John Grey
Colorado-Mann Ronco Band Nr. 250/31
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stieß...
30 downloads
1172 Views
599KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
John Grey
Colorado-Mann Ronco Band Nr. 250/31
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack. Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte. Er nannte sich RONCO. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, daß er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pioniergeschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauher und wilder, als wir sie bisher gesehen haben. Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe RONCO gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes RONCO offenzulegen, haben wir uns entschlossen, in Abständen von fünf Wochen die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. Bearbeitet von den Autoren der RONCO-Serie. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich RONCO nannte, seine
eigene Geschichte.
Die Hauptpersonen des Romans Ronco – Reitet für die Nordstaaten und erhält einen Sonderauftrag, der ihn in feindliches Gebiet führt. Colorado – Ein Scout der Nordstaaten-Armee, der mordet und schändet und von Haß verzehrt wird. Stella – Ein Bordellmädchen, bei dem sich Ronco versteckt, aber dabei bleibt es nicht. Gloria Lafayette – Wird das Opfer eines brutalen Mannes.
Colorado-Mann 24. Oktober 1880 In den letzten Wochen habe ich mehrfach gedacht, es geht nicht weiter. Es war eine schlimme Zeit, in der ich häufig das Gefühl hatte, der Tod Lindas habe auch mein Leben beendet. Aber da ist noch immer Jellico, mein Sohn. Ich habe mich entschlossen, ihn zu einem Ort zu bringen, wo er sich in Sicherheit befindet und alle Fürsorge erhält, die nötig ist, um ihn zu einem aufrechten Kerl heranreifen zu lassen. Ich weiß, daß meine Entscheidung richtig ist. Ich weiß, daß der Ort gut gewählt ist. Wir sind in Texas, Lobo und ich. Jellico sitzt vor mir im Sattel. Nur noch wenige Meilen, dann sind wir dort, wo meine Geschichte begann: in der Mission der spanischen Padres am Pease River. Dort bin ich aufgewachsen, dort habe ich glückliche Jahre verbracht, bis ein verräterischer Armeescout mich verschleppte und an die Apachen verkaufte, wo ich zeitweise als weißer Indianer aufwuchs und zum Mann wurde. Ich will, daß auch Jellico bei den Padres aufwächst, die mir einst das Leben retteten und alles taten, mich nicht spüren zu lassen, daß ich allein auf der Welt stand. Nur ihnen kann ich Jellico anvertrauen. Ich weiß, daß mein Sohn gut bei ihnen aufgehoben ist. Ein eigenartiges Gefühl hat mich erfaßt, seit ich mich wieder in dem Land befinde, das einmal meine Heimat war. Mehr als zwei Jahrzehnte sind seitdem vergangen. Meine Vergangenheit steht vor mir, klar und deutlich, jede Einzelheit. In diesem Land nahm alles seinen Anfang. Damals ahnte ich noch nicht, was das Leben mir alles bringen würde. Ich war ein Kind und wußte nichts. Ich wuchs auf, erst bei Mönchen, dann bei Apachen, dann mußte ich meinen eigenen Weg finden. Ich war ein Tramp, ritt im Pony Expreß, sah den Goldrausch von Montana. Während ich mich in den Territorien des weiten Westens herumgetrieben hatte, war der Bürgerkrieg zwischen dem Norden
und dem Süden ausgebrochen. Als ich Mississippi erreichte, beschloß ich, um das Kriegsgeschehen einen weiten Bogen zu machen. Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, daß ich bereits mittendrin steckte und niemand sich in diesen Tagen den Ereignissen entziehen konnte. Wie viele andere mußte ich mich entscheiden. Ich blieb im Norden. Ich haßte die Sklaverei in jeglicher Form. Meine Freiheit ging mir über alles. Mehr als woanders hatte ich ihren Wert bei den Indianern kennengelernt. Daher gab es für mich keinen Zweifel, daß ich an die Seite des Nordens gehörte, gegen die Sklavenhalter im Süden. Auch wenn ich später begriff, daß das Freiheitsgeschrei im Norden auch nicht viel wert war. Als ich Mitte Juli 1864 Mississippi als ziviler Kurierreiter der Unionsarmee verließ, lagen einige Ereignisse hinter mir, die mich direkt mit dem Kriegsgeschehen konfrontiert hatten. Ich ritt nach Georgia, in der Satteltasche meines häßlichen braunen Hengstes eine versiegelte Nachricht für General Sherman, dessen Truppen vor der Hauptstadt des Staates, Atlanta, aufmarschiert waren. Ihr Fall stand unmittelbar bevor, und General Sherman hatte große Pläne, die er mit den übrigen Truppenkommandeuren abstimmen wollte. Das war der Inhalt der Depesche, die ich zu befördern hatte. Mehr wußte ich nicht darüber. Aber es wurde viel gemunkelt. Gerüchte gingen um. Doch ich hatte schon gelernt, darauf nichts weiter zu geben. Als ich das Heerlager Shermans am 21. Juli 1864 erreichte und die Botschaft ablieferte, lag ein anstrengender Ritt hinter mir. Alles war glattgegangen. Ich konnte zufrieden sein. Ich war noch nie in Georgia gewesen und gedachte auch nicht, lange zu bleiben. Ich ahnte nicht, daß es anders kommen würde.
1. Graue Nebel wallten aus den Niederungen, als ich verschlafen aus dem Zelt kroch. Das ganze Heerlager General Shermans war bereits auf den Beinen. Blauuniformierte Männer hasteten an mir vorbei und zurrten im Laufen ihre Koppel fest. Scharf und knapp hallten die
Kommandorufe der Offiziere durch den Frühdunst. Links von mir tauchte ein Trompeter mit einer Regimentsfahne in den Händen auf. Er war kaum älter als ich. »Wir greifen Atlanta an!« rief er mir zu, dann war er schon vorbei. Ich ging zurück ins Zelt, schnallte meinen Waffengurt um und nahm meinen Sharps-Karabiner. Shita bellte erwartungsvoll und wedelte mit dem Schwanz, als ich wieder aus dem Zelt trat. Ich bückte mich und strich ihm über den Kopf. »Das ist nicht unser Bier, Alter«, sagte ich. »Wir werden uns daran nicht die Köpfe einrennen.« Am Westende des Lagers formierte sich die Kavallerie. Ich sah General Sherman. Er saß auf einem mageren Pferd und hatte einen scheußlichen Schlapphut auf dem Kopf. Sein roter Bart wirkte zerzaust. Er trug den knielangen Uniformrock bis zum Hals zugeknöpft. An der Kavallerie vorbei rollten die Artilleriebatterien in die vordersten Stellungen. Sie bezogen auf den Hügeln über der Stadt, die im dichten Frühnebel nur schemenhaft zu erkennen war, Stellung. Als die ersten Strahlen der Sonne die Nebelschleier durchbrachen, ertönte ein blechernes Hornsignal. Die Infanterie rückte vor, eine unübersehbare Masse von Männern in blauen Uniformen, langläufige Springfieldgewehre mit aufgepflanztem Bajonett in den Fäusten. Trommeln begannen zu dröhnen, bald übertönt vom Hufgetrappel vieler Pferde, als die Kavallerie an den Flanken der Infanterie vorbeirückte und die Geschützstellungen umging. Unvermittelt krachten die ersten Kanonen. Dumpf grollend hallten die Detonationen durch den Morgen. In gleichförmigem Rhythmus wurden die Batterien abgefeuert. Mächtige Feuerblitze stachen auf die Stadt in der Ebene zu. Die Nebelschwaden lösten sich auf und trieben im leichten Frühwind wie die Fetzen eines Bahrtuches über die Hügel und das Militärlager. Atlanta lag in der Morgensonne vor den Truppen der Union, umgeben von flüchtig aufgeschütteten Schanzen und Wällen und flachen Schützengräben. Die Gebäude am Stadtrand waren bereits von Granateinschlägen gezeichnet. Zwischen prächtigen, hohen
weißen Steingebäuden mit Marmorsäulen vor den Eingängen ragten schwarze Brandruinen auf. Abfallhalden türmten sich an den Straßenrändern. Streunende Hunde und Katzen kämpften mit zahllosen Ratten um den Unrat. Aber es gab nicht mehr viele Tiere in Atlanta. Der Hunger ging in der seit Wochen eingeschlossenen Stadt um. Hunde und Katzen wurden geschlachtet und gegessen, um den ärgsten Hunger zu stillen, und wenn die Belagerung noch länger andauerte, würde es in Atlanta wohl bald gebratene Ratten als Delikatesse geben. Zwischen den von der Nordarmee besetzten Hügeln und der Stadt befand sich ein langgestrecktes Lager der konföderierten Armee unter General Hood. Von dort ertönten jetzt Trompetensignale. Soldaten stürmten aus den Zelten und eilten in loser Formation zu den provisorisch errichteten Befestigungsanlagen. Die Mörserbatterien Shermans nahmen das Lager unter Feuer. Mächtige, hundertzwanzigpfündige Geschosse rasten mit schrillem Pfeifen in hohem Bogen durch die Luft und schlugen zwischen den Zelten der Konföderierten ein. Jetzt erst begannen auch die Geschütze der Konföderierten zu krachen. Sie rissen Lücken in die geschlossenen Reihen der blauuniformierten Yankeesoldaten. Explosionskrater zerfetzten den grünen Rasen der Hänge vor Atlanta. In der Stadt sah ich Männer durch die Straßen eilen, mit Gewehren und Revolvern bewaffnet, die die Wälle am Stadtrand besetzten, um notfalls von hier aus bis zum Letzten gegen die Einnahme der Stadt zu kämpfen. Die Sonne stieg rasch höher, aber der blaue Himmel verschwand mehr und mehr unter schwarzgrauen Pulverdampfschleiern. Eine Dunstwolke penetranten Gestanks von Pferdeexkrementen, Schweiß, verbranntem Stoff, Blut und Eiter lag über dem Schlachtfeld. Das schrille Wiehern sterbender Pferde vereinigte sich mit dem Gebrüll von Verletzten und dem pausenlosen Krachen von Schüssen, dem Donnern der Kanonen zu einer Symphonie des Todes. Männer in grauen, zerfetzten Uniformen, mit pulvergeschwärzten Gesichtern, preschten wie reitende Teufel auf ihren Pferden heran und warfen sich der Unionskavallerie entgegen. Mit lautem Gebrüll
und Hurrageschrei stürmte Shermans Infanterie die Befestigungen der Konföderierten. Mit unvorstellbarer Wucht stießen die gegnerischen Truppen zusammen. Blut netzte den Boden, der von Granateinschlägen zerpflügt, von Pferdehufen und den Stiefeln der kämpfenden Soldaten zerstampft wurde. Gewehre knatterten, Sprengladungen detonierten. Ein Kampf Mann gegen Mann entbrannte. Schon bald bedeckten die Leichen grau- und blauuniformierter Soldaten die Hänge vor Atlanta. Das Zeltlager der konföderierten Armee brannte lichterloh. Einige Granaten hatten den Stadtrand erreicht. Auch hier schlugen Flammen hoch. In vorderster Linie erhob sich wildes Gebrüll. Verzweifelte Stimmen schrien nach dem Sanitätswagen. Ich sah General Sherman quer über das Schlachtfeld galoppieren. Der linke Ärmel seines Uniformrocks war zerfetzt, er blutete. Er ritt zwei Südstaatler nieder. Fast gleichzeitig schlug unmittelbar am Fuß des Hügels, auf dem Shita und ich uns befanden und das Kampfgeschehen beobachteten, eine Kanonenkugel ein. Ich zog es vor, die Stellung zu wechseln und verließ die Anhöhe, gefolgt von Shita, um mich in Deckung zu bringen. Wenig später polterte der Sanitätswagen über das Schlachtfeld und hielt vor dem grauen Zelt des Feldschers, der seit einiger Zeit pausenlos operierte. In durchbluteten Körben schleppten Männer amputierte Gliedmaßen heraus. Auf den Anhöhen erschien ein Reiter und brüllte nach dem Troß. »Wir schaffen es!« schrie er. Seine Stimme überschlug sich fast. »Die Rebellen flüchten!« Er riß sein Pferd herum und war schon wieder verschwunden, während sich Munitionswagen in Bewegung setzten und auf das Schlachtfeld hinausrollten. Zusammen mit Shita ging ich zurück auf eine Anhöhe und schaute über die Toten weg zu den Schanzen der Südstaatler hinüber. Das Lager General Hoods war völlig niedergebrannt. Das Feuer hatte teilweise auch Buschwerk und Gras der Ebene erfaßt. Überall lagen Leichen.
Ich verließ den Hügel. Wind strich über das Land und trug mir den bitteren Geruch des Todes nach. Mir war ein wenig übel. Ich hustete. Pulverdampf reizte meine Schleimhäute. Ich begab mich zum Kantinenzelt. Die Feldküche war trotz der Schlacht in Betrieb. Ich ließ mir ein Glas Wasser geben. Ich hatte an diesem Tag noch keinen Bissen zu mir genommen, aber ich spürte keinen Hunger. Ich spürte nur einmal mehr die Entsetzlichkeit des Krieges. Shita neben mir hatte nicht solche Gefühle. Er winselte und jaulte, bis ich ihm einen Knochen besorgte. Während ich im Gras saß und ihm zuschaute, wie er mit seinen kräftigen Zähnen das zähe Fleisch von dem Knochen fetzte, dachte ich, daß man sich in Atlanta vermutlich um so einen Knochen prügeln würde.
2. Wir saßen im flackernden Schein einer Petroleumlaterne zusammen in dem kleinen Militärzelt und hatten nur einen schmalen Klapptisch zwischen uns. Ich hielt einen ledernen Würfelbecher in den Händen und schüttelte ihn mit größter Anstrengung. Buck Polish saß mir gegenüber, starrte auf meine Hände und lauschte dem Klappern der Würfel, als sei es himmlische Sphärenmusik. Er war ein untersetzter Mann mit breiten Schultern und einem eckigen Schädel, der mich manchmal an einen Büffel erinnerte. Er schwitzte ständig. Ich hatte ihn am Tage meiner Ankunft im Lager Shermans kennengelernt. Seitdem hatte ich ihn nie gesehen, ohne daß ihm nicht der Schweiß in feinen Bächen über das rosige, breite, aber scharf geschnittene Gesicht rann. Er war Korrespondent der Zeitung »New York Daily«, Kriegsberichterstatter, der viel von Whisky, Tabak und Glücksspiel, aber nur wenig von Arbeit hielt. Es war mir ein Rätsel, wann er seine Berichte schrieb, die er pünktlich jeden Abend über den Feldtelegrafen an einen Kurierdienst weitergab. Er war gerade sechsundzwanzig Jahre alt, sah aber aus wie vierzig. Keiner im Lager konnte ihn leiden, das hatte ich sofort festgestellt.
Er war aufdringlich und neugierig. Auch mir war er nicht sehr angenehm, aber ich hatte keine Lust, die Tage, die ich hier zuzubringen hatte, mich zu langweilen. Als Polish mich zu einem Spiel eingeladen hatte – keiner außer mir hätte diese Einladung angenommen –, hatte ich ja gesagt und war ihm in sein Zelt gefolgt. Er hatte Glück mit den Würfeln, daran bestand kein Zweifel, und von Spiel zu Spiel wurde er mir unsympathischer. Er hatte mir gnadenlos die paar Dollars, die ich besaß, zu einem guten Teil abgeknöpft, und wenn ich noch einmal ein Spiel verlor, war ich meine gesamte Barschaft los, was Polish völlig kalt zu lassen schien. »Wie lange willst du die Würfel noch schütteln«, sagte er. Er zog eine dünne, schwarze Zigarre aus der Brusttasche seines Hemdes, biß die Spitze ab, spuckte sie zu Boden und schob die Zigarre zwischen die Lippen. »Glaubst du, daß sie Junge kriegen?« »Es ist mein Spiel, nicht wahr?« sagte ich. »Sherman könnte Atlanta nicht schlimmer durchschütteln als du diese lausigen Würfel«, sagte er. »Mit dem Unterschied, daß er gewinnt, je länger er schüttelt.« »Ich gewinne auch«, sagte ich. »Abwarten«, sagte er. Er zündete gelangweilt seine Zigarre an und paffte Rauchwolken über den Tisch. »Wie lange gibst du Atlanta noch?« fragte ich. »Die Rebellen fressen sich zur Not selber auf«, sagte Polish. »Vier Wochen vielleicht.« »Das glaube ich nicht«, sagte ich. »Das ist nicht die erste Belagerung, die ich erlebe«, sagte Polish. »Ich weiß, von was ich rede. Ich habe Städte gesehen, die schlimmer dran waren als Atlanta und sich trotzdem gehalten haben. Es war ein Wunder, wie die Leute es geschafft haben. Manche haben sich pro Tag von einer Handvoll Mehl mit Wasser ernährt. Ich hab's erlebt. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn der Norden den Krieg doch noch verliert.« »Der Krieg ist gelaufen«, sagte ich selbstbewußt. Ich war schließlich auch nicht mehr unerfahren und wußte, was bei Soldaten und Offizieren geredet wurde. »Nichts ist gelaufen«, sagte Polish. »Das Spiel ist offen. Genau
wie unser Spiel. Zeig deine Würfel, verdammt noch mal.« Shita, der den ganzen Abend neben meinem Stuhl gelegen hatte, hob den Kopf und knurrte. Dann hörte ich Schritte. Ich ließ den Würfelbecher sinken und blickte zur Zeltöffnung. Der Zapfenstreich war längst geblasen. Es herrschte Ruhe im Lager. Die Zeltplane wurde zurückgeschlagen. Ein Lieutenant steckte den Kopf ins Zelt, sah mich und grinste. »Also doch«, sagte er. »Ich wollte nicht glauben, daß jemand freiwillig zu Polish geht.« Polish musterte den jungen Offizier aus schmalen Augen und schwieg. Er war es gewöhnt, abfällig behandelt zu werden. Er hatte ein dickes Fell. Der Lieutenant betrat das Zelt. Hinter ihm schob sich ein anderer Mann durch den Eingang. Er war über sechs Fuß groß und breit wie ein Schrank. Er trug Wildleder, von Kopf bis Fuß. Hochschäftige Mokassins, weichgegerbte Hosen und ein ebensolches Hemd. Die Nähte waren mit Fransen verziert. Sein Gesicht war auch aus Leder, zumindest sah es so aus. Es war von der Sonne dunkel verbrannt und von zahllosen Falten durchschnitten. Ein struppiger, ungepflegter Bart hing bis fast auf den mächtigen Brustkorb hinab, dichtes, langes, zerzaustes Haar umhüllte den großen Schädel wie eine Löwenmähne. Der junge Lieutenant zeigte auf ihn. Er sagte: »Das ist …« »Hallo, Polish«, sagte der Mann in Wildleder, ohne den Lieutenant oder mich zu beachten. Meine Blicke wanderten zwischen ihm und Polish hin und her. Polish wurde blaß bis unter die Haarwurzeln. Die schwarze Zigarre rutschte ihm aus dem Mund und fiel mit der glühenden Spitze auf seinen linken Oberschenkel. Er stieß einen heiseren Schmerzschrei aus und schlug die Zigarre mit den Händen von seiner Hose auf den Boden. Er zitterte plötzlich am ganzen Körper. »So sieht man sich wieder«, sagte der Mann in Wildleder. »Was soll das?« fragte der Lieutenant. »Kennt ihr euch?« Polish sprang auf und griff unter sein schlecht sitzendes Jackett. Seine Rechte tauchte mit einer doppelläufigen Derringer-Pistole wieder auf. Ich hatte nicht gedacht, daß Polish bewaffnet war.
Der Mann in Wildleder hielt bereits einen schweren Army-Colt mit leicht gekürztem Lauf in der Faust. Die Schußdetonation dröhnte ohrenbetäubend in dem kleinen Zelt. Shita bellte erschrocken und fletschte die Zähne. Der orangefarbene Mündungsblitz leckte an dem Lieutenant vorbei. Er sprang zur Seite und sah mit weit aufgerissenen Augen, wie Polish von der Kugel getroffen wurde und stocksteif stehenblieb. Polish ließ seine Derringer fallen. Der Aufprall des Geschosses warf ihn auf seinen Stuhl zurück. Er kippte mit dem Stuhl um, überschlug sich und blieb neben einem scheußlichen Lederkoffer auf dem Bauch liegen. Es gab keinen Zweifel, daß die Kugel ihn tödlich getroffen hatte, die der Mann in Wildleder abgefeuert hatte. Der Lieutenant schnappte nach Luft wie ein an Land geworfener Fisch, und ich schaute den Mann in Wildleder fassungslos an, der in aller Seelenruhe die abgeschossene Kammer seines Revolvers auflud. »Sie schulden uns eine Erklärung, Colorado«, sagte der Lieutenant gepreßt. Da hörte ich zum erstenmal den Namen des Fremden. Er wurde Colorado genannt. Seinen richtigen Namen kannte niemand, vermutlich nicht einmal er selbst. »Das war Polish«, sagte der Mann. Er schob seinen Revolver zurück in die Halfter am Gürtel. »Halt deinen Hund zurück, Junge«, sagte er. Shita knurrte ihn drohend an und hatte seine Zähne gefletscht. »Wenn Sie ihm auch nur ein Haar krümmen, schieße ich Sie über den Haufen, genau wie Sie es mit Polish getan haben«, sagte ich. Unsere Blicke trafen sich. Er hatte eisgraue, kalt schimmernde Augen. Ich hatte keine Angst vor ihm und hielt seinem Blick stand. Ich konnte ihn auf Anhieb nicht leiden. Das hatte nichts damit zu tun, daß er Polish niedergeschossen hatte, der mir ziemlich gleichgültig war. Es war die Art des Mannes, die mich abstieß. Wir musterten uns schweigend, dann blickte er auf den Lieutenant und sagte: »Ist das der Junge?« »Das ist Ronco«, sagte der Lieutenant. »Was ist mit der Erklärung?«
»Seit wann ist Polish hier?« »Seit drei Wochen.« »Vor vier Wochen war er noch in Petersburg, und als ich ihn davor gesehen habe, war er Sekretär von General Jeb Stuart, das ist ein halbes Jahr her.« »Ein Südstaatler?« »Ein tausendprozentiger Rebell, Lieutenant.« »Er war als Zeitungsmann hier.« »Eine gute Tarnung«, sagte Colorado. »Wenn so ein Zeilenschinder herumschnüffelt, denkt niemand an etwas Böses.« »Und wenn Sie sich irren?« fragte ich. Ich war sicher, daß der Mann sich irrte, denn auch Polish hatte ihn erkannt und war zu Tode erschrocken. Das hatte ich gesehen. Aber es reizte mich einfach, Colorado zu widersprechen. »Ich irre mich nie«, sagte er. »Wenn ich einmal so ein Rebellengesicht gesehen habe, dann vergesse ich es nicht mehr.« Er wandte sich wieder an den Lieutenant. »Der Junge ist ein gottverdammter Schnösel.« »Ronco ist uns vom Department Mississippi empfohlen worden. Er hat Erfahrung mit besonderen Aufträgen.« »Was soll das?« fragte ich. »Später«, sagte der Lieutenant. »Ihr beide werdet miteinander auskommen müssen, ob ihr wollt oder nicht. Gehen wir.« Er verließ das Zelt. Colorado und ich starrten uns einen Moment lang an. Er sagte: »Du hast mit ihm gespielt. Vielleicht gehörst du zu ihm.« »Vielleicht sind Sie ein Agent, und Polish hat Sie erkannt«, sagte ich. Er antwortete nicht, und ich merkte erst jetzt, daß ich in der linken Hand noch immer den Würfelbecher hielt. Ich warf ihn zu Boden. Die Würfel rollten heraus. Dreimal zeigten sechs Augen nach oben. Colorado hatte mich um einen schönen Gewinn gebracht. Das letzte Spiel wäre an mich gegangen. Ich nahm meinen letzten Spieleinsatz vom Tisch und steckte ihn ein. Schweigend ging ich an Colorado vorbei und verließ das Zelt. Shita folgte mir knurrend.
* »Wir müssen immer wachsam sein«, sagte Captain Frazier. Er stand vor einer mannshohen Landkarte im Schein zweier Petroleumlaternen. Er war untersetzt und breitschultrig und hatte einen sauber gestutzten Knebelbart. Seine Stimme klang hell und scharf, befehlsgewohnt. »Der Fall Polish hat es wieder gezeigt«, sagte er. »Wir sind Colorado zu Dank verpflichtet. Es ist nicht das erstemal, daß seine Entschlossenheit und Umsicht uns vor Schaden durch den Feind bewahrt hat.« Colorado saß auf einem Klappstuhl und stopfte sich eine Maiskolbenpfeife. Er schien überhaupt nicht zuzuhören und tat so, als ginge ihn das alles hier gar nichts an. Captain Frazier drehte sich um und klopfte mit seinem rechten Zeigefinger auf einen Punkt der Landkarte. »Zur Sache, Gentlemen«, sagte er. Ich saß inmitten dieser »Gentlemen«, Soldaten in blauen Uniformen, hauptsächlich einfache Privates, Schützen, ein Corporal war dabei, auch ein Sergeant. Der Rang aber schien hier keine Rolle zu spielen. Ich hatte die Männer noch nie gesehen und wußte nicht, nach welchen Maßstäben sie ausgesucht worden waren. Ich wußte gar nichts. »Hier liegt Savannah«, sagte Captain Frazier. Ich hatte ihn bisher nur einmal gesehen. Er hatte die Depesche, die ich transportiert hatte, entgegengenommen und gehörte zum Stab General Shermans. »Savannah ist eine der wichtigsten Hafenstädte der Rebellen. Trotz der Blockade gelingt es dem Süden immer wieder, in diesem Hafen Nachschub zu landen. Sie werden sich diese Karte genau ansehen und einprägen. Ihr Leben kann davon abhängen, daß Sie sich später im Land zurechtfinden.« Captain Frazier schwieg einen Moment und runzelte die Stirn, als er sah, daß Colorado sich noch immer nicht um seinen Vortrag kümmerte, sondern geräuschvoll und leise vor sich hinfluchend nach einem Zündholz suchte, schließlich eins fand und damit seine Pfeife in Brand setzte. »Wir haben Informationen, daß in dieser Woche zwei Schiffe in
Savannah gelandet sind, die sechshundert Rinder aus Mexiko gebracht haben. Angesichts der Tatsache, daß der Lebensmittelmangel in den Südstaaten und die mangelhafte Versorgung der Rebellenarmee ein schnelles Ende des Krieges begünstigt, könnte eine solche Fleischlieferung dem Süden erheblich Auftrieb geben. Die konföderierte Armee in Alabama und Georgia ist von uns eingeschlossen. Sie kämpft ums Überleben. Es kann sich nur um wenige Wochen handeln, dann befinden sich beide Staaten mitsamt aller darin gelegenen Garnisonen und Hafenstädten in unserer Hand. Das ist kriegsentscheidend. Wir sind im Augenblick in der Situation, daß wir den Feind aushungern können. Sollten die in Savannah gelandeten Rinder ihren Bestimmungsort erreichen, nämlich das Hauptquartier der Südarmee in Georgia, Macon, wäre die Versorgungslage der Rebellen mit einem Schlag verbessert. Das würde unseren Kampf um Monate verlängern und höchstwahrscheinlich einige zehntausend Menschenleben mehr fordern.« Captain Frazier trank einen Schluck Wasser, blickte dann in die Runde und sagte: »Ihre Aufgabe ist es, zu verhindern, daß die Rinder ihr Ziel erreichen. Colorado hat unsere Informationen weitgehend bestätigt. Er hat sich in Macon umgehört, und zwar unter Lebensgefahr. Er ist kein Unbekannter im Süden. Er mußte vorige Woche aus Macon fliehen, weil er erkannt worden ist. Gott sei Dank konnte er sich durchschlagen. Daher wissen wir nun folgendes: Die Rinder werden von fünf mexikanischen Treibern begleitet. Sie erhalten durch zwanzig konföderierte Soldaten Geleitschutz. Die Herde befindet sich jetzt bereits auf dem Weg nach Macon. Wir haben also keine Zeit zu verlieren. Sie alle haben sich freiwillig gemeldet. Es gibt für keinen von Ihnen ein Zurück, das wissen Sie. Sie alle haben irgendwann einmal in Ihrem Leben mit Rindern gearbeitet. Sie kennen sich mit einer Rinderherde aus. Sie sind in der Lage, sie zu treiben. Sollten Sie die Unwahrheit gesagt haben, wäre das Ihr eigenes Pech. Denn Sie haben nur eine Chance, wenn alles nach Plan klappt und keiner von Ihnen versagt. Sollten Sie Schwierigkeiten mit den Tieren kriegen, beim Treiben Fehler begehen und daher aufgehalten werden, werden Sie mit Sicherheit
den Rebellen in die Hände fallen, die mit Ihnen kurzen Prozeß machen werden. Sie müssen darauf gefaßt sein, daß die Rebellen um die Rinder mit allen Mitteln kämpfen werden.« Captain Frazier schwieg, um seine Worte wirken zu lassen. Dann wandte er sich wieder der Karte zu. »Der Plan, an den Sie sich zu halten haben, allerdings unter der Voraussetzung, daß es keine unvorhersehbaren Zwischenfälle gibt, ist folgender: Sie versuchen, sich die Rinderherde zu schnappen, bevor sie Macon erreicht. Je früher, desto besser. Sehen Sie zu, daß Sie möglichst viele Männer des Geleitzuges töten. Damit sichern Sie sich einen Vorsprung. Sie treiben die Herde bis nach Wrightville, hier auf der Karte.« Captain Frazier hämmerte wieder mit seinem rechten Zeigefinger auf der Landkarte herum, so daß man gar nichts mehr erkennen konnte, weil die Karte hin und her schwankte. »Das ist ein kleines Nest, kein Militär, aber eine Bahnstation. Dort werden ständig Frachtzüge der Rebellen gewartet. Ihr packt die Rinder in Viehwaggons. Verladeeinrichtungen sind in Wrightville vorhanden. Stimmt's, Colorado?« »Stimmt«, sagte Colorado, dabei konzentrierte er sich nur auf seine Pfeife. »Wenn Sie das geschafft haben, ist die Aktion gelaufen. Sie fahren mit dem Zug nach Athens. Dort wird die Herde von Unionstruppen übernommen. Corporal Jufford ist in der Lage, eine Lokomotive zu bedienen.« Frazier zeigte auf den hageren Corporal, der unweit von mir saß und nur dienstfertig nickte. »Ich muß Ihnen mitteilen, Gentlemen«, fuhr der Captain fort, »daß für die Dauer der Aktion, Colorado das Kommando übernimmt. Sie haben jedem seiner Befehle widerspruchslos zu gehorchen. Er ist in solchen Unternehmungen bewandert und erfahren. Er wird Sie mit einem Boot auf dem Oconee River ins Feindesland bringen. Das geht schnell und ist weniger auffällig, als wenn Sie reiten würden. Pferde müssen Sie sich beschaffen. Das ist Ihre Sache. Sie bewegen sich natürlich ohne Uniform. Damit Sie, wenn Sie an Land gehen, mit den letzten Informationen versorgt werden können – über den augenblicklichen Standort der Herde etwa –, wird Ronco allein nach Macon reiten.«
Ich traute meinen Ohren kaum. Ich wurde nicht einmal gefragt, ob ich einverstanden sei oder nicht. Es war schon tröstlich, daß ich nun überhaupt wußte, um was es ging. »Er ist ebenfalls in Sonderunternehmen bewandert, wie uns aus Mississippi versichert worden ist«, hörte ich Frazier schon weitersprechen. »Er ist hier in Georgia völlig unbekannt, was es ihm – im Gegensatz zu Colorado – ermöglicht, direkt in die Zentrale unseres Gegners zu reiten. Außerdem wirkt er durch seine Jugend unverdächtig. Er wird sich später mit Ihnen treffen. Über die Einzelheiten wird Colorado mit Ihnen sprechen, er wird auch die restlichen Details festlegen. Ich habe Ihnen noch mitzuteilen, Gentlemen, daß Ihr Unternehmen morgen abend beginnen wird. Es ist selbstverständlich, daß Sie über das, was ich Ihnen gesagt habe, zu schweigen haben. Ein falsches Wort kann Ihre ganze Aktion in Gefahr und Sie selbst um Kopf und Kragen bringen. Das war alles, Gentlemen. Sie erhalten noch in dieser Nacht Zivilkleidung.« Frazier griff nach seinem Hut, der auf einem Stuhl lag, setzte ihn auf und verließ grußlos das Zelt. Jetzt waren wir allein, und ich hatte Zeit, zu verdauen, was der Captain gesagt hatte. Niemand sagte ein Wort. Die Soldaten rings um mich her saßen wie vom Donner gerührt. Dafür nahm Colorado seine Pfeife aus dem Mund und lehnte sich zurück. Er musterte uns kalt und abschätzend. »Ihr habt gehört, was der Captain gesagt hat«, erklärte er. »Mehr braucht ihr nicht zu wissen, vorerst.« Er richtete sich auf und griff nach seinem Gewehr, einer doppelläufigen Hawkens-Rifle. Er zeigte mit dem Gewehr auf mich. »Du kommst mit mir.« Er wandte sich zum Zeltausgang. Über die Schulter sagte er: »Ich werde im Morgengrauen zurück sein und erwarte, euch dann alle ohne Uniformen zu sehen.« Ich hatte eine Stinkwut, als ich mich aufrichtete, Shita zunickte und zusammen mit ihm hinter Colorado hereilte. Das hatte mir gerade noch gefehlt: ein lebensgefährlicher Auftrag in einem Land, das ich nicht kannte, dazu zusammen mit einem Kerl, den ich von Anfang an nicht leiden konnte. Ich wollte zurück nach Mississippi, aber darauf würde hier wohl kein Mensch Rücksicht nehmen. Nicht nur, daß ich schon zuviel wußte, ich war Zivilscout der Nordarmee
und mußte die Aufgaben übernehmen, die mir zugewiesen wurden. Wenn ich den Job jetzt hinschmiß, würde ich unter Arrest gestellt werden, weil ich dann zum Risikofaktor wurde. Mir blieb also gar nichts anderes übrig. Ich mußte mitmachen.
3. »Man hat mir gesagt, daß du gut bist. Junge«, sagte Colorado. »Ich hoffe, daß es stimmt.« »Der Teufel ist Ihr Junge«, sagte ich. »Ich heiße Ronco.« »Ein komischer Name.« »Nicht komischer als Colorado«, sagte ich. Er antwortete nicht. Wir hatten das Armeelager verlassen und ritten in weitem Bogen um Atlanta herum. Ich saß im Sattel meines häßlichen braunen Hengstes. Colorado ritt einen Rappen, der meinem Hengst an Häßlichkeit an nichts nachstand. »Ich komme aus Colorado«, sagte er unvermittelt. »Sie nennen mich hier im Süden den Colorado-Mann.« »Wie ist Ihr richtiger Name?« Er antwortete nicht. Vor uns tauchte eine Telegraphenlinie auf. Wenig später entdeckte ich ein Zelt. Dann knackte metallisch ein Gewehrhahn. »Parole!« »Es lebe Lincoln«, sagte Colorado. Ein Soldat tauchte hinter dem Zelt auf. Er senkte sein Gewehr, als wir näher ritten. »Hat es geklappt?« fragte Colorado? »Ich denke schon«, sagte der Soldat. Wir stiegen ab. Colorado ging an dem Posten vorbei zum Zelt. Ich folgte ihm. Shita hielt sich dicht neben meinem rechten Bein. Wir betraten das Zelt. Es war klein und niedrig. Es standen nur ein Tisch und ein Stuhl darin. Auf dem Stuhl saß ein stiernackiger Unionssoldat, dessen Gesicht vor Schweiß glänzte. Er hatte vor sich auf dem Tisch einen Telegraphen stehen. Von dem Apparat aus führte eine dünne Leitung zum Boden und verschwand unter einer Zeltwand hindurch nach draußen. Ein einfaches Windlicht
verbreitete karge Helligkeit. Als wir eintraten, gab der Telegraph tickende Geräusche von sich. Sie reihten sich in schneller Folge zu einem für mich völlig unverständlichen Geknatter aneinander. Der Soldat vor dem Apparat hatte seinen Kopf schräg geneigt, lauschte angestrengt und schrieb mit einem Bleistiftstummel die Zeichen mit. Er schien gar nicht zu bemerken, daß wir eingetreten waren. Abrupt endeten die Signale. Der Telegraph schwieg. Der Soldat schrieb noch eine Weile, strich immer wieder etwas durch, überlegte, schrieb neu. Wir standen schweigend dabei. Schließlich hob der Mann den Kopf und wischte sich mit dem rechten Handrücken über die Stirn. »Wie sieht's aus?« fragte Colorado. »Gut« sagte der Mann. Er beugte sich über das, was er geschrieben hatte. »Wir haben die Leitung der Rebellen vor zwei Stunden angezapft und eine Menge aufgefangen. Unwichtiges Zeug, bis auf eine Nachricht: Ihre Rinder stehen vierzig Meilen nördlich von Savannah und bewegen sich stetig auf Macon zu. Sie werden sich beeilen müssen.« »Unverschlüsselt?« fragte Colorado. »Natürlich war die Nachricht verschlüsselt.« Der Telegraphist wirkte geradezu beleidigt. »Aber den Code der Rebellen knacke ich blind.« »Die Entfernung stimmt?« fragte Colorado. »Vierzig Meilen nördlich von Savannah«, wiederholte der Telegraphist. »Sechshundert Rinder, insgesamt zwanzig Mann Bedeckung, darunter einige Zivilisten.« »Nur zwanzig?« fragte Colorado. »Die Zahl stimmt?« »Was ich sage, stimmt immer«, erwiderte der Telegraphist. »Zwanzig Mann Begleitung.« »Das ist weniger, als erwartet.« Colorado nickte dem Mann zu und bedeutete mir, mit ihm das Zelt zu verlassen. Wir traten hinaus und eilten an dem Wachtposten vorbei zu unseren Pferden, während hinter uns der Telegraph wieder zu ticken begann. »Du hast gehört, was der Mann gesagt hat«, sagte Colorado. »Wir
haben keine Zeit zu verlieren. Du reitest sofort in Richtung Macon. Du benimmst dich ganz normal, fängst mit niemandem Streit an und mischst dich in nichts ein. Nicht auffallen, verstehst du? Sobald du in Macon bist, suchst du die Baptist-Church auf, und zwar genau gegen zwei Uhr am Nachmittag. Jeden Tag, solange du in der Stadt bist. Wir haben in Macon einen Verbindungsmann. Wenn er eine Nachricht für uns hat, macht er es genauso, bis er jemanden von uns in der Kirche trifft. Er ist leicht zu erkennen. Es ist ein Lieutenant der Südstaaten. Wenn du ihn siehst, gibst du dich ihm zu erkennen, indem du ihn nach dem Militärpfarrer von Macon fragst. Er wird dir antworten, daß es in Macon keinen Militärpfarrer gäbe, worauf du sagst, daß dein Bruder gefallen sei und du einen Pfarrer suchst, der eine Messe für ihn liest. Der Mann wird dir dann die letzten Informationen geben. Damit reitest du von Macon aus schnurgerade nach Westen zum Oconee River. Du wirst dann auf eine verlassene Fährstation stoßen. Sie ist nicht zu verfehlen. Entweder bin ich mit den Soldaten schon da, oder du wartest dort auf uns. Alles klar?« »Klar«, sagte ich. »Auf deine Informationen kommt es an«, sagte er. »Präg dir deshalb alles genau ein. Erst wenn wir am Oconee zusammentreffen, wissen wir, wie es weitergeht und ob unser Plan verwirklicht werden kann.« »Ich bin ja nicht blöd«, sagte ich. »Ich bin nicht zum erstenmal bei so was dabei.« »Ich hoffe, dir unterläuft kein Fehler.« »Das hoffe ich von Ihnen auch«, sagte ich. Er starrte mich einen Moment schweigend in der Dunkelheit an und sagte dann: »Du hast ein freches Maul.« »Sie tun so, als hätten Sie die Klugheit mit Schaufeln gefressen«, erwiderte ich. »Andere Leute haben auch einen Kopf und können auch denken.« »Ich war dagegen, als mir der Captain gesagt hat, daß die wichtigste Aufgabe von einem Rotzlöffel wie dir erledigt werden soll«, sagte er. »Ihre Visage paßt mir auch nicht.« Er holte unvermittelt aus und wollte mir die Rechte ins Gesicht
schlagen. Ich rührte mich nicht vom Fleck. Ich ließ meine rechte Hand zum Gürtel gleiten. Noch bevor Colorado zuschlagen konnte, lag der schwere Navy Colt in meiner Faust. Die Mündung starrte den Mann in Wildleder drohend an. Der achtkantige Lauf zielte auf seinen Gurgelknoten. Der Hammer war gespannt. Mein Zeigefinger hatte sich um den Abzug gekrümmt. Mondlicht fiel auf die Waffe, deren Brünierung fleckig war und sie bereits einige Rostnarben aufwies. Colorado starrte mich entgeistert an. Dann ließ er seine Hand sinken. »Tu das nie wieder«, sagte er leise. »Das nächste Mal ziehe ich auch und schieße.« »Dazu kommen Sie nicht mehr«, sagte ich. »Versuchen Sie nie wieder, mich zu schlagen.« Unsere Blicke verbissen sich ineinander. Eine Mauer des Schweigens richtete sich zwischen uns auf. Für einige Sekundenbruchteile war nichts als kalter Haß da. Dann sagte Colorado: »Du kennst deinen Auftrag.« Ich steckte den Revolver in die Halfter zurück und sagte nichts. Colorado drehte sich wortlos um und ging zu seinem Pferd. Er schwang sich in den Sattel und ritt davon, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen. Ich warf einen letzten Blick auf Shermans Lager, das eine gute halbe Meile entfernt war, und trieb meinen Braunen an. Shita trabte in gleichförmigem Wolfstrott neben mir her, als ich nach Süden in die Nacht ritt. * Ich zügelte meinen Braunen an einem Bach, um ihn saufen zu lassen. Die Sonne stand hoch. Es war sehr heiß. Auch Shita planschte mit heraushängender Zunge bis zum Bauch ins Wasser und soff gierig. Ich griff nach meiner Feldflasche und entkorkte sie. Sie war randvoll, aber das Wasser darin schmeckte abgestanden und lauwarm. Die Sonne hatte stundenlang daraufgebrannt. Ich trank, spülte meinen Mund gründlich aus und tränkte dann
mein Halstuch mit Wasser, um mir das Gesicht abzureiben. Als ich die Flasche ans Sattelhorn zurückhängte, tauchten seitlich von mir Reiter aus dem Hügelland auf. Sie hielten Gewehre in den Händen. Im ersten Moment wurde meine Kehle eng. Die Reiter trugen feldgraue Uniformen. Sie sahen mager und ausgemergelt aus und hatten dichte, ungepflegte Bärte. Meine Unsicherheit dauerte nur Sekunden. Mich kannte hier niemand. Ich trug nichts bei mir, das mich als Angehörigen der Streitkräfte der Union auswies. Mir konnte nichts passieren. Hinter den Reitern tauchten Soldaten zu Fuß auf. Sie trugen blaue, zerfetzte, blutbefleckte Uniformen und waren unbewaffnet. Kriegsgefangene. Einige waren verletzt. Sie stützten sich gegenseitig, um nicht umzufallen, liegenzubleiben und am Wegrand verenden zu müssen. Hinter ihnen folgten ebenfalls berittene konföderierte Soldaten. Manchmal trieben sie ihre Pferde an, beugten sich aus dem Sattel und versetzten den Gefangenen mit ihren Gewehren heftige Stöße in den Rücken. Sie lachten, wenn die Getroffenen taumelten und sich nur mit Mühe auf den Beinen hielten. Die Kolonne näherte sich dem Bach. Ich zog meinen Braunen herum und ritt aus dem Wasser. Shita bellte den Soldaten entgegen. Sie zügelten unweit von mir ihre Pferde. Obwohl sie aussahen, als hätten sie seit Tagen nichts Vernünftiges mehr gegessen, wirkten sie zäh, kräftig und entschlossen – im Gegensatz zu ihren Gefangenen, die das gute Leben in der mit allen Versorgungsgütern ausgestatteten Nordarmee gewöhnt waren und ebenfalls seit Tagen keine Mahlzeit zu sich genommen hatten. Ihnen fehlte die Entschlossenheit, die fanatische Überzeugung, mit der die Südstaatler in diesen Krieg zogen und Hunger und Entbehrungen überstanden, ertrugen und dabei noch stärker zu werden schienen. »Hallo, Junge!« rief einer der bärtigen Konföderierten. »Ziemlich riskant, allein hier herumzureiten. Die Yankees sahnen im Moment mächtig ab. Fast jeder Baum hier trägt schon eine blaue Uniform.« »Ich will nach Macon«, sagte ich. »Mein Bruder liegt dort im Lazarett.« »Hoffentlich rappelt er sich wieder auf. Wenn du in Macon bist,
laß dir eine Uniform geben. Wir brauchen jetzt jede Hand.« »Ich hab auch schon dran gedacht«, sagte ich. »Warst du in der Gegend von Atlanta?« fragte ein anderer. »Ja«, sagte ich. »Es sieht nicht gut aus.« »Die verdammten Yankees fühlen sich jetzt sehr stark. Aber wir sind noch lange nicht am Ende.« »Noch lange nicht«, sagte ich. Die Männer in den blauen Uniformen starrten mich haßerfüllt an. Ich trieb den Braunen an und nickte den Konföderierten freundlich zu. Als ich weiterritt, spürte ich ein unangenehmes Gefühl im Rücken. Aber nichts geschah. Niemand hielt mich an. Es war alles gutgegangen. Ich schaute nicht zurück und ritt ins Hügelland. Drei Meilen weiter tauchte eine Baumgruppe vor mir auf. Ich steuerte darauf zu. Seit dem gestrigen Morgen hatte ich nicht mehr geschlafen. Ich fühlte mich ausgelaugt und wie gerädert. Am gestrigen Tag die Schlacht von Atlanta, letzte Nacht die überraschenden Instruktionen für den neuen Auftrag. Seitdem war ich unterwegs. Ich brauchte eine Rast. Shita schien der gleichen Meinung zu sein. Er trottete müde neben mir her und schaute ab und zu vorwurfsvoll zu mir auf. Ich hielt im Schatten der Bäume an, stieg ab, lockerte die Sattelgurte und streckte mich am Fuße einer Trauerweide aus. Shita ließ sich neben mir fallen wie ein Sack. Er schnaufte zufrieden und schloß die Augen. Während mein Brauner zu grasen begann, schlief auch ich ein. Die Sonne stand weit im Westen, als ich erwachte. Shita knurrte leise. Er lag noch immer flach ausgestreckt neben mir im Gras, aber seine Augen waren geöffnet, das Fell in seinem Nacken hatte sich gesträubt, sein ganzer Körper wirkte angespannt. Ich bewegte mich nicht und lauschte angestrengt. Es war alles still. Ich spürte instinktiv, daß etwas nicht in Ordnung war und Shita nicht ohne Grund geknurrt hatte. Jetzt war er still. Plötzlich knackte es im Unterholz. Ich lag noch immer ruhig, als würde ich schlafen. Dann tauchte unvermittelt ein Schatten aus dem Unterholz auf und hastete auf meinen Braunen zu. Shita sprang mit wütendem, drohendem Bellen auf und jagte auf
den Mann zu, der versuchte, sich auf den Braunen zu schwingen. Der Mann griff nach dem Sattelhorn und sprang auf den Rücken des Hengstes. Aber ich hatte die Sattelgurte gelöst, und so verlor der Mann den Halt, versuchte verzweifelt, sich auf dem Pferderücken festzuklammern, hatte aber keine Chance und rutschte auf der anderen Seite mitsamt dem Sattel hinunter. Er stürzte kopfüber ins Gras. Als er sich hochstemmte, war Shita da. Der Mann aber gab nicht auf. Er griff nach meinem Sharps-Karabiner, der aus dem Scabbard des Sattels gerutscht war. Der Sattel hing jetzt unter dem Bauch des Braunen. Der Karabiner lag im Gras. Ich stand schon auf den Beinen und hielt meinen Navy Colt in der Faust. »Zurück, Shita!« befahl ich. »Und du hebst die Hände hoch, Mann, und tust genau, was ich sage!« Er gehorchte sofort. Shita wich zögernd zurück und setzte sich knapp vier Schritte von dem Mann entfernt mit gefletschten Zähnen ins Gras. Der Mann hockte am Boden und zitterte am ganzen Körper. Strähnig hing ihm sein Haar ins hohlwangige Gesicht. Aus tiefliegenden, entzündeten Augen blickte er mir entgegen, als ich langsam auf ihn zuging. Er trug eine, verdreckte, zerrissene blaue Uniform und gehörte zu den Kriegsgefangenen, die ich gegen Mittag gesehen hatte.
4. »Nun schieß doch«, sagte er. Seine Stimme klang heiser. »Du kriegst mich nicht zurück. Bevor ich in einem eurer Lager totgeprügelt werde oder verhungern muß, laß ich mich lieber erschießen. Drück ruhig ab. Dafür hängen sie dir bestimmt einen Orden um.« »Steh auf«, sagte ich. »Laß deine Hände oben.« Er stand auf. »Du kannst tun, was du willst«, sagte er. »Ich gehe keinen Schritt von hier weg. Ich gehe nicht zurück in Gefangenschaft.« »Du brauchst Zivilkleidung«, sagte ich. »In der Uniform schaffst
du es nicht weit. Außerdem brauchst du ein Pferd. Bis Atlanta kannst du nicht zu Fuß gehen, Mann.« Er blickte mich verständnislos an. »Seit wann bist du frei?« fragte ich. »Sind sie schon hinter dir her?« Er begriff überhaupt nichts, das sah ich ihm an. »Ich bin Scout der Unionsarmee«, sagte ich. Er schluckte ein paarmal, und ich hatte das Gefühl, daß er mir nicht so recht glaubte. Ich selbst fühlte mich ganz und gar nicht wohl. Auf Zwischenfälle solcher Art war ich in Shermans Lager nicht vorbereitet worden. Ich wußte nicht, was ich jetzt tun sollte. Ich konnte den Mann nicht hilflos zurücklassen, andererseits konnte ich mir aber auch nicht leisten, ihn mitzunehmen und damit womöglich das ganze Unternehmen zu gefährden. »Ich habe wenig Zeit«, sagte ich. »Ich habe einen Auftrag auszuführen.« »Wenn du auch zum Norden gehörst, mußt du mir helfen«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß General Sherman das auch so sehen würde«, sagte ich. »Hier geht es um mehr. Wenn ich meinen Auftrag sausen lasse, gehen vielleicht zehn andere Männer vor die Hunde.« »Du kannst mich nicht hierlassen.« »Ich könnte schon«, sagte ich. »Jeder andere würde es tun.« Ich hob den Revolver ein Stück an und deutete auf den Braunen. »Zurr den Sattel richtig fest«, sagte ich. »Ich nehm dich ein Stück mit, bis du deine Uniform los bist.« Er antwortete nicht. Er beeilte sich, meinen Anweisungen Folge zu leisten. Dann bückte er sich nach dem Sharps-Karabiner. Shita knurrte drohend. Der Soldat hob das Gewehr hoch. Ich spürte, wie er innerlich mit sich kämpfte. Er war zu erschöpft, als daß er seine inneren Empfindungen vor mir hätte verbergen können. Schließlich schob er den Karabiner in den Scabbard zurück. Ich war erleichtert. Es wäre mir schwergefallen, auf ihn zu schießen. »Aufsteigen!« befahl ich. »Keine Dummheiten. Ich schieße nicht schlecht. Und wenn du mit meinem Pferd durchgehst, und ich sollte es schaffen, zurück nach Atlanta zu gelangen, wirst du überall, wo du
erwischt wirst, standrechtlich erschossen. Dann hast du nicht nur die Rebellen, sondern auch die Leute des Provost-Marshals der UnionsArmee auf den Fersen.« Er sagte wieder nichts und kletterte auf den Braunen. Ich steckte den Revolver in die Halfter zurück und schwang mich hinter dem Mann in den Sattel. Mir fiel ein, daß ich gar nicht wußte, wie er hieß und zu welchem Regiment er gehörte. Ich trieb den Braunen an. In diesem Moment bellte Shita, und Sekunden später hörte ich Hufschlag aus dem Hügelland. Ich vergaß, was ich den Soldaten fragen wollte, und hämmerte dem Braunen die Absätze in die Weichen. Wir galoppierten an der Baumgruppe vorbei nach Süden. Seitlich von mir tauchte ein grauuniformierter Reiter auf. Ich erkannte in ihm einen der Männer wieder, die die Gefangenenkolonne begleitet hatten. Er war noch ziemlich jung, sehr mager, wirkte durch seinen struppigen, schwarzen Vollbart aber älter. An den Ärmeln seiner fadenscheinigen Uniformbluse entdeckte ich zwei übereinanderliegende gelbe Winkel. Ich kümmerte mich nicht um ihn, sondern trieb den Braunen zu noch rascherem Tempo an. Der Soldat stieß einen wilden Schrei aus und riß sein Pferd herum. Er nahm die Verfolgung auf. Ein Schuß krachte. Ich spürte den sengenden Luftzug der Kugel an meinem linken Ohr, hörte Shita bellen und sah über einen Hügelkamm im Westen einen weiteren Reiter in grauer Uniform heransprengen. »Die kriegen mich nicht!« schrie der Soldat vor mir im Sattel. »Niemals!« Er griff mir in die Zügel und stieß unvermittelt beide Ellenbogen nach hinten. Er traf mich knallhart in den Leib. Ich verlor das Gleichgewicht und klammerte mich haltsuchend an dem Mann fest. Aber er wand sich wie ein Wilder und rammte mir abermals seine Ellenbogen in den Leib, daß mir die Luft wegblieb. Ich konnte mich nicht mehr halten und stürzte rücklings vom Pferd, während der Soldat sich vorbeugte und auf den Braunen eindrosch, damit er noch schneller galoppierte. Ich zog instinktiv den Kopf ein und krümmte mich zusammen. Dann schlug ich bereits am Boden auf. Ich hatte das Gefühl,
auseinanderzuplatzen. Für einen Moment war mein ganzer Körper nur noch eine schmerzende Masse. Ich lag gelähmt im Gras. Jeder Atemzug jagte mir erneute Schmerzschauer durch den Körper. Benommen wälzte ich mich dennoch herum. Am liebsten hätte ich gebrüllt. Ich spürte jeden Knochen im Leib. Shita war neben mir. Er sprang aufgeregt um mich herum und versuchte, mein Gesicht zu belecken. Ich konnte nicht sprechen, ich schüttelte nur den Kopf. Ich spürte die Gefahr, die sich mir näherte. Das verlieh mir Kraft. Ich stemmte mich hoch. Verschwommen sah ich einen Reiter heransprengen. Der donnernde Hufschlag dröhnte mir in den Ohren. Ich tastete mit der Rechten zum Gürtel. Mein Revolver war weg. Das Gefühl der Hilflosigkeit schnürte mir die Luft ab. Verzweifelt richtete ich mich auf die Knie auf. Mein Revolver lag zwei Yards entfernt von mir im Gras. Ich zwang mich, aufzustehen. Schwankend bewegte ich mich, hatte noch immer starke Schmerzen, spürte aber, wie die Benommenheit nach und nach von mir abfiel. Ich erreichte den Revolver und bückte mich. Das Blut schoß mir in den Kopf. Beinahe wäre ich wieder gestürzt. Ich hob die Waffe auf. Sie war im ersten Moment zentnerschwer. Ich drehte mich um und sah den Südstaatler. Er ritt direkt auf mich zu und wollte mich rammen. Ich hatte keine Chance. Ich war zu langsam, um mich in Sicherheit zu bringen. Da federte Shita vom Boden hoch. Mit wildem Knurren warf er sich gegen den Reiter und verbiß sich in dessen linkem Bein. Der Mann schrie auf. Das Pferd bäumte sich scheuend auf und bockte. Die tödlichen Hufe wirbelten unmittelbar an meinem Kopf vorbei. Dann stürzte der Soldat bereits aus dem Sattel. Er fiel neben mir ins Gras. Shita hatte ihn losgelassen. Von seinem linken Oberschenkel rann Blut an seinem Bein hinunter. Sein Gesicht war verzerrt, als er sich aufrichtete. Ich wollte ihm keine Zeit lassen, zum Revolver zu greifen, doch seine Reaktion war schneller, als ich vermutet hatte. Aber bevor er auf mich schießen konnte, drückte ich meine Waffe ab. Der Aufprall der Kugel warf ihn zurück. Er fiel ins Gras und blieb regungslos liegen. Meine Kugel hatte ihn tödlich getroffen. Ich wandte mich um. Shita stand vor mir und wedelte
triumphierend mit dem Schwanz. Er hatte mir das Leben gerettet. Ich blickte über ihn weg und sah, daß der zweite konföderierte Soldat meinen Braunen fast eingeholt hatte. Der Nordstaatler hatte meinen Sharps-Karabiner aus dem Sattelscabbard gerissen. Er schoß auf seinen Verfolger, verfehlte ihn aber und packte das Gewehr am Lauf. Er schwang es wie eine Keule. Der Grauuniformierte riß seinen Säbel aus der Scheide und schwang ihn. Das Licht der Abendsonne brach sich auf der blanken Klinge. Der Nordstaatler schrie, bis der Säbelhieb ihn traf und ihn auf der Stelle tötete. Der grauuniformierte Soldat zog sein Pferd herum, ohne sich um sein Opfer zu kümmern, das leblos aus dem Sattel stürzte und blutüberströmt im Gras liegenblieb. Er lenkte sein Tier auf mich zu. Ich stand breitbeinig neben der Leiche des anderen konföderierten Soldaten und hielt meinen rauchenden Navy Colt in der Faust. Meine Schmerzen hatten nachgelassen. Ich fühlte mich besser und schaute dem Soldaten entgegen, der auf mich zu jagte. Er sah seinen toten Kameraden im Gras liegen und stieß einen Wutschrei aus. Er hatte seinen Säbel in die Scheide zurückgesteckt und hielt jetzt einen klobigen Militärrevolver in der Faust, die plumpe Kopie eines Colt-Revolvers aus einer Waffenfabrik der Südstaaten. Als er kaum noch zwanzig Schritte von mir entfernt war, begann er zu schießen. Ich warf mich zur Seite, rollte durchs Gras und verspürte noch immer schmerzhafte Stiche in der Rippengegend, aber es war zu ertragen. Am Boden liegend schoß ich. Ich feuerte zweimal. Meine zweite Kugel bohrte sich in die linke Schulter des Reiters. Er wurde im Sattel zurückgestoßen und hatte Mühe, sich auf dem Pferderücken zu halten. Ich sah, wie sich seine Hände um das Sattelhorn krampften. Er wankte wie ein Rohr im Winde. Der Reiter ließ sich im Sattel nach vorn sinken. Er zerrte mit der Rechten am Zügel des Pferdes. Das Tier drehte ab. Ich sprang auf und schoß abermals, traf aber nicht. Der Reiter klammerte sich am Pferdehals fest und trieb sein Tier
mit den Absätzen der Stiefel an. Das Pferd trabte immer schneller davon. Ich hob noch einmal den Revolver, ließ ihn aber sinken, ohne abzudrücken. Die Entfernung war für einen sicheren Revolverschuß bereits zu groß. Der Reiter verschwand hinter einem Hügelkamm. Spätestens am nächsten Morgen würde ich die konföderierte Armee im Nacken haben. Ich mußte mich beeilen. Bevor ich Macon erreichte, würde man dort über das, was hier passiert war, Bescheid wissen. Ich brauchte Glück, sehr viel Glück, um meinen Auftrag erledigen zu können, ohne geschnappt zu werden. Von jetzt an war ich erkannt. Sobald der verletzte Soldat seine Truppe erreichte, würde man nach einem jungen Burschen mit einem Hund suchen. Ich hatte das Gefühl, mich von jetzt an auf einer sehr dünnen Eisdecke zu bewegen, die bei jedem Schritt brechen konnte. Der Braune stand unweit des toten Unionssoldaten und zupfte an den Spitzen des kniehohen Grases. Ich ging zu dem toten Soldaten. Er hielt noch immer meinen Sharps-Karabiner in der rechten Faust. Die Finger waren so um den Lauf des Gewehrs verkrallt, daß ich Mühe hatte, sie zu lösen. Der Braune hob den Kopf und schnaubte erfreut, als ich mich ihm näherte. Ich schob das Gewehr in den Scabbard zurück und schwang mich in den Sattel. Die Sonne stand jetzt tief im Westen und versank Stück für Stück hinter einem Waldgürtel. Sie glühte rot wie ein mächtiges Feuerrad. Lange Schatten krochen über das Land und wurden eins mit der Dämmerung. Ich ritt in raschem Tempo südwärts. * Sie marschierten in loser Formation und waren kaum noch als Soldaten zu bezeichnen. Es war ein wilder, rauher, heruntergekommener Haufen. Die meisten trugen lediglich graue Uniformhosen mit gelben Nähten und Militärkoppel mit großen Messingschnallen, auf denen CSA stand, Confederates States Army. Sonst trugen sie Zivilkleidung, an der sie Orden und Kompanieabzeichen befestigt
hatten. Ich sah Männer mit Armeekokarden an breitrandigen Cowboyhüten. Ich hatte den Braunen im Schatten hoher Sagebüsche gezügelt und schaute zur Wagenstraße hinunter, auf der die Soldaten nach Norden marschierten. Sie sahen aus wie eine Handvoll Strauchdiebe. Ihre Bewaffnung war so unterschiedlich wie ihre Uniformierung. Einige trugen Revolver verschiedener Fabrikate im Gürtel, andere führten statt dessen noch alte Vorderladerpistolen mit sich. Ihre Kleidung war verdreckt, ihre Stiefel löchrig. Einige trugen durchblutete Verbände. Der Trupp Soldaten verließ jetzt die Straße und schlug seitlich des Weges ein Nachtlager auf. Es wurde Abend. Seit dem Zwischenfall mit dem geflüchteten Kriegsgefangenen waren vierundzwanzig Stunden vergangen. Ich hatte noch fast zwanzig Meilen bis Macon zurückzulegen und gedachte, schleunigst weiterzureiten, bevor man mich entdeckte. Ich zog den Braunen herum. Shita knurrte. Ich blickte mich irritiert um. Als ich aus dem Schatten der Sagebüsche herausritt, lenkten zwei Kavalleristen der Südarmee ihre Pferde den Hang hinauf auf mich zu. Mir blieb fast das Herz stehen. Ich umfaßte die Zügel des Braunen fester und zwang mich, tief und ruhig durchzuatmen, um ruhig und gelassen zu wirken. Während sie heranritten, ballte sich ein eisiger Klumpen in meinem Leib zusammen. Wenn die beiden bereits von dem Kampf gestern wußten, war es aus mit mir. »Hallo«, sagte einer der beiden Reiter. »Tag«, sagte ich. »Der Tag ist fast vorbei«, sagte der andere. »Was treibst du hier?« »Ich bin auf dem Weg nach Macon.« Ich bemühte mich, meine Stimme fest klingen zu lassen und spürte, wie ich etwas sicherer wurde. Die Männer schienen von dem Vorfall am gestrigen Tag nichts zu wissen. »Du hast uns beobachtet?« »Ich wollte gerade hinunterreiten«, sagte ich. »Es sah nicht so aus.« »Stimmt aber«, sagte ich. »Ich dachte, ich krieg bei euch einen
heißen Kaffee.« »Einen heißen Kaffee?« Der Mann lachte, sein Begleiter ebenfalls. »Wie schmeckt so was?« »Ein Stück Pferdefleisch kannst du kriegen«, sagte der andere. »Ein bißchen zäh, aber wenn man Hunger hat, nicht schlecht.« »Wie alt bist du?« fragte der erste. »Achtzehn«, log ich. Ich war gerade sechzehn, aber ich sah älter aus. Ich war ziemlich groß und wirkte etwas hager, aber ich hatte breite Schultern und kräftige Arme. »Warum bist du nicht Soldat?« »Mein Bruder ist Soldat«, sagte ich. »Wir haben eine Farm bei Williamsburgh. Mein Vater braucht mich.« »Die Armee braucht dich auch«, sagte der andere. »Mehr als dein Vater. Wenn wir diesen Krieg verlieren, braucht dein Vater dich auch nicht mehr, dann hat er seine Farm mal gehabt.« »Mein Vater beliefert die konföderierte Armee«, erwiderte ich. »Wenn wir nicht arbeiteten, hättet ihr nichts mehr zu essen.« Die beiden musterten mich einen Moment schweigend und wußten offensichtlich nicht, was sie darauf antworten sollten. Dann zogen sie ihre Pferde herum. »Komm mit«, sagte der eine. Ich konnte mich nicht dagegen wehren. Erneut erfaßte mich ein starkes Gefühl der Unsicherheit. Shita folgte mir schwanzwedelnd. Er ahnte nichts von meinen Befürchtungen. Für ihn war die Nähe eines Militärlagers vermutlich gleichbedeutend mit einem Knochen. Wir ritten den Hang hinunter und in einem leichten Bogen zur Wagenstraße. Wenig später erreichten wir das Camp. Ich sah nur zwei oder drei Zelte, die für die Offiziere reserviert waren. Die Mannschaften hatten sich im Gras niedergelassen. Die wenigsten verfügten über eine Decke. Sie waren müde, wirkten ausgepumpt und übernächtigt. Nur ein paar hoben die Köpfe, als wir durch das Camp ritten. Unweit eines Feuers hielten die beiden Kavalleristen an. Ich zügelte meinen Braunen und stieg ebenfalls ab. Ich fühlte mich lausig unwohl. Die Soldaten um mich herum
waren in einer gefährlichen Stimmung. Die ständigen Niederlagen, der mangelnde Nachschub, der nagende Hunger, das abzusehende Ende des Krieges hatten in ihnen Haß aufgestaut. Diese Soldaten würden jeden Nordstaatler, dessen sie habhaft wurden, in Stücke reißen. Ich trat ans Feuer. Ein rußiger Kessel hing an einem Dreibein. Das Getränk, das hier in Blechbechern ausgeschenkt wurde, war ein Kaffee-Ersatz aus gerösteten Maiskörnern. Ich hatte bisher nur davon gehört. Es schmeckte abscheulich. »Das ist er«, hörte ich den einen der beiden Kavalleristen gerade sagen. Ich schaute über das Feuer, während mir ein Soldat einen Becher in die Hand drückte und ich zögernd daran nippte. Der flackernde Schein des Feuers fiel auf das Gesicht eines unrasierten, großen, mageren Mannes mit eingefallenen Wangen. Er hatte eine blutige Schramme quer über die Stirn. Es war ein Captain der Südarmee. Er nagte an einem verbrannten Stück Fleisch und warf den Rest über das Feuer Shita vor die Pfoten. »Wie heißt er?« fragte der Captain. »Keine Ahnung, Sir. He, wie heißt du überhaupt?« Ich nahm hastig einen Schluck des scheußlich schmeckenden Gesöffs und hatte das Gefühl, glühende Kohlen zu schlucken. Meine Hand zitterte, als ich den Becher absetzte. »Anderson«, sagte ich. »Ron Anderson.« »Du willst nach Macon?« »Ja«, sagte ich. »Warum?« »Mein Bruder liegt dort im Lazarett.« »Name?« »Chet Anderson.« »Rang?« »Corporal«, sagte ich. »Regiment?« Ich geriet ins Schwitzen und war froh, daß es dunkel war. Ich nahm wieder einen großen Schluck und überlegte blitzschnell, was ich sagen sollte. »Zweite Alabama Kavallerie«, sagte ich. »B-Kompanie.«
Die zweite Alabama Kavallerie hatte in Georgia gekämpft, soviel wußte ich. Wo das Regiment sich jetzt befand, konnte ich nicht sagen, aber es lag nicht in unmittelbarer Nähe. Insofern fühlte ich mich bei dieser Antwort recht sicher. »Und da liegt er in Macon?« »Ich hab keine Ahnung warum.« »Ich auch nicht«, sagte der Captain. »Die zweite Alabama Kavallerie liegt weit im Süden. Was für eine Verwundung hat dein Bruder?« »Keine Ahnung«, sagte ich. »Wir haben nur die Nachricht erhalten, daß er in Macon im Lazarett liegt. Deswegen reite ich ja hin, um zu sehen, was mit ihm los ist.« Der Captain schwieg einen Moment. Er erhielt einen Becher mit dem gräßlich schmeckenden Kaffee-Ersatz und trank ihn, ohne eine Miene zu verziehen. Er schien nichts anderes gewöhnt zu sein. »Du kannst hier übernachten«, sagte er schließlich. »Du kriegst was zu essen, wenn dir zusagt, was wir haben. Wenn ich dich so ansehe, muß ich sagen, daß es euch Farmern anscheinend noch verdammt gut geht. Wo ist eure Farm?« »Ein Stück nördlich von Atlanta«, sagte ich. »Wenn wir die Yankees nicht aufhalten können, werdet ihr bald Besuch von ihnen kriegen«, sagte der Captain. »Sie sitzen direkt vor Atlanta. Wenn sie einmal da sind, ist es aus mit dem guten Leben, Junge. Du solltest rechtzeitig eine Uniform anziehen und uns helfen, die Yankees zurückzudrängen.« »Mein Vater braucht mich«, sagte ich. »Du mußt wissen, was du tust«, sagte der Captain. »Ein aufrechter Mann sollte immer wissen, wo er steht.« Ich verzog keine Miene, aber ich fühlte einen bitteren Geschmack im Mund. Solche Töne haßte ich. Ich trank meinen Becher leer und stellte ihn neben dem Feuer auf einen Klapptisch. »Du redest gar nicht wie ein Mann aus dem Süden«, sagte der Captain. »Mein Vater stammt aus Connecticut.« »Eigentlich sprichst du wie jemand, der an der Mexiko-Grenze
aufgewachsen ist.« »Meine Mutter kam aus Texas.« Schweiß perlte wieder auf meiner Stirn, dennoch klang meine Stimme ruhig. Ich war jetzt sicher, daß man hier noch nichts von den gestrigen Vorfällen wußte. Meine bisherigen Lügen waren akzeptiert worden. Ich wunderte mich über mich selbst. Aber es ging um mein Leben, was meine Phantasie anscheinend sehr beflügelte. »Du hast eine weitgereiste Familie«, sagte der Captain. »Ein Wunder, daß du keinen Onkel vom Mond hast.« »Vielleicht ändert sich das noch, Sir«, sagte ich. »Wenn mein Onkel uns besucht, sagt mein Vater nach spätestens einer Woche, daß er ihn auf den Mond schießen würde, wenn er nicht bald wieder abreisen würde. Mein Vater bringt das fertig.« Der Captain starrte mich verblüfft an. Dann verzog sich sein Gesicht. Er lachte dröhnend, und die anderen Soldaten, die mit uns am Feuer standen, brachen ebenfalls in schallendes Gelächter aus. »Gib dem Jungen einen Platz zum Schlafen«, sagte der Captain zu einem der Männer, die mich auf dem Hügel entdeckt hatten. »Ich hoffe, daß dein Bruder bald wieder auf den Beinen ist.« »Das hoffe ich auch, Sir.« Ich folgte dem Soldaten, der mich zu einem Platz nahe bei den Pferden brachte. »Eine Decke kann ich dir nicht geben«, sagte er. »Wir haben selbst nicht genug.« »Ich hab eine eigene«, sagte ich. »In Ordnung«, sagte er. Dann drehte er sich um und ging. Unweit von mir hatten sich Infanteristen ausgestreckt. Sie schliefen bereits und hatten nicht bemerkt, daß mir neben ihnen ein Platz zugewiesen worden war. Sie mußten völlig ausgepumpt sein. Ich breitete meine Decke am Boden aus und legte mich nieder. Meine Unsicherheit war verflogen. Ich war stolz auf mich selbst. Ich hatte ziemlich in der Klemme gesteckt, aber ich war damit fertig geworden. Shita streckte neben mir schnaufend alle viere von sich. Es wurde still im Lager. Ich sah den Mond am Himmel als schmale Sichel. Meine Glieder wurden schwer. Ich wälzte mich auf die Seite. Als ich meinen Kopf ins Gras bettete, hörte ich leise den Hufschlag eines
Pferdes. Ich preßte mein Ohr etwas fester an den Boden. Diesmal hörte ich es deutlich. Eine seltsame Spannung erfaßte mich. Ich blieb liegen und zwang mich, ruhig zu atmen. Shita schien meine Unruhe bemerkt zu haben. Er hatte den Kopf gehoben. Der Hufschlag wurde lauter und näherte sich. Ich tastete nach meinem Karabiner, den ich in Griffnähe auf den Boden gelegt hatte. Im Mondlicht sah ich einen Reiter auftauchen. Er lenkte sein Pferd von Norden heran. Sein Tempo wurde langsamer. Als er das Lager erreichte, ritt er in gemächlichem Trab. Bei einem Wachtposten hielt er an und stieg aus dem Sattel. Es kroch mir eiskalt am Rücken herauf. Instinktiv spürte ich, daß ich in großer Gefahr war. Ich richtete mich auf, geräuschlos, vorsichtig, jede hektische Bewegung vermeidend. Einen Moment verharrte ich in kniender Haltung und beobachtete den Reiter, der jetzt geführt von dem Wachtposten zu den Zelten der Offiziere ging. Ich wartete nicht länger. Ich spürte, daß ich im Grunde schon viel zu viel Glück gehabt hatte. Noch mehr Glück zu erwarten, hieße an Wunder zu glauben. Ich glaubte nicht an Wunder. Auf allen vieren kroch ich zu den Pferden hinüber, die lediglich angehobbelt waren. Ich fand meinen Braunen ohne Schwierigkeiten. Ich hatte ihn nicht angehobbelt, auf ihn konnte ich mich verlassen, er würde mir nie fortlaufen. Den Sattel hatte ich ihm glücklicherweise nicht abgenommen, so brauchte ich nur die Sattelgurte festzuzurren. Erst als das erledigt war, richtete ich mich auf. Im selben Moment hörte ich Stimmen von den Offizierszelten her. Dann ein Licht. Rufe. Männer liefen aus einem Zelt. Fluchend erwachten einige Soldaten und richteten sich auf. Das galt mir. Kein Zweifel. Der Bote hatte die Offiziere des Regiments davon unterrichtet, daß ein Agent der Nordarmee, ich, auf dem Weg nach Macon war. Ich schwang mich in den Sattel und hämmerte gleichzeitig dem Braunen die Absätze in die Weichen. Der Hengst galoppierte aus dem Stand los. Ich lenkte ihn an den
Pferden der Konföderierten vorbei auf die Hügel zu, auf deren Kuppen silbrig das Mondlicht lag. Schreie ertönten. Ein Schuß krachte, dann ein zweiter und ein dritter. Shita bellte. Ich riß den Braunen herum, duckte mich tief im Sattel, jagte am Fuß der Hügel entlang, trieb den Braunen einen flachen Hang hoch und überwand die Anhöhe, während hinter mir mindestens zehn Gewehre krachten. Ich ritt wie der Teufel. Die Nacht umgab mich wie eine schützende Hülle. Hinter mir klang Hufschlag auf. Verfolger. Der Reitwind peitschte mein Gesicht. Ich beugte mich noch mehr im Sattel vor. Noch immer hörte ich die trommelnden Hufgeräusche hinter mir, aber sie wurden leiser. Eine weitflächige Senke tauchte vor mir auf. Ich lenkte den Braunen hinein und ließ ihn weit ausgreifen. Wie schon sooft zeigte er, was in ihm steckte. Der Ritt dauerte Stunden. Schaumflocken wehten aus dem Maul des Braunen, und seine Flanken glänzten vor Schweiß, als die ersten Frühnebelschleier aus den Niederungen stiegen. Ich zügelte den Hengst und glitt mit zitternden Gliedern aus dem Sattel. Der Atem des Pferdes ging rasselnd. Mit hängendem Kopf blieb er stehen, wo er gerade stand. Er hatte alles gegeben. Er war am Ende seiner Kraft. Wir hatten unsere Verfolger abgehängt. Eine Viertelstunde später, als ich schon längst im Gras hockte, trottete Shita müde heran und ließ sich neben mir einfach zu Boden plumpsen. Ich schloß die Augen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und ließ mich zurücksinken, während der Nebel sich zäh und dicht wie eine dicke Schicht feuchter Watte über das Land legte. Viel Zeit blieb nicht, um Atem zu schöpfen und auszuruhen. Ich wurde gesucht. Meine Chance, den Auftrag erfolgreich auszuführen, wurde von Stunde zu Stunde geringer. Die Zeit arbeitete gegen mich. Das Risiko, das ich einging, wenn ich Macon erreichte, war nicht mehr kalkulierbar. Ich hatte das Gefühl, auf einem Pulverfaß zu sitzen, dessen Lunte längst brannte. Aber ein Zurück gab es nicht mehr. Dazu war es zu spät. Ich mußte den Weg, den ich begonnen hatte, zu Ende gehen.
5. Die Sonne stand hoch, als ich Macon erreichte. Es war unerträglich heiß. Kein Windhauch regte sich, die Luft schmeckte nach Staub. Über der Stadt war die Flagge der Konföderation gehißt. Als ich die Häuser am Stadtrand passierte, sah ich grauuniformierte Soldaten auf den Straßen. Wären sie nicht gewesen, hätte es kaum etwas gegeben, das davon zeugte, daß die Stadt ein militärisches Hauptquartier der Südarmee war. Die Schaufenster der Geschäfte waren leer. Es wurden keine Waren angeboten, statt dessen hingen an allen Hauswänden patriotische Plakate, die jeden Mann, der ein Gewehr halten konnte, aufforderten, sich zur Armee zu melden, die den Durchhaltewillen der Bevölkerung stärken wollten und von immer neuen Greueltaten der Yankeearmee berichteten. Ich lenkte den Braunen in eine Seitengasse und stieg ab. Ich wußte nicht recht, wie es nun weitergehen sollte. Zunächst mußte ich die Baptistenkirche finden. Unter normalen Umständen wäre es leicht gewesen, sich durchzufragen. Aber ich mußte mich in acht nehmen. Ich konnte mich nicht so frei bewegen, wie ich es mir noch vorgestellt hatte, als ich aufgebrochen war. Die Situation hatte sich geändert. Ich brauchte einen Platz, wo ich den Braunen unterstellen konnte. Ein Mietstall schien mir zu gefährlich. Ich folgte der schmalen Gasse, die sich plötzlich vor mir öffnete und an einer Reihe von alten Frachtschuppen vorbei zum Bahngelände von Macon führte. Ich überlegte kurz und wählte dann einen schmalen Trampelpfad, der zwischen den Frachtschuppen hindurchführte. Aufmerksam blickte ich mich um und registrierte alles, was wichtig sein konnte. Es gab Spuren, die darauf schließen ließen, daß hier schon lange kein Mensch mehr gewesen war. Die Schuppen waren leer, in den Hinterhöfen stapelten sich verrostete Konservenbüchsen, morsches Holz und andere Abfälle. Ein Frachtwagen ohne Vorderräder lag mit zerbrochener Deichsel auf der Seite.
Vom Bahngelände her und von der Straße aus war in die Höfe nicht einzusehen. Hier staute sich die Hitze des Mittags wabernd wie ein Brei. Ich ließ den Braunen stehen und betrat einen alten Stall. Das Tor schwang knarrend und quietschend nach innen. Ich untersuchte den Boden, fand aber nichts, was auf die Anwesenheit von Menschen hinwies. Ich wollte sichergehen. Zusammen mit Shita durchkämmte ich auch die übrigen Höfe und Schuppen. Ich ging vorsichtig zu Werke und achtete darauf, selbst keine Spuren zu hinterlassen. Schließlich führte ich den Braunen in einen der alten Ställe und ließ ihn hier zurück. Zu Fuß machte ich mich mit Shita auf den Weg zurück zur Innenstadt. Über dem Portal der City Hall, vor der ein großes Schild hing, das besagte, daß sich hier die militärische Führung einquartiert hatte, war eine große Uhr angebracht. Es war ein Uhr am Nachmittag. Ich hatte noch eine Stunde Zeit, die richtige Kirche zu finden. Während die Hitze immer unerträglicher wurde, marschierte ich mit Shita durch die Straßen und Gassen von Macon. Uns begegneten nur wenige Menschen, meist Soldaten, was nicht dazu beitrug, meine Unruhe zu dämpfen. An einer mannshohen Pumpe blieben wir stehen. Ich bewegte den riesigen Pumpenschwengel, der mit einem kindskopfgroßen Bleigewicht beschwert war, bis in armdickem Strahl das Wasser aus dem rostigen Rohr strömte. Ich schöpfte das Wasser mit beiden Händen, trank und kühlte mein heißes Gesicht. Shita leckte gierig das Wasser auf, das sich in einer Vertiefung des Steinpflasters sammelte. Dann gingen wir weiter. Neben der Methodistenkirche, die ich als erste fand, war in einem Schulgebäude das Lazarett eingerichtet. Ich beeilte mich, weiterzugehen. Als ich die Presbyterian Chruch erreichte, blieb mir nur noch eine halbe Stunde Zeit. Ich mußte mich beeilen. Ein konföderierter Soldat kam mir entgegen. Er war nicht älter als ich, sehr blaß, sehr schmal. Das Koppel um seine Hüften war zu groß. Es rutschte bei jedem Schritt, und er zog es immer wieder hoch.
»Ich suche die Baptist-Chruch«, sagte ich. Er blieb stehen, runzelte die Stirn und zeigte dann auf einen der Türme, die über die Dächer von Macon ragten. »Geradeaus«, sagte er. »Zweite Straße links. In zehn Minuten bist du da.« »Danke«, sagte ich. »Hast du eine Zigarette?« fragte er. »Hast du Tabak?« »Nein«, sagte ich. »Ich rauche nicht.« »Schade«, sagte er. Er warf einen Blick auf Shita. »Du hast einen schönen Hund. Ich hatte auch mal so einen Hund.« Er ging weiter. Ich schaute ihm nach und bewegte mich dann eilig die Straße hinunter. Die Kirche war leicht zu finden, wie der junge Soldat es gesagt hatte. Eine Treppe führte zu ihrem Portal hinauf. Die Fenster waren schmal und oben gerundet, die Scheiben waren aus buntem, dickem Glas. Ich schaute mich um. Die Straße war leer. Ich zögerte, dann trat ich ein. Shita schlüpfte neben mir her durch das Portal, das knackend hinter uns ins Schloß fiel. Im Gegensatz zur stickigen Hitze auf den Straßen, war es hier angenehm kühl. Halbdunkel umfing uns. Ich wartete einen Moment, bis meine Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten. Dann bewegte ich mich weiter. Jeder Schritt klang überlaut in dem hohen Raum. Ich ging zwischen den Bankreihen hindurch zum Altar. Hier erhob sich ein mächtiges Kreuz aus ungebeizter Eiche. Die Kerzen rechts und links vom Altar waren abgebrannt. Auf einem weißen Leinentuch lag eine aufgeklappte, in Leder gebundene Bibel. Neben einer reich beschnitzten Deckenstützsäule glitt ich in eine Bankreihe und ließ mich auf dem harten Holz nieder. Shita hockte sich neben mich auf den Boden. Ich war mit Shita allein. Hatte ich draußen geschwitzt, so fröstelte ich hier plötzlich. Alles um mich herum bedrückte mich. Es lag nicht allein an der ehrfurchtgebietenden Atmosphäre der Kirche, oder an der Gefahr, in der ich schwebte und die von Stunde zu Stunde größer wurde. Es lag an der ganzen Stadt mit ihren vielen Häusern, den
vielen Straßen. Ich brauchte das freie Land um mich und den weiten Himmel über mir, um frei atmen zu können. Einen Moment schloß ich erschöpft die Augen und versuchte, mit dem Hunger fertigzuwerden, der immer heftiger in meinem Leib wühlte.
6. Er betrat die Kirche, als ich mich schon erheben und gehen wollte, weil ich nicht mehr glaubte, daß ich ihn heute treffen würde. Es war, wie Colorado gesagt hatte: ein Lieutenant der konföderierten Armee. Höchstens Anfang Zwanzig, schlank und sehnig. Die graue Uniform saß wie eine zweite Haut an seinem Körper. Er sah mich, zögerte und ging dann an mir vorbei bis zur ersten Bank vor dem Altar. Ich wartete ein paar Minuten. Wir blieben allein in der Kirche. Ich erhob mich und ging an den Bankreihen vorbei, dann setzte ich mich neben ihn. Er warf mir einen kurzen Seitenblick zu und schaute wieder nach vorn zum Kreuz. Er schwieg. »Ich bin fremd hier«, sagte ich leise. »Es tut mir leid, daß ich Sie störe, Sir. Ich suche den Militärpfarrer von Macon.« Er wandte wieder den Kopf. Diesmal musterte er mich länger, bevor er seinen Blick wieder nach vorn richtete. »Es gibt keinen Militärpfarrer in Macon«, sagte er langsam. »Es gibt hier nur die Pfarrer der verschiedenen Kirchen. Die Militärpfarrer sind im Feld, an der Front.« »Mein Bruder ist heute im Lazarett gestorben«, sagte ich. »Ich suche einen Pfarrer, der ihm eine Messe liest.« Die Haltung des anderen schien sich etwas zu entspannen. »Du wirst gesucht«, sagte er. »Ich weiß«, erwiderte ich. »Ein Kriegsgefangener aus dem Norden hat mich in Schwierigkeiten gebracht.« »Die Nachricht traf heute früh bei uns ein.« »Ich verschwinde so schnell wie möglich«, sagte ich. »Die Rinderherde hat die halbe Strecke zurückgelegt«, sagte er.
»Sie wird übermorgen in der Nähe von Swarinsboro auf einer Plantage rasten. Colorado kennt das Land. Es gibt nur eine Plantage dort. Wenn ihr die Herde übernehmen wollt, dann dort. Zwanzig Mann Begleitung, davon fünf mexikanische Treiber. Ihr habt übrigens Glück. In Wrightville stehen momentan fast dreißig Viehtransportwaggons. Im Hauptquartier hat noch niemand erfahren, daß ihr über die Lieferung der Rinder Bescheid wißt. Ihr habt also einige Vorteile auf eurer Seite. Das ist alles. Der Rest ist eure Sache.« »Danke«, sagte ich. »Schon gut«, sagte er. »Es sind genug gestorben. Warte ein paar Minuten, bevor du 'rausgehst.« Er setzte seinen Hut auf und verließ die Kirche. Ich hörte das Klappern seiner Stiefelabsätze auf dem Steinfußboden und dann das Knacken der Tür, als sie ins Schloß fiel. Ich wartete. Nach einer Weile erhob ich mich, nickte Shita zu und ging zur Tür. Die Unruhe in mir wurde ständig stärker. Ich öffnete das Kirchentor erst einen Spalt und schaute auf die sonnenüberflutete Straße hinaus. Eine Frau mit einem Korb war zu sehen. Sie ging hastig vorbei, ohne mich zu beachten. Ich verließ mit Shita die Kirche, eilte die Straße hinunter und bog in eine schmale Gasse ein. Hundert Yards vor mir sah ich einen Lieutenant. Es war der junge Offizier, der bei mir in der Kirche gewesen war. Mehrere konföderierte Soldaten unter Führung eines Offiziers standen ihm gegenüber. Er wollte sich umdrehen, wurde gepackt und zurückgerissen. Ein Soldat zerrte seinen Revolver aus der Koppelhalfter, ein anderer griff nach seinem Säbel. Ich hatte genug gesehen, warf mich herum und eilte zurück auf die Straße. Ein Gefühl der Panik ergriff mich. Während ich lief, versuchte ich, es zu unterdrücken. Hunger und Erschöpfung spürte ich nicht mehr. Ich wurde gejagt. Sie waren hinter mir her. Sie wußten, daß ich hier war, ich mußte beobachtet worden sein, als ich die Kirche betreten hatte. Vielleicht war es der junge Soldat gewesen, der mir den Weg gewiesen hatte, vielleicht hatte er einen Vorgesetzten informiert. Vielleicht war ich von Anfang an verfolgt worden, seit
ich die Stadt betreten hatte. Oder der Lieutenant hatte einen Fehler begangen, war schon seit längerer Zeit verdächtigt worden, dem Norden Informationen zuzuspielen. Ich hastete die Straße hinunter. Immer wieder schaute ich mich um. Drei konföderierte Soldaten tauchten vor mir auf. Ich drehte sofort um und lief zurück. Hinter mir ertönten Rufe. Ich hatte einen Fehler begangen. Vielleicht wären die drei Männer nicht auf mich aufmerksam geworden, wenn ich einfach weitergegangen wäre. Jetzt folgten sie mir. Shita bellte. Ich eilte in einen Hofeingang, hörte hinter mir die Stiefeltritte meiner Jäger, hastete auf den Zaun zu, der den Hof umgab und zog mich daran hoch. Es war ein mannshoher Bretterzaun. Ich schwang mich hinüber, während Shita aufgeregt winselnd durch eine Lücke schlüpfte und mir folgte. Ich landete in einem zweiten Hof, hörte lautes Geschrei hinter mir und verließ den Hof durch das Tor. Ich stand auf einer anderen Straße. Mein Herz schlug schnell. Ich lief blindlings weiter, vorbei an ein paar Leuten, die mir überrascht nachschauten. Ich flüchtete in einen anderen Hof. Hier standen zahlreiche Wagen mit hochgeklappten Deichseln herum. In einer Werkstatt wurde gearbeitet. Niemand bemerkte mich. Ich huschte mit Shita zwischen den Wagen hindurch und überstieg auch hier den rückwärtigen Bretterzaun, nachdem ich Shita diesmal hinaufgehoben und ihn auf der anderen Seite hatte hinunterspringen lassen. Es ging nicht anders, und er landete heil unten. Sekunden später stand ich neben ihm und hastete an dem Haus vorbei, zu dem der Hof gehörte. Es war ein hohes, düsteres Backsteingebäude mit zugezogenen Gardinen und abbröckelnden Stuckverzierungen. Als ich es umrundete, sah ich auf der Gasse davor grauuniformierte Soldaten. Ich drehte sofort um und eilte zurück in den Hinterhof. Ich hatte Glück, niemand hatte mich gesehen. Kurzentschlossen drückte ich die Klinke der Hintertür hinunter. Zu meiner Überraschung schwang die Tür nach innen. Ich schlüpfte hinein. Shita blieb draußen. Ich drehte mich nach ihm um. Er war verschwunden. Verstört schloß ich die Tür hinter mir und blieb in dem dunklen Gang, den ich betreten hatte, stehen. Aus dem vorderen
Teil des Hauses hörte ich gedämpfte Stimmen, Frauenstimmen. Zögernd setzte ich mich in Bewegung und glitt geräuschlos durch den Gang, bis zu einer schmalen Treppe, die in die oberen Stockwerke des Hauses führte. Es war eine schmale Stiege, die ich für eine Hintertreppe hielt. Ich fragte mich, in was für ein Haus ich geraten war. Aber was es auch war, ich konnte es jetzt nicht verlassen, ich wagte es nicht. In der ganzen Stadt wurde nach mir gesucht. Ich brauchte ein Versteck, wenigstens bis zum Einbruch der Dunkelheit. Dieses Haus war als Versteck genauso gut oder so schlecht wie jedes andere. Zögernd, immer wieder verharrend und angespannt lauschend, die rechte Hand um den Griff des Revolvers in der Halfter gekrallt, schlich ich die Stiege hinauf. * An den Wänden hingen Gemälde unbekleideter Frauen. Der Boden des Gangs war mit einem Teppich ausgelegt, der so weich war, daß ich fast bis zu den Knöcheln darin versank. Von außen hatte das Haus erbärmlich und jämmerlich gewirkt. Im Innern sah es aus wie ein Palast. Wie ich vermutet hatte, gab es noch eine zweite, breite und ebenfalls mit Teppichen ausgelegte Treppe ins Obergeschoß. Als ich sie passierte, hörte ich Stimmen von unten und bemerkte, daß jemand heraufstieg. Ich hastete weiter, stieß auf eine Nische, die von einem Samtvorhang verdeckt wurde, schlüpfte hinein und wartete. Wenig später ging jemand an meinem Versteck vorbei. Ich zog den Vorhang ein Stück zur Seite, schaute hinaus und sah einen Mann und eine Frau. Der Mann trug eine graue Uniform, ein Offizier. Er hatte seinen Arm um die Frau gelegt. Sie war üppig gebaut, hatte langes, blondes Haar und bewegte sich mit aufreizend schwingenden Hüften. Sie trug ein eng anliegendes Kleid mit einem Rückenschlitz, der fast bis zu ihrem Popo reichte. Sie lachte heiser, als der Mann etwas sagte. Dann verschwanden beide hinter einer der vielen Türen des Ganges. Es wurde wieder still, und ich wußte, wo ich mich befand: in einem
Bordell. Meine Haltung entspannte sich. Als ich eine Frau an der Treppe auftauchen und den Gang heruntergehen sah, entschloß ich mich spontan zum Handeln. Soviel ich durch den schmalen Spalt zwischen Vorhang und Wand sehen konnte, war die Frau ziemlich jung und schlank. Sie hatte dichtes, schwarzes Haar, das ihr in sanften Wellen weich auf die sanft gerundeten Schultern fiel, die das knapp geschnittene Kleid freiließ. Ihre Augen waren groß und dunkel, ihre Haut weiß wie Elfenbein. Sie ging an meinem Versteck vorbei. Ich hob den Vorhang an und schlüpfte aus der Nische. Als ich hinter ihr stand, hielt ich meinen Navy Colt in der Faust und drückte ihr die Mündung leicht in den Rücken. »Sie sollten nicht schreien, Lady«, sagte ich leise. »Das wäre ein schwerer Fehler.« Sie erstarrte einen Moment, atmete dann aber ruhig durch und schrie nicht. Ihre Stimme klang statt dessen völlig unbeeindruckt, als sie sagte: »Was nun?« »Gehen Sie weiter«, sagte ich. »Wir verziehen uns in Ihre Kammer. Ich hoffe für Sie, daß wir dort allein sind.« »Du scheinst ja ein ganz Stürmischer zu sein«, sagte sie. Ihre Stimme klang spöttisch. Sie setzte sich in Bewegung und schritt den Gang hinunter. Ich folgte ihr mit dem Revolver in der Faust. Am Ende des Gangs öffnete sie eine Tür und trat in ein Zimmer, das mit Seidentapeten ausgestattet war. Auf dem Fußboden lag ein dezent gemusterter Teppich. Ein breites, verschwenderisch ausgestattetes Himmelbett bildete den Mittelpunkt des Raumes. Ich trat hinter ihr ein und schloß die Tür. Im selben Moment drehte sie sich um und schaute mir ins Gesicht. Ihre Augen waren so tief und unergründlich wie zwei Bergseen. Die hohen Wangenknochen gaben ihrem Gesicht einen besonderen Reiz. Ihr Kleid war tief ausgeschnitten. Ich konnte die Falte zwischen ihren vollen, großen Brüsten sehen. Unwillkürlich schlug mein Herz schneller. Mein Mund war plötzlich trocken und mir wurde heiß. Ich wurde puterrot, schluckte und ließ meinen Revolver
sinken. Auf einmal lächelte sie. Sie sagte: »Mein Gott, du bist ja noch ein halbes Kind.« Ich hob trotzig den Kopf. »Ein Kind bin ich nicht.« Sie musterte mich eingehend, und wieder wurde mir heiß. Ihr Gesicht blieb jetzt ernst. Ihre Blicke tasteten mich Zoll um Zoll ab. »Bist du der Junge, den sie suchen?« fragte sie. »Wenn Sie es schon wissen«, sagte ich, und jetzt klang meine Stimme wieder fest, »dann wissen Sie auch, daß ich nichts zu verlieren habe.« »Doch«, sagte sie. »Dein Leben. Ist das nichts?« Sie drehte sich um. »Steck deinen Revolver ein, setz dich hin. Du siehst aus, als hättest du schon lange nichts mehr gegessen.« Ich glaube, ich schnitt ein ziemlich dämliches Gesicht und blickte sie nur wortlos an. »Es wird von einem Yankeeagenten gesprochen«, sagte sie. Sie rückte mir einen Stuhl zurecht. Ich war mißtrauisch, aber irgend etwas war an ihr, das mich zu ihr hinzog und meine Unsicherheit verdrängte. »Einen Spion habe ich mir anders vorgestellt.« »Ich bin Scout der Unionsarmee«, sagte ich. »Ein Wahnsinn«, sagte sie. »Der Krieg ist nichts für Kinder. Er ist auch nichts für Männer. Krieg ist für keinen Menschen gut. Du bist noch sehr jung.« »Alt genug.« Sie musterte mich wieder eingehend, und ich konnte nicht verhindern, das ich wieder rot wurde. Ein schmales Lächeln spielte um ihre Lippen. »Du bist sehr jung, aber wie ein Kind siehst du nicht mehr aus. Wie alt bist du?« »Achtzehn«, sagte ich. »Nein. Du siehst so aus, aber du bist nicht so alt. Sag mir die Wahrheit.« Ich senkte den Kopf. »Sechzehn Jahre, Madam.« Sie ging zu einer Kommode, holte eine Flasche und zwei Gläser heraus und eine Schale mit Gebäck. Damit trat sie an den Tisch, an
dem ich saß. »Mehr kann ich dir nicht anbieten«, sagte sie. »Nur Gebäck. Dazu etwas Wein. Ich kann versuchen, dir später ein Stück Fleisch zu besorgen.« »Warum tun Sie das?« Ich schaute sie an. Ihre Nähe beunruhigte mich in einer Weise, die ich selbst nicht verstand. »Vielleicht würde ich es nicht tun, wenn du älter wärst«, erwiderte sie. Sie sah nachdenklich aus. »Aber du bist sehr jung. Wenn ich dich ausliefere, würdest du umgebracht werden. Ich hätte dich auf dem Gewissen.« »Aber Sie sind Südstaatlerin«, sagte ich. »Ich bin aus dem Süden, aber ich hasse den Norden nicht. Die Gründe für diesen Krieg sind mir egal«, sagte sie. »Ich hoffe nur, daß er bald vorbei ist.« Ich sah sie an, und mein letztes Mißtrauen wich. Sie meinte es ehrlich, daran gab es keinen Zweifel. Ich war vorläufig in Sicherheit. »Ich werde mich bemühen, Ihnen keine Ungelegenheiten zu bereiten, Madam«, sagte ich. »Wenn es dunkel wird, verschwinde ich aus der Stadt. Mein Pferd steht in einem sicheren Versteck. Ich werde es am Abend holen und fortreiten.« »Es ist gut«, sagte sie. »Ich werde dafür sorgen, daß mich heute niemand in Anspruch nimmt.« Sie lächelte wieder, während sie sprach. »Du hast Glück gehabt. Dies ist ein sehr gutes, sehr exklusives Haus, wie man so sagt. Ziemlich teuer. Wir werden nur von Offizieren besucht. Hier nimmt einem niemand übel, wenn man mal indisponiert ist. Du siehst müde aus.« »Ich bin müde.« »Leg dich hin, wenn du gegessen hast«, sagte sie. Sie schenkte Wein ein. Ich griff zögernd nach dem Gebäck. Es war lange her, daß ich so etwas gegessen hatte. Ich mußte mich beherrschen, um nicht mit beiden Händen zuzugreifen und es gierig in mich hineinzustopfen. Ich aß die ganze Schale leer und trank auch den Wein, der süß und schwer war. »Schlaf jetzt«, sagte sie. »Wenn du aufwachst, habe ich dir ein Stück Fleisch besorgt.«
Ich tappte unsicher zu dem breiten Himmelbett, ließ mich schwer auf die Bettkante fallen und zog meine Stiefel aus. Ich schnallte den Revolvergurt ab und legte ihn auf den Nachttisch. »Wie heißt du?« hörte ich die Frau fragen. »Ronco«, sagte ich. »Nur Ronco. Ich habe keine Eltern, keinen anderen Namen.« »Ich heiße Stella«, sagte sie. Ich sah ihr Gesicht. Sie lächelte, ich glaubte, einen warmen Glanz in ihren Augen zu erkennen. Aber ich schlief schon fast und merkte kaum mehr, daß ich zurücksank und die Augen schloß.
7. Ich spürte eine Hand auf meinem Gesicht und erwachte. Einen Moment wußte ich nicht, wo ich war. Dann fiel mir wieder alles ein. Ich hob den Kopf. Der Raum lag im Halbdunkel. Es mußte Abend sein. »Bleib liegen«, sagte eine Stimme. Ich blinzelte verschlafen und sah dann Stella. Sie saß neben mir auf der Bettkante und hatte ihre Linke auf meiner Stirn liegen. Sanft drückte sie mich in die Kissen zurück. »Willst du etwas trinken?« fragte sie. »Ja.« Sie griff nach einem Glas und reichte es mir. Ich nahm es und trank. Es war mit Apfelsaft gefüllt. Ich leerte es und fühlte mich erfrischt. »So etwas kriegst du nur hier«, sagte sie, als sie das Glas auf den Tisch zurückstellte. »Draußen hungern die Leute. Uns geht es gut. Weil die Offiziere, die uns ständig besuchen, uns bei Laune halten wollen. Es ist eine böse Zeit. Hast du gut geschlafen?« Ich nickte. »Wie spät ist es?« »Du hast noch Zeit.« Sie blickte mich auf eine eigenartige Weise an, so, wie ich noch nie von einem Menschen angesehen worden war. »Du bist jung«, sagte sie. »Aber du bist alt genug, um ein Mann zu sein. Warst du schon einmal mit einer Frau zusammen?«
Ich konnte nicht antworten und schüttelte nur den Kopf. Ich verfluchte mich innerlich für meine Nervosität, für die Gefühle, die von mir Besitz ergriffen hatten, gegen die ich nicht anzukämpfen vermochte. Aber ich konnte es nicht ändern. Ich wollte es auch gar nicht. »Wenn ich dir sage, daß du das, was du noch vorhast, vergessen und statt dessen fortreiten sollst, irgendwohin, wo es keinen Krieg gibt, wirst du es nicht tun, wie?« Ich nickte. »Ich weiß nicht, was du vorhast. Aber du kannst dabei sterben?« »Ja«, sagte ich. Meine Stimme klang fremd und heiser. »Gut«, sagte sie. »Wenn es so ist, sollst du nichts versäumt haben.« Sie erhob sich und löste einige Verschnürungen ihres Kleides. Es fiel zu Boden. Stella stand nackt vor dem Bett. »Wenn du mich verläßt«, hörte ich Stella sagen, »bist du ein Mann. Wenn du dann stirbst, weißt du, daß du wirklich gelebt hast.« Sie beugte sich über mich. Ihre üppigen, vollen, schweren Brüste näherten sich meinem Gesicht. Ihr Körper war schlank, geschmeidig, fest. Sie legte sich neben mich und küßte mich. Ich schmeckte ihre Lippen, und um mich herum versank die Welt. Irgendwann richtete Stella sich auf. Sie schaute mich an und sagte: »Du bist zu schade, um zu sterben. Ich wünsch dir Glück.« »Danke«, sagte ich. »Ich habe dir Fleisch eingepackt. Es liegt auf dem Tisch.« »Danke.« Sie stand auf und warf sich einen seidenen Morgenmantel um die Schultern, während ich das Bett verließ und mich ankleidete. Für kurze Zeit war ich der Wirklichkeit entflohen, in eine für mich völlig neue, wundervolle Welt. In meinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Es fiel schwer, sie wieder zu ordnen, aber ich mußte mich wieder auf das konzentrieren, was jetzt vor mir lag. Ich wollte überleben, dazu brauchte ich einen klaren Kopf. Stella hatte die Tür des Zimmers geöffnet und schaute auf den Gang hinaus. Ich schnallte meinen Revolvergurt um und setzte
meinen Hut auf. Als ich nach dem Päckchen auf dem Tisch langte, wandte sie den Kopf. »Beeil dich«, raunte sie. »Der Gang ist leer. Du schaffst es über die Hintertreppe. Nimm dich in acht. Ich wünsch dir, daß du durchkommst.« »Und wenn der Süden erobert wird? Wenn durch das, was ich tun muß, Macon fällt?« »Je schneller dieser verdammte Krieg vorbei ist, je besser«, sagte sie. »Egal auf welche Weise. Frauen wie ich werden immer gebraucht. Zerbrich dir wegen mir nicht den Kopf.« Sie schlang ihre Arme um meinen Nacken. Sie war so groß wie ich. Wir sahen uns in die Augen. »Ich hoffe, es war schön«, sagte sie. »Ja«, sagte ich. »Wenn du Macon hinter dir hast, vergiß mich«, sagte sie. »Ich glaube, das ist schwer.« »Versuch's trotzdem.« Sie küßte mich auf den Mund. Ihr Blick war ernst. Ich schlüpfte schweigend auf den Gang hinaus und eilte über den dicken Teppich zur Hintertreppe. Ich schaute mich nicht um. Was hinter mir lag, war vorbei. Ich hatte einen Auftrag zu erfüllen. Das war jetzt wichtig. Jetzt zählte nur noch, daß ich die nächste Stunde überlebte, um Macon verlassen zu können. Ich hatte ein einschneidendes Erlebnis hinter mir. Zum erstenmal in meinem Leben hatte ich mit einer Frau geschlafen. Das ist etwas, was man nicht so einfach vergißt. Aber in diesem Moment mußte es in den Hintergrund treten. Mir blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. * Die Nacht war schwül, die Luft gewittrig. Ich öffnete die Hintertür des Bordells erst nur einen Spalt und schaute auf den dunklen Hof hinaus. Dann trat ich über die Schwelle und schloß geräuschlos die Tür hinter mir. Ein Schatten glitt auf mich zu. Ich erschrak, dann sprang er an mir
hoch. Shita. Seine warme Zunge fuhr über mein Gesicht. Ich ging in die Knie, umarmte ihn und schmiegte mein Gesicht für einen kurzen Moment in sein dichtes Fell. Seine blanken Augen glänzten im Mondlicht wie geschliffener Bernstein. Ich fragte mich, wo er gewesen war, aber als ich über seinen Bauch strich, war mir klar, daß er sich irgendwo etwas zu fressen besorgt haben mußte. Der Teufel mochte wissen, wie er das angestellt hatte. Wahrscheinlich gab es in irgendeiner Speisekammer dieser gottverdammten Stadt, wo man leichtsinnigerweise ein Fenster offengelassen hatte, einen Braten weniger, oder in einem schlecht bewachten Hühnerhof würde jemand beim Nachzählen seiner Tiere feststellen, daß eins oder zwei fehlten. Ich richtete mich auf. Shita blickte mich erwartungsvoll an. Ich nickte ihm zu. Wir umrundeten das Haus. Am Hofeingang wartete ich einen Moment ab. Ich sah zwei konföderierte Offiziere auf der Straße. Sie strebten dem Bordell zu. Einer sagte etwas, der andere lachte. Dann stiegen sie die breite Freitreppe des unansehnlichen Backsteinbaus hinauf und traten ein. Ich eilte die Straße hinunter. Die dunkle Stadt erschien mir noch verwirrender, noch unübersichtlicher, als sie schon bei Tageslicht für mich gewesen war. Ich wußte nicht, wo ich mich befand und wohin ich mich zu wenden hatte, um die alten Frachtschuppen seitlich der Bahnanlagen zu erreichen. Ich bewegte mich vorsichtig, verharrte an jeder Straßenecke, schaute mich um, lauschte in die Nacht und ging erst weiter, wenn ich sicher sein konnte, daß mir niemand begegnete. Ab und zu mußte ich in Nischen zwischen Häusern Deckung suchen, wenn jemand meinen Weg kreuzte. Ich lief etwa eine Stunde durch die nächtliche Stadt, dann stand ich plötzlich vor dem Lazarett. In der schwülen Nachtluft erschien mir der penetrante Gestank, von dem das Gebäude umgeben wurde, noch intensiver. Ich hatte mich völlig verlaufen, wußte jetzt aber wenigstens, wo ich mich befand. Ich versuchte, mich zu erinnern, welchen Weg ich am Tag genommen hatte und ging weiter.
Hufschlag ertönte vor mir. Ich sprang in den Schatten eines überhängenden Hausdaches und zerrte Shita mit. Wenig später ritt eine Kompanie Kavallerie die Straße hinunter. Ich hastete weiter und wußte plötzlich, daß ich auf dem richtigen Weg war. Eine schmale Gasse tauchte vor mir auf. Ich betrat sie und sah die alten Schuppen vor mir. Ich eilte zwischen den Schuppen hindurch. Als ich den dunklen Stall betrat, in dem ich meinen Braunen zurückgelassen hatte, trabte er mir bereits entgegen und schnaubte erfreut. Er stieß mich mit dem Kopf an, daß ich fast gestürzt wäre. Ich strich ihm durch die Mähne und klopfte seinen Hals. Dann zurrte ich den Sattel fest und führte ihn hinaus. Dunkle Wolken näherten sich langsam von Osten. Ein leichter Wind frischte auf. Es roch nach Regen, und als ich mich in den Sattel schwang, fielen feucht und schwer die ersten Tropfen. Ich ritt zwischen den Schuppen hindurch zum Stadtrand. Als ich in eine Seitengasse einschwenkte, ertönte vom Bahngelände her ein Ruf. Ich bezog ihn nicht auf mich. Ich zog meinen Hut tiefer in die Stirn und beugte mich im Sattel vor. Shita bellte. Ich drehte mich um. Von dem Frachtzug her sah ich Männer heranlaufen. Sie schwenkten Laternen. Das galt mir. Ich trieb den Braunen an. Als ich in eine gepflasterte Straße ritt, tauchten zwei Soldaten vor mir auf. Sie hoben sofort ihre Gewehre. Shita jagte pfeilschnell an mir vorbei und sprang einen der Männer an. Er riß ihn glatt zu Boden. Das Gewehr des Soldaten entlud sich. Die Detonation klang überlaut in der nächtlichen Stadt. Den zweiten Soldaten ritt ich nieder, bevor er abdrücken konnte. Das Gewehr des Mannes flog durch die Luft, er selbst wurde zur Seite geschleudert und stürzte schwer auf das Pflaster. Dann war ich vorbei und schwenkte in die nächste Abzweigung ein. Das Klappern der Hufe meines Braunen hallte laut auf dem Pflaster. Als ich zurückschaute, sah ich die Soldaten von der Bahnstation. Einer hob sein Gewehr und feuerte. Die Kugel schlug weit von mir entfernt in einen Giebel ein. Dann hatte ich sie abgehängt. Der Stadtrand lag vor mir. Die
gepflasterte Straße endete und ging in einen ausgefahrenen Wagenweg über. Der Regen fiel immer dichter. In der Ferne rollte der Donner. Der Wind wurde stärker und trieb immer mächtigere Wolkenballungen heran, hinter denen die Mondsichel bald völlig verschwand. Höllenschwarze Finsternis umgab mich, als ich ostwärts auf die Ebene galoppierte. Der Wind trieb mir den Regen entgegen. Bald war ich völlig durchnäßt. Aber der Regen würde meine Spuren verwischen und mich vor möglichen Verfolgern schützen. Ich hatte mir die Landkarte im Zelt von Captain Frazier gut eingeprägt. Zum Oconee River waren es höchstens zwanzig Meilen. Selbst wenn der Regen anhielt, konnte ich es bis zum nächsten Morgen schaffen. Das Gewitter näherte sich rasch. Das Donnergrollen wurde lauter. Blitze zuckten durch die Regenschleier. Mit unvorstellbarer Wucht entlud sich das Unwetter über dem Land. Aber ich hielt nicht an. Ich ritt weiter, Stunde um Stunde, während das Gewitter nach Westen davonzog.
8. Es war, wie Colorado gesagt hatte. Ich fand die verlassene Fahrstation, ohne lange suchen zu müssen. Ich erreichte den Oconee River im Morgengrauen und ritt flußabwärts auf einen Buschgürtel zu, weil es hier – wenn auch nur schwach – Spuren einer einstigen Besiedelung gab. Eine Stunde vorher hatte es aufgehört zu regnen. Es war kühl. Ich fror in meinen durchnäßten Kleidern. Shita blieb immer wieder stehen, um sich zu schütteln. Der Frühnebel wallte grau und scheinbar undurchdringlich über dem Fluß. Der Boden hatte sich in grundlosen Morast verwandelt, überall standen riesige Pfützen. Die Hufe des Braunen sanken tief im Schlamm ein und lösten sich jedesmal mit schmatzenden Lauten. Ich ritt am Buschgürtel entlang und fand einen fast zugewucherten Weg. Das Geäst einiger Bäume hing tief. Weit nach vorn gebeugt ritt
ich darunter hinweg. Dann sah ich das Haus. Es war völlig verfallen. Nur ein Teil des Daches war noch erhalten. Der Anlegesteg sah morsch aus. Einige Planken waren zerbrochen. Ich stieg ab und betrat die Hüttenruine. Die Dielen unter meinen Füßen knarrten und knackten. Auch hier standen Pfützen auf dem Boden, überall dort, wo das Dach eingestürzt war. Ich war allein hier mit Shita. Colorado und die anderen waren noch nicht da. Ich suchte mir einen trockenen Fleck in der Hütte und zog mein Hemd aus. Ich hätte gern ein Feuer angezündet, wagte es aber nicht, um keine neugierigen Beobachter anzulocken. Ich streifte auch meine Stiefel und meine Hose ab. In die Decke eingehüllt wartete ich den Sonnenaufgang ab. Nachdem die Nebeldecke aufgerissen hatte, wurde es rasch warm. Außer den Pfützen erinnerte nichts mehr an das Unwetter, das in der Nacht getobt hatte. Der Himmel war strahlend blau. Die Schlammkruste trocknete aus. Regenwürmer wanden sich in den stechenden Sonnenstrahlen. Knapp zwei Stunden nach Sonnenaufgang war meine Kleidung trocken. Ich zog sie wieder an und begann, die Umgebung der alten Fährstation zu erkunden. Aber ich stellte nur fest, daß ich hier mutterseelenallein war, daß es keinerlei menschliche Ansiedlungen in der Nähe gab und von Colorado und den anderen nichts zu sehen war. Ich kehrte mit Shita zum alten Fährhaus zurück und verkroch mich wieder darin. Von einem Fenster aus hatte ich einen guten Ausblick auf den Oconee River, der ein paar hundert Yards nördlich einen Bogen ins Hügelland machte. Stundenlang saß ich auf meinem Platz und spähte hinaus, ohne eine Bewegung auf dem Fluß wahrzunehmen. Die Sonne stieg immer höher und spiegelte sich im Wasser. Es wurde immer heißer. Die Luft in der Hüttenruine war stickig wie in einem Backofen. Nach einer Weile schmerzten meine Augen, und dann nickte ich ein, ohne es selbst zu merken. Mein Kopf sackte einfach nach vorn und blieb auf der alten, morschen Fensterbank liegen. Unmittelbar neben meinem linken Ohr begann eine fingerkuppendicke Spinne flink und
behende ein Netz zu weben. Irgendwann weckte mich Shitas Knurren. Er stand neben mir und hatte die Vorderpfoten auf die Fensterbank gelegt. Ich hob den Kopf, etwas erschrocken zunächst und verwirrt. Dann sah ich das Flachboot mit dem hüttenähnlichen Aufbau auf Deck den Fluß herunterkommen. Die Strömung in der Mitte des Oconee River war stark, so daß das Boot sich schnell näherte. Am Ruder stand ein Mann, den ich in der Uniform eines Sergeants in Erinnerung hatte. Colorado kniete an der niedrigen Reling am Bug, hielt seine Hawkens-Rifle in den Fäusten und spähte wachsam abwechselnd zum rechten und zum linken Ufer. Ich blieb in der Hütte, bis das Boot den alten Fähranleger erreichte und festmachte. Colorado sprang als erster an Land und bewegte sich vorsichtig am Ufer entlang. Ich verließ die Hütte. Noch bevor ich ein Wort gesagt hatte, wirbelte er herum, obwohl er mich nicht hatte sehen können und ich kein Geräusch verursacht hatte. Als er mich erkannte, ließ er sein Gewehr sinken. In seinem bärtigen Gesicht verzog sich keine Miene. »Seit wann bist du da?« »Seit Sonnenaufgang.« »Alles glatt gegangen?« »Nicht ganz. Unser Informant ist verhaftet.« Colorado fluchte, während die anderen Männer an Land gingen. Sie trugen Zivilkleidung. Ihre Waffen waren nicht mit Armeestempeln versehen. »Sonst noch was?« »Ich hatte ein paar Schwierigkeiten. Aber ich bin hier.« »Hast du die Informationen?« »Ja«, sagte ich. »Die Rinder erreichen heute eine Plantage bei Swarinsboro. Der Lieutenant sagte, Sie wüßten Bescheid.« »Ich kenne die Plantage«, sagte Colorado. »Sie gehört den Lafayettes. Baumwollanbau, bis die Sklaven nach und nach davongelaufen sind.« »Zwanzig Mann Begleitung«, sagte ich. »Davon fünf mexikanische Treiber. Ach ja, und in Wrightville stehen zufällig
dreißig Viehtransportwaggons.« »Dann kann nichts schiefgehen«, sagte Colorado. »Oder wirst du verfolgt?« Er blickte mich lauernd an. »Wenn es so war, dann hat der Regen letzte Nacht alle Spuren zerstört.« »Du scheinst ziemlichen Mist gebaut zu haben, daß es solche Schwierigkeiten gegeben hat«, sagte er. »Ich wette, der Lieutenant ist durch deine Schuld verhaftet worden.« »Noch ein Wort, und ich reiße dir den Bart aus, du Drecksack!« schrie ich ihn an. Ich dachte nicht daran, mich auch nur ein einziges Mal beleidigen zu lassen. Mein plötzlicher Ausbruch schien ihn zu verblüffen. Einen Moment starrte er mich schweigend an. Dann sagte er: »Wie sprichst du denn mit mir?« »Genauso, wie du mit mir sprichst«, sagte ich. Ich stand breitbeinig vor ihm und blickte ihm gerade in die Augen. »Bilde dir nur nicht ein, mich beleidigen oder schikanieren zu können. Dein Quadratschädel ist breit genug, um ihn nicht zu verfehlen, wenn man darauf schießt.« Für einen Augenblick wirkte er geradezu fassungslos. Er atmete tief durch, und ich dachte, er würde zu brüllen beginnen. Aber seine Stimme klang ruhig, als er fragte: »Wie ist deine Tarnung aufgeflogen?« »Mir ist ein Transport mit gefangenen Unionssoldaten begegnet«, sagte ich. »Einer davon tauchte später auf. Er war abgehauen und wollte mein Pferd klauen. Ich mußte ihn mitnehmen und bin zusammen mit ihm von Konföderierten erwischt worden. Einen habe ich erschossen, der andere ist geflüchtet und hat mir einen Haufen Verfolger auf den Hals gehetzt. Der Gefangene ist übrigens auch tot.« »Du hättest ihn erschießen sollen«, sagte Colorado kalt. »Wenn es darum ging, unerkannt zu bleiben, für die Konföderierten unverdächtig zu bleiben, dann war das wichtiger als das Leben dieses Mannes. Deine Sicherheit und unser Unternehmen sind wichtiger als alles andere. Du hättest nie in irgendeiner Form zu erkennen geben
dürfen, daß du zum Norden gehörst. Du hättest den Gefangenen ohne mit der Wimper zu zucken niederschießen müssen, und jeder hätte dich für einen tausendprozentigen Südstaatler gehalten. Du hättest nicht die geringsten Schwierigkeiten gehabt. Unser Mann in Macon wahrscheinlich auch nicht.« »Er ist völlig unabhängig von mir verhaftet worden«, sagte ich. »Wahrscheinlich ist, daß ich in Macon erst entdeckt worden bin, weil er schon verfolgt wurde, als er sich mit mir traf. Und ob Schwierigkeiten oder nicht: Ich werde niemals einen Mann erschießen, der mir nichts getan hat, der auf derselben Seite steht wie ich und der völlig hilflos ist.« »Ich hab mir schon gedacht, daß du zu weich bist«, sagte Colorado. »Du bist eben noch zu grün. Wir haben Krieg, verstehst du?« »Ich verstehe sehr gut«, sagte ich. »Du bist ein Killer, Colorado. Wäre nicht Krieg, gäbe es vermutlich Steckbriefe von dir. Aber in dieser Zeit kannst du dich austoben und wirst dafür noch bezahlt.« Er blickte mich haßerfüllt an. Dann wandte er sich ab und sagte: »Du weißt nichts, gar nichts weißt du.« Er ging zu den Männern hinüber, die am Anlegesteg gewartet hatten und unserer Auseinandersetzung gefolgt waren. »Das Boot wird versenkt«, sagte Colorado. »Beeilt euch. Wir haben nicht viel Zeit. Wir haben ein gutes Stück Weg zu Fuß vor uns.« Sie gehorchten wortlos. Colorado sah ihnen zu, wie sie mit ihren großen Bowiemessern ein Loch in den Boden des Boots hackten, bis Wasser eindrang und das Boot unterging. »Noch eins«, sagte er. »Bei diesem Unternehmen gibt es keine Rücksichtnahme. Wer uns entgegentritt, wird getötet. Ohne Gnade. Ob Zivilist oder Soldat. Wir wollen alle lebend wieder zurück. Deshalb müssen wir jedes Risiko ausschalten. Jeder lebende Südstaatler, der uns gesehen hat, ist ein Risiko. Ist das klar?« Sie nickten. »Gut«, sagte er. »Dann los. In etwa fünf Meilen liegt eine Farm. Dort kriegen wir ein paar Pferde.« Er wandte sich zu mir um. »Du
reitest voraus und hältst die Augen offen, damit wir keiner Rebellenpatrouille in die Arme laufen. Dazu wirst du hoffentlich fähig sein.« Ich blickte ihn an und sagte: »Da wir Rinder klauen sollen, ist es nur recht und billig, daß uns ein Leitochse anführt.« Die anderen begannen zu lachen. Colorado lief dunkelrot an. Ich drehte mich um und holte den Braunen. Als ich losritt und Shita neben mir hersprang, setzten sich die Soldaten mit Colorado an der Spitze ebenfalls in Bewegung. * Die Farm lag am Rande eines Waldgürtels, ein Wohnhaus, zwei Nebengebäude, Stall und Scheune, dazu ein Korral mit drei Pferden. Neben der Scheune arbeitete ein Mann an einem Hauklotz. Er spaltete Holz. Colorado und die anderen lagen im Gras und spähten hinüber. Ich stand neben dem Braunen und wartete. »Gib mir dein Pferd«, sagte Colorado. »Ich denke gar nicht dran«, sagte ich. »Ich will zur Farm reiten, verdammt, danach kriegst du deinen Gaul zurück.« »Du kannst reiten, wohin du willst«, sagte ich. »Aber nicht auf meinem Pferd. Entweder gehst du zu Fuß zur Farm, oder wir reiten zusammen.« Colorado wäre fast geplatzt. Ich sah es ihm an. Er fluchte leise vor sich hin, unternahm aber nicht den Versuch, mich zu zwingen, ihm zu gehorchen. Er erhob sich und sagte: »Ihr schlagt einen Bogen und nähert euch durch den Wald der Farm von hinten. Dann wartet ihr, bis Ronco und ich den Hof erreichen.« Die Männer nickten, richteten sich auf und marschierten los. »Ein bißchen Beeilung!« schnauzte Colorado hinter ihnen her. »Wir haben nicht vor, mit der Triumphmeldung zurückzukehren, daß wir siegreich eine Drei-Kühe-Farm eingenommen haben.« Er drehte sich um. »Wir reiten zusammen.«
Ich erwiderte nichts. Colorado blickte den anderen nach, die hinter einer Bodenwelle verschwanden. Er stützte sich auf seine HawkensRifle und verharrte in eisigem Schweigen. Ich sah auch keinen Grund, mit ihm zu sprechen und schwieg ebenfalls. Shita saß am Boden und kratzte sich mit einer Hinterpfote hinter seinem linken Ohr. Es verging fast eine Viertelstunde. In dieser Zeit stieg die Sonne langsam über den Zenit. »Da sind sie«, sagte Colorado plötzlich. Dann sah ich auch hinter einem Baum seitlich des Farmhauses eine Bewegung. Ich schwang mich in den Sattel. Colorado stieg hinter mir auf. Wortlos ritten wir auf die Farm zu. Als wir noch knapp fünfzig Yards entfernt waren, bemerkte uns der Farmer, wandte sich vom Hauklotz ab und ging mit bedächtigen Schritten über den Hof. Er blieb neben dem Brunnen stehen, hielt die langstielige Axt locker in der Rechten und schaute uns entgegen. Ich lenkte den Braunen auf den Hof und zügelte ihn zehn Schritte vor dem Farmer, einem mittelgroßen, breitschultrigen Mann in zerschlissener Kleidung und magerem Gesicht. »Guten Tag, Sir«, hörte ich Colorado hinter mir sagen. Seine Stimme klang so unglaublich liebenswürdig, daß ich im ersten Moment dachte, ein anderer Mann säße hinter mir. »Es tut uns leid, Sie in Ihrer Arbeit unterbrechen zu müssen, Sir. Leider ist uns ein Mißgeschick unterlaufen. Mein Pferd ist drei Meilen von hier in einen Hasenbau getreten und hat sich den rechten Vorderlauf gebrochen. Wir mußten es erschießen. Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns eins Ihrer Pferde verkaufen würden.« »Ich verkaufe keine Pferde«, sagte der Farmer. »Wir haben dafür Verständnis, Sir«, sagte Colorado. »Wir wissen, wie schwierig es in diesen Zeiten ist, ein gutes Pferd zu kriegen. Aber vielleicht erweisen Sie uns die Freundlichkeit Ihrer Gastfreundschaft. Wir haben seit gestern nichts Warmes mehr gegessen.« Ich wunderte mich, warum er auch weiterhin so höflich blieb, obwohl klar war, daß der Farmer leicht zu überrumpeln war. Dann entdeckte ich an dem leicht geöffneten Fenster rechts neben der
Haustür einen Gewehrlauf, der genau auf uns zielte. Mir wurde augenblicklich noch ein gutes Stück heißer, als mir wegen der Mittagshitze ohnehin schon war. »Können Sie bezahlen?« »Selbstverständlich«, sagte Colorado. Er griff in eine Tasche seines Wildlederhemdes und holte eine Handvoll Münzen heraus, mit denen er bedeutungsvoll klirrte. »Echte Goldmünzen, Sir.« »Steigen Sie ab«, sagte der Farmer. Er wandte den Kopf ein wenig und rief: »Billy, komm 'raus.« Der Gewehrlauf verschwand. Colorado glitt hinter mir vom Rücken des Braunen. Dann stieg ich ab. Die Tür des Hauses öffnete sich. Ein junger Mann, kaum zwei Jahre älter als ich, trat heraus. Er hielt sein Gewehr in den Fäusten und musterte uns mißtrauisch. »Man muß vorsichtig sein in diesen unsicheren Zeiten«, sagte Colorado. »Mich legt keiner aufs Kreuz«, sagte der Farmer. »Zehn Meilen weiter, bei einem Nachbarn, haben Yankeeguerillas das ganze Vieh weggetrieben und die Felder abgebrannt. Das passiert mir nicht.« »Sie haben recht«, sagte Colorado. Im selben Moment schoß er von der Hüfte aus. Der Farmer öffnete den Mund, um zu schreien. Da brach hinter ihm bereits sein Sohn zusammen. Er riß sein Gewehr noch hoch, aber er konnte nicht mehr abdrücken. Er stürzte mit dem Gesicht voran in den Staub, wo er sich noch ein paar Sekunden zuckend bewegte, bis er schließlich liegenblieb. Der Farmer schwang mit einem Wutschrei die langstielige Axt hoch. Er vollführte einen mächtigen Satz auf Colorado zu und wurde im Sprung von dessen Kugel getroffen, die ihn für einen Moment zu lähmen schien. Starr aufgerichtet blickte er Colorado an. Alles ging so schnell, daß ich fassungslos dabeistand, während Colorado diese unschuldigen Menschen, die lediglich ihr Eigentum zu verteidigen gedachten und uns überhaupt nichts getan hatten, einfach abschlachtete wie ein tollwütiger Straßenräuber. Der Farmer taumelte noch zwei Schritte weiter und stürzte unmittelbar vor Colorados Füßen zu Boden.
»Kommt 'raus!« schrie er. Aus dem Waldgürtel hinter dem Farmhaus stürmten die anderen Männer hervor. Colorado vollführte nur eine herrische Handbewegung. Die Männer drangen ins Haus ein, aus dem das Geschrei einer Frau ertönte. »Bist du wahnsinnig?« schrie ich ihn an. »Um ein paar Pferde zu klauen, hätten wir niemanden umbringen müssen.« »Der Farmer wäre sofort nach Macon geritten und hätte die Rebellen benachrichtigt«, sagte Colorado. »Keine lebenden Zeugen zurücklassen, das ist unsere Chance, um heil nach Athens zu gelangen.« »Du bist ein gottverfluchter Killer«, sagte ich. Er blickte mich eisig an. »Wir rechnen später ab«, sagte er. Die Soldaten in Zivil schleppten eine Frau und einen Jungen in meinem Alter, der im Gegensatz zu mir auch aussah wie sechzehn, aus dem Haus. Der Junge wehrte sich heftig. Er trat und biß um sich, bis einer der Soldaten ihm eine schallende Ohrfeige versetzte, daß er halbbetäubt in den Griffen von zwei anderen Männern zusammensackte. »Sind das alle?« »Alle die im Haus waren«, sagte Corporal Jufford. Colorado ging zum Stallgebäude. Als er zurückkehrte, sagte er: »Mit den Gäulen im Korral sind es sieben Pferde. Ihr seid zwölf Mann. Das heißt, ein Gaul für mich, und für jeweils zwei von euch einen. Das reicht bis zur Plantage der Lafayettes. Dort kriegen wir die Pferde, die wir brauchen, schon zusammen.« Er drehte sich um und ging zum Korral, während er über die Schulter zurückrief: »Die Frau und der Junge werden umgelegt.« Ich traute meinen Ohren nicht. Auch die Soldaten schienen von Colorados Anweisung schockiert zu sein. Sie standen schweigend im Hof, hielten die Frau und den Jungen, die beide sehr still geworden waren und keinen Widerstand mehr leisteten, fest und blickten Colorado ungläubig nach. Er schien im Rücken Augen zu haben. Auf halbem Weg zum Korral drehte er sich um und sagte: »Was ist los?« »Nun, Sir«, sagte der Mann, den ich in Captain Fraziers Zelt in der
Uniform eines Sergeants gesehen hatte. »Sie meinen doch wohl nicht, daß wir die Frau und den Jungen töten sollen.« »Was glauben Sie sonst, was ich meine?« »Sir, Captain Frazier hat zwar gesagt, daß wir so viele Südstaatler erledigen sollen, wie wir können, aber er hat nichts von Frauen und Kindern gesagt.« »Dann sage ich es«, erwiderte Colorado. »Südstaatler ist Südstaatler. Führer dieser Aktion bin ich. Sie haben zu gehorchen.« »Ich töte keine Kinder«, sagte der Sergeant. Colorado kehrte um und schritt langsam auf die beiden Gefangenen zu. Unweit von ihnen lag der tote Farmer in einer Blutlache, die sich im Staub um ihn herum gebildet hatte. Der älteste Sohn, den Colorado zuerst erschossen hatte, lag hinter den Soldaten nahe der Haustür. Ich stand seitlich von. Colorado und fühlte ein Ekelgefühl in mir aufsteigen. Der Mann war noch viel schlimmer, als ich mir vorgestellt hatte. Am liebsten hätte ich den Braunen bestiegen und wäre fortgeritten. Ich schämte mich, mit so einem Mann zusammenzuarbeiten. Ich blieb, weil ich nicht von der Militärpolizei des Nordens gejagt werden wollte und noch niemals etwas aufgegeben, das ich begonnen hatte. Colorado blieb vor den Gefangenen stehen, die von den Soldaten festgehalten wurden. »Sie Mörder«, sagte der Junge. Die Frau weinte lautlos. »Werdet ihr sie jetzt töten?« sagte Colorado. »Sie können mich später bei Captain Frazier melden«, sagte der Sergeant. »Ich tue es nicht.« »Ich werde Sie melden«, sagte Colorado. »Sie haben sich freiwillig für diese Aktion gemeldet und sind darauf hingewiesen worden, daß sie mir bedingungslos zu gehorchen haben. Sie sind außerdem darauf hingewiesen worden, daß dies eine außergewöhnliche Aktion ist. Ich fordere Sie auf, zu gehorchen.« Der Mann schüttelte stumm den Kopf. Colorado zog seinen Revolver und erschoß den Jungen, den der Sergeant am rechten Oberarm gepackt hielt. Der Junge sackte im
Griff des Sergeanten zusammen. Er war auf der Stelle tot. Die Detonation des Schusses verhallte in der Weite des Landes, während die Frau sich in den Griffen der anderen Männer aufbäumte und versuchte, sich loszureißen und Colorado anzuspringen. Colorado richtete seinen Revolver auf die Frau und schoß kaltblütig. Keine Regung war in seinem Gesicht. Dann schob er den rauchenden Revolver in die Halfter zurück und drehte sich wortlos um. Ich tötete nicht einmal ein Tier, wenn es nicht unbedingt nötig war, wenn ich es nicht zu meiner Ernährung benötigte. Ich tötete erst recht keinen Menschen, wenn ich nicht von ihm lebensgefährlich bedroht wurde. Ich haßte das Töten, eine Einstellung, die sich bis heute bei mir nicht geändert hat, auch wenn ich immer wieder dazu gezwungen war. Colorado hatte auf dieser Farm vier Menschenleben ausgelöscht, als ob es sich um das Zerquetschen von Wanzen gehandelt hätte. Vier Menschen, die mit dem ganzen gottverfluchten Krieg nichts zu tun hatten. Er führte jetzt die Pferde aus dem Korral. Als er zurückkehrte und befahl, die Leichen ins Haus zu schaffen, die Pferde aus dem Stall zu holen und aufzubrechen, gehorchten die Soldaten schweigend. Ihre Gesichter aber drückten Verachtung aus, was Colorado nicht im geringsten zu interessieren schien. Er wählte sich eins der Pferde aus, sattelte es und wartete, bis die Soldaten die anderen Tiere bestiegen hatten. Dann schwang er sich selbst in den Sattel und ritt als erster vom Hof. Ich folgte ihm. Shita trottete neben mir her. Er schien genauso bedrückt zu sein wie die Soldaten und ich.
9. Die Felder waren verwildert wie das ganze Gelände, das das Herrenhaus der Plantage umgab. Die Wege des ehemals parkähnlichen Gartens, der nur noch teilweise erhalten war, aber noch immer einen Eindruck davon vermittelte, wie es einmal ausgesehen haben mußte, waren zertrampelt und von Unkraut überwuchert.
Hinter einigen Fenstern war es hell. Über der Tür brannte eine Stallaterne. Die Rinderherde lagerte ein Stück westlich vom Haus. Ein Feuer brannte. Zwei Reiter umkreisten langsam aber stetig die Herde. Im Feuerschein waren andere Männer zu sehen, die sich ihr Nachtlager bereiteten. Vier Soldaten standen am Rande des Lagers und hielten ihre Gewehre schußbereit in den Fäusten. »Wir gehen zuerst ins Haus«, sagte Colorado. »Den Leuten bei der Herde lassen wir Zeit, um einzuschlafen. Dann haben wir es nur mit den Wachen am Camp und bei der Herde zu tun, also sechs Mann, wie es jetzt aussieht. Wenn die anderen aufwachen, haben wir sie schon in der Zange. Im Haus sitzen wahrscheinlich die Anführer der Rebellen. Die holen wir uns zuerst.« Keiner sagte ein Wort. Colorado hatte uns befohlen, abzusteigen und die Pferde zurückzulassen. Wir lagen hinter einem Gesträuch, keine zwanzig Yards vom Haus entfernt. »Es gibt eine Hintertür«, sagte er. »Ich kenn mich hier aus.« Er sagte nicht, wieso er sich hier auskannte. Wir fragten ihn nicht und folgten ihm. Er huschte auf die Ostseite des Hauses zu und blieb an der Hauswand stehen. Er wartete, bis wir alle ebenfalls das Haus erreicht hatten. Dann führte er uns weiter zu einer unscheinbaren, schäbigen schmalen Holztür. Sie war verschlossen. Colorado zog sein Messer und hantierte eine Weile am Schloß herum. Dann öffnete er die Tür. Wir traten hinter ihm in einen dunklen Gang. Wenig später flammte ein Zündholz auf. Wir sahen, daß wir uns in einem Vorratsraum befanden. Die Regale waren bis auf ein paar Konserven und angeschimmeltes Brot leer. Das Zündholz erlosch. Colorado riß sofort ein zweites an. Dann fand er eine Kerze. Er zündete sie an und nahm sie in die Hand. Er ging vor uns her. Wir gelangten in die Küche des Hauses. Ich hatte noch nie so viele und so große Kochstellen gesehen wie hier. Zum Verweilen aber blieb keine Zeit. Von der Küche aus durchschritten wir einen schmalen Gang, der in die große Vorhalle des Hauses mündete. Hier löschte Colorado die Kerze. Wir benötigten kein Licht mehr. Auf dem Gang des Obergeschosses brannten Petroleumlampen, deren Schein bis in die
Halle hinunterstrahlte. Wir hörten Stimmen von oben. Colorado drehte sich zu uns um. Er hielt seinen Revolver in der Faust. Wir zogen ebenfalls unsere Waffen. »Alles muß schnell gehen«, flüsterte er. »Keiner darf Gelegenheit zum Widerstand haben, niemand darf eine Chance erhalten, die Kerle bei der Herde zu warnen. Alles muß leise vonstatten gehen. Nach Möglichkeit darf kein Schuß fallen, vorerst. Klar?« Wir nickten. Colorado ging auf die breite Treppe zu, die ins Obergeschoß führte. Wir folgten ihm und schlichen, bemüht, jedes Geräusch zu vermeiden, die Stufen hinauf. Als wir den Gang des oberen Stockwerks erreichten, stand uns plötzlich ein Negermädchen gegenüber. Sie war höchstens zwanzig, hatte ein rundes Gesicht, sehr große Augen und trug ein einfaches, verwaschenes Leinenkleid, das bis zu ihren Knöcheln reichte. Um die Hüften hatte sie sich eine karierte Schürze gebunden. Sie riß vor Schreck den Mund weit auf und erstarrte. Bevor sie schreien konnte, hatte Colorado sie gepackt und ihr seine breite, dicht behaarte rechte Faust auf den Mund gepreßt. »Kein Wort«, raunte er. »Keinen Laut.« Er ließ sie los und blickte sie eindringlich an. Ich beobachtete ihn scharf. Im Gegensatz zu den anderen Männern war ich nicht sonderlich nervös. Vermutlich fiel darum auch nur mir auf, daß Colorado für einen Moment verändert wirkte. Er schien nicht mehr so rauh, so unmenschlich hart, so menschenverachtend. Er faßte das Negermädchen grob an, aber in seiner Art, in seiner Stimme und auch in seinem Blick lag in gewisser Weise Wärme, eine Wärme, die mich verblüffte, nachdem ich ihn auf der kleinen Farm erlebt hatte, wo er nicht die geringste Gefühlsregung gezeigt hatte. Der Mann verwirrte mich. Ich haßte ihn, gleichzeitig zog er mich auf eine unerklärliche Weise an. Ich wurde nicht recht schlau aus ihm. Mir wurde jedenfalls klar, daß es nicht nur den brutalen Killer Colorado gab. »Welches Zimmer?« fragte er das Mädchen. Sie sprach kein Wort, hob nur unsicher die rechte Hand und
deutete auf eine halb offen stehende Tür. »Paß auf sie auf«, raunte Colorado einem Soldaten zu. Dann eilte er weiter, und wir folgten ihm. Als wir die Tür erreichten, verhielten wir kurz. Wir hörten eine Frau sprechen. Sie hatte eine nicht unangenehm klingende Stimme. Männer lachten. Colorado nickte uns zu. Dann stieß er die Tür mit einem Fußtritt nach innen. Sie flog krachend gegen die Wand. Sekunden später standen wir im Raum. Einem großen Raum mit hoher Decke. Auf dem Fußboden lagen Teppiche aus dem Orient. An den Wänden hingen Gemälde von würdig aussehenden Gentlemen, einige davon trugen Uniform. Andere saßen auf Pferden. Von der Decke hing ein Kronleuchter aus geschliffenem Kristall herab. Die Einrichtung war aus schwarzer Mooreiche gefertigt, kunstvoll verschnörkelt, beschnitzt und gedrechselt. Auf einem langgestreckten, wuchtigen Tisch stand ein Kerzenleuchter mit sechzehn Armen. An dem Tisch saßen eine große, schlanke, gepflegt wirkende Frau von vielleicht vierzig Jahren und drei Männer in feldgrauer Uniform. Offiziere, wie aus ihren Rangabzeichen hervorging. Ein Major, ein Captain und ein blutjunger Lieutenant. Der Lieutenant sprang auf, als wir eintraten und uns im Raum verteilten. Er stieß ein kostbares Glas aus Bleikristall um. Dunkelroter Wein ergoß sich über den Tisch, tropfte über den Rand und bildete auf dem Boden eine dunkle Pfütze. »Bleib sitzen«, sagte Colorado. Er zielte mit seinem Revolver auf die Brust des jungen Offiziers. »Ihr anderen auch. Keine Bewegung. Legt die Pfoten flach auf den Tisch. Ein bißchen flott, wenn ich bitten darf. Das gilt auch für Sie, Lady. Ich habe Weiber wie Sie erlebt, die wer weiß wie vornehm taten und in jedem Strumpfband eine Derringer-Pistole stecken hatten.« »Was erlauben Sie sich?« Der Major erhob sich. Colorado stand mit zwei Schritten vor ihm und schlug mit dem Revolver zu. Der Major vollführte eine unsichere Abwehrbewegung und wurde bereits von dem Hieb getroffen. Der Revolverlauf krachte gegen seine Stirn. Über dem linken Auge platzte die Haut auf. Eine Strähne des sorgfältig
gekämmten Haars des Majors rutschte in die Stirn. Er sackte stöhnend auf den Stuhl zurück, während ein dünner Blutfaden über sein Gesicht rann. Die Frau am Kopf der Tafel war kreidebleich geworden, aber sie bewies Haltung. Starr geradeaus blickend legte sie ihre Hände auf den Tisch. »Brav«, sagte Colorado. »Ich sehe solche Hände gern. Schmal, weiß wie Elfenbein, zart und weich. Hände die noch nie gearbeitet haben, die noch keine Baumwolle gepflückt, noch nie schwere Säcke geschleppt haben.« Die Frau musterte ihn. Sie war zweifellos schön, trotz einiger harter Züge um Kinn und Mund. »Kennen wir uns nicht?« fragte sie plötzlich. Colorado antwortete nicht. Er nickte uns zu. »Entwaffnet die Kerle.« Ich hielt mich zurück. Ich stand mit Shita an der Tür. Mehrere Soldaten gingen zum Tisch und untersuchten die Offiziere nach Waffen. »Miß Gloria Lafayette!« Die Stimme Colorados klang scharf wie ein Peitschenhieb. »Stehen Sie auf!« Sie rückte den Stuhl zurück und erhob sich. Sie trug ein schlichtes, aber erstklassig geschneidertes Kleid aus dunkelgrüner Seide. Ihr rotblondes Haar schimmerte kupfern im Licht des Kronleuchters. »Heben Sie Ihr Kleid hoch, Miß Lafayette«, sagte Colorado. Der Captain wollte protestieren, der junge Lieutenant lief rot an vor Wut. Colorado hob nur seinen Revolver und zielte auf sie. Da schwiegen sie. »Auf was warten Sie, Miß Lafayette? Was glauben Sie, wie Ihren weiblichen Sklaven zumute war, wenn sie sich vor Ihren Antreibern ausziehen und begutachten lassen mußten, wenn diese Halunken ihnen den Arsch und die Brüste abtasteten? Sie sollen bloß Ihr Kleid hochheben, damit wir alle sehen können, ob Sie Waffen im Strumpfband tragen?« Sie zitterte am ganzen Leib. Dann atmete sie tief durch und hob das Kleid hoch. Wir sahen alle ihre blütenweiße Unterwäsche und ihre schwarzen Strumpfbänder. Keine Waffen.
»Ich kenne Sie, Mister«, sagte sie, während sie das Kleid fallen ließ. Ihre Stimme klang völlig ruhig und gefaßt. »Sie waren schon einmal hier. Vor zehn Jahren muß das gewesen sein.« »Sie reden zuviel«, sagte Colorado. »Sie waren vor zehn Jahren hier«, sagte die Frau. »Ich weiß es jetzt genau. Sie hatten eine Ladung Pelze nach New Orleans gebracht. Sie haben hier gerastet und uns eine Sklavin abgekauft.« Colorado wandte sich ihr zu. In seinem Blick war nichts von der Wärme, mit der er das Negermädchen angesehen hatte, die in diesem Moment zusammen mit dem Soldaten, der sie bewachen sollte, hinter mir an der Tür erschien. Colorado holte wortlos aus und schlug mit dem Revolver nach der Plantagenbesitzerin. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und taumelte zurück. Ich sah, daß sie um ihre Besinnung kämpfte. Wahrscheinlich wollte sie dem Yankee nicht die Genugtuung gönnen, sie am Boden zu sehen, aber sie schaffte es nicht. Plötzlich war in ihren Augen kein Leben mehr. Ihre Beine gaben nach. »Missus!« Das Negermädchen an der Tür stürmte an mir vorbei und kniete sich neben ihrer Herrin auf den Boden. Ich blickte Colorado an. Wenn es stimmte, was Gloria Lafayette gesagt hatte, wurde mir Colorados Verhalten noch unerklärlicher. Ich war überzeugt, daß es stimmte. Die Frau hatte ihn erkannt, daran bestand kein Zweifel. Colorado kannte sie ebenfalls, das bewies seine Reaktion. Er hatte ihren Vornamen gewußt, und er kannte sich bestens auf dem Hof und im Haus aus. Aber was bedeutete das? »Zwei Mann bleiben hier!« befahl Colorado. »Wenn einer von den Kerlen Dummheiten versucht, wird sofort geschossen.« Er wandte sich zur Tür und ging an mir vorbei. Ich folgte ihm, genau wie die anderen, bis auf zwei Soldaten, die sich mit schußbereiten Waffen links und rechts der Tür postierten. Auf dem Gang eilte er von Tür zu Tür und stieß jede auf. Dann kehrte er zu uns zurück. »Jetzt holen wir uns die Mannschaft. Siebzehn Mann, wenn die Informationen stimmen. Drei haben wir ja schon auf Nummer sicher. Jetzt braucht keine Rücksicht mehr genommen zu werden. Ihr wißt, was Captain Frazier gesagt hat. Keine Gefangenen! Wem das nicht
paßt, der hätte sich nicht melden dürfen. Wer jetzt kneift, dem garantiere ich, daß er nach unserer Rückkehr in einer Strafkompanie landet.« Er wartete nicht darauf, daß jemand antwortete. Er ging zur Treppe. Wir folgten ihm. Ich war sicher, daß jetzt einige Männer bereuten, sich für diesen Auftrag gemeldet zu haben, wenn sie es nicht schon längst bereut hatten. Wir verließen das Haus durch die schmale Seitentür, durch die wir es betreten hatten. Draußen war von unserem Eindringen nichts bemerkt worden. Noch immer ritten die beiden Herdenwächter um die Rinderherde. Allerdings war das Feuer mittlerweile fast niedergebrannt, und statt der vier Soldaten, die wir vorhin auf Posten gesehen hatten, standen jetzt nur zwei da. Die anderen hatten sich rings um die Feuerstelle in ihre Decken gerollt und schliefen. Colorado hatte seinen Revolver eingesteckt. Er hielt jetzt sein Messer in der Faust. Er blickte mich an: »Du übernimmst einen der Herdenwächter. Kein Schuß, verstanden? Sonst haben wir die schönste Stampede, und die Herde ist zum Teufel, bevor wir richtig angefangen haben.« Er deutete auf einen zweiten Mann. »Sie nehmen den zweiten Cowboy.« Mir ging das alles gegen den Strich, aber ich hatte keine Wahl. Ich huschte los, begleitet von Shita. Als ich mich einmal umschaute, sah ich die breite, wuchtige Gestalt Colorados aus dem Schatten des Hauses auftauchen und einen der Wachtposten erreichen. Die Messerklinge blitzte kurz im Mondlicht, dann brach der Mann zusammen, während neben ihm die zweite Wache niedergestochen wurde. Ich schaute wieder nach vorn. Der Soldat, den Colorado mit mir eingeteilt hatte, kauerte unweit von mir im Gras. Wir beobachteten die beiden Herdenwächter, die in entgegengesetzter Richtung um die Herde kreisten und sich dabei zweimal begegneten, immer kurz anhielten, ein paar Worte wechselten und weiterritten. Sie sangen dazu leise getragene, monotone Melodien, um die Rinder zu beruhigen. Sie sangen spanische Lieder. Ihre Stimmen klangen dunkel und weich. Als sie sich kaum zwanzig Yards von uns entfernt auf ihrem Weg
begegneten, war für uns der Moment zum Handeln da. Ich erhob mich als erster und hastete mit wenigen großen Sätzen auf die Reiter zu. Hinter mir hörte ich das laute, aufgeregte Atmen des Soldaten. Ich erreichte die Herdenwächter als erster und sprang hinter dem einen in den Sattel. Der andere war vor Schreck ganz stumm, und der Mann, den ich angegriffen hatte, sagte kein Wort, denn ich preßte ihm von hinten mein Messer an die Kehle. »Keine Dummheiten«, flüsterte ich. Der Soldat war heran und zerrte den zweiten Mann aus dem Sattel. Ich fischte einen Revolver aus dem Gürtel meines Gefangenen und warf ihn ins Gras. Dann griff ich an ihm vorbei nach den Zügeln des Pferdes und lenkte das Tier zum Camp hinüber. Hinter mir folgte der Soldat mit dem zweiten Wächter. Sie waren beide Mexikaner. Der Mann vor mir stammelte unzusammenhängende spanische Worte, von denen ich nur die Hälfte verstand, so undeutlich redete er. Er zitterte und hatte Angst. Als wir das Feuer erreichten, standen einige der konföderierten Soldaten und ein weiterer mexikanischer Cowboy mit erhobenen Armen da. Am Boden lagen nicht nur die beiden Wachen, sondern auch sechs Männer, die nicht rechtzeitig erwacht und im Schlaf überrumpelt worden waren. Von den ursprünglich zwanzig Mann waren jetzt, zusammen mit den im Haus gefangenen drei Offizieren, nur noch zwölf Männer übrig. Es gefiel mir nicht, mit welcher Brutalität Colorado vorging, und ich war drauf und dran, alles hinzuwerfen. »Ich habe gewußt, daß du zu weich bist«, sagte Colorado. Er musterte mich aus schmalen Augen. »Grüne Bengels taugen eben nicht für solche Aufträge.« Ich antwortete nicht. Colorados Beschimpfungen konnten mich nicht treffen. Ein Mann wie er konnte mich nicht beleidigen. »Ich hatte befohlen, die Wachen zu erledigen. Hast du Scheiße in den Ohren oder bist du zu dämlich, um zu begreifen, was ich damit gemeint habe?« »Ich bin kein Mörder«, sagte ich. »Wehrlose Männer im Schlaf zu ermorden, ist vielleicht deine Spezialität. Ich steche keinem Mann
ein Messer in den Rücken.« Colorado gab den anderen einen Wink. »Bringt die Gefangenen in die Halle. Die drei Offiziere werden dazugestellt. Die Frau bleibt oben.« Er wandte sich wieder mir zu und sagte: »Wenn ich dich jetzt hier abknallen lasse, wird kein Hahn danach krähen. Du verweigerst ständig meine Anweisungen, damit gefährdest du das ganze Unternehmen. Ein Wort von mir, und nach unserer Rückkehr stehst du vor einem Kriegsgericht.« »Weil ich mich weigere, heimtückisch Menschen umzubringen, weil ich mich weigere, mitzuhelfen, wenn Frauen und Kinder ermordet werden?« »Es ist Krieg«, sagte Colorado. »Wenn du glaubst, daß sich auch nur ein Unionsgeneral darum kümmert, ob hier ein Rebellenweib ins Gras beißt, bist du schief gewickelt. Hier geht es um den Erfolg eines Auftrags. Es geht um die Rinder. Sie dürfen nicht nach Macon. Um das zu erreichen, ist jedes Mittel erlaubt.« Ich blickte ihn kopfschüttelnd an. »Stimmt es eigentlich, was Miß Lafayette oben über dich gesagt hat?« fragte ich. Colorado schnaufte. Er war plötzlich still. Dann drehte er sich ohne Antwort um und ging zum Haus. Ich folgte ihm. »Zwei oder drei Männer zur Herde«, hörte ich ihn befehlen. »Wenn auch nur ein Rind davonläuft, werdet ihr es bereuen.« Er lief die Freitreppe hinauf und trat durch die breite Tür in die Halle. Im Schein von zwei Petroleumlaternen standen hier unsere Gefangenen. Auch der Major, der Captain und der junge Lieutenant waren dabei. Sie standen nebeneinander, mit dem Rücken an der Rückwand der Halle, gegenüber dem Hauseingang. »Die Frau ist oben mit ihrer Dienerin«, meldete Corporal Jufford. Colorado nickte nur. Er musterte die Gefangenen mit sichtlicher Genugtuung. »Gott schütze unser armes Land«, sagte der Major in diesem Augenblick, »wenn der Norden mit Halunken wie Ihnen den Krieg gewinnt.« Colorado zuckte nur mit den Schultern. Ein kaltes Lächeln spielte um seine Lippen.
»Die Gefangenen werden erschossen«, sagte er. »Auf der Stelle. Wenn wir heil und gesund in Athens landen wollen, darf keiner von ihnen übrigbleiben.« Er drehte sich um. »Feuer!« Diesmal hoben die Soldaten ihre Waffen ohne zuzögern. Colorado hatte sie fest im Griff. Die Drohung, sie bei Befehlsverweigerung alle in die Strafkompanien zu bringen, hatte gewirkt. Das Krachen der Schüsse erfüllte die Halle mit einem ohrenbetäubendem Dröhnen. Eine dichte Pulverdampfwolke stieg stinkend auf. Dahinter sah ich die an der Wand aufgestellten Gefangenen schwanken und stürzen. Wer nur verletzt war, schrie wie wild. Eine zweite Salve brachte auch den Rest zum Schweigen. In der Halle stank es nach Pulver, Blut und Tod, nach Schweiß, menschlichen Exkrementen und Angst. Die Schützen standen wie gelähmt da und starrten auf die Toten. Auf dem Boden der Halle breitete sich nach und nach eine umfangreiche Blutlache aus. Colorado warf nur einen flüchtigen Blick auf die Toten. In seinem harten, narbigen, bärtigen Gesicht zuckte kein Muskel. »Hol die Pferde her«, sagte er zu mir. Zu den Soldaten sagte er: »Schafft die Toten in den Keller.« Dann ging er zur Treppe und eilte hinauf. Ich schaute ihm nach. Die Soldaten in der Halle gingen daran, die Toten fortzuschleppen. Ich drehte mich um und war froh, das Haus verlassen zu können. Ich erreichte die Bodensenke, in der wir unsere Pferde zurückgelassen hatten. Als ich mich umschaute, konnte ich von hier aus zwischen hohen Büschen und jahrhundertealten Bäumen das Herrenhaus im Mondlicht aufragen sehen wie ein verwunschenes Schloß. Es hatte in dieser Nacht wohl die schwärzeste Stunde seines Daseins erlebt. Ich führte die Pferde den zertrampelten Parkweg entlang zum Haus. Noch immer brannte hinter einigen Fenstern Licht. »Du bleibst bei den Pferden«, befahl ich Shita. Er setzte sich widerstrebend in den Kies. Ich ging die Freitreppe hinauf. An der Tür begegnete ich den Soldaten, die das Haus verließen. Sie waren blaß und ernst, wirkten erschöpft und übermüdet. Ihre Kleidung trug
Blutflecke und schwarze Pulverreste. Als ich die Halle betrat, sah ich, daß die Toten fortgeschafft worden waren. Wo sie niedergestürzt waren, war der Boden mit Blut bedeckt. Blutspritzer verunzierten auch die Wände, in denen zudem Kugeleinschläge zu sehen waren. Angewidert wandte ich mich ab und ging die Treppe hinauf. Von oben hörte ich ein dumpfes Wimmern wie von einem getretenen Tier. Ich betrat den Gang des oberen Stockwerks und sah das Negermädchen auf einer gepolsterten Bank unweit der Treppe unter zwei gekreuzten Säbeln an der Wand sitzen. Sie hatte den Oberkörper weit vornübergebeugt, als habe sie Leibschmerzen, hatte die Ellenbogen auf ihre Knie gestützt und ihr Gesicht in den Händen verborgen. Sie stieß abgehackte, winselnde Laute aus und zitterte am ganzen Leib. »Was ist los?« Ich blieb vor ihr stehen. »Was ist passiert?« Sie antwortete nicht. Sie ließ nicht einmal erkennen, daß sie mich überhaupt wahrnahm. Ich ging weiter. Mit jedem Schritt wurden meine Füße schwerer. Blei schien in meine Gelenke zu fließen. Mein Herz schlug schneller, ein unangenehmer Druck breitete sich in meinem Magen aus. Als ich die Tür des Speisezimmers erreichte, blieb ich einen Moment stehen. Ich überlegte, ob es nicht besser war, umzudrehen. Ich hörte wieder das Wimmern des Negermädchens und setzte mich in Bewegung. * Gloria Lafayette lehnte mit glasigen Augen neben einem Fenster. Sie wirkte benommen, und es war ein Wunder, daß sie sich noch aufrecht hielt. Ihr teures Seidenkleid war zerfetzt, ihr sorgfältig frisiertes rotblondes Haar zerzaust. Ihr Gesicht war verschwollen, ihre Unterlippe blutete. Die weiße Unterwäsche hing ihr in Fetzen am Körper hinunter. Ihre großen, etwas schlaffen Brüste waren entblößt, genauso wie ihr Schoß. Ihre Oberschenkel wiesen blutige Kratzer auf.
Erst sah ich sie, als ich den Raum betrat, dann sah ich die umgestürzten Stühle. Neben dem Tisch lagen mehrere zerbrochene Teller und Gläser. Danach erst erfaßte mein Blick Colorado. Er stand mitten im Raum. Er hatte die Hose hinuntergelassen und war noch immer sehr erregt. Es bedurfte keiner großen Phantasie, um sich auszumalen, was hier geschehen war. Colorado atmete schwer und schien durch mich hindurchzusehen. Mich sprang ein Ekelgefühl an. Mein Magen hob sich unwillkürlich. Ich würgte und dachte, mein Kopf würde platzen. »Raus!« schrie in diesem Moment Colorado. In seinen Augen lag ein irres Flackern. »Du hast hier überhaupt nichts verloren, du blöder Bengel! Verschwinde, bevor ich dich umlege!« In diesem Moment riß bei mir ein Faden. Die kaltblütigen Morde Colorados auf der Farm, das Massaker unter den Soldaten, die die Herde begleitet hatten, die Vergewaltigung und seine ständigen Beschimpfungen – das alles hatte sich in mir angestaut und brach jetzt aus mir heraus. Ich bückte mich, griff nach einem der umgestürzten Stühle und schwang ihn hoch. Colorado wollte ausweichen, als ich den Stuhl schleuderte, aber er war nicht schnell genug und stolperte über seine Hose. Dann traf der Stuhl ihn schon knallhart an den Schädel und riß ihn von den Beinen. Er stieß ein dumpfes Wutgebrüll aus, und als er sich aufrichtete, blutete er aus einer klaffenden Stirnwunde. Das Blut rann über sein Gesicht und sickerte in seinen Bart. Bevor er auf den Beinen war, stand ich vor ihm und riß mein rechtes Bein hoch. Mein Stiefelabsatz knallte Colorado ans Kinn und warf ihn wieder auf den Rücken. Ich bückte mich blitzschnell und zog mein Messer. Als Colorado sich aufbäumen wollte, drückte ich die Messerspitze gegen seinen nackten Unterleib. Colorados Haltung erstarrte. »Du Schwein«, sagte ich. Ich erkannte meine Stimme kaum wieder. Sie klang heiser und zitterte. »Du dreckiges Schwein! Wie kann man so etwas nur tun?« Colorado musterte mich kalt. Er antwortete nicht. »Du Drecksack«, sagte ich.
Er erwiderte wieder nichts. Als ich den Druck mit dem Messer etwas lockerte, bewegte er sich blitzschnell, bevor ich reagieren konnte. Er bäumte sich auf, warf beide Beine hoch und traf mich seitlich mit den Spitzen seiner Stiefel. Der Schmerz durchfuhr mich im ersten Moment wie Feuer. Ich fühlte mich hochgehoben und stürzte schwer zu Boden. Ich überschlug mich und richtete benommen den Oberkörper auf. Colorado stand schon auf den Beinen. Er zog seine Hosen hoch und beachtete mich nicht. Er griff mich nicht an, er ließ mich einfach liegen. Als ich mich erhob, tauchte das Negermädchen im Türrahmen auf. Colorado blickte sie an, und ich erkannte wieder eine seltsame Wärme in seinem Blick. Er sagte: »Du kannst gehen. Du brauchst nicht hierzubleiben. Niemand kann dich dazu zwingen. Du bist frei. Die Sklaverei ist abgeschafft. Bald wird der Süden fallen, dann hast du alle Rechte, die dir bisher verweigert worden sind.« Das Mädchen schluchzte laut auf und lief an Colorado vorbei zu Gloria Lafayette, die sie stützte und zu einem Stuhl führte. Ich steckte mein Messer ein und mußte an mich halten, um nicht zu kotzen. Colorado hatte die Plantagenbesitzerin entsetzlich zugerichtet. »Die Pferde sind unten«, sagte ich gepreßt. »Wir können reiten.« Er sagte nichts. Ich ging an ihm vorbei und verließ den Raum. Hinter mir fiel ein Schuß. Die Detonation fing sich dröhnend im Zimmer. Das Negermädchen kreischte wie rasend. Colorado fluchte und schrie sie an, sie solle dankbar sein, nicht mehr versklavt zu sein. Aber das Mädchen schrie und weinte und war nicht zu beruhigen. Mir war klar, daß Colorado Gloria Lafayette ermordet hatte. Aber ich kehrte nicht um. Ich ging zur Treppe und schritt wie in Trance hinunter. Hinter mir hörte ich noch immer Colorado fluchen und das Mädchen laut und verzweifelt weinen. Dann verließ ich das Haus. Auf der Freitreppe saßen die Soldaten. Sie schauten mir entgegen. Einer fragte: »Was ist passiert?« »Nichts«, sagte ich. »Nichts, was nicht zu erwarten war.« »Er hat sie abgeschossen, dieses Schwein«, sagte ein junger
Soldat. »Er hat die Frau umgelegt. Nächstes Mal weiß ich besser Bescheid, wenn Freiwillige für Sondereinsätze gesucht werden. Ich melde mich nicht noch einmal.« Ich ging vorbei und blieb neben Shita stehen, der mich müde anschaute. Ich tätschelte seinen Kopf. Colorado tauchte in der Tür auf. Er wirkte wieder ruhig, beherrscht, eiskalt und hart wie ein Felsblock. Die Soldaten verstummten. »Wir reiten«, sagte Colorado. »Morgen abend müssen wir die Rinder in Wrightville haben. Das Verladen dauert auch noch eine Weile, abgesehen von der Möglichkeit, daß es in Wrightville Schwierigkeiten geben kann, wenn dort jemand auf die Idee verfällt, Widerstand zu leisten. Wir haben eine Menge vor uns. Also Beeilung, wenn ich bitten darf!« Niemand sprach ein Wort. Sechs Soldaten übernahmen die Pferde, die wir auf der Farm gestohlen hatten. Colorado bestieg das siebente Tier. Die anderen sechs Soldaten umrundeten das Herrenhaus zu Fuß, um sich dort unter den Pferden der getöteten Mannschaft Tiere auszusuchen. Aus dem Haus war noch immer leise das Weinen des Negermädchens zu hören, die ganz allein in dem riesigen Haus zurückblieb, allein mit den vielen Toten.
11. Der Sergeant verstand eine Menge von Rindern. Die Kenntnisse der anderen waren bescheiden. Colorado fluchte wie ein mexikanischer Maultiertreiber und drohte, jeden zu erschießen, der nicht sein letztes geben würde. Niemand zweifelte daran, daß er das tödlich ernst meinte. Der Sergeant setzte sich mit dem Leitstier an die Spitze. Es dauerte fast eine Stunde, bis wir die sechshundert Rinder in Bewegung hatten. Sie waren nervös und aus ihrer Ruhe aufgeschreckt. Wir schufteten wie Galeerensträflinge, um die Herde zusammenzuhalten. In den ersten zehn Minuten war es kritisch. Ein paar junge Tiere drohten auszubrechen. Sie gebärdeten sich wie toll, zumal sich ein
junger Soldat wie ein Idiot benahm und mit einem Lasso auf die Rinder eindrosch, fast aus dem Sattel stürzte und andere Tiere mit seiner eigenen Unsicherheit ansteckte. Shita hastete um die Herde, noch bevor ich ihm folgen konnte. Er sprang den nervösen Tieren vor die Hufe und scheuchte sie zur Herde zurück, während Colorado drohend sein Gewehr schwang und der junge Soldat vor Angst bleich wie ein frischgewaschenes Laken wurde. Dann schlossen sich die Tiere dem Leitstier an, der groß und mächtig wie ein Berg und genauso unerschütterlich war. Nach und nach bildete sich eine geschlossene Formation heraus. Ich ritt an der linken Flanke, schrie mir die Kehle heiser und schwang eine Bullpeitsche, die ich im Camp der toten Mannschaft gefunden hatte. Es galt in den ersten Stunden, die Herde an ein rasches Treiben zu gewöhnen und sie zu einem gleichmäßigen Tempo zu bringen. Es waren prächtige, kräftige Tiere, drei- und vierjährige Longhorns in der Hauptsache, die gut im Fleisch standen und unter dem Treiben von Savannah herauf nicht sonderlich gelitten hatten. Sie hatten breite Schädel mit mächtigen Hornpaaren. Hatten sie anfangs vor Nervosität den Nachthimmel angebrüllt, so hatten sie nun die Schädel gesenkt und paßten sich immer mehr dem Treibrhythmus an. Im dicksten Staub am Ende der Herde ritten drei Männer. Sechs ritten an den Flanken, einer davon war ich. Drei Mann und der Sergeant mit dem Leitstier führten die Herde an. Colorado war überall. Er ließ sich an Einsatz von niemandem übertreffen. Er kreiste ständig um die Herde, schrie hier seine Anweisungen, half dort mit, ausscherende Tiere zurückzutreiben, eilte voraus und begutachtete das vor uns liegende Land. Wir trieben über flaches, von Busch- und Baumgruppen übersätes Land. Wir trieben über brachliegende Baumwoll-, Erdnuß- und Tabakfelder und sahen manchmal in einiger Entfernung von unserem Trail einsame Herrenhäuser im Mondlicht liegen. Eine breite Fährte hinterlassend zogen wir in stetigem Tempo durch die Nacht. Colorado kannte das Land wie seine Westentasche.
Er kannte jede Bodensenke, jede Hügelkette, jede Ebene, er kannte die Lage von großen Plantagen und deren Felder, und er verstand es, den wenigen Überlandstraßen, die es in dieser Gegend gab, auszuweichen und Ansiedlungen jeglicher Art aus dem Wege zu gehen. Frühnebel wallten bereits aus den Niederungen, als er plötzlich im Staub der Herde neben mir auftauchte. Er benahm sich so, als sei nicht das geringste vorgefallen, obwohl die blutverkrustete Wunde an der Stirn deutlich von unserer Auseinandersetzung zeugte. »Fünf Meilen voraus sind ein paar Wasserstellen«, sagte er. »Du reitest vor uns her und siehst dich um. Ich möchte nicht einer Rebellenpatrouille in die Arme laufen, die sich die Wasserlöcher als Rastplätze ausgesucht hat.« Bevor ich antworten konnte, hatte er sein Pferd schon herumgezogen und war in Staub und Dunkelheit verschwunden. Ich zog den Braunen zur Seite, lenkte ihn von der Herde fort und pfiff nach Shita. Aus den dichten Staubschleiern tauchte der Hund auf. Er bellte. Die Zunge hing ihm weit aus dem Maul. Er war wohl der einzige, dem das Treiben Spaß bereitete. Ich trieb den Braunen zu größerem Tempo an und ritt an der Herde vorbei. Ich überholte die Spitze, sah Colorado neben dem Sergeant und dem mächtigen Leitstier reiten und ritt in die Dunkelheit davon. Feuchte Nebel umwallten mich schon bald. Die Sicht wurde schlechter, obwohl die Finsternis der Nacht wich. Aber sie räumte lediglich dichten, milchigen, für Blicke undurchdringlichen Grauschwaden ihren Platz. Ich erreichte die Wasserlöcher, als die Sonne aufging. Feucht glitzernd, wie eine fruchtigfrische Orange, tauchte sie hinter einem Waldgürtel im Osten auf und stieg rasch höher. Es würde ein heißer Tag werden. Die Wasserlöcher waren frei. Ich kehrte um. Ich war müde und erschöpft, aber das waren die anderen auch. Die Endphase unseres Unternehmens hatte begonnen. Jetzt ging es ums Ganze. Es konnte keine Rast mehr geben. Wir mußten jetzt bis zum Schluß durchhalten. Bis nach Wrightville waren es reichlich fünfzehn Meilen. Das war bis zum Abend zu schaffen, wenn wir
ununterbrochen trieben Zwischenfälle gab.
und
es
keine
unvorhergesehenen
* Das Abendrot verwandelte den Himmel in ein Flammenmeer. Wie ein glühender Ball versank die Sonne. Die Schatten waren lang. Ein schwacher Wind strich über die Ebene. Die Stadt lag im Dämmerlicht vor uns. Wrightville, ein kleines Nest mit nur einer Straße. Die Bahnstation war fast größer als die ganze Stadt. Sie lag ein Stück abseits des eigentlichen Ortes. Ein breiter, ausgefahrener Wagenweg führte zur Station und den Nebenanlagen, hauptsächlich Reparaturhallen der »Georgia Alabama Railroad« und einige Lokschuppen. Es gab eine Viehverladerampe, wie ich mit Befriedigung feststellte, und auf einem der Nebengleise stand eine lange Reihe Viehwaggons. Es sah alles aus, als sei es für uns bereitgestellt worden. Und doch wußten wir, daß es reiner Zufall war und die konföderierte Armeeführung darüber kaum glücklich gewesen wäre. Die Straßen von Wrightville waren leer. Hinter den Fenstern der Häuser brannte Licht, genau wie in der Bahnstation. »Wir treiben direkt zur Station in die Verladegatter«, schrie Colorado. Der Sergeant nahm den Leitstier herum. Die ganze Herde folgte. Als wir an dem Ort vorbeitrieben, öffneten sich überall Türen. Menschen traten heraus und blickten zu uns herüber. Kurz bevor wir die leeren Verladegatter der Station erreicht hatten, tauchten aus dem Stationsgebäude ein paar grauuniformierte Männer auf. Sie schauten uns entgegen und gestikulierten mit den Armen. »Sechs Mann zu mir!« befahl Colorado. »Die anderen treiben die Herde weiter.« Er zog seine Hawkens-Rifle aus dem Scabbard. Ich ritt zu ihm hinüber. Weitere Soldaten schlossen sich an. Wir sprengten auf das Stationsgebäude zu. Erst jetzt schienen die konföderierten Soldaten davor zu erkennen, daß wir Feinde waren. Diese Tatsache schien sie völlig zu überraschen. Sie starrten uns fassungslos entgegen. Als wir kaum noch dreißig Yards entfernt waren, hoben sie ihre Gewehre.
Wir feuerten noch vor ihnen. Zwei der Südstaatler stürzten getroffen zu Boden. Die anderen schossen. Unmittelbar neben mir stürzte ein Mann aus dem Sattel. Wir ritten dennoch weiter, und noch bevor wir das Bahngebäude erreichten, ergriffen die übrigen konföderierten Soldaten die Flucht. Sie hasteten stolpernd in das Stationsgebäude zurück und eilten auf der anderen Seite hinaus. Sie rannten über das Bahngelände und über die Gleisanlagen. Colorado und zwei Männer folgten ihnen und schossen, streckten noch einen nieder und verfehlten die anderen in der Dunkelheit, die sich rasch verdichtete. Die Soldaten schafften es, einen scheunenartigen Bau auf der anderen Seite des Stationsgeländes zu erreichen. Sie holten Pferde aus dem Gebäude und ritten in die Nacht davon. Ich stand bereits auf dem Vorbau des Stationsgebäudes, als Colorado zurückkehrte. Wir traten gemeinsam ein. In einer geräumigen, mit Sitzbänken und einem Kanonenofen ausgestatteten Halle, erwartete uns ein kleiner, dicker Mann in brauner Uniformjacke. Er war blaß, seine Hände zitterten. »Sind Sie der Stationsleiter?« fragte Colorado. »Ja.« »Steht im Moment eine Lok unter Dampf?« »Nein.« »Ist Zugpersonal anwesend?« »Im Railway-Hotel, ein Lokführer, ein Schaffner, drei Bremser, ein Heizer.« »Die können bleiben, wo sie sind.« Colorado nickte einem unserer Männer zu. »Sie sind für den Mann hier verantwortlich. Sie lassen sich von ihm den Telegraphen zeigen und zerstören ihn.« Colorado ging zur Tür. Wir folgten ihm und traten in den Abend hinaus. Die Sonne war untergegangen. Im letzten Tagesschimmer sahen wir die Bürger von Wrightville am Stadtrand stehen und herüberschauen. Niemand wagte es, gegen uns etwas zu unternehmen. Vermutlich befanden sich ohnehin nicht viele Männer unter den Bewohnern, und wenn, dann waren es Greise oder Kinder. Wer eine Waffe halten konnte, trug eine Uniform. Kriegsfähige Männer, die nicht in der Armee waren, bildeten eine Ausnahme.
Als wir vor dem Stationsgebäude wieder unsere Pferde bestiegen, sahen wir, daß schon die Hälfte der Herde sich in den Korrals seitlich der Schienenanlagen befand. Die Rinder waren wieder unruhig. Sie hatten die wuchtigen Schädel erhoben und stießen ein dumpfes Gebrüll aus. Es roch nach Schweiß, nach Exkrementen und Staub. »Wir haben nicht viel Zeit«, sagte Colorado. »Die geflüchteten Rebellensoldaten werden das nächste Militärlager alarmieren.« Er schaute sich um. »Wo ist Jufford?« »Bei der Herde«, sagte ich. »Hol ihn her.« Ich ritt zu den Korrals hinüber und schrie durch den dichten Staub. Jufford tauchte aus den Staubschwaden vor mir auf wie ein Gespenst. Vermutlich sah ich nicht besser aus, grau wie ein Adobelehmziegel von Kopf bis Fuß. »Du wirst gebraucht«, sagte ich. Er nickte nur. Wir ritten zu Colorado zurück und lenkten unsere Pferde dann quer über das Bahngelände zu den Lokschuppen. Die ersten beiden waren leer. Im dritten stand eine mächtige BaldwinLokomotive, ein Beutestück der Südarmee. Unter den großen »CSA«-Initialen an beiden Seiten waren noch immer schwach die Buchstaben »US« zu erkennen. Jufford umrundete die Lok ein paarmal, begutachtete sie von allen Seiten, kletterte dann in den Führerstand und hantierte schweigend darin herum. Dann steckte er den Kopf aus dem Seitenfenster und sagte: »Das Ding ist in Ordnung. Die können wir nehmen.« »Was brauchst du?« fragte Colorado. »In den Kessel muß Wasser, und dann brauchen wir Holz, sehr viel Holz. Der Tender ist ja auch völlig leer.« »Holz!« schrie Colorado. Er lief aus dem Schuppen und rief nach den Männern, mit denen wir die konföderierten Soldaten verjagt hatten. »Irgendwo in diesem verdammten Kaff wird es einen Holzplatz für die Eisenbahn geben. Schafft alles 'ran, was ihr schleppen könnt. Und Wasser. Besorgt euch Eimer. Beeilt euch, zum Teufel, sonst machen euch die Rebellen Beine.« Die Verladegatter füllten sich mehr und mehr. Die Rinder drängten sich brüllend und stampfend in den engen Korrals.
Ich ritt mit Colorado zur Verladerampe. Sie war alt, aber sie würde halten. Dann begutachteten wir die Viehwaggons. Für sie galt das gleiche, bis auf die letzten drei Wagen, deren Achsen uns bedenklich erschienen. Wir koppelten sie ab und stellten dann eine Weiche um, damit Jufford die Lokomotive ohne Schwierigkeiten vor die Waggons würde rangieren können. Inzwischen schleppten fünf unserer Leute Holz und Wasser herbei. Colorado und ich verließen unsere Pferde und halfen mit. Es war eine Knochenarbeit. Wir hatten alle seit sechsunddreißig Stunden nicht mehr geschlafen, nur Wasser getrunken und kaltes Fleisch gegessen. Ich hatte das Gefühl, seit Jahren nicht mehr in einem Bett gewesen zu sein. Es ging auf Mitternacht, als der Tender der Lok sich langsam füllte und die ersten dicken Dampfwolken aus dem Schlot stiegen. Wir stießen ein Jubelgeheul aus, obwohl wir uns kaum noch auf den Beinen halten konnten. Jufford stand mit nacktem Oberkörper, schweißüberströmt und rußverschmiert im Führerstand der Lok und riß an der Ventilkette. Mit schrillem Pfeifen entwich die heiße Luft. Dann setzte die Lok sich in Bewegung. Schwerfällig wie ein zum Leben erwachendes Tier aus Eisen und Stahl rollte sie an. Stampfend und asthmatisch ächzend begannen die Räder sich zu drehen. Im raschen Tempo fuhr sie auf das Bahngelände hinaus, stoppte hinter der umgelegten Weiche und rollte rückwärts auf das Gleis, auf dem die Viehwaggons warteten. Es krachte laut, als der Tender der Lok gegen die Waggons stieß. Ein Ruck durchlief die Wagenreihe. Wir hasteten hinter der Lok her und koppelten die Waggons an. Jufford dampfte mit dem Zug ein Stück aus der Station hinaus, wir legten abermals eine Weiche um. Als er zurückkehrte, rollte er neben der Verladerampe für das Vieh aus. Colorado schwang sich in den Sattel. Er rief drei Männer zu sich und ritt zum Ort hinüber, wo noch immer einige Bürger standen und unser Treiben beobachteten. Ich blieb zurück. Ich ahnte, daß er wieder irgend eine Schweinerei vorhatte und dachte nicht daran, mich zu beteiligen. Während ich mithalf, die ersten Verladegatter zu öffnen und die
Longhorns in die Waggons zu treiben, krachten in der Stadt Schüsse. Ich fühlte mich in diesem Moment noch ausgebrannter und leerer, als ich es ohnehin war. Wenig später kehrten Colorado und seine Begleiter mit lautem Triumphgeheul zurück, während in der Stadt weitere Lichter angingen und Unruhe entstand. »Kaffee!« schrie uns Colorado entgegen. »Echten Kaffee. In zehn Minuten können wir das Zeug literweise saufen.« Wir konnten heißen Kaffee wirklich vertragen, wir brauchten ihn, aber ich konnte mich nicht freuen. Ich fragte mich, wie viele Leute Colorado diesmal erschossen hatte, um den Kaffee zu erhalten, der hier im Süden zu knapp war, daß er fast mit Gold aufgewogen wurde. Wir waren fix und fertig. Der Morgen dämmerte über die östlichen Hügel herauf. Wir hatten vergessen, daß wir menschliche Wesen waren, wir waren seit Stunden überzeugt, uns längst in Maschinen verwandelt zu haben. Wir hatten vergessen, wie frische Luft schmeckte, wir atmeten nur noch zähen, schleimigen Staub. Wir hatten vergessen, wie menschliche Stimmen klangen, in unseren Ohren dröhnte nur noch das Gebrüll der Rinder. Als dichte Nebelschwaden über die Ebene krochen, standen nur noch knapp vierzig Rinder in den Verladekorrals und drängten durch die schmalen Gatter zur Rampe. Der letzte Viehwaggon stand weit geöffnet bereit. In diesem Moment krachte auf dem Dach des Stationsgebäudes ein Schuß. Colorado hatte dort einen Posten hinbeordert. Da schrie bereits Jufford vom Führerstand der Lok: »Rebellen! Kavallerie von Westen!« Schemenhaft tauchten Reiter aus dem Nebel auf. Männer in grauen Uniformen. Eine Kompanie, vielleicht auch zwei. Ein Trompetensignal ertönte. »Beeilt euch mit den Rindern!« schrie Colorado. Er hetzte zum Stationsgebäude hinüber, wo er in den Quartieren der Wachmannschaft, die wir bei unserem Eintreffen verscheucht hatten, ein paar Sprengladungen mit Aufschlagzünder entdeckt hatte. Er kehrte mit dem Wachtposten, der vom Dach gestiegen war, und
dem Mann, der auf den Stationsleiter aufgepaßt hatte, zurück. Wir prügelten mit Gewehrkolben auf die Rücken der Rinder ein, um sie durch das Verladegatter auf die Rampe und von hier in den Waggon zu treiben. Als das letzte Rind auf der Rampe stand, sprang ich hinunter und zerrte meinen Braunen heran. »Das Pferd bleibt hier!« brüllte Colorado. »Die Waggons sind voll.« »Für das Pferd ist noch Platz«, entgegnete ich. »Es kommt mit.« »Die anderen Pferde bleiben auch hier.« »Das sind geklaute Gäule. Der Braune gehört mir. Ich lasse ihn nicht hier.« Colorado hielt seinen Revolver in der Faust. Er richtete ihn auf den Kopf des Braunen. Im selben Moment zog ich und preßte Colorado die Mündung meines Navy Colts in den Bauch. »Schieß nur«, sagte ich. »Dann drücke ich ab.« Einen Moment lang musterten wir uns. Unsere Blicke verkrallten sich ineinander. Der Hufschlag der heranstürmenden Kavallerie war bereits zu hören. Jufford schrie vom Führerstand der Lok etwas, was ich nicht verstand. Colorado ließ den Revolver sinken. Er drehte sich schweigend um. Ich zerrte den Braunen am Zügel zur offenen Tür des Waggons. Der wollte erst nicht zu den Rindern hinein. Ich trieb ihn mit Gewalt über die Rampe. Er bäumte sich auf, als er im Waggon war, da zogen bereits zwei Soldaten die auf Rollen laufende Tür zu. Ich lief mit Shita am Zug entlang nach vorn. Die Soldaten kletterten hinter der Lok auf den ersten Wagen, den sie freigelassen hatten. In diesem Moment fielen die ersten Schüsse. Auf breiter Front griff die Kavallerie an. Bevor ich den Waggon hinter den Soldaten besteigen konnte, schrie Jufford auf und stürzte aus dem Einstieg des Führerstandes. In seiner nackten, rußgeschwärzten Brust befand sich eine klaffende Wunde. Er blieb reglos, mit unnatürlich verrenkten Gliedmaßen auf dem Bahndamm liegen. »Feuer!« brüllte Colorado. »Schießt doch zurück, ihr Idioten! Wer
kann mit einer Lok umgehen?« »Ich bin mal mit einer gefahren«, sagte ich. Wortlos winkte er mir zu und stieg über die Leiche Juffords weg. Er kletterte zum Führerstand hoch. Ich klemmte mir Shita unter den Arm und folgte ihm, während rechts und links von mir Kugeln gegen das Metall klatschten und mit häßlichem Geheul als Querschläger davonwirbelten. Colorado stand im Führerstand ratlos vor den vielen Hebeln. Ich hatte ein paarmal auf einer Lok gestanden, und wenn ich auch nicht wußte, wie sie in Betrieb gesetzt wurde, so kannte ich doch die Handgriffe, die nötig waren, um sie zum Fahren zu bringen. Sie stand unter Dampf. Ich zog den Fahrthebel herunter. Der Boden unter unseren Füßen vibrierte. Ein dumpfes Dröhnen drang aus dem Kessel. Weißer Dampf stieg zischend zwischen den Rädern auf. Dann rollte der Zug an. Auf dem ersten Wagen begannen unsere Männer jetzt zu schießen. Die Kavallerie hatte die Viehkorrals erreicht und preschte daran entlang. Sie rückte immer näher, obwohl zwei oder drei Reiter aus den Sätteln stürzten. Mit wütendem Geheul ritten die Südstaatler in unseren Kugelhagel. Der Zug gewann an Tempo, aber noch immer ging es viel zu langsam. Zwei Kavalleristen jagten direkt neben den Schienen her und sprangen vom Sattel aus auf die Waggons. Colorado hob seine Hawkens-Rifle und schoß sie vom Dach, als sie über die Wagen nach vorn laufen wollten. Ein dritter Reiter versuchte, die Lokomotive zu entern. Er schwang sich auf den Einstieg zum Führerstand und feuerte auf Colorado mit einer alten, einschüssigen Reiterpistole. Er traf nicht, ließ die Pistole fallen und riß ein Messer aus dem Gürtel. Colorado schlug mit dem harten Kolben seines Gewehres zu. Mit ausgebreiteten Armen stürzte der Mann rücklings auf den Bahndamm und blieb regungslos liegen. Die Station lag bereits hinter uns. In weit auseinandergezogener Linie ritten die Konföderierten neben uns her, feuerten auf uns und versuchten immer wieder, an den Zug heranzukommen. Der Frühnebel riß vor uns auf. Die Sonne ging auf. Ich riß den Fahrthebel der Lok bis zum Anschlag nach unten. In rasendem
Tempo rollten wir nordwärts. Auf den zahlreichen Meßuhren tanzten die roten und schwarzen Zeiger hin und her. Ich achtete nicht darauf. Ich riß die Kesselklappe auf und stopfte harzige Pinienkloben in die Glut. Hinter mir schleuderte Colorado die Sprengbomben, die er aus der Station mitgenommen hatte. Es waren kugelförmige, gußeiserne Behälter mit herausragenden, abgeflachten Dornen, die beim Aufschlag auf dem Boden die Ladung zündeten. Die ersten beiden detonierten mit mächtigen Stichflammen. Die Druckwelle schleuderte Reiter aus den Sätteln, die Sprengung riß Pferden den Leib auf und hinterließ tiefe Krater im Boden. Colorado hob die dritte Bombe. Er warf sie hoch, und sie explodierte. Dann wurde er vom Aufprall einer Kugel in den Führerstand zurückgeschleudert und stürzte mir direkt vor die Füße. Seine großen, dicht behaarten Hände verkrallten sich auf der Brust. Er gab abgehackte, undefinierbare Geräusche von sich. Sein muskulöser, schwerer Körper krümmte sich zusammen und wurde geschüttelt. Ich knallte die Kesselklappe zu, während Shita aufgeregt bellte. Noch immer krachten Schüsse, schwirrten Kugeln wie zornige Hornissen über den Führerstand weg. Unsere Leute aus dem ersten Waggon erwiderten das Feuer. Aber der Zug hatte mittlerweile so sehr an Fahrt gewonnen, daß die Kavalleristen zurückblieben. Sie folgten uns, verbissen, verzweifelt, im Grunde schon wissend, daß sie verloren hatten. Aber sie hatten nicht die geringste Chance. Wir hatten gewonnen. Wir hatten die Rinder. Die konföderierte Armee in Georgia würde weiterhungern, bis zum Ende. Ich kniete mich neben Colorado. Er atmete rasselnd. Ich zog seine Hände nach unten und sah die Wunde. Ich wußte, daß Colorado sterben würde. * Er blickte mich an. Die Eiseskälte, die Härte, die ihn umgeben hatte, war aus seinen Augen verschwunden. »Sind wir durch?«
»Wir sind durch«, sagte ich. »Wir haben die Kavallerie abgehängt.« »Das ist gut«, sagte er. »Wir haben es geschafft.« In der Nacht sind wir in Athens", sagte ich. »Ja«, sagte er. »Ich hoffe, ich habe viele von ihnen mitgenommen, wenn ich abkratze.« »Kannst du immer nur ans Töten denken?« Wieder erfüllte mich Zorn. »Du wirst abkratzen, verlaß dich drauf. Vielleicht solltest du jetzt anfangen, darüber nachzudenken, was du alles zu büßen hast.« »Was weißt du schon?« Colorados Körper zitterte, dann hustete er, und als er erschöpft zurücksank, entdeckte ich Blutflecke auf seinen Lippen und in seinem Bart. »Du weißt nichts«, flüsterte er. Ich konnte ihn kaum verstehen. Das Stampfen und Dröhnen der Lok war so laut. Ich mußte mich tief über ihn beugen. »Ich hasse den Süden und die Menschen hier. Ich hasse sie wie sonst nichts auf der Welt.« »Warum hast du die Frau und den Jungen auf der Farm umgebracht?« fragte ich. »Warum hast du die Frau auf der Plantage umgebracht?« »Hast du mal gesehen, wie Sklaven gekauft und verkauft werden?« fragte er. »Hast du gesehen, wie sie sich nackt ausziehen müssen und betastet werden, die Frauen wie die Männer? Hast du gesehen, wie sie hausen mußten, während Frauen wie Gloria Lafayette in seidenen Betten schliefen und sich von vorn und hinten bedienen ließen? Hast du gesehen, wie diese feinen Ladys ohne mit der Wimper zu zucken die Auspeitschung einer Sklavin anordneten, wenn diese einen kleinen Fehler begangen hatte?« »Nein«, sagte ich. »Ich hab's erlebt«, sagte er. »Du hast gehört, was Gloria Lafayette gesagt hat?« »Ja.« »Ich habe damals eine Sklavin gekauft. Ich habe sie freigekauft und sie geheiratet. Sie war meine Frau.« Plötzlich begann ich zu verstehen. Ich schwieg und schaute ihn abwartend an. Colorado atmete angestrengt. Er schien zu spüren, daß
ihm die Zeit fortlief. »Ich habe sie mit nach Colorado genommen. Ich hatte drei Kinder von ihr.« Sein Blick wurde trübe. »Dann begann der Krieg. Dort wo ich lebte, gab es Goldminen. Dort hausten eine Menge Leute aus dem Süden. Sie bildeten eine Guerillamiliz, um für den Süden zu kämpfen. Bevor sie loszogen, ritten sie herum und zündeten die Häuser von allen an, die sich für den Norden entschieden hatten. Meins auch. Mich peitschten sie aus, und dann …« Seine Stimme klang gepreßt, er zitterte wieder und hustete hohl. »Dann schändeten sie meine Frau und brachten sie um, sie und die Kinder. Ich – hasse – den – Süden.« Ein heftiger Hustenanfall erschütterte ihn und unterbrach seine Rede. Als er diesmal zurücksank, war eine Menge dunkles Blut in seinen Bart gesickert. Sein Gesicht wirkte eingefallen, die Augen lagen in tiefen Höhlen. Die Haut wirkte dünn wie Pergament, die Knochen standen scharf darunter hervor. »Es waren nur ein paar Männer, die das alles getan haben«, sagte ich. »Du kannst nicht jede Frau und jedes Kind umbringen, nur weil sie aus dem Süden stammen.« »Es waren nicht nur die Mörder«, sagte Colorado. »Es ist der Geist des Südens, keiner ist besser. Sie sind alle so. Sie müssen ausgerottet werden. Ich habe gegen sie gekämpft, solange ich atmen konnte.« »Ich bin auch gegen die Sklaverei«, sagte ich. »Aber es ist keine Lösung, unschuldige Frauen und Kinder umzubringen.« »Du verstehst nichts«, sagte er. »Nichts.« »Doch«, sagte ich. »Ich verstehe schon. Der Haß hat dir das Gehirn zerfressen.« »Sie sind alle gleich«, flüsterte Colorado. »Sie haben mich verachtet, weil ich eine Schwarze zur Frau genommen habe. Sie haben meine Kinder als Tiere angesehen und genauso behandelt. Ich habe von ihnen gelernt. Ich habe zurückgezahlt, was sie mir angetan haben.« Ich schwieg. Es hatte keinen Sinn. Colorado hatte nur für die Rache gelebt, und aus seiner Sicht war es sogar verständlich. Er würde sich jetzt nicht mehr ändern. Er wollte es auch nicht. Für ihn
gab es nur seinen Haß, einen grausamen, alles vernichtenden Haß. Er dachte nicht weiter, und jetzt war es zu spät für ihn. »Man darf keine Rücksicht nehmen«, flüsterte er. Seine Stimme wurde immer schwächer. »Mörder müssen sterben, sie müssen alle sterben, die Weiber ebenso wie die Kinder. Keine Gnade für den Süden …« Er sackte zur Seite und schwieg. Seine Augen starrten weitaufgerissen und blicklos zur rußigen Decke des Führerstandes. Keine Gnade für den Süden. Keine Gnade für Colorado. Colorado war tot. Seinen richtigen Namen würde niemand mehr erfahren. Ich wußte, warum er gemordet, geschändet und gebrannt hatte. Ich wußte, warum er zum Killer geworden war. Das war schon viel. Er hatte nur den Haß gekannt. Er hatte zu denen gehört, die der Krieg grausam und bitter hatte werden lassen. Er hatte damit den freigelassenen Sklaven, denen er hatte helfen wollen, am wenigsten gedient. Er hatte für neuen Haß im Süden gesorgt, der nicht allein ihn und die Nordstaaten, sondern auch die Neger treffen würde, denen die Schuld an den Greueltaten von Männern wie Colorado zugeschoben werden würde. Ich drückte ihm die Augen zu. Als ich mich aufrichtete, sah ich, daß die Kavallerie verschwunden war. Der Zug raste unbehindert nordwärts. Ich warf neues Holz in den Kessel. Ab und zu schaute ich ins Gesicht Colorados. Ein paarmal in den letzten Tagen hatte ich den Wunsch verspürt ihn zu töten. Jetzt war er tot. Vermutlich würde niemand um ihn weinen. Ich bedauerte seinen Tod auch nicht. Trotzdem tat er mir leid. Er hatte viele Fehler begangen, hatte sein Leben und seine Menschlichkeit in einem schmutzigen Rachefeldzug weggeworfen und vertan. Er hatte nur gelebt um zu töten. Ein jämmerliches Leben … * Wir rollten um Mitternacht in die Station von Athens und wurden gefeiert, als hätten wir mit unserem Unternehmen den ganzen Krieg
entschieden. Um die Leiche Colorados kümmerte sich niemand, bis ich dafür sorgte, daß er zum Sargtischler der Stadt gebracht wurde. Während die heimgekehrten Soldaten sich bewundern ließen, durch die Kneipen von Athens zogen, sich patriotische Reden des Stadtkommandanten anhörten, und sich vollsoffen, bis sie nicht mehr laufen konnten, verkroch ich mich mit Shita in einem Stall. Wir bereiteten uns ein Lager im duftenden Heu. In der Nachbarbox stand der Braune, den ich glücklich gerettet hatte, wenn er auch ziemlich beleidigt war, als ich ihn aus dem Viehwaggon befreit hatte. Er hatte es offensichtlich unter seiner Würde betrachtet, mit Rindern im selben Waggon transportiert zu werden. Ich schlief bis zum nächsten Abend, erhob mich, um für Shita und mich etwas Eßbares zu besorgen, und schlief weiter. Drei Tage später verließ ich mit Shita Athens und ritt zurück ins Feldlager von General Sherman vor Atlanta. Hier blieb ich, bis in den ersten Tagen des September die Stadt endgültig fiel, die Armee des Südstaatengenerals Hood den Rückzug antrat und scharenweise verzweifelte Bürger von Atlanta mit Handkarren oder mit schweren Deckenbündeln bepackt südwärts flüchteten. Sherman und seine Truppen zogen in Atlanta ein. Ich war dabei, und ich wußte, daß das Ende des Krieges nicht mehr fern war. Der Todeskampf des Südens hatte begonnen.
ENDE
Vorschau Im Saloon war es totenstill. Ronco sagte kalt: »Dieser Halsabschneider hatte Karten im Ärmel und spielte falsch!« Rotman, der Spieler, fluchte und sprang so hastig auf, daß sein Stuhl nach hinten überkippte. Die schwarze Jacke des Mannes stand offen, und er griff unter die ausgebeulte Achsel. Als seine Hand mit der Derringer erschien, hatte Ronco schon gezogen. Das Donnern seines Schusses rüttelte an den Fensterläden und Bretterwänden und ließ die amerikanische Fahne an der Wand flattern. Rotman schrie auf, stolperte über seinen umgeworfenen Stuhl und prallte gegen die Wand. Als das Krachen verklang und die Schwarzpulverwolke über den Tisch zog, rutschte Jules Rotman an der Wand in sich zusammen. Die Menge hielt den Atem an. Allistair Blake stand wie vom Donner gerührt und starrte auf seinen Spieler. Ronco schob seinen Stuhl mit dem linken Fuß zur Seite und trat etwas zurück. Lobo hatte die Hand am Colt und beobachtete aus schmalen Augen die Männer, die zu Allistair Blake gehörten. Würden sie ziehen? Die Situation war mehr als gefährlich … Die Jagd auf Ronco geht weiter. Lesen Sie nächste Woche Band 251 dieser großen deutschen Western-Serie:
Der Büffelkiller