuffelsyt zu. »Für einige von uns zeichnet sich im grellen Licht der größte Verdienst ihrer Karriere ab.« »Kann ich daran teilhaben?« Aus der Versenkung des Schreibtisches fuhren zwei Schalen voller Khynor herauf. Das heiße, aromatische Getränk verbreitete seinen wohltuenden Geruch in dem dämmerigen Büro. Als Tuffelsyt das letztemal in diesem Gebäude gewesen war, hatte ihn jedermann mit Herablassung behandelt. Heute genoß er jede Minute. Er war wichtig geworden. Seine Antwort war ruhig und selbstbewußt, trotz der Furcht, die ihn marterte. »In demselben Maß, in dem deine Informationen uns zum Erfolg führen.« Noch einer, der am Gewinn teilhaben wollte! sagte sich Tuffelsyt. Er hatte keine andere Wahl. »Was willst du wissen?« Wieder stellte Tuffelsyt den Bildzylinder auf den Tisch und erklärte, wie Atlan aussah, und daß er wichtiger wäre als Kileimeinn oder wie immer sich der andere Exote nannte. Vom Versteck und den beiden Geiseln sagte er nichts. Dabei fiel ihm ein, daß er so bald wie möglich die offiziellen Nachrichtensendungen kontrollieren mußte. Vielleicht gab es Neuigkeiten, die ihn betrafen. Callac schaltete einen bemerkenswert großen Bildmonitor ein. Eine Ansicht des Hafens erschien. Die Kameras konzentrierten sich auf eines der größeren Schiffe, die mitten in der’ Reihe der kleineren Frachtschiffe standen. »Das ist die ZYRPH’O’SATH. Ich habe Einblick die inoffizielle Liste der Besatzung nehmen können.« »Und? Gibt es an Bord einen Exoten namens Atlan, weißhaarig…?« »Diesen Namen habe ich gehört.« »Ich muß mit ihm sprechen. Vielleicht lassen sie ihn von Bord?« »Unwahrscheinlich. Mir sagte man, daß er ein Gefangener sei. Vergiß es. Du müßtest das Schiffstürmen.« »Wie lange steht das Schiff hier?« »Das ist ungewiß.« Zum erstenmal konnte Tuffelsyt das fremde Schiff genauer sehen. Auf ihn machte es den Eindruck, als sei es schnell und für die Überwindung großer Entfernungen gebaut. Das Raumschiff der Zyrpher, etwa reichlich tausend Meter lang, sah insektenhaft aus mit seinen vier Auslegern. Es ruhte auf den hinteren Streben; die Öffnungen der Beibootschächte waren verschlossen. Der Pharster hatte recht: das Schiff konnte von ihm nicht betreten werden. Noch nicht. »Was weißt du noch über die ZYRPH’O’SATH?« »Reichlich wenig. Sie landete vor zwei Perioden. Es gab keine Voranmeldung. Nur einige Besatzungsmitglieder gingen von Bord und verhandelten wegen Nahrungsmitteln und Grundstoffen.« »Und, dabei fiel Atlans Name?« »So war es. Für Pharst ein ungewöhnlicher Name. Wie dein Kileimeinn. Für mich ist es sicher, daß der Gesuchte dort ist.«
»Ich danke dir für diese Auskünfte«, antwortete Tuffelsyt förmlich und trank die Schale leer. »Ich erkenne nunmehr, daß mein Exote nicht so wertvoll ist wie jener, den er sucht. Die Sachlage ist reichlich verfahren. Ich werde an dich denken, wenn ich den Gewinn einstreiche. Zu diesem Thema: ich würde mich freuen, wenn du einen dritten oder vierten Interessenten für meinen Exoten wüßtest.« »In einiger Zeit weiß ich mehr«, vertröstete ihn Callac zuversichtlich. Die Lastschiffe, die Passagierschiffe und die Kombieinheiten waren, mit dem schlanken, langgezogenen Rumpf des Zyrpher-Raumers verglichen, kleiner und plumper. Es mußte einen wichtigen Grund haben, daß der Gefangene ausgerechnet in einem solch seltsamen Raumflugkörper gefangen gehalten wurde. Eine andere Seltsamkeit war, daß dieses Schiff hier gelandet und der Exote ausgerechnet hier ausgesetzt oder aufgefunden worden war. »Hoffentlich. Ich danke.« Nachdenklich verließ Tuffelsyt das Büro und fuhr in eines der obersten Stockwerke. Dort lag das Kontor des Schiffsausrüsters, dessen Name ebenfalls auf seiner Liste stand. Bei einer älteren Sekretärin meldete er sich an. Auch hier beschleunigte der Name des greisen Basarhändlers die Abfertigung. Nach einer hastigen Unterhaltung versprach der Ausrüster: »Wir bringen die Lieferung ins Schiff. Aber nur dann, wenn ich in die Zentrale hineingelassen werde oder den Kommandanten treffe, kann ich Fragen stellen. Die Mannschaften wissen nichts, und wenn sie etwas wissen, so schweigen sie.« Vielleicht änderte sich das, wenn Kileimeinn in die ZYRPH’O’SATH hineinkam und sich selbst nach seinem wichtigen Freund erkundigte? Das war eine der allerletzten Chancen für Tuffelsyt. Er dankte und ging zum Lift. In der Pförtneranlage war ein Bildschirm eingeschaltet. Tuffelsyt wartete; in zwei Minuten gab es Nachrichten. Tuffelsyt schaute sich wachsam um. Er war ganz allein und hatte keinen Vertrauten und nicht einen einzigen wirklichen Helfer. Sein Vorhaben drohte ihm über den Kopf zu wachsen. Schon die erste Nachricht schockte ihn. »… Sicherheitskräfte und private Initiativen«, sagte der Sprecher, während Bilder eingeblendet wurden, die aus dahinrasenden Fluggleitern aufgenommen worden waren, »befanden sich auf der Suche nach vier unterschiedlichen Wesen. Tuffelsyt, der Verwandte von Zenneck und Cyrga aus der Sippe Rotym-Ney, nahm die Kinder in ungewöhnlich rücksichtsloser Weise als Geiseln. Sie konnten aus der Gewalt des Fremden entfliehen, der ebenfalls gesucht wird. Jeder, der etwas über den Aufenthaltsort der Gesuchten…« Die Haare über den Augen des Pharsters stellten sich auf; das Zeichen höchster Erregung. Die Wachen im Kontrollgebäude warfen nur mäßig interessierte Blicke auf den Bildschirm. Sie unterhielten sich, und ständig wurden sie von ihrer Arbeit neu in Anspruch genommen. Sie schauten ihn nicht einmal an. »Zenneck und Cyrga! Das nimmt ein böses Ende!« murmelte Tuffelsyt in die vorgehaltene Hand. »Aber uns beide haben sie noch nicht!« Er wußte jetzt, was er riskierte. Natürlich durchkämmten die Zwielichtler jeden Winkel von Aszmo-Village nach ihm und dem Exoten. Er selbst konnte sich noch einige Zeit in der Masse verstecken. Der Fremde fiel auf, gleichgültig, wo er sich zu verbergen versuchte. Für Tuffelsyt gab es nur noch eines: weitermachen und versuchen, zumindest den Exoten zu
verkaufen. Er merkte sich den Text der letzten, ihn betreffenden Meldungen und suchte den nächsten Händler seiner Liste auf. Er traf ihn in einer Lagerhalle, in der sich in riesigen Stapeln Container aller Größen und Farben türmten. Zollenkart hatte seine Glieder in kostbare Ringmanschetten gehüllt und hielt einen summenden und klickenden Notizrechner in der Hand. Eine Brillenfolie war einseitig verspiegelt. »Ich hab’s schon vom Alten gehört. Wo ist der Exote?« »Er wird dort sein, wo der richtige Preis gezahlt wird«, gab Tuffelsyt kalt zurück. »Für ihn und einen anderen, der im Zyrpher-Schiff steckt.« »Ich könnte zwei von ihnen brauchen«, sagte Zollenkart und führte die Geste des guten Handels langsam und betont aus. »Für ein Arbeitslager in der Nachthälfte. Weit weg von der Lichtgrenze.« »Schlage eine Summe vor?« Der Händler nannte eine Ziffer. Sie lag etwas unter einem Viertel dessen, was sich Tuffelsyt ernsthaft erwartete. Er stieß einen durchdringenden Laut aus, eine Mischung zwischen Entrüstung und Gelächter. Dann nannte er das Sechsfache. Zollenkart fing an, auf der runden Scheibe zu rechnen und irgendwelche Bemerkungen einzutippen. Seine Finger führten rasend schnelle Bewegungen aus. »Wir können uns auf dem dreifachen Wert meines ersten Vorschlages einigen«, meinte er konziliant. »Du wirst deine Meinung ändern, wenn die Fremden vor dir stehen«, versicherte Tuffelsyt. »Dann bringe sie hierher. Vermutlich schnappen sie dich vorher, und dann macht die Sippe das Geschäft.« »Nur über meine Leiche!« beschwor Tuffelsyt leise, aber erbittert. Sinnend antwortete der Händler lebender Waren: »Das ist ebenfalls ein interessanter Aspekt. Wenn du die Exoten hier ablieferst, brauchst du dich um nichts mehr zu kümmern. Ich bin ein ehrbarer Kaufmann, wie jedermann längst weiß.« »Deswegen«, höhnte Tuffelsyt, »hat mich Sculcy vor dir gewarnt.« Seine letzten Worte gingen in dem Lärm unter, den ein landendes Pharster-Fernraumschiff verursachte. Der langgezogene Körper, gitterartig ausgebildet und unerträglich hell in der Sonne glänzend, rührte sich nicht. Vermutlich kam Tuffelsyt nur mit Kileimeinns Hilfe dort hinein und somit in den Besitz von Atlan. »Bis bald!« schrie er und hörte erst auf zu rennen, als er aus der Halle heraus und wieder auf dem Weg zu dem anderen Gleiter war. Als er das Tor passierte, hörte er hinter sich Schreie. Er blieb stehen und drehte sich herum. Einige Ladearbeiter, mit denen er vor einiger Zeit ernsthafte Differenzen wegen unverschämter Forderungen ihrerseits gehabt hatte, hatten ihn erkannt. Sie zeigten auf ihn, und einer sprach hastig und laut in sein Handfunkgerät. Er ging weiter, als würde ihn das alles nicht berühren. Sie schrien hinter ihm her und begannen zu rennen. Tuffelsyt erreichte den Gleiterplatz, und in dem Augenblick, als er sicher war, nicht mehr von den Verfolgern gesehen zu werden, fing er zu rennen an. Er schwang sich in den alten Gleiter, duckte sich hinter die Steuerung und verschwand binnen weniger Sekunden in dem Gewühl anderer Fahrzeuge. Er fuhr zwischen einem Teil’ der Hochstraßen und der technischen Anlagen hindurch, um die Verfolger zu verwirren. Er war sicher, unbemerkt verschwinden zu können. »Und wohin wird der Exote kommen, wenn er das Versteck verlassen hat?« fragte er sich laut, während er sich in einen Pulk von Lastengleitern einreihte. Der Fremde war klug, aber ohne seine Ausrüstung konnte er nicht einmal in die Nachthälfte flüchten. »Dann haben wir dasselbe Ziel!«
Am wenigsten würden die Verfolger Tuffelsyt in seiner eigenen Umgebung suchen! Allerdings konnte er nicht riskieren, auf öffentlichen Straßen in die Siedlung zurückzukehren. So klug, wie er bisher seine Unternehmung betrieben hatte, würde er auch diesen Teil gestalten. Bald hatte er das Geschäft abgewickelt. Seine Maschine war in der Anonymität des dichten Verkehrsstroms verschwunden. Er war wieder unentdeckbar geworden. Es war keine Flucht, sondern ein elegantes Ausweichen. Schließlich war er raffinierter als alle jene, die ihn suchten. Tuffelsyt, der Händler der Sensationen…
4. Mir scheint, daß meine Beziehung zu Atlan von größeren Geheimnissen umgeben ist, als ich – und er? – ahnen. Ich habe keine Erklärung dafür, daß ich derart felsenfest davon überzeugt bin, Atlan sei in meiner unmittelbaren Nähe. Nein, keinerlei Telepathie! Es wird noch einige Zeit dauern, bis ich es herausgefunden habe. Colemayns Planetentagebuch. *** In Wirklichkeit hatte Tuffelsyt natürlich keine Chance. Ich war sicher, daß er mich an irgendeinen »Menschenhändler« verkaufen wollte, ebenso sicher zu einem abenteuerlichen Preis. Das heißt: das war seine Absicht. Ob sie glückte, stand dahin. Ich glaubte nicht daran. Meine Lage war allerdings auch wenig beneidenswert. Die Verfolger, die von den Kindern alarmiert worden waren, suchten auch mich. Ich lag augenblicklich im Schutz einer rostigen Metallplatte, etwa zweitausend Meter von Aszmo-Village entfernt, halbwegs zwischen dem Basar und dem bewachsenen Wall, der den Raumhafen umgab. Mindestens zwei dutzendmal waren Suchkommandos in Gleitern schnell oder quälend langsam über mich hinweggeflogen. Ob ich es wollte oder nicht: ich mußte Verbindung mit diesem schurkischen Tuffelsyt aufnehmen, um an meine überlebenswichtige Ausrüstung heranzukommen und dann zielgerichteter nach Atlan suchen zu können. Mir selbst eilte es nicht, aber ich hatte das Gefühl, daß bei dieser Suche jede Stunde kostbar war. *** »Der alte Gleiter!« sagte Colemayn leise. »Damit werde ich beweglicher.« Er robbte unter der Metallplatte hervor. Rings um diesen Teil des Gebietes, das von kleinen und großen Abfallhaufen übersät war, wucherte saftiges Grün. Die meisten Pflanzen hatten lange Ranken und Dornen, und ihre Blüten sandten einen stechenden Geruch aus. Die Luft war von fliegenden Samen durchsetzt. Immer wieder blies Colemayn die faserigen Schwebeteilchen weg. Er nahm die Mütze ab, ehe er sich prüfend umschaute. Ihre grelle Farbe konnte ihn schnell verraten. Fast gleichzeitig starteten zwei kugelige Raumschiffe. Sie sahen alt und gebraucht aus, hatten aber etwas von der beeindruckenden Zuverlässigkeit robuster Großmaschinen an sich. Colemayn duckte sich und bewegte sich zwischen den Büschen und entlang halb zusammengebrochener Mauern auf den Abstellplatz zu. Zahllose Gedanken schossen durch seinen Kopf. Sie reichten von dem Versuch, sich in die Dunkelhemisphäre zurückzuziehen – oder wenigstens in den Dämmerungsstreifen – bis zu einem Überfall auf eines der kleineren Raumschiffe. Er zwängte sich in den Gleiter, studierte einige Minuten lang die einfache Steuerung und dankte der Evolution, daß sie den Pharstern etwa ebenso große Hände verschafft hatte wie ihm. Er schlug den Kragen seiner Felljacke hoch und fand eine Pharster-Brille. Mit dem Zeigefinger durchstocherte er die zähe Folie, setzte das Gerät am federnden Band auf und starrte in den Rückspiegel. Jetzt sah er weder wie ein Pharster noch wie Colemayn aus. Der Gleiter startete, erhob sich auf die Prallfelder und drehte auf der Stelle. »Nur von diesem schlimmen Onkel kann ich etwas über Atlan erfahren«, sagte sich Colemayn und schwebte los. Zuerst hielt er sich über den Straßen, die er wiedererkannte, und als er genügend weit von Nald-Pharst entfernt war, bog er ab und richtete die stumpfe Nase der Maschine auf den dunklen, wolkenverhangenen Horizont. Der Gleiter schwebte mit verminderter Geschwindigkeit entlang der Ränder riesiger Felder, an halbmaschinellen Großbetrieben vorbei, durch ein Waldgebiet und über eine Anzahl flacher
Wasserläufe hinweg, die schäumendes, eiskaltes Wasser führten. Colemayn überzeugte sich davon, als er eine kurze Pause machte. Das Wasser kam also aus der Dunkelhemisphäre. Im Gleiter befand sich eine Uhr mit Digitalziffern. Er verstand die Zeichen nach mehreren. Durchläufen der »Sekunden«- und »Minuten«-Bruchteile. Ein etwa zweimal handgroßer, zweidimensional arbeitender Bildschirm ließ sich nach einigen Versuchen einschalten. Allerdings wußte der Sternentramp noch immer nicht, wie lange auf der Lichthemisphäre Tage und Nächte dauerten, und auf welche Weise sich »Nacht« in einer Welt darstellte, auf der es ewig Sonnenlicht gab. Er trank Wasser aus einem der Bäche und freute sich über Frische und köstlichen Geschmack. »Und aus welchem Grund, für welchen Zweck will mich Tuffelsyt verkaufen? Wer kauft mich? Wofür? Es muß etwas geben, was ich weitaus besser kann als die Pharster. Oder wenigstens glauben sie es.« Er vermochte sich trotz allen Nachdenkens keinen wirklichen Grund vorzustellen. Die Pharster waren offensichtlich rücksichtslose Händler. Da sie mit Fremdlingen handelten, war ihr Sortiment zweifelsfrei groß. Sie besaßen Raumschiffe, also handelten sie auf anderen Welten mit anderen Sternenvölkern dieser Galaxis, die die Bezeichnung Manam-Turu trug. Händler bilden stets auf fremden Gebieten Niederlassungen oder sogar eigenständige Zivilisationen. Auf anderen Planeten des Milchstraßensystems hießen die Pharster wohl anders. Entlang der Lichtgrenze bildeten sich mächtige Wolken, deren Unterseiten dunkel wurden. Ständig wehte ein kühler Bodenwind aus der Dunkelheit heran. Die Luft erwärmte sich in der Lichthemisphäre und kehrte als Höhenströmung teilweise in die Nacht zurück. Soviel war an dieser Stelle deutlich zu erkennen. In den Turbulenzen bildeten sich häufig Gewitter aus; die Entstehung eines Wettersturms beobachtete Colemayn auf seinem vorsichtigen Vorstoß zu der weitab gelegenen Siedlung. Obwohl sie nur eine Handvoll Häuser umfaßte, mußte diese Niederlassung einen bestimmten, nicht unwichtigen Zweck erfüllen. Aus den Durchsagen erfuhr Colemayn, was er erwartet hatte: Nach ihm und nach Tuffelsyt wurde mit allen Mitteln gesucht. Tuffelsyt hatte sich eines schweren Verbrechens schuldig gemacht. Sippenverbrechen nannten es die Sprecher in einem Tonfall, der Schlimmstes vermuten ließ. »Der Gewinn beim Verkauf muß horrend sein«, murmelte Colemayn. »Das schmeichelt meiner Eitelkeit. Ich wußte nicht, daß ich soviel wert bin! Bemerkenswert!« Da ihn ohnehin niemand sah, schob Colemayn die Brille in die Stirn. Die ringförmigen Elemente drückten stark. Es wurde dunkler; die schwarzen Wolken schoben sich vor die Scheibe der Sonne. Dunst und Staub in der Atmosphäre hatten in der letzten Stunde die Farben des Gestirns immer wieder verändert. Gelb, bernsteinfarben, orange, und jetzt wurde sie blutig rot. Die ersten Tropfen fielen klatschend auf die große, gewölbte Frontscheibe. Er war allein; nichts lenkte ihn ab. Der Flug durch leeres Gebiet verlief ohne gefährliche Zwischenfalle. Wieder suchte ein Schwall drängender Gedanken den Evroner heim. Diesmal war der Arkonide das Thema, Atlan, den er suchte und in der Nähe vermutete. Die Vorstellung, daß der »Freund« sich in Gefahr befand, wurde immer stärker. Gefangen, in der Macht der Pharster? Vermutlich nicht, denn sonst hätte Tuffelsyt es genau gewußt, und auch er, Colemayn, würde es über die Nachrichtensendungen erfahren haben. Ab und zu glitten die Linsen der Nachrichtenteams über den Raumhafen und zeigten die Ansammlung der Schiffe, die in normalen Intervallen landeten und starteten. Nur dieses ungewöhnlich geformte schlanke Schiff bildete zu den anderen
Schiffsformen einen auffallenden Gegensatz. Die Erklärung, die ihm am angenehmsten war, mußte zwangsläufig falsch sein. Atlan in diesem Sternenschiff? Auf keinen Fall. Viel zu vordergründig. Hinter der Hügelkuppe kamen die ersten Häuser der Siedlung zum Vorschein. Colemayn suchte nach einem Schalter, der den Düsenmechanismus für die Frontscheibe einschaltete. Durch das Loch in seinem Rücken schlug schräg der Regen ins Innere des Gleiters. Endlich blies komprimierte Luft die strömenden Wasserbahnen vor seinen Augen zur Seite und säuberte gleichzeitig die Scheibe. Colemayn setzte die Geschwindigkeit herunter und näherte sich im Schutz von Farmgebäuden – er hielt die siloähnlichen Würfel und Röhren für Vorratsbehälter oder dergleichen – den Rückfronten der Häuser. Der Regen wurde stärker und behinderte die Sicht fast völlig. Als der Gleiter unter den Ästen einer Baumgruppe anhielt, spalteten die ersten Blitze das graue Halbdunkel. Donnerschläge rollten über das Land. Ein Schwarm riesiger Vögel stürzte sich in die Regenschauer hinaus. Die Bäume hatten Stämme wie aus schwarzem Glas. Die Kronen sahen aus wie kantige Schirme. Lianen voller Früchte schaukelten im Sturmwind daran. Colemayn beobachtete das Haus, in das vor Tagen die geretteten Kinder hineingerannt waren. Es wirkte leer und verlassen. »Wenn ich wüßte, wo meine Ausrüstung steckt«, sagte sich der Sternentramp, »würde ich es riskieren.« Er wartete geduldig und spürte, wie der Regen in seinen Kragen lief und sein Rücken naß und nässer wurde. Das Gewitter wütete weiter. Kurze Zeit später prasselte ein wütender Hagelschauer herunter und erfüllte die Umgebung mit einem betäubenden Lärm. Etwas warnte Colemayn; er kauerte sich so tief wie möglich zwischen die zu schmalen und zu niedrigen Sitze und spähte durch das Rückfenster. Vom oberen Rand lief in breiten Rinnsalen das Regenwasser und tropfte auf die Ladefläche. Hagelkörner, so groß wie eine Fingerkuppe, tanzten und sprangen umher. Auf fast demselben Weg, auf dem er sich hierher gewagt hatte, näherte sich, undeutlich zu sehen, ein zweiter Gleiter. Augenblicklich handelte Colemayn, steuerte die Maschine geradeaus und schob sie mitten in eine Buschgruppe hinein. Die rechte Kante schrammte kreischend entlang eines Felsens. Der Gleiter schwankte wild, dann ließ ihn Colemayn auf den weichen Boden sinken. Es hagelte noch immer. Trotzdem bemühte sich der Fremde, so unauffällig wie möglich den Gleiter zu verlassen und bis zu einer Stelle vorzudringen, von der aus er die andere Maschine sehen konnte. Vorsichtig bog er die triefenden, vom Wind und Hagel gepeitschten Blätter und Ästchen zur Seite. Die andere Maschine war zumindest ebenso zerbeult, alt und rostig wie das halbe Wrack, das Colemayn gesteuert hatte. Sie wurde auf das bewußte Haus zugesteuert. In der Kabine saß ein einzelner Pharster. Colemayn glaubte, zumal der Pilot die Brille abgenommen hatte, Tuffelsyt zu erkennen. Aber er war nicht sicher. Andererseits – wer hätte hier etwas zu suchen, wenn nicht der Handelsmann der Sensationen? Tuffelsyt näherte sich schnell dem Haus. Das Gewitter diente ihm als willkommene Deckung. Er drehte im Schutz einer Mauer den Gleiter herum, dann sprang er aus der Fahrerkabine und hastete bis zur nächsten Maueröffnung. »Sehr interessant«, murmelte Colemayn verblüfft. Jetzt erkannte er den Pharster deutlich an der Kleidung und den Waffen. »Ob er sich etwas von diesem Trick verspricht?« Tuffelsyt blieb stehen, sah sich um und zog eine Waffe. Der Hagel peitschte jetzt fast waagrecht
durch die Luft, dann hörte er schlagartig auf. Der Pharster rannte in den Park hinein und verschwand aus der Sicht Colemayns. Der Fremde war mehr darüber verblüfft, daß niemand den Eindringling sah oder festzuhalten versuchte, als darüber, daß sich Tuffelsyt hierher wagte. Die Zeit verging, der Regen fiel entweder waagrecht, schräg oder senkrecht, Donner und Blitz wechselten einander ab, und plötzlich kam Tuffelsyt in einem rasend schnellen Galopp seiner stämmigen Beine aus dem Park gerannt und schleppte ein Bündel mit sich, das Colemayn augenblicklich erkannte. Sein grüner Rucksack! Mit einem kraftvollen Schwung warf der Pharster das Gepäck auf die Ladefläche, schwang sich in die Kabine und startete die Maschine. Der Gleiter schoß davon und hinterließ eine weiße Gischtwolke. »Ein Problem weniger«, brummte Colemayn zufrieden, schob sich wieder in seinen Gleiter hinein und machte sich ruhig daran, den Händler zu verfolgen. Vermutlich war die Gegend um den Raumhafen Tuffelsyts Ziel. Der Weg, auf dem der Pharster seine bockende Maschine steuerte, war noch weniger auffallend als Colemayns Kurs. Regen und tiefhängende Wolken, ebenso die sonnenlose Dämmerung, machten Verfolgten und Verfolger so gut wie unsichtbar. Tatsächlich steuerte Tuffelsyt den Gleiter nicht auf den Basar zu, sondern auf den jenseitigen Rand der Hafenanlagen. Dort entdeckte Colemayn das Gewirr schlanker, offensichtlich neu errichteter Hochbauten. »Der Sippenverbrecher hat etwas Besonderes vor. Wozu, bei meiner Reiselust, braucht er meinen Rucksack beziehungsweise dessen Inhalt? Als Köder?« Vermutlich. Schätzungsweise zwei, drei Stunden dauerte der Flug. Colemayn versuchte immer wieder, in Deckung zu bleiben und zu verhindern, daß ihn Tuffelsyt sah. Er selbst hielt ununterbrochen Ausschau, aber sie wurden nicht beobachtet. Das alles war für Colemayn im höchsten Maß verwirrend und ohne rechten Sinn. Vielleicht brauchte Tuffelsyt die Ausrüstung als Anzahlung, als Beweis, daß er seine Ware wirklich besaß oder zu einem noch weniger verständlichen Zweck. Die dunklen Wolken tauchten tief auf das Land herunter. Der Regen wurde schwächer und hörte schließlich ganz auf, als die Gleiter in großem Abstand die nähere Umgebung des Raumhafens erreichten. Hier, in der Richtung auf die Dunkelhälfte zu, wurde der Raumhafen nicht von Gebäuden begrenzt. Der Basar von Aszmo-Village lag weit zur linken Seite. Weideflächen breiteten sich aus, das Vieh hatte sich in den Unterständen mit weißen Dächern zusammengedrängt. Colemayn schätzte, daß zwischen der kleinen Siedlung und dem Raumhafen die Distanz nicht weniger als achthundert Kilometer betrug. Wieder startete ein Raumschiff in die Regenwolken hinein. Alles war von Nässe überzogen. Colemayn wußte, daß die Gefahr des Entdecktwerdens ab sofort wieder größer wurde. Tuffelsyt steuerte seinen Gleiter in einem weiten Bogen quer über einige Zufahrtspisten, dann wieder über leeres Gebiet und auf ein System von Rampen zu. Diese Straßen auf Brücken, entlang künstlicher Hügel, auf den Dächern langgestreckter, halb ins Erdreich hineingebauter Hallen oder Fabriken, bildeten ein verwirrendes Gebilde von übereinander gestaffelten Kreuzungen. Tuffelsyts Maschine reihte sich in den zunehmenden Verkehr ein und bog auf die unterste Piste ab. Colemayn, um besseren Überblick bemüht, wählte nach einiger Suche die nächsthöhere Fahrbahn. Als er sah, daß der Pharster auf eine Art Empfangsgebäude zusteuerte, über dessen Toren riesige, farbensprühende Schilder blinkten, verringerte er die Geschwindigkeit und schwebte auf einen Parkplatz zu. Auch dort standen schwere Lastengleiter, von denen einige mit Hilfe robotischer
Kräne beladen wurden. Tuffelsyt schwebte mit hoher Geschwindigkeit auf eine Lücke zwischen den abgestellten Maschinen zu, bremste stark und kümmerte sich nicht um den grauen Rauch, der aus der Bodenplatte seines Gleiters aufstieg. Zwanzig Meter über ihm tat Colemayn dasselbe, aber weniger dramatisch. Die innere Spannung machte ihn halb krank, denn noch immer hatte er nichts anderes, um sich zu wehren, als seine Sprühflasche. Der andere Gleiter hielt mit einem scheppernden Knirschen an. Tuffelsyt blieb noch in der Kabine sitzen. Deutlich sah Colemayn seinen unersetzlichen Rucksack auf der nassen Ladefläche liegen. Aber er sah noch etwas anderes. »Gestern war meine wertvolle Zukunft noch einen Tag mehr wert als heute«, brummte er und fühlte sich plötzlich besser. Tuffelsyt hatte sich aus Gründen, die Colemayn wohl niemals erfahren würde, in ein Gebiet gewagt, das ihm fremd war. Er war beobachtet worden. Man hatte ihn erwartet. Überall, fast in einem geschlossenen Kreis, kamen Zwielichtler aus Verstecken hervor und richteten langläufige Waffen auf den Pharster. Tuffelsyt stieg ahnungslos aus, rückte die Brille wieder über die Augen und strich den Kopfpelz mit beiden Klauenhänden nach hinten. Er wirkte aus dieser Entfernung selbstsicher und optimistisch. Er blickte sich um und sah keinen seiner Verfolger. Mit entschlossenen Schritten ging er auf den Eingang des Gebäudes zu. Ein scharfes Knacken ertönte gerade in dem Moment, als Colemayn sein Fahrzeug verließ und sich unmittelbar neben einer Spiralrampe zwischen einigen jungen Bäumen zu verstecken versuchte. Dann schrie eine harte, schrille Lautsprecherstimme: »Tuffelsyt! Du bist umstellt! Waffen wegwerfen. Du hast keine Chance!« Gleichzeitig sprangen mindestens dreißig Zwielichtler, deutlich an ihren breiten Schutzbändern, Helmen und Waffen zu erkennen, hinter anderen Gleitern, Zäunen, Mauern oder Containern auf. Langsam kämen sie näher. Colemayn wartete und versuchte sich Tuffelsyts Reaktion vorzustellen. Er behielt tatsächlich recht: der Händler wehrte sich verbissen. Und er machte es recht geschickt, trotz der Übermacht. Der Pharster sprang zur Seite. Seine Hände fuhren herunter zu den beiden Waffen. Noch während er wie ein Rasender im Zickzack auf den Eingang zurannte, feuerte er wie wild nach allen Seiten. Fahle gelbe Strahlen und grellweiße Glutbalken zuckten röhrend und donnernd waagrecht über das nasse Pflaster. »Du Narr! Du machst es nur noch schlimmer!« dröhnte es aus den Lautsprechern. Die Echos brachen sich zwischen den glatten Mauern der Gebäude. Colemayn stützte sich auf eine Art Leitplanke und sah bedächtig zu. Sein Gesicht nahm einen fast träumerischen Ausdruck an, als seine Augen zwischen den Akteuren dieses Zwischenfalls und seinem Rucksack hin und her gingen. Einige Zwielichtler brachen zusammen. An mehreren Stellen schlugen Flammen, Glut, brennende Gase und lodernde Tropfen aus dem Pflaster. Einige Gleiter wurden getroffen und begannen zu brennen. Die Zwielichter schossen zurück. »Ausgerechnet jetzt!« schrillte die Stimme des Händlers abgehackt in dem chaotischen Lärm. Colemayn nahm die Hände von der Rampe und legte sie wie Schalltrichter vor seine großen Ohren. »Da ich endlich weiß, wo dieser Exote steckt, dieser Atlan…« In der nächsten Schußfolge gingen die weiteren Worte unter. Colemayn war alarmiert. Zweifellos
sprach Tuffelsyt gerade in diesem Augenblick die Wahrheit. Wieder zuckten glühende Energiestrahlen hin und her. Die Zwielichtler rückten unaufhaltbar näher. Sie feuerten ununterbrochen auf Tuffelsyt. Ihre Strahler spuckten lange, irisierende Strahlen aus. Zweifellos handelte es sich um Lähm- oder Schockwaffen. Tuffelsyt wurde getroffen, hinkte und humpelte aber weiter. Die rettenden Türen des Handelsgebäudes kamen näher. Wieder schrie der Pharster voller Wut. »Dieser Atlan, ich weiß, wo er ist. Und ihr Kretins hindert mich an der Ausführung. Mein Plan war der größte, den der Planet je gesehen hat…« »Das, Gevatter, wage ich zu bezweifeln«, sagte sich Colemayn ruhig. Ein zweiter Lähmschuß traf Tuffelsyt. Im hohen Bogen flog eine Waffe aus seiner Hand und schlitterte kreiselnd über die glatten, nassen Platten davon. Der Händler warf sich zu Boden, rollte auf den Rücken und feuerte mit der anderen Waffe weiter. Jetzt war Colemayn tatsächlich davon überzeugt, daß sich Atlan wirklich auf Pharst aufhielt, genauer; in Nald-Pharst und hier in der Raumhafengegend! Sekunden später, auf der sanft ansteigenden Rampe zum Eingang, kreuzten sich mehrere Schußbahnen und trafen den Pharster voll. Zuckend blieb Tuffelsyt liegen. Die zweite Waffe entfiel seiner kraftlosen Klauenhand. Mehrere Zwielichtler stürzten sich auf ihn. Andere löschten die kleinen Brände. »Einsatz beendet!« schrie der Befehlshaber. »Bringt ihn ins Gerichtsgefängnis. Krankenabteilung.« Es stellte sich heraus, daß ein Teil der Gleiter getarnte Fahrzeuge waren. Aus dem hochgleitenden Tor eines Nebengebäudes schwebten zwei Einsatzgleiter hervor. Die Uniformierten verteilten sich auf die übrigen Maschinen, während der reglose Tuffelsyt auf eine fast quadratische Bahre gelegt und mit breiten Gurten festgeschnallt wurde. Mit blitzenden Laserstrahlen jagte das erste Fahrzeug davon. Colemayn hielt den Atem an und duckte sich. Einige Uniformierte näherten sich dem Gleiter, mit dem Tuffelsyt herangerast war. Sie unterzogen die Kabine einer flüchtigen Überprüfung, warfen einige Blicke auf die von nassem Gerumpel übersäte Ladefläche, auf der, ebenso naß und schmutzig, der unersetzliche Rucksack lag. »Mir ist klar«, hörte Colemayn einen Zwielichtler sagen, »warum der Tuffelsyt durchgedreht hat. In Nald werden keine Außenseiter geduldet.« »Jaja, die Großen Familien«, lautete die verständnisvolle Antwort. »Sie werden ihren Schauprozeß jetzt bekommen.« »Wir haben schließlich dafür gesorgt.« Ein Gleiter nach dem anderen wurde bemannt und schwebte davon. Die ’ Unterseite der Wolken färbte sich rot und golden; ein Teil der Sonnenscheibe wurde sichtbar. Colemayn rannte die Lampe hinunter, bewegte sich hinter den großen Gleiteraufbauten bis zu seinem Ziel und packte mit einem schnellen Griff den Rucksack. Er warf ihn sich halb über die Schulter und ging, als gehöre er hierher, quer über den Platz und in ein Magazin hinein. Er entdeckte nach einer Wanderung um die riesigen Stapel herum ein leeres Büro. Nach kurzer Überlegung hob Colemayn das kleine, tragbare Bildschirmgerät aus dem Fach, entfernte die Energiezuführung und nahm das Gerät unter den Arm. Im Hintergrund der Halle führte eine Spiralrampe aufwärts. Unbehelligt gelang es dem Planetenwanderer, das Dach zu erreichen, auf dem die Piste verlief. Eine Reihe übereinander gestapelter, verschieden großer und unterschiedlich farbig gekennzeichneter Container war unmittelbar neben der Fahrbahn aufgestellt, dahinter stand das Ladegerät, und schräg über allem eine Kontrollkabine.
Colemayn hatte dieses potentielle Versteck bereits bei der Ankunft gesehen. Von der Kabine, die auf einem schlanken Stahlrohr ruhte, hatte er einen hervorragenden Weitblick und konnte besonders die Umgebung der Raumschiffe beobachten. Er kletterte hinauf, schloß die einfache Tür hinter sich und setzte sich, nachdem er das Gerät angeschlossen und eingeschaltet hatte, auf den winzigen Tisch. »Das war’s, Tramp«, sagte er zu sich. »Ich bin nicht mehr ganz wehrlos.« Er drehte die Lautstärke zurück, als die nächste Nachrichtensendung angesagt wurde. Bedächtig öffnete er seinen Rucksack, nahm seine kargen Nahrungsmittelvorräte heraus und betrachtete sie voller Traurigkeit. Er rechnete damit, daß ein einzelner Pharster, wenn überhaupt, diese Kabine betreten würde – für ihn kein Problem. Zunächst einmal war er an strategisch hervorragender Stelle versteckt. Ein paar Stunden Ruhe würde man ihm wohl gönnen, denn es gab seiner Meinung nach keine deutlichen Spuren, die er hinterlassen hatte. Nacheinander, während er den zähen Braten kaute, packte er aus, was er brauchte: ein abgestoßener Feldstecher, in Wirklichkeit ein hervorragender Apparat, eine aufblasbare Matratze, eine dünne Spezialdecke, schließlich einen länglichen Gegenstand, in ein dickes, öliges Tuch eingeschlagen. Colemayn faltete das Tuch auseinander. »Mein wackerer, glänzender Begleiter!« murmelte er förmlich hingerissen, auf jeden Fall stark erleichtert. Er hielt in beiden Händen ein Schwert. Die Schneide funkelte und war haarfein scharf geschliffen. Es zeigte sich nicht die geringste Rostspur, auch keine Scharte. Der Griff, den er probeweise packte und seine Finger darum bewegte, lag sicher und vertraut in der Hand. Lange betrachtete Colemayn diese archaische Waffe. Mit halbem Interesse hörte er die Meldungen aus dem Nachrichtengerät. Die Sippe Rotym-Ney hatte offiziell Anklage gegen den Sippenangehörigen Tuffelsyt erhoben. Wenn Colemayn richtig verstand, kam eine Liste von bemerkenswerter Länge zusammen – Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, Entführung von Minderjährigen, Rohheit gegen Familienangehörige und so weiter. Dabei kam heraus, daß die Rotym-Neys tatsächlich eine der mächtigen Handelssippen waren, mit Außenposten und Niederlassungen auf vielen Planeten. Ein Kommentar besagte, daß Tuffelsyt stets der unangepaßte Außenseiter dieser Riesenfirma gewesen war. Die entführten Kinder befanden sich in der Obhut der Familie und waren wohlauf. Nach dem exotischen Fremdling, der angeblich die Kinder in die Dunkelhemisphäre entführt hatte, um sich Vorteile zu verschaffen, wurde noch immer – bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt erfolglos – gesucht. Colemayn blies die Unterlage auf und zog die nasse Felljacke aus. Er wickelte das Schwert, nachdem er es noch einmal mit breitem Grinsen betrachtet hatte, wieder ein und verstaute es im Rucksackinnern. Das Interesse der Öffentlichkeit an der bevorstehenden’ Verhandlung war groß. Aufmerksam hörte Colemayn zu, wie eine Straßenbefragung durchgeführt wurde. Er sah nur Pharster, nicht einmal im Hintergrund irgendwelche Fremden. Er versuchte zu ergründen, durch welche Merkmale außer der Färbung des Pelzes sich die Planetarier gleicher Altersklassen unterschieden; es gab nur geringfügige Möglichkeiten für seine Augen. Eine der letzten Meldungen beschäftigte sich mit einem Exoten namens Atlan. Die Zwielichtler hatten wortgetreu berichtet, was Tuffelsyt während des Feuergefechts
herausgeschrien hatte. Niemand wußte wirklich etwas Genaues. Aus den Kreisen einer anderen, ebenfalls einflußreichen Händlersippe hatten die Nachrichtenagenturen gerüchteweise gehört, daß es einen Gefangenen mit gleichem Namen geben sollte. Mehr wußte man nicht. Oder niemand wollte wirklich etwas sagen. »Also doch!« sagte Colemayn erbittert. »Alles läuft darauf hinaus, daß ich diesen unsympathischen Größenwahnsinnigen aus dem Knast befreien muß! Anders komme ich an Atlan wohl nicht heran.« Kommt mehr Zeit, kommt besserer Rat, meinte er zu sich. Er hatte Geduld im Übermaß. Ihn ärgerte, daß er nicht wie auf fast allen anderen Welten mit Ruhe, Verständnis und seinen treuen braunen Augen Erfolg gehabt hatte. »In den Klauen der Pharster«, murmelte er, selbstironisch grinsend. Er streckte sich auf der weichen Unterlage aus und wünschte sich dringend ein riesengroßes Glas Rotwein oder dunkles Bier mit einer weißen Schaumkrone. Die Jagd auf ihn ging weiter. Aber wo sollten die Zwielichtler suchen? Tuffelsyt, aus der Schock-Bewußtlosigkeit erwachend, konnte ihnen nur das vorletzte Versteck verraten. Colemayn erfuhr über den Bildschirm noch einige Einzelheiten über Pharst und dessen Bevölkerung, und als mit erheblichem Lärm wieder ein dickbäuchiges Frachtschiff startete, desaktivierte er den kleinen Apparat. Seine Mütze war trocken geworden. Er massierte die Druckstellen der Pharsterbrille, dehnte genußvoll seine Muskeln und schlief ein, nicht ohne gewisse Vorsichtsregeln getroffen zu haben. *** Einen »Tag« lang verbrachte Colemayn in seinem Versteck. Niemand störte ihn. Er verbrachte schätzungsweise vierzehn Stunden seines eigenen Zeitmaßes damit, die Schrift zu lernen und die Kenntnisse über Zahlen zu vertiefen, den Raumhafen zu beobachten und ununterbrochen die verschiedenen Programme der Fernsehsender anzusehen. Auf einem Folienblock, den er in der Kontrollkabine gefunden hatte, machte er sich mit einem Bleistiftstummel Notizen. Die Zivilisation des Planeten Pharst beschränkte sich auf die sonnenbestrahlte Hemisphäre. Es existierten nur einige wenige Stationen in der kältestarrenden Dunkelhälfte. Meist waren es Schürfstellen für Erze und Mineralien. Die technischen Einrichtungen waren, soweit Colemayn sie erkennen konnte, einer raumfahrenden Gemeinschaft gemäß, die Kultur ebenfalls. Offensichtlich war der halbe Planet keineswegs überbevölkert. Genaue Zahlen erfuhr er nicht. Tag und Nacht unterschieden sich hier durch große Aktivität oder fast völligen Stillstand. Zudem gab es entlang des Dämmerungsrings fast jeden Abend Wolkenzusammenballungen, Stürme, Regen oder Gewitter – und damit einhergehend eine Art Dämmerung, in der die Wolken die Sonne verdeckten. Eine bestimmte Helligkeit wurde niemals unterschritten. »Anscheinend kein sonderbares Völkchen«, meinte der Planetentramp, der jede Einzelheit genau studierte. »Aber die Zielstrebigkeit stört mich. Sie sind eindeutig zu clever. Wie dieser Tuffelsyt.« Von Atlan hatte er nichts gehört. Er war sicher, daß bei der Verhandlung entsprechende Fragen gestellt und Antworten gegeben wurden, die ihm den Weg zum Arkoniden zeigten. Natürlich wurde er unruhiger, je länger er wartete. Aber er sah in mehr oder weniger sinnlosem Handeln nur eine Gefahr für sich selbst und somit auch für Atlan. Je mehr er kannte, wußte und verstand, desto größer wurde seine Sicherheit. Er war darauf vorbereitet, augenblicklich aufzuspringen und einzugreifen. Rätselhafterweise hatte Colemayn auch das Gefühl, als stünde ein Zwischenfall unmittelbar bevor. Eine Spannung baute sich auf wie vor einem furchtbaren Gewitter. Er fuhr fort, die Raumschiffe,
die Mannschaften und die Roboter zu beobachten, nebenbei erfuhr er, daß alles für einen aufsehenerregenden Prozeß vorbereitet wurde. »Tatsächlich!« meinte er Stunden später. »Es scheint wirklich für Pharst ein Kapitalverbrechen zu sein, wenn ein Onkel seine Nichten und Neffen einsperrt.« Er sah abseits der größeren Raumschiffe einen diskusförmigen Raumflugkörper mit etwas weniger als zehn Metern Durchmesser; ein verhältnismäßig elegantes Objekt, das auf Stelzen stand, und zu dem eine Rampe aus Rohrgitter hinaufführte. Winzige, kuppelförmige Elemente durchbrachen an einigen Stellen die stark abgerundeten Schalen. Ab und zu schwebten vielarmige Roboter heran und machten sich an dem Diskus zu schaffen. Die Schleusentür stand einmal offen, war eine Stunde später geschlossen, wurde später wieder geöffnet. An der Stelle, wo die beiden Schalen aufeinanderstießen, erkannte Colemayn eine Beschriftung. Er sah nur drei Lettern: N A C… Auf dem Raumhafen herrschte die normale Betriebsamkeit. Unverändert wurden Schiffe entladen und beladen. Aus der Richtung der Hauptstadt kamen ebenso Ströme von Waren wie aus den zahlreichen Magazinen, die sich im Halbkreis um diesen Teil des Hafens gruppierten. Schließlich, nach einer langweiligen und unerträglich lang erscheinenden Wartezeit, konzentrierte sich alles Interesse der Nachrichtenmedien auf den Prozeß Rotym-Ney versus Tuffelsyt. Es wurde ein gewaltiger Aufwand getrieben.
5. Der Neunmalkluge weiß, daß aller guten Dinge dreimal drei sind. Für Tuffelsyt haben die Großen Familien interstellaren Handels offensichtlich mehr als neun Überraschungen ausgedacht. Ich bin heute noch sicher, daß alle Beteiligten bis hin zum Richter hoch bestochen waren. Einige Stunden lang verwandelte sich mein Versteck in einen Zuschauerraum, von dem ich als einziger die Bühne betrachtete. Ich lernte viel über Pharst und die Pharster… Colemayns Planetentagebuch *** Mehrere Kameras oder Aufnahmegeräte, mehrere Sprecher und nahezu alle Stationen, die Colemayn mit dem kleinen Gerät empfangen konnte, schilderten die Vorbereitungen des Prozesses. Zuerst wurde das Gefängnis von außen gezeigt. Ein wuchtiges Bauwerk mit Projektoren, die aus schmalen Schlitzen in den Mauern hellrote Schirme erzeugten. Das Gerichtsgefängnis stand mitten in der Stadt, wie die meisten Gebäude abseits der Gleiterpisten und in einem weitläufigen Park. Roboter standen da, rollten hin und her oder schwebten in weiten Kreisen um die Flanken des bunkerähnlichen Bauwerks. Die Ansammlung von schwer bewaffneten Maschinen überzeugte jeden Bewohner von Nald, daß hier ein Schwerstverbrecher einsaß. Ein Korridor tauchte auf, nachdem die Sicherheitseinrichtungen des Eingangs passiert worden waren. Auch hier schien ein Entkommen unmöglich zu sein dank vielfacher Sperren. Dann zeigten die Bildschirme die Zelle, in der Tuffelsyt unruhig auf und ab ging. Es ging ihm augenscheinlich gut; sein Pelz war glattgekämmt und sauber. Er trug die weißen Binden des Angeklagten. Das Bild wechselte abrupt. Der leere Gerichtssaal wurde eingeblendet. Die Ausstattung war prächtig und aufwendig und entsprach dem Ausmaß des öffentlichen Interesses, Spätestens jetzt mußte auch ein Außenstehender merken, daß – bei aller Übertreibung, die sicher historischen Ursprung hatte – der Schauprozeß für die Pharster wichtig war. Vermutlich hauptsächlich deshalb, weil Gewalt gegen Kinder angewendet worden war. »Die Roboter entlang der Wände, Rampen und Eingänge sind mit großer Mühe gestaltet worden«, klärte ein unsichtbarer Sprecher auf. »Sie ähneln Gestalten aus der Legende der Pharster. Waffen, Rüstungen und Aussehen sind wichtig für den Ablauf eines solchen Vorhabens. Darüber hinaus sind die Roboter tatsächlich einsatzbereit.« Mindestens hundertdreißig Gestalten befanden sich in dem großen, runden Raum, der in verschiedene Ebenen und Sektionen eingeteilt war. Sie waren doppelt so groß wie ein erwachsener Planetarier, hatten meist zwei Beine und sahen entfernt aus wie beispielsweise der Exote, dessen Holobild man beim Angeklagten gefunden hatte. Damit endete aber jede Ähnlichkeit; diese legendären Gestalten trugen helle Panzer, kantige Schädel, die sie wie Reptilien aussehen ließen, wie riesige Käfer mit Klauengliedern, Katzentieren und Riesennagern. Die Rüstungen und Waffen waren gleichermaßen bizarr. Die Roboter senkten Lanzen mit filigranen Spitzen, schulterten phantastisch aussehende Strahlenwaffen, gingen hin und her, und die Visiere ihrer Helme hoben und senkten sich ebenso wie Kopfscheren und hakenbewehrte Fühler. Für die Verhandlung würden sie eine wirkungsvolle, aber makabre Kulisse abgeben. Der Saal begann sich langsam zu füllen. Die Kameras wurden aufgebaut, es fanden kurze Beleuchtungsproben statt. Durch ein riesiges Fenster leuchtete ebenso riesig die Sonnenscheibe. Der Urteilsfindungsrechner wurde eingeschaltet, seine vielen Sensoren postiert. Auf riesengroßen Bildschirmen liefen Schriften ab und zeigten sich Bilder. Die Zeugen wurden in einem Probelauf vorgestellt. Angehörige der Händlersippen kamen herein, begrüßten sich
gegenseitig in steifer Förmlichkeit und setzten sich. »Das Gericht hat beschlossen, wegen der Schwere der Verfehlungen die klassische Form des Verfahrens anzuwenden«, erläuterte ein anderer Sprecher. Der Angeklagte wurde von vier jener schauerlichen Fabelwesen hereingebracht. Die Waffen und Rüstungen der legendären Krieger klirrten und rasselten bei jedem Schritt. Tuffelsyt war von schweren, zeremoniellen Ketten an chromblitzenden Arm- und Fußfesseln förmlich zu Boden gezwungen. Die Robotdiener stützten ihn, bis er auf einem harten, steinernen Sessel klirrend und rasselnd niedersank. Einzelne Scheinwerfer in verschieden getöntem Licht schalteten sich an. »Die Zeugen!« Der Einzug Zennecks und Cyrgas gestaltete sich hingegen fast fröhlich. Alle Anwesenden brachen in durchdringendes Geschrei aus und riefen den Kindern Scherzworte und Aufmunterungen zu. Mehr und mehr füllten sich die einzelnen Sektoren und die Ränge der Zuschauer. Die breiten Bänder aus blitzenden Metallelementen, farbigem Kunststoff oder wertvoll bestickten Stoffen machten das Bild bunter und abwechslungsreicher. Zwischen ihnen standen die furchtbaren Dämonenroboter. »Das Gericht tritt ein.« Eine Prozession von zwei Dutzend Pharstern kam aus einer seitlichen Tür. Die Richter hatten ihre Köpfe mit riesigen, glockenförmigen Helmen verhüllt. Die Folienbrillen hoben und senkten sich über die röhrenartigen Augenöffnungen, je nachdem, wieviel Licht hereinfiel. An den Körpern trugen die Verantwortlichen lange, biegsame Schläuche aus schwarzem Material, das im Licht immer wieder seltsame Reflexe zeigte. Nacheinander setzten sich die düsteren Gestalten in einem Halbrund um die Zone, in der Tuffelsyt kauerte, regungslos und vornüber gekrümmt durch das Gewicht der Ketten. Deutlich waren die einzelnen Händlersippen zu erkennen. Ihre Mitglieder, deren – Körperfelle von olivgrün über grau bis schwarz alle Farben zeigten, trugen höchst unterschiedliche, vermutlich ebenfalls zeremonielle »Kleidung«, aber stets waren die Farben der breitesten oder auffallendsten Bänder und Gürtel gleich. Die Sippe der Rotym-Ney wurde von einem schwarzgeränderten Goldgelb gekennzeichnet. Ein Gongschlag ertönte, dann heulte eine Sirene auf, schließlich erklangen aus unsichtbaren Lautsprechern furchtbare Todesschreie. »Das Gericht bestimmt: Noch eine Mikrozeiteinheit bis zum Schließen der Türen. Man nehme die Plätze ein, und man bleibe pünktlich, auf daß niemand gegen das Urteil wegen Nichtanwesenheit einsprechen kann.« Einige Robotungeheuer bewegten sich gemessenen Schrittes bis zu den übertrieben hohen Toren des Gerichtssaals. Eine weitere Menge Pharster strömte herein* begrüßte laut die Anwesenden und verteilte sich im gesamten Raum auf die Plätze. Schwarz und drohend saßen die Richter da. Ihre Brillen glänzten matt, die Augen schienen Tuffelsyt durchbohren zu wollen wie Laserwaffen. Die Darbietungen verschwanden von den Bildschirmen; die dreidimensionalen Farbbilder verblaßten. Mit einem gewaltigen Donnerschlag schlossen sich genau nach der angesagten Zeitspanne die metallenen Portale. Die Roboter brachten Kessel mit brodelndem Wachs, strichen dies auf das Metall und drückten, noch ehe es ganz erstarrt war, riesige Stempel ein. Die Muster schienen ebenfalls archaisch zu sein. »Das Verfahren beginnt. Zum Namen!« Jetzt ließ sich der Rechner vernehmen. Die Maschine nannte Tuffelsyts vollen Titel, seinen Beruf,
die Sippenzugehörigkeit und dann die Zusammensetzung der Anklagevertreter und der Verteidigung. Es gab zwei Verteidiger und sieben Ankläger. »Zum Verbrechen. Die Anklage spricht.« Die Ankläger standen auf und begannen mit singender, fast kreischender Stimme einen WechselSprechgesang. Sie schilderten in hochtrabender und ausufernder Weise die Untaten des Tuffelsyt. Schweigend hörte das Auditorium die schier endlose Auflistung. Die Schilderung erfolgte fast wie die Darbietung eines Oratoriums. Es redete oder sang immer nur ein Ankläger. Dann übernahm ein anderer, dann sein Nachbar und so fort. Jetzt, gegen Ende der Anklage, setzte sich derjenige wieder, dessen Text beendet war. Es gab eine kurze Pause. Anschließend erfolgte wieder dieses schauerliche Heulen und Wimmern. »Die Zeugen sprechen.« Ankläger und Verteidiger – die beiden Pharster sprachen leise und leidenschaftslos – befragten Cyrga und Zenneck. Die Kinder gaben eine annähernd wahrheitsgetreue Schilderung der Vorfälle. Aber stets dort, wo sie selbst betroffen gewesen waren oder gar Schmerzen erlitten hatten, übertrieben sie. Ab und zu stand der Sprecher einer Händlersippe auf, deutete auf den Angeklagten und wies auf dessen Verfehlungen und seine Verstocktheit hin. Die Dramatik schien nicht mehr zu steigern zu sein. Zenneck und Cyrga beendeten ihre Aussage. Die beiden Verteidiger versuchten nicht, die Glaubwürdigkeit der Kinder zu erschüttern. Aber sie wählten einen anderen Weg. Sie versuchten, die lange Reihe der Verfehlungen dadurch zu verkürzen, daß sie mit den Zeugen, dem Gericht, den Sippenältesten und den Terminals des Rechners argumentierten. Stundenlang ging es hin und her. Nur zweimal wurde Tuffelsyt direkt gefragt. Er wehrte sich verbissen und versuchte immer wieder, aufzuspringen. Seine Erregung war unbeschreiblich groß. Er schrie Einwände heraus, bezichtigte Cyrga und Zenneck der Lüge, wehrte sich gegen unpassende Fragen und warf dem Gericht und den Sippen vor, daß sie ihn, den Einzelgänger, vernichten wollten. Er machte es nicht einmal ungeschickt, und jedesmal nach seinen aufgeregten Einlassungen ging ein Raunen und Brummen durch den Saal. Es nutzte nichts. Das Urteil wurde gesprochen. Nach einem dritten Signal von unüberbietbarer Schauerlichkeit zogen sich die Richter zur Beratung zurück. Die Terminals des Rechners begannen zu blinken, über die Bildschirme zogen Dokumentationen vergangener Urteile. Vermutlich dienten sie dazu, die Wartenden zu unterhalten. Es wurde gezeigt, wie die Roboter die Schuldigen straften. Es gab offizielle Hinrichtungen, die Züge, von denen der oder die Verurteilten in die Verbannung oder Zwangsarbeit in der Nachthalbkugel geführt wurden und vieles mehr. Besonders interessant war geschildert, wie eine Gruppe von etwa einem Dutzend Schuldiger zum Raumhafen eskortiert wurde. Offene Gleiter bewegten sich langsam quer durch die Stadt, von den gerüsteten und bewaffneten Roboterbestien begleitet, und der Zug endete vor einem Raumschiff. Auch die Besatzung des Schiffes bestand aus solchen Robotern, die allerdings aussahen wie monströse Raumfahrer. Man trieb die Verbrecher ins Schiff. Roboter verschlossen die Luken, Maschinen steuerten das Raumschiff zu einem Verbannungsplaneten. Als sich nach etwa hundert Mikrozeiteinheiten das
Gericht wieder zusammenfand, wurde die Darbietung beendet. Die Richter sprachen ihr Urteil. Zwölfeinhalb Jahre Verbannung. Der Rechner schaltete sich ein und erwog anhand von Tausenden ähnlicher Urteile nicht lange: Endgültiges Urteil: zehn Pharst-Jahre Verbannung. »Der Ort der Verbannung?« Die Richter entschieden sich für einen Planeten. »Die Welt des Dunklen Frostes.« Wieder kontrollierte der Justizrechner die Schwere des Urteils. Diesmal war es angemessen. Zehn Pharst-Jahre, zur ersten und letzten Gelegenheit, Läuterung zu erfahren, auf der Welt des Dunklen Frostes. Kurze Zeit brauchte der Rechner nur, um die Modalitäten zu erweitern. »Gefängnisschiff?« erkundigten sich die Verteidiger. Sie schienen froh zu sein, daß sie nicht mehr hatten arbeiten müssen. Das Gefängnisschiff NACHTJAGD ist frei. Ein gerichtlich überprüfter Roboter befindet sich an Bord. Der Rechner zeigte das Schiff, blendete die Rampe ein und den Roboter. Er stand mit dem Rechner in Verbindung, denn augenblicklich begann er, das Schiff vorzubereiten und den Kurs zu programmieren. Das Urteil ist gesprochen. Die Richter standen auf. Sie sprachen im Chor: »Das Urteil wurde ausgesprochen und geprüft. Es ist sofort zu vollziehen. Befreit den Angeklagten von seiner Bürde. Er soll in die NACHTJAGD gebracht werden. Der Start findet unverzüglich statt, das Ziel ist bekannt. In einem Jahrzehnt wird Tuffelsyt zurückkehren und ein vollwertiges Mitglied der pharstischen Gemeinschaft sein.« Aus den Rachen, Mündern und Maskenöffnungen, aus den Vogelschnäbeln und den Reptilienschnauzen der legendären Kriegerroboter kam zustimmendes Geschrei. Alle Anwesenden standen auf und schrien. Sie trampelten und schlugen auf die Pulte. Ein ungeheurer Lärm erhob sich, während auf den Bildschirmen der Verbannungsplanet gezeigt wurde, die Sterne seines Weltraumbezirks, immer wieder die NACHTJAGD und der hantierende Roboter. In einer feierlichen Prozession wurde der Pharster, der einen völlig verzweifelten Eindruck machte, von der Last der Ketten befreit. Nur eine dünne Kette verband sein gefesseltes Handgelenk mit dem Gürtel eines Roboters. Die Siegel der Türen wurden aufgebrochen. Langsam führten die Kriegerrobots Tuffelsyt aus dem Gerichtssaal. Die Sprecher der Händlersippen hoben die vorbereiteten Pakete auf und schlossen sich der ersten Gruppe an. In den unterschiedlich großen, aber stets herrlich verpackten Kästen befanden sich die rituellen Spenden – ein Zeichen, daß nach erfolgtem Urteil auf beiden Seiten keinerlei Haß mehr herrschte. Auch das war ein archaisches Überbleibsel, mittlerweile aber hatte es den Rang eines Sozialstatus angenommen. Die Kläger überschütteten den Verurteilten mit wertvollen, wohlschmeckenden und teuren Nahrungs- und Genußmitteln und kleinen Erinnerungen wie Gläsern, Bechern und Schächtelchen voll wertvollem Inhalt. »Nehmt die Wegzehrung mit? Bringt sie ins Schiff«, riefen die Richter und blickten dem seltsamen
Zug nach. Fast alle Anwesenden schlossen sich an und begleiteten Tuffelsyt zu dem Gerichtsgleiter, dessen Ladefläche mit den Paketen gefüllt wurde. In ihrer Mitte stand der Käfig, in den man Tuffelsyt sperrte. Der Gleiter setzte sich in Bewegung und schwebte dem Raumhafen entgegen. Viele kleinere Privatmaschinen schlossen sich an. Es herrschte inzwischen die Stimmung eines Volksfestes, und es machte niemandem etwas aus, daß es wieder zu regnen angefangen hatte. Die Buße für seinen Versuch, die Großen Sippen auszuschalten, würde Tuffelsyt in einem Jahrzehnt hinter sich haben. Er hatte wohl eingesehen, daß es sinnlos war, sich wehren zu wollen. *** »Sie an«, meinte Colemayn keineswegs schlechtgelaunt. »Nach und nach lernt sogar ein Ei zu laufen!« Er steckte gerade die zusammengerollte Decke in den Rucksack, als er auf dem Monitor das Ende der Verhandlung miterlebte. Ohne Erstaunen sagte er: »Als ob ich es geahnt hätte! Die NACHTJAGD!« Tuffelsyt würde in kurzer Zeit in dem kleinen Diskusschiff vom Robot in Verwahrung genommen werden. Die letzte und einzige Chance lag dort. Die ersten drei Buchstaben des kleinen Diskusschiffes, NAC, deckten sich mit dem Namen: NACHTJAGD hieß das Gefängnisschiff für Einzeltäter. Unbewußt hatte sich Colemayn auf diesen Augenblick vorbereitet gehabt – jetzt brach er auf. Er kannte eine wahre Unzahl verschiedener Planeten. Er hatte viele Namen gehabt, war vielen Ideen nachgelaufen und hatte viele Aufgaben gehabt. Davon waren, wenn er genau rechnete – und das tat er selten –, einige sehr wichtig gewesen. Wenige, um es genau zu sagen. Und da Colemayn auch unzählige Abenteuer überlebt hatte, wußte er sich zu helfen. Er handelte blitzschnell und mit der Überlegung des vergangenen Tages. Er schaltete den Bildschirm ab und verließ nach einem langen Rundblick die Kontrollkabine. Fast bedauerte er es; sie war ihm auf diesem Planeten fast zur zweiten Heimat geworden. Mit kraftvollen Bewegungen kletterte er zum Boden hinunter und schlich zwischen den Containerstapeln bis zur Piste, überquerte sie mit zwei Sätzen und zog dann erst die breiten Gurte seines Rucksacks fester. Wieder hob er das Glas an die Augen, suchte die Gegend ab und brummte: »Sie sind vermutlich alle bei der Verhandlung, ha!« Aus dem Lagerhaus, aus dem er das Bildschirmgerät ausgeliehen hatte, transportierten Maschinen auf halbrobotischen Tieflager-Gleitern riesige Stapel Waren zu einem Raumschiff, das etwa einen halben Kilometer von der NACHTJAGD entfernt war. Die Schleuse des Diskus, größer als nur für einen Pharster, stand wieder einmal offen. »Lauter positive Zufälligkeiten«, murmelte Colemayn und schaffte es, ungesehen durch das Gebüsch bis zur glatten, fensterlosen Rückwand des riesigen Schuppens, hinter der es ständig dumpfe Geräusche gab, zu schleichen. Hier hielt er an und starrte hinüber zum Diskusschiff. Noch war von dem Zug, der Tuffelsyt bringen sollte, nichts zu sehen und zu hören. Der Platz zwischen seinem Standort und dem kleinen Raumschiff war völlig leer. Er lehnte sich an die Wand und wartete. Das Rumpeln in seinem Rücken verstärkte sich, nach einer Minute etwa schob sich ein
schwerbeladenes Gefährt aus der breiten Einfahrt. Es kam zwanzig Schritt an ihm vorbei und war mit Ballen und seltsam geformten Fässern beladen. Noch zögerte Colemayn, seinen Platz zu verlassen. Atemlos verfolgte er den Weg des riesigen Gleiters. Im Schrittempo schwebte das Gefährt an ihm vorbei, warf einen langen schwarzen Schatten und brummte auf die Reihe der Frachtraumschiffe zu. Der Weg war fast geradlinig. »Nun gut«, sagte sich der Sternentramp und fragte sich zum wiederholten Mal, ob Atlan wirklich in dem seltsamen, schlanken Raumschiff war. Wenn es so war, würde es Tuffelsyt wissen. Der Lastengleiter zog eine Kurve um die Landestützen des Frachters und hielt unter den offenen Luken im Bereich der Ladegeräte. Eine leere Plattform ruckte an und kam in schneller Fahrt auf das Magazin zu. Wieder verschwand Colemayns Kopf hinter den Blättern. Seine auffallende Mütze hatte er in die Tasche gesteckt. Das Gefährt verschwand, ein anderes tauchte auf. Colemayn nahm einen Anlauf, rannte auf den Schlepper zu und sprang zwischen die Ladung. Er schob sich tief in den Raum zwischen zwei Stapeln hinein, spähte durch die Spalten der Stapel und wartete förmlich auf einen Schrei oder einen Schuß. Der lange Schatten berührte gerade den Teil der Rampe, der auf dem Boden auflag. Falls er noch einige Sekunden Glück hatte, konnte er es schaffen. Colemayn drehte sich herum, spannte seine Muskeln und schätzte den Weg ab. Als der schwere Gleiter mit dem Schatten die Rampe berührte, sprang er ab und hetzte trotz des schweren Gewichts in seinem Rücken hinüber. Mit drei, vier Sprüngen hatte er die Rampe hinter sich gelassen und fing seinen. Aufprall in der kleinen Schleuse mit ausgestreckten Händen ab. Er richtete sich halb auf, drehte den Kopf und sah schräg über sich den metallenen Rahmen der Schleuse. Er wartete auf einen Alarm oder den Angriff des Robots. Er wußte nicht einmal, ob die Maschine allein war, oder ob sich noch andere Roboter oder eingebaute Sicherheitseinrichtungen an Bord befanden. Er machte einen Schritt nach vorn und zog ein kurzes Messer mit dicker Schneide aus der Unterschenkeltasche seiner Fellhose. Er verließ die Schleuse, drehte sich herum und spähte nach draußen. Keine Reaktion! »Atlan sollte mich sehen«, knurrte Colemayn fast unhörbar leise. »Er hätte seine helle Freude. Hoffentlich.« Acht oder zehn Meter Durchmesser; das Raumschiff war sehr klein. Der Korridor, der sich an die Schleuse anschloß, war gekrümmt und verlief also parallel zur Rundung des Diskus. In den Wandungen gab es kastenförmige Elemente. Kleine Lampen und Leuchtfelder wechselten einander ab. Hinter dem Metall klickte und summte es. Das Schiff war also bereits startfertig gemacht. Auf seinen weichen Sandalen schlich Colemayn vorwärts. Die Klinge des Messers deutete nach vorn, er bemühte sich, nicht mit dem Rucksack anzustoßen. Wie war der Robot programmiert? Stand er noch mit dem Rechner des Gerichts in Verbindung? Bisher hatte der Sternentramp zielstrebig und erfolgreich gehandelt. In diesen Sekunden wurde er unsicher. Er kam am offenen Schott einer Kammer vorbei, in der er eine Liege sah und ein System von Einbauten, von denen eine Tischplatte und ein Sitz ausgefahren waren. Die Kenntnis, wo Atlan steckte, konnte wohl nur mit erheblichen Schwierigkeiten erworben werden. Der schmale Schiffskorridor machte eine scharfe Biegung und endete vor einem geschlossenen Schott.
Es gab keinen anderen Eingang. Dahinter lag die Zentrale. Und hinter dem Schott befand sich der Robot. Selbst mit Hilfe des Glases hatte Colemayn nicht erkennen können, ob und wie stark die Maschine bewaffnet war. Daß sie sich wehren konnte, stand für ihn fest – denn der Robot mußte auf einen verurteilten Verbrecher aufpassen und ihn auf dem Dunklen Frost-Planeten abliefern. »Mit Ratlosigkeit komme ich auch nicht weiter«, sagte Colemayn und drückte auf eine Kontaktplatte, die etwa in Kniehöhe angebracht war. Dann bückte er sich. Mit einem zischenden Surren glitt die Metallplatte auf. Ein Spalt verbreiterte sich. Der Robot, einem Pharster nicht unähnlich, stand auf vier schlanken Gehwerkzeugen vor dem Kontrollpult, hatte einen Stecker in das Pult eingeschoben und übertrug offensichtlich einen Datenstrom. Er drehte sich nicht um, bewegte sich nicht. Colemayn wußte nicht, was er tun konnte. »Nur keinen Alarm«, sagte er. Er ging auf den Robot zu und zog mit einem schnellen, harten Ruck den Kontakt aus der Pultplatte. Die Sehlinsen richteten sich auf ihn. Der Robot schien irgendwelche Schwierigkeiten zu haben. Aus seinem Innern kam eine Stimme, die nicht zu der Konstruktion paßte. Sie war, für einen nachgeahmten Pharster, viel zu tief. »Du bist nicht in meinem Speicher. Was willst du an Bord?« Colemayn wußte, daß seine Antwort wichtig war. Sagte er etwas Falsches, gab die Maschine Alarm. Er mußte dieses Ding verwirren, und zwar so verwirren, daß er Zeit genug gewann. Er brauchte Zeit, um den Roboter zu desaktivieren oder umzuprogrammieren. Er hatte nicht mehr viel Zeit, denn der Zug mit Tuffelsyt kam unaufhaltsam näher.
6. Phantastische Gedanken sind kein Ersatz für einen Raumflug, und in diesem Universum gibt es Hunderttausende verschiedener Roboter. Ich kannte viele von ihnen; die Konstruktionen des ersten bewußt erlebten Planeten in dieser Galaxis waren mir absolut fremd. Aber alle derartigen Maschinen handeln nach denselben Maximen. Colemayns Planetentagebuch *** Colemayns Gedanken wirbelten wie rasend. Er schob halb aus Verlegenheit und halb um die Maschine optisch abzulenken, die Waffe in die Tasche zurück. Er holte tief Luft und antwortete: »Du kennst mich nicht, Roboter? Darf ich um deinen Namen bitten?« Er bemühte sich, so gut pharstisch zu sprechen, wie es ihm möglich war. »Unbekannt. Ich bin der verantwortliche Robot für diesen Flug.« »Vorbei an glühenden Sonnen, durch kosmischen Staub, unerschrocken und mutig«, rief Colemayn drängend und ahnte plötzlich, daß er auf dem richtigen Weg war. »Zusammen mit dem treuen und harmlosen, dabei ternyarcorthalen Sternentramp. Du und ich, zusammen in kosmischen Weiten – welch ein Vorhaben. Wir werden uns dabei selbst desintegrieren, nicht wahr?« Der Robot machte einige knirschende Schritte rückwärts. Er schwieg und versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Mit dem willkürlich zusammengesetzten Phantasiewort und mit »Sternentramp« konnte er ebenso wenig anfangen wie mit dem Versprechen, sich selbst zu desintegrieren. »Ich komme vom Gericht«, sagte Colemayn. »Ich habe lange mit allen Verantwortlichen gesprochen. Du stehst in Funkverbindung mit dem Gerichtsrechner?« »Nicht mehr«, sagte die Maschine und versuchte, das dicke Spiralkabel wieder aus dem zugeklappten Vorratsfach seines Körpers zu ziehen. Colemayn sah, daß auf der Brust und entlang der »Unterarme« des Robots Strahlenprojektoren angebracht waren. Die Maschine war mit einem oliv-silbernen, außerordentlich kurzhaarigen Pelz überzogen; vermutlich eine Isolierschicht. »Du kennst den Namen des Verurteilten und das Ziel des Fluges. Das ist klar.« »Ich kenne beides. Das Schiff ist startfertig. Was tust du an Bord? Du entsprichst nicht den charakteristischen Merkmalen eines Planetariers.« Colemayn hatte einen neuen, auch aberwitzigen Gedanken. Er zog langsam das schwere Allzweckmesser und wartete auf die nächsten Bewegungen des Robots. Er sagte: »Ich entspreche dem Aussehen eines Gerichtsroboters. Du kennst die legendenhaften Krieger. Ich begleite Tuffelsyt zur Welt des Dunklen Frostes.« Der Greifarm des Robots näherte sich mit dem schweren Kombistecker den Kontakten des Pultes. Mit einer entschlossenen Bewegung packte Colemayn das Kabel und zog die Messerschneide durch. Er durchschnitt die Isolierung, und dann zerfetzten die winzigen Zähne der oberen Schneidenhälfte die feinen Metalladern. Es gab ein schwaches, vibrierendes Zittern, als das Metall einige Kurzschlüsse herstellte. »Das ist eine Zerstörung meiner Teilkapazität!« schnarrte der Robot. »Direkter Befehl des Gerichtsrechners!« konterte Colemayn. »In der Vergangenheit waren einfache Maschinen wie du durch einen hohen Unzuverlässigkeitsfaktor und viele Ausfälle gekennzeichnet. Ich bin der Zweite Pilot der NACHTJAGD. Erkläre mir die wichtigsten Schaltungen. Der Rechner will größtmögliche Sicherheit.«
Die Maschine bewegte sich unschlüssig vorwärts und zurück. Dann legte sie das abgeschnittene Ende des Verbindungskabels auf die Ecke des Pultes. Der Rest zog sich wieder summend in das Körperfach zurück. Colemayn überlegte sich, wie er verhindern konnte, daß sich der Roboter wehrte oder ihn mit Recht angriff. Die beiden Projektoren an den Handlungsarmen waren starr angebaut. Mit einem metallgepanzerten Gliederband, nicht länger und dicker als Colemayns Zeigefinger, waren sie an die Energieversorgung im Innern der Maschine angeschlossen. Diese Verbindung war eine Schwachstelle. Zuerst schaltete die Maschine schweigend eine Reihe Monitoren an. Binnen weniger Sekunden aktivierten sich eine Anzahl Bildschirme. Dreidimensionale Bilder bauten sich auf. Eine Rundumansicht des Raumhafengeländes erschien, und in der Steuerkabine wurde es sehr viel heller. Auf einer Zufahrtsstraße aus der Richtung der Hauptstadt sah Colemayn die Spitze des Zuges, der Tuffelsyt begleitete. »Das sind die normaloptischen Bildschirme«, sagte der Roboter. »Ich frage zum letztenmal: wie ist dein Name. Was suchst du an Bord. Was hast du auf dem Zielplaneten zu tun?« Inzwischen hatte Colemayn aus der Jackentasche einen reichlich ramponierten Handschuh gezogen. »Ich heiße anders, als du ahnst, weißer als der Kosmos und älter als der rote Mond Dar.« »Das ist eine Antwort, aber kein präziser Name«, sagte die Maschine und kippte eine Reihe kleiner Schalter, die genau auf die Vertiefung der Fingerkuppen ihrer Hand ausgerichtet waren. Ein Teil der Bildschirme verwandelte sich in Ortungsmonitoren und andere, für den Stellarflug wichtige Wiedergabegeräte. »In meiner Welt, tief in der Vergangenheit, ist dies ein wichtiger Name. Mächtig. Ausschließlich. Befehlshaber von Hunderttausenden. Was ich an Bord suche? Deinen absoluten Gehorsam. Sonst zerstöre ich dich.« Colemayn hatte den Handschuh angezogen. Er war sicher, daß die Maschine zwar sah, was er tat, aber mit diesem Tun nichts anfangen konnte. Es bestand kein logischer Zusammenhang. Er nahm das Messer wieder in die Rechte. Der Roboter, der art den Schaltungen hantierte – wobei ihn der Sternentramp scharf beobachtete und versuchte, sich die Bedeutung der Regler und Knöpfe und Schalter zu merken –, drehte seinen Kopf um hundertsiebzig Grad. Die Sehlinsen flackerten. »Du zerstörst mich?« »Ich habe den Auftrag. Nur die Vernichtung ist das Ziel einer jeden Maschine. Schon beim Bau ist das Ende programmiert. Deine Waffen sind aktiv?« »Ich habe keinen Grund dazu.« »Um so trefflicher«, sagte Colemayn. »Merke dir: Die Stacheln stechen nur die Haut eines Langsamgehenden.« »Das ist logisch, aber wo sind Stacheln?« fragte mit ersten Anzeichen der Verwirrung der Robot. »Das kommt darauf an«, sagte Colemayn, spannte seine Muskeln und setzte wieder das Messer an. Mit Mühe durchtrennte es den Raum zwischen zwei Metallringen und traf unter der Isolierschicht das Kabel. Funken sprühten auf, es gab knallende und stinkende Entladungen, und das Heft des Messers begann heiß zu werden. Noch einmal führte Colemayn eine sägende Bewegung durch, dann zuckte sein Arm zurück. Der Robot war erstarrt. Seine Sehzellen starrten in die entgegengesetzte Richtung. In rasender Geschwindigkeit streifte
Colemayn den qualmenden Handschuh ab, nachdem er das Messer hatte fallen lassen. In der Schneide befand sich eine ausgeglühte große Scharte. »Du siehst«, sagte Colemayn ruhig, »daß die Selbstzerstörung schon angefangen hat. Ich helfe dir, dazu bin ich da. Zwischen uns herrscht Vereinbarkeit.« »Ich bin unsicher geworden«, sagte der Roboter. »Ich werde dir die Sicherheit zurückgeben«, erklärte Colemayn. »Wie wird dieses kleine Schiff gestartet, wie wird es geflogen?« Der erste Gleiter bog von der breiten Piste, die von mehrfachen Baumreihen gesäumt wurde, auf den Raumhafen ein. Überall gingen die Arbeiten im gleichen Maß weiter, wie es Colemayn bisher auch beobachtet hatte. Aus den Triebwerken eines startbereiten Schiffes kamen dünne weiße Dampfwolken. »Hier. Das ist die Steuerung…« Der Roboter erklärte, immer wieder durch längere und kürzere Pausen unterbrochen, die Funktionen der einzelnen Steuerelemente. Colemayn begriff schnell; ursprünglich war auch dieses Schiff dafür ausgelegt worden, von einem Pharster gesteuert zu werden. Der Maßstab war etwa halb so groß wie Hebel und andere Einrichtungen, die für Colemayns Hände richtig gewesen wären. Dies allerdings war das geringste Übel, sagte sich der Sternentramp. Die Steuerung bereitete ihm wahrhaftig keine Schwierigkeiten. Auch die Beschriftungen konnte er, fast mühelos, lesen und deuten. »Übergeordnete Flugtechnik?« fragte Colemayn, nicht mehr ganz so sicher. »Hier.« Die Maschine erläuterte die Technik, mit deren Hilfe die NACHTJAGD die »Zwischenraum«Manöver durchführen konnte. Die Tasten der Schleusenverriegelungen, das Landegestell und andere Einzelheiten folgten. Kostbare Minuten vergingen, während sich die Prozession der großen und kleinen Gleiter quer über den hellen Belag des Hafens dem Diskus näherte. »Dir ist die Charakteristik des Verurteilten übermittelt worden?« »Ja. Gespeichert.« »Du wirst nicht überrascht sein, wenn ich dir sage, daß er zu fliehen versucht. Der Rechner sagt, daß dies sicherer als wahrscheinlich ist.« »Zutreffend.« »Zuerst kommen die Geschenke. Reiseproviant. Wir bleiben in der geschlossenen Zentrale. Verstanden?« »So wurde es vorgesehen.« Colemayn war versucht, auch die zweite Projektoranlage zu zerstören. Die Haut seiner Handfläche schmerzte stark. Er sah keine Möglichkeit, den Roboter umzuprogrammieren. »Wenn sich der Käfig öffnet…« Colemayn deutete auf die Bildschirme. Bisher hatte er offensichtlich noch nichts getan, was ihn für den Robot als Gegner definierte; der Auftrag der Maschine war von den Ereignissen nicht berührt worden. Der Sternentramp registrierte, daß die Maschine den näherkommenden großen Gleiter genau anstarrte, und fuhr fort: »… dann wird Tuffelsyt zu entkommen versuchen.« »Das muß verhindert werden«, lautete die Antwort. »Mit aller Macht und Raffinesse muß es verhindert werden«, sagte Colemayn hart. »Ich gebe die Befehle. Du handelst blitzschnell, ja?«
»Das wurde programmiert.« »Wie wurdest du programmiert?« wollte der Sternentramp wissen. Die unbemerkte Flucht, zusammen mit Tuffelsyt, rückte in greifbare Nähe. »Durch das Verbindungskabel. Das Schiff ist mit dem Gerichtsrechner und anderen Geräten verbunden.« »Welcher Schalter setzt diese Verbindung außer Kraft?« »Dieses gelbe Feld.« Die Maschine zeigte darauf. »Du wirst jetzt erleben, daß ich mich trenne. Mein Körper besteht aus zwei Teilen. Das Energiemagazin für Langzeitoperationen«, sagte Colemayn und begann die Tragegurte des Rucksacks abzustreifen, »unterstelle ich deiner Obhut.« »Verstanden. Ich bin anders konstruiert.« »Ich bin auch viel größer als du«, gab der Sternentramp zurück und sah, daß sich vor dem Schiff und auf beiden Seiten des vordersten Gleiters eine beachtliche Menge Pharster versammelt hatte. Die kleineren Gleiter kamen heran, bremsten und bildeten einen lockeren Halbkreis um die Rampe und die NACHTJAGD. »Die Maschinen sind bereit?« fragte Colemayn. »Bereit.« »Wie lange dauert es, bis das Schiff in der Luft ist?« »Hundert Mikroeinheiten.« »Schließe das Schott. Sie bringen die Wegzehrung.« Leise rollte die Platte, die Korridor und Zentrale voneinander trennte, in die dicken Dichtungen. Die NACHTJAGD war ein relativ wenig gebrauchtes Schiff. Ob es in der Zukunft (wenn es für Tuffelsyt, Colemayn und Atlan eine solche Zukunft gab!) auch seinen Zweck erfüllen konnte, war abzuwarten. Colemayn sehnte sich in diesem Moment jedenfalls nur danach, für einige Zeit Ruhe zu haben und alles zu erfahren, was Tuffelsyt über Atlan wußte. Auf dem Bildschirm beobachtete er die feierliche Übergabe der Geschenke. Ein seltsamer, aber dennoch irgendwie verständlicher Brauch. Die Sprecher der Sippen nahmen ihre Pakete, hoben sie auf die Schultern und trugen sie auf die Rampe zu. Es waren etwa zwei Dutzend farbiger Schachteln oder Kisten. Sie schienen ziemlich schwer zu sein. Colemayns Hand tastete nach der Sprühflasche, er war beunruhigt und rechnete mit allen möglichen Zwischenfällen. Aber die nächsten Minuten vergingen, ohne daß er eingreifen mußte. Die Pakete wurden in der kleinen Kabine gestapelt und füllten sie fast aus. Auch an der Wand des Korridors stapelten sich einige. Die Pharster verließen das Schiff, blieben in der’ Nähe des Gleiters stehen und schauten den Verurteilten an. Colemayn betätigte den Schalter. Das Schott glitt auf. Die neugierige Menge redete erregt, rief wild durcheinander und drängte sich um den Gleiter. Ein höchst unbehagliches Gefühl beschlich den Sternentramp. Der Roboter schaltete einen Monitor auf die größtmögliche Vergrößerung. Das Bild zeigte Tuffelsyt, der wie alle anderen seine Folienbrille trug. »Da geht etwas vor. Ich weiß noch nicht, was…«, brummte Colemayn und schob sich, ohne die Augen vom Bild loszureißen, halb in den Schiffskorridor hinaus. Zwei jener Gerichtsroboter kletterten auf die Ladefläche und öffneten die Käfigtür. Tuffelsyts Arm war mit einer dünnen Kette an einen der Stäbe gefesselt.
Das breite Metallarmband wurde geöffnet, die Kette klirrte herab. Die Roboter packten den Verurteilten an den Oberarmen und führten ihn aus dem Käfig, über die leere Ladefläche, hinunter auf den Boden und auf den schmalen Steg, der in die weit offene Schleuse hinaufführte. In diesem Augenblick geschah der Zwischenfall, den Colemayn befürchtet hatte. Aber damit hatte er nicht rechnen können. Die dichten Reihen der Pharster hatten sich vor Tuffelsyt geöffnet und schlossen sich jetzt wieder. Aus der Menge wirbelte ein schwarzer Gegenstand wie eine Fledermaus durch die Luft und traf Tuffelsyt an der Schulter. Tuffelsyt schien darauf vorbereitet zu sein, denn er handelte zielgerichtet. Er packte das Ding, riß es mit beiden Händen auseinander und warf es sich – es war eine Art schwarzes, dichtes Tuch – über den Kopf. In derselben Sekunde, in der Tuffelsyt sich den Kopf verhüllt hatte und zwei Schritte die Rampe abwärts machte, ertönten drei schmetternde, kurze Explosionen. Colemayn wandte sich ab, als die grelle Lichtflut die Bildschirme überflutete, den Roboter blendete und das Viereck der Schleusenöffnung als kalkweiß zitternde Fläche an die Wandung des Korridors zeichnete. Es gelang dem Sternentramp gerade noch, die Hände vor die Augen zu pressen und so die größte Lichtflut zu vermeiden. Blendbomben! durchfuhr es ihn. Dieser Tuffelsyt! Er stürzte in den Gang hinaus, in die Schleuse und wartete einen Moment. »Roboter!« schrie er über den schauerlichen Lärm der geblendeten Pharster hinweg. »Hilf mir! Es geht um den Verurteilten.« Die Maschine kam hinter ihm her. Der Sternentramp riß, während er die wenigen Meter über die Rampe hinunterspurtete und noch immer nicht alles genau sah, die Sprühflasche hervor und sah sich um. Direkt vor ihm kämpfte Tuffelsyt, dem das schwarze Tuch über die Schultern hing, mit einigen Pharstern. Er wehrte sich verzweifelt. Die Pharster kämpften nicht direkt mit ihm. Sie drehten sich voller Panik, stießen gegeneinander, zogen die Brillen herunter und rieben die Augen, fluchten und schrien, prallten mit den Nachbarn zusammen und wurden umgestoßen. Sie bildeten aber in ihrer Gesamtheit eine Art Mauer um den Einstieg. Es war dem Händler der Sensationen unmöglich, sich einen Weg durch diese Masse zu bahnen, die schob und drängelte und sich gegenseitig behinderte. »Hierher, mein Freund!« dröhnte Colemayns Stimme. Er packte Tuffelsyt am Arm und riß ihn zu sich her. Hinter ihm stapfte der Robot herunter, schob zwei geblendete Pharster energisch zur Seite und setzte sich an die andere Seite Tuffelsyts. Der Händler wirbelte herum, erkannte Colemayn und hörte auf, sich zu wehren. »Los. Ins Schiff!« sagte Colemayn. »Ich will nicht«, schrie kreischend der Händler. »Meine Freunde…« »Auf dem Planeten jagen sie dich sogar quer durch die Nachthälfte«, sagte Colemayn mit Nachdruck und schob und zerrte Tuffelsyt die Rampe hinauf. »Ich helfe dir.« »Dein Ziel ist programmiert«, pflichtete der Robot bei und half dem Sternentramp,’ den Händler die Rampe hochzubugsieren. Auch jetzt wehrte sich Tuffelsyt noch. »Du bist nur im Schiff sicher, im Weltraum!« sagte Colemayn, der merkte, daß der Pharster über
beachtliche Körperkräfte verfügte. »Alles war vorbereitet! Meine Freunde haben mir geholfen!« Colemayns Geduld war zu Ende. Er ließ Tuffelsyt los, sprang zurück und sammelte einige Brillen auf. Er richtete die ’Sprühflasche auf Tuffelsyts Kopf und drückte ab. Wieder schrie der Händler auf, als das Sonnenlicht ungehindert in seine Augen schlug. Er hörte auf, sich gegen den Robot zu wehren. »Los jetzt. Sonst werde ich energisch!« drohte Colemayn. Er mußte damit rechnen, daß Zwielichtler alarmiert worden waren, möglicherweise von den Arbeitern des Raumhafens. Sie schafften Tuffelsyt in die Schleuse. Colemayn mußte jetzt sicher sein, daß man ihn gesehen hatte und wußte, daß er sich in der NACHTJAGD befand. Die Roboter hatten ihn gesehen, vielleicht gab es auch Fernbeobachtung. Es war ihm gleichgültig. Er gab Tuffelsyt einen Stoß, der den Händler in den Schiffskorridor hineinschleuderte. Die Blendwirkung hielt nicht lange an, das konnte er sich ausrechnen. Er packte den Unterarm des Robots und befahl in Schärfstmöglichem Tonfall: »Los. Hole die beiden Roboter zur Hilfe. Die Gerichtsmaschinen auf dem Gleiter.« »Verstanden.« Der Roboter schob sich an ihm vorbei und tappte die Rampe abwärts. Colemayns Glück blieb ihm treu. Er drückte den Feldschalter und registrierte zufrieden das Geräusch der zugleitenden Schleusen-Außentür. »Deinen Freund sind wir los«, sagte er so laut wie möglich und rannte in die Steuerkabine hinein. Um einen Sitz kümmerte er sich nicht, sondern startete das Schiff und schob die Beschleunigungsregler bis fast an den Anschlag. Die NACHTJAGD stieg aufheulend fast senkrecht in den Himmel. »Was tust du? Wohin? Ich will nicht zur Welt…«, begann Tuffelsyt wieder zu schreien. Colemayn zog das Landegestell ein und schloß die Innentür der Schleuse. Er stand in Ermangelung eines Sitzes gekrümmt vor der Steuerung und jagte das Raumschiff in die dunkle Zone des Planeten hinüber, veränderte den Aufstiegswinkel geringfügig. »In deiner Luxuskammer sind Brillen«, sagte er. »Hole dir eine, und dann rede endlich vernünftig mit mir. Sonst werfe ich dich aus der Schleuse!« »Was hast du vor?« rief Tuffelsyt. Er schien maßlos enttäuscht zu sein. Colemayn knurrte grimmig: »Zuerst einmal mit dir zusammen, liebster Freund, vom Planeten Pharst flüchten. Wir sind auf dem besten Weg dazu.« »Nicht… zur Welt des Dunklen Frostes?« »Nicht, wenn es sich vermeiden läßt.« Ihm fiel ein, daß er einen bestimmten Schalter noch nicht gedrückt hatte. Er bückte sich mit schmerzendem Rücken noch tiefer und schaltete die Verbindung des Schiffes mit dem Gerichtsrechner ab. Der Robot tat ihm inzwischen fast leid. Er bezwang diese Regung und lachte kurz. Tuffelsyt kam zurück in die kleine, runde Zentrale und lehnte sich an die Wand. Er hatte sich wieder gefangen und trug dasselbe überhebliche Gebaren wie vor einigen Tagen zur Schau.
»Also nicht in die zehnjährige Verbannung?« fragte er lauernd. »Nein. Lenke mich nicht ab. Wir werden mit Sicherheit verfolgt.« »Das ist wahrscheinlich. Du kannst das Schiff wirklich steuern?« »Ich kann vieles«, brummte der Sternentramp und setzte ironisch hinzu: »Das war auch der Grund, weswegen du mich zu einem solch hohen Preis feilgeboten hast.« Schließlich fand Colemayn einen Schalter, den der Robot ihm nicht gezeigt hatte. Der Knopfdruck ließ einen einfachen, robust konstruierten Sitz aus zwei Schlitzen hervorgleiten. Aufstöhnend setzte sich der Sternentramp; natürlich war auch der Sessel für Pharster konstruiert, beziehungsweise für deren Körpergröße. »Ich bin überrascht«, gestand Tuffelsyt. Die Bildschirme wurden dunkel. Sterne zeichneten sich darauf ab. Colemayn wollte zuerst nichts anderes, als das Diskusschiff genügend weit von Pharst wegbringen. »Worüber?« »Daß sich die Lage so drastisch geändert hat.« »Wir hatten Glück. Du etwas mehr als ich«, entgegnete Colemayn. »Ich bin sicher, daß du deine Pläne, mich und Atlan betreffend, noch lange nicht aufgegeben hast.« Er regulierte die Bildschirme neu ein und aktivierte die Nahortung. Deutlich war der Planet zu sehen, mit dem verwischten Wolkenring über dem Terminator. Ruhig zog ein Schiff, das gerade zur Landungsspirale ansetzte, seine Bahn. Noch war kein Verfolger in Sicht. Das Funkgerät hatte Colemayn wohlweislich noch nicht eingeschaltet. »Pläne? Welche Pläne?« fragte der Pharster scheinheilig. Colemayn stimmte ein lautes Lachen an. »Ich werde dir in den nächsten, sagen wir, fünf Jahren, keine Sekunde lang trauen. Nimm dies zur Kenntnis. Noch etwas: Geh hinaus und öffne deine festlich verpackten Geschenke.« »Warum?« Das Mißtrauen, auch der eigentlichen Menge an Glück gegenüber, besonders aber der eigenen Tüchtigkeit, schwand langsam dahin. Er schien tatsächlich in einer weitaus besseren Lage zu sein als kurz nach dem Angriff des zahnbewehrten Eishälften-Monstrums. »Weil ich im Moment nur einen einzigen und ausschließlichen Wunsch habe. Ein riesiges Glas voller Rotwein. Oder ein großes Bier. Oder einen schönen alten, abgelagerten Schnaps.« Bei den speziellen Ausdrücken verwendete er Umschreibungen, da er die richtigen Worte nicht kannte. Er hatte offensichtlich bei den Werbeeinschaltungen der Nachrichtensendungen nicht richtig aufgepaßt. »Bist du sicher? Alkohol setzt die Fähigkeit eines Piloten herab, habe ich sagen hören.« »Meine nicht«, beschied ihn Colemayn schroff. »Los! Beeile dich. Zu Lebensrettern ist man nett und zuvorkommend.« »Meinetwegen.« Colemayn war sicher, daß er bis zu einem bestimmten Grad den Pharster durchschaute. Während des Fluges in der NACHTJAGD war es Tuffelsyt allerdings unmöglich, seine Pläne weiter zu verfolgen. Aber bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, würde er versuchen, auf alle Fälle das Geschäft seines Lebens zu machen. Der Diskus raste mit steigender Geschwindigkeit geradlinig vom Planeten fort. Nach einigen Minuten kam Tuffelsyt in die Zentrale zurück und hielt einen dickbauchigen Krug und zwei wertvoll aussehende Metallbecher in den Klauen.
»Wein«, sagte er. »Auf unsere Flucht.« »Unsere? Ohne mich würde man dich jetzt über den Raumhafen jagen.« »Meinetwegen. Ich öffne, ja?« »Ich bitte sehr darum, Händler der Sensationen. Und nach dem ersten tiefen Schluck müssen wir eine lange Unterhaltung führen.« Tuffelsyt öffnete den Krug. Ein guter, intensiver Geruch verbreitete sich in der Zentrale. Der bernsteinfarbene Wein gluckerte in die Becher. Langsam und mit Genuß trank der Sternentramp den Wein, leerte den Becher und sah, als er sich nachschenken ließ, die Ortungsechos der ersten drei Verfolgerschiffe auf dem Bildschirm. »Ich frage noch einmal«, begann Tuffelsyt. »Du bringst uns nicht zur Welt des Dunklen Frostes? Welch eine abscheuliche Vorstellung!« »Nein. Im Gegensatz zu dir bin ich glaubwürdig.« »Warum tust du das alles – für mich?« »Ich tue es nicht für dich«, antwortete Colemayn bedächtig. »Nicht direkt, weil ich Atlan finden muß. Muß, verstehst du!« »Verstehe. Und der Weg führt wohl über mich.« »Ja. Ich bin ganz sicher. Ich konnte schwerlich in Nald-Pharst herumspazieren und mich nach meinem alten Freund erkundigen. Was weißt du?« »Er ist noch auf Pharst.« Einige Minuten lang kontrollierte Colemayn die Instrumente, Uhren und Anzeigen. Er wollte nichts riskieren. Die NACHTJAGD hatte fast die Höchstgeschwindigkeit erreicht. Die fremden Sterne, Gasschleier und Konstellationen einer fremden Milchstraße umgaben das winzige Diskusschiff und zeichneten sich scharf auf den Monitoren ab. Der Wein war hervorragend. Also gab es selbst auf einer solch seltsamen Welt, wie es Pharst war, Reben und die hohe Kunst des Kelterns und Vergärens. Mit den Vorräten aus den Geschenken konnten sie eine ganze Weile lang leben. Überdies war das Schiff mit anderen Vorräten ausgerüstet, denn eine Kursanzeige hatte dem Sternentramp verraten, daß der Flug zum Verbannungsplaneten ebenfalls längere Zeit gedauert hätte. »Atlan ist noch auf Pharst?« fragte Colemayn. »Ja. In diesem seltsamen Raumschiff. In der ZYRPH’O’SATH.« »Ganz sicher?« »Absolut. Man hat es mir mehrmals bestätigt. Alle anderen Schiffe gehören entweder uns Pharstern oder zu Fremden, die nichts zu verbergen haben. Nur das vierbeinige Schiff mit dem Libellenkörper ließ niemanden hinein. Auf Umwegen bekam ich die Informationen.« Diesmal packte Colemayn den Krug und füllte die Becher wieder. Er vertrug eine ganze Menge. Vielleicht sagte Tuffelsyt unter dem Einfluß des Alkohols mehr, als er wollte. »Du willst also auch Atlan finden?« fragte er schließlich. »Ich bin interessiert.« »Warum? Um ihn woanders anzubieten? Du mußt verrückt sein.« Die Antwort des Pharsters klang einigermaßen logisch. »Der ganze Ärger kam daher«, führte Tuffelsyt bereitwillig und wortreich aus, »daß ich einsah, daß
du wichtig und teuer, aber weniger wichtig als der andere Exote bist. Die Informanten berichteten, daß jemand aus der Besatzung ihnen das versichert hat. Sie erkennen Qualität, wenn sie mit ihr konfrontiert werden.« Noch ein tiefer Schluck. »Und jetzt habe ich mich viel zu weit vorgewagt; die Verurteilung und vorher allerlei Mißlichkeiten. Jetzt muß ich wenigstens wissen, warum ich mich so weit vorgewagt habe. Vielleicht können wir drei irgendeine Sache auf die Beine stellen, die sich wirklich lohnt. Ich bin ohne jedes Kapital.« »Der Weg zu Atlan geht also über die ZYRPH’O’SATH.« Die Verfolger waren schneller und beschleunigten mit höheren Werten. Der Sternentramp programmierte sorgfältig ein Zwischenraum-Manöver und ließ sich noch Zeit, es auszuführen. Er stellte eine Fangfrage. »Du wirst mich ablösen müssen«, sagte er. »Ich kann dieses Ding nicht steuern«, wich Tuffelsyt aus. Es war nicht zu erkennen, ob er log oder nicht. »Wir haben kein Ziel.« »Wir werden eines finden.« Colemayn betätigte die Schaltung. Die Sterne verschwanden von den Bildschirmen. Düsteres, pulveriges Grau breitete sich in vollkommener Rundumsicht aus. Die NACHTJAGD verließ das normale Bezugssystem und war ihren Verfolgern entkommen. Colemayn leerte den Becher und versuchte, die neue Situation richtig abzuschätzen. Er kam zu keinem Ergebnis, das ihn zufriedenstellte. *** Einige Stunden später: Die NACHTJAGD trieb mit halber Lichtgeschwindigkeit im Normalraum. Colemayn hatte sich mit geradezu wissenschaftlicher Gründlichkeit mit der Steuerung und der Ausstattung der Zentrale befaßt. Tuffelsyt, von seinen Erlebnissen und dem Alkohol müde geworden, schlief inmitten der vielen aufgerissenen Nahrungsmittelpakete. Der Sternentramp konnte im Augenblick beruhigt sein. Tuffelsyt schlief und konnte ihn nicht sabotieren. Er hatte sich nur scheinbar auf seine, Colemayns, Seite geschlagen. Bei der ersten für ihn günstigen Gelegenheit würde der Pharster seinen eigenen Vorteil wahrnehmen. Daß er das Schiff nicht steuern konnte, glaubte ihm Colemayn auch nicht. Ruhig, den Weinbecher und einen großen Riegel einer unbekannten, ’aber hervorragenden Nahrungsmittelkombination vor sich auf dem Pult, kontrollierte er die Ortungsschirme und versuchte festzustellen, wo sich die NACHTJAGD wirklich befand. »Die Verfolger habe ich tatsächlich abgehängt«, sagte Colemayn. »Sie lassen sich nicht blicken.« Vogenmuker, die Sonne des Pharstsystems, war ein Stern in der Kulisse der Umgebung. Weit und breit, bis tief hinein in den Bereich, in dem die Ortung verschwommen zu werden begann, zeigte sich nicht ein einziges Raumschiff. Gerade voraus, dort, wohin die NACHTJAGD antriebslos driftete, entdeckte der Sternentramp ein winziges Echo. Auf dem eingespielten Index erkannte er, daß es sich nicht um Metall handelte. Also kein Raumflugkörper. Langsam nahm die NACHTJAGD wieder Fahrt auf und schwebte auf das Objekt zu. »Dieser Tuffelsyt«, murmelte Colemayn kopfschüttelnd. »Ich durchschaue ihn, und er mich, und keiner traut dem anderen. Aber immerhin sind wir vorerst außer Gefahr. Er will Atlan ebenso finden
wie ich – und ich weiß nicht, wie viele Informationen er aus taktischen Gründen noch vor mir verbirgt.« Partner auf Zeit und ohne Vertrauen, das waren die beiden ungleichen Wesen! In den Speichern befanden sich Sternkarten. Abgesehen davon, daß sie den Kurs zum Planeten des Dunklen Frostes – diese Bezeichnung hätte auch auf die Nachthemisphäre von Pharst gepaßt – exakt erkennen ließen, sagten sie nichts über das Objekt dort vor ihnen. Colemayn suchte noch einmal ergebnislos die Umgebung ab. Er kannte inzwischen die Steuerzentrale des Diskusschiffs sehr genau, aber die anderen Räume mußte er noch überprüfen. Mit Überraschungen, meist negativen, war stets zu rechnen. »Ob wir hier allerdings Atlan finden, wage ich zu bezweifeln.« Colemayn rechnete einige Zeit lang, beobachtete dabei das Objekt in Flugrichtung und erfuhr, daß er bis zur Annäherung noch etwa zwei Stunden Zeit hatte. Er regelte die Temperatur neu ein, weil es ihm trotz abgelegter Felljacke zu warm wurde. Dann verließ er die Zentrale, ging hinaus in den Korridor und öffnete jede Klappe und jedes einzelne Schott, das er finden konnten. Im stillen machte er den Pharstern das Kompliment, ein Schiffchen dieser geringen Größe wirklich mit Können und Umsicht konstruiert zu haben: für eine oder zwei Personen, für Planetarier der Helldunkel weit natürlich, gab es sämtliche Einrichtungen. Am Ende des Ganges, vier Schritte nach dem Schott zur Zentrale, hob sich eine Klappe. Colemayn schaltete nach drei vergeblichen Versuchen die Beleuchtung ein und sah, was er erwartet hatte. Unterhalb der Zentrale, in der unteren Schale des Diskus, befand sich der Maschinenraum. Die verschiedenen Blöcke und Wandler des Antriebs waren ebenfalls auf engstem Raum aufgebaut und mit großem Geschick verbunden, nebeneinander und auf verschiedenen Ebenen übereinander. Hier gab es keinen Platz für ein Versteck; nicht einmal ein ganz kleiner Robot oder Pharster würde sich verbergen können. Colemayn versuchte erst gar nicht, nähere Einzelheiten zu erkennen, sondern schloß die Luke wieder. »Der Weg zu Atlan über dieses seltsame Schiff, die ZYRPH’O’SATH, dürfte alles andere als leicht sein.« Es gab kein konkretes Ziel, alles war offen, und niemand wußte Genaues. Colemayn sah die einzige Möglichkeit, eine Weile zu warten. Irgend etwas würde geschehen, was auch immer. Die NACHTJAGD trieb durch den leeren Raum der Galaxis Manam-Turu. Der Sternentramp kam in die Zentrale zurück, warf einen Blick auf den Interkomschirm und sah, daß Tuffelsyt noch immer schlief und sich kaum bewegte. *** Der Diskus verringerte seine Geschwindigkeit und schwenkte in eine Kreisbahn ein. Im schwachen Licht der fremden Sternbilder zeigte sich undeutlich ein Gesteinsbrocken, riesig gegenüber dem winzigen Raumschiff. »Was soll das Ding hier?« Auf dem Holoschirm der Nahortung zeichneten sich scharfe Einzelheiten ab. Das Objekt, auf das Colemayn mangels eines anderen, vernünftigen und sinnvollen Zieles losgesteuert hatte, war ein keilförmiges Stück Fels mit vielen Löchern und Höhlungen. Sterne blitzten durch die unregelmäßigen Durchlässe. Einige waren so groß, daß der Diskus ohne Schwierigkeiten hindurchfliegen konnte. Colemayn dirigierte die NACHTJAGD in enger werdenden Spiralen um den Findling herum. Der Fels, aus dem der keilförmige Asteroid bestand, war fast schwarz. Helle Linien durchzogen ihn. Zwei Landescheinwerfer blitzten auf und wurden von Colemayn zuerst ungeschickt, dann immer
präziser gesteuert. Ihr Licht zeichnete sich scharf auf der Oberfläche des Gesteins ab. Winzige Einschlüsse blitzten und blinkten in unterschiedlichen Farben. »Es könnte ein gutes Versteck für den Diskus sein«, brummte Colemayn, der seit dem Start damit rechnete, daß die enttäuschten und aufgebrachten Pharster ihn und den Verbannten mit allen Mitteln suchten. Und vielleicht erfuhr auch der Arkonide von der ungewöhnlichen, aufsehenerregenden Flucht mit dem Schiff. Mehrmals flog der Sternentramp den riesigen Faustkeil aus Schichtgestein ab. Immer wieder bohrte sich das Licht der starken Scheinwerfer in die Vertiefungen und verschwand in den Höhlungen. Abgesehen von irgendwelchen auffälligen Mineralien, die jedesmal in sprühenden Reflexen aufstrahlten, konnten weder Colemayn noch die eingeschalteten Detektoren etwas entdecken, das gefährlich oder auch nur bemerkenswert wirkte. »Also gut. Ich brauche Ruhe und Schlaf!« sagte sich Colemayn, lenkte den Diskus in eines der größeren Löcher und hielt ihn mitten in dem unregelmäßig geformten Felstunnel an. Mit zwei wenig Energie verzehrenden Traktorstrahlen verankerte er das Schiff in der Mitte der Höhlung und wartete bis jeglicher Bewegungsimpuls abgebaut worden war. Die Maschinen wurden bis auf die Innenversorgung abgeschaltet. Colemayn ließ jene zwei Ortungsschirme eingeschaltet, die ihm die beiden Ausschnitte zeigten, die aus dieser Position möglich waren. Er holte seinen Rucksack, breitete vor dem Steuerpult die aufgeblasene Unterlage aus, benutzte die hygienischen Einrichtungen der NACHTJAGD und rollte die Felljacke als Kopfkissen zusammen. Kurz bevor er einschlief, holte er aus der Außentasche ein Stück Kordel, band ein Ende um sein Knöchel und das andere an den Handgriff des geschlossenen Schottes. Er grinste; sollte Tuffelsyt versuchen, in die Steuerkabine einzudringen und die Umstände auszunutzen, würde er wach werden und sich zu wehren wissen. Noch ein Blick auf den Interkom: der Pharster schlief noch immer. Colemayn streckte sich nach einem letzten Schluck Wein aus und schlief übergangslos ein. Er fragte sich, wie sehr sich die Lage geändert haben würde, wenn er wieder wach wurde. Fast zur gleichen Zeit, als der »Exote« einschlief, rührte sich Tuffelsyt und öffnete die Augen. Er vermißte zuerst seine Brille, aber er merkte rasch, daß in seiner Kabine nur das Notlicht schwache Helligkeit verbreitete. Tuffelsyt versuchte, ohne zu wissen, wo sich der Diskus befand, seine Lage zu analysieren. Er wußte, daß diese richtigen und in Ruhe durchgeführten Überlegungen nur deshalb möglich waren, weil er er sich von allem weit genug entfernt hatte. Die beispiellose Erregung, die ihn in Nald-Pharst gepackt und nicht mehr losgelassen hatte, war vergangen. Er war frei, aber er hatte sein Ziel nicht erreicht. Kileimeinn und Atlan waren nicht in seiner Gewalt, und es gab keinen Käufer für die beiden Exoten. Was konnte er aus der neu entstandenen Situation herausschlagen? Vorläufig nichts. Nun »besaß« er ein tüchtiges Raumschiff und einen Piloten (der Exote besaß tatsächlich noch mehr Fähigkeiten, als Tuffelsyt angenommen oder besser geahnt hatte!), also zwei Handelsobjekte. Aufgeregtes Handeln oder sinnloses Agieren führten zu nichts. Er mußte geduldig und mit kühlem Verstand warten. Seine Augen richteten sich auf den winzigen Bildschirm. Der Pilot schlief in der Zentrale. Das feine Summen der Maschinen hatte aufgehört. Also trieb der Diskus im Weltraum, fernab von Pharst. Tuffelsyt überlegte ernsthaft, ob er in die Zentrale eindringen, den Fremden betäuben und das Schiff
auf eine Welt bringen sollte – es gab an Bord schließlich einen Autopiloten –, auf der es mehr kaufmännische Möglichkeiten geben konnte. Er entschied sich dagegen. Zweifellos würde der Zustand der ereignislosen Ruhe, der gegenwärtig herrschte, sich bald ändern. Dann war noch immer Zeit, einen günstigen Augenblick auszunutzen. Tuffelsyt war sicher, daß der Fremde ihm auf seine Weise ebenso mißtraute. Er war zweifelsohne sehr klug. Aber gegen die Gerissenheit eines Abkömmlings der Rotym-Ney-Händlersippe hatte der Fremde auch trotz seiner Klugheit keine wirkliche Chance. Zuversicht und das Bewußtsein, am Anfang einer neuen und aufregenden Entwicklung zu stehen, breiteten sich in Tuffelsyt aus. Er konnte warten, denn das Geschäft seines Lebens stand ihm bevor. Früher oder später würde er im Triumph nach Pharst zurückkommen und allen Planetariern beweisen, daß er der größte und beste Händler war. Er lächelte, legte sich wieder zurück und wartete darauf, einzuschlafen. Zuversicht und köstliche Visionen erfüllten seine Träume. Die Einsicht, daß sowohl er als auch der Fremde nur winzige Figuren in einem kaum zu durchschauenden, gewaltigen Spiel waren, blieb ihm absolut fremd. ENDE
Der Bericht über Colemayns Suche nach Atlan wird in Kürze fortgesetzt. Der nächste Atlan-Band behandelt hingegen das weitere Schicksal Animas. Was Atlans einstige »Orbiterin« nach dem Verlassen der VIRGINIA erlebt, das schildert H. G. Ewers in seinem Roman unter dem Titel: DER MODULMANN.