David Rabe
Crossing Guard
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Freddy Gale hat lange auf den 17. August gewartet. Es ist der ...
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David Rabe
Crossing Guard
scanned by ab corrected by Y
Freddy Gale hat lange auf den 17. August gewartet. Es ist der Tag, an dem John Booth aus dem Zuchthaus entlassen wird – der Mann, der für den Unfalltod seiner Tochter Emily verantwortlich ist. Booth selbst hat nur einen Wunsch: die Vergangenheit hinter sich zu lassen und ein neues Leben anzufangen. Doch Freddy Gale hat nicht vergessen. Er will nur eines: Rache für den Tod seiner Tochter, Rache für sein eigenes verpfuschtes Leben. Und das heißt, daß John Booth sterben muß. ISBN: 3-442-43173-5 Original: »The Crossing Guard« Ins Deutsche übertragen von W. M. Riegel Verlag: Goldmann Erscheinungsjahr: 1996 Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagmotiv: Scotia Film/Buena Vista Das Buch zum Film mit einem Vorwort von Sean Penn
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Autor David Rabe, geboren in Iowa, begann seine Karriere als Journalist. Neben verschiedenen preisgekrönten Theaterstücken hat er eine ganze Reihe von Drehbüchern geschrieben, darunter I’m Dancing as Fast as I Can und Casualties of War. David Rabe lebt in Connecticut.
VORWORT (Sean Penn) Irgendwann zwischen Vertragsabschluß und den Produktionsvorbereitungen zu »The Crossing Guard« stellte mir Harvey Weinstein von Miramax Films folgende Frage: »Wer soll eigentlich den Roman schreiben?« »Wohl mehr den Roman zum Film«, berichtigte ich ihn. »Nein«, sagte er, »einen richtigen Roman. Wir wollen da mal etwas Neues probieren …« Sie hatten vor, von Drehbüchern adaptierte Romane herauszubringen, die sich ein gutes Stück über dem Niveau der üblichen Romane zum Film mit dem obligatorischen Mann mit Wumme auf dem Cover bewegen sollten. Habe ich da eben »Mann mit Wumme« gesagt … nichts für ungut. Die Idee war simpel: einen guten Autor finden und mit der Story und den Charakteren spielen lassen, ihm die Freiheit einräumen, einen eigenständigen Roman aus dem Drehbuch zu entwickeln. Mag sein, daß es eine einfache Idee war; den richtigen Autor zu finden gehörte jedenfalls ganz bestimmt nicht zu den simpleren Aufgaben. Die meisten würden schon abwinken, sobald sie nur das Kürzel »Roman zum Film« hörten. Sofort kollidierte meine Egozentrik mit dem winzigen bißchen Bewunderung, das mir noch geblieben war. Aber dann gewann die Bewunderung doch die Oberhand. Die Worte flossen wie warmer Honig aus meinem Mund. »Naja … er würde es nie tun … aber wenn ich einfach mal so träumen dürfte … wie wär’s mit David Rabe?« Rabe war ein langjähriger Freund von mir; noch länger 3
bewunderte ich seine Bühnenstücke. Wir hatten uns irgendwann in einer New Yorker Bar kennengelernt, und später hatte ich unter seiner Regie in den Stücken »Goose« und »Hurly-Burly« in New York und Los Angeles gespielt. »Ich rufe ihn an«, sagte Weinstein. O Gott, dachte ich. Was hatte ich meinem alten Freund, Mitstreiter und Mentor da angetan? Würde Weinstein ihm gegenüber auch noch das Wort ROMAN benutzen? Genau das tat er. Und dann rief Rabe an. Ein Anruf von Rabe, um es dem damit nicht vertrauten Leser zu erläutern, erreicht einen für gewöhnlich am frühen Westküstenmorgen. Wie auch immer, er ruft von der Ostküste an, wo man gerade eine ausgiebige Dusche nach dem Frühstück genossen hat. Die Meisterschaft eines Rabe-Anrufs besteht darin, den noch schlaftrunkenen Teilnehmer am anderen Ende durch aufgeräumte Ausgeschlafenheit total zu überrumpeln: PENN (groggy oder verkatert) Hall-o? RABE (ausgeruht, aber wie eine verendende Kuh) Äh … (tiefes Seufzen) … Sean? Ein Anruf vom König der Ängste. PENN David.
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RABE (Seufzen) PENN David? RABE Hi … An diesem Punkt wird das Meisterliche an seinem Vorgehen deutlich. Der Angerufene weiß nun, daß er das Gespräch zu eröffnen hat … und das tat ich. PENN Haben dich angerufen? Kurze Pause. RABE Haben sie.
diese
Burschen
von
Miramax
PENN Ich hätte nicht gedacht, daß die so dreist sind. Sie haben mich gefragt, wer meiner Meinung nach den Roman schreiben sollte, und da hab’ ich gesagt, na ja … wenn ich einfach mal so träumen dürfte … und dann hab’ ich deinen Namen genannt. RABE Würde bestimmt Spaß machen. PENN Wer spricht da? 5
Es war David Rabe. Ich habe ihn bis jetzt nicht gefragt, wieviel Spaß er hatte, aber mit diesem Buch hat er den erstaunlichsten Roman geschrieben, dessen Cover je ein Mann mit Wumme geziert hat. Danke, David. SEAN PENN
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1. KAPITEL All dies Elend, dachte Mary. Mrs. Tennov war eine seltsam verschwommene Erscheinung. Sie trug eine verwaschene, ockerfarbige Kaufhallenhose aus synthetischen Fasern, die schlecht verarbeitet war, dazu einen gelben Sweater mit eingestickten und über ihren ein wenig ungleichmäßigen Brüsten wie Wunden aussehenden Rosen. Die Wülste ihrer Taille dehnten die Nähte an den Hüften und im Schritt, und die Hosentaschen spannten, als platzten sie gleich. Mary konnte sich gut vorstellen, wie Mrs. Tennov plötzlich explodierte. Ihre Bestandteile waren sowieso nicht mehr ganz intakt und oft repariert und genäht worden. Aber Stiche hielten eben auch nicht ewig. Ihre Gedanken und ihre Blicke erfaßten den Raum, in dem sich über hundert Personen aufhielten. Sie saßen auf Bänken wie Zuschauer bei einer Darbietung. Aber das zentrale Ereignis fand lediglich an einem langen Tisch statt, an dem die neuesten Gäste und der Moderator des Abends, Dr. Glazier, saßen. Sie schloß die Augen. Sie spürte, wie alle diese Körper funktionierten, wie in allen diesen Köpfen Gedanken rotierten und wie während des Sprechens ihre Organe lebhaft arbeiteten. Vor drei Jahren war Tommy Tennov hinter einem haltenden Schulbus hervorgelaufen und hatte den auf der kleinen Seitenstraße mit etwa hundert Stundenkilometern herannahenden Wagen nicht gesehen. Es hatte ihn buchstäblich aus den Schuhen gerissen, und die Fetzen seiner Jeans klebten hinterher mit Blutspuren und Haut am Kühlergrill. Dreizehn war er gewesen und noch in 7
Gedanken beim Kabbelspiel, bei dem immer der letzte Hieb zählte. Die Stoßerei hatte fast die ganze Busfahrt von der Schule nach Hause gedauert, und die Kampflust war groß gewesen. Normalerweise blickte Tommy ja auch in beide Richtungen, ehe er die Straße überquerte, aber anscheinend hatte er sich diesmal sicher gefühlt. Schließlich blinkten ja nicht nur die Stoplichter des Busses, dessen wechselndes Klicken er hörte, sondern seitlich aus dem Bus ragte auch das unübersehbare Stoppschild heraus. Außerdem fuhr er jeden Tag mit dem Schulbus, und bisher hatte der übrige Verkehr diesen noch immer beachtet. Alle Autos und Lastwagen warteten stets gehorsam und ordentlich hinter dem Bus, bis er weiterfuhr. Also ließ er das Spiel noch ausklingen, versetzte einem Freund einen letzten Stoß und duckte sich unter dem vorschießenden Arm eines anderen weg. Glasscherben von den Scheinwerfern bohrten sich wie Schrapnellsplitter in seinen Leib. Die Kühlerhaube zerquetschte ihm Hüfte und Gesäß. Und erst der Aufprall an der Steinmauer neben der Straße stoppte seinen zehn Meter weiten Flug durch die Luft. Gehirnmasse und Knochensplitter bedeckten die Straße. Einer der Steine verfärbte sich rosa wie das Innere einer Melone. Der Fahrer war ein 29 Jahre alter Radioverkäufer, der an diesem Morgen wegen seiner Trunksucht entlassen worden war. Mit einem doppelt so hohen wie legal zulässigen Alkoholgehalt im Blut lehnte er an der Tür auf der Fahrerseite und griff nach der Kassette Tunnel of Love von Bruce Springsteen. Alles, was er von dem Vorfall wahrnahm, war ein dumpfer Aufprall. »Ich habe nur eine Sekunde lang weggesehen«, erklärte er dem ersten Polizisten, der am Tatort erschien. »Ich habe sofort angehalten, um zu helfen. Nur deswegen hielt ich an. Ich wußte überhaupt nicht, daß ich selbst darin verwickelt 8
war.« All dies Elend, dachte Mary. Elend und Verwirrung, und dann auch noch hierherkommen. Mr. Hammond, gepflegt und vernünftig, saß ein paar Reihen vor ihr. Sie kannte sein Elend, so wie er das ihre und das von Mr. Hazen, dem großen Afroamerikaner, der neben ihr saß, kannte. Auf Mr. Hazens fleischigen Wangen begann das Muster, das sich über seinen ganzen Körper bis zu seinem kräftigen Bauch fortsetzte. Er war ein Müllmann, der aber zu jeder Versammlung frisch geduscht erschien, von einer Wolke von Deospray umgeben, und in einen seiner beiden völlig identischen Anzüge gekleidet, der eine ins Schwarz hineinspielend blau, der andere grau. Heute abend trug er den grauen. Er schien insgesamt vier Krawatten zu besitzen. Die heutige war die dezenteste des Quartetts. Sein sechzehnjähriger Sohn Oxford war von einem Mann mitgenommen worden, der sich der Verhaftung in Nevada wegen nicht gezahlten Kindesunterhalts entzogen hatte. Es war zwar nicht Oxford Hazens Gewohnheit, sich mitnehmen zu lassen, aber er war sehr spät dran für die Schule. Er rannte am Straßenrand entlang, um so schnell wie möglich zur Schule zu kommen, als der CherokeeJeep mit Dwayne Values am Steuer anhielt und dieser ihn fragte, ob er ihm helfen könne. Sobald er im Auto saß, wußte Oxford, daß er in Schwierigkeiten war. Dwayne Values trat aufs Gas, bis sie, in einer Vierzigmeilenzone, siebzig fuhren, und er redete mindestens ebenso schnell. Mr. Hazen erfuhr das alles von Oxford selbst, als dieser im Krankenhaus noch einen halben Tag lang zu Bewußtsein und klarem Verstand kam, bevor er am nächsten Morgen starb. Immer wieder beschrieb Mr. Hazen wie besessen das elektronische Piepen des Monitors über dem Bett mit den flacher werdenden Kurven, die anzeigten, wie das Leben seines Sohnes allmählich verlosch. 9
Oxford hatte seinem Vater noch klarzumachen versucht, daß er dessen Verbot, per Anhalter zu fahren, nicht mißachtet hatte. Als der Cherokee begonnen hatte auf zwei Rädern um die Kurven zu quietschen, hatte er verlangt, herausgelassen zu werden. Er hatte sogar geschrien, als sie an der Stelle, wo er hätte aussteigen müssen, vorbeigefahren waren. Dwayne Values aber hatte Bourbon aus einer schon fast leeren Literflasche getrunken und ihn beruhigt, er kehre schon um und bringe ihn zurück. Er wollte ja nur behilflich sein. Er hatte die besten Absichten. Und dann brüllte er etwas davon, daß die an Oxford und seinesgleichen in ganz Texas, Oklahoma und Nevada begangenen Sünden gesühnt werden müßten. Er erklärte, früher Rassist gewesen zu sein, aber eine schwierige Scheidung und all das nachfolgende Elend hätten ihn human gemacht. Er berauschte sich an seinen eigenen Worten und versuchte Oxford die Wange zu tätscheln und ihm durch die Haare zu fahren. Als Oxford auswich, fuhr er hoch, und dabei entglitt ihm die Flasche, und er schrie Oxford an: »Heb sie auf, bevor alles ausläuft!« Die Straßenbiegung kam auf sie zu, aber Values war mit seiner wichtigen Bourbonflasche beschäftigt. Sie krachten in eine Palmengruppe und schlitterten seitlich gegen einen geparkten Impala in einer Einfahrt. Der Impala wurde weggeschleudert, kippte, überschlug sich und prallte an ein Garagentor. Values starb blutend und mit zerquetschten Organen zwischen dem aus seiner Halterung gerissenen Motor und der eingedrückten Brust von Oxford Hazen. Mr. Hazen erzählte die Geschichte immer wieder und ließ keine Einzelheit aus. Und er erzählte sie immer mit denselben Worten, als trage er – in einem tiefschürfende Nachforschungen suggerierenden Ton – eine auswendig 10
gelernte Rede vor. Heute, als er sie wieder einmal herunterspulte, war sie, Mary, seine Zuhörerin. Sie hörte aufmerksam zu und sah ihm mitfühlend in die Augen, um nicht unhöflich zu erscheinen. Aber ihre Gedanken waren woanders. Gelegentlich wandte sie sich bei einer besonders traurigen Stelle wieder ihm zu. Wie stets endete er mit einem ratlosen Seufzer und Kopfschütteln zum Beweis, daß es ihm unmöglich war, die bitteren Fakten und die Ironie seines Verlustes noch zu ändern. Richard Hammond war groß und gepflegt. Er trug immer nur modische und für seine durchtrainierte Gestalt maßgeschneiderte Anzüge. Sein Krawattengeschmack war erlesen, aber angesichts seiner Vorliebe für Slipper mit Fransen verspürte Mary den Wunsch, ihn mal beiseite zu nehmen und ihm einen Rat zu geben. Er war ein kapitalistischer Spekulant. Seine Frau war bei einem Frontalzusammenstoß mit einem Lieferwagen an einer Autobahnausfahrt in San Diego umgekommen. Der Fahrer, ein erst vor kurzem pensionierter Army-Sergeant mit Gewehren im Führerhaus und einem Sack voller toter Vögel hinten im Laderaum samt sechs im ganzen Führerhaus herumliegenden Paketen verstreuter Munition, hatte geweint, als er im Zeugenstand aussagte, er habe einfach nur versucht, rasch nach Hause zu kommen; er sei allein und habe dringend pinkeln müssen. Während sie die Sitzreihen um sich herum betrachtete, fand Mary, daß das Schicksal des dunkelhaarigen Mädchens dort mit dem Schmollmund, das seine Mutter verloren hatte, ein leichtes sei. Bald schon, fast gegen seinen Willen, würde es sich davon erholen. Die zerstreute Mexikanerin drüben betete vermutlich. Mrs. Tennov redete immer noch. Sie war zwar nur noch eine Ansammlung arthritischer Knoten und ebenso wirrer Emotionen, aber sie erzählte, wie der Anblick eines Jungen in einem 11
Einkaufszentrum, der Tommy ähnelte, ihr bereits drei schlaflose Nächte bereitet habe. Mary seufzte, schloß die Augen und lauschte, wie sie etwa dem Rauschen eines dahinfließenden Bachs lauschen würde. Die Styroportasse in ihrem Schoß gab die rhythmischen Kratzgeräusche ihres Zeigefingernagels wider, der einzige Laut in der sonstigen Stille ihres bewußten Gleichmuts. Ihr Blick verharrte auf dem chemischen Weiß des Styropors oberhalb des Rests ihres schwarzen Kaffees. Alle Anwesenden in diesem Raum hatten irgendeinen Verlust durch betrunkene Fahrer erlitten. Der zweite Afroamerikaner, ein untersetzter, stämmiger Mann, dessen Namen sie nicht behalten hatte, warf in seiner blauen Trainingsjacke funkelnde Blicke um sich. Sie konnte es nicht genau sagen, aber es schien, als habe er sich auf die leicht übergewichtige Frau im dunklen Kostüm und mit der Perlenkette fixiert. Mit ihrem kurzgeschnittenen Haar und der irgendwie unfertig aussehenden Form ihres Mundes machte sie den Eindruck hochnäsiger Herablassung. Sie war neu hinzugekommen und hatte ihren Mann erst vor einigen Wochen verloren. Sie hatte vermutlich den Schock noch nicht überwunden. Irgendwie bildeten sie alle zusammen eine Leidensgemeinschaft, eine Kaffeeklatschgemeinde, die über schwere Körperverletzung sprach. Mr. Hazen nahm gelegentlich Zuflucht zu religiösen Platitüden. Er erhob sich dann und räusperte sich vernehmlich, brauchte eine Weile, bis er überprüft hatte, daß das Mikrofon auch an war und die Lautstärke stimmte, ehe er endlich seinen ersten Satz herausbrachte. Dann aber wurde er rasch leidenschaftlich und heftig und versuchte die Stärke und Überzeugung, die er in seinen Zuhörern erweckt sah, zu teilen. Mary vermutete, daß er in solchen Momenten den Prediger 12
nachzuahmen versuchte, dem er zweifellos jeden Sonntag in der Kirche lauschte. Mittlerweile hatte Mrs. Tennov fürs erste genug geredet, und Mr. Hammond erhob sich zu seiner vollen Größe. Er rückte seine Krawatte zurecht und wischte den imaginären Fussel von seinem Jackenrevers. Dann steckte er eine Hand in die Tasche und berichtete schließlich, nach einer einstudierten Pause, von der wertvollen Befriedigung, die er darin gefunden habe, jede freie Minute den politischen und legislativen Aspekten des Themas zu widmen. Und alle sollten wissen, welche Genugtuung es bereite, etwas gegen die Straßenrowdys zu unternehmen, indem man für schärfere Gesetze gegen Trunkenheit am Steuer eintrete, sie fördere und durchzusetzen versuche. Besonders gegen die Rückfälligen, die Wiederholungstäter. Mittlerweile habe er eine Basisorganisation, in der Sekretärinnen seiner Büros ehrenamtlich mitarbeiteten. An der Tür lägen Flugblätter. Mary redete schon lange nicht mehr. Früher hatte sie auch viel geredet. Inzwischen fiel ihr selbst das Zuhören oft schwer. Trotzdem kam sie immer noch zu den Versammlungen, ohne freilich genau zu wissen, warum eigentlich. Nicht daß irgend jemand eine Erklärung verlangt hätte. Jedesmal ging sie immer im letzten Augenblick noch spontan los, meistens mit dem Vorsatz, das sei nun wirklich das letzte Mal. Oder sie verspürte mittendrin das Bedürfnis, einfach aufzustehen und wegzugehen. Aber sie war nicht nur unter den ersten, die kamen, sondern sie blieb auch stets bis zum Schluß. Irgendwie fand sie hier doch Trost. Das war die traurige Seite der Sache. Außerdem hörte sie gern zu. Diese Reden waren wie Wiegenlieder – alle diese endlosen Geschichten von betrunkenen Fahrern, die es mit brutaler und verblüffender Erfindungsgabe fertigbrachten, immer 13
wieder hinter den Steuern der endlosen Schlangen von Fahrzeugen zu sitzen, die pausenlos von den Fließbändern rollten oder die Abstellplätze der Gebrauchtwagenhändler verließen. Und all diesen Autos wurden effektvolle und sexy Namen gegeben. Lumina, Monte Carlo, Carolla, Seville, Eldorado, Fleetwood. Oder Legend, Lex, Impala, Mustang, Saturn, Thunderbird, Supreme, Jaguar. Damit alle diese Trunkenbolde in ihnen als wahre Katastrophenengel die Straßen unsicher machen konnten. Mit überhöhter Geschwindigkeit und eine Trümmerspur von Desastern hinter sich lassend, jeder einzelne eine traurige Wiederholung all seiner Vorgänger, die Betroffenen in grenzenlosen Kummer stürzend. »Ich fehle mir«, sagte jemand. Mary hatte nichts gesagt, und doch fühlte sie sich bloßgestellt. Gesagt hatte es ein blonder Fremder in Levi’s-Jeans, weißem T-Shirt und Wildlederjacke. Sie musterte ihn interessiert. Er saß am Tisch. Sein Haar fiel in welligen Strähnen, war eher dunkelblond, aber teilweise schon angegraut. Er hielt sich zwar ziemlich aufrecht, machte aber dennoch einen schlaksigen Eindruck. Seine Stimme stieg aus der Tiefe auf, aus jedem Wort klang Unverständnis, als habe er es eben erst entdeckt. Jeder Atemzug und jede Geste spiegelten etwas wider, das sich hinter der Fassade befand und sich Bahn zu brechen versuchte, jedoch nur zu dieser seltsamen Feststellung führte, die die Leute im ganzen Raum auf ihn aufmerksam werden ließen. »Sehen Sie, das ist jetzt fünf Jahre her. Ich schaue in den Spiegel. Wo ist Bobby? Ich weiß es nicht. Ich nehme an, er konnte es nicht ertragen. Keine Chance. Einfach keine Chance dazu. Einfach weitergehen, dachte ich. Einfach weiter. Bis ich merkte, daß ich nicht mehr der war, der ich mal war. Zuvor, meine ich. Oder so. Nun bin ich also hier. Mit demselben Gesicht. Aber nicht mehr Bobby. Der Rest 14
meiner Familie treibt mich die Wände hoch. Für sie, glaube ich, bin ich immer noch derselbe, das gleiche alte Ich. Derselbe Bobby, der ich immer war. Ich meine, nicht daß sie nicht bemerkt hätten, wie ich mich verändert habe. Das meine ich auch gar nicht.« Er lachte auf. Ein seltsamer Anblick, dieser Mann. Noch bevor sein Lachen zu hören war, ruckte sein Kopf wie im Krampf zurück, so daß es aussah, als durchfahre ihn ein Schmerz. Erst dann lachte er. Er musterte die Gesichter um ihn herum. Mary schien es, als befürchte er, ein Protokoll verletzt zu haben, das er eigentlich nicht akzeptieren wollte, wenn ihm auch der Wille fehlte, sich dagegen aufzulehnen. »Sie machen sich darüber lustig«, sagte er. »Für sie ist das ein Ulk. Meine Brüder nennen mich Geschwister Nummer drei als eine Art Spitzname für das, was ich in ihren Augen geworden bin, nämlich der ›Depressionen-Bobby‹. Das habe ich schließlich begriffen. Zum Teufel mit ihnen. Gebe ich ihnen etwa Namen? Tatsache ist, daß ich, wenn schon, Geschwister Nummer vier bin. Meinen ältesten Bruder – Danny – haben wir verloren. Er war Nummer eins. Ich bin der vierte. Nicht der dritte. Sie sollten mich nicht ›der Dritte‹ nennen. Das denke ich wirklich. Das ist das eine. Vielleicht bringe ich mal einen von ihnen mit hierher. Hätte ich jetzt schon machen sollen. Mitbringen. Um ihnen Fragen zu stellen. Haben sie das vergessen, daß es eine Nummer eins gab? Das ist, was ich zu sagen habe. Ich weiß auch nicht. Jedenfalls ich bin jetzt hier. Und was ich mache, ist – also ich denke, ich suche nach dem Schmerz. Jedenfalls hat man mir das gesagt. Und genau das scheinen ja auch manche von Ihnen hier zu sagen. Nämlich daß ich, wenn ich den Schmerz finde, auch mich selbst finde. Heißt das aber nun – ja was? Ich meine, es klingt so, als heiße es, ich sei Schmerz geworden und dann geflohen. 15
Wenn das so ist, dann soll es mir recht sein. Aber ich bin ja hier. Wegen irgendwas, ich weiß nicht einmal genau, weshalb. Ich will nicht einmal wissen, warum. Warum, das ist wie eine Frage, auf die es keine Antwort gibt. Wir stellen sie, obwohl wir genau wissen, daß wir sie besser nicht stellen sollten, weil uns doch klar ist, daß es keine Antwort gibt. Warum? Sehen Sie? Sehen Sie, wie das funktioniert? Sehens Sie’s? Warum?« Er redete immer weiter. »Trotzdem bin ich immer noch hier. Ich bin hier. Ich bin hergekommen. Ich bin in mein Auto gestiegen und bin hierhergefahren. Ist das gut? Ist es tapfer? Sehen Sie? Deshalb frage ich. Wer weiß es, wer sagt es? Was ist was, wer ist wer? Also was?« Wieder fuhr sein Kopf ruckartig nach hinten, nur diesmal ohne jeden nachfolgenden Laut. Mary starrte ihn an. Den Mann umgab eine Aura, die sie nicht deuten konnte, obwohl sie sie spürte. Dann glaubte sie zu wissen, was es war, Erwartung. Aber wessen Erwartung? Seine oder ihre? Er neigte den Kopf, und sein weiches Profil zeichnete sich gegen die Decke oben ab. »Wer also«, sagte er, »führt hier Regie?« Sie blinzelte, starrte ihn unverwandt an, wartete, und nun wußte sie, daß es ihre Erwartung war. Als er sich umsah und sein Blick über die Anwesenden wanderte, befürchtete sie, er könne ihr Interesse spüren und davon angezogen sein. Genau konnte sie es nicht sagen, denn er saß zehn oder fünfzehn Meter von ihr entfernt. In seinem Gesicht schien fragende Bewußtheit aufzuflackern, die dem Kontakt zwischen ihnen entsprang. Sie wich etwas zurück. Sie erblickte die immer noch lautlos betende Mexikanerin. Wie ein luftschnappender Fisch, dachte sie, diese lautlosen Mundbewegungen. Sie hob ihre Styroportasse und trank den Rest des Kaffees aus. 16
Ihr Fingernagel stieß quietschend durch das Styropor. Auf der Heimfahrt machte sie einen Umweg. Nach einer armseligen Gegend dicht nebeneinander stehender einfacher Tonziegel- und Mietshäuser fuhr sie an massiven Villen, umgeben von gepflegtem Rasen und in geraden Reihen angeordnet, vorbei und kam an die Ecke, wo ihre Tochter überfahren worden war. Sie fuhr rechts an den Straßenrand und stellte den Motor ab. Vor ihr war die Kreuzung und nicht weit dahinter der Schulhof. Obwohl es schon spät war und der Halbmond am Himmel stand, war von dort das ständige Auftreffen des Balls auf dem Basketballfeld vor dem niedrigen Ziegelgebäude zu hören. Der einsame Spieler im weißen T-Shirt unterbrach seine Laufschritte nur, wenn er hochsprang, um den Ball in den Korb zu werfen. Ohne viel Phantasie konnte sie sich den Ort hier als Gedenkstätte vorstellen. Die Stille hier konnte man als andächtig bezeichnen und die hängenden Palmenzweige ringsum als Grab- oder Denkmalschmuck. Von einem der Häuser in der Umgebung wehten leise Klänge klassischer Musik herüber. Gedämpfte Polyphonie von Streichinstrumenten. Sie war seit fast einem Jahr nicht mehr hier gewesen. Die Stelle, wo das Auto an jenem Nachmittag Emily unter sich begraben hatte, gab nichts davon wieder. Nichts unterschied sie von irgendeiner anderen Stelle des grauen Betons der Straße. Plötzlich wurde die Musik lauter. Sie kam genau aus dem Haus rechts von ihr. Entweder war die Lautstärke aufgedreht worden, oder jemand hatte das Fenster geöffnet. Was auch immer, jedenfalls wurde die nachdenkliche Stimmung in der Stille nun auch von dem Geplapper irgendeiner Fernsehkomödie zerstört. Sie hatte 17
es bislang noch nicht bemerkt, aber jetzt fiel ihr das eingeblendete künstliche Gelächter alle zwanzig oder dreißig Sekunden auf. Offensichtlich waren in mehreren Häusern ringsum die Fernseher im Moment auf diesen Kanal mit diesem Programm eingestellt. Dieses schrille Gekicher vom Band ließ sie an ihren Exmann Freddy denken. Was war das für ein Programm, das diese Leute sich ansahen? Und sah Freddy es vielleicht auch irgendwo an? Immer schon waren sie wegen ihrer gegensätzlichen Vorlieben für klassische Musik und Fernsehfilme aneinandergeraten, schon in den ersten Jahren ihrer Ehe, als sie noch in einem kleinen Apartment wohnten. Als sie dann in ein Haus umgezogen waren, entschärfte der nun verfügbare Platz diesen Konflikt etwas, wenn sie auch nach wie vor etwas diktatorisch versuchte, Freddys Konsum seichter Programme und Kassetten einzudämmen. Als sie eine Tür zuschlagen hörte, sah sie sich um, konnte aber nicht feststellen, woher das Geräusch gekommen war. Sie begann sich unbehaglich zu fühlen und beschloß, wegzufahren. Sie ließ den Motor an. Sie wollte nicht zu spät nach Hause kommen und Roger, ihrem jetzigen Mann seit drei Jahren, erklären müssen, wo sie gewesen war. Sie legte den Gang ein, vergewisserte sich mit einem Blick nach hinten, daß die Straße frei war, und gab Gas. Der vorschießende Wagen verursachte bei ihr eine Empfindung von Gewalttätigkeit. Er schien mit seinem tonnenschweren Gewicht etwas Unsichtbares in der Luft zu zerreißen. Ein eisiger Schauer überlief sie. Das Herz stand ihr fast still. Sie trat fest auf die Bremse. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Aber als sie hinausblickte, sah sie nichts. Im nächstgelegenen Haus erschien ein Mann hinter dem Fenster und zog die Jalousie zu. 18
Über ihr stand der Mond quecksilberbleich in der bleiernen Nacht. Auf dem Gehsteig kam der Basketballspieler heran, blaß und schlaksig, in Shorts und T-Shirt. Den Ball hielt er gegen die Hüften gedrückt. Die sanfte klassische Streichmusik erklang noch immer irgendwo, und bald ertönte auch wieder das Tonbandgelächter der Fernsehserie. Eine Haustür ging kurz auf, und ein Lichtstrahl fiel heraus. Sie verspürte den zwanghaften Drang, sich die Bremsspur anzusehen. Sie stieg aus. Der Basketballspieler ging gerade an ihr vorüber und schenkte ihr nur einen kurzen Blick. Sie beugte sich, eine Hand auf die Kühlerhaube gestützt, nach vorne und untersuchte Fahrbahn und Bordstein. Es lagen Zweige dort und Reste einer Zeitung. Aus Straßenpflasterrissen wuchs Gras. »Ist der Wagen stehengeblieben?« fragte der Mann, der inzwischen aus dem Haus gekommen war. Ein kleiner Hund lief an der Leine hinter ihm her, offensichtlich ein Spaniel. Er schnüffelte sogleich an Marys Beinen. Der Mann zerrte ihn zurück. »Haben Sie eine Panne?« fragte er nochmals. »Nein, nein«, sagte sie. Der Mann mochte um die Fünfzig sein, er war kräftig und hatte rosige Haut. Sie merkte, wie er versuchte das in ihm aufsteigende Mißtrauen wegen ihrer Anwesenheit hier vor seinem Haus zu dieser Stunde zu unterdrücken. »Sie wohnen aber nicht hier in der Gegend, wie?« fragte er. Sie versuchte ihm das Unbehagen zu nehmen, das er empfand, weil er sich nicht imstande sah, übermäßig freundlich und entgegenkommend zu sein. »Nein«, sagte sie und suchte nach einer glaubhaften Lüge. »Nein, nein. Wir sind nur – ich meine, wir überlegen, ob wir umziehen 19
– mein Mann und ich und die Kinder. Ich sehe mir nur verschiedene Wohngegenden an, fahre ein wenig herum.« »Aha.« »Ich sehe mich nur so um, wie ein Kundschafter, wissen Sie.« Sie lächelte. »Ja, ja«, sagte der Mann. »Uns gefällt es hier. Wir wohnen hier schon seit fast dreißig Jahren.« »Tatsächlich?« Sie sah, wie er ihre Lüge fast bereitwillig schluckte und sich geschmeichelt fühlte. »Vier Kinder haben wir aufgezogen«, sagte der Mann. »Auf alle vier können wir stolz sein. Zwei sind noch auf dem College. Im Mittelwesten. Die beiden älteren sind verheiratet. Demnächst werde ich Opa.« »Gratuliere«, sagte Mary. Sie bemerkte, wie der Hund in einiger Entfernung mit irgend etwas beschäftigt war. »Na ja«, sagte der Mann, »ich habe ja nichts dazu getan, damit man mir gratulieren könnte. Aber ich danke Ihnen trotzdem und nehme den Glückwunsch an. Dergleichen passiert einem ja mittlerweile nicht mehr so oft.« Sie überlegte, wie der Mann wohl reagieren würde, wenn sie ihm den wahren Grund mitteilte, der sie hergeführt hatte. Vermutlich hatte er den Unfall damals mitbekommen, wenn er schon so lang hier wohnte. Warum erzählte er ihr nicht, daß hier an ebendieser Ecke seiner feinen Wohngegend ein kleines Mädchen totgefahren worden war? Wie würde er wohl reagieren, wenn sie es ihm sagte? Wenn sie sagte: »Wissen Sie, gleich da vorne ist meine Tochter überfahren worden.« Die meisten Leute äußerten sich mit vorgetäuschtem Mitgefühl, wenn sie mit den Schicksalsschlägen von Fremden konfrontiert wurden. »Sehr schöne Gegend hier«, sagte der Mann, »klein, aber 20
schön.« Sein Hund begann zu knurren und erhob sich. »Na ja, und da dachte ich mir, ich halte mal schnell an hier«, sagte sie und lächelte. »Ja, ja, ist ja auch ein wirklich schöner Abend«, meinte der Mann. Sein Hund zerrte jetzt heftig an der Leine und wollte weg. »Na, dann will ich mal meinem Mac seinen Abendspaziergang gönnen.« Er machte einen Schritt um sie herum und ging an ihr vorbei. Der Mond verdüsterte sich ein wenig, und die Silhouette der nächsten Eiche wurde etwas schärfer. Mary ging zu ihrem Wagen zurück und stieg vorsichtig ein, als wolle sie ein lautes Geräusch vermeiden. Sie griff nach dem Zündschlüssel und drehte ihn herum. Der Motor sprang an, und sie fuhr los. Auf einmal war es im Auto winterlich kalt wie in einem zugigen alten Haus. Nein, nein, dachte sie und ließ den Fuß auf dem Gaspedal, während ihr Herz sich zusammenzog. Nein, nein, da ist nichts. Emily ist tot. Sie konnte sie nicht überfahren. Emily war schließlich schon lange tot.
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2. KAPITEL So lange habe ich auf Hilfe gewartet, sagte Emily zu ihrem schlafenden Vater. Sie flüsterte und erreichte damit eine so tief in ihm verborgene Stelle, daß er auf keinen Fall davon erwachen konnte. Aber sie war da wie ein sich in seinem Knochenmark windender Wurm. Ich lauschte auf das fallende Wasser und stellte mir vor, daß es plötzlich aufhören würde. Ich nahm an, du würdest kommen und mich holen, mich mitnehmen, mich retten. Oder wenn nicht du, dann irgend jemand – jemand von all denen, die mich liebten. Die Dunkelheit veränderte sich nicht; sie hatte eine Gestalt, eine Farbe, eine Stimmung. Ich redete mir immer noch ein, daß es nichts Unvertrautes sei. Nichts wirklich anderes als die Dunkelheit in meinem Zimmer, wenn ich des Nachts im Bett lag, auf den sauberen Blümchenlaken und unter der mit Disneyfiguren bedruckten Bettdecke. Der Baseball spielende Goofy, Goofy auf dem Karussell, Donald Duck und seine drei Neffen in einer alten Klapperkiste. An der Wand die gerahmten Poster von Waldo und Cinderella, daneben die Bilder von den Schwänen und den jungen Hündchen und von Mommy und Daddy und Opa und Oma in ihren Bilderrahmen in einem Fach meines Bücherregals. Doch selbst dort fürchtete ich mich zuweilen, auch wenn ich Jasmine und Luanda und Samantha, meine Puppen, bei mir hatte und Roscoe, den Plüschaffen, und Puzzle, die Giraffe. Aber es war Nacht, und ich lag allein. Meine Ohren waren so wachsam wie die des Hundes, den ich mir immer wünschte, aber nie bekam. Das kleinste Geräusch, das sich irgendwo in einem entfernten Winkel des Hauses regte, nahm ich wahr. Selbst die Schatten sah ich atmen 22
und sich mit bösen Ahnungen füllen. In den Wänden verbargen sich erschreckende Dinge, auch im Wandschrank, hinter dem Wäschekorb, unter meinem Bett. Überall wartete das unbekannte Monster darauf, daß ich einschlief. Weil ich mich im Schlaf ja nicht vor ihm schützen und auch nicht schreien konnte, falls ich es wollte. Jede Geschichte, die mir je erzählt oder vorgelesen wurde, jeder Kino- oder Fernsehfilm, den ich je gesehen habe, lief auf Rettung hinaus. Und deshalb erinnerte ich mich die ganze Zeit an sie und sagte sie mir immer wieder vor. Immer und immer spielte ich sämtliche Geschichten durch, die ich kannte, seit ich klein war. Von Hunden, Bären, Erwachsenen, die gerade noch gerettet wurden, wenn ein Zug auf sie zuraste oder Pfeile geflogen kamen. Alle die Geschichten von Abstürzen, die abgebremst wurden oder glimpflich ausgingen, von wegspringenden Cowboys, sich beiseite duckenden Feuerwehrmännern, Soldaten, Polizisten. Alle Geschichten von Errettung und Befreiung, von ausweglos erscheinenden, sich aber im letzten Moment noch zum Guten wendenden Situationen. Doch jetzt, da die Minuten sich wie Stunden dehnen und die Tage wie Wochen und die Monate wie Jahre und die Jahre wie Jahrhunderte und sich sammeln und sich schwarz auf mich drücken, habe ich angefangen zu befürchten, daß diese ständige Nacht nie mehr endet. Daß es keinen Weg aus ihr gibt. Kein Mittel gegen sie. Keine Vergeltung. Ich habe angefangen zu fürchten, Daddy, daß der Tod, wenn er einen einmal hat, von Dauer ist. Ich habe angefangen zu fürchten, Daddy, lieber Daddy, daß du nicht mehr kommst, um mich zu holen und zu retten, und daß ich nicht mehr entkomme. Daß der Tod ewig dauert. »Du schnarchst«, sagte sie. 23
Freddy hörte sie und verspürte ein Schuldgefühl. Er blickte hoch aus undeutlicher, wolkiger Verschlafenheit und versuchte nach ihr zu greifen. Es war eine entmutigende Anstrengung, aber er ließ nicht ab und durchbrach die nach Bourbon und Zigaretten stinkende Barriere des Müllbergs seines eigenen Bewußtseins, bis er endlich ihr ovales Gesicht nur Zentimeter vor dem seinen erkannte. »Was?« sagte er. »Du hast geschnarcht. Und zwar ziemlich laut.« Er fühlte sich elend. Als habe er versprochen, sie zu retten, und es dann nicht eingehalten. Er wollte es wiedergutmachen und tätschelte ihren Arm. »Tut mir leid«, sagte er. »Wenn du dich auf die Seite legst, hilft das.« »War es sehr laut?« »Ja. Außerdem hast du noch andere Geräusche von dir gegeben.« »Tatsächlich? Wirklich, das tut mir leid.« »Schon gut.« Sein Schuldgefühl wurde stärker, als ihm bewußt wurde, daß er sich nicht an ihren Namen erinnern konnte. »O Gott!« stöhnte er. »Ist ja gut.« »Nein, ist es nicht«, sagte er. »Nun, so schlimm war es auch wieder nicht. Du hast eben geträumt, denke ich.« »Nein, das glaube ich nicht. Oder doch?« »Mhmm …« Er legte die Hand über die Augen. Eine typische Männergeste, wenn ihre Gedanken eine nicht mehr 24
beherrschende Dichte annehmen. »Was ist bloß los mit mir?« sagte er. »Ja«, kicherte sie. »Träumen und schnarchen. Schlimm, schlimm!« Jetzt erst, als er sich näherbeugte und in ihre Augen sah – sie sahen aus wie Fleischbällchen, die aus ihren geöffneten Lippen quollen –, fiel ihm ein, was für ein Tag heute war. Beziehungsweise was für ein Tag es sein würde, sobald der Morgen graute. Dieser Gedanke katapultierte ihn förmlich aus dem Zimmer. Einen Augenblick lang wußte er nicht, wo er überhaupt war. Weiß der Teufel, vielleicht war er mit dieser Frau da in irgendeinem fremden Haus in irgendeiner anderen Stadt? »Muß ich mir die Zähne putzen?« fragte sie und stieß ihn an, als er nicht antwortete. »Oder was? Was ist denn los?« Er starrte nach oben, zur Decke, als sei er plötzlich von ihr fasziniert. Er dachte nicht wirklich über diese Frau hier nach. Aber er fragte trotzdem laut: »Wie spät ist es eigentlich?« »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Aber es ist noch viel zu dunkel, um aufzustehen. Sieh doch hinaus, wie dunkel es noch ist. Wir können weiterschlafen. Ich bin auch noch sehr müde. In Ordnung, Freddy?« Sie tätschelte sein Bein, es war ein federleichtes Darüberhuschen ihrer Fingerspitzen, bis sie an seinem Knie innehielten. Er drehte sich herum und ihr Gesicht zu sich her, und sie schmiegte sich heiß an ihn. Ihre Brüste drückten sich an seinen Arm, ihr Schamhaar lag wie Pelz an seinem Bein. »Klar«, sagte er. »Du bist lustig«, sagte sie. 25
Er kicherte ein wenig und versuchte sich an ihren Namen zu erinnern. Lustig, dachte er. Wenn sie sich da nicht tauschte. »Kann schon sein.« »Na klar.« »Manchmal vielleicht.« »Das meine ich.« Er beschloß, nicht mehr zu antworten, und kurz darauf war sie auch schon eingeschlafen. Er lag wieder allein mitten im Wirbelsturm seiner Gedanken und fragte sich, ob es ihm wohl gelänge, seine irritierenden Impulse zu neutralisieren oder wenigstens zu dämpfen oder zu besänftigen, damit er wenigstens noch ein wenig Schlaf finden konnte. Schon letzte Nacht hatte er dazu Zuflucht nehmen müssen, und es war ihm sogar gelungen. Diese Frau hatte er eigentlich nur mitgenommen, damit sie ihm zu etwas Schlaf verhalf. Um den bedrückenden Schatten zu entfliehen, die mit dem Morgen unweigerlich auf ihn zukamen, hatte er versucht sich in ihr zu verlieren und alles andere wegzuschieben, fortzudrücken, fortzulutschen und fortzustöhnen. Doch die meiste Zeit war es ihm gar nicht möglich gewesen, an sie zu denken. Sie merkte es offenbar gar nicht. Immerhin hatten Gewohnheit und sein Körper das Übliche getan. Sie war vom Orgasmus direkt in den Schlummer gesunken. Genauso wie eben. Gerade noch hatte sie geredet, und gleich darauf war sie eingeschlafen. Es war ziemlich anstrengend, womit er es da zu tun hatte. Immer wieder erschien ihm John Booth. Immer und immer wieder. John Booth. Es war soweit. Aber er war noch nicht soweit. Er hatte einen Kater. Sein Kopf kam ihm wie eine gesprungene Glaskugel vor. Er brauchte ein wenig Schlaf, zum Teufel. Nur ein paar Minuten. Doch die Gedanken26
mühle in seinem Kopf scherte sich keinen Deut darum. Sie bestand auf ihrer Priorität. Gegen sie anzukämpfen war nicht sehr leicht oder beruhigend. Seine Hoffnung auf Schlaf war so naiv wie der Kinderglaube an Zauberei. Es führte einfach kein Weg dorthin. Und zu allem Überfluß mußte er jetzt auch noch dringend pinkeln. Als er sich zu erheben versuchte, wurde ihm Mias Gegenwart in Form ihrer einhüllenden Wärme bewußt. Richtig, so hieß sie. Mia. Er hatte es doch die ganze Zeit gewußt. Er stand auf, bemüht, sie nicht aufzuwecken. Als er das Zimmer halb durchquert hatte, sah er sich um und betrachtete sie, wie sie reglos dalag. Ihr tiefer, ruhiger Schlaf kam ihm wie sein persönliches Verdienst vor. Als sei das Vertrauen, das es ihr ermöglichte, in diesem dunklen, schattenwerfenden Raum furchtlos und tief zu schlafen, erst durch seine Anwesenheit möglich. Er kam zurück, sah auf sie nieder und wünschte sich, ihr garantieren zu können, daß sie friedlich und vertrauensvoll schlafen könne, solange sie nur wolle. Im Bad öffnete er, ehe er zu pinkeln begann, ein Auge, Der Spiegel zeigte ihm seine blasse, sich bewegende Nacktheit. Als er sich abwandte, kam das Spiegelbild noch ein Stück mit und verzögerte seinen Schritt einen Augenblick lang. Als er weiterging, war es, als reiße etwas irgendwo ab. Er schlüpfte ins Bett zurück. Aber seine Augen blieben weit offen, und die Chance, einzuschlafen, war geringer denn je. Er blickte zum Fenster hin und sah, wie der Tag allmählich anbrach und sich zuerst in den Ecken der Fenster festsetzte und an den Rändern und Spalten der zugezogenen Vorhänge und wie das Licht sich allmählich im Raum ausbreitete. In seinem Kopf rollte eine Art Vorschau auf den kommenden Tag ab. Als sei es an ihm, 27
seinen Ablauf zu bestimmen: den hektischen Verkehr, die ersten paar Autos, aus denen dann ein aggressiver, endloser Strom wurde, der die Straßen füllte und sich aufstaute; das allmähliche Erwachen der Stadt und die Leute, die sich aus ihren Betten erhoben und herumgingen. Die verschiedensten Menschen aller Größen, aller Gestalten. Eine Flutwelle von Kleidung in allen denkbaren Farben, zerlumpte Leute zwischen all den verantwortungsvollen und glücklicheren braven Bürgern, die auf ihre Busse warteten, einstiegen und an ihrem Ziel wieder ausstiegen oder mit ihren Autos fuhren und in ihre schnurlosen Telefone sprachen, ihre Lunchpakete unter dem Arm hatten und aus Papierbechern ihren Kaffee schlürften, es eilig hatten und sich wichtig vorkamen, Pläne machten und rechneten und überlegten, was sie kaufen wollten und was nicht und mit wem sie Termine hatten, bei denen sie ihr Gegenüber unbedingt überzeugen mußten, sei es mit List oder mit Lügen. Menschen, die vorhatten, zu intrigieren, zu täuschen und zu hintergehen, und die überlegten, mit wem sie sich verbünden wollten und wen sie besiegen mußten. Nein, er war mit Sicherheit nicht der einzige, der bis zum Ende der Woche jemanden umgebracht haben würde. Die zunehmende Helligkeit machte das Telefon auf dem Nachttisch sichtbar, dann den Tisch in der Nähe, ein paar Zeitschriften am Fenster und das Rechteck des blauen Vinylstoffs über dem Bett. Das Licht kroch über den Boden und über die Decke, und obwohl er wußte, was kam, weil er sich schließlich in seinem eigenen Apartment befand, blieb er doch in gespannter, regloser Erwartung und beobachtete den neben dem Kühlschrank voran und aufwärts wandernden Schatten, bis sich aus ihm ein farbenfreudiger Kalender herausschälte. Das Bild einer Frau mit nacktem Oberkörper erschien. Ihre Gesäßbacken 28
schauten aus kurz abgeschnittenen, fransigen Jeans hervor. Sie wandte ihm den Rücken zu, durch die leicht glänzende Haut war deutlich ihre Wirbelsäule zu sehen, und der halb seitwärts gewandte Oberkörper und der nach hinten gewendete Kopf ließen den Blick auf den Brustansatz zu. Im Mund hatte sie eine Strähne ihres Haars. Große Blockbuchstaben verkündeten, daß sie auf dem Kalenderblatt des Monats Oktober war. Schatten Schwarzer Magie verdeckten noch einen Teil der Monatstage vom Ersten bis zum Siebzehnten. Der achtzehnte Tag war in kräftigem Rot gedruckt. Als er mit alledem begonnen hatte, lagen noch Tausende Tage vor ihm, mit denen er sich beschäftigen mußte. Kalender auf Kalender, gekauft, abgestrichen Tag um Tag und schließlich im Wandschrank abgelegt mit einem ständig anwachsenden Stapel von Dokumenten und Zeitungsausschnitten. Als Versuch, den Ablauf der Tage zu regeln, zwischen dem, an dem er wartete, und jenem bestimmten Tag, der irgendwo in der Zukunft lag und einmal kam. Anfangs war er sich seiner Unsicherheit über die Anzahl der Tage bewußt. Doch dann, als der ganze juristische Kram seinen Lauf nahm, die Anhörungen und das Verfahren und das Urteil und die Berufungen, war ihm allmählich klargeworden, daß John Booth etwa acht Jahre im Gefängnis verbringen mußte, weil er seine Tochter überfahren und getötet hatte. Vor ein paar Monaten dann hatte er, wie es ihm als Nebenkläger für das Opfer zustand, das genaue Datum der Entlassung erfahren. Er wußte noch, wie damals die verbleibende Zeit eine Barriere so hoch und mächtig wie ein Gebirge gewesen war. Doch inzwischen waren alle Schrunde und Klippen verschwunden. Von den scheinbar endlosen Tagen bis dahin war plötzlich keiner mehr übrig. John Booth, der Säufer, der seine Tochter überfahren hatte, wurde heute 29
aus dem Gefängnis entlassen. Er setzte sich auf. Seine Hand fiel auf Mia. Er schüttelte sie. Sie rührte sich, blinzelte, rieb sich die Augen. »Hallo.« »Du mußt gehen.« »Was?« »Du solltest jetzt gehen.« Der Druck seiner Hand auf ihrer Schulter war sanft, aber bestimmt. »Geh jetzt. Geh lieber.« »Gehen?« Sie stemmte sich hoch, sank aber gegen die Matratze zurück, als sei das Bett Schlamm. »Du mußt gehen«, sagte er noch einmal. Sie schien nicht wach genug zu sein, um zu begreifen. »Was ist, Freddy?« »Nun mach schon.« »Ich soll gehen?« »Ja.« Er sah, wie sie starr um sich blickte, die Realität wahrzunehmen versuchte und seine sichtliche Ablehnung ihrer Anwesenheit. »Nun mach schon, Mia, ja?« drängte er erneut. Sie bohrte ihren traurigen Blick in seinen und fragte noch einmal nach. »Ich meine es ernst«, sagte er. »Es ist Zeit, daß du gehst.« »Kann ich wenigstens noch duschen?« »Bitte.« »Und ein Glas Wasser haben?« »Was?« »Kann ich ein Glas Wasser haben?« »Was soll die Frage? Wieso fragst du das?« 30
»Weil ich Durst habe, Freddy!« »Mein Gott, natürlich kannst du ein Glas Wasser haben. Hast du gedacht, ich würde es dir verbieten? Da auf der Spüle ist ein Glas.« »Du schickst mich einfach weg?« »Nimm das Glas dort.« »Ich habe eben gedacht, du seist vielleicht ärgerlich auf mich. Aber du bist also nur ein mieser Hund. Mich einfach wegzuschicken.« Als sie an der Badezimmertür war, blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um. Das Tageslicht fiel auf ihre Körperseite. Die sanfte Rundung ihrer Hüfte ging in ihre Beine über. Sie schaltete das Licht im Bad ein und stand in einem wabernden Strahlenkreuz. Unerwartet überfiel ihn wieder Verlangen nach ihr. Die Begierde traf ihn wie ein Stromschlag. Aber das konnte er im Moment nicht brauchen. Alles, nur das nicht. »Beeil dich«, sagte er, weil er spürte, wie ihre Anwesenheit ihn wieder schwach werden ließ. Er wanderte am Rand unerforschten Gebietes entlang und spürte, daß sich dort Schutzzäune mit Starkstrom befanden. »Was?« fragte sie. »Du mußt dich beeilen, Mia.« »Du hast mich angesehen, Freddy. Du hast mich angesehen.« »Ja«, sagte er, »ich weiß.« Er wandte sich ab und steckte sich eine Zigarette aus dem Paket auf dem Nachttisch an. Erst als er tief inhalierte, hörte er, wie die Badezimmertür sich schloß. Sie hatte also noch die ganze Zeit gewartet. Er tappte zu seiner Unterwäsche und seiner Hose, die am 31
Boden verstreut lagen, und zog sie an. Die Anspannung machte seine Eingeweide gefühllos wie mit unangenehm kalten Eiswürfeln. Nun, da der lang erwartete Augenblick endlich bevorstand, konnte er ihn nicht richtig als real erkennen. Nichts um ihn herum, weder das Licht dieses entscheidenden Tages noch die Tatsache, daß er gleich noch einmal pissen gehen mußte, weder die zerwühlten Bettlaken noch der vertraute Teppichboden unter seinen Füßen verriet etwas davon, daß heute der Tag war, an dem John Booth sterben mußte. Er starrte auf den Kalender mit seinen ordentlich angekreuzten Tagen bis zum heutigen und wartete, daß Mia endlich aus dem Bad kam, so daß er hinein und pinkeln konnte. Er dachte daran, wie er die Pistole benützen würde, die er eigentlich zum Schutz seines Juwelierladens gekauft hatte, die nun aber dazu verwendet werden sollte, einen Mann zu töten. Er saß auf der schwarzen Ledercouch, rauchte und spielte mit dem Goldkettchen an seinem Hals. Durch die Jalousienschlitze am Fenster hinter ihm zwängte sich das warme Morgenlicht herein. Er warf einen Blick über die Schulter, als habe ebendieses Licht ihn gerade gefragt, ob er sich denn tatsächlich auf eine solche neue und gefährliche Weise verändern wolle. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Als Mia endlich aus dem Bad kam, war sie in Handtücher gewickelt. Ein blaues hatte sie sich um den Körper geschlungen, ein rotes um den Kopf. Freddy ging zum Kühlschrank und holte einen Karton mit Orangensaft heraus. Sie schenkte ihm ein Lächeln und kam auf ihn zu. Er hatte zwar schon seine Unterwäsche und Hose an, aber noch nicht das Hemd. Ihr Lächeln verblaßte, als ihre Erwartungen unerfüllt blieben. Sie griff nach dem Goldkettchen an seinem Hals, hielt es fest, sah zu ihm auf 32
und legte einen Finger auf seine Brustwarze. »Ich bin jetzt ganz frisch und sauber«, sagte sie. Es war ein eigenartiger Augenblick, weil ihn ihr Interesse an ihm wütend auf sie machte. »Hier, trink Saft«, sagte er. »Das ist besser als Wasser.« Dann wandte er sich ab, füllte zwei Gläser und ging ins Bad. Die Wellen ihrer Verärgerung folgten ihm noch durch die geschlossene Tür. »Lieber Gott«, sagte sie. »Na los, trink schon!« rief er aus dem Bad. Als er wieder herauskam, stand sie nackt vor ihm. Sie hatte die Handtücher fallen lassen. Sie trank den Rest des Safts aus, warf ihm einen bösen Blick zu und ging. Er nahm sein eigenes Glas, trank und beobachtete die zunehmende Verärgerung und Verwirrung bei ihr, als sie sich Slip, Rock und Bluse anzog. Er konnte ihr nichts erklären. Sie wußte ja nicht einmal, daß er schon einmal verheiratet gewesen war, geschweige denn daß er eine Tochter gehabt hatte und noch weitere Kinder hatte. Vor fast zehn Jahren aber war ihm ein Bein seines Lebens amputiert worden. Zurückgeblieben war ein Heer irrender Impulse. Nerven, die stillgelegt wurden, damit sie in einem geschützten Bereich in seinem Inneren auf ihren Tag warten konnten. Es war ein Reich mit ganz eigenen und verborgenen Regeln. Die beherrschenden Triebkräfte darin richteten sich auf eine besessene, streng geheime Hingabe an die Vergangenheit. Eigentlich war die beherrschende Figur darin auch gar nicht Freddy. Oder in gewisser Weise war er es und doch wieder nicht. Weil alles bewußt heimlich behandelt werden mußte, über Codes und Tarnwörter. So daß er auf eine bestimmte Weise zwei Personen war – was bewußt wahrzunehmen er aber nicht riskieren konnte. Nun jedoch war er dabei, den bis jetzt begrabenen Freddy, den nach Jahren der 33
Verbannung in ein fernes Exil zurückkehrenden Freddy zu befreien, damit er sich des gewöhnlichen, normalen anderen Freddy bemächtigte, der hier stand und Orangensaft trank und zusah, wie Mia sich anzog. »Das Unvorhergesehene hat auch seine Reize, Freddy«, sagte sie, »das gebe ich zu.« Sie zog den Reißverschluß an ihrer Seite zu und schlüpfte in ihre Schuhe. »Aber wie du vielleicht auch weißt, hat es seine Grenzen.« »Was nicht?« sagte er. Sie blickte ihn an, als habe er ihr ein brennendes Streichholz auf die Haut gedrückt. Dann eilte sie wütend zur Tür und nahm die Sachen, die sie noch nicht angezogen hatte, mit. Freddy ging zum Fenster und öffnete die Jalousie. Er wartete, bis sie unten auf der Straße erschien. Diese war inzwischen sehr belebt, der Verkehr staute sich hinter einem Laster mit achtzehn Reifen, der rückwärts in ein Ladedock fuhr. Mia kam in Sicht. Sie stürmte mit gesenktem Kopf davon, die Tasche über der Schulter. Er beugte sich vor und hielt die Hand an die Fensterscheibe gegen die Spiegelung. Vorne an der Ecke am Parkplatz seines Wohnhauses stand ihr blauer Toyota. Er war einige Jahre alt und an der rechten Stoßstange angerostet, aber zu dieser frühen Morgenstunde der einzige dort. Wie ein übermächtiger, erdrückender Block mit einem riesigen, leicht angereiften Fenster vorne auf Bodenhöhe erhob sich die Ziegelmauer des angrenzenden Gebäudes vor ihm. Über diesem seltsamen Glasrechteck erstreckten sich blaue Blumenranken um nackte Mädchen als tanzende Silhouetten. Die Tür daneben sah wie ein Eistuch aus. Über den tanzenden Mädchen hingen im hellen Morgenlicht die Neonbuchstaben THE CALYPSO CLUB. Hinter diesem Fenster und 34
hinter dieser Tür war sein Stammlokal, das Striplokal an der Ecke, wo auch Mia arbeitete. Als eine der glitzernd aufgemachten, kalten und nur am Geld interessierten Stripperinnen. Sie war inzwischen fast an ihrem Auto. Er sah ihr zu, wie sie einstieg. Sie startete den Motor so heftig, daß hinten aus dem Auspuff eine dicke, schwarze Wolke fuhr. Beim Zurücksetzen flog der Kies hoch. Sie hupte sich wütend die Ausfahrt auf die Straße frei. Er vermutete, daß sie annahm, daß er sie beobachtete. Also machte sie aus ihrem Herzen keine Mördergrube und ließ ihn mit ihrer Show wissen, wie ihr zumute war. Mein Gott, sind wir empfindlich, dachte er. Was, zum Teufel, hatte sie denn erwartet?
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3. KAPITEL Er stellte Kaffeewasser auf und nahm sich Zeit mit dem Duschen. Er ließ das wohltuende warme Wasser über sich laufen und seifte sich mehrmals ein, als müsse er eine Schmutzkruste entfernen. Dann wusch er sich die Haare. Zum Schluß drehte er den Kaltwasserhahn langsam zu, bis die steigende Temperatur des heißen Wassers zu schmerzen begann. Er trat zurück und ließ nur noch Unterarm und Hand unter den Wasserstrahlen, bis die Haut sich rötete und er einen pochenden Schmerz in der Brust verspürte. Dann zog er auch den Arm zurück und stellte das Wasser ab. Er wickelte sich zitternd in ein Handtuch. Anschließend rasierte er sich sorgfältig und reinigte seine Wangen mit Rasierwasser, dann putzte er sich die Zähne und säuberte sie zusätzlich mit Zahnseide. Mit einer Tasse Kaffee in der Hand stellte er sich abwägend vor seinen Wandschrank und entschied sich schließlich für ein frisch aus der Reinigung gekommenes, weißes Frackhemd, einen schwarzen Blazer, schwarze Hose und schwarze Schuhe. Er ließ die oberen Hemdknöpfe offen, so daß sein Goldkettchen sichtbar blieb, schlüpfte in die Jacke und steckte sich aus der gestrigen Hose seine Schlüssel, Kleingeld und den Klemmer mit den Geldscheinen ein. Dann betrachtete er sich sorgfältig im Spiegel und schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein. Einige Minuten später war er mit flotten Schritten auf der 7. Straße unterwegs, bog um einige Ecken und trat nach einem oder zwei Blocks vom Gehsteig, um auf die andere Straßenseite zu wechseln. Er wich sorgsam den Schmutz- und Ölflecken auf dem bläulichen Grau des Straßenteers aus. Wie mehrere andere Leute, die es 36
offenbar so eilig hatten, daß sie nicht auf das Ampelsignal warten konnten und irgendwo die ersten sein mußten, bahnte auch er sich den Weg im Zickzack über die Straße, obwohl Rot war. Wie eilig sie es nur alle haben, dachte er verächtlich. Fast geistesabwesend ging ihm noch immer die Sache mit dem normalen Freddy und dem gerade auftauchenden Freddy im Kopf herum. Mia hatte bemerkt, daß er sich plötzlich völlig verändert hatte, und es hatte sie verstört. Aber für ihn waren ihr Zorn und ihre Verwirrung ein gutes Zeichen. Es war der Beweis dafür, daß wirklich etwas in ihm vorging, wirklich etwas mit ihm geschah; etwas, das er zwar nicht geplant und beabsichtigt hatte, aber doch bewußt auf sich zukommen ließ. Etwas Mysteriöses begann ihn zu beherrschen. Seit acht Jahren war sein Rachedurst ungestillt. Aber inzwischen hatte er ihn so lange unterdrücken müssen, daß nun, wo seine Zeit gekommen war, die Rückkehr der Vergangenheit an diesem Morgen wie ein seltsames Geräusch in einem dunklen Raum war, wo er lag und aufzuwachen versuchte. Er wußte, es galt ihm, nur war ihm nicht klar, was genau von ihm erwartet wurde. Er war ein verheirateter Mann gewesen mit einer Frau, Mary, und mit neugeborenen Zwillingen, Anthony und Andrew, die zu seiner geliebten Emily gekommen waren. Und dann hatte sich alles in nichts aufgelöst. Impulsiv versuchte er den Blick eines ihm in einem grauen Trainingsanzug entgegenkommenden Mannes auf sich zu lenken. Doch der Fremde ignorierte ihn oder nahm ihn überhaupt nicht zur Kenntnis, was auf dasselbe hinauslief, zumal er, Freddy, sich nicht bewußt war, was er tat. Für alle diese an ihm in einem endlosen Strom vorübereilenden Menschen war er ein völlig Fremder. Was also konnten sie schon darüber sagen, wer er sei oder bald 37
sein würde? Als er an seinem Geschäft ankam, über dessen Tür sich ein Emblem eines dreidimensionalen, blitzenden Diamanten befand, warf er aus reiner Gewohnheit einen prüfenden Blick auf die Schaufenster. Der Anblick schockierte ihn. Hinter der Goldbeschriftung GALE’S FINE JEWELRY auf den Scheiben zu beiden Seiten der Tür war nichts. Kein Ausstellungsstück war zu sehen. Beide Schaufenster waren leer bis auf die mit grauem Filz bezogenen Ausstellungsregale und -postamente. Als sei der Laden geschlossen oder aufgegeben worden. Dasselbe Bild in beiden Fenstern links und rechts der Tür. »Das darf doch nicht …!« Er riß die Tür auf und schrie über die Türglocke hinweg: »Jeffrey! Jeffrey!« Sofort teilte sich der Vorhang zwischen dem Laden vorne und den Lagerräumen, dem Safe und der Treppe zum Büro im Obergeschoß hinten, und Jeffrey erschien, ebenso gepflegt wie aufgekratzt. Er war Japaner, noch jung, trug mehrere Ohrringe in jedem Ohr und ein elfenbeinfarbenes Strickhemd unter der offenen Weste zur weiten, schokoladenfarbigen Ballonhose mit einer einfachen, asymmetrischen Bügelfalte. Er hatte einen Pilzhaarschnitt mit über den kurzgeschorenen Seiten aufsteigenden, schwarzen Wellen. »Guten Morgen, Mr. Gale«, sagte er strahlend und winkte ihm zu. »Moment mal, Moment! Sie sind doch mein Ladenmanager, richtig?« Jeffrey sah ihn verwirrt an und brachte ein fragendes Lächeln zustande. »Sir?« »Jeffrey, es ist fünf nach zehn. Sehen Sie mal auf die Uhr. Aber meine Schaufenster zeigen nichts als grauen Filz. Was ist los mit Ihnen? Ich bezahle Sie unter anderem dafür, daß Sie die Schaufenster dekorieren, sobald Sie hier 38
zur Tür hereingekommen sind.« »Entschuldigen Sie, Mr. Gale, aber Sie haben doch gestern abend die Safeschlüssel mitgenommen.« »Was habe ich?« »Was konnte ich da machen?« »Ich habe die Safeschlüssel mit nach Hause genommen?« Seine Hand fuhr bereits in seine rechte Brusttasche, und natürlich hatte Jeffrey recht. Er ging kopfschüttelnd an ihm vorbei nach hinten zum Safe. »Ach, zum … Mist, verdammter!« Jeffrey ging eifrig neben ihm her. »Mr. Gale, was ich sagen wollte. Ich habe gestern den ganzen Tag daran denken müssen, ich habe es nicht aus dem Kopf bekommen.« Er war dieser ewig übereifrige und beflissene Typ, immer auf dem Stand dessen, was gerade Mode war. Freddy hatte ihm schon mehr als einmal gesagt, er solle sich dieses Getue für die Kundschaft aufheben. »Smaragde«, sagte Jeffrey, während sie den hinteren Raum durchquerten, »wissen Sie, Smaragde. Sie würden sich vor den Diamanten ganz fabelhaft machen. Ich weiß zwar nicht, ob das allgemein so gilt, aber für mich jedenfalls, Mr. Gale, wissen Sie, nach meiner Erfahrung sticht nichts so sehr ins Auge wie Smaragde. Nichts kommt ihnen gleich.« Freddy steckte den Schlüssel in den Safe und sagte: »Also, worauf wollen Sie hinaus?« »Was ich sagte. Was ich gerade sagte.« »Also hören Sie, ich vertraue Ihren Edelsteinvorlieben voll und ganz, aber tun Sie mir einen Gefallen. Ich habe den Kopf voll, wie Sie wissen. Ständig. Ich habe eine Menge anderer Dinge zu erledigen.« »Das weiß ich, Mr. Gale.« 39
»Also denken Sie ein bißchen für mich mit. Ich gehe abends weg, Sie sperren zu, Sie sind da, wir sind alle beide da, und Sie haben die Safeschlüssel nicht in der Tasche. Also müssen sie entweder verloren sein, oder ich muß sie haben, richtig? Also, warum halten Sie mich nicht zurück und stellen fest, ob ich sie tatsächlich habe? Denken Sie mit, Mann!« »Ja. Ja, werde ich tun.« »Warum überzeugt mich das nicht?« »Nein, nein, wirklich, ich werde das in Zukunft so halten. Und Sie nicht zuvor gehen lassen.« »Schön. Mehr verlange ich ja gar nicht. Smaragde vorne hin, sagen Sie? Schön, wunderbar.« Er entfernte sich, stieg die Treppe zum Büro hinauf, während Jeffrey sich unten die Diamanten und Smaragde aus dem Safe nahm und nach vorne zu den Schaufenstern trug. Freddy wußte, daß er sich dieser Aufgabe mit großer Sorgfalt widmen würde. Jeffrey liebte Edelsteine, Schmuck und Schmuckdesign wirklich. Er selbst liebte sie nicht, er war sich nicht einmal sicher, ob er sich jemals etwas aus ihnen gemacht hatte. Jeffrey hingegen widmete sich ihnen mit der Hingabe eines Jüngers. Das ausdruckslose Gesicht, wenn er mit den Steinen umging, war nur eine Mischung aus Trance und fast sinnlicherotischem Entzücken. Gott, Diamanten … Das Produkt aus gewaltigem Druck und immenser Hitze. Schön, das ergab eine mysteriöse Harmonie, die Kohlenstoff in eine glitzernde Substanz verwandelte. So wie aus einem unscheinbaren Kokon ein schillerndes Insekt schlüpft. Sie waren sehr alt, manche bis zu drei Milliarden Jahre. Niemand kannte das Rätsel, wie sie wanderten, aber sie taten es. Sie wanderten aus der Tiefe der Erde nach oben. Sie trieben aus dem tiefsten 40
Innern des Planeten blubbernd und in einem Schaumwirbel Tausende Kilometer aufwärts, durch alle Schichten der Erdkugel. Vulkanische Aktivität wirkte dabei mit, und am Ende lagerten sie sich irgendwo knapp unter der Oberfläche der Erdkruste ab, weit entfernt vom Ort ihres Entstehens, und dann kamen die Menschen und gruben im Schweiße ihres Angesichts nach ihnen und sammelten sie ein. Schließlich lagen sie in Schaufenstern wie den seinen, und die Leute kamen und kauften sie und verschenkten sie zur Erinnerung an besondere Ereignisse. Jahrestage. Geburtstage. Wichtige Begegnungen. Verlobungen. Rendezvous. Vielleicht sollte ich einen für John Booth mitnehmen, dachte Freddy. Er stand in seinem Büro und wählte eine Telefonnummer. Auf seinem Schreibtisch stand der Schwarzweißmonitor des Videoüberwachungssystems seines Geschäfts, auf dem er Jeffrey beobachten konnte, der unten seine Arbeit tat. Vielleicht gebe ich John Booth einen, wenn ich ihn erschieße. Er sah es genau vor sich: wie das Fleisch aufriß, wie ein sich öffnendes Fischmaul und das rosafarbene Innere sichtbar wurde. Infolge seiner Kugel, die in John Booth fuhr. Und während er dem Rufzeichen lauschte, bis Mary abhob, füllte er diese Wunde im Geiste mit Diamanten, Edelsteinen, Smaragden. Auch auf John Booths gebrochene Augen legte er welche. Zur Hölle mit ihm, dachte er, während am anderen Ende der Leitung abgehoben wurde. »Hallo?« sagte seine Exfrau Mary. Er antwortete nicht, und sie wiederholte: »Hallo?« Dem Atemholen sollten eigentlich Worte folgen, aber es blieb beim Atmen. Statt etwas zu sagen, stand er da und dachte: Mein Gott, du weißt doch genau, wer das ist. Oder? Ich weiß es doch. Ich spüre doch, wie du es bereits ahnst, wie du nachdenkst und wie deine verdammte 41
weibliche Intuition dir genau sagt: Das ist er, er ist das. Freddy ist das. Tu es. Tu’s, Freddy! Ich kann dich doch hören, Mary. Nun mach schon. Sag: Hallo, Freddy! »Haben Sie hier bei Manning angerufen?« fragte sie. Sag hallo zu mir. Tu es einfach. Sag hallo zu Freddy. »Hier spricht Mary Manning«, sagte sie, »wen möchten Sie denn sprechen?« Heute ist der Tag. Heute kommt er raus. Hast du das denn vergessen? Sag mir, daß du dich erinnerst. Raff dich schon auf. Spuck es einfach aus! Auch ohne daß ich dir ein Stichwort geben muß. Ich will dir nicht helfen. Ich bringe ihn doch für uns um, blödes Weib. Du dämliche Hure. Ich tu es. »Also, das ist doch albern!« sagte sie. Er hatte gedacht, er werde am Ende doch etwas sagen. Aber jetzt erkannte er, wie sinnlos Worte waren und wie wertvoll Schweigen. Wie wertvoll es war, unerkannt zu bleiben. Mit einem Schlag war alles, was er hatte sagen wollen, verflogen, und ihm entfuhr lediglich ein Seufzen. Dann legte sie auf, und er tat es ebenfalls. Er setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl und holte die Zigarettenpackung aus der Jackentasche. Mit einem Gefühl zunehmender Wichtigkeit drehte er die Zigarette zwischen seinen Fingern hin und her und steckte sie sich schließlich zwischen die Lippen. In der aufzischenden Flamme des Streichholzes sah er Mary daheim vor sich. Er zog den Rauch in die Lungen und stellte sich ihren verwirrten Gesichtsausdruck vor, als sie den Telefonhörer auflegte. Oder vielleicht war es das Wandtelefon gewesen und sie war in der Küche? Er lächelte. Seine feste Überzeugung, daß sie genau gewußt hatte, wer sie anrief, ließ gar keinen Raum für Zweifel. Es freute ihn, daß sie ihm nicht entkommen konnte. Daß er sie mit dem Telefon und mit 42
seinen Gedanken jederzeit erreichte und sie ihm nicht entkam. Als habe er ihren Willen in seiner Gewalt. Er inhalierte so tief, daß er den Rauch in der Lunge spürte, was ihm eine gewisse Genugtuung verschaffte. Er wußte, er und Mary waren in dieser Sache nach wie vor miteinander verbunden. Emily war noch immer das Verbindungsglied zwischen ihnen. Ihn und seine einstige Frau verband nach wie vor ein feines, aber dauerhaftes Band. Seiner Ansicht nach war es so hart und komplex wie Diamanten.
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4. KAPITEL Anfangs erreichte das Telefonklingeln Marys Bewußtsein nur oberflächlich. Sie war ungehalten. Es drang in ihre Gedanken ein. Aber es war nicht schwer, es zu verdrängen. Sie war schon halb aus der Tür und beeilte sich nervös, die Tür zuzusperren, weil sie schon ziemlich spät zur Arbeit dran war. Dann hörte sie das Klingeln. Es schien anders zu sein als sonst. Es versetzte ihr augenblicklich einen Stich. Ihr Traum stand ihr wieder vor Augen. Es waren aber weniger die Einzelheiten als die Grundstimmung dieses Traums. Er wogte über sie hinweg wie eine Welle und begrub sie unter sich. Es war ein Gefühl von einsamem Schmerz inmitten eines von blutroten Felsen versperrten Ausblicks. Was war das? Joshuabäume? Eine wandernde Gestalt? Der Drang, noch einmal zurück und ans Telefon zu gehen, war jetzt zwar sehr stark. Aber sie war zu sehr in Eile. Sie schloß die Tür zu und versperrte sie. Doch sie haderte dabei mit sich selbst. Dann klapperten ihre Absätze auf dem Gehsteig in dem fast panischen Bemühen, von dem Haus fortzukommen. Sie hielt ihren Blick angestrengt auf ihren Ford Tiempo gerichtet. Der ganze Morgen war schon eine Serie von Mißgeschicken gewesen. Eine Laufmasche im Strumpf, ein nicht auffindbarer Ohrring, verschütteter Kaffee … Sie mußte zusehen, daß sie zur Arbeit kam. Es half nichts. Als das klingelnde Telefon leiser wurde, je weiter sie sich entfernte, gewann es nur um so mehr Bedeutung. Sie machte die Wagentür auf. Das Geräusch des Schlüsselbunds erinnerte sie daran, daß sie gestern 44
vergessen hatte, die Schlüssel aus dem Starterschloß zu ziehen. Und dann hörte sie wieder das Telefonklingeln. Sie knallte die Tür zu und rannte zum Haus zurück. Es gab einfach keine Möglichkeit mehr, diesem fordernden, drängenden Telefonklingeln zu entkommen. Der vergessene Autoschlüssel erinnerte sie zudem an ihre Neigung, zwar kleine, aber unentschuldbare Fehler zu begehen, die zuweilen ziemliche Probleme nach sich zogen. Allein schierem Glück hatte sie es zu verdanken, daß ihr Wagen nicht gestohlen worden war. Diese Erkenntnis verstärkte noch ihre reuige Einsicht, daß dieser Anruf durchaus von besonderer Wichtigkeit sein konnte. Es konnte sich um ihre Zwillingssöhne handeln. Sie mußte wirklich drangehen, wollte sie sicher sein, daß es nicht die Schule war. Oder die Polizei. Oder sonst jemand, der sie vor einer bevorstehenden Katastrophe mit Anthony oder Andrew oder allen beiden warnen wollte. Sie stürmte ins Haus und rannte zum nächsten Nebenhörer. Sie meldete sich atemlos: »Hallo?« Aber niemand antwortete. Sie hatte es natürlich schon zu lange klingeln lassen. Wer immer angerufen hatte, hatte inzwischen schon aufgelegt. Trotzdem wartete sie, um ganz sicher zu sein, in der Hoffnung, sich zu irren. Vielleicht war die Leitung nur gerade kurz gestört? Noch immer verspürte sie einen Rest von Unbehagen über diesen Traum. War das vergangene Nacht gewesen? Oder war es schon länger her? Mit so wenigen Einzelheiten war es schwer, sicher zu sein. »Hallo?« sagte sie noch einmal und lauschte intensiv, weil ihr etwas – irgendein Geräusch oder ein Atemzug – verraten hatte, daß jemand in der Leitung war und wartete, aber nichts sagen wollte. Es konnte natürlich eine falsche 45
Verbindung sein. Aber wenn man sich verwählt hatte, pflegte man zu fragen, wer da sei, und sich dann zu entschuldigen oder auch nur seinen Ärger über den Irrtum zu äußern. Seltsam, daß sie trotz ihrer Eile nun nicht einfach wieder auflegte. Aber sie wußte, wenn sie wartete, würde am anderen Ende der Leitung auch gesprochen werden. Oder sie fand heraus, wer es war. Angesichts der Tatsache, daß sie in Sorge zum Telefon zurückgerannt war, es könne irgend etwas mit ihren Kindern sein, machte sie der Gedanke an jemand, der Telefonterror betrieb, wütend. Sie wartete noch eine Weile und versuchte aus dem Schweigen schlau zu werden. »Haben Sie hier bei Manning angerufen?« fragte sie. Aber niemand antwortete, obwohl sie genau spürte, daß jemand am Apparat war und wie eine dunkle Wolke auf sie zukam. Und stumme Forderungen an sie richtete. Aber die Weigerung, sich überhaupt zu melden, machte sie wütend. »Hier ist Mary Manning«, sagte sie, »wen möchten Sie denn sprechen?« Sie fühlte sich von dem anonymen Anrufer belästigt, der sich ihr aufdrängte und sich dann doch nicht zu erkennen gab. Das war pervers und grausam. Diese Geheimnistuerei war pure Arroganz. Hol dich der Teufel, dachte sie. Sie sagte: »Also, das ist doch albern!« und legte auf. Jetzt mußte sie sich erst recht beeilen. Während sie das Haus wieder sorgfältig verschloß, wuchs ihre Gereiztheit darüber, daß sie umgekehrt war und den Hörer abgenommen hatte. Denn jetzt kam sie mit Sicherheit zu spät. Sie eilte die Auffahrt hinunter und auf die Straße hinaus. Erst als ihr die Jade- und Jakarandafarben vor dem Wohnblock am Ende der Straße in die Augen stachen, war 46
ihr plötzlich schlagartig klar, wer das nur gewesen sein konnte. In ihrem Autoradio sang jemand mit einer hohen und sentimentalen Stimme im Poprhythmus von Verzicht und Verlust, und sie sah Bobby vor sich. Bobby von der Versammlung gestern abend mit seinem zerzausten, blonden Haar, seinen verschreckten Augen und seiner seltsam krummen Körperhaltung. Wieso hatte er angerufen? Was wollte er denn?
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5. KAPITEL Träger. Blöcke. Beton. Kunststoff. Stahl. Geklirr. Aluminium. Ein Durcheinander des Anorganischen. Gefängnis. Ein einziger Lärm, ein einziges Geschrei und ohne jede Spur der vielfältigen anderen Welt draußen, von der dieses Konglomerat aus Stahl und Stein hier streng abgetrennt war. Aber real war der Gestank all der Anonymen, die vor ihm hier gewesen waren, der sich schon vor seiner Zeit in die Zellenwände hier eingefressen hatte, in sie eingesunken war, sich im Stein eingenistet und festgesetzt hatte wie auch in der Luft, die sie hier ein- und ausatmeten, in den Hautschuppen, die sie absonderten, den Haaren, die sich des Nachts von ihren Köpfe lösten und auf die Kissen fielen, oder im Kamm oder der Haarbürste am Morgen hängenblieben, und wie die ihnen entzogenen Tage und Stunden und Jahre aus ihnen gesaugt wurden und in diesen sie umschließenden Mauern verschwanden und dort blieben. Mörder, Verrückte, Brandstifter, Diebe – zur Hölle mit ihnen allen. Selbst Stein und Stahl bestanden ja nur aus Partikeln, und das Öl ihrer Haut drang in die Moleküle der Gitter ein, an denen ihre Hände sich immer wieder anklammerten und festhielten – individuelle Absonderungen, die genauso persönlich und verborgen und fern waren wie das Leben, das sie geführt hatten, ehe sie durch diese Tür hier hereingekommen waren. Immer wieder waren John Booth in den ersten Momenten seiner Einkerkerung diese Gedanken gekommen und auf bestimmte Weise auch danach geblieben, jeden einzelnen folgenden Tag. Es hatte mit der erstmals hinter ihm zuknallenden Zellentür und mit den elektronisch 48
gesteuerten Zylindern begonnen, die ihm die Welt draußen verschlossen. Die Welt, die ihn so kannte, wie er wirklich war. Das laut zufallende Schloß war wie ein Hammerschlag auf seinen Kopf gewesen. Das Elend all seiner Vorgänger erwartete ihn. Er konnte es riechen und körperlich spüren. Eisige Kälte in der Ecke ohne Luftzug, und Gestank, der sich in die blankgescheuerten Mauern eingefressen hatte. Er mußte erst die Ungläubigkeit über das, was ihm widerfahren war, überwinden. Sie mußte erst abklingen. Das beständige Verleugnen, wo er war und wie lange er hier sein sollte, erforderte eine Willenskraft, die er nicht länger aufbringen konnte. Doch andererseits ließ ihn allein der Gedanke, sie aufzugeben, bereits zittern. Er mußte zur Ruhe kommen, nur wußte er nicht, ob ihm das gelang. Das war das Problem. Er wußte überhaupt nichts mehr. Er wußte nicht mehr, wie man denkt. Er war sich nicht einmal mehr sicher, was Gedanken überhaupt sind. Wie man sich ihrer bedient, wie man mit ihnen umgeht und mit ihnen fertig wird. Oder welche Uhrzeit es war und welches Datum. Nicht hier drinnen. Die mit alledem einhergehende Angst versteinerte ihm die Brust, bis er kaum noch atmen konnte. Sein Schließmuskel pulsierte, und sein Skrotum zog sich ein. Der in seinen Eingeweiden wütende Schreck verbreitete sich in alle Richtungen bis in seine Fingerspitzen und seine Haarwurzeln. Als er sich allmählich legte, war ihm, als rinne alles Leben aus ihm. Er zitterte so sehr, daß er fürchtete, es werde ein Dauerzustand bleiben, so wie bei einem Mann in der arktischen Kälte, nicht bei jemandem, der einfach nur in einem kleinen Raum eingeschlossen war, aus dem er nicht mehr herauskam. Als er seine Hand hob und sie betrachtete, sah er, daß sie kaum mehr zitterte als ein Blatt in einer milden Brise. 49
Doch dann, kam die Angst wieder, und er schrie und schrie und mußte sich selbst mit beiden Händen pressend den Mund zuhalten – so wie man versucht den herausschießenden Strahl eines Wasserrohrbruchs notdürftig zu bremsen. Er sank in sich zusammen, als versuche er sich selbst klein zu machen. Die restliche Verwandlung seiner Hände und Knie geschah, ohne daß er es richtig bemerkte. Er kniete und atmete nur ganz dünn ein und versuchte das Sirren seiner eigenen Gedanken im Kopf zum Schweigen zu bringen oder zu ignorieren. Diese erste Minute war wie eine Ewigkeit gewesen. Aber jetzt waren inzwischen vier Millionen und Zweihunderttausend weitere vergangen. Vier Millionen zweihunderttaussend Minuten. Überschlagsweise. Und jetzt durfte er endlich heraus. Zumindest war ihm das mitgeteilt worden. Der elektrische Rasierapparat in seiner Hand summte. Er tastete seine Wangen und sein Kinn nach Stellen ab, die noch nicht glatt waren. Einen Moment lang erfreute er sich noch des Fu-Manchu-Schnauzbartes, den er sich die letzen Jahre über hatte stehen lassen. Seine Augenbrauen mußten ebenfalls geschnitten werden. Die Narbe über seinem rechten Auge zog sich blaß und hakenförmig länger als fünf Zentimeter hin. Hätte schlimmer sein können. Souvenir, dachte er. Rechts neben seinem Mund war noch ein Rest Bart, den er übersehen hatte. Er griff noch einmal zum Rasierer, setzte ihn an und fühlte, wie die Stoppeln abgeschnitten wurden. Daß er an diesem Nachmittag entlassen würde, schien fast ebenso unglaublich wie die Tatsache, daß er überhaupt hierhergekommen war. Daß er nicht zum Essen ausgehen konnte oder ins Kino oder überhaupt irgendwohin. Nicht mit Freunden essen oder telefonieren, wenn ihm danach war. Mehr als einmal war es ihm passiert, daß er mitten in der Nacht erwachte, abrupt aus dem Schlaf 50
gerissen von dem kindischen Glauben an die bevorstehende Entlassung. Es war ein Zustand jenseits der Vergebung. Nicht, daß man ihn freisprach von dem, was er getan hatte. Aber die Umstände waren hinfällig geworden. Es war gar nicht geschehen. Sie war gar nicht tot. Oder falls doch, so hatte er damit nichts zu tun. Und immer, wenn sich dann die Tatsachen wieder zurückmeldeten, platzte er fast vor Erschütterung. Sie trafen ihn wie ein auf ihn geschleuderter Betonblock. Dann bekam er keine Luft mehr. Es war nicht gut, wenn andere hörten, wie man weinte. Aber irgendeiner weinte immer. Alles schien schon vor so endlos langer Zeit geschehen zu sein. Er meinte, sich zu erinnern. Aber das Gedächtnis trog allzu leicht, besonders an einem so monotonen Ort wie hier. Es war die Nacht gewesen, in der er diese Narbe abbekommen hatte. Er hatte geschrien und gebrüllt und nicht aufhören können. Einer seiner Zellennachbarn riet ihm, den Kopf an die Wand zu schlagen. Und dann brüllten und schrien sie überall. Also tat er es. Er zwang sich einfach, es zu tun, und lag da und mühte sich ab mit dem, was er nun einmal tun mußte. Er versuchte zu lernen, was er einfach lernen mußte. Die Regeln für diesen Ort waren genau dieselben wie für jeden anderen Ort. Man mußte so werden, daß man der hier geltenden Ordnung entsprach. Man mußte die Lektionen lernen, die einen die unmittelbare Umgebung lehrte. Wellen von Verfolgungswahn mit intensivem Geruch wogten durch die Korridore hier wie Müllgestank. Er fühlte sich klein und mies und schutzlos dagegen. Doch rundherum und überall lehrte ihn das Gefängnis, was er zu tun hatte. Was ihn wirklich traf, war das Gefängnis selber. Man mußte es akzeptieren, es als das sehen, was es war, und es verstehen. Der Schlüssel zum Verständnis war das Prinzip 51
des Blocks. So hatte er zu sehen gelernt. Seiner ganzen Konstruktion nach war das Gefängnis ein Block, gigantisch und komplex. Und in diesem Block gab es wieder Blöcke. Die größten wie die kleinsten Elemente eines Gefängnisses waren Blöcke. Alles Blöcke. Es bestand überhaupt nur aus Blöcken. Das mußte man erst einmal verstehen. Sein Block war die Zelle, in der er untergebracht war. Zu beiden Seiten waren andere Blöcke, ebenfalls mit Insassen, und neben diesen wieder welche. Blöcke im Zellenblock. Und dann war noch ein weiterer Block nötig. Nämlich der letzte noch fehlende Block in einem Gefängnis: den man sich selbst bauen mußte. Wenn man im Gefängnis überleben wollte, mußte man sich selbst zu diesem letzten Block machen, nämlich zur eigenen Gefängniszelle. Die Mittel dazu verschafften einem nicht nur die Stunden in der Sporthalle. Nicht nur die Kniebeugen und Liegestütze und Klimmzüge. Wiederholung und Routine. Gitterstäbe und die verschiedenen Eisenscheiben, die man hochstemmt, bis man verblödet und bis ein paar Muskeln ein paar neue nach sich gezogen haben. Nein, auch eine innere Stählung war erforderlich. Man erwarb sie sich, um den Streß des Gefängnisses zu ertragen, so, als habe sich eine Python aus Granit und Zeit um einen gewunden, die bei jedem Atemzug stärker wurde und schwerer, was aber zugleich die Lungen strapazierte und es anstrengender machte, es weiter zu versuchen. Als es Zeit war, den Rasierapparat zu säubern, drückte er auf den Auslöseknopf, und der Rasierkopf öffnete sich. Er entleerte ihn und reinigte ihn mit einem Bürstchen. Er arbeitete sorgfältig, um auch jeden restlichen Stoppelstaub zu entfernen. Allmählich kam unter dem Staub der silbrige Schimmer der Scherköpfe zum Vorschein. Sich solch kleinen Aufgaben penibel zu widmen, hatte das Leben hier 52
ermöglicht. Er drückte den Rasierkopf wieder zu und wusch sich das Gesicht mit Wasser ab. Dabei machte er auch immer zugleich seine Haare naß, damit er sie dann glatt nach hinten kämmen konnte, wobei er langsam und beherrscht atmete und jede Bewegung ganz bewußt tat. Hinter ihm auf der unteren Pritsche lag Thomas »Two Tommys« Duetmeyer, sein Zellengenosse der letzten drei Jahre. John wußte ganz genau, daß Two Tommys jede seiner Bewegungen aufmerksam verfolgte. Er konnte den Blick seiner rotgeäderten Katzenaugen in seinem Rücken spüren. »Na hoffentlich«, sagte Two Tommys, »glaubst du nicht, du kannst dich da draußen wieder beliebt machen, indem du dich glattrasierst und dir das Gesicht sorgfältig wäschst. Damit man dich wieder als vollwertig und gleichwertig aufnimmt und alles.« John packte den Rasierapparat weg und sagte nichts. »Nun sag schon, daß du keiner von diesen Scheißern bist!« John ging zu seinem Leinenbeutel, in dem sich alle seine Habseligkeiten befanden, legte den Rasierapparat in sein Futteral und verstaute diesen im Beutel. Nun blieb nur noch der Wecker einzupacken und das Foto von ihm selbst als Junge in kurzen Hosen mit seinen Eltern, alle drei mit Strohhüten. »Ich weiß schon, was du denkst, John«, sagte Two Tommys. »Das ist ganz normal und auch üblich, daß einer wie du voller Abstreiten und Ungläubigkeit ist. Was passiert denn heute?« »Ich werde entlassen.« »Siehst du? Abstreiten und Ungläubigkeit.« 53
Ach, diese Gedankenspiele, dachte John und ging zur Bettkoje. Er beugte sich über Two Tommys und kletterte auf die obere Pritsche. Er achtete sorgsam darauf, Two Tommys kräftiges, seitlich herabhängendes Bein nicht zu berühren. Mit seinen fast hundertfünfzig Kilo bei einer Größe von gut einszweiundachtzig war es überall zu eng für Two Tommys. Aus seinem hochgerutschten Hosenbein schaute ein fischweißes Bein mit einem Urwald schwarzer Haare heraus. Dieses Bein war alles, was John wahrnahm, abgesehen von dem farbenfrohen Umschlag des Taschenbuchs, das aufgeschlagen und mit dem Rücken nach oben auf Two Tommys, Brust lag, auf seinem weiten, grauen Gefängnishemd. Noch nie hatte John jemanden so viel lesen sehen wie Two Tommys. Als er hier in die Zelle bei ihm eingezogen war, hatte er Bücher unter beiden Armen gehabt und sich sofort hingesetzt und zu lesen angefangen. Er behauptete, überhaupt erst im Gefängnis lesen gelernt zu haben, und er brachte jeden Tag Stunden um Stunden damit zu, Science-fictionRomane ebenso zu verschlingen wie philosophische Abhandlungen. »Gehst du frühstücken, John?« Aber er hatte aus irgendeinem Grund keine Lust zu reden. »Es kommt vor«, sagte Two Tommys, »daß Gefangene an dem Tag, an dem sie entlassen werden, so überdreht sind, daß sie meinen, sie dürfen ihre Zelle nicht mehr verlassen. Sie wollen nicht mehr essen und denken, das beste sei, sich einfach einzuigeln, damit sie jedes Risiko vermeiden, irgendeinen möglichen Unfall, verstehst du. Jede Kleinigkeit macht ihnen angst. Paranoid, sag ich dir.« »Ich werde schon essen gehen, denke ich.« »Siehst du, du bist nicht so. Du bist nicht nervös.« 54
John atmete tief durch und legte die flache Hand auf seine Augenbraue. Vielleicht verschwand dann der leichte Druck, den er schon die ganze Zeit in der linken Kopfseite verspürte, und wurde nicht zu richtigen Kopfschmerzen. »Ich gehe auch essen«, sagte Two Tommys. »Wenn ich Zeit dazu finde.« Die Empfindung von Bewegung, die zu ihm emporstieg, sagte John, daß Two Tommys wieder zu lesen begonnen hatte. Sie waren alle beide groß und lagen auf Pritschen, die übereinander an die Wand genietet waren wie Regalbretter in einem engen Wandschrank. John war fast einsneunzig groß, muskulös und durchtrainiert von seiner Arbeit mit den Gewichten. Two Tommys war zwar auch kräftig, aber nicht so muskulös. Er war ein typischer Straßenjunkie und immer wieder im Gefängnis gewesen, seit er dreizehn war. Jetzt war er in den Dreißigern und zuletzt wegen bewaffneten Überfalls verurteilt worden. Aber es war ein Irrtum von ihm gewesen. Er hatte ihm eine harte Strafe eingetragen, und er mußte lange einsitzen. Seinen Spitznamen hatte er schon kurz nach seiner Geburt bekommen, als sein älterer Bruder zu ihrer Mutter gesagt hatte, da habe sie aber zwei Babys für den Preis eines einzigen bekommen – weil er schon damals so groß und dick war. Sag guten Tag zu deinem Bruder Tommy, sagte die Mutter. Und er: Der ist ja zwei Tommys, Mommy. Two Tommys seufzte für zwei, als halte er die Stille nicht länger aus, warf sich auf die andere Seite, daß die ganze Pritsche zitterte, und setzte sich auf. »Ich habe gerade über etwas Interessantes nachgedacht, John«, sagte er. »Willst du wissen, worüber ich nachgedacht habe?« »Im Moment nicht.« »Wann dann, John, wann dann?« 55
»Ich weiß nicht.« Man wußte nie, auf was man sich mit Two Tommys einließ. Außerdem hatte John jetzt Kopfschmerzen. Er fühlte sich nervös und aufgeregt. Da gab’s zum Beispiel das Brettspiel, das Two Tommys erfunden hatte, GEFÄNGNIS. Er hatte einfach ein altes Monopolyspiel genommen und ihm überlegt neue Namen gegeben. Da gab es jetzt den »Zigarettenhandel« oder den »Drogenhandel«, und die Straffelder schickten einen in Einzelarrest oder brummten einem weitere Knastjahre auf. Mit den Chancenkarten konnte man Aufseher bestechen oder vorzeitig zur Bewährung entlassen werden. Oder die eigenen Strafakten gingen verloren. Oder die eigene Berufung ging durch. Oder eine Beschwerde. Andererseits konnte man auch ein Messer zwischen die Rippen kriegen, oder die Hautpigmentierung konnte sich ändern, so daß ein Weißer schwarz oder ein Schwarzer weiß wurde. Auch Gangs gab es und Schlägereien. Oder der Würfelfall entschied, ob man unter der Dusche ungeschoren davonkam oder aber dran war und mißbraucht wurde. Wenn man im Besucherraum war und eine Eins und eine Drei würfelte – was in Two Tommys Kopf für »69« stand –, bekam man, ganz egal, wer der Besucher war, ob Frau oder Freundin, Bruder, Vater, Mutter, Priester oder Anwalt, einen runtergeholt; auf die jeweils entsprechende Art natürlich. »Ich verstehe deine Zurückhaltung nicht, John«, sagte Two Tommys. »Da sind wir hier, wir beide, mehr oder weniger isoliert. Wie kannst du da nicht an dem interessiert sein, was ich denke? Besonders, wenn ich hier die ganze Zeit daliege und an Descartes denke. Mr. René Descartes. Wie kannst du daran nicht interessiert sein? Vielleicht kannst du mir mal erklären –« »Ach, ich habe einfach Kopfschmerzen«, sagte John. »Und außerdem beschäftigt mich natürlich das alles von 56
heute. Kannst du dir doch denken.« »Sicher. Aber ich habe versucht mir vorzustellen, was passieren würde, wenn irgendwelche Wesen auf irgendeinem unbekannten Planeten seine Schriften lesen würden – die von René Descartes, meine ich - und, nachdem sie sie gelesen hätten, ihre Regierung nach diesen Gedanken und diesen Ideen bildeten. Wenn du also auf diesen Planeten kämst, würden sie dich sofort packen und in diese Zelle stecken. Diese verschlossene, isolierte Zelle. Oder vielleicht würden sie dich auch, wenn du nicht selbst hinkommen wolltest, kidnappen und dann eben in diese Zelle stecken. Extraterrestrisches Kidnapping, verstehst du. Es gibt Berichte darüber, wie du weißt. Zeugen. Aussagen unter Eid. Also, was wäre, wenn sie dich auf diesen Planeten schafften und dich in diese Zelle steckten und zusperrten? Kommt dir bekannt vor, wie? Dann stell dir auch noch vor, daß sie die Fenster zukleben und die Jalousie davor zuziehen. Kein Licht. Nur du und die Wahrheit. Entsprechend Mr. Descartes. Siehst du, über das alles habe ich nachgedacht. Und daß wir möglicherweise genau dort sind, auf diesem unbekannten Planeten. Daß der Staat das bereits arrangiert hat, ohne daß ich eine Ahnung davon habe. Daß dies vielleicht sogar die Idee des ganzen Baus hier ist. Die Gefängnisidee, verstehst du. Die haben uns hier besser weggeschlossen, als der gute Mr. Descartes das je fertiggebracht hätte. Gut, wir haben Licht hier, aber es ist nicht echt. Und außerdem kann ich ja jederzeit die Augen zumachen. Sollen wir es mal zusammen versuchen, John? Versuch es doch mal, nur als Experiment. Ich meine, wie soll ich es allein feststellen können? Das wäre kein ausreichender Nachweis. Aber zu zweit, das wäre schon eher was. Wir machen beide die Augen zu und finden heraus, was echt ist und was nicht. Oder was wir darüber sagen können. Ob wir tatsächlich zu 57
dieser Schlußfolgerung gelangen können: Ich denke, also bin ich.« Blödsinn, dachte John und sah auf seinen Wecker auf dem Wandbrett neben dem Ausguß. Er verspürte ein vages Erstaunen darüber, daß gerade erst neun Minuten vergangen waren, seit er sich rasiert hatte. Two Tommys ließ sich wieder auf seine Pritsche zurückfallen, und es war, als zittere die ganze Zelle davon. »Wirklich, John«, sagte er, »du führst dich heute wie ein Arschloch auf. Was ist denn bloß los mit dir? Mach doch mal die Augen zu!« Das letzte, was er wollte, war Streit. Ausgerechnet heute noch. Einmal waren sie aneinandergeraten und explodiert, aus heiterem Himmel hatten sie sich angegiftet. »Also schön«, sagte er. »Was, also schön?« »Ich hab die Augen zugemacht.« Die erzwungene Dunkelheit war eine veränderte Welt flimmernder Impressionen, in denen allerdings die Morgengeräusche von all den anderen Zellen den Flur entlang dominierten. Eine Kakophonie blechern gegeneinander anplärrender Radios, jeder auf einen anderen Sender eingestellt, dazu das Stimmengewirr und das bienenstockartige Summen elektrischer Rasierapparate. »Kann ich daran zweifeln, daß ich hier bin?« fragte Two Tommys. John lag in der Dunkelheit und antwortete nicht. »Kann ich daran zweifeln, daß ich tatsächlich wirklich bin?« fragte Two Tommys weiter. John wartete, lauschte, ließ ein paar Minuten vergehen, in denen auch von seinem Zellengenossen nichts weiter 58
kam als sein Atem. Dann fragte Two Tommys wieder: »Bist du noch da, John?« John aber war dabei, die Liste der Sachen durchzugehen, die er eingepackt hatte. Als sei es ein so umfangreiches und vielfältiges Sortiment, daß er wirklich etwas vergessen haben könnte. »Bist du wirklich?« Es ging nicht darum, daß seine Habseligkeiten Seltenheitswert gehabt hätten oder besonders wertvoll waren. Aber sie waren sein ganzer Besitz. »Bist du wirklich, John?« Er setzte sich auf. Es war, als funktioniere sein Mittelohr nicht mehr richtig, so gleichgewichtsgestört fühlte er sich. Er schüttelte den Kopf, um einen hartnäckigen Gedanken loszuwerden. Unter ihm walzte sich Two Tommys herum, bis er die Füße auf dem Boden hatte, und es war, als säßen sie auf hoher See in einem schaukelnden kleinen Boot. Er sprang an Two Tommys vorbei nach unten und eilte zu seinem Bündel, das er systematisch wieder auszupacken begann. Er bekam einfach das Gefühl nicht los, daß ihn, falls er irgend etwas, das ihm gehörte, vergaß, dies hierher zurückholen würde. »Nein, nein, du hast schon recht, John. Du hast völlig recht«, sagte Two Tommys. John hatte inzwischen jedes einzelne Stück aus seinem Sack herausgeholt und auf dem Wandbrett abgelegt. Er begann die Sachen erneut einzupacken, jeden Gegenstand prüfend. Dann überprüfte er noch einmal die Anordnung der Dinge, die wieder im Sack waren. »Ich kann mit solchen Fragen auch nicht besser umgehen als du«, sagte Two Tommys. »Das sind ganz 59
gemeine, vertrackte Fragen, sag ich dir. Ganz miese und verteufelte. Wären sie Menschen, die hier hereinspaziert kommen und sich hinsetzen wollen, dann wäre ich nicht imstande, mich zu ihnen zu setzen. Jedenfalls nicht, ohne daß ich ihnen eins verpaßte, damit die liebe Seele Ruh hat. Höchstens zum Trost, ein bißchen. Oder wenn ich high wäre. Dann vielleicht hätte ich den Mumm für diese Art Fragen. Weil sie Teufel sind, sag ich dir. Zu große Monster für mich allein. Ich hab nicht genug Pulver für sie. Jedenfalls derzeit nicht. Ich meine, ich habe ja nun gewisse Erfahrungen da draußen in der Junkie-Welt. Und darunter waren auch Sachen wie – Weißt du, was ein Visionär ist? Oder was Liebe ist?« »Nein.« »Eben. Wenn ich rumgammle, besucht mich Gott. Verstehst du, nicht daß es wie ein Besuch ist, so meine ich das nicht. Nein, er kommt wirklich an. Kommt her, füllt mich ganz mit sich auf, fließt in meinem Blut mit. Rundherum von oben bis unten und durch mich durch. Taucht im Gehirn auf. Nicht daß er deswegen aufhörte, geheimnisvoll zu sein und unergründlich. Aber irgendwie beweist er sich damit. Irgendwie wird er damit aktuell und beweist sein Vorhandensein über jeden Zweifel des Unglaubens hinaus, den ich gegen ihn hegen kann. Er ist überhaupt nicht, wie ich ihn mir vorgestellt habe, verstehst du. Überhaupt nicht wie irgendwas, wovon ich je gehört habe. Und wenn ich jetzt ein bißchen Heroin hätte, könnten Gott und ich uns zusammensetzen und uns mal mit diesen Fragen beschäftigen.« Daraufhin ging Two Tommys zum Wasserhahn und drehte ihn auf. Er bürstete und rieb sich die Hände unter dem Wasserstrahl und musterte John, der direkt neben ihm stand und das Schneidmesser seines Rasierapparates wienerte. 60
»Den hast du doch gerade schon gereinigt, John! Und sogar ganz gründlich. Ich habe es doch selbst gesehen.« »Dann mache ich es eben noch mal.« »Meinst du, du kommst wieder zurück ins Gefängnis?« »Nein.« »Mein Lieber, jetzt hast du aber einen auf Hochglanz polierten Rasierer. Hör endlich auf damit.« John hörte auf und starrte auf das korbartig gelöcherte Scherblatt und die winzigen Schermesserschrauben. »Es gibt eine Menge Wege hierher zurück«, sagte Two Tommys. »Auf irgendeinem davon komme auch ich mal wieder hierher. Sooft ich rauskomme, finde ich einen anderen Weg zurück. Also mache ich mir gar keine Gedanken darüber, welcher es diesmal ist. Ich gehe einfach weiter auf ihm, schaffe mir sozusagen eine Art Vorsprung. Ich mach’s. Ich versuch’s. Aber es ist nicht – also Methadon, das ist nicht Gott, nicht mal gottähnlich, verstehst du. Also wie soll ich es da je aufgeben.« »Weiß ich nicht.« »Methadon ist eine Fernsehshow mit Billy Graham oder sonst einem von diesen dämlichen glasaugigen Arschlöchern. Wenn sie über Gott reden, von ihm. Nichts als Wörter und die Stimme dieses bettelnden Mannes. Dieses total verlorenen Mannes, wenn du genau hinhörst. Worte über Gott. Aber nicht Gott. Ich mache gar nichts, außer daß ich dazu beitrage, die Situation zu verschlimmern und die totale Leere des Faksimiles zu demonstrieren.« Das Klopfen an der Tür erinnerte sie an den zweiten Morgenappell und ihre Pflicht, ihren Namen und ihre Häftlingsnummer hinauszurufen. 61
»John Booth«, rief John Booth. »Sechs sieben drei drei zwei sechs.« »Thomas Duetmeyer«, rief Two Tommys. »Neun fünf zwei null zwei acht.« Er trocknete sich die Hände ab und vergrub seine riesigen Handflächen und die großen Finger im Handtuch. John war zu seiner Meldung zur Tür gegangen. Er streckte die Arme durch die Gitterstäbe nach draußen, und seine Gedanken verloren sich wieder, während der Zählappell sich die Zellen entlang fortsetzte. Als begleite er den Aufseher. Als habe er auch eine Uniform an und schreite den langen Flur hinunter, schlage an jede Tür und erteile Anordnungen. »Sag mal, John«, fragte Two Tommys, »hast du dich je mit Okkultismus beschäftigt?« Er wollte unbedingt eine eindeutige Antwort haben, aber John fiel es schwer, sich von dem Flur abzuwenden und sich gedanklich wieder in die Zelle zurückzubegeben. »Ich dachte, du seist an mir interessiert, John.« »Was?« »Ich möchte doch hoffen, du hast mir überhaupt zugehört. Ich habe dich schließlich für vertrauenswürdig gehalten. Wirklich. Also was ist, John? Ich habe dich was gefragt!« John hatte keine Ahnung, wovon Two Tommys redete. Er sah ihn verständnislos an. »Über den Okkultismus, hab’ ich gefragt. Was du darüber weißt.« »Wann?« »Also manchmal glaube ich wirklich, du hörst mir gar nicht zu. Ich kann nur hoffen, du hast die ganzen Jahre hier nicht nur so getan, um zu überleben, und mir nur 62
vorgelogen, daß du mir zuhörst. Und wenn du mich nur so ertragen hast, dann ist auch das eine Lüge. Du hast mich einfach nur eingelullt. Und mich an die Wand reden lassen.« John ging zum Ausguß und begann sich die Hände zu waschen. »Hast du je mal darüber nachgedacht, wieviel Luft wir hier drin gemeinsam geatmet haben? Aus mir raus, in dich rein, aus dir raus, in mich rein? Das Buch, in dem ich da gerade lese, heißt Der Planet der Unendlichen Rückkehr – weißt du, was das ist? Also, da ist ein Planet, wo jeder Tag einer sein könnte, den du in alle Ewigkeit immer wieder durchleben mußt. Dein Leben an irgendeinem beliebigen Tag könnte also das Leben sein, das du bis in alle Ewigkeit leben mußt. Dieser eine Tag. Nur daß du eben nicht weißt, welcher Tag es sein wird. Du erfährst es erst, wenn er da ist. Das Buch ist von einem jungen Autor, einem neuen – Edward Brees Baxter heißt er. Der hat die Qualität von Philip K. Dick. Besser als Asimov, sag ich dir, und besser als Silverberg. Weit über allem, das –« Seine Stimme ging in dem plötzlichen mechanischen Lärm der auf ein elektrisches Signal hin sich seitwärts öffnenden Zellentüren im ganzen Block E unter. Die Gleichzeitigkeit schickte ihre Vibration durch den ganzen Boden und alle Mauern. Two Tommys und John Booth traten auf den Flur hinaus und gingen die Galerie entlang bis zur metallenen Treppe, wo sie in der langen Reihe der Sträflinge mit diesen zusammen hinunter in den Speisesaal zum Frühstück strömten. John setzte sich mit seinem Tablett, auf dem er Kaffee, Rührei aus Eipulver und Toast und Cornflakes hatte. Two Tommys hatte sich woanders hingesetzt, und John war froh, ihn los zu sein. Er hoffte, daß das Essen seine Kopfschmerzen vertrieb. Außerhalb der Zelle verbrachten 63
er und Two Tommys nur wenig Zeit miteinander. Two Tommys behauptete, er brauche auch die Gesellschaft anderer, der »Indoktrinierten, der Hohen und Rechtschaffenen«. Womit er andere Junkies meinte. Wahrend er seinen Kaffee trank, hörte John einen seiner beiden Tischnachbarn davon sprechen, wie er jemanden umgebracht habe oder mit angesehen habe, wie er umgebracht wurde. John hatte kein Verlangen danach, mitzuhören, aber er konnte es gar nicht vermeiden. Wenn er aufstand und wegging, zog er damit unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich. Also starrte er mit einem glasigen, tagträumerischen, abwesenden Blick angestrengt ins Leere, mit nichtssagendem Gesichtsausdruck und langsamen Bewegungen. »Also, da liegt er also am Straßenrand, nicht?« sagte sein Nachbar. »Und winselt und wimmert. Was sonst? Richtig. Ein Blödmann. Warum krepierte er nicht einfach? Armselig, so was. Also besorgte ich es ihm.« Seine schwarzen Haarlocken zitterten über seinen hochgezogenen Schultern, und John konnte nicht anders, als der Hand zu folgen, die mit zwei ausgestreckten Fingern hinter sein eigenes Ohr zielte: »Plopp, plopp, plopp und ade.« Auf dem Rückweg in seine Zelle hörte er immer noch die Stimme dieses Kerls. Sie bohrte ein Loch in sein Gehirn. Er hatte das Wort »ade« fast gesungen und den Toten mit sadistischem Vergnügen erniedrigt und sich über ihn lustig gemacht. Nicht, daß es das erste Mal gewesen wäre, daß er mit solcher Gefühlskälte konfrontiert wurde. Er hatte sie wahrscheinlich selbst gezeigt. Zumindest als Selbstschutz. Beispielsweise als er diesen kahlköpfigen kleinen Kerl auf der Treppe hatte liegen sehen, ein rötlicher Darm glitt mit dem Blut heraus, und seine Hände konnten ihn nicht mehr in seinen aufgeschlitzten Leib zurückpressen. Oder als er 64
die Schreie dieses Mannes in mittleren Jahren hörte, ein Veruntreuer und Dieb, den sie in den Lagerraum brachten, um ihn zu mißbrauchen, wobei sie laut ihre Häftlingsnummern schrien, damit er, da er von Beruf Buchhalter war, auch genau darüber Buch führen konnte. Oder an dem Tag, als er nichtsahnend um die Ecke kam und direkt vor dem riesigen nackten Rücken und Hintern stand. Die Hose war dem Jungen bis zu den Knöcheln hinuntergerutscht. Die Haut war weiß wie Papier, aber gesprenkelt mit roten Pickeln, und darüber die angsterfüllten Augen, die zu ihm hochsahen. Und trotzdem – was er da soeben mit angehört hatte, während er sein gesalzenes und gepfeffertes Rührei aß, beschäftigte ihn weiter. Es gab Leute, die das einfach taten und sich den Teufel darum scherten. Andere fanden sogar Vergnügen daran. Fast beneidete er sie um ihre Gleichgültigkeit und Empfindungslosigkeit. Vermutlich hat er denjenigen, den er umgebracht hatte, gehaßt. Wahrscheinlich hatte er ihn gekannt und einen guten Grund gehabt, ihn zu töten. Während er, John, sich einfach nur amüsierte, zu schnell fuhr, sich betrank, sich gut fühlte und dann ein Kind totfuhr, das er überhaupt nicht kannte. Ein kleines Mädchen. Vielleicht war es das, was den ganzen Unterschied ausmachte. Wenn man tat, was man tun wollte. Wenn man jemanden haßte und ihn dann umbrachte, weil man ihn umbringen wollte. Wie der Vater des kleinen Mädchens. Der ihm Rache geschworen hatte. Vielleicht würde er es genauso machen wie dieser Mann am Tisch vorhin, dachte er. Genauso kaltblütig. Eiskalt. Als Two Tommys in die Zelle zurückkam, ging er direkt zum Waschbecken und begann sich die Zähne zu putzen. Er veranstaltete eine wahre Gurgel- und Spuckorgie, die dann abrupt aufhörte, als er sich zu John umwandte, noch 65
mit rosa Zahnpastaschaum auf den Lippen. »John Booth?« »Ja?« »Meinst du, daß du mir ein wenig Heroin hereinschmuggeln könntest? Nein, antworte nicht sofort. Nimm dir Zeit zum Überlegen. Das ist ja keine so einfache Sache. Ich meine, wenn du draußen bist. Würdest du das für mich tun? Immer mal ’n bißchen Stoff reinschmuggeln?« »Nein.« »Warte doch, warte. Du hast es nicht genau durchdacht.« »Nein«, wiederholte John. »Das kann ich nicht tun. Nein.« »Würdest du da liegenbleiben, John, einfach liegenbleiben, wenn du wüßtest, daß du es für immer tun müßtest? Wenn du wüßtest, daß du für den ganzen Rest deines beschissenen Lebens genau das tun müßtest, was du jetzt gerade tust, würdest du es dann tun? Würdest du diese Minuten jetzt so zubringen, wenn du wüßtest, du müßtest das fortan ewig tun, John?« Two Tommys ließ sich auf seine Pritsche fallen. John hatte das Bedürfnis, tief einzuatmen und diesen Atem zu halten, den ganzen Vormittag lang, bis alle seine Formalitäten erledigt waren und man ihn entlassen hatte. Sie mußten jetzt sowieso bald kommen. Hoffentlich noch bevor Two Tommys auf die Idee kam, zu ihm heraufzuklettern und ihn umzubringen. Oder sich auf ihn legte, ihn zudeckte und ihn verbarg, so daß niemand wußte, daß er da war. Er verschränkte die Arme und sagte sich, daß es keine gute Idee sei, jetzt aufzustehen und den Schädel an die Wand zu schlagen. Das Gefühl, dies helfe ihm und beruhige ihn, konnte nicht stimmen. Damit konnte er seine 66
Empfindungen nicht ändern. Das wußte er inzwischen seit langem. Obwohl er sich an eine Schmerzaufwallung, die wie Zickzackblitze durch ihn hindurchfuhr, genau erinnerte, die ihn aber zusammenhielt wie genähte Stiche. Two Tommys begann laut zu lesen. In seiner Stimme waren sein mühsam unterdrückter Ärger und seine bemühte Heiterkeit nicht zu überhören: »Kann ich daran zweifeln, daß ich in einem Morgenrock hier am Kaminfeuer sitze mit diesen Dokumenten in der Hand? Ja, eine Zeitlang habe ich davon geträumt, ich sei hier, während ich tatsächlich nackt im Bett lag. Verrückte haben ja zuweilen Halluzinationen, und so mag es durchaus sein, daß ich mich in eben so einem Zustand befinde.« Er brach ab. Sie lagen beide eine Weile schweigend auf ihren unbequemen Pritschen. Als Two Tommys dann weiterlas, klang es, als sei er es müde, gegen seine aufwallenden Emotionen anzukämpfen: »Träume jedoch konfrontieren uns wie Gemälde mit Kopien echter Dinge, jedenfalls was ihre einzelnen Elemente angeht. Die dingliche Natur ist daher …« Diesmal hatte das entstehende Schweigen eine gewisse Endgültigkeit. Er schien aufgegeben zu haben. Und als die Stille sich hinzuziehen begann, fing John schon an zu glauben, sie werde von Dauer sein und er habe nun endlich Zeit für seine eigenen Gedanken. Doch dann sprach Two Tommys weiter. »Es gibt etwas, das ich dir sagen muß.« John wollte es nicht wissen und es interessierte ihn auch nicht, aber er fragte doch: »Was?« »Es ist mir völlig gleich, ob du es wissen willst oder nicht. Was ist das für ein Ton, in dem du da mit mir sprichst? Es ist mir völlig egal, was du willst oder nicht. 67
Wirklich. Ich weiß selber, was wichtig ist. Ich kenne meine Verantwortungen.« »Was ist denn?« sagte John. »Das kleine Mädchen, das du überfahren hast. Gut, du warst betrunken. Das ist zugleich Ursache und Entschuldigung, nicht? Du solltest mal darüber nachdenken, worüber wir gesprochen haben. Nicht über alles, aber über das Entscheidende. Nur über das Wichtige. Und über den Drang, den du verspürt hast, dir selber etwas anzutun. Und damit meine ich, dir wirklich etwas antun wollen. Und wie es an dir zerrt. Du weißt, was ich meine. Weil sie dich immer verfolgen wird.« »Wovon redest du denn?« »Das habe ich dir gerade gesagt.« »Von wem?« »Du weißt sehr gut, von wem. Und sie ist eine Hexe.« »Was?« »Jeder kommt mal raus. Glaub nur nicht, du bis so verdammt heilig und fromm und vollkommen, weil du es geschafft hast. Ich habe nämlich gehört, was in deinem Schlaf alles passiert. Wie sie hinter dir her ist. Ich habe gehört, wie du nachts mit ihr kämpfst. Sie abzuwehren versuchst. Und bettelst und jammerst in deinem Schlaf. Ich hoffe nur, du willst das nicht etwa abstreiten. Wie könntest du das auch? Du hast geschlafen, und ich hab dich gehört. Ich war wach. Ich bin davon aufgewacht. Ich habe dich kämpfen gehört und gespürt, wie du gezittert hast. Deine ganze Pritsche hat gezittert. Ich will dir aber helfen. Wenn du mir etwas Stoff bringst.« »Was?« »Sie ist hinter dir her. Du mußt dich vor ihr hüten.« »Wovon redest du überhaupt? Was zum Teufel willst du 68
denn –« »Du mußt. Tu’s einfach, schmuggle es rein!« »Nein.« »Sag nicht nein. Sag das nicht.« »Ich kann das nicht machen.« »Überlege es dir.« »Nein.« »Überlege es dir! Du denkst nicht darüber nach!« »Ich kann es nicht tun.« »Bist du dir ganz sicher?« »Ja.« »Dann kann ich dir auch nicht gegen sie helfen. Das würde ich aber gerne.« John hielt es für besser, nichts mehr zu sagen. »Ist das also deine Antwort? Dein letztes Wort?« John atmete tief durch und blickte wieder zu seinem Wecker hinüber. Sein einziges Stück, das er noch nicht eingepackt hatte. Erst zwölf Minuten waren seit ihrer Rückkehr vom Frühstück vergangen.
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6. KAPITEL Stuart und Helen Booth stritten sich nicht, aber sie hätten es leicht tun können. Sehr viel weniger wäre dazu nötig gewesen als ein Tag wie dieser, der sie nun schon all die Jahre aus der Fassung brachte. Sie mußte allerdings zugeben, daß sie gut damit zurechtgekommen waren. Beide beschäftigten sich stumm und scheinbar ruhig und gefaßt mit irgend etwas, nur um beschäftigt zu sein. Stuart hatte sich hinter seiner Zeitung verschanzt, und sie hing ihren Gedanken nach, während sie in ihrem Volvo-Kombi draußen in der Wüste vor dem Lancaster-Staatsgefängnis warteten. Gespensterhafte Vibrationen gingen davon aus, sie konnte sie genau spüren. Sie glaubte an solche Dinge oder beschäftigte sich wenigstens mit ihnen. Die Gedanken an John zeigten ihr ein pummeliges blondes Kerlchen in einem gelben Spielhöschen, das Wasser in den Sandkasten schüttete. Es war schwer zu glauben, daß er sich hinter diesen Mauern dort befand. Ein scharfer, trockener Wind fegte über das Ödland und schlug so heftig gegen die Seite des Wagens, daß er wackelte. Sie zitterten, während die pfeifende Bö sich wieder legte. Sie spürten den durch die Ritzen eindringenden starken Luftzug. Stuart sah alt aus. Er war in den Fünfzigern, aber er wirkte älter. Er sah verbrauchter aus und war dick. Das kurzärmelige musterbedruckte Hemd, das er trug, spannte und dehnte sich in den Nähten. Er fand es deprimierend, mit ansehen zu müssen, wie der eigene Körper allmählich verfiel, gefolgt vom Gehirn. Zuweilen verfiel es sogar zuerst. Ein weiterer Wagen war herangefahren, ein blitzender Pontiac Bonneville. Stuart warf einen prüfenden Blick 70
hinüber und vertiefte sich dann wieder in seine Zeitung. Da der Wagen trotz des Staubs, der sich über ihn gelegt hatte, blitzende Stoßstangen und hellrote Kotflügel hatte, mußte er wohl nagelneu sein, dachte Helen. Der Kühler vorne war ein kleines, schmales Oval, das aussah wie ein abfällig verzogener Mund. Zwei Schwarze saßen darin. Sie wollte sie eine Weile betrachten, doch als sich einer von ihnen bewegte, fühlte sie, daß er gleich zu ihr herübersehen würde, und sie schlug rasch den Blick nieder und fuhr sich mit der Hand über die Brauen. Nun warteten schon drei Autos. Der dritte Wagen war ein alter Chevrolet mit einer jungen blonden Frau mit Sonnenbrille am Steuer. Sie war eine knappe halbe Stunde nach den Booths angekommen. Sie war herangebraust, hatte mit quietschenden Bremsen angehalten und sich mit zusammengekniffenem Mund und etwas verblüfft umgesehen, als sei sie sich nicht ganz sicher, ob sie auch am rechten Ort war. Eine Weile hatte das schwere Dröhnen des Motors noch angedauert, und sie ließ ihr Autoradio angeschaltet. Einsam, dachte Helen, als sie auf die dunklen Gläser der Sonnenbrille vor den noch jungen Augen des Mädchens blickte. Ihr Blondkopf lag auf der Kopfstütze, und die Country-und-Western-Musik vergrößerte die traurige Stimmung an diesem Nachmittag in der weiten, offenen Wüste. Es erleichterte sie, daß sie und Stuart sich nicht stritten. Sie hatte das Gefühl, dies als gutes Omen nehmen zu dürfen. Sie wußte zwar nicht genau, ob sie irgendein Glück verdienten, aber brauchen konnten sie es auf jeden Fall. Beinahe hätte sie ja auch wieder einen Streit bewirkt. Irgendwie brachte sie es immer fertig, die Lunte zu zünden, wenn sie etwa die Thermosflasche vergaß – ihre Hauptaufgabe, wenn sie morgens das Haus verließen. 71
Seine aggressiven Ausbrüche auf solche Fehler hin konnten ziemlich unangenehm sein, so daß unter seinen Verwünschungen ihr ganzes Leben bis auf die Grundmauern zerbröselte und sie das Gefühl hatte, wie ein altes, abbruchreifes Haus zu sein. Hinterher pflegte er dann in dumpfes Brüten zu versinken. Er war imstande, sie so zu ignorieren, als liege sie schon im Sarg. Nichts blieb für sie übrig als der sich wie eine Mauer um ihn herum auftürmende Groll, der sie so sehr aussperrte, daß sie sich schließlich wie nicht mehr vorhanden und tot vorkam. Aber da ihr Sohn jetzt aus dem Gefängnis kam, wollten sie natürlich, daß alles gut lief. Doch kaum zwanzig Minuten von zu Hause weg, hatte ein aus einer Tankstelle kommender Teenager mit einem Kaffeebecher sie automatisch nach der Thermosflasche greifen lassen, falls Stuart nach einer Tasse verlangte. Aber die Thermosflasche war nicht da gewesen, weder auf dem Boden noch auf dem Rücksitz. Und Stuart liebte Kaffee. Vorzugsweise den selbstgebrühten aus den von ihm selbst gemahlenen Kaffeebohnen. Und nun hatte sie schon wieder die Thermosflasche vergessen. Doch es war sein Fehler, wirklich. Er hatte sie in allerletzter Minute noch einmal ins Haus zurückgeschickt. Sie waren aufbruchbereit gewesen, der Motor lief bereits, die Thermosflasche lag auf ihrem Schoß, als ihm auf einmal einfiel, daß sie wahrscheinlich die Schlafzimmerfenster offengelassen hätten. Sie wußte, daß alles in Ordnung war. Aber sie wollte nicht streiten. An der Haustür ermahnte sie sich selbst, nicht zu vergessen, sie hernach wieder ordentlich abzuschließen. Und damit sie es auch ja nicht vergaß, ließ sie den Schlüssel im Türschloß stecken. Deshalb ging sie schon mit der Angst in das Schlafzimmer, womöglich die 72
Schlüssel in der Haustür steckenzulassen, wenn sie dann endlich losfuhren. Sie ging gedanklich noch mal die Kontrolliste durch, stellte die Thermosflasche auf die Kommode, öffnete, schloß und verriegelte die Schlafzimmerfenster erneut, rannte los, als er ungeduldig hupte. Sie beeilte sich, stieg hastig ein, und er trat aufs Gas, während sie noch dabei war, sich anzuschnallen. Sie wollten doch nicht zu spät kommen, sagte er. Sie konnten John doch nicht da mitten in der Wüste herumstehen und warten und sich fragen lassen, wo denn seine Eltern blieben, oder? Er war ja auch sicher nicht der einzige Häftling, der heute entlassen wurde. Da gab es Diebe und Mörder und Vergewaltiger und Einbrecher. Wollte sie etwa, daß John mit einem von ihnen davonfuhr? Sie sagte nichts, denn sie haßte es, wenn er in so halsbrecherischem Tempo fuhr, wenn er sich aufregte. Außerdem hatten sie noch Zeit genug. Nach ein paar Blocks würde er von selbst wieder langsamer fahren, wie sie wußte. Vorausgesetzt, sie diskutierte nicht mit ihm oder verteidigte sich. Und so verlief die Fahrt ruhig, bis sie an diese Tankstelle kamen und der Teenager sie an die vergessene Thermosflasche erinnerte. Es dauerte auch keine fünf Minuten mehr, bis er nach einer Tasse Kaffee verlangte. Inzwischen war sie dermaßen nervös und aufgeregt, daß sie fast in Tränen ausbrach, als er wie üblich die Hand fordernd herüberstreckte. Obendrein hatte sie einen derartigen Druck auf der Blase, daß sie nicht mehr wußte, ob sie wegen ihres Schuldgefühls losheulen wollte oder aus Angst, daß sie sich in die Hosen machen würde. Ein Zittern durchlief ihn, als er begriff. Dann schüttelte er aber nur den Kopf, als wolle er sich daran erinnern, daß er doch gewußt habe, daß auf sie kein Verlaß sei. Seine 73
Finger umklammerten das Steuerrad, und seine Augenlider sanken nach unten. Während sie darauf wartete, daß er endlich etwas sagte, sah sie, daß er tatsächlich die Augen völlig geschlossen hatte, und zwar entschieden zu lange für jemand, der am Steuer eines Autos saß. Aber sie wagte es nicht, etwas zu sagen, obwohl sie Angst bekam. Sie warf nur hektische Blicke nach vorne und hinten, während sie mit fünfundsechzig Meilen die Stunde das endlose graue Band der Autobahn entlangsausten. Sie räusperte sich, damit er zur Besinnung komme. Vor ihnen kam eine Kurve in Sicht, die dann ziemlich scharf wurde. Sie starrte ihn an und sagte laut im Geiste: Stuart! Doch er reagierte nicht, und sie dachte schon, sie müsse schließlich doch schreien oder ihn schütteln. Sie kämpfte mit ihrer Zunge und ihrem Atem um eine Warnung, als er plötzlich das Steuer zu ihrer Seite herumriß und dann wieder zurück zur Straße. Zu ihrem Erstaunen war Vergebung in seinem Blick. »Na ja«, seufzte er nur. Sie konnte nur noch blinzeln. Er setzte sich wieder so hin, wie es das graue Band der Straße und der entgegenkommende Verkehr verlangten. »Wir können ja unterwegs anhalten und Kaffee kaufen«, sagte er. »Wenn wir guten finden, dann geht das auch. Manche von diesen Raststätten haben recht guten Java, wirklich.« Nach einer Weile bog er auf die Kies- und Schlammzufahrt einer Raststätte ein. Sie bestand nur aus einem auf Ziegelsteine aufgebockten Aluminiumtrailer mit großen Fenstern. Er kaufte Kaffee für sie beide und für sie auch noch ein Pfirsichhörnchen. Als er die Treppe herunterkam, winkte er ihr damit zu. Sie wartete im Wagen. 74
»Es tut mir wirklich leid«, sagte sie, als sie weiterfuhren. Er nickte und nippte an seinem Kaffee. »Schon gut. Das Zeug hier schmeckt.« »Ich könnte mich selbst ohrfeigen.« »Das würde auch nichts ändern.« »Ich habe sie drinnen vergessen, als ich noch mal reinging und die Fenster überprüfte.« »Aha.« »Ich bin ganz sicher.« Sie aß ihr Hörnchen, das sie geziert zwischen den Fingerspitzen hielt. »Und sicher waren auch die Fenster ordentlich zu und ich habe dich ganz umsonst noch einmal reingeschickt?« »Ja, aber ich hätte den Kaffee nicht stehenlassen sollen.« »Schon gut, schon gut. Wir sind wohl alle beide ziemlich aufgeregt. So sehe ich das. Wir sind alle beide verdammt aufgeregt, nicht? Und warum sollten wir’s auch nicht sein.« Er warf ihr einen kurzen Blick zu. Aber die Nachdenklichkeit, mit der er dies tat, war nicht seine einzige Empfindung. Es brauchte wirklich nicht viel, um sie daran zu erinnern, was für Probleme in ihr Leben gekommen waren, seit ihr Sohn dieses kleine Mädchen überfahren hatte. Die ganzen vierunddreißig Jahre ihres gemeinsamen Lebens waren aus dem Gleis geraten und zu Skandalberichten im Fernsehen geworden. Mit einemmal war sie jemand mit einem Kainsmal auf der Stirn gewesen: Die Mutter des betrunkenen Autofahrers, der ein Kind totfuhr. Polizisten. Kautionsverhandlungen. Besuchszeiten. Und dann die anderen Eltern, die Mutter und der Vater des toten Mädchens mit ihren haßerfüllten Blicken und den Tränen in den Augen. Was hätte man ihnen schon sagen können. 75
Sie hielten alles doch sowieso nur für Lüge, dachte Smart, und daß sie ihren Sohn trotz allem weiterliebten, war bereits ein neues Verbrechen. Sie haßten sie, als hätten sie selbst das Auto gefahren. Und irgendwie war es ja auch so. Manchmal hatte er tatsächlich das Gefühl, er selbst sei es gewesen, der am Steuer saß und achtlos dieses Kind überfuhr, während ihr kleiner Johnny irgendwo anders war, selbst noch ein Baby in ihren Armen, das im Laufstall spielte, sicher geborgen zu Hause oder mit seinem Daddy bei irgendeinem Spiel; oder als er als kleiner Junge in blauen Shorts und einem kurzärmeligen Hemd in einem Kindertretauto auf dem Gehsteig vor ihrem ersten Haus in Seattle saß. Das war eine angenehme Wohngegend gewesen, mit den Meyers und Wilsons als Nachbarn. Ach, wären sie doch nicht umgezogen! Als sie angekommen waren, hielt Stuart seine Armbanduhr ans Fenster, als sei es nicht hell genug im Wagen, um die Uhrzeit abzulesen. Doch die Sonne stand noch immer hoch. Er wollte nur die Wichtigkeit der Geste unterstreichen. Helen blickte hinaus auf den in alle Richtungen wirbelnden, stürmischen Wind. Kam John wirklich bald heraus? Um sie herum erstreckte sich die Mojave-Wüste in Bereichen von Gestein und seltsamen Sand- und Erdformationen von lichtheller und goldener Färbung. Sie inhalierte den Rauch ihrer Zigarette, die sie bis zum kurzen Stummel abgeraucht hatte, und blies ihn seufzend wieder aus. Stuart blätterte seine Zeitung um und tat weiter so, als lese er wirklich. Aber an der starren Haltung seines Kopfs erkannte Helen genau, daß er nur geistesabwesend vor sich hin sah, durch seine Bifokalbrillengläser hindurch in eine weite Ferne, in der das bedruckte Zeitungspapier lediglich einen diffusen Hintergrund abgab. 76
»Sind das die neuen verordneten Gläser?« fragte sie. »Was?« »Du kannst sie umtauschen, wenn du willst. Du trägst sie ja noch zur Probe.« »Das weiß ich.« Helen drückte ihre Zigarette aus und griff sogleich nach einer anderen. Da erregten Bewegung und Unruhe ihre Aufmerksamkeit. Das Tor hatte sich geöffnet. Ein ebener, leerer Hof wurde durch die Einfahrt sichtbar. Eine Gruppe Häftlinge in einheitlicher Sträflingskleidung ging rasch parallel an dem Tor vorbei. Fast alle waren Schwarze. »Was bedeutet das?« fragte sie. »Warum haben sie das Tor geöffnet?« »Ich weiß es nicht.« Sie warf einen Blick auf den Bonneville und die beiden darinsitzenden Männer. Es war nicht das erst Mal, daß sie gegen diese Gedanken ankämpfen mußte, aber sie hoffte, nie wieder an solche Leute gemeinsam mit ihrem Sohn in einem Käfig denken zu müssen. Sich so ein Leben auch nur vorzustellen, war angsterregend. Wenn man es so nennen konnte. Sie hatte das Gefühl, auf einen völlig fremden, brutalen Planeten zu blicken und es nicht ertragen zu können. Sie schüttelte diese Vorstellung heftig von sich ab. »Wie spät ist es, Stuart?« »Was?« sagte Stuart, sah aber auf seine Armbanduhr. »Ich weiß nicht, warum sie ihn zu den Schwarzen steckten. Hast du die da gerade gesehen?« »Wahrscheinlich sind es nur solche, die Pflichtverteidiger hatten.« »Nein, nein, davon rede ich doch nicht. Ich meine was ganz anderes. Ich rede nicht wirklich von denen da, Stuart.« 77
»Aha«, sagte er. Er wandte sich verwirrt zu dem Fenster auf seiner Seite, als habe er nicht recht wahrgenommen, wo er sich befand, und sehe sich deshalb jetzt etwas genauer um. Nach einer Weile fiel ihr ein, daß er ihr immer noch nicht die Uhrzeit gesagt hatte, die sie wissen wollte, und sie überlegte, ob sie ihm seine Ungefälligkeit vorwerfen sollte. Er hatte das Fenster ein wenig heruntergedreht und versuchte ein summendes Insekt aus dem Wageninneren nach draußen zu verjagen. Sie starrte ihn an und fragte sich, wie lange er das wohl als Ausrede benutzen wolle, um sie zu ignorieren und sie auf die Antwort auf eine so simple Frage warten zu lassen. Wenn sie auch gar nicht wirklich auf die Antwort wartete. Nein, nicht jetzt, so wie sie sich fühlte. Ihr ganzer Leib spannte sich an gegen etwas, das gegen ihn drückte. Sie wußte nicht, was sie da tat, doch dann wurde ihr klar, daß sie ihn zu erreichen versuchte; wortlos, telepathisch. Mit der Kraft ihrer langen gemeinsamen Jahre. Sie war voll schrecklicher Gedanken, die sie nicht einmal vor sich selbst zugeben wollte. Manchmal hatte sie Angst, daß der, auf den sie hier wartete und der jeden Moment aus dem Gefängnistor kommen mußte, gar nicht mehr wirklich ihr Sohn sei. Er würde zwar noch genauso aussehen und genauso reden, aber sich ansonsten verändert haben, wie es eben manchmal Leute tun, auch gegen ihren eigenen Willen. Wenn sie zum Beispiel schamlos intime Gedanken haben, die sie niemandem mitteilen können. Oder wenn sie an einer unheilbaren Krankheit leiden. Irgendwie vermutete sie, ihr Mann wisse von diesen Dingen ganz genau. Womöglich hatte er, während ihr nur die Fragen blieben, sogar Antworten darauf. Stuart drehte das Fenster wieder hoch, nachdem es ihm schließlich gelungen war, den Käfer oder was es war mit 78
seinen Fingern hinauszuschnipsen. Sein Finger fuhr wieder so schnell zurück, als sei er gestochen worden. Das Insekt war nur noch ein winziger schimmernder Punkt draußen in der Wüste. »Nun ja«, sagte er, »besser als Folsom ist es allemal.« »Das stimmt, Folsom war ziemlich schlimm.« »Ich war so froh, als sie ihn hier eingewiesen haben. Ich war richtig dankbar. Erinnerst du dich?« »Ja, ja. Das war ein guter Tag.« Sie lächelte ihn an, aber er war ganz ernst. Er nickte nur zustimmend mit seinem großen, silberhaarigen Kopf. »Deine Gebete sind erhört worden«, sagte er. »Jetzt kommt er ja auch hier raus.« Sollte das die Antwort auf ihre Frage von vorhin sein? Die beste, die er geben konnte? Die noch unangezündete Zigarette zwischen ihren Fingern erregte plötzlich ihre Aufmerksamkeit. Sie drehte sie nachdenklich hin und her, als sei sie etwas, das sie noch nie zuvor gesehen hatte. »Es ist schon zwanzig Minuten über die Zeit«, sagte er. »So ungefähr, glaube ich.« Er warf einen schnellen Blick auf seine Uhr. Sie starrte unverwandt hinüber zu dem Gefängnistor. Als sich ihre wirren Gedanken etwas ordneten, war sie verwundert, als ihr nun bestimmte Einzelheiten auffielen, die sie bisher überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Sie stellte verblüfft fest, daß das Tor, auf das sie blickte, blau gestrichen war. Sie fand es überaus seltsam, daß man auf etwas blicken und es doch nicht wahrnehmen konnte. Genau, was ihr Kunstlehrer im YWCA auch immer sagte. Seit einem Jahr ging sie dorthin. Sie versuchte den genauen Farbton zu bestimmen. Es war Himmelblau, und der Farbton und die Torform kamen ihr richtig heiter vor. 79
»Sieh doch mal, Stuart. Siehst du, wie alle Türen blau angemalt sind?« »Was?« »Die Türen sind alle blau. Du siehst rot durch blau, und gelb wird deine Schau«, zitierte sie einen Spruch, den sie aufgeschnappt und sich gemerkt hatte. Sie versuchte eine gute Schülerin zu sein. Stuart starrte an ihr vorbei auf das Tor. »Wovon sprichst du denn?« »Das ist so ein kleiner Merksatz aus dem Kurs, damit man es sich leichter merkt. Hinter oder in Rot ist auch zugleich Blau und Gelb.« »Versteh’ ich nicht.« »Gott, es ist nur so ein Spruch. Vielleicht malen sie die Tore nur deshalb blau an, um dieses Gefühl zu erzeugen. Damit die Gefangenen drinnen das Gefühl haben, sie könnten heraussehen, und damit es nicht so bedrückend für sie ist. Könnte doch sein, oder?« »Vielleicht, aber ich glaube es nicht.« »Wieso nicht?« »Wahrscheinlich ist es einfach nur Zufall.« »Zufall?« Sie sah noch einmal hin. »Alle? Du meinst, sie hätten diese Türen und Tore einfach nur zufällig blau gestrichen?« »Nein, nicht daß sie sie alle blau gestrichen haben. Aber daß in dem Blau diese verborgene aufmunternde Wirkung sein soll, ist wahrscheinlich nur Zufall.« »Du meinst, die kannten diese Regel nicht und haben es nicht deshalb gemacht, damit –« Stuart aber öffnete die Tür und stieg wortlos aus. Er streckte sich, weil ihn das lange Warten ganz steif gemacht hatte. 80
Einer der Schwarzen sprang auf und rannte ein Stück in die Wüste hinaus, wo er ein armseliges Gestrüpp mit dem Fuß trat. Einer der anderen sah ihm mit lauten Anfeuerungsrufen zu. Es war unheimlich, obwohl er dabei lächelte. Als der andere wieder an der Stelle war, von wo er losgerannt war, machte er einen Luftsprung und kam seitwärts wieder herunter. Seine Absätze gruben sich in den Sand und warfen diesen hoch. Dann feierten die beiden ihr Wiedersehen mit einem bizarren und komplizierten Händedruckritual und mit einer Menge Schlägen und Schubsern und Hüftstößen und Fingerschnippen. Die Blonde drüben stieg aus und lehnte sich, herausfordernd die Hüfte einknickend, an die offene Wagentür, nachdem sie sich nach unten gebeugt und zuerst am einen Bein, dann am anderen ihren kurzen, regenbogenfarbenen, dehnbaren Rock am Saum glattgezogen hatte. Sie machte es so, daß man den oberen Saum ihrer Strümpfe und ein Stück nackten Fleisches bis zum Strumpfhalter sehen konnte. Die Bluse hatte sie ohnehin weit offen, und ihr Busen drängte sich darunter aus einem Spitzenmieder. Eine gefährliche Welt, dachte Helen. Dann machte auch sie die Tür auf und stieg aus. Der trockene Wind in diesem leicht gespenstischen Licht überraschte sie. Sie holte Luft und zwang sich bewußt, trotz ihrer Anspannung ein freundliches Gesicht zu machen. Sie hielt sich am oberen Rand der Tür fest und stellte sich auf die Zehenspitzen, damit sie den wie eine Fata Morgana flirrenden Wagen besser sehen konnte, in dem jetzt endlich hinter den vom späten Nachmittagslicht undurchsichtigen Fenstern ihr Sohn zu ihr gebracht wurde.
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7. KAPITEL Die Gitarrenklänge klirrten und dröhnten aus den modernsten Verstärkern und Lautsprechern und schickten ihre Akkorde hinaus, wo sie zusammen mit dem Kanonendonner der Schlagzeugtrommel Tagträume von Brüsten und Wollust erzeugten. Freddy durchschaute die ganze Geräuschflut. Bumbum. Er unterdrückte seinen Zorn. Diese blödsinnigen, träumerischen, standardisierten, mehr oder minder kranken Sentimentalitäten, aus denen die Texte dieser Lieder bestanden! Was waren sie denn in Wirklichkeit? Rumms bumbum und sonst nichts. Er war auf Beutejagd. Die Stripperinnen kamen eine nach der anderen heraus, reine Wachsfiguren am Fließband, die man ins Licht der Scheinwerfer hinausschickte. Er wußte gar nicht mehr, wie lange er schon hier war. Zuerst eine Weile im Laden, dann ein paar Telefonate, dann hier. Hinauf zur Tür und hinein durch den weißen Frost des Fensters mit der Silhouette der blauen Revuetänzerinnen, die die Beine hochschmeißen, eine Brust hier, eine Hinterbacke oder Haarsträhne da. Er legte die Hand auf einen dieser Hintern und drängte sich in die Musik und den Lärm hinein. Am Tisch direkt vor ihm saß ein schon grauhaariger und blaßgesichtiger Mann im Sportsakko mit Nadelstreifenhemd und offenem Kragen. Die Augen fielen ihm fast heraus, als er die afroamerikanische Prinzessin, die sich herabgelassen hatte, sich zu ihm setzen, anstarrte. Armselig. Der fette Kerl dort drüben in dem zu weiten Polohemd wußte, wie man eine selbstbewußte Pose zur Schau trägt und an seinem Bier nuckelt, trotzdem war er ein hoffnungsloser Fall. Träume von Titten, dachte Freddy. Er 82
genehmigte sich einen schnellen Schluck Bourbon, bevor er eine neue Packung Zigaretten öffnete und sich eine herausklopfte und sein Feuerzeug anknipste. Paff, paff, pfaff. Guuuut. Ein Schwarzer mit königlicher Haltung im braunen Sportsakko und mit Schultern wie ein Eishockeyspieler im Dreß zog ihn an. Das Seltsame war, daß er auf einmal das Gefühl hatte, die ganze Schau hier sei eigens für ihn arrangiert worden. Er konnte die Zigarette nicht an die Lippen führen, ohne denken zu müssen, daß er irgendwie der Anlaß für all das hier sei und daß das, was er mache und tue, das Maßgebliche im ganzen Lokal hier war. Da waren auch noch die fette Frau und ihr ebenso fetter Begleiter. Beide glotzten hinter dicken Brillengläsern hervor und waren angezogen, als wären sie von zu Hause mit der Absicht fortgegangen, bei Burger King einzukehren. Der Eigentümer und zugleich Ansager des Lokals war Sunny Ventura. Er kämpfte sich durch den Rauch und in Wellen wechselndes blaues und blutrotes Licht zur Bühne hinauf, um eine seiner völlig witz- und zwecklosen Ansagen runterzuleiern, mit denen er seine Stripperinnen anzukündigen pflegte, auf die er so stolz war. Rosa Hemd zum rosa Kinn, nach vorne gekämmte Haare, um die immer größer werdenden rosafarbenen blanken Stellen zu verdecken, was freilich schon lange ein aussichtsloses Unterfangen war. Blödmann, du kriegst ’ne Glatze! wollte er zu ihm hinaufrufen. Sunny stand bereits oben, sah sich um, sein Gesicht war ein einziges faltiges, krumpeliges, hängendes Gemisch wie ein schlaffer Sack mit einem Mund daran. Aber er konnte reden, das war sein Haupttalent. Nur war das seichte Geschwätz, das er von sich gab, offenbar seine Vorstellung von Entertainment. Er sah sich offenbar als scharfen Witzereißer. Lieber Gott, 83
wenn das witzig ist, was der da von sich gibt, will ich den nächsten Bus nach Pasadena nehmen. Bis in den beschissenen Mittelwesten will ich ziehen, wenn der glaubt, daß er einen richtigen Witz erzählen kann. Er sah ihm von seinem Lieblingstisch aus zu, an dem er zu Hause war, wenn er nicht daheim war. Vielleicht war es ja auch andersherum: daß sein Apartment sein Zuhause war, wenn er nicht zu Hause war. Das blaue Tischtuch war voller leerer Zigarettenpackungen und voll überquellender Aschenbecher. Eine Menagerie aus Gläsern, voll, halbvoll, leer. Trink aus, dachte er. Und es knurrte und scharrte tief in seinem Hinterkopf, als er sich John Booth vorstellte, wie er mit einem Schußloch im Leib taumelte und torkelte, während Blut aus seiner Brust floß und geronnenes Blut den Platz einnahm, wo zuvor sein dämliches Gesicht gewesen war. Coop und Silas und Buddy und Manny saßen zu seiner Linken aufgereiht wie Orgelpfeifen. Seine Freunde und Kumpel. Und palaverten und schnatterten. Über Weiber natürlich. Wie üblich. Und der Ton war zynisch, mokant, amüsiert. Wie immer. »Hach, ihre Gefühle«, sagte einer. »Hach, ihre Gefühle hier, und hach, ihre Gefühle da. Meine Güte, das sind schon so Entdeckungen. Als hätten sie das Wort Logik noch nie gehört!« »Kennst du«, sagte Coop zu Manny, »den Unterschied zwischen deiner Ex, Manny, und meiner Schlampe von Freundin?« »Nee.« »Mit wem sie zusammen ist.« »Versteh ich nicht.« »Was denn? Wieso verstehst du das nicht?« Coop machte ein übertrieben unverständliches Gesicht. 84
»Kapier ich nicht«, wiederholte Manny. »Großer Gott – deine Exfrau ist meine Schlampe von Freundin, Mann! Wenn sie bei dir ist, ist sie deine Exfrau und bei mir meine Schlampe von Freundin.« »Und ich muß ihr den beschissenen Unterhalt zahlen, ganz egal, bei wem sie ist, ich muß ihr den verfickten Unterhalt zahlen –« »– und ich ficke sie«, vollendete Coop den Satz. Genau das war der Gag gewesen, auf den er zielstrebig zugesteuert hatte. Und so hieb er auch vor Vergnügen auf den Tisch. Dann prostete er Manny zu und trank und tat so, als mache er sich aus dem heiteren Beifall der anderen gar nichts. »Warum sind Weiber bloß so mies?« fragte Silas. »Was?« »Das hab ich doch schon mal gehört«, sagte Manny. Freddy beugte sich zu Silas und sagte: »Na, warum sind die Weiber denn nun so mies, Silas?« »Das ist ja meine Frage.« »Ich weiß es nicht«, sagte Freddy. »Weiß es irgendwer?« »Ich nicht«, sagte Coop. »Ich hab das schon mal gehört«, sagte Manny noch einmal, »aber ich kann mich nicht mehr erinnern.« Er preßte sich beide Hände an die Schläfen, als wolle er die Erinnerung aus dem Kopf drücken. »Keiner weiß es?« »Warte, warte! Ich weiß es.« »Weiber sind so mies, weil man sie, je älter sie werden, um so leichter aufsammeln kann.« »Genau! Genau!« 85
Und während ihr Gelächter zuerst anschwoll und dann wieder verebbte, fiel das ganze Lokal ein, als lache es mit ihnen, während es in Wirklichkeit nur auf Sunny oben reagierte. Der wiegte sich vorwärts und zurück und genoß seinen vermeintlich tollen Erfolg und fühlte sich als der Größte, und das veranlaßte das Publikum zu zusätzlichem Beifall, den er mit selbstbewußter Bescheidenheit abwehrte und einer spöttischen Verbeugung quittierte. Und obwohl an Freddys Tisch keiner wußte, warum Sunny so gefeiert wurde, machten sie alle mit und blickten einander dabei mit Kennermiene an. Sunny ging durch die sich kreuzenden Strahlenkegel der Bühnenscheinwerfer, die ihn in geisterhaftes Blau tauchten, hob das eiswaffelartige Mikrofon an den Mund und fing an. Das Geräusch, das er produzierte, klang irgendwie nach Ozean und Gewitterblitz. Daß er die Lautsprecherboxen nicht aufriß, war aber auch alles. Seine Fans jedoch riß er damit zu schierer Begeisterung hin. Sie ergänzten ihr Händeklatschen mit Freudenschreien und schrillen Beifallspfiffen. »Der Blödmann hält sich für Jay Leño«, sagte Coop. »Jedenfalls ist er kein Sam Kennison, soviel steht fest.« »Sie sagt: Frühstücken wir zusammen?« sagte Silas. Er sprach mit Manny, aber Manny hörte ihm gar nicht zu. »Und ich sage: Wieso denn frühstücken? Ich bin gerade gekommen.« Sunny rief inzwischen mit großer Geste: »Joy!« Das Wort war wie ein Beckenschlag, und alle am Tisch fuhren erschrocken herum und wandten sich der Bühne zu, gemeinsam wie ein einziges vielköpfiges Ungeheuer. Sogleich ließ der Lichtkegel Sunny zur Silhouette werden, weit unten, schmal der Kopf oben, so daß er aussah wie ein Stapel alter Autoreifen. Dabei rief er lauthals: »Direkt 86
aus der Geschichte des Showbusineß selbst! Hier mitten auf unsere berühmte Schelmenbühne!« Und die Scheinwerfer flackerten wild auf dem Vorhang hinter ihm, der dann plötzlich von einer Bewegung erzitterte, als wolle er die Scheinwerferstrahlen festhalten. »Großer Gott, das wird doch nicht Marie Antoinette sein!« rief Sunny und griff mit der einen Hand nach unten, während er mit der anderen den Vorhang zurückzog. Und die glitzernde Scheidewand öffnete sich unter seinen grapschenden Fingern, während das Licht gleichzeitig vom kalten Blau in ein sinnliches Rosa überging. Und Sunny rief: »WARUM ESSEN SIE DANN KEINEN KUCHEN? RUNTER MIT DER RÜBE!« Joy trat auf, und ihr Gesichtsausdruck schien unnahbar. Sie trug ein synthetisches, fast neonkaltes blaues Satinkleid mit einem großen roten Bogen quer über dem Busen. An der Hüfte bauschte sich das Kleid im Stil der Zeit weit aus. Es war züchtig bodenlang und bedeckte ihre Füße. Eine weiße Perücke mit kunstvollen, bis zu den Schultern fallenden aristokratischen Baumwoll-Löckchen saß auf ihrem Kopf. Ihr Blick war eiskalt, beinahe verächtlich, und der schmale, zusammengepreßte Mund schien hochmütig. Das Kleid teilte sich vorne in glitzernde und glänzende Falten, zwischen denen ein Unterkleid sichtbar war, aber keine nackte Haut. Nur ihr Hals mit der Perlenkette zeigte nackte Haut. An den Handgelenken hatte sie weiße Spitzenmanschetten. Ihre langen Finger schlossen sich um einen perlmuttfarbenen Fächer, den sie mit einem kleinen Ruck aus dem Handgelenk öffnete, zugleich das Signal für die Musik und sie selbst, anzufangen. Freddy, Coop und die anderen klatschten und versicherten einander ihre Bewunderung wie Rundfahrttouristen, die zum erstenmal den Grand Canyon sehen. Ein Natur87
wunder zeigte sich ihnen. Sie marschierte im Kreis auf der Bühne herum, die Augen einen Moment lang züchtig niedergeschlagen, im nächsten forsch in ihre Zuschauer bohrend. Und dabei zog sie sich aus, hier ein Stück, dort ein Stück. Es dauerte nicht lange, bis ihr historisches Kostüm ausgezogen war, zuletzt die Perücke. Sie wandte ihnen den Rücken zu und hob das graue Stück mit beiden Händen hoch, damit darunter die Fülle ihres echten Haares herausquellen und über sie fließen konnte. Sie war sehr reizvoll in der Spitzenwäsche, dem hauchdünnen, aber drahtverstärkten busenhebenden BH und dem Bikinihöschen samt Strapsgürtel über durchsichtigen Strümpfen. Auch dies alles fiel rasch Stück für Stück zu Boden, bis sie nur noch ihre Schuhe anhatte und sich die vergoldete Stange am Rand der Bühne griff, sie zwischen die gespreizten Beine nahm und es mit Beckenstößen symbolisch mit ihr trieb. Phantastisch! Die Scheinwerfer spielten verrückt und bewirkten so den Eindruck, als schmelze die ganze Bühnendekoration und lasse sie in einem Regen aus rosafarbenen und blauen Lichtschnüren zerfließen. »Nicht schlecht«, sagte Coop. »Wie war das eigentlich mit der echten«, fragte Silas, »diesem echten Weib, diesem Miststück. Haben sie die nicht geköpft?« Freddy sah auf die Uhr und nippte an seinem Bourbon. Es war gerade erst sechs vorbei. Noch Stunden, bis er gehen konnte. Der Schein hinter dem Fassadenfenster bestätigte ihm, daß es draußen immer noch hell war. Trotzdem, hingesehen hatte er. Er sollte etwas essen, ein Sandwich vielleicht. Er hatte den stets ausgehungerten Appetit der chronischen Trinker. Ein Burger, vielleicht, und ein paar Fritten und Chips. Genau, dachte er und trank noch einen Schluck. Er überlegte kurz, ob er wirklich alles 88
richtig machte. Doch eigentlich wollte er nicht so genau über das nachdenken, was vor ihm lag. Es sollte einfach geschehen, ohne daß er es mit klarem Bewußtsein wahrnahm. Die Nacht sollte es einhüllen und er danach aus ihr auftauchen. Es sollte wie ein Gewitter über ihn hinwegstürmen. Er wollte sich nur auf seinen Instinkt verlassen, dem er so sehr vertrauen mußte, wie ein Blinder seinen Instinkten vertrauen muß. Einfach darauf zugehen. Es einfach auf sich zukommen lassen. Aus dem Unbekannten. Aus der Nacht. Er hatte nichts weiter zu tun, als den Dreckskerl zu finden und zu warten, bis es spät genug war. Für den Mitternachtsgang bis in die ersten Morgenstunden. Dann hingehen zu dem Haus und das Gewitter den Rest alleine tun lassen. Regen, Wind und peng, peng, peng! Auf der Bühne vorne kündigte Sunny inzwischen die nächste Stripperin an. »MIA!« rief er. Das war seine, Freddys, Mia, also schaute er hin. Aber noch war sie gar nicht auf der Bühne. »DIE KLEINE SCHLÜSSELLOCHFREUDE!« rief Sunny. »SCHLÜSSELLOCHFREUDE!« Das Wort zog er lüstern in die Länge und ließ es von seinen Lippen in das Mikrofon tropfen, von wo es dann aus den Lautsprechern dröhnte. Coop stöhnte und warf Freddy einen stummen und reglosen, sarkastischen Blick zu. Freddy lächelte. Was sollte das schon für eine große Provokation sein. Damit konnte er leicht umgehen. Er nahm eine prahlerische, besitzerstolze Haltung ein, die sich aber mit hinzugefügter Demut in Herablassung verwandelte. »Der Reinstecker bin ich, Mann«, sagte er. Coop knurrte, drückte seine Zigarette aus und murmelte etwas, das Freddy nicht hören konnte. Alle wußten, daß Mia auf Freddy scharf war und daß er sie von hier wegschleppen konnte, wann und wie er wollte, und daß er 89
das in der letzten Nacht auch getan hatte. Aber Coop hätte Mia selbst gern gebumst. Er strengte sich dafür an wie verrückt und schmiedete Pläne und kalkulierte, aber kam höchstens nachts im Traum an sie ran. »Was ist, Coop?« sagte Freddy. »Du weißt, was du mich kannst, Freddy.« Oben spähte Mia hinter dem Vorhang hervor und heizte sie erst einmal allein mit ihren Augen an, über denen ihre braunen Stirnfransen mit einem kindlichen roten Band waren. Der Unmut auf Coops Gesicht legte sich sofort, und selbst der Neid verschwand. Mia hatte ein schenkelkurzes, rüschiges Kleinmädchenkleid an. Sie kam im flammenden Rot der Schweinwerfer auf die Bühne und lutschte an einem riesigen Lutscher. »Du Arsch, Freddy«, sagte Coop. »Ich versteh’s nicht.« »Stimmt«, sagte Freddy. Mias Auftrittslied paßte zu ihrem Lutscher. On The Good Ship Lollipop. Anfangs spielte sie die kleine Unschuld oder das, was sie mit ihren langen nackten Beinen in den hohen Stöckelschuhen davon rüberzubringen vermochte. Ihre Masche waren verschiedene übertriebene Gesten: Arme hochstrecken, Hände an die Wangen pressen, herumwirbeln und danach einen süßen kleinen Mädchenknicks machen, dazu gelegentlich ein kleines Mißgeschick mit ihrer Kleidung, aus dem sie immer verwirrter (und immer entblößter natürlich) hervorging. »Was in aller Welt findet sie bloß an Freddy?« sagte Coop. »Du mußt bedenken«, meinte Silas, »daß sie genauso hilflos vom Instinkt getrieben werden wie wir. Das mußt 90
du immer bedenken.« »Das ist nicht der Grund. Du kannst mir doch nicht erzählen, daß das ein echter Grund ist. Das akzeptiere ich nicht.« »Na, es gibt auch noch eine ganze Anzahl anderer Möglichkeiten. Beispielsweise könnte sie ja von irgendwas Schlimmem erschreckt worden sein, als sie noch klein war.« »Und deswegen schmeißt sie sich an Freddy ran?« »Könnte eine Reaktion darauf sein.« »Kapier ich nicht.« »Oder die Hormone. Irgendwas ist immer mit den Hormonen.« »Das stimmt.« »Die Hormone darfst du nicht vergessen.« »Aber wieso ausgerechnet Freddy, wieso, wieso?« »Weil er ein entzückender Bursche ist.« »Das muß es wohl sein.« Mia spulte inzwischen ihr einstudiertes Repertoire ab mit Schritten, die aus einem Sportwettkampf zu stammen schienen oder von der Panik, ein Flugzeug zu verpassen, bis sie abrupt alle Hoffnung fahrenließ und in die Knie sank und verzweifelt (entweder, weil ihre Mannschaft verloren hatte oder das Flugzeug weg war) an der goldenen Stange kniete, direkt am Rampenlicht, wo sie betrübt das Gesicht an das kalte, glitzernde Rohr preßte. Und diese Intimität mündete in einen raschen sehnsüchtigen Kuß. Mit glasigen Augen fuhr ihre Zunge an dem Rohr auf und ab. »Die ist unglaublich.« »Die Japaner sind ganz wild auf sie.« 91
Mia fand wieder zu sich, rappelte sich hoch, hatte dabei aber natürlich weitere Probleme mit ihren Sachen. Die zwei japanischen Geschäftsreisenden in ihren konservativen Anzügen in der ersten Tischreihe starrten zu ihr hinauf, äußerlich zwar unbewegt in analytischem Gleichmut, doch für Freddy bestand kein Zweifel, daß ihre wahren Gefühle mit dem Herzenswunsch einhergingen, einmal eine dieser ungewöhnlichen amerikanischen Mösen zu sehen zu kriegen. Mia ging genau über ihnen vorüber – und ihre Kleiderprobleme waren noch weiter angewachsen. Schon war ihre Schulter bloß, waren ihre Schuhe weg, und leider hatte sie auch ihren Lutscher irgendwo verloren. Dann erstarrte sie mitten im Schritt, als sei sie sich gerade bewußt geworden, daß ihr dieser Lutscher abhanden gekommen war. Sie schaute um sich, bis ihr Blick an Freddy haftenblieb. Sie lächelte ihm zu, winkte kindlich und zwinkerte ihm zu. »Was macht sie denn?« sagte Coop. »Na, offensichtlich hat sie Freddy zugewinkt«, sagte Manny. Mia tanzte zwar schon wieder weiter, versuchte aber noch immer den Blick mit ihm zu halten und ihn wissen zu lassen, daß er für sie ein besonderer Gast war und daß sie etwas von ihm wollte. Daß ihr Auftritt nur für ihn war. Vom Anfang bis zum Ende. Jeder Schritt. Alles nur für ihn. Und mit dem im Sinn sollte er nun Coops Frage beantworten. Was, zum Teufel, hatte er getan, daß sie ihn hier so ansah, obwohl er sie doch einfach nur fickte, ohne weiter über sie nachzudenken? War er denn tatsächlich, ganz ohne Quatsch und Gerede, so eine erotische Bombe? Daß ein träger schneller Fick ausreichte, sie zu veranlassen, ihm von der Bühne aus zuzuwinken und 92
eindeutig mehr davon zu verlangen? Dabei hatte er sie doch höchstens als bessere, angenehmere Schlaftablette mitgenommen. Er erinnerte sich, wie er im Fahrstuhl, als sie in seine Arme gesunken war, an ihr gefummelt hatte. Und wie sie dann fast tanzend zur Tür hineingingen, schon im Flur eng umschlungen. Das Bett bei ihm in der Ecke übte eine magnetische Anziehung aus, und seine breite Weichheit zog sie heran, während ihre Hände damit beschäftigt waren, sich ihrer Kleidung zu entledigen und die Handgriffe zu tun, die einen in die richtige Stimmung brachten. Wie die letzten Stücke, ihr Strumpfgürtel, ihr Slip, seine Unterhose und eine Socke davonschwebten wie Seifenblasen. Er kostete eine Weile an ihr, bis sie kam, dann revanchierte sie sich. Als er in sie stieß, hatte er das Gefühl, als schließe sie ihn ein. Ihr heißer, pulsierender Schlitz war das Zentrum aller Empfindungen, dazu ihre ihn fest umschließenden Arme und die Zange ihrer Beine um seine Hüften, wobei ihre Fersen kleine Kreise am unteren Ende seiner Wirbelsäule beschrieben und ihr Mund seine Zunge in sich einsaugte. Er war immer noch etwas verblüfft, wie er hier vor seinem Drink saß. Schon heute früh hatte er sich an nichts mehr von alledem erinnert. Der Nebel seines Katers hatte kaum etwas durchgelassen, alles war verschwommen und dunstig geblieben, und er hatte nur gelegentlich eine klare Wahrnehmung und Erinnerung. Jetzt aber nahm er ganz deutlich wahr, wie sie nur ihn ansah. Ihren suchenden und fordernden Augen konnte er nur entgehen, wenn er die Augen schloß. Also tat er so, als gebe er das Sehen zugunsten anderer Sinneswahrnehmungen auf. Doch sie biß mit ihren Zähnen in seine Zunge und nagte daran und rief ihn zurück, und er gab nach. Er sah die braunen Ringe ihrer Pupillen mit den gelben Flecken, als sie noch einmal 93
kam und ihre Hüften sich heftig bewegten. Er trank aus und zerkaute noch einige Eiswürfelreste. Dann steckte er sich eine Zigarette an. Vielleicht mußte man ein paar Drinks intus haben, um sich zu erinnern, was man im betrunkenen Zustand getan hatte. Vielleicht gab es da so einen Besoffenheitssektor im Gehirn. Der Alkoholbereich, in dem das betrunkene Leben gelagert war und der im nüchternen Zustand nicht betretbar war. Man mußte also ein paar intus haben dazu. Der Alkohol knipste das Ticket, und dann konnte man sich erinnern. Sein Blick traf sich mit dem einer großen brünetten Bedienung, die auf ihn zuzukommen schien. Er bedeutete ihr, daß er noch einen Drink wolle. Sie kam herbeigeeilt, zeigte viel Haut, trug einen schwarzen Body, in der Hand ihr korkbelegtes Serviertablett. »Ich hab was für Sie«, sagte sie zu seiner Überraschung. »Was?« Sie reichte ihm ein kleines Kartonkrönchen mit angeklebten kleinen Kunststoffdiamanten. Aus einem der dekorativen Löcher der Krone ragte ein eingerollter Zettel. »Wetten, Sie wissen nicht, von wem das ist?« sagte sie. »Was ist denn das?« fragte Coop. »Was hast du denn da?« Er rollte den Zettel auseinander und erblickte eine einfache Bleistiftskizze. Eine Mädchenfigur in einem Tanzkostüm mit hochgereckten Armen. Dazu in Blockbuchstaben eine Frage: NA, WIE WÄR’S MIT HEUTE ABEND? ME. »Laß mal sehen«, sagte Coop. Freddy blickte zur Bühne, wo Mia gerade ihre Arme gekreuzt auf die Hüften legte, nach dem Saum ihres Kleides fingerte und mit einem Ausdruck, als kämpfe sie 94
mit einem widersprüchlichen Impuls, ihr Kleid auszuziehen begann. Inzwischen hatte sich Coop den Zettel an den leeren Gläsern und vollen Aschenbechern vorbei herangezogen. Freddy bemerkte die Bewegung. »Was machst du denn da, Coop?« »Ich will sehen, was das ist«, sagte Coop. Freddy rief der Bedienung, die sich gerade wieder entfernte, nach: »Noch einen!« »In Ordnung«, sagte sie. »Jack Daniels on the rocks, ja?« »Und einen Cheeseburger mit ein paar Fritten dazu. Ich bin völlig ausgehungert.« »In Ordnung.« »Einen doppelten Cheeseburger, ja? Und eine doppelte Portion Fritten.« »In Ordnung.« Durch die Lichtstrahlen der Scheinwerfer, in denen über den Köpfen der Menge die Wolke des schalen Zigarettenrauchs schwebte, versuchte er mit seinem Blick Mia zu erreichen, damit er genau wußte, daß sie auch wirklich ihn ansah. In dem jetzt rosafarbenen Licht war sie gerade dabei, sich das Kleid über den Kopf zu ziehen, aber mit noch immer unentschlossenem Gesichtsausdruck, als stehe sie mit dem, was sie da gerade tat, einem neuen, unerwarteten Problem gegenüber. Es sah so aus, als ob sie zu ihm hersah. Und da er sich ihrer Aufmerksamkeit sicher war, zuckte er mit den Schultern auf eine Weise, die, so hoffte er, deutlich machte, daß ungeheuer starke Kräfte außerhalb seines Einflusses keine andere Antwort zuließen als: NEIN, HEUTE NICHT, was er mit lautlosen 95
Mundbewegungen auch aussprach. Sie trat bis an den Bühnenrand und beugte sich vor, so daß er tief in ihren Ausschnitt sehen konnte, und fragte dabei ebenso lautlos zurück: GANZ SICHER? »Verdammt noch mal«, sagte Coop wieder, »was soll das? Das kann ich nicht ertragen!« Mia spannte ihre Schultern an, erst die eine, dann die andere, und warf ihm einen Blick zu, der erotische Neuheiten versprach, in denen sie Expertin war. Aber er antwortete wieder mit nach oben gerichteten Handflächen, einem schmerzvollen Gesichtsausdruck und neuerlichen, stark übertriebenen, lautlosen Mundbewegungen, damit die Botschaft – nämlich, daß Gründe außerhalb seiner Kontrolle vorlägen – auch wirklich verstanden wurde: KANN NICHT. Mias Arme fuhren hoch und entledigten sich ihres über den Kopf gezogenen Kleidchens, was sie nur noch in der knappen Unterwäsche dastehen ließ. »Dann tanz wenigstens mit mir!« rief sie, diesmal laut. Was? dachte er, völlig überrascht von der unerwarteten, laut hinausgerufenen Aufforderung. Ihre dünnen Arme verlangten nach ihm. Ihre Hände streckten sich ihm entgegen, und sie wiegte sich zur Bestärkung der Aufforderung in den Hüften. Verrückt. Ein schneller Blick zu seinen Kumpels nach links zeigte ihm ihre Gesichter in krummer Reihe wie auf Pfähle gespießte Schrumpfköpfe, stiere Augen, offene Münder, einer gieriger und lüsterner als der andere. »Sie will offenbar mit dir tanzen«, sagte Manny. Und alle grinsten gemein und schadenfroh, als sei er in einer peinlichen Situation gefangen. Als sei er hier vor aller Augen der Witz des Tages, bei dem sie nichts weiter zu tun hätten, als dazusitzen und zuzusehen und sich 96
kaputtzulachen. »Sie wartet«, sagte Manny. »Na los, mach schon.« »Aber denk dran, du mußt dich auch ausziehen!« Weil Mia die allgemeine Aufmerksamkeit zuteil wurde, veranlaßte dies auch das ganze Lokal, sich Freddy zuzuwenden. Ein paar Tischreihen weiter vorne stieß ein junger dunkelhaariger Muskelprotz seinen fleischigen Freund an, und beide grinsten. Aber Freddy begegnete ihrem Spott mit einem hochmütigen Lächeln, schob den Tisch von sich und stand auf. Warum auch nicht, verdammt? dachte er. Wollte er nicht im Grunde genau das? Daß die Nacht ihn in irgendein verrücktes Lokal führte wie ein Kind in einen ersten Schultag? Oder wie diesen Schwarzen in Newsweek, der erklärt hatte, das Telefonbuch sei mit einem Schlag in Flammen aufgegangen, als er die Adresse des Mannes las, den er umbringen wollte. Und als er an der Tür seines Opfers angelangt war, hätten seine Gedanken sich mit wilder, unwiderstehlicher Stimme Bahn aus ihm gebrochen. Der neue Freddy, der Henker, der Gedungene, dessen Ankunft, gefolgt von totalem Ausflippen, an der Zeit war, aber nicht genau voraussagbar. Die Bedienung kam mit seinem neuen Drink und Cheeseburger und den Fritten. Er goß ihn auf einen Schluck hinunter und griff sich eine Handvoll Fritten. Die anderen kicherten und versuchten ihn mit übertriebenen und spöttischen Äußerungen falschen Mitleids zu verunsichern. Also zuckte er mit den Schultern und sagte zu ihnen, was er sich vor ein paar Sekunden erst selbst insgeheim gesagt hatte: »Warum nicht, verdammt?« Er ging zur Bühne, stopfte sich auf dem Weg die Fritten 97
in den Mund und mampfte sie. Die zurückgelassenen Kumpel riefen Albernheiten und Provokationen hinter ihm her. Mia aber klatschte Beifall, als sie ihn kommen sah, obwohl sein Zickzackweg zu ihr zwischen den Tischen von allerlei Kommentaren begleitet wurde: »So ein Idiot!« »Wer ist denn dieser Blödian?« »Wenn der sich auch auszieht, kommt mir das Essen hoch!« Mia streckte ihm freudig die Arme entgegen. Ihre Lippen bewegten sich dabei instinktiv unaufhörlich in einer den Beckenrhythmus nachahmenden Bewegung. Die Musik wurde noch ein halbes Dutzend Dezibel lauter, was zuvor gar nicht möglich erschienen war. Mia hüpfte, drehte sich und griff nach ihm. Sie hielten sich an der Hand und schleuderten die Beine. Einander gegenüberstehend, machte sie noch einmal ihre laszive Schulterbewegung. Er drehte sich weg, und als er sich zurückwandte, beugte sie sich weit vor, die Hände zwischen den Beinen, spreizte die Finger in die Schenkel, als wolle sie sie auseinanderdrücken, während sie gleichzeitig mit den Oberarmen ihre Brüste zusammenpreßte, so daß sie noch mehr aus dem BH herausgedrückt wurden. Er hatte eine Hand auf den Rücken gelegt, hielt die andere nach unten und hüpfte wild herum. Als er eine Drehung versuchte, blendeten ihn die Scheinwerfer von der Beleuchterbrücke über dem Publikum. Er blinzelte und wich zurück zu Mia, die die Finger einer Hand in ihr Höschen gesteckt hatte, während sie mit der anderen Hand über ihre Scham rieb. Und immer noch waren ihre Hüften in Bewegung. Freddy warf die Arme hoch. Sie knurrte ihn zornig und gefährlich an und öffnete ihren BH-Verschluß, warf ihn nach hinten und drehte sich gleichzeitig um, so daß sie ihm den Rücken 98
zuwandte und ihn noch einmal mit einer letzten Verweigerung aufreizen konnte. Dann warf sie einen vielversprechenden Blick über die Schulter, wackelte mit ihrem Hintern, hockte sich nieder und zog sich das Höschen so wie ein kleines Mädchen aus. Und auf einmal sah er seine tote kleine Tochter auf dem Leichenschauhaustisch vor sich. So wie er sie damals gesehen hatte, an jenem Tag. Wie er den kahlen, leeren Gang dieses Behördenbaus entlanggegangen war, mit weichen Knien, eine unnatürlich lange Strecke. Der beige Wandanstrich war flecken- und makellos, von ein paar winzigen Bläschen abgesehen, wo leicht undichte Wasserrohre kleine Schäden verursacht hatten. Dann ging die Doppeltür zum Leichenschauraum auf. Sein Begleiter, der ihn führte, drückte sie auf. Und in der Mitte war dann, seltsam verloren und allein, dieser Tisch mit ihr darauf. Sie nahm unter dem Leichentuch nur die halbe Länge des Tischs in Anspruch. Es war ein unerträglicher Anblick. Mary an seiner Seite gab ihre zitternde Anwesenheit auf, blieb stehen und kam nicht weiter mit. Aber auch in ihm war noch immer das Gefühl, es nicht glauben zu können, selbst wenn er mit dem Verstand genau wußte, wie unvernünftig es war. Dann erblickte er Emilys blutige Kleider in einem Plastikbeutel in der Ecke auf dem Boden. Der gemusterte Pullover und die kleinen schwarzen Sandalen, die sie am Morgen noch beim Frühstück angehabt hatte. Das kleine Stoffunterhöschen. Als das Tuch gehoben wurde, sah er ihre gebrochenen und verrenkten Gliedmaßen, Schürfwunden überall an den Beinen, die linke Gesichtshälfte verfärbt. Ihr glänzend schwarzes Haar war schmutzverklebt. Die winzigen Knospen ihrer Brüste. Noch unbehaart zwischen den Beinen. Noch warm, wenn man sie anfaßte. Doch er spürte bereits, wie die Kälte in 99
sie kroch. Es war ein Gefühl, als wiche der letzte Rest Leben langsam aus ihr. Die Musik war laut, und er tanzte immer noch weiter. Mias Blick verschwand in seiner aufsteigenden Trauer. Sie kam zu ihm und stieß ihre Hüfte gegen die seine. Doch er reagierte kaum und beachtete sie nicht. Er war weit weg. Und ihr verletzter Blick fragte ihn wieder, was sie noch alles tun mußte. Die Kumpels am Tisch kriegten sich kaum mehr ein vor Vergnügen. Sie riefen ihm Bemerkungen zu, als seien sie tatsächlich seine Partner hier, seine Freunde. Und hatten doch in Wahrheit keine Ahnung. Führten sich auf und plärrten herum. Keine Ahnung. Das hier ist ein Kriegstanz, dachte er. Ich bin auf dem Kriegspfad, ihr blöden Hunde. Und sein Herz schien stillzustehen und war kalt in seiner Brust wie ein Stein.
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8. KAPITEL Helen konnte immer nur an Rostbraten denken. Und ein scheußliches Gefühl, unrecht zu haben, klebte wie bestimmte chemische Gerüche an ihr, unentwegt, ganz gleich, was sie tat. Nicht daß die ganze Frage noch immer eine Frage gewesen wäre. Sie war wirklich keine mehr. Sie stand am Herd und wusch das Gemüse, das sie gleich darauf auf dem Schneidebrett kleinschneiden wollte. Sie kochte ihren Rindfleischeintopf. Es war zu spät, noch irgend etwas anderes anzufangen. Der Rubikon war überschritten, wie dieser altkluge Junge in Johnnys Schule immer gesagt hatte. Johnny war er damals gewesen, nicht John. Noch nicht zu groß, so daß sie ihn immer noch Johnny rufen konnte, wenn sie wollte. Der kleine Doubleday Robbins. Ein kleiner Klugscheißer, der armselige Tropf, wie er Johnny dauernd nachlief, überallhin, so wie Hunde hinter jemand herliefen, von dem sie glauben, Futter bekommen zu können. Sie nahm sich eine Zigarette und beugte sich vorsichtig nach unten zum Gasherd, wo sie sie anzündete. Dann ging sie hinüber zur Hintertür, um den Rauch ins Freie hinauszublasen. In Seattle war das noch gewesen, damals. Dorrie Street, Seattle. Wo man die häufig in Nebel gehüllten Berge sehen konnte. Als Johnny noch ein kleiner Junge war. Ich glaube, Johnny, sagte der verrückte kleine Doubleday immer, ich glaube, wir haben den Rubikon überschritten. Sie rauchte wirklich gern, dachte sie, während sie hinausspähte auf die kleinen Knopsen der Holzäpfel drüben im Nachbarhof. Natürlich war das eine Art Sucht. Deswegen tat es ja so gut. Der Rauch verflüchtigte sich 101
vor ihrem Gesicht wie der sichtbare Atem, wenn es kalt ist. Oder wie diese Dunstnebel in Seattle. Sie ging zurück zum Ausguß und warf den Stummel in den Müllschlucker. Vergangene Nacht hatte sie ziemlich schlecht geschlafen und sich hin und her überlegt, ob sie nun den Schmorbraten machen sollte oder lieber einen Rindfleischeintopf mit Klößen. Johns erstes Essen daheim sollte perfekt sein. Es war nur sehr schwer, mitten in der Nacht im Bett zu entscheiden, was denn nun das perfekte Essen sein konnte. Zu einem bestimmten Zeitpunkt, als sie ins Bad stolperte, waren ihr auch Schweinekoteletts in den Sinn gekommen. Gebraten oder gefüllt, beides klang gut. Aber dann mußte sie wohl, auf dem Rückweg ins Bett, etwas wacher geworden sein, weil sie nun klarer denken konnte. Als sie den Kopf auf ihr Kissen bettete, war sie wieder beim Fleischeintopf gewesen. Rindfleisch war einfacher und kräftiger. Sie sah wieder John vor sich, wie er ihr gegenüber am Tisch ihrer hellen Küche saß und gleichmäßig und stetig seine Koteletts kaute, wie es Männer taten, wenn es ihnen schmeckte und sie zufrieden waren. Dann war es fast schon Morgen gewesen. Zwischen den Jalousienritzen kam das erste Tageslicht herein. Und da hatte sie dann beschlossen, alle weiteren Entscheidungen über das Essen einfach zu verschieben, bis sie John von diesem schrecklichen Ort abgeholt hatten und wieder da waren. Und als dann dieses gelbe Auto herangefahren war und draußen vor dem Tor gehalten hatte, waren sie und Stuart von ihrem Auto aus losgerannt wie jugendliche Fans bis zur Absperrung, durch die gleich eine berühmte Sportskanone kommen sollte. Sechs Mann stiegen aus, John war der letzte. Er blinzelte in die grelle Sonne, und irgend etwas an ihm war komisch, 102
aber sie hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, was es war. Sie merkte nur, wie sie hastig einatmete, als gehe die Luft aus, und wie sie schnappen müsse, was noch übrig war. Und danach war es, als sei ihr Mund zugesperrt, und ihre ganze Brust wurde hart wie Stein. Als habe sie völlig vergessen, was schon jedes Baby von alleine weiß, außer wenn es schrie, weil es nicht bekam, was es wollte, und das Schreien wichtiger wurde als das Atemholen. Mittlerweile war John ausgestiegen. Er hatte die Hand über die Augen gelegt, um gegen die blendende Sonne etwas zu erkennen. Und in dem Augenblick war ihr Problem mit dem Rindfleischeintopf wieder da. Obwohl sie einen festen Entschluß gefaßt hatte, war es jetzt auf einmal wieder so, als habe sie das nicht getan, und sie fragte sich, ob noch Zeit sei, es zu ändern. John wich ein wenig vor der strahlenden Sonne zurück. Wie ein Tier, das aufgibt und wieder fortläuft, dahin, wo es hergekommen ist. Sie warf einen kurzen Blick auf Stuart. War er auch besorgt? Doch wie üblich, wenn es sich um bedeutsame Dinge handelte, behielt er seine Gedanken für sich – so tief in sich verschlossen, daß nicht einmal sie nach vierunddreißig Ehejahren mit ihm bis dorthin vordringen konnte. »Stuart«, sagte sie. Er sah sie an, als habe sie gerade auf sehr ungeschickte Weise eine bedeutende Etikette verletzt. »Was ist?« fragte er. Die anderen Entlassenen, die aus dem Auto gestiegen waren, zerstreuten sich ringsherum zu denen, die auf sie warteten. Als fände gleich hier in dem Sand und Gestrüpp eine Party statt. Drei jedenfalls taten so. Der vierte, ein Schwarzer, begann zielstrebig und allein die Straße entlang fortzugehen. Er war hager, eine verlorene Gestalt, 103
die von niemandem erwartet wurde. Der außer John einzige andere Weiße ging auf die wartende Blondine zu, und sobald er in ihrer Nähe war, fiel sie ihm entgegen. Sie begannen einander zu küssen und zu drücken wie Schwachsinnnige, die sich der Vernunft, mit der sie geboren wurden, nicht zu bedienen wissen. Die Schwarzen waren in ihre Autos eingestiegen. Bierdosen wurden zischend geöffnet, die Radios und Kassettenrecorder schickten Lärm in die Luft wie etwa das Maschinengewehrfeuer der Rap-Musik, das so klang, als falle jemand die Treppe hinunter und schrie jemanden an, gefälligst aus dem Weg zu gehen. Die Blondine, die sich zu ihrem Auto zurückbewegte, während der Kerl an ihr klebte, gab Stöhnlaute von sich, als hätten sie vor, ihre wilden Umarmungen gleich hier an Ort und Stelle zu Ende zu bringen. Im Glauben, Stuart werde sich genauso unangenehm berührt und angewidert davon zeigen wie sie selbst, wandte sie sich zu ihm um und suchte seinen Blick. Aber er stand nicht mehr da, wo sie ihn vermutete. Statt dessen ging er auf John zu, der in dem noch von dem Auto spiralig aufgewirbelten Staub stand und mit seinem kleinen Koffer und einem Paket in den Händen seinem Vater entgegenstarrte. Sie konnte Stuarts Gesicht nicht sehen, aber die Art, wie er dahinging, sah aus, als würde er John, sobald er ihn nur erreicht hatte, niederschlagen. Sie war etwas verletzt, weil sie von diesem kostbaren Augenblick ausgeschlossen war, doch sie unterdrückte den Impuls, ihm hinterherzulaufen. Als der Bonneville schwarze Abgaswolken ausstieß und sich samt dem Rap-Lärm entfernte, schüttelte sie den Kopf. Rechts drüben sank die Blondine auf den Vordersitz ihres Wagens, und ihr Kerl fiel über sie her. Nicht einer von ihnen zeigte irgendein Anzeichen von 104
Reue, stellte sie fest. Oder auch nur Einsicht. Als wären sie einfach nur gerade vom Ferienclub zurückgekommen. Stuart und John redeten miteinander auf die wortkarge Weise, die sich einstellt, wenn man in Wirklichkeit nicht weiß, was man sagen soll, und Angst hat, daß die paar Worte, die einem allenfalls einfallen, zu schnell gesprochen sind. Als sie sich schließlich die Hand gaben, sah es so aus, als habe der eine dem anderen soeben einen Gebrauchtwagen verkauft, ein Handel, mit dem sie allerdings beide nicht recht glücklich waren. Verdammt, zwischen Filmstars, die einander gegenseitig mit verlogenem Lächeln Preise überreichen, herrschten mehr Gefühle als zwischen ihrem Sohn und seinem Vater. Stuart sah als erster zu ihr her, dann erst John. Als sie zu ihr kamen und sich schräg hielten, um sie mit der Sonne im Rücken besser zu sehen, erschienen sie ihr wie diese beiden Männer, die auf die ersten Buchseiten eines riesigen Buches gemalt waren. Ihr Lächeln kam ihr wie eingetrocknete Tubenpasta vor, die ihr jemand hart ins Gesicht geknallt hatte. Dann stand John vor ihr. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er sie schließlich umarmte, und er fühlte sich riesig dabei. Sie reichte ihm kaum bis zur Brust. Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Er war ja schon immer sehr groß gewesen. Aber jetzt fühlte er sich an, als sei er von dicken Fleischschichten umgeben. Als trage er zu viele Kleider übereinander. Sie kam mit den Armen gar nicht ganz um ihn herum und beließ es schließlich dabei, ihm auf den Rücken zu klopfen. Er küßte sie auf das Haar, und sie tätschelte ihm in einem fort den Rücken, streichelte ihn unablässig in kleinen Kreisen und überlegte, wann denn sein Hemd zuletzt gewaschen worden sei und von wem. Sie faßte ihn an den Armen, gerade nur bis zu den Ellenbogen, wie sie es bei einem kleinen Jungen tun würde, den sie gleich hochzuheben die 105
Absicht hatte, obwohl der doch inzwischen eher wie ein Baum war, auf den sie klettern könnte. Aber sie war bereit, das Wiedersehen zu feiern, und suchte seinen Blick und sah, daß seine Augen auf sie herunterblickten wie von einer hohen Felsenklippe. Sein Blick war, wie sein Leib, von vielen Schichten bedeckt. Er schien verborgen, begraben, und das hier direkt vor ihr. Über einem Auge hatte er eine Narbe. »Hallo, Mom.« »Johnny, mein Schatz. Wie geht es dir?« »Ausgezeichnet. Gut.« »Das ist schön.« »Und du, Mom, ist mit dir alles in Ordnung?« »O ja«, sagte sie. Sie waren alle beide überrascht über Stuarts große Hände, als er sie ihnen auf die Schultern legte. »Kommt«, sagte er, »fahren wir. Wir wollen möglichst schnell von hier weg, ja?« Sie stiegen ins Auto. Helen wunderte sich, daß sie bereits die letzten waren, die wegfuhren. Die Narbe über Johns Auge war totes Gewebe bis zu seinem Haaransatz. Als habe jemand versucht, ihn mit einem Dosenöffner aufzuschlitzen. Er hatte sich auf dem Rücksitz ausgestreckt, wo sie ihn hingesetzt hatte, weil er dort mehr Platz für seine Beine hatte. Helen wollte auf keinen Fall noch einen Blick zurück auf das Gefängnis werfen. Das sollte so schnell wie möglich ganz hinter ihnen liegen. Während der nächsten Kilometer sagte keiner etwas. Als erster sprach dann Stuart. Er erzählte John von der Sache mit dem Kaffee, wobei er hauptsächlich von Helens Nachlässigkeit und seiner Nachsicht sprach. Sie kamen an mehreren überfahrenen Tieren vorbei. Eines bot sich zu 106
längerer Diskussion an, da es ein Hund oder ein Kojote sein konnte. Auch eine Schlange sahen sie und mehrere kleine bis zur Unkenntlichkeit zermatschte Lebewesen. Immer wieder herrschte längeres Schweigen, und jedesmal war Helen dann versucht, John wegen seiner Narbe zu fragen. Aber sie beherrschte sich und lenkte sich mit Berichten über ihre Malerei davon ab. Sie achtete aber auch zugleich sorgsam darauf, sich nicht zu lange darüber auszulassen. Und damit keiner auf die Idee kam, sie brüste sich etwa damit oder hege übertriebene Hoffnungen, sagte sie: »Ich weiß ja, es ist albern, aber weißt du, was? Ich gehe in einen Malkurs.« Auf diesen Satz kam sie immer wieder zurück. Sie benützte ihn als eine Art Regulativ, das ihr Zeit gab, sich zwischen den beiden umzusehen, um festzustellen, ob es besser war, damit aufzuhören und lieber still zu sein. »Ich weiß ja, es ist albern, aber mein Lehrer, Mr. Russell, hält mich für begabt.« Wieder ein paar Kilometer weiter sagte sie: »Ich weiß, es ist albern, aber Mr. Russell sagte, mein letztes Bild von dem Gras, das so groß war wie Bäume in Monterey, sei fast schon professionell.« Das Eigenartige war, daß diese Gelegenheit, einmal über ihr Hobby reden, sie sehr entspannte. Und seltsamerweise schien es sie alle zu entspannen. Selbst John schien interessiert zuzuhören, obwohl sie es nicht sicher hätte sagen können. Als sie wieder zu Hause waren, war es jedoch sofort wieder vorbei damit, weil sie in die Realität zurück und an die Arbeit mußte. Sie mußte das Bratfett in der Pfanne schmelzen und das Rindfleisch anbraten. Aber sie hatte, das stand fest, den Rubikon überschritten, als das Fleisch und die Knochen und der Sud aus der Bratpfanne um fünf Uhr alle im kochenden Wassertopf waren. Die nächste Stunde war sie fortwährend beschäftigt. Dann aber fand 107
sie Gelegenheit, sich draußen auf dem Hof zu John und Stuart zu gesellen, die dort um den Wohnwagen herumgingen, in welchem John wohnen sollte. Sie brachte ihnen zwei kalte Cola mit und mußte dann aber gleich wieder zurück und das Gemüse kleinhacken und würfeln. Etwas später entdeckte sie Stuart im Schlafzimmer, wo er sich ein wenig hingelegt hatte. John saß vor dem Fernseher. Sie mußte Stuart wecken und ihm seinen Kaffee geben und ihm sagen, er könne John jetzt doch nicht einfach alleinlassen. Sie selbst konnte sich nicht um ihn kümmern, weil es Zeit war, die Klöße vorzubereiten und dafür das Salz und das Mehl und das Backpulver herzurichten und mit dem Messer das Fett unterzuheben und die Milch dazuzutun, damit es gute, leichte und weiche Klöße wurden. Irgendwann während dieser Arbeit gingen die beiden von ihrer Küche aus in den Keller hinunter. Sie war gerade dabei, das auf dem Schneidebrett bereitliegende gehackte und gewürfelte Gemüse dazuzutun, als sie sie zurückkommen hörte. Sie polterten die Stufen herauf. Sie wandte sich um, um ihnen zuzulächeln. Über ihren Augenbrauen stand Schweiß. Die beiden trugen Kartons unter den Armen, die ihnen fast bis zur Schulter hinaufreichten. Sie redeten miteinander und gingen zur Hintertür, ohne Notiz von ihr zu nehmen. »He, wartet, wo geht ihr denn hin?« »Warum?« fragte Stuart überrascht. Oder verärgert, da war sie sich noch nicht sicher. »Mein Gott, ich frage halt. Ich bin hier fast soweit. Wir können bald essen.« Sie strich den Berg Gemüse vom Schneidebrett in den Topf. »Ich komme mit.« »Wir schaffen bloß ein paar von Johns Sachen raus in den Wohnwagen.« 108
»Ich komme nach«, sagte sie. Sie rührte den Eintopf um und dachte an gebackenen Virginia-Schinken mit braunem Zucker und Ananas und hatte ein Gefühl, als sage irgendwer in der Nachbarschaft ganz schlimme Dinge über sie und sie konnte gar nichts dagegen machen. Als sie dann ebenfalls zur Hintertür hinausging, fühlte sie sich von den silbrigen Wanden des Wohnwagens wie erdrückt. Als sei ein Raumschiff in ihrem Hinterkopf gelandet. Stuart und John beugten sich über einen der offenen Kartons und sprachen miteinander, und sie ging zu ihnen. »Ist doch gar keine schlechte Idee, oder, wenn du in dem Wohnwagen schläfst?« sagte sie zu John. »Ja, ja«, sagte er und holte einige Paar Schuhe aus dem Karton. »Die müssen aber geputzt werden«, sagte sie. »Das kann ich ja machen.« Sie ging zu John, als er die Schuhe auf den Boden des Wandschranks stellte. »Wir dachten, du möchtest sicher für dich allein sein, und das schien die ideale Lösung«, erklärte sie ihm. »Ich hab das Bett heute morgen frisch bezogen, und letzte Woche habe ich den ganzen Wohnwagen geputzt, von oben bis unten. Jetzt kannst du dich ja selbst darum kümmern, wenn du willst. Sonst kann ich es machen.« Sie zog eine Schublade mit frischer, ordentlich zusammengelegter Bettwäsche auf. Die nächste Schublade war voller Handtücher und Waschlappen. »Du kannst die Wäsche wechseln, wann du willst. Die Waschmaschine steht unten im Keller. Oder ich mache es.« »Ich kann das schon selber machen, Mom.« »Natürlich kannst du das selber machen. Aber vielleicht 109
fändest du es ja auch ganz angenehm, wenn es jemand für dich tut.« Er war wieder bei dem Karton und wühlte darin herum, als könne er etwas nicht finden. Sie folgte ihm eifrig und blickte ebenfalls hinein. »Alle Sachen aus deiner Wohnung sind entweder hier drin oder in den anderen Kartons dort«, sagte sie, »oder in denen, die noch im Keller stehen.« »Ich hab sie ihm schon gezeigt«, sagte Stuart, als habe ihn jemand beschuldigt, einen Fehler begangen zu haben. »Ich meine ja nur, wir haben nichts weggeworfen. Nicht einmal diese schmutzigen Zeitschriften. Kein Fitzelchen.« »Ich danke dir, Mom.« »Oder fehlt was?« »Nein.« »O Gott«, sagte sie. Sie blickten sie beide an, aber sie hatte keine Zeit für Erklärungen. Sie rannte zurück in die Küche zu ihrem Eintopf und kam gerade noch rechtzeitig, um die Kartoffeln mit hineinzugeben. Sie betrachtete die Sudbrühe unter dem aufsteigenden Dampf und fragte sich, ob John sie jemals auffordern würde, ihm eines ihrer Bilder zu zeigen. Und ob er tatsächlich so interessiert war, wie es im Auto schien. Sie bezweifelte es. Sie leckte sich die Schweißtröpfchen von den Lippen. Die Hintertür ging auf, und Stuart kam als erster herein. Er hatte die Stirn in Falten gelegt. »Ist alles in Ordnung?« »Ja, ja. Es ist fast fertig. Eine knappe halbe Stunde noch, dann können wir essen.« »Schön«, sagte Stuart und ging zur anderen Seite hinaus, John hinter ihm her. Sie setzten sich drüben im kleinen Zimmer vor den Fernseher. Sie wäre gerne mitgegangen, aber der Salat mußte noch 110
gewaschen und trockengeschüttelt und die Salatsoße gemacht werden. Dann mußte sie dem Eintopf zum Schluß noch etwas Mehl hinzugeben, damit er schön sämig wurde. Ihr Rubikon war so gut wie überschritten. Sie war bereits im Flachwasser. Direkt vor dem Fenster draußen bewegten sich die Blätter leicht in einer milden Brise, und der Schein der sinkenden Sonne spielte auf ihnen. Ja, Johnny, ich denke, der Rubikon ist nun wohl überschritten und liegt hinter uns, hätte sie am liebsten gesagt. Als wäre sie der altkluge kleine Doubleday Robbins von einst. Das müßte doch sehr nett sein, wenn er jetzt plötzlich hier an der Tür stünde, dieser komische kleine Junge mit seinem Spiralnotizbuch, das er ewig bei sich gehabt hatte. Wenn er einfach so wie damals immer daherkäme und an die Tür klopfte und sie dann aufmachte und er sie durch die Fliegengittertür ansah und fragte: Ist Johnny da? Und sie rief dann Johnny, und Johnny kam, blond und hübsch wie immer, und er ging ihr gerade bis zur Hüfte und blickte mit seinen offenen Augen zu ihr empor. Sie hatte das Bedürfnis, auf der Stelle hinüberzugehen und John zu fragen, was denn eigentlich aus dem kleinen Doubleday geworden sei. Ob er irgendwas von ihm wisse und was denn aus ihm geworden sei. Er war ja so ein sonderbarer Knabe gewesen, in vieler Hinsicht. Aber John war immer nett und gut zu ihm und so geduldig und nachsichtig. Immer hatte er Zeit gehabt für den kleinen Doubleday mit seinen dicken Brillengläsern, mit denen er schon auf die Welt gekommen zu sein schien, und mit seinem Kopf voller Baseballstatistik, während John alle die Spiele selbst spielte. Baseball, Football, Basketball. Und der kleine Doubleday führte alle Spielstatistiken für John genauso wie für die großen Stars der Profiligen. Es hatte sie immer sehr angerührt, daß ihr Sohn soviel Sanftheit und Güte und Großzügigkeit gegenüber jemand 111
bewies, den er genausogut auch hätte von sich stoßen und triezen und verspotten können. Es hatte ihr immer das Gefühl gegeben, daß John in Ordnung und auf dem rechten Weg sei und daß er ein gutes Herz hatte. Sie rührte das Mehl ein, es wurde braun und sämig, die verschiedenfarbigen Gemüsestücke kamen beim Umrühren mit dem Kochlöffel nach oben. Von drüben drangen die Musik und die Geräusche des Fernsehers herüber. Es war angenehm und beruhigend, weil sie wußte, John und Stuart waren dort. Als sie sie rief, kamen sie in die Küche und beendeten ein Gespräch, in das sie vertieft gewesen waren. Sie stellte ihnen den Eintopf hin, und sie lobten ihn. Zuerst Stuart, dann auch John. Es beunruhigte sie ein wenig, wie er offensichtlich nur seinem Vater alles nachplapperte, und sie begann an ihre Rauchpause nach dem Essen zu denken. »Fast hätte ich den Schinken gemacht«, sagte sie, als sich John einen Löffel Fleisch und Soße in den Mund schob. »Schinken wäre auch gut gewesen«, sagte er. »Auch Schweinskoteletts hatte ich mir überlegt.« »Ja, aber Rindfleischeintopf hab ich doch am liebsten«, sagte Stuart. »Ich auch«, ergänzte John. Sie versuchte Johns Blick zu erhaschen, doch er wich ihr aus, und sie wußte, er tat nur so, als sei er hungrig und als liebe er Rindfleischeintopf. »Erinnerst du dich noch an Doubleday Robbins?« sagte sie. »Wer?« »Doubleday Ro–« »Ach so. Ja, natürlich.« 112
»Weißt du, was aus ihm geworden ist?« »Wieso, was ist mit ihm?« »Nein, nein, ich meine nur, was aus ihm geworden ist. Wo ist er denn jetzt? Was hat er im Leben angefangen?« »Ich weiß es nicht.« »Fragst du dich nicht manchmal?« Sie trank einen Schluck Wasser und beobachtete John. Sie spürte, daß er nicht mehr der alte John war. Er schob sich wieder einen Löffel Eintopf in den Mund und kaute. Er hielt den Kopf gesenkt, als sehe er etwas Interessantes auf seinem Teller. Als Stuart ihn um Salz und Pfeffer bat, war nicht er es, der es ihm reichte. Die Streuer, der eine schwarz, der andere weiß, schwebten von alleine durch die Luft. Jedenfalls sah sie das so. Weil es nicht John war, der sie hinüberreichte. John war überhaupt nicht da.
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9. KAPITEL Liebe Mom, schrieb Emily an Mary, die auf dem Bauch lag und die Arme um das Kissen geschlungen hatte. Das Fenster war einen Spalt offen, und eine leichte Brise wehte aus dem Dunkel herein und über ihr Gesicht. Ich fühle mich schwindlig. Ich bin so verwirrt. Wo bin ich? Müde. Ich werde noch etwas weiterschlafen, vielleicht verschwinden dann diese schreckliche Verwirrung und dieser Alptraum. Mary war früh schlafengegangen, nachdem sie von einer fast schlagartigen Erschöpfung übermannt worden war. Jetzt klammerte sie sich an ihr Kissen, und die weichen Daunen taten ihrem Magen gut. Sie sank ein in die Nacht und bemühte sich, das Bild festzuhalten, wie Emily Buchstaben auf drei gelochte und blaulinierte Blätter schrieb und abschickte: Jetzt sehe ich klarer, und meine Hand zittert nicht mehr so, wenn ich schreibe. Ich fange an mich zu erinnern. Ich erinnere mich an einen Mann. Er war groß. Er packte mich, hob mich hoch und warf mich. Er brachte mich irgendwohin, zerrte mich fort. Fort von Mom und Dad. Wo sind sie? Er hatte ein Auto. Ein großes Auto. Wo sind sie? Wo bin ich hier? Muß schlafen … Entschuldigung … … Ich glaube, ich habe sehr lange geschlafen. Aber ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, es war sehr lange, weil ich sehr verschwitzt bin wie immer, wenn ich sehr lange schlafe. Es ist schwer, dir zu schreiben, weil es fast ganz dunkel ist. Ich bin sehr hungrig. Meine Arme und Beine tun weh, und meine Haare sind ganz klebrig. Ich habe es probiert. Blut. Das klebrige Zeug ist Blut, glaube ich. Mein Kopf tut weh. Ich fühle mich völlig zerschlagen. 114
Verloren. Du fehlst mir, Mom, und Dad auch. Ich bin zu verwirrt, um zu weinen. Zu verwirrt, glaube ich, um weiterzuschreiben. Tut mir leid. Tut mir leid. Ich bin traurig. Liebe Mom, es ist einige Zeit vergangen. Ich weiß nicht, wieviel, und es macht einem angst, wenn man so gar nicht weiß, wieviel Zeit vergeht, aber ich habe etwas zu essen gefunden. Am Ende des Raums stand eine Tüte, als ich aufwachte. Irgendwer hat sie wohl gebracht, während ich schlief. Ich griff hinein und ertastete einiges Eingepackte. Vielleicht ein Sandwich. Oder einen Apfel. Erst mal aß ich etwas Brot. Ich habe inzwischen auch entdeckt, wo ich bin, glaube ich. Es könnte ein Schiff sein oder ein Boot. Ich höre platschende Geräusche. Und Wellen, glaube ich. Ich treibe oder fahre irgendwohin. Fort. Fort, über den Ozean. Aber was für einer ist es? Und wie weit fort? Und wohin? … Ich schlafe immer wieder ein, obwohl ich es manchmal gar nicht möchte. Wenn ich wieder aufwache, gibt es neue Entdeckungen. Diesmal Wasser! Trinkwasser. In der Ecke stand ein großer Krug, als ich aufwachte. Irgend jemand ist hier. Hat er mich schlafen sehen? Die Sache mit dem Licht irritiert mich sehr. Manchmal ist es da, dann wieder nicht. In den Planken über mir an der Decke ist ein langer Riß. Und durch den sehe ich – oder glaube ich zu sehen – manchmal Licht, und ich nehme an, dann ist es Tag. Und Nacht, wenn es dunkel ist. Das klingt wahrscheinlich sehr dumm, aber ich war zuvor so verwirrt, daß ich nicht einmal die Wellen hörte oder den Wechsel der Helligkeit wahrnahm. Dann erst registrierte ich es allmählich und begann über all das hier nachzudenken und versuchte es zu verstehen. Wenn das mit dem Licht stimmt, bin ich hier jetzt eineinhalb Tage. 115
Aber gefühlsmäßig scheint es sehr viel länger zu sein. Ich mühe mich ab. Liebe Mom, warum schreibst Du mir nie? Ich würde gerne etwas von Dir hören. Kannst Du denn nicht antworten? Bitte! Bin traurig. Mom, ich habe wieder etwas Brot gegessen. Es ist dunkel. So dunkel, daß ich das Gefühl habe, es hätte niemals Licht gegeben. Schließlich weinte ich. Nein, schluchzte. Als ich erst mal anfing, konnte ich nicht mehr aufhören. Ich habe mich verirrt. Ich fühle mich völlig leer. Die ganze Zeit denke ich: warum bin ich hier? Ich habe versucht über alle Möglichkeiten nachzudenken, was denn eigentlich passiert sein könnte. Wer könnte mir das angetan haben? Aber alles, was mir dazu einfiel, war, daß es wahrscheinlich ein Versehen war. Irgendein schrecklicher Fehler, eine Verkettung von Umständen. Falls dies eine Entführung ist, so verstehe ich es nicht, weil meine Eltern doch nicht viel Geld haben. Ich selbst habe nie etwas Böses getan. Soviel ich weiß, ist der einzige Mensch, der mich haßt, Christopher Abott aus der Schule. Aber der täte doch so etwas nicht: KÖNNTE es doch gar nicht tun. Vielleicht ist dies alles nur ein Scherz oder so etwas. Aber wenn, dann dauert er bereits zu lange. Mommy, Mommy, ich bin so wütend. Auf alles. Ich hasse alles und jeden! Ich hasse alle, weil sie dies geschehen lassen. Warum ich? Ich muß aufhören zu schreiben. Ich bin so zornig, daß der Füller zittert. Ich schwitze wie verrückt. Ich habe tief durchgeatmet, jetzt geht es mir wieder 116
etwas besser. Ich bin hin und her gerannt und gegen die Wand und habe geschrieen. Warum? WARUM? Ich habe Dir noch nichts wegen der Toiletten geschrieben. Es gibt hier keine. Ich konnte es schließlich nicht mehr länger aushaken und habe in die Ecke gemacht. Als ich später nachsah, war da nur ein kleiner Fleck. Ich bin so froh, daß ich hier wenigstens meinen Füller habe, so froh. Es ist der mit den hübschen Goldringen, den Du mir mal geschenkt hast – Du und Dad, zu meinem Geburtstag. Was würde ich ohne ihn machen? Zuvor hatte ich nie wirklich Zeit, mit ihm zu schreiben. Aber dann habe ich ihn mit in die Schule genommen, um ihn dort zu benützen, also hatte ich ihn dabei, auch auf dem Heimweg. Da ging ich. Und las an der Ecke. Und dann war ich auf einmal hier. Ich fühle mich elend. Da war noch irgend so ein Anprall. Ich fiel, während ich rannte. Mein Knie ist klebrig und tut weh. Aber nicht so sehr wie alles andere. Alles ist so taub. Das ist das einzige Gefühl, das ich habe. Ich muß schlafen. Ich bin verletzt. Liebe Mommy, hab wieder geweint. Du und Dad, Ihr fehlt mir so sehr. Und auch Andrew und Anthony. Und der Zitronenbaum im Hof hinten. Und das Gras zwischen den Felsen. Und der Himmel fehlt mir und der Wind und die Möwen und die Eisvögel und die Regenpfeifer, die schwarz bauchigen und die schneeweißen. Und das Fernsehen und Rafi und Jasmin und Lucinda und Samantha und Roscoe, mein Affe, und Puzzle, auch wenn das Stroh schon aus ihm rauskommt. Und meine Puppen, Jasmine und Luanda und Samantha. Und mein Bett, meine eigenen Laken und Kissen und mein Tisch und meine 117
Bonbons und Kuchen und Nudeln und das OBST! Und alle Freunde, und die Lehrer und sogar die Schule und die LEUTE! Vorhin habe ich irgendwo Schritte gehört. Ich muß ganz unten in diesem Schiff sein, weit, weit unten, weil ich dauernd das Platschen des Wassers an die Bordwände höre, glaube ich. Noch ein Fleck. Ich will nach Hause! Ich will hier raus. Raus will ich! Ich weine. Mommy, was würde ich nur machen, wenn ich nicht wenigstens schreiben könnte und meinen Füller nicht hätte, meinen wunderschönen neuen Füller zum Schreiben. Er gibt mir das Gefühl, daß Du da bist, gar nicht weit weg, ganz nahe. Irgendwo in der Nähe, glaube ich, wenn ich meinen Füller in die Hand nehme. Ich lege ihn fast nie wieder weg. Weil ich Angst habe, er könnte ihn mir nehmen. Während ich schlafe. Könnte er. Im Dunkeln. Und ohne ihn würde ich wahrscheinlich verrückt werden. Ich meine, ganz echt und wirklich geisteskrank. Aber wer weiß, vielleicht bin ich ja tot. Ich hoffe nicht. Aber ich bin müde. So unheimlich müde. Wenn ich nicht mehr schreibe, so bedeutet das, daß ich aufgegeben habe. Mary mußte auf die Toilette. Minuten vergingen im Halbdämmer zwischen Ärger und Verwirrung, als sie eine Möglichkeit suchte, Wasser lassen zu können, ohne aufstehen zu müssen. Durch das offene Fenster wehten Schatten herein. Ihr Kopf war jetzt wie ein Kaleidoskop. Formen fielen auseinander und setzten sich zu neuen zusammen, die zwar weniger überzeugend, aber dafür 118
wesentlich vertrauter waren. Sie hatte keine Wahl. Sie mußte auf die Toilette. Irgendwo mußte es schließlich sein. Ihre Nieren taten ihr weh. Sie setzte sich auf und taumelte ins Bad. Sie bemerkte, daß die Digitaluhr gerade von 1:16 auf 1:17 sprang. Ein plötzliches Gefühl, so stark, als habe Roger vom Bett her sie gerufen, ließ sie an der Tür stehenbleiben. Aber sie sah nicht auf den schlafenden Roger, sondern auf ihre Bettseite, von der sie eben aufgestanden war. Sie sah sich dort selbst liegen, und ihre Vorstellung reduzierte sich auf eine flüchtige Idee, so wie ein Detektiv sich auf einen scheinbar unwichtigen Hinweis konzentriert. Als sie nach ein paar Minuten wieder aus dem Bad kam, fühlte sie sich immer noch sehr verwirrt und merkte, daß sie auch durstig war. Sie ging in die Küche hinunter zum Kühlschrank, um einen Schluck Mineralwassser zu trinken. Unten an der Treppe blieb sie im Flur stehen und sah die Post durch, die dort in einem Körbchen auf dem antiken Tisch lag. Rechnungen, Kataloge, Werbung. Handzettel. Anpreisungen. Nie schrieb ihr irgend jemand, der ihr etwas bedeutete, dachte sie. Immer nur Leute, die etwas verlangten. Leute, die ihr etwas verkaufen oder kassieren wollten für etwas, das sie ihr aufgeschwatzt hatten. Dabei gab es durchaus welche, auf deren Nachricht sie dauernd wartete. Mit denen sie gerne in Kontakt getreten wäre. Von denen sie wissen wollte, was sie alles vorhatten und wie sie über alles dachten. Sie schenkte sich gerade ein Glas Mineralwasser ein, als ihr einfiel, daß die Nachricht, auf die sie so sehnsüchtig wartete, ja schon eingetroffen sei, nur daß jemand sie ihr unterschlagen habe. Oder vielleicht war sie auch nur im Briefkasten liegengeblieben, dachte sie, als sie den flüchtigen Einfall in mögliche Realität umsetzte. Ihre 119
Mutter vielleicht? Sie mußte sie gleich morgen anrufen. Sie schloß die Haustür auf und trat hinaus auf die weite betonierte Terrasse mit der Treppe nach unten und dem schwarzen Eisengeländer. Der Rasen im ruhigen Mondschein erstreckte sich bis zur Straße hinunter. Unten an der Einfahrt war der Briefkasten in einen der beiden Ziegelsteinpfosten des Gartentors eingemauert. Sie ging hinunter. Eine leichte Brise kühlte sie unter dem Baumwollstoff ihres Nachthemds. Sie zog die hufeisenförmige metallene Briefkastentür herunter und griff hinein. Und sie erfühlte einen Briefumschlag. Obwohl ebendiese Möglichkeit sie überhaupt erst veranlaßt hatte, herunterzukommen und nachzusehen, hatte sie doch nicht wirklich damit gerechnet, tatsächlich einen Brief zu finden. Sie war so überrascht, daß sie wie gelähmt erstarrte. Sofort sah sie Emily in ihrer Schulbank vor sich, wie sie sich mit gefurchter Stirn über einem Aufsatz mühte und dabei am Daumennagel der Hand nagte, in der sie ihren Füller hielt, den sie zum Geburtstag bekommen hatte – eine Imitation eines Mont Blanc. Der Zwang, die komplizierten Geheimnisse ihrer gegenwärtigen Umstände zu erläutern, ließ sie über ihrem Spiralnotizblock brüten. Einen Augenblick lang schien es möglich, daß sie noch irgendwo lebte. Einfach nur gekidnappt war und nicht getötet. Und in dem Brief, den sie hier in den Händen hielt, standen vielleicht die Erklärung für alles und die Anweisungen, was sie tun mußte, damit sie freigelassen wurde und nach Hause zurückkehren durfte. Auf dem Umschlag stand PERSÖNLICH! und DRINGEND! Sie öffnete ihn, fand aber sogleich in die Wirklichkeit zurück. Sehr seltsam, das alles. Sie mußte wohl noch halb schlafen. Selbst im Mondschein konnte sie sehen, daß die so dringende und persönliche Nachricht in dem Briefumschlag nichts weiter war als eine Werbung 120
für irgendwelche Vitamintabletten, auf glänzendem Kunstdruckpapier, seriös aufgemacht und vier Seiten lang. Sie starrte geistesabwesend auf die Versicherung, was für eine bahnbrechende und völlig neuartige, hochwirksame Multivitamintablette ihr da zur Verfügung gestellt werde. Zurück im Haus zerknüllte sie den Brief und warf ihn in den Papierkorb. Sie verschloß die Tür wieder. Ihr Mineralwasser stand immer noch da. Sie trank einen Schluck und ging wieder nach oben. Roger lag auf seiner Bettseite, das Gesicht von ihr abgewandt. Sie schlüpfte vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, zurück ins Bett. Doch als sie sich im Kissen zurechtlegte, fragte er, ohne sich zu rühren: »Ist was?« »Nein.« »Gut.« »Tut mir leid, daß ich dich aufgeweckt habe.« »Du warst ziemlich lange weg.« »Ich hatte Durst.« »Wir könnten uns einen Minikühlschrank hier hereinstellen.« »Das ist nicht nötig.« »Sicher, aber es wäre doch ganz nett.« Das anschließende Schweigen zog sich hin. Es schien lange genug zu dauern, um zum Weiterschlafen zu führen. Doch dann sagte sie: »Roger?« »Ja.« »Kanntest du diesen Füller – Emilys Füller –, diesen imitierten Mont Blanc, den sie bei sich hatte? Hast du den mal gesehen?« 121
»Nicht daß ich wüßte.« »Er muß unten im Keller sein. In dem Kleiderschrank.« »Na ja, da unten habt ihr doch alle ihre Sachen hineingepackt, du und Freddy, nicht? Soviel ich weiß. Ich meine, falls ihr sie aufgehoben habt.« »Ja, ja«, sagte sie. »Laß uns wieder schlafen«, sagte Roger. »Morgen früh müssen wir raus.« »Wie immer«, sagte sie und dachte an die Jungs beim Frühstück. Anthony und Andrew, wie sie rumgrölten und sich Obst in ihre Cornflakes schnitten und Schokoladensirup in ihre Milch haben wollten. Sie dachte an alle ihre Bedürfnisse und Vorlieben und Freizeitbeschäftigungen und wie sich alles so rasch veränderte. Alles rauschte vorbei wie ein reißender Fluß. Zuerst Modellautos, dann die Ninjakrieger. Und die Ninjaschildkröten. Und Baseballkarten und Baseballkleidung. Sie versuchte sich ihre eifrigen, erwartungsvollen Augen vorzustellen, und das erinnerte sie wiederum daran, wie Emily die beiden als Babys geküßt und sich bemüht hatte, damit ihre nagende Eifersucht zu bezwingen, indem sie ihnen die Köpfe tätschelte und dabei Zustimmung heischend zu ihr aufblickte. »Gute Nacht, Roger«, sagte sie und tätschelte seinen Arm. »Bis morgen früh«, sagte Roger. Aber zwanzig Minuten danach lag sie immer noch hellwach da. Schließlich stand sie noch einmal auf und tappte hinunter in den Keller, barfuß auf dem Zementboden, bis zu dem Kleiderschrank in der Ecke. Er stand da im Schatten wie ein Schrein in einer Grotte. Sie öffnete ihn vorsichtig. Vier hübsche Kleidchen auf Bügeln hingen darin. Ihre Säume bewegten sich im Luftzug. Die 122
Schubladen und Regale waren voll von den Spielsachen und Plüschtieren, die wegzuwerfen oder der Wohlfahrt zu geben sie nicht über sich gebracht hatte. Unter den Kleidern standen drei Paar winziger Schuhe ordentlich in einer Reihe, ein Paar schöne Sonntagsschuhe und zwei Paar bequeme Alltagsschuhe. In der Seitentasche von Emilys Schultasche fand sie den Füller. Schlank und schwarz mit der Goldklammer. Sie nahm ihn heraus und hielt ihn wie zum Schreiben. Und allein die real existierende Form in ihrer Hand versicherte sie der Unmöglichkeit, daß Emily irgendwo sein könne und ihr in dem Bemühen, sie zu erreichen, verbissen Briefe schrieb.
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10. KAPITEL »Langweilen wir dich?« fragte Coop. »He, Freddy!« Freddy blickte von seiner Uhr hoch und registrierte die Tatsache, daß es fast drei Uhr morgens war. Unter all den Augen, die er auf sich gerichtet sah, war nicht eines, das nicht spöttisch und besserwisserisch dreingesehen hätte, kein Mund, der sich nicht abfällig verzog. »Bist du noch da, oder was? Haben wir dich etwa hypnotisiert?« fragte Manny in einem Singsangton. »Wahrscheinlich denkt er über seine Tanzdarbietung nach. Denkst du über deine Tanzdarbietung nach, Freddy?« »Ich hoffe nicht. So gut war sie auch wieder nicht. War schon ganz gut, aber nicht so gut.« »Hier sitzen Freunde«, sagte Coop. »Wir amüsieren uns, wir haben Spaß, aber du bist gar nicht bei uns, Freddy. Du läßt die Puppen tanzen. Seht euch die da an. Die ist völlig nackt. Wie heißt die noch mal?« Auf dieselbe Weise, wie er am Morgen diese seltsame plötzliche Distanz zwischen sich und Mia entdeckt hatte, fühlte Freddy sich nun von Coop und den anderen Kumpels sternenweit entfernt. Sie waren nur noch ein Fernsehbild mit leise gestelltem Ton, der Fernseher selbst in einem angrenzenden Raum. »Wißt ihr, was?« sagte er. »Also, ich meine nicht heute. Ich rede nicht von jetzt, aber –« »Was? Was hast du gesagt, Freddy?« »Er hat gesagt: nicht heute, nicht jetzt.« Freddy nahm sein Glas und drehte sein Handgelenk und ließ den Bourbon in seinen Mund laufen. Sie waren alle 124
derart bescheuert und ignorant. Er hatte das Gefühl, ihnen erzählen zu können, was er wollte. Er konnte alles in allen Einzelheiten erzählen, was passieren würde, und sie hätten doch keine Ahnung. »Ich rede von etwas, das passiert ist. Mir passiert. Und es könnte euch genausogut passieren.« Er strich die letzten Krumen seines Cheeseburgers zusammen und schob sie sich in den Mund. »Aber nicht heute und jetzt«, erklärte Silas. »Natürlich nicht. Niemals heute abend.« »He, wie heißt das Spiel? Spielen wir hier Charade oder was?« sagte Coop. »Ein paar Anhaltspunkte mußt du uns schon geben, Freddy. Mach mal ein paar Handbewegungen.« Freddy zeigte mit dem Finger auf ihn und hob den Daumen dazu wie einen Pistolenhammer. »Das ist vor langer Zeit passiert.« »Toll«, sagte Coop. »Cowboys.« Freddy lächelte, es zog ihm richtig das Gesicht auseinander, so lustig fand er das. Sein Mund wurde immer breiter, und er zeigte seine Zähne, die so groß waren wie Eier. Seine Gedanken rasten davon wie Türen eines Lagerhauses, die aufgestoßen werden. »Schaut ihn euch an«, sagte Silas. »Der beschissene Kater, der den Kanarienvogel gefressen hat.« »Nein, nein«, widersprach Coop, »das ist er nicht, das ist der Knabe, der Mias Pussy aufgefressen hat. Stimmt’s, Freddy?« Freddy nickte. »Ob ich recht habe, hab ich gefragt!« Freddy nickte wieder. »Mann, so gib doch eine richtige Antwort wie ein Kerl. Ich will eine wirkliche Antwort haben.« 125
»In Ordnung«, sagte Freddy. »Ich versuche euch doch nur eine Sache klarzumachen. Euch in was einzuweihen.« »Na gut.« »Also was ist es?« »Was ich wissen möchte«, sagte Freddy, »ist, ob einer von euch jemals spürte, wie in seinem Kopf ein Geräusch entstand, über viele Tage hinweg, ein ganz seltsames, eigenartiges Geräusch, so ähnlich wie ein Staubsauger.« »Ein was?« »Ein Staubsauger.« »Weißt du, Freddy«, sagte Coop, »ich bemühe mich ja. Aber ich habe schon ein halbes Dutzend von dem Zeug da intus. Und das ist kein Orangensaft, kann ich dir sagen. Falls du das glaubst. Also, wovon, zum Teufel, redest du eigentlich? Kläre mich auf, bitte!« Manny bemühte sich um eine Pose gespielter Überlegenheit und sagte: »Was ist los mit dir, Coop? Freddy ist doch nicht schuld. Das war doch eine ganz klare, eindeutige Frage, oder? Ich meine, die Frage lautete: Habt ihr jemals ein Staubsaugergeräusch im Kopf gehört? Richtig, Freddy? Das war deine Frage, nicht?« »Ach, das hat er gefragt?« sagte Silas. »Ach das«, sagte Coop und verdrehte die Augen. »Ein Staubsaugergeräusch in meinem Kopf. Aber gewiß doch, sicher! Ich meine, ich finde das ganz normal, wenn das Hausmädchen mit dem Staubsauger zugange ist. Auf dem Teppich und so, in der Hotelhalle.« »Oder wenn du dir einen runterholst.« »Genau. Wenn man sich einen runterholt.« Freddy nickte wieder mit seinem übertriebenen Grinsen, das er nun schon die ganze Zeit zur Schau trug und dabei seine Zähne fletschte, als wären sie ein Hackbeil. 126
Irgendwo in seinem Hinterkopf, in ganz entfernten Nebenbereichen, sammelte sich ein Schattenklumpen und zog sich auf die wabernde Form seiner Pistole zurück. Feuerrote Projektionen des flackernden Bühnenlichts wanderten über ihren Tisch hinweg und färbten die Finger ein, die sein Whiskeyglas umklammerten. Er versuchte sich auf John Booths Augen zu konzentrieren, wie er die Pistole erkannte und anstarrte. Doch er brachte das Bild nicht zustande. Bis zu diesem besonderen Augenblick, diesem großen Moment kam es nie. Immer raste ihm das Bild dann davon und voraus auf die Zeit danach. Wenn sein Körper blutig auf die zerwühlten Bettlaken sank. Oder an einem Küchentisch zusammengesunken, eine Hand noch neben einer umgestürzten und ausgeschütteten Tasse Kaffee. Und Augen, die wie Eiterflecken aussahen. Oder er traf ihn vielleicht vor dem Fernseher an, das Arschloch, wie er auf der Couch gelümmelt dalag, die Lautstarke noch voll aufgedreht und mit trägem, gelangweiltem Blick. Auf einmal war die Musik so laut wie ein Autowrack und ein Gekreische quietschender Bremsen. Die breite Bühne vorne hatte sich auf ihre glänzenden Titten verengt, die durch das eisigblaue Unterwasserlicht schwammen, mit Blut vermischt. Sie schwebten in ihrer bleichen, traurigen Nacktheit zu den Tönen der Musik. Und sie überschwemmte ihr Publikum mit Tanzgesten und dem Dröhnen des stampfenden Beat darum herum und mit der Nacht in ihrer ungeschützten, anmutigen und verderblichen Schönheit, damit sie sie festhielten, betrachteten, schützten, liebten und es mit ihr trieben. Zugleich aber schirmte sie sich gegen sie ab, mahnte sie, sich zurückzuhalten, weil sie nicht zur Verfügung stand. Coop stand heftig auf. Er hob die Hand, als wolle er sie auf den Tisch schlagen. Aber er ließ sie statt dessen 127
langsam wieder sinken, beugte sich vor und starrte Freddy in die Augen: »Der Staubsauger, Freddy. Der verdammte Staubsauger!« »Was?« »Was mit dem ist, will ich wissen. Das hast du uns noch nicht gesagt. Und das wolltest du doch?« »Es geht um das letztemal«, sagte Freddy. »Als du zum allerletztenmal einen eigenen Gedanken hattest. Versuch mal nachzudenken, Coop, wann das war! Versuch es. Weil du da nämlich dreist geworden und darauf herumgeritten bist. Hochnäsig. Eingebildet. Und dir mächtig gefallen hast dabei. Bis du dann eben den Staubsauger gehört hast im Kopf. Und auf einmal war dein teurer Gedanke weg, und zwar so weg, daß du dich jetzt kaum noch erinnern kannst, daß du ihn hattest.« »Aber du meinst doch nicht heute nacht?« fragte Silas. »Nein. Nein, nein, nein«, sagte Coop. »Nicht heute nacht. Das hat er ja gesagt.« »Er meint irgendwann sonst.« »Gott sei Dank«, mokierte sich Manny wieder und stieß Silas an, und sie begannen beide zu singen: »Irgendwann sonst, irgendwann sonst.« Freddy hob die Hände in einer Geste, die besagte, er akzeptiere ihren Spott ja. Er war völlig immun gegen sie. Noch im selben Atemzug war es ihm möglich, eine Karikatur einer weltschmerzlichen Enttäuschung zu geben. Dann öffnete er den Mund und rülpste. Er wandte sich lachend ab, aber es war so offenkundig alles nur gespielt. Als lache er über die Tatsache, daß überhaupt nichts zum Lachen war. Überhaupt nichts. Perfekt war es. Nutz- und sinnlos. Absolut scheißsinnlos. Er steckte sich eine neue Zigarette an und warf mit dem 128
ersten Zug den Kopf zurück, was ihm die nächste Stripperin ins Gesichtsfeld brachte. Verna. Sie trat in einem Kampfanzug auf, und mit dem, was mittlerweile davon übrig war, winkte sie ihm zu, wiegte die Hüften und schob sich die Hände unter die Brüste. Und noch eine und noch eine, dachte er. Zum Aufgeilen. Er winkte zurück und lächelte kalt. Es war Stunden her seit Mias Auftritt. Sie saß jetzt drüben an einem der Tische bei ein paar jungen, muskulösen Kerlen und lachte viel und laut und kniff den größeren der beiden immer wieder in den Arm. Draußen auf der Straße sauste ein Polizeiauto mit lärmender Sirene vorüber. Er sah, wie das eisblaue Fenster vorne mit blendend Weiß und Rot wechselte und hatte das Gefühl, daß sie hinter ihm her waren. Er war einfach nicht imstande, jemals die ganze Sache bis zu Ende durchzudenken. Manchmal stellte er sich vor, wie Streifenwagen ihn rundum einkreisten. Sollte er sich kampflos ergeben oder nicht? Sie waren schließlich nur Männer, die einfach ihren Dienst und ihre Pflicht taten. Die meisten von ihnen hatten vermutlich Kinder, und deshalb würden sie seine Gründe, warum er es getan hatte, gut verstehen können. Er schob den Tisch von sich und stand auf. »Ich muß los«, sagte er. »Bis später dann, Jungs.« Es fiel ihm richtig schwer, seine Füße in Bewegung zu setzen und nicht einzuknicken. In seinem Inneren suchte ein Taumel sich seiner zu bemächtigen. Er stand da und sah Verna zu, wie sie endlich auch noch den letzten Rest ihrer Kleider ablegte, von den beiden Fransenbommeln auf ihren Brustwarzen abgesehen. »Wo gehst du hin?« fragte Coop. »Ist doch grade erst drei?« 129
»Verpflichtungen, Verpflichtungen«, erklärte Freddy. »Mia ist doch noch gar nicht fertig.« »Mia, Schmia«, sagte Coop. »Wo er doch seinen beschissenen Staubsauger abstellen muß, hab ich recht, Freddy? Du gehst jetzt deinen Staubsauger abschalten, richtig?« »Den hat er irgendwo abgestellt.« »Ich glaub, ich hör ihn?« »Ich auch, glaub ich.« »Aber wißt ihr auch, was es wirklich ist?« fragte Freddy. »In Wirklichkeit? Es saugt euch nämlich den letzten Rest von dem, was mal euer bißchen Hirn war, raus, und …« »Ja, und?« sagte Coop. »Und?« sagte auch Manny. »Und läßt einen leeren Fleck zurück, denn was ich …« »Das klingt ja ganz schön bescheuert.« Er sprang die ersten beiden Schritte beinahe und versuchte sich lachend aus dem Durcheinander der Tische zu entfernen. Er mußte die Füße vorsichtig auf den Boden setzen, als seien sie sehr schwer und als stehe er auf einem schwankenden Grund, unter dem es wer weiß wie tief hinabging. Auf der leeren Straße draußen steckte er sich eine Zigarette in den Mund und zog so heftig an ihr, daß er einen quietschenden Laut vor Anstrengung dabei von sich gab. Den Rest warf er weg und ging an der berghohen Parkgarage entlang, betrat sie und suchte seinen neun Jahre alten Cadillac Seville. Der Anblick der aus den leeren Abstellnischen herausragenden Vorderscheinwerfer erinnerte ihn an den Tag, als er ihn gekauft hatte. Er steckte den Türschlüssel ins Schloß und stand da und sah wieder Mary und sich selbst vor sich, ein glückliches 130
junges Paar, wie sie im Cadillac-Ausstellungsraum vor diesem Wagen standen. Und wie sie ein wenig übermütig kicherten bei ihrem impulsiven Entschluß, ihn tatsächlich zu kaufen. Das Geräusch der sich öffnenden Tür brachte ihn wieder in die Gegenwart zurück. Er blickte in das trübe beleuchtete Halbdunkel vor sich, die ganzen Parknischen aus Stein und Stahl die lange Reihe entlang. Wie anders das Leben damals doch gewesen war, als es Emily noch gab! Die Zwillinge waren gerade geboren, und sein Geschäft blühte und gedieh. Er stieg ein und steckte sich die nächste Zigarette an. Seit damals war der Seville hier wie ein Totempfahl für ihn gewesen. Es gab auch noch ein paar andere Sachen, die er im Sinn behalten hatte. Den Zierspiegel mit dem Messingrahmen zum Beispiel. Oder die Triumphuhr oder die handgearbeitete Stehlampe. Manchmal packte er sie weg, dann holte er sie wieder heraus und stellte sie in der Wohnung auf. Sie waren schließlich Andenken. Erinnerer. Der Wagen aber war wie eine Reliquie. Natürlich eine Sentimentalität, dachte er und fuhr hinaus auf die Straße. Bevor er auf die Durchgangsstraße kam, hielt er noch an einem Tankstellenladen und bestellte sich einen großen Becher mit schwarzem Kaffee. Im Hinausgehen merkte er, daß der dünne Becher seine Finger nicht vor der heißen Flüssigkeit schützen würde. Er ging zurück zur Kasse, an der eine kräftige Blondine saß, die eben eine Telefonnummer gewählt hatte. Über der Kasse stand ein Stapel Becher mit Henkel, Deckel und Emblemen, und er verlangte einen, damit er seinen Kaffee bequem trinken konnte. Das Mädchen verbarg den Ärger, beim Telefonieren gestört zu werden, nur mühsam und sagte ins Telefon: »Warte grade mal einen blöden Moment«, ehe sie ihm einen Becher mit einem Dogers-Emblem samt 131
Baseball-Schläger darunter reichte und »Okay?« dazu sagte, aber in einem Ton, als habe er gerade eine obszöne Bemerkung gemacht. »Klar«, sagte er. »Alles bestens.« Ich bin nämlich grade unterwegs, du mieses kleines Luder, um jemanden umzubringen, dachte er. Soll ich vielleicht gleich mit dir hier anfangen? Vielleicht sollte ich das wirklich. Was? Warum eigentlich nicht, möchte ich wissen? Ein leichtes, nervöses Flackern war in ihren Augen, als sie bemerkte, wie er sie musterte und abschätzte, als passe er ihr ein Kleid an, von dem er wußte, daß sie es hassen würde. Ihr Mund gefror über einem nicht mehr ausgesprochenen Wort, und sie legte den Hörer langsam auf die Gabel. Also lächelte er. »Sie haben ganz schön rüde Manieren«, sagte er und ging. »Entschuldigung«, murmelte sie. »Das ist auch nötig.« Die Durchgangsstraße nach Culver City kam ihm ungewöhnlich leer vor. Lange Zeit kam ihm niemand entgegen. Die Reifen summten und trugen ihn voran. Irgendeiner im Radio redete was von Korruption, Enttäuschung und Unfähigkeit bei den Demokraten. Er suchte die Skala nach anderen Sendern ab, bis er zu einer schrillen und amtlich klingenden Stimme kam, die seine Aufmerksamkeit fesselte. In einem Ton, der zu verkünden schien, das Schicksal der Nation hänge am seidenen Faden, kommentierte der Mann die letzte Niederlage der Lakers. Das erste Rücklicht, das er dann vor sich sah, war noch eine gute Meile entfernt. Darüber schwebte gesprenkeltes, rotes Licht wie von einer ganzen Flugzeugstaffel. Auf der Gegenfahrbahn jenseits des betonierten Mittelteilers donnerte ein Truck mit Anhänger, auf den riesige Orangen 132
aufgemalt waren, vorüber. Nach einer Weile drehte er den Sportsender wieder weg und suchte sich einen Sender mit klassischer Musik, deren schwebende Noten ihn unwillkürlich aus dem Fenster blicken und ihn nach Sternen ausschauen ließen. Das Instrument, das ihm so unirdisch erschien, war die Harfe – wenn er sich recht erinnerte. Woher kannte er das bloß? Vermutlich aus dem Kino, woher sonst. Ganz erstaunlich, was für Mist sich im Laufe der Zeit im Kopf festsetzte und ablagerte. Nicht nur brachte er die Harfe sofort mit den Sternen in Verbindung, sondern auch mit Emily. Wie sie sang. Oder rannte. Oder eine weiße Porzellanschale mit im Wasser schwimmenden Blumen fallen ließ, die dann in tausend Scherben zersprang, die zusammen mit dem Wasser den ganzen gefliesten Boden bedeckten. Sie heulte, als er ihr half, die Scherben zu beseitigen. Der letzte Anblick, den er von ihr gehabt hatte, waren ihre glücklichen Augen am Frühstückstisch gewesen, an jenem Tag vor acht Jahren. Als man ihm sagte, daß sie tot war, überfahren von einem betrunkenen Lastwagenfahrer, hatte er gedacht: den bringe ich um. Seine Empfindungen waren von einer kalten, magnetischen Widerspruchslosigkeit bestimmt. Wie ein stark strömender Fluß, der einen ohne Wiederkehr mit sich reißt. Er konnte sich noch genau an den Sonnenschein erinnern, an den wolkenlosen Himmel, als er auf dem San Diego Freeway unterwegs war. Er hatte geschäftliche Sorgen. Da war dieser Händler, Bobby Goleb, den er für einen Gauner hielt, der nur im Sinn hatte, ihn bei jeder Gelegenheit übers Ohr zu hauen. Er fuhr auf die rechte Spur, um in die Ausfahrt zu Emilys Schule zu biegen. Er hätte sie dort schon vor einiger Zeit abholen sollen, aber dann hatte ihn diese Geschichte mit Goleb aufgehalten, und er hatte eine Nachricht für Mary auf dem 133
Anrufbeantworter hinterlassen, daß sie Emily abholen solle, wenn es ihr möglich war, weil er sich etwas verspäten würde. Und auch die Schule hatte er angerufen, daß Emily auf ihn oder ihre Mutter warten solle. Aber irgendwie hatte nichts geklappt. Inzwischen hatte erden Abschluß mit Goleb wegen der afrikanischen Ohrringe getätigt – aus Elfenbein mit eingeschnitzten Tierköpfen. Auf dem Jazzradiosender erfand Erroll Garner gerade These Foolish Things ganz neu. Und so war er ahnungslos, blind seiner schützenden Normalität und seinem selbstverständlichen Recht auf Sicherheit vertrauend, dahingefahren und hatte so die letzten Sekunden seiner Unschuld verbracht. Und dann hatte das Autotelefon gesummt, und er hatte abgehoben und sich gemeldet: »Hallo?« Und nicht begriffen, was er hörte. Schock wirkte wie ein eigenartiger Dämpfer. Wie ein Narkosemittel. Der Schock ließ ihn denken, man habe ihm den Leib aufgeschnitten, ohne daß er etwas spürte. Und daß er sehr gut daran getan hatte, wachsam zu sein. Denn schon in der nächsten Sekunde spürte er, wie sie ihm die Haut abzogen. Mit einemmal hatte er das Bedürfnis, sich zu erklären. Er wollte, daß jemand aufmerksam zuhörte. So, als wäre er eines dieser blöden Arschlöcher von Oprah und trüge seinen Fall vor, und ihre großen Augen waren tränennaß. Er sah sein eigenes Gesicht auf dem Fernsehbildschirm, und es war ein briefmarkenkleines Bild in der Ecke eines anderen, viel größeren Bildschirms. Über Satellit wurde er vom Gefängnis aus eingespeist. Er trug auch Gefängniskleidung … Das Ausfahrtschild Buchannan Street kam auf ihn zugesaust. Die ganze Fahrt schien ihm nur Minuten gedauert zu haben. Er kannte die Strecke natürlich. Er war sie oft genug gefahren. Er nahm die Ausfahrt und bog rechts ab auf die Sumner, die durch das Gewirr von 134
Straßen einer reinen Wohngegend führte. Schneller, als er wollte, wurde er langsamer und war bereits auf der anderen Straßenseite des Hauses von Stuart und Helen Booth, das dunkel dastand. Kein Licht brannte. Ein grünlicher Schimmer von umstehenden Sträuchern und japanischen Ahornbäumen lag darüber. Er stellte den Motor ab, blieb sitzen und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Als er soweit war, beugte er sich nach rechts hinüber und öffnete das Handschuhfach. Darin lag seine aus dem Schatten heraus silbern schimmernde Neunmillimeterpistole. Der Lauf stieß an die braune Papiertüte mit der Bourbonflasche. Er griff hinein und faßte den kalten Griff der Waffe. Deren zauberische Kraft übertrug sich augenblicklich auf seine Handfläche und bis in die Knochen seines Handgelenks. Von dort aus wanderte sie aufwärts bis zur Schulter und sank dann unter Erzeugung eines kalten Schauders nach unten. Er lud durch. Nun war eine Patrone im Lauf. Beim Zurückziehen konnte er genau erkennen, wie sie aus dem Magazin nach oben sprang. Der Abzug war gespannt, also hielt er sie nach unten. Er wollte sicher sein, daß alles ganz planmäßig und ordentlich ablief. Mit dem Daumen löste er das Magazin und nahm es heraus, dann warf er die Patrone im Lauf wieder aus und steckte sie zurück ins Magazin, indem er die anderen in die Federung nach unten drückte. Jetzt war die Pistole ungeladen. Er legte das Magazin auf den Beifahrersitz und lud die leere Pistole noch einmal durch. Er zielte auf eine Straßenlaterne und drückte ab. Er hörte, wie es klickte. Er versuchte es noch einmal und zog durch und drückte ab und genoß das Geräusch des Ladens. Er zielte in die Luft und drückte ab. Klick. In Ordnung, dachte er. Er steckte sich die Bourbonflasche in die Tasche, klappte das Handschuhfach 135
zu und stieg aus. Gegenüber stand ein Volvo in der Einfahrt. Das Haus war klein, mit nur einem Oberstock und einem Schindeldach, die Wände mit Wärmedämmung verkleidet. Die Schatten der Baum- und Strauchblätter zeichneten sich in einem Helldunkelmuster auf ihnen ab. Der Großteil der Vorderfront war von leicht rosafarbenen Knospen treibender Fuchsien und wie Messerklingen sich wiegendem Mondgras zugewachsen. Er ging über den Rasen bis zur Haustür, griff nach dem Türknauf und drehte daran. Natürlich war zugesperrt. Nun gut, also vielleicht ein Fenster. Es spielte keine Rolle. Das würde er eben einschlagen, wenn es sein mußte. Er trank einen Schluck aus der Flasche und schlich auf eine Seite des Hauses. Die Einfahrt schimmerte und verursachte ein sandiges, kratzendes Geräusch unter seinen Schuhen. Er besah sich jedes Fenster und lugte in das leere Wohnzimmer und auf die Sessel und die Couch, auf denen jetzt niemand saß, und auf die Stühle und den Tisch. An zwei Fenstern waren die Jalousien heruntergelassen und ließen keine Sicht nach innen zu. Er stellte sich vor, daß hinter dem einen wohl John Booth schlief und seine Eltern hinter dem anderen. Dann huschte er hinter das Haus bis zur Hintertür. Dieser gegenüber stand ein silbrig schimmernder Wohnwagen, ohne jedes Fahrzeug. Im Mondschein sah er fast etwas surreal aus, irgendwie verloren im All. Eine große, abgestellte Blechdose. Er nahm noch einen letzten Schluck aus der Flasche und ging dann zur Hintertür, immer noch leicht staksig, aber mit einem heftigen Adrenalinstoß im Leib. Sollte sie verschlossen sein, würde er sie einfach eintreten und damit basta. Er hatte bereits die Fliegengitter aufgezogen, als er das dicke, orangefarbene Stromkabel bemerkte, das aus einem 136
Fenster hinten am Haus kam und in einem hängenden Bogen in eines der Fenster des Wohnwagens führte. Er war verwundert darüber, daß er den Wohnwagen zwar wahrgenommen, aber seine tatsächliche Bedeutung überhaupt nicht erfaßt hatte, als er zur Rückseite des Hauses gekommen war. Verdammt, wie angespannt und mechanisch war er doch vorgegangen! Sein Einbahndenken hätte ihn fast in die totale Irre geführt! Aus welchem Grund hatten sie wohl ein Stromkabel in den Wohnwagen gezogen! Natürlich, weil darin einer wohnte. Und wer wohl? Das Haus der Booths war klein, und John Booth war ein erwachsener Mann. Und deshalb hatten sie ihm, vermutlich als Geschenk, diesen Wohnwagen eingerichtet. Natürlich. Weil sie dachten, daß ihm das recht sein würde. Also würde er ihn zweifellos auch dort drinnen vorfinden. In diesem Wohnwagen konnte er ihn sogar allein antreffen.
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11. KAPITEL Hallo, John, sagte Emily zu den baumelnden Gliedmaßen und dem mißhandelten Leib des John Booth. John Booth schlug auf das Bett wie ein Mann, der gegen einen mächtigen Wind ankämpft. Hallo, hallo, sang sie in sein gebrandschatztes Gehirn. Als er paradoxerweise versuchte dem Wind nachzugeben und die Arme ausbreitete, als wolle er fliegen, fuhr ihre allmächtige Stimme dazwischen. Nein, nein, ermahnte sie ihn und zerstörte all seine Hoffnungen auf Entkommen. Warte! Wo willst du denn hin? Und er hielt inne. Er lag da. Es war hoffnungslos, und er wußte es. Sein Atem ging vorsichtig, als könne er jeden Moment aussetzen. Er war am ganzen Leib gefühllos. John, säuselte sie, John, also jetzt bist du raus. Raus aus dieser Zelle. Aus dieser abgeschlossenen, erstickenden Schachtel. Raus aus diesem unmenschlichen Loch, das so eng und düster ist wie mein Grab. Sie haben dich rausgelassen, und also bist du rausgegangen. Hast du dich aber gefragt, wie du jetzt weiterleben sollst? Jedenfalls hoffst du doch, zu leben, nicht? So ist es doch? Du weißt, daß es so ist. Aber was ist mit mir? Was ist mit mir, John? Ich möchte auch leben. Aber ich bin immer noch tot. Kann ich nicht auch leben? Oder willst du einfach ohne mich leben, John? Hast du das vor? Das kann doch nicht dein Ernst sein, oder? Doch nicht wirklich? Ohne mich, John? Er wollte nichts weiter als seine Ruhe haben. Eine Art Intermezzo des Nichts. Einfach nur eine Pause. Aus der er dann zurückkommen könnte. Schlafen. Nur ein wenig 138
schlafen. Er war in eine Welt hinübergewechselt, in der mysteriöse Regeln herrschten, auf die er keinerlei Einfluß hatte. Und dort hatte sie auf ihn gewartet. Jetzt sank er noch tiefer ein, allein und ohne Kontrolle über die Dinge. Bis er das letzte Teilchen der Gedanken passiert hatte, an das er sich würde erinnern können. Wie eine aus ihm aufsteigende Blase. Und wenn er dann überhaupt nichts mehr wußte, war sie wieder da. Nur war sie jetzt nicht allein. Da waren auch noch andere. Es waren viele, und alle im Kindesalter gestorben. Sie standen auf aus ihren Gräbern und zeigten ihre tiefen und nassen Wunden und ihr tödliches Fieber und die sichtbaren Zeichen von Schlägen, Vernachlässigung und Hunger, und sie kamen und stellten ihre Forderungen. Sie näherten sich mit beängstigender Beredsamkeit. Die ganze Luft war erfüllt von ihnen wie von einem dichten Mückenschwarm. Säuglinge in Windeln, schnullernuckelnde Neugeborene aus aller Welt, manche auch schon in Emilys Alter, andere jünger, einige älter. In Jeans, in Strampelanzügen, in Sarongs, in Saris, in Sportsachen und Internatskleidung, in Lumpen und in lustigen Partyanzügen, in allen möglichen Variationen von T-Shirts und Baseballmützen – neben den anderen, die nackt waren. Eine endloser Zug hinter Emily her, gleichen Sinns wie sie, die immer näherkamen. Nein, nein, John. Nein. So geht das nicht. Wirklich nicht. Das kann ich nicht zulassen. Warum solltest du allein weiterleben? Wie kannst du dies überhaupt verlangen? Es macht mich zornig, daß du auch nur daran denkst, du hättest das Recht dazu. Das Recht, es zu verlangen. Ich hatte so viele aufregende Pläne an jedem Tag, weißt du. So wundervolle, außergewöhnliche Erwartungen. Ich sollte ein neues Kleid bekommen, hatte Mom gesagt, wenn sie rechtzeitig heimkam und mit den Zwillingen fertig war und dann noch Zeit blieb – weil sie ja noch Babys waren 139
und eine Menge Zeit beanspruchten, anders als ich, denn ich war ja schon viel größer. Aber sie hatte es mir fest versprochen, und es war ausgemacht. Und sosehr ich die Zwillinge auch mochte, weil sie ja so süße Babys waren und dabei noch so dumm, und so stolz ich darauf war, daß ich schon viel größer war und fast schon erwachsen wurde, war es trotzdem manchmal immer noch ärgerlich und unangenehm, wie alle glaubten, die beiden verdienten so viel Beachtung. Und daß sie diese einfach haben müßten. Aber das Gute, das wirklich Gute war ja, daß Mom wußte, daß dies alles nicht so ganz richtig und fair war. Ich meine, daß sie wußte, daß ich schließlich mehr als nur Empfindungen für all das hatte, wenn schon ein Gehirn in meinem Kopf war. Also unternahm sie absichtlich bestimmte Dinge mit mir, damit wir immer wieder Zeit zusammen verbringen konnten, über alles reden und Dinge tun konnten, die nur uns beide betrafen und angingen. Und so war es auch an diesem bestimmten Tag, John. Auch für den hatten wir besondere Pläne miteinander gehabt. Wir wollten nämlich ein neues Kleid für mich aussuchen. Ein Partykleid. Und dann wollten wir vielleicht noch zum Essen irgendwohin gehen, nur wir beide. Dad sollte mich von der Schule abholen und hatte zugesagt, hernach auf die Zwillinge aufzupassen, sobald Mom Anthony und Andrew gefüttert und trockengelegt hatte und all das. Er hatte es versprochen, und auch sie hatte es feierlich versprochen, wie in einem Buch. Daß wir uns mit unserem Katalog hinsetzen und mein Kleid aussuchen würden und dann, wenn es Zeit war, zum Essen ausgingen. Was das Kleid betraf, waren wir bereits bei der letzten Auswahl zwischen nur noch zweien. Das eine war auf Seite acht und von europäischem Schnitt in der Länge, Renaissance, gemusterter Samt mit rosa Taft und Rüschenkragen. Hinten am Rücken eine 140
Schleife und dazu eine Zierschärpe und ein Petticoat. Manchmal hatte ich einfach das Gefühl, daß ich es unbedingt haben müßte. Auch Mom fand es wunderschön, aber das andere hatte sie doch noch lieber. Das war auf Seite zwölf. Und ich muß zugeben, ich konnte mich nicht entscheiden zwischen den beiden. Ich hoffte, ich könnte mir den Katalog noch einmal alleine ansehen, während Mom Anthony und Andrew versorgte. Und deswegen wollte ich schnell nach Hause. Ich wußte ja, sie war eher für das zweite Kleid auf der Seite zwölf, das ich ja auch mochte. Wenn auch nicht so sehr wie das erste auf Seite acht. Aber es war letztlich, hatte sie gesagt, meine Entscheidung. Ich durfte es ganz allein entscheiden. Das entsprach wieder dem Besonderen zwischen uns. Das zweite Kleid war ein mit Krickenten bedrucktes, tailliertes Samtkleid mit einem hohen, romantischen Kragen. Das Miederteil war aus Spitze, und die Ärmel waren biesenbestickt und ebenfalls spitzenbesetzt. Der Rock war schwer und voll mit einem angenähten Petticoat. Ich wußte wirklich nicht, für welches ich mich entscheiden sollte. In der Schule hatte ich deswegen ganz plötzlich zu weinen angefangen, aber ich konnte natürlich niemandem den Grund sagen. Als Mrs. Ambrose mich fragte, was denn los sei, konnte ich ihr keine Antwort geben. Es wäre doch furchtbar peinlich gewesen, hätte ich gesagt: Ich weiß nicht, welches Kleid wir kaufen sollen. Also sagte ich lieber gar nichts, und sie sah mich an, als hielte sie mich für ein recht verzogenes Kind. Das andere, worauf ich mich so freute, war, daß Mom lange genug mit den Zwillingen zu tun haben würde, so daß ich mir noch eine Videokassette anschauen konnte. Ich wollte mir noch einmal die Kleine Meerjungfrau ansehen, obwohl ich sie ja schon zweimal gesehen hatte. Doch jedesmal hatte ich danach so ein seltsames Gefühl 141
gehabt, das ich mir gar nicht erklären konnte. So, als hätte ich den Boden unter den Füßen verloren. Teils war es gruselig, teils sehr, sehr traurig, weil es ja mit der schweren Entscheidung der Meerjungfrau zu tun hatte. Sie mußte sich ja zwischen ihrem Vater, dem Herrn der Meere, und dem Prinzen entscheiden, der in der Luft der Erde wandelte. Die Geschichte tat mir richtig weh, je mehr sie voranging. Nämlich mit anzusehen, wie sie da in diesem ganzen Labyrinth herumirrte, in dem ihr niemand raten konnte, nur ein Krebs, der es zwar sicher gut meinte, aber doch nicht besonders klug war. Denn schließlich war er eben nur ein Krebs. ’Was konnte er schon groß wissen von einem Mädchen, das zwischen dem Wasser und der Welt wählen mußte, und von all den Fragen, die damit zusammenhingen. Aber dieser seltsame Schmerz, den ich fühlte, während ich auf der Couch saß, Kissen im Arm und Cracker kauend und Käse vom Teller, das war ein Schmerz, den ich immer wieder fühlen wollte. Also wollte ich an diesem Tag einfach rasch zu Hause sein, mich vergewissern, daß Mom bei den Zwillingen war, mir den Katalog schnappen und mich ins kleine Zimmer vor den Fernseher setzen und die Kassette einlegen und vielleicht, während ich sie anschaute, mich wegen des Kleids endgültig entscheiden. Und noch was Besonderes war an diesem Tag. Ich hatte in der Schule im Kunstunterricht dieses wunderschöne Bild gemacht, an dem ich wirklich sehr hart gearbeitet hatte und das ich jetzt mit nach Hause nahm. Es war der Vogel aus echten Vogelfedern. Ich hatte sie auf das blaue Papier geklebt, das der Himmel war, und die Federn in Vogelform angeordnet. Die Zwischenräume hatte ich mit dicken Klumpen von Posterfarbe ausgefüllt. Die Vogelfedern hatte ich hinten im Hof eingesammelt und 142
auch von unserem Schulausflug in den Zoo. Ein paar hatte ich dann noch im Bastelladen kaufen müssen. Meine Lehrerin sagte, sie sei sicher, meine Eltern würden einen richtigen Glasrahmen dafür kaufen, um es bei uns zu Hause an die Wand zu hängen, weil es so gut war. Und wenn du das jetzt alles hörst, John, dann kannst du sicher gut verstehen, warum ich so böse auf dich bin. Ich weiß schon, daß es dir leid tut, und ich weiß auch, daß du das auch aufrichtig meinst. Aber letzten Endes ist es eben doch nur Bedauern. Und das ist gar nichts, John, verglichen mit meinem Tod. Deine Gefühle sind doch nicht mal was Wirkliches. Aber mein Leib war glatt und fest mit zarten, zerbrechlichen Knochen, die jedoch jeden Tag schwerer und fester wurden. Das läßt sich einfach nicht vergleichen, denke ich, Tod und Bedauern. Ich habe dreißig Kilo gewogen, aber dein Auto, John, waren ein paar Tonnen Metall, die dahergesaust kamen mit Kolben und Motor und der Kraft von Hunderten von Pferden, einfach losgelassen und ohne Zügel. Die Geschwindigkeit hat sich mit dem Gewicht multipliziert und damit eine Kraft entwickelt, gegen die ich doch mit meinem kleinen Leib nichts mehr ausrichten konnte. Da konnte ich schreien und die Arme schützend vorstrecken, soviel ich wollte, nicht? Was ich dir nämlich klarmachen möchte und was du wirklich verstehen mußt, ist, daß genauso, wie du mich mit deinem Auto zermalmt hast, jetzt auch deine Gefühle von meinem Tod und Zorn zermalmt werden. Ich war auf dem Weg nach Hause, John, aber ich kam nie mehr zu Hause an. Im Leichenschauhaus kam ich an. Während ich davon träumte, in meinem neuen Partykleid herumzustolzieren, zog man mir die Haut ab. Und anstatt daß ich mich mit der Kleinen Meerjungfrau befaßte, wurde ich auf einen kalten Metalltisch gelegt, auf dessen Oberfläche Rinnen waren, die in verschiedene Abflüsse 143
mündeten. Und dann kamen fremde Leute daher mit Gummihandschuhen und Skalpellen und Klammern und Sonden und Sägen und fingen an, an mir herumzuschnippeln. Sie waren von der Welt geschickt worden, die genaue Ursache meines Todes festzustellen. Der eine griff zu einem kurzen Messer, während der andere sich mit den Formularen beschäftigte, die sie ausfüllen mußten. Der erste machte sich daran, einen Halbkreis oben auf meinem Kopf von einem Ohr zum anderen zu schneiden und mein Haar abzuheben wie beim Skalpieren. Dann steckte er seinen behandschuhten Finger hinein und arbeitete darin herum und zog seine Hände in entgegengesetzte Richtungen. Binnen Minuten hatte er mir das Gesicht abgezogen wie eine Halloweenmaske, so daß darunter das subkutane Fettgewebe freilag und Myriaden von Venen in einem glitschigen Schleim von Fältchen. Dann nahm er seine Säge und öffnete damit meine Schädeldecke, machte eine runde Klemme daran, die er mit Flügelschrauben festzog, um den Druck zu verstärken, bis meine Schädelknochen schließlich entlang der Sägenaht aufbrachen. Nun lag mein Gehirn frei, ein schwammiges Gebilde aus Windungen und Falten. Es war von einem schmutzigen Weiß unter einem leicht rosafarbenen Film. Und dann machten sie weiter herum, bis mein Hirn herausflutschte wie ein Wackelpudding aus einem Glas, und sie legten es in eine Schale aus rostfreiem Stahl. Danach machten sie an meinem Bauch weiter. Einer schlitzte mich mit dem Skalpell von der Kehle an bis ungefähr zum Nabel auf. Gleich darauf machte er einen Schnitt an meiner rechten Hüfte und dann auf der anderen Seite, und da kam eine Fettschicht zum Vorschein, die ein wenig wie Butter aussah. Meine inneren Organe waren alle sauber und gesund und so ordentlich und hell wie ein nagelneues Puzzlespiel, das noch ganz unberührt mit der 144
Plastikfolie überzogen ist. Leber, Nieren, Gehirn und Lunge, alles rosa und jungfräulich, wurden aus dem widerspruchslosen Gebilde, das ich inzwischen war, herausgeholt. Ein Kadaver. Eine Leiche. Sämtliche Organe wurden aufgeschnitten und Proben davon entnommen. Es wurde gewogen und betastet, und Sonden wurden hineingestochen und Analysen gemacht, toxisch, traumatisch, nach Schädigungen und Verletzungen und Blutergüssen geforscht. Und meine herausgenommenen Organe machten alles hilflos mit. Schließlich kamen die Leute zu ihren urteilen und Schlußfolgerungen und schrieben ihren Autopsiebericht und äußerten sich zur Todesursache: Vielfache Frakturen der unteren Extremitäten, Quetschungen von Milz, Leber, Nieren und Lunge. Schädelfraktur und Gehirnquetschungen. Tod infolge von Schockeinwirkungen und anschließender starker innerer Blutungen. Aber das stimmte gar nicht. Das schrieben sie zwar, aber es war nicht die Wahrheit. Das war nicht die wirkliche Todesursache. Selbst wenn der Mann eine Ewigkeit in mich hineingesehen und gesucht hätte, hätte er sie nicht gefunden. Denn meine tatsächliche Todesursache warst du, John. Du warst meine Todesursache. Freddy spähte zum Fenster hinein und schreckte sogleich zurück, weil er fürchtete, gesehen worden zu sein. John Booth war in seinem Bett hochgefahren und setzte sich auf. Mit einer Hand versuchte er einen imaginären Angreifer abzuwehren. Er schwankte hin und her und war nicht imstande, auch den anderen Arm zu heben. Während 145
er es entschlossen versuchte, wechselte seine Miene von Anstrengung zu Verwirrung. Langsam besiegte und deprimierte ihn seine Unfähigkeit, seine eigenen Gliedmaßen zu kontrollieren. Er saß da und kratzte sich – wenigstens gehorchten ihm die Finger – an der Nase. Dann ließ er sich wieder zurückfallen, und es war, als durchzuckten ihn leichte Stromschläge. Gleich darauf lag er wieder starr und reglos unter seinem weißen Laken. Nur sein rechter Fuß guckte hervor. Freddy holte tief Atem und lud seine Pistole unter der abdeckenden Hand durch. Jetzt war eine Patrone im Lauf. Er entsicherte und bewegte sich zur Tür des Wohnwagens hin. Um in ihn hineinzugelangen, mußte er ganz nahe am Haus vorbei. Er bemühte sich angestrengt, so wenig Geräusche zu verursachen wie irgend möglich. Als er mit der linken Hand den Türknauf faßte, schloß sich seine rechte fest um den Pistolengriff. Der erforderliche Druck zum Öffnen des Türschlosses und Aufziehen der Tür setzte seine Nervenwurzeln bis ins tiefe Rückgrat und ihren Übergang ins Gehirn unter äußerste Anspannung. Das Innere des Wohnwagens, das in dem sich öffnenden Türspalt sichtbar wurde, war eine leicht ovale Form aus Holzimitation und im Halbdunkel aufscheinenden Plaidpolsterungen. Er beschwerte die erste Treppenstufe vorsichtig mit seinem Gewicht. Als er dann ganz in den Wohnwagen hineinschlüpfte, spürte er deutlich, wie er sich damit in diese unbekannte und fremde Dimension hineinbegab, die ihm selbst in seinen endlosen Phantasien zu ergründen nie möglich gewesen war. Er stand vor dem Augenblick, an dem seine Vorstellungen ihn immer wieder verlassen hatten und ihn perplex und führungslos zurückließen und ihm vorauseilten, um ihm in einem verschwommenen Bild erst wieder die 146
blutigen Nachwirkungen zu zeigen. An der Rückwand des Wohnwagens befand sich direkt über dem Bett ein Fenster. Der braun und beige gewürfelte Vorhang davor zeichnete schemenhaft das von draußen hereinfallende schwache Licht des Mondes und den Widerschein der Straßenlaternen ab. John Booth lag da, wie er ihn zuletzt von draußen gesehen hatte, flach auf dem Rücken in den zerwühlten Laken. Nur konnte er ihn jetzt auch hören. Er konnte hören, wie er atmete. John Booths Oberkörper hob und senkte sich in einem steten Stakkato. Sein Mund stand offen. Er schien nach Luft zu ringen. Ein trockenes Geräusch entrang sich ihm bei jedem Atemzug. Die Anspannung wurde immer größer. Freddy spürte das Gewicht der Waffe in seiner Hand. Nie zuvor hatte er irgend etwas dergleichen getan. Aber das, was er jetzt tun wollte, hatte, so glaubte er, noch nie jemand getan. Es war, als müsse er es jetzt erst erfinden. Zuerst mußte er die Pistole hochheben. Dann mußte er den Lauf auf den schlafenden Körper im Bett richten. Er wußte genau, daß dies getan werden mußte. Also tat es auch jemand. Ein gewisser Freddy oder irgendwer. Weil er auf den silbern schimmernden Lauf nach vorne blickte und dann zu dem Kopf von John Booth auf dem Kissen. Als nächstes mußte er entsichern und dann neu zielen. Sein Daumen fand den kreisförmigen oberen Teil des Hammers, der sich anfühlte wie ein vergrößertes Nadelöhr, und zog ihn zurück. Er war es, der das alles tat. Niemand sonst war da. Er hielt die Pistole in seiner Hand, die Neunmillimeter, die er vor Jahren schon gekauft hatte, weil er Kaufmann war, ein kleiner Geschäftsinhaber, der häufig viel Bargeld und wertvolle Edelsteine zu transportieren hatte. Jetzt überschritt er die entscheidende Schwelle. Sah den unergründlichen Augenblick vor sich. Es war etwas 147
Gespenstisches um ihn. Und eine unerwartete Einfachheit. Alles, was er zu tun hatte, war, zu entscheiden, ob er John Booth zuvor noch aufwecken sollte, damit er sah und begriff, was geschah. Wenn ja, dann mußte er wohl etwas sagen und danach abdrücken. Wenn nicht, dann genügte es, jetzt einfach durchzuziehen. Den Bruchteil einer Sekunde lang war diese Frage wie eine blendende Bildwand, die ihn von der Gegenwart löste und sich in den Details dessen erging, was vor ihm lag. Doch dann bewegte sich John Booth. Er stützte sich auf einen Ellenbogen und blinzelte. Er hob eine Hand zu den Augen, als müsse er etwas wegwischen, was ihm die Sicht versperrte. »Sehen Sie mich?« sagte Freddy. »Sehen Sie mich?« »Was?« John Booths Augen erwachten in plötzlichem Erkennen und weiteten sich. Der Mund öffnete sich ebenfalls, als hoffe er, mit einem Schrei den gleich folgenden Schußknall zu übertönen. Und als Freddy den Finger am Abzug krümmte, ließ ihn der plötzliche Adrenalinstoß in seinem Leib einen Schrei ausstoßen und ihn zusammenzucken in Erwartung der Explosion aus dem Lauf der Waffe. Doch alles, was sie hörten, war ein Klicken. John Booth sank nicht etwa entsetzt stöhnend zurück. Er erstarrte einfach nur, seine Augen verblüfft zusammengekniffen. Alle beide wußten nicht, wie es nun weitergehen sollte. Freddy lud neu durch, um es noch einmal zu versuchen. Aber es machte wieder nur Klick. Genau wie vorhin draußen auf der Straße im Auto, als er es geprobt hatte. Zum Teufel noch mal, dachte er und probierte es erneut. Klick. 148
Es war, als wisse er nicht mehr, was das Ganze soll. Er konzentrierte sich blindlings auf sein mechanisches Problem, dem er sich unvermutet gegenüberstand. Zielen. Abdrücken. Klick. John Booth hatte sich wieder aufgesetzt. Und noch einmal schlug der Hammer sinnlos zu, und Freddy starrte John Booth an, als erwarte er von ihm eine Erklärung für das alles. Er bringt mich um, dachte er. Der Hurensohn steht jetzt gleich auf und bringt mich um. Das beschissene Ding ist leer. Total leer. Kaputt oder so was. Er starrte auf die Pistole und hielt sie flach in der Hand und sich dann nahe vor die Augen, als sei sie ein Buch mit Kleinbuchstaben. »Haben Sie sie denn nicht ausprobiert?« fragte John Booth. »Was?« John Booth setzte die Füße auf den Boden. »Ich stehe nicht auf. Ich tue nichts.« »Was?« »Ich setze mich nur auf.« »Was meinen Sie?« »Nichts. Ich meine gar nichts.« Freddy trat ans nächste Fenster und hielt die Pistole ins fahle Licht. Er wollte das Magazin herausnehmen und nachsehen, was damit nicht stimmte. Aber es fiel nicht in die daruntergehaltene Hand. Das Magazin konnte gar nicht herausfallen. Er erkannte es, als er näher hinsah. Es war überhaupt nicht drinnen. Leer. Es mußte herausgefallen sein oder sonst etwas. Nicht eine Patrone in der Waffe. Er sank auf die Eckcouch und starrte auf den Teppich. 149
Sein Blick irrte von einer Linie des Streifenmusters zur nächsten. Ein paar Sekunden lang sah er es näherkommen, obwohl er nichts erkannte als ein Gewirr von uninteressanten Gegenständen. Streichhölzer. Irgendwelche Krümel. Zettel. Und dann sah er sein Magazin vor sich. Aber nicht auf dem Boden hier, sondern draußen im Wagen. Er konnte es gar nicht hier drin finden oder draußen auf der Einfahrt oder wo er gestanden war und durch das Fenster gespäht hatte. Es war nicht herausgefallen. Er hatte es nicht verloren. Weil es samt allen Patronen auf dem Beifahrersitz im Auto lag, wo er es hingelegt hatte, als er die Waffe ausprobierte. Genau dort, wo er es liegengelassen hatte, lag es auch jetzt noch. Er stöhnte auf und sah John Booth an, als habe er soeben erst etwas bemerkt, für das er sich entschuldigen mußte. »Ich glaube es nicht«, sagte er. »Ich glaub’s einfach nicht.« »Was?« »Verdammt! Zum Henker, verdammt, verdammt, verdammt!« Er stampfte auf und preßte sich die Arme an den Leib und wiegte sich vor und zurück, als habe er einen schmerzhaften Hieb abbekommen. »O Mann. O Mann, o Mann, verdammt, verdammt.« Er holte seine Bourbonflasche aus der Tasche, schraubte die Verschlußkappe ab, setzte sie sich an den Mund, hielt aber nach dem ersten Schluck inne und stöhnte nur wieder und schüttelte den Kopf, bevor er weitertrank. Vielleicht half es ihm, einen klaren Gedanken zu fassen. Den Schock der Situation zu überwinden. Die Peinlichkeit. Die völlige Absurdität dessen, was er da getan hatte. Sie fraß ihn auf und ließ ihn vergessen, daß er ja gar nicht allein war. »Hören Sie zu«, sagte John Booth. 150
Auf irgendeine Weise nahm Freddy nun erst richtig die Gegenwart des Mannes wahr. Er fühlte sich belästigt, als sei dieser kräftige, halbnackte Mann gerade erst erschienen. John Booths Oberkörper war blaß, aber sehr muskulös. Er hatte dicke braune Haarkoteletten neben den Ohren. Sein Rücken war lang und krumm. Er trug einen dieser orientalischen Lippenbärte und hatte einen Eintagebart. In der Enge des Wohnwagens wirkte er kräftiger, als er wirklich war, und die ihn umgebenden Schatten machten den Eindruck, als luge er aus einem Versteck hervor. »Was dagegen, wenn ich mir eine anzünde?« fragte John Booth mit einer Geste auf seine Zigarettenpackung und das danebenliegende Feuerzeug auf dem schmalen Nachttisch neben seinem Bett. Freddy registrierte gar nicht richtig, was vor sich ging. »Meinetwegen«, sagte er. John streckte den Arm aus. Sein Arm schwebte in der Luft und schien riesig zu sein. Die Packung und das Feuerzeug verschwanden in seiner großen Hand. Vorsichtig holte er eine Zigarette heraus und steckte sie sich in den Mund. Das Feuerzeug klickte, und die Flamme flackerte vor seinem Gesicht. Er zog den Rauch ein, senkte die Augen und holte sich einen Tabakkrümel von der Zungenspitze. Dann inhalierte er noch einmal, der Rauch kam aus seinem Mundwinkel heraus, und er deutete mit dem Kinn zur Tür. Freddy blickte hin und wußte nicht, was als nächstes passieren würde. »Macht es Ihnen etwas aus, die Tür zu schließen?« fragte John Booth. »Ich möchte nicht, daß meine Eltern aufwachen. Es wäre besser, wenn sie es nicht täten. Wenn wir sie nicht weckten, meine ich.« 151
Freddy blickte hin. Offenbar hatte er beim Hereinschleichen die Tür tatsächlich einen Spalt offengelassen. Um den Türrahmen war ein Lichtschein. Aber er hatte nichts dagegen, daß die Sache, die sie miteinander abzumachen hatten, unter ihnen blieb. »Nein«, sagte er, ging zur Tür und schloß sie. »Sie sind gekommen, weil Sie mich umbringen wollen, wie?« Er starrte die blanke Wand des Wohnwagens an. Ohne sich umzuwenden sagte er: »Das werde ich tun, ja. Das werde ich tun.« »Ich kann es Ihnen nicht verdenken.« »Ach, halten Sie doch das Maul.« »Hören Sie zu. Als es damals passierte, da wäre ich am liebsten auch tot gewesen. Genau das wollte ich.« Freddy stieß die Tür wieder auf. Er mußte hier raus. Das gefiel ihm alles nicht. Auf diese Art mit dem Kerl auch noch zu reden. Mit der ungeladenen Pistole dastehen wie ein Volltrottel. Am liebsten hätte er sich selbst erschossen. »Was ist mit der Pistole?« fragte John Booth hinter ihm. »Wissen Sie schon, warum sie nicht funktioniert?« »Lassen Sie den Blödsinn«, sagte Freddy. »Fangen Sie gar nicht erst damit an.« »Ja, ich weiß schon. Sie haben völlig recht.« »Es spielt überhaupt keine Rolle, was mit der Pistole los ist. Das krieg ich schon hin. Egal, was es ist.« »Sicher«, sagte John Booth, »das weiß ich schon.« Er zog wieder an seiner Zigarette und war überrascht, daß sie inzwischen schon fast abgebrannt war, so daß er sie kaum noch halten konnte. Es schien doch gar nicht so lange herzusein, seit er sie angezündet hatte. Er starrte auf den glühenden, heißen Stummel. Er hatte 152
also recht gehabt mit seinem Gefühl, daß Freddy Gale auf ihn warten würde, um ihn abzuknallen. Er nahm den Stummel zwischen Daumen und Zeigefinger, spreizte die anderen Finger ab und inhalierte ein letztes Mal. Als er den Rauch ausblies und den Stummel ausdrückte, fühlte er, wie ein unerwünschter Gedanke in ihm anwuchs. Etwas oder jemand in ihm sprach mit einer Stimme, die ihn beschämte. Ich will mein Leben, sagte die Stimme, und sie machte ihn verlegen und ließ ihn sich mies und gemein fühlen. Egoistisch und feige. Es waren kaum mehr als schwache Laute, die Worte waren kaum zu verstehen. Aber er verachtete sich, weil er sie überhaupt hörte. Wie laut sie immer gesprochen sein mochten, sie erreichten ihn nur noch als leises und feines Murmeln. Als sei eine Stahlund Betonwand zwischen seinem Gehirn, durch die sie nicht völlig hindurchzudringen vermochten. Als wolle jemand, den er nicht sah und nicht kannte, etwas. Es erinnerte ihn an die Klopfzeichen im Gefängnis von anonymen Insassen, die man nie gesehen hatte, aus weit entfernten Zellen im Bau. »Ich komme wieder«, sagte Freddy. »Sie wissen, was das heißt?« »Ja. Auch ich möchte es hinter mich bringen.« »Was?« John Booth war überrascht über seine eigene Bemerkung. Aber er bedachte sie noch einmal und fand, es sei tatsächlich genau das, was er meinte. »Ich will es hinter mich bringen.« »Ach ja? Tatsächlich?« sagte Freddy. »Sie wollen es hinter sich bringen?« »Ja«, sagte John Booth. Alles war so seltsam wie im Traum. Es war erst einige Stunden her, da war noch Morgen im Gefängnis gewesen, und er war aufgewacht, 153
wo er jahrelang aufgewacht war. Und jetzt befand er sich hier in diesem Wohnwagen mit diesem Fremden, mitten in der Nacht aufgeschreckt, und es kam ihm vor, als sehe er ihn jetzt überhaupt zum erstenmal. »Sie wollen es also hinter sich bringen, wie? Was genau wollen Sie hinter sich bringen?« »Was immer ansteht. Was es auch sein mag. Ich weiß nicht so genau, was.« John Booth ließ sich nach hinten sinken und dachte daran, sich eine weitere Zigarette anzustecken. Als seine Schulter die Wand berührte, fragte er sich, ob sie gleich kämen und ihn wieder ins Gefängnis zurückbrächten. Wie lange es wohl dauern würde, bis er von diesem Alptraum befreit würde? Aber da verflog das Trugbild schon wieder. »Zuvor schien nichts zu sagen zu sein«, sagte er. »Es schien, daß Reden überhaupt – daß irgend etwas zu sagen falsch sei.« Es war fast, als spräche er nur mit sich selbst. Sie waren ganz allein miteinander, nur sie beide. Dieser dunkle Wohnwagen hier war kaum größer als seine Gefängniszelle, Metall, das sie umgab. »Ich wollte mich entschuldigen. Ich sage nicht, ich verdiene Vergebung … aber ich möchte, daß Sie …« »Meinen Sie vielleicht, ich lege Wert auf Ihre blöde Entschuldigung? Meinen Sie vielleicht, daß ich deswegen herkam? Um Ihre dämlichen Entschuldigungen entgegenzunehmen?« »Nein.« »Weil es nämlich nicht so ist! Ich will sie nicht, verdammt!« John Booth dachte: Ich will sie auch nicht hören. Weder hören noch sie aussprechen. Er wollte erklären, aber er glaubte nicht, daß es zu irgend etwas gut war. Darüber reden, wie krank es ihn machte, über diese Dinge zu 154
reden. Doch er spürte, daß es sein mußte. Das war ein ganz klares Gefühl. Gezwungen. Die Worte drängten sich von selbst aus ihm. Denn was waren seine Worte und Gefühle schon, verglichen mit dem, was ihr widerfahren war? Alles nur Mist. Verglichen mit seinem Auto, das sie zermalmt hatte? Nichts als Mist. Es ging wirklich nicht darum, daß er Vergebung bekommen wollte. Er wußte überhaupt nicht richtig, was er eigentlich wollte. Vielleicht einfach nur etwas sagen. Einfach mit dem Mann reden, wenn er schon mal da war. Weil er da war. Es war eine völlig irrsinnige Situation, wie sie da saßen, aber sie waren gemeinsam in ihr. »Ich kann Ihnen nichts anderes geben als das. Ich habe nichts außer meiner Entschuldigung.« »Ich bin Juwelier. Ich habe einen Juwelierladen. Das ist alles, was ich habe und bin. Wissen Sie, wovon ich rede?« »Ich glaube schon, ja.« Freddy sprang auf ihn zu. Knapp vor ihm blieb er stehen. »Ach was, nichts kapieren Sie, gar nichts wissen Sie!« Er stand da und starrte auf John Booth hinunter, der sich anspannte und die Augen zukniff. Einen Moment lang knisterte Hochspannung zwischen ihnen wie von einem Blitzeinschlag. »Ich laufe nicht weg.« »Wie?« »Ich vermute, Sie haben die ganze Zeit auf diesen Tag gewartet, wie? Klar, Sie haben gewartet. Ich bin noch keinen ganzen Tag raus, und schon sind Sie da. Sie müssen wirklich die ganze Zeit darauf gewartet haben. Stimmt doch? Haben Sie die ganze Zeit darauf gewartet?« Freddy konnte es nicht glauben. Der Mensch dachte wirklich, er wußte es. Wie alle anderen. Acht endlose Jahre lang hatten sie alle so getan, als wüßten sie, wie das ist, wenn einem ein kleines Mädchen totgefahren wird. Wenn 155
diese süße Hoffnung auf einen Menschen plötzlich verschwindet. Weil sie menschlich waren oder nachdenklich oder es im Fernsehen gesehen hatte. Irgendeinen Film der Woche. Oder bei Oprah. Eine Reihe Stühle mit einer Reihe Arschlöcher, gut gekleidet und sozial motiviert, sich im Scheinwerferlicht zu zeigen, während die Musik spielte und Oprah heulte und mitfühlend und edel aussah. Die triumphierenden Gerechten auf ihrer kleinen Insel der selbsterklärten Wichtigkeit. Die Bühne, auf der sie stolz strahlten über die Art, wie sie Vorbilder und Sprecher von irgend etwas geworden waren. Alle Welt sah diesen Mist und glaubte zu wissen, wie es ist, ein Kind wie dieses zu heben und es dann eines Tages einfach zu verlieren. Nie mehr sagen zu können: Na, wie steht’s, Emily-Pemily? Oder: Komm mal schnell in meine Arme. Oder: Guten Morgen. Oder: Gute Nacht, mein Kind, schlaf gut. Weil sie solchen Mist ständig in der Glotze gesehen haben, bei irgendeiner Talk-Show. Oder bei irgendeinem blöden Film der Woche, und sie sahen ihn sich in ihren tiefen Polstersesseln an und lehnten sich zurück und nippten an ihrer Cola und mußten mit den Tränen der Rührung kämpfen, wenn die Musik anschwoll. Oder sie zeigten ihre Traurigkeit offen und schnaubten ins Taschentuch und tupften sich die Augen ab. Besonders wenn das Kind, um das es ging und das so hübsch wie eh und je aussah, noch einmal durchsichtig eingeblendet wurde, als Geist oder als Erinnerung, als sei es unsterblich. Das konnte man mit Schauspielern machen, die lebendig waren, und in Kinofilmen, aber nicht mit wirklichen Toten. Oder manchmal blendeten sie Fotos oder Dias ein. In jedem Haus stand heute ein Videorecorder. Aber das war lediglich Elektronik. Anfassen konnte man sie nicht. Und irgendwie, ob nun dieses Format oder jenes, ob Talk-Show oder Film, Drama oder Komödie, alle lernten sie dieselbe Lektion 156
dabei: daß es letzten Endes ein Triumph war, dieses Elend. Ein Segen, dieser Diebstahl, dieser Verlust. Die Musik stellte es fest, und wie konnte man der Musik nicht glauben. Immer gab es Musik dazu. »Ich laufe nicht weg«, wiederholte John Booth. »Ich rufe nicht die Polizei oder sonst was. Ich habe darüber nachgedacht. Aber vielleicht nehmen Sie sich ein paar Tage Zeit, um darüber nachzudenken, ob Sie mich vielleicht doch nicht umbringen sollten.« »Sie glauben doch nicht, Sie haben Ihre Schuld schon abgebüßt, oder? Das wollen Sie doch wohl nicht behaupten?« »Nein, nein. Das meine ich auch gar nicht. Ich sage nur, Sie sollen noch einmal darüber nachdenken. Sich ein Urteil bilden. Um Ihrer selbst willen.« Freddy blinzelte ihn nach dieser beleidigenden Bemerkung ungläubig an. War er verrückt? Das war doch pathologisch. »Um meiner selbst willen?« sagte er, beugte sich vor und versuchte zu erkennen, was für ein Arschloch einer sein mußte, der so etwas sagte. »Haben Sie das tatsächlich gesagt? Um meiner selbst willen? Wie wär's mit einem Tag? Oder zweien? Oder dreien? Wie klingt das?« »Was meinen Sie damit?« »Was meinen Sie damit, was meinen Sie damit, was werde ich schon damit meinen! Sie verlangen ein paar Tage, und ich sage, wie wär's mit zwei oder drei Tagen? Was ist daran unverständlich?« John Booth überlegte, ob er einfach aufspringen, dem Mann die Pistole aus der Hand reißen und sie ihm über den Schädel schlagen sollte. Dürfte kein Problem sein. Sie hing an ihm herunter. Und ihn richtig durchprügeln. Damit er endlich sein blödes Maul hielt. 157
»Wie viele Tage hätten Sie denn gern? Ha? Wie viele möchten Sie? Um meiner beschissenen selbst willen! Na los, geben Sie mir einen Anhaltspunkt!« John Booth verlangte es heftig nach einer neuen Zigarette. Er suchte sich die Packung in dem Durcheinander der Laken und Decken. Es waren gerade noch vier oder fünf in der Packung. »Zwei? Zwei Tage? Drei? Na, was sagen Sie?« beharrte Freddy. Das Feuerzeug flammte auf, John beugte sich zu der Flamme vor und legte dabei den Kopf schräg wie ein Hund, der auf ein Geräusch unter dem Fußboden horcht. »Oder fünf? Wären Ihnen fünf recht, ja? Oder zehn? Wie wäre es damit? Möchten Sie zehn haben?« Die Flamme zitterte und wurde kleiner, als John inhalierte. Er hielt sie noch eine oder zwei Sekunden, ehe er losließ und das Feuerzeug erlosch. In einem Ton, als habe ein langer und schwieriger Weg schließlich zu einem einfachen Ziel geführt, blies er den Rauch aus und sagte: »Liegt ganz bei Ihnen.« »Gehen Sie doch zum Teufel, Mann.« Freddy war fertig. Er wollte nur noch gehen. »Gehen Sie doch zum Teufel«, sagte er noch einmal. An der Tür blieb er stehen und hielt sich mit der Hand an ihr fest. »Wir wischen besser Ihre Fingerabdrücke weg«, sagte John Booth, »falls Sie wirklich wiederkommen und ungeschoren aus der Sache raus wollen.« »Sie blödes Arschloch«, sagte Freddy. Der Kerl mokierte sich auch noch über ihn. Nicht zu fassen. Aber noch immer war dieses Gefühl der totalen Verwirrung stark genug, so daß er tatsächlich wütend zurückkam, sich ein paar Papiertücher von der Rolle an der Wand holte und die Couch und alles, was er angefaßt hatte, abwischte. 158
»Wenn ich Sie um noch etwas bitten dürfte«, sagte John Booth. Freddy funkelte ihn an. »Wissen Sie, Sie schaufeln Ihr eigenes Grab immer tiefer, sooft Sie den Mund aufmachen.« »Ich versuche lediglich ein paar Dinge zu verstehen.« »Viel Glück«, sagte Freddy und machte sich auf den Weg hinaus und die Einfahrt entlang. »Ich denke nur darüber nach. Was war mit der Pistole?« »Das lassen Sie meine Sorge sein.« »Ist sie kaputtgegangen oder was?« »Sie ist in Ordnung.« Weil er sich orientieren mußte, stand er an der Hauswand und sah sich um. Er mußte feststellen, von wo er gekommen war. »Aber sie hat doch nicht funktioniert? Wieso nicht?« »Die Pistole ist einwandfrei«, sagte Freddy und bemerkte, daß John Booths Stimme direkt hinter ihm war. Er drehte sich um und blinzelte. »Aber irgendwas war doch. Irgendwas hat nicht funktioniert. Nur das versuche ich doch …« »Ich hatte sie nicht geladen. Wenn sie geladen ist, funktioniert sie.« »Was meinen Sie damit, sie war nicht geladen?« Es war unglaublich! Der Kerl stand da und sagte ihm all diese Sachen einfach so ins Gesicht. Nicht zu fassen, einfach nicht zu fassen! Er hatte das Gefühl, sein Gehirn schrumpfe und presse dabei sämtliche Gedanken heraus. »Die Patronen liegen im Auto. Ich hatte sie dabei. Aber ich hab sie dort liegenlassen. Ich probierte was aus.« »Sie haben die Patronen im Auto liegenlassen?« »Sage ich doch.« 159
»Sehen Sie! Davon rede ich.« »Wovon, was meinen Sie?« »Sie haben sie im Auto gelassen.« »Das weiß ich selber.« »Vielleicht wollten Sie sie also unbewußt gar nicht mitnehmen. Sie wollten sie gar nicht mitnehmen. Also haben Sie sie vergessen.« »Ach, scheren Sie sich zum Teufel.« »Das ist unbewußte Motivation. Das gibt es. Wirklich, Mr. Gale, das gibt es. Haben Sie noch nichts davon gehört? Wissen Sie, drinnen hatten wir einen Psychiater, ich hatte auch ein paar Sitzungen bei ihm. Das gibt es wirklich. Und wenn das hier auch im Spiel ist, dann war es einfach so, daß Sie hierher kamen, um mich umzubringen, aber dann die Kugeln vergaßen. Und wissen Sie, was das bedeutet?« »Daß Sie heute nacht einfach Glück gehabt haben.« »Oder daß Sie es gar nicht wirklich tun wollen.« »Es bedeutet, daß ich müde bin, damit Sie es wissen. Ich hab zuviel getrunken.« »Oder Sie wollen mich gar nicht wirklich umbringen. Vielleicht bedeutet es das. Und deshalb haben Sie unbewußt die Patronen gar nicht erst mitgenommen.« »Sie sollen sich zum Teufel scheren. Sie sind so und so ein toter Mann.« Und er ging davon. »Aber das könnte es bedeuten«, sagte John noch einmal. »Nicht?« Freddy beschrieb mit der Pistole einen weiten Bogen in die Luft über seinem Kopf. Im bleichen Mondschein sah es gespenstisch aus. Er verschwand um die Ecke.
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12. KAPITEL John stand in der Tür seines Wohnwagens und blickte Freddy hinterher, dessen Schritte allmählich leiser wurden. Als trügen ihn seine Schritte in die Luft empor. Als schon längst alles still war, ging er zur Hausecke und spähte die Einfahrt entlang. Ein dichtes Gewirr von Eukalyptusblättern hing über ihr. Die Blätter und Schatten tanzten in der Luft und verhüllten Freddy Gale, der hinter seiner offenen Autotür auf der anderen Straßenseite stand. Er stand reglos wie erstarrt, als sei er völlig verblüfft über das, was er sah, und als sich das hinzog, fragte John Booth sich bereits, ob er nicht sogar die Absicht hatte, zurückzukommen und diesmal sein Vorhaben tatsächlich wahrzumachen. Doch dann verschwand er so plötzlich auf seinem Vordersitz, als sei er zusammengebrochen. Die Tür knallte zu, und der Motor auf der sonst lautlosen Straße sprang an. Er fuhr davon bis zur Ecke und bog dort ab. Seine Rücklichter waren noch einen Augenblick sichtbar, dann waren auch sie verschwunden. John hatte nur seine Boxershorts und ein T-Shirt an. Der sich entfernende Wagen zog ihn wie magnetisch noch ein Stück mit. Er war sich kaum bewußt, daß er sich hinter ihm herbewegte, bis er sich an der Straße vorne wiederfand. Rundherum zogen sich die Nachbarhäuser zu beiden Seiten hin, sie glichen einander wie ein Ei dem anderen. Am tintendunklen Himmel standen still die Sterne, und der Mond schien hinter dünnen Wolken hervor, mal stärker, mal schwächer. Ohne daß er an sich herabsehen mußte, wurde ihm plötzlich bewußt, daß er ein Mann in Unterwäsche mitten auf einer Straße in einer Wohngegend war. Der Gedanke schreckte ihn auf. 161
Er eilte zurück und duckte sich in die Einfahrt, sprang in seinen Wohnwagen und machte die Tür mit beiden Händen hinter sich zu wie ein furchtsamer Schuljunge, der vor einem Alptraum flieht, von dem er weiß, daß er echt ist. Er sah sich um, betrachtete alles intensiv, die ganze Einrichtung, den Raum selbst, die Farben an der Wand. Er zog eine Schublade mit Socken auf und eine andere mit Handtüchern, wie um sich zu vergewissern, wo er war und was sich hier ereignet hatte. Dann sank er auf die Couch nieder, auf der eben noch Freddy gesessen war. Es war Nacht. Mitten in der Nacht. Halb vier Uhr morgens. Mein Gott, dachte er. Mist. Schloß und Zählappell. Zellenblock. Zellengenosse. Antreten. Meldungen. Haupttor. Konterbande. Die ganze perverse Welt. John Booth, sechs sieben drei drei zwei sechs. Block E. Haupttor. Die Box. Läden. Sportplatz. Spinner. Stoff. Die Hinhalter. Und die Benutzer der Hinhalter. Die ganze perverse Welt. Er griff über das Bett hinüber nach seinem fast leeren Zigarettenpäckchen und steckte sich wieder eine an. Blut rein, Blut raus. Verschluß und Zählappell. Die arische Brüderschaft. Schwere Zeiten. Bullen. Plastikgeschirr. Schluß damit, verdammt, dachte er. Das geht dich nichts mehr an. Zellenblock B. Vorbeigehen. Umgebracht in C. Fälscher. Dreifachmörder. Tätowierungen. Knastmorde. Kantine. Gefängniskleidung. Dahindämmern. Rassentrennung. Spritzen. Tranquilizer. HIV. Straßengangs. Schnupfstoff. Ambulanz. Krankenstation. Freßhalle. Block D. Sicherheitsabteilung. Kontrollstationen. Arrestzellen. Lebenslängliche. Sechs sieben drei drei zwei sechs. Schluß damit, verdammt. Er beugte sich vornüber. Seine Hände berührten den Boden. Er lachte. Nicht erheitert, aber anerkennend. Er hatte soeben acht Jahre lang rund um die Uhr unter lauter 162
Menschen verbracht, die lauter Verzweifelte und Halbpsychopathen waren. Männer, die einen großen Teil ihrer Zeit damit zubrachten, gewöhnliche Gegenstände wie Zahnbürsten oder Plastiklöffel und Bleistifte zu mörderischen Instrumenten zu machen. Und jetzt mußte auch noch dieser Oberidiot mit einer ungeladenen Pistole bei ihm aufkreuzen. Ich hätte sie ihm reinwürgen sollen, dachte er, dem blöden Hund. Reinwürgen. In dem Zigarettenpäckchen, nach dem er griff, waren nur noch drei Zigaretten. Wenn er die nächste ansteckte, blieben noch zwei. Er nahm sein Hemd, die Hose und ein altes Paar Turnschuhe, seine Brieftasche mit dem Geld und dazu Kleingeld aus der Schublade des Tisches gegenüber dem Bett. Die leere Küche kam ihm fremd vor. Das Weiß des Kühlschranks reflektierte das Licht der Straßenlaterne draußen. Ein offenes Zigarettenpaket seiner Mutter lag auf einem Regal mit über Nacht trocknendem Geschirr. Er griff danach und nahm sich vier heraus. Mit einem Messer vom Wandbrett schnitt er die Filter weg. Nachschub, dachte er. Er nahm sich noch eine, stopfte sich die abgeschnittenen Filter in die Hosentasche und drehte das Gas auf, um sich mit der Zigarette im Mund über die blau und gelb aufzischenden Flammen zu beugen. Als er sich wieder aufrichtete, verursachte ihm seine über die weiße Kühlschranktür wandernde Silhouette eine Gänsehaut. Weil es der Beweis war, daß er auf war und sich bewegte. Es war Nacht, und er wanderte herum. Er stand einen Augenblick lang still und ließ seinen Blick durch den ganzen Raum wandern. Er drehte das Gas wieder zu und ging über den Flur zum Schlafzimmer seiner Eltern. Die Tür stand einen Spalt offen, es war einfach, sie noch ein Stück weiter aufzudrücken. Sein Vater und seine Mutter lagen unter weißen Laken, im 163
Schatten des Dämmerlichts. Die Hast, mit der seine Mutter im Schlaf atmete, als schnappe sie nach dem Atemzug, hob sich von dem methodischen Atemrhythmus seines Vaters ab. Was würden sie wohl denken, überlegte er, wenn er zu ihnen hineinschlüpfte? Er erinnerte sich daran, wie er als kleiner Junge zu ihnen unter die Decke in die Wärme und Geborgenheit ihres Zusammenseins kroch. Er blickte auf seinen Vater hinab und fragte sich: Welcher kleine Junge denn? Der Mund seines Vaters stand offen, die Augen verhangen. Unter den grauen Bartstoppeln war das Gesicht schon tief zerfurcht und runzlig. Dann machte seine Mutter eine plötzliche Bewegung. Doch sie kratzte sich nur die Stirn. Die blauen Venen auf ihrem Handrücken traten hervor. Als wolle sie die Ursache irgendeiner Irritation ergründen. Obwohl er wußte, daß er nichts Unstatthaftes tat, verursachte ihm der Gedanke, er könne sie stören, Unbehagen. Wenn sie aufwachten, würde es sie fürchterlich erschrecken, ihn hier stehen zu sehen. Und dann müßte er Fragen beantworten, was er denn hier mache. Und sie hätten natürlich jedes Recht zu diesen Fragen. Und er müßte ihnen irgend etwas antworten, ohne daß er eine blasse Ahnung hätte, was er sagen sollte. Er verließ das Schlafzimmer und das Haus rasch, immer noch die glühende Zigarette im Mund. Es hatte gar keinen Zweck, jetzt wieder ins Bett zu gehen. Er konnte ja doch nicht mehr einschlafen. Er überlegte, ob er noch einmal nach vorne gehen sollte. Um ganz sicher zu sein, daß Freddy Gale wirklich weg und nicht etwa zurückgekommen war. Aber als er vorne vor dem Hause war, ging er einfach weiter, über den Hof, hinaus zur Straße, ungeachtet seines verrückten, aber nicht 164
abzuschüttelnden Verdachts, in den Räumen seien Wachttürme versteckt, von denen herab ihn die Posten jeden Augenblick anrufen würden, er solle stehenbleiben, wenn er nicht erschossen werden wolle. Draußen auf der Straße hielt er einen Augenblick inne. Er spähte zuerst nach links, dann nach rechts. In beiden Richtungen erstreckten sich rasengesäumte Gehwege unter Alleebäumen. Eichen. Es war alles so einheitlich, daß es ganz egal schien, ob man nun in diese Richtung ging oder in die entgegengesetzte. Dann bemerkte er allerdings, daß die Bäume auf der rechten Seite gegen Ende der schmalen Straße an einer großen Kreuzung in ein helles Lichtfeld mündeten. Jetzt wußte er, was er wollte. Gehen. Einfach gehen. Die Ferne schien ihn zu locken. Entfernungen verkürzen, Distanzen überwinden. Er ließ einen Häuserblock nach dem anderen hinter sich und stille, vorstädtische Wohnviertelgehwege, dabei rauchte er eine weitere Zigarette. In allen Häusern war es dunkel, allenfalls brannte mal ein Nachtlicht, oder ein Fernseher war an. Die einzigen Gefährten seiner nächtlichen Rastlosigkeit waren vereinzelte Autos, deren Fahrer mit sich selbst beschäftigt oder in Gespräche mit ihren Mitfahrern vertieft waren. Sie drangen reifensummend und scheinwerfergrell in die Stille ein und verließen sie alsbald wieder. Als er an der Kreuzung, auf die er zugegangen war, ankam, blieb er einen Augenblick stehen und blickte hinüber zu der Tankstelle auf der anderen Seite. Sie war eine Insel aus Farben und Lichtern. Die kreuzende Straße war breiter als die, auf der er gekommen war, mehr schon ein Boulevard mit einem Geschäft am anderen in beiden Richtungen und zu beiden Seiten. Imbißläden, Discounthäuser, Elektronik, Verkauf und Reparatur. Aber zu dieser Nachtstunde natürlich alle 165
geschlossen. Weiter oben war eine durchgehend geöffnete Selbstbedienungstankstelle. Irgendwie hatte er das Gefühl, nicht einfach an einer kreuzenden Straße zu stehen, sondern an einer Demarkationslinie. Die Vorstellung, sie einfach zu betreten und auf ihr weiterzugehen, war unheimlich, auch wenn er sich nur neue Zigaretten kaufen wollte, weil die ohne Filter aus der Packung seiner Mutter nur ein schwacher Ersatz waren und er schon bald keine mehr haben würde. Er ging schließlich und stieß die Tür auf. Der strubbelige orientalische Junge an der Kasse blickte kurz von seinem Comicheft auf, in dem er las, und lächelte ihn an. John blieb in der Tür stehen. Schnell die Zigaretten, dachte er, und wieder weg. Er fühlte sich taxiert von einer Umgebung, die er nicht einzuordnen vermochte. Selbst die freundliche Art des Jungen war ihm nicht geheuer und ließ ihn sich als Eindringling und nicht willkommen fühlen. »Packung Camel, okay?« sagte er. Der junge Mann lächelte wieder und kam von seinem hohen Schemel herunter. Der ganze Laden war voller Plastik und Folien. Für Johns Augen waren alle die Flaschen, Packungen, Schachteln und Dosen ein einziges fluoreszierendes Flimmern. »Sonst noch was?« fragte der Junge und legte die Packung auf die Theke vor ihn hin. Von einem Drahtgebinde links von John hingen Biernüsse herab, unten in Pakete gebündelt wie lockende Früchte. »Ein paar Biernüsse«, sagte er. Als er es sagte, fiel sein Blick in die Ecke, wo sich riesengroße Brezeln wie seltene Museumsstücke in einer von innen beleuchteten Glasvitrine drehten, jede einzelne eine kompliziert verdrehte Form mit großen Salzkörnern 166
darauf. »Und eine Brezel«, sagte er. »Eine von den Brezeln da.« »In Ordnung. Esse sie selber gern.« »Ach ja?« Er ging hinter dem Jungen her und sah ihm zu, wie er die größte von drei Brezeln in eine gefaltete Papierserviette schob und sie ihm reichte. »Senf ist drüben auf der Theke, wenn Sie welchen wollen.« »Gut.« Er ging hinüber zu dem Durcheinander von Gewürzen, Styroporbechern, Milch, Zucker und Plastiklöffeln, strich sich eine dicke Schicht Senf auf die Brezel und begann sie zu verzehren. Auf dem Weg zurück zur Theke hatte er den ganzen Laden in sich aufgenommen. In alle Richtungen liefen Regalreihen mit einem geradezu beschämenden Angebotsüberfluß in schockierenden Farben und einer irritierenden Fülle. Schwindligmachende Sinneseindrücke. Er ging zur Kasse und starrte den Jungen an. »Ja?« »Ich seh mich mal ein wenig um, ja?« Aber er blieb noch stehen, als erwarte er, dieses Ansinnen werde ihm abgeschlagen. »Okay«, sagte der Junge achselzuckend. »Ich hab Durst.« »Der Getränkeautomat ist da drüben«, sagte der Junge und lächelte wieder. Er holte sich eine Sechserpackung Cola aus dem sauberen Kühlschrank. Gleich daneben waren Chips. Er nahm sich eine große Familienpackung. Und auch noch eine Familienpackung mit Cornflakes. Und als er vor einem Regal mit Erdnüssen stand, konnte er sich nicht 167
entscheiden, ob er nun die Nüssemischung haben wollte oder nur die Cashews, und nahm schließlich eine Packung von beiden. Jetzt brauchte er aber inzwischen schon einen Einkaufswagen. Vorne am Eingang standen einige ineinandergeschoben. Er packte alles, was er inzwischen hatte, in einen davon und fuhr mit ihm weiter die Regale entlang. Er nahm noch vier Schokoriegel, eine Großpackung Popcorn und ein großes Salsaglas. Dann gelüstete ihn noch nach einer großen Tüte Bohnenchips, und am Bierregal beschloß er, sich mit einer einzigen Dose zu begnügen. Er wollte kein Risiko eingehen, zuviel zu trinken. Aber schmecken wollte er es doch mal wieder. Genau wie Eis; eine Box mit Vanille, Erdbeer und Schokolade. Und aus der Vitrine neben der Kasse schließlich holte er sich noch zwei M & M-, drei Moundund zwei Erdnuß-Riegel. Obwohl er alles ordentlich bezahlt hatte, schlug ihm das Herz im Hals, als transportiere er eine Einbruchsbeute ab. Auf dem Parkplatz draußen blieb er stehen und machte eine Packung der Biernüsse auf. Nach dem Häuserblock konnte er nicht widerstehen, eine Cola zu trinken und eine zweite Packung Biernüsse zu öffnen. Zu Hause wollte er alles in den Wandfächern und in seiner Minibar im Wohnwagen verstauen. Aber als er ihn betrat und sein schmales Bett vor sich sah, konnte er es plötzlich nicht mehr ertragen und ging rückwärts wieder hinaus. Die Nachtluft und der weite, freie Raum des Vorplatzes vorne zogen ihn auf die Veranda, wo er sich auf die Stufen setzte. Als erstes riß er die Packung mit den Chips auf und fiel über sie her. Dann trank er wieder eine Cola und öffnete die Cornflakes, dann einen der Riegel aus Fleisch, Honig und Chemikalien, dann das Bier und trank es aus. Danach mußte er aufstoßen und lächelte darüber, als habe er eben 168
einen Witz erzählt bekommen. Dann machte er sich über einen Schokoriegel her und dann über den mit den Erdnüssen. Die Cornflakes-Tüte war noch halb voll, aber jetzt hatte er erst mal Appetit auf das Popcorn. Er stopfte sich noch einmal den Mund mit Cornflakes voll und mampfte sie, und dann schob er mit beiden Händen Popcorn nach, als habe er vierzehn Tage nichts zu essen bekommen. Er riß die Dose mit den Cashewnüssen auf und hielt sie sich, als könne er daraus trinken, an den Mund, trank eine weitere Cola dazu und riß als nächstes den Beutel mit den Erdnüssen auf. Er fraß und mampfte alles wild durcheinander, bis er nicht mehr konnte, trank noch eine Cola, und es war ihm bereits schlecht, als er endlich das Eis in Angriff nahm. Er versuchte zuerst einen kleinen Löffel und fuhr dann mit beiden Händen in die kalte Masse, die er sich, Erdbeer, Schokolade und Vanille, von den Fingern leckte. Inzwischen hockte er auf dem Rasen, und seine Gedärme fühlten sich an wie vollgestopfte Würste, und sein Herzschlag raste vor Lust, die nicht zugeben wollte, daß es bald zuviel war. Er quetschte sich noch eine Handvoll Eis in den Mund und schmatzte und schlürfte und schluckte es hinunter, und dann das gleiche noch einmal. Schließlich sank er langsam rücklings ins Gras, und ihm war schlecht, und er hatte das Gefühl, als platze er gleich, aber er war in Ekstase. Selbst seine Lungen waren überanstrengt, und er konnte nur noch keuchend atmen. Und das Wissen, daß er, falls er auch nur noch eine einzige Bewegung tat, kotzen würde wie ein Reiher, machte ihn einfach glücklich. Er lag da, alle viere von sich gestreckt, und starrte in den noch immer nachtschwarzen Himmel hinauf, an dem Wolken hingen, hinter denen aber da und dort blinkende Sterne zu sehen waren, deren Leuchten Größe und Weite 169
und Ferne kundtat. Er selbst war der größte Schrotthaufen hier auf dem Rasen vor dem Haus seiner Eltern, inmitten von zerknülltem Papier und Packungstüten und -folien und Resten von Popcorn und Erdnüssen und Plastik und leeren Dosen und Flaschen und dem zerlaufenden Rest dreifarbiger Eiscreme in einem sich auflösenden Behälter. Er konnte die Erde unter sich spüren, ihre Konturen und ihre Weichheit, wie sie die feste Form seines Leibes aufnahm und annahm. Trotzdem war seine Ekstase nicht ganz ungetrübt. Ein Rest von im Hintergrund lauerndem Unbehagen blieb, eine verborgene, aufkeimende Angst. Als sei er ein Kind, das auf Zehenspitzen durch einen Friedhof schleicht. Etwas kroch in ihm hoch. Er wußte, daß es existierte, war aber noch nicht bereit, seine Existenz zu akzeptieren. Es war die Tatsache, daß er draußen war. Ein Gefühl von Gefahr. Nicht draußen sein, aber daran glauben. Nicht frei sein, aber daran glauben. Das Gras war feucht und kühl und unleugbar saftig und dick unter seinen wühlenden Fingern, und der Gedanke kam ihm, daß die Erde unter ihm einen Geist besaß, eine traumartige Präsenz, die ihn vorwärts drängte, so wie ihn die zahllosen Grashalme umgaben und einhüllten.
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13. KAPITEL Weißt du noch, wie ich mir damals die Augen zuhielt, Daddy? sagte Emily. Du hast auf mich aufgepaßt, erinnerst du dich? Und Fernsehen geguckt. Aber obwohl es mir angst machte, wolltest du es unbedingt sehen und nicht wegschalten. Du warst ganz gefangen davon. Gefesselt, hast du gesagt. Und also sollte ich mich, sagtest du, in meine Decke einpacken und sie mir über den Kopf ziehen, damit ich es nicht sah. Und so machte ich es dann auch. Aber sogar die Musik war gruselig. Weißt du es noch? Und wie die Frau schrie, das hörte ich auch noch. Ich flehte dich immer wieder an, mit mir wegzugehen, das abzuschalten und fortzugehen, aber du wolltest nicht. Nur noch eine Minute, sagtest du. Ich will noch sehen, wie es weitergeht, hast du gesagt. Aber ich fühlte mich ganz schrecklich. Ich dachte immer nur daran, wie nett und freundlich der Mann mit dem Messer, der die Frau auf der Couch gefesselt hatte, doch aussah. Aber das war er gar nicht. Man hörte an seiner Stimme, wie es ihm gefiel, daß die Frau weinte. Es gefiel ihm, daß er ihr weh tun konnte. Aber ich brauchte mich nicht zu fürchten, sagtest du. Sie würde schon gerettet. Ich sollte nur weiter schön unter der Decke bleiben. Das tat ich. So saß ich da. Aber die Musik und die Schreie waren so furchtbar, daß ich schließlich wegrannte. Ich hielt es nicht mehr aus. Weil ich es nicht verstand, außer der Angst der Frau und wie sie litt. Und obwohl du gesagt hattest, jemand würde sie schon retten kommen, machte ich mir Sorgen, daß du dich vielleicht irren könntest. Ich dachte daran, daß mir in so einer Situation vielleicht niemand zu Hilfe käme. Das war es, 171
was mir richtig angst machte. Und genau das dachte ich auch in meinem allerletzten Moment. Daß jetzt der Mann mit dem Messer wirklich zu mir gekommen war, genau wie zu der Frau, und daß du dich nicht darum kümmertest – daß du dich gar nicht darum kümmertest, wie verletzt ich war. Daß du gar nicht an mich dachtest, sondern irgendwo warst und irgend etwas tatest, irgendwas viel Wichtigeres, während ich hier starb. Wo warst du? Freddy schrak hoch und erwachte. Der Fernseher zeigte irgendwas, und Kopfschmerzen saßen wie ein Korkenzieher hinter seinen Augen und in den feinen Nerven dort. Gnadenlos bohrten sich die Schmerzfaden durch das Gewebe, das normalerweise Fremdkörper davon abhielt, in das Gehirn einzudringen. Er legte die Hand über ein Augen und stöhnte. Auf dem Bildschirm schrie gerade eine Frau in einem zerknüllten Ballkleid. Sie taumelte unter einer Serie von Schüssen in irgendeiner unterirdischen Höhle rückwärts, ihre Füße bis zu den Knöcheln in gischtendem Wasser, die Musik war entnervend, das Licht trüb und drohend. Die Verzweiflung in ihren Augen wuchs, als sie erkannte, daß ihr Zurückweichen sie keineswegs vor dem auf sie zustürmenden, echsenartigen Mann rettete. Schließlich explodierte die schrille Musik, während der Mann giftige Flüssigkeit ausschwitzte, die ihm auch aus den Augen und dem Mund troff. Freddy griff nach der teilweise von seiner Whiskeyflasche verdeckten Fernbedienung auf dem Kaffeetischchen. Mit seinem suchenden Daumen fand er die Kanaltaste und ließ die monströse Kreatur samt ihrem schreienden Opfer verschwinden. Er tauschte sie gegen einen Mann mit einer Kochmütze ein, der in einer dieser endlosen sogenannten Informationswerbesendungen irgendein Gewürz oder so etwas anpries. Er hatte eine muntere kleine Blondine als Assistentin. Sie hatte eine 172
mehr oder minder robuste Figur, die in ein Karottenkostüm gequetscht war. Er blickte nach oben zum eingeschalteten Deckenlicht, das den Raum überflutete, und wußte, daß es mitten in der Nacht war. Er mußte vor dem Fernseher eingeschlafen sein. Er erkannte seinen Bourbon nicht, jedenfalls nicht diese Flasche dort, wenn es auch seine vertraute Marke war. Er mußte wohl, nachdem er John Booths Wohnwagen verlassen hatte, irgendwo angehalten und sie gekauft haben. In der Küche und im Bad brannte gleichfalls das Licht. Durch das Fenster war nichts als schwarze Dunkelheit draußen zu sehen, allenfalls ein kleines Sterneblinken da und dort und der Widerschein der Straßenbeleuchtung samt einem Horizont wie ein glühender Eisenstab. Er war noch vollständig angezogen, sogar den Blazer hatte er noch an. Nur einen einzigen Schuh hatte er ausgezogen, dann war er offenbar wie ein Stein hingesunken und eingeschlafen, während in der Wohnung überall Licht brannte, wie für ein festliches, die ganze Nacht dauerndes Dinner. Er mußte pinkeln, aber als er aufstand, wurde ihm übel und schwindelig. Seine Eingeweide schienen ein einziges Knäuel zu sein, an dem er wie an einem Fallschirm baumelte. Er spürte, wie ihm die Galle durch die Speiseröhre nach oben kam. Er mußte ins Bad und stemmte sich am Kaffeetischchen hoch. Der Kerl im Fernsehen mit seiner kommerziellen Werbesendung deutete auf einige Graphiken und Illustrationen und Fließdiagramme oder was zum Teufel es sonst war, und das Karottengirl spielte neckisch an ihrem Reißverschluß herum, so verwundert war sie über all das Sensationelle, was ihr Kollege da verkündete. Gerade zeigte er auf eine Illustration mit Tomaten und dann auf Gemüse, das aber 173
eher wie eine sezierte Leber aussah. Freddy rutschte auf Händen und Knien zur Badezimmertür. Im Fernseher sagte irgend jemand etwas über die Wichtigkeit von Nährwerten. Freddy stöhnte auf, griff hinter sich und drückte auf den Knopf der Fernbedienung wie ein Kunstschütze im Western. Drinnen suchte er nach einem festen Halt über der Kloschüssel. Er begriff sein Dilemma. Stand er auf, fiel ihm das Essen aus dem Gesicht, stand er nicht auf, mußte er in die Hose pissen. Er fummelte an seinem Hosenlatz herum und holte den Penis heraus und versuchte ihn irgendwie über den Rand zu kriegen, vornübergebeugt wie einer, der gleich vom Sprungbrett ins Wasser springen will, mit gebeugten Knien, um sich nicht zu weit vom Boden erheben zu müssen. In dieser unbequemen Haltung erleichterte er sich dann, und es schien nicht aufhören zu wollen, bis er, als er endlich fertig war, völlig erschöpft von der Anstrengung hinsank, auf die Knie fiel, sich seitlich setzte und erst einmal in heftigen Zügen durchatmete. Um sich abzulenken, versuchte er den Fernseher wieder einzuschalten. Aber den Werbeburschen konnte er nicht ausstehen, also zappte er, hingestreckt auf der Badezimmerschwelle, weiter durch die Kanäle, bis er bei CNN gelandet war, wo es wie üblich Kriegsbilder aus Bosnien gab. Eine Frau, die die Retter soeben aus einem Trümmerhaufen gezogen hatten, hatte den Mund vor Schmerzen weit offen. Im Hintergrund Ruinen zerschossener Häuser. Am unteren Bildrand wurden Namen und Zahlen eingeblendet: die Baseballergebnisse vom Vortag. Blut floß der Frau von der Stirn über die Wangen. Aus ihrem zerrissenen Kleid stand ein Armstumpf hervor wie ein abgehackter Baumast, der nur noch vom Ärmel ihres Kleides gehalten wurde. Aber der 174
Einblendung zufolge hatte Boston die Yankees mit 9 zu 3 besiegt und Milwaukee hatte mit 6 zu 5 die Oberhand über Chicago behalten. Ein Stück Fleisch, das aussah, als habe es der Metzger soeben zurechtgehackt, entpuppte sich als in Lumpen und Streifen aus zerrissenen Kleidungsstücken gewickeltes Kind. Ein plötzlicher Hintergrundwechsel machte ihm erst nach einer Weile bewußt, daß er eine neue Ruinenlandschaft vor Augen hatte. Außerdem hatte Toronto Minnesota mit 8 zu 5 geschlagen. Als er sich, wieder auf allen vieren, bis zur Couch geschleppt hatte, zog er sich mühsam hinauf und sank erschöpft hin. Der Bildschirm zeigte unermüdlich Bilder von Trümmerhaufen, schießenden Geschützen mit zurückfahrenden Rohren und anschließend ausgeworfenen leeren Granathülsen. Ein einzelner grimmiger und untröstlicher Mann schlug auf die Waffen mehrerer Soldaten ein und deutete auf eine in schmutzige Decken gehüllte Gestalt auf einer Tragbahre. In der Nationalliga hatten die Phillies 6 zu 2 gesiegt und die Mets den Pirates mit 8 zu 1 eine deutliche Abfuhr erteilt. Er mußte schlafen. Er wollte diese Nacht hinter sich bringen. Morgen früh war immer noch Zeit, sich die Fakten zu vergegenwärtigen und sich dem Chaos zu stellen, das er heute nacht angerichtet hatte. Der Absurdität seines Verhaltens. Und sich dann darüber klarzuwerden, wie das nun weitergehen sollte, damit er wenigstens eine Chance hatte, zurechtzukommen. Und zwar so, daß die ganze Geschichte verdammt noch mal Hand und Fuß hatte. Aber nicht jetzt. Jetzt ging es nicht. Sein Kopf brachte ihn um, und sein Körper war ein einziges zuckendes Nervenbündel. Er drückte auf die Austaste der Fernbedienung und entledigte sich damit schlagartig der einstürzenden Mauern eines Gebäudes samt unmittelbar darauf 175
aufsteigender Staubwolke. Er mühte sich hoch und schlurfte quer durchs Zimmer, um das Deckenlicht auszuschalten. Aber er stolperte und taumelte gegen die Wand mit schützend ausgestreckten Armen. Der Aufprall ließ tausend Glassplitter in seinem Kopf explodieren. Doch er hielt sich aufrecht und fand alle Schalter und knipste jeden aus, bis die Wohnung endlich dunkel war. Zurück auf der Couch stöhnte er vor sich hin und hielt sich den Kopf, indem er eine Hand unter das Kinn preßte, so wie ein medizinischer Assistent einen Patienten mit einer verletzten Wirbelsäule stützen würde. Er warf sich zur Seite und befürchtete, die ganze Nacht nicht mehr einschlafen zu können. Schlaf und Vergessen waren im Moment alles, was er sich wünschte. Er flehte, seine jetzige Seitenlage möge ihm dies ermöglichen. Aber schon nach einigen Sekunden warf er sich wieder herum. Wenn er nicht bald einen Weg fand, seinem entsetzlichen Unwohlsein zu entfliehen, fing er am Ende noch zu weinen oder zu schreien an. Vielleicht half, als allerletztes Mittel, beten? Also ersuchte er Gott, ihm zu helfen, verdammt. Und ihn bitte schön einschlafen zu lassen. Auch wenn er Atheist war, der nie um irgend etwas betete. Ein halbjüdischer Atheist, der eine riesige und gewaltige Gleichgültigkeit zu verspüren begann. Das gefühllose und manipulierte Nichts. Er atmete und betete und hoffte, und seine Befürchtung, überhaupt nie wieder einschlafen zu können, wurde immer größer, bis er merkte, daß er bereits träumte. Sein Alarmruf war wie der Schrei eines Wachmanns, dem sein Posten einen Überblick verschaffte, der aber seine Warnung nur schwerverständlich weiterzugeben vermochte. Freddy träumte von toten Kindern. Maschinen zermalmten sie, riesige Räder und Getriebe erdrückten acht- und zehnjährige Knaben in Baseballkleidung und 176
kleine Mädchen in geblümten Kleidchen, von denen einige noch im Hinfallen ihre Schulbücher nicht loslassen wollten. Als er aufwachte, plärrte der Fernseher wieder, und alles Licht war wieder an. Seine Whiskeyflasche war nahezu leer, und Cowboys ritten über weite Hügellandschaften. Er blickte um sich. Auf dem ganzen Boden und auf dem Kaffeetisch und auf der Couch verstreut lagen Zeitschriften und Zeitungen und Ausschnitte daraus herum. Er erkannte sie wieder. Seine Sammlung aus den letzten acht Jahren … Aber wie kamen sie hierher? Er bewahrte sie doch hinten im Wandschrank in einem Umschlag auf! Der große Umschlag, aus dem halb herausgerutschte Blätter sahen, war voller Dokumente über das Gerichtsverfahren samt der Berufung. Nur ein paar der Ausschnitte beschäftigten sich mit dem Unfall selbst und mit der Anklage wegen Trunkenheit am Steuer und Emilys Tod. Die überwiegende Mehrzahl handelte vielmehr von Schicksalsschlägen anderer Kinder, deren Elend ihn angerührt hatte, als wären sie irgendwie verwandt mit Emily. Das ganze Tohuwabohu um ihn herum irritierte ihn. Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, den Umschlag aus dem Schrank geholt zu haben – falls er es gewesen war. Aber daß es geschehen war, war unbestreitbar. Der erste Artikel, den er sich griff und las, um vielleicht eine Antwort auf seine Fragen zu finden, handelte von einem drei Monate alten Baby in Santa Barbara, das von einem sechsundzwanzig Jahre alten Aupair-Mädchen aus Holland mit Feuerzeugbenzin übergossen und angezündet worden war. Danach las er den Bericht über eine zweiundzwanzig Jahre alte Mutter in West-Hollywood, die, als ihr die Zigaretten ausgegangen waren, schnell zum Laden an der 177
Ecke lief und wieder zurück sein wollte, ehe ihr schlafender Säugling aufwachte. Als sie nach fünf Tagen wiederkam, war das Baby tot. Sie habe einfach eine Pause gebraucht, sagte sie, und habe etwas getrunken und dann noch etwas und noch etwas, und dann war sie hinüber und amüsierte sich inzwischen auch schon ein wenig und ließ sich von diesem Burschen abschleppen und wußte dann nicht mehr so recht, wie alles weiterging mit der Zeit und den Ereignissen. Sie verlor einfach die Übersicht, sagte sie. Im Fernsehen stellte ein Cowboy mit Lederbeinmanschetten und verwaschenem Arbeitshemd gerade einen anderen. Sie waren allein auf der Straße und rannten durch die übliche Western-Holzbudenstadt. Der zweite Cowboy war jung und sah gut aus, der erste war alt und verdreckt. Als ihn der junge am Gürtel zu fassen bekam, legte der alte die Hand über den Hammer seines langläufigen Sechsschußgewehrs. Rauch stieg hoch. Fünf Einschläge ließen den Verlierer indessen nicht fallen. Jedesmal sackte er nur mit schlaffen, ausgebreiteten Armen ein wenig mehr in sich zusammen, und die nächste Kugel warf ihn zurück, bis er schließlich gegen den Zaun taumelte und davon wieder nach vorne abprallte. Jetzt erst fiel er vornüber hin, und eine Staubwolke stieg von ihm auf. Die Musik, voller Drohung und Trauer, änderte sich, und es begannen Siegestöne in ihr aufzusteigen, die sich immer stärker durchsetzten und einen Stimmungswechsel erzeugten, der klarmachte, wer hier Wert und Sieg verkörperte. Der Triumph des alten Mannes. Das durchfurchte alte Gesicht begann das ganze Bild zu füllen, und Freddy konnte in Augen voller Schmerz und Lebensweisheit blicken. Und er fragte sich: Hat der Kerl etwa deine Tochter umgebracht? Ist es das, was passiert war? Hat er dein kleines Mädchen auf dem Gewissen? 178
Schließlich ließ die Kamera den Alten in der zu einigen Findlingshügeln geschrumpften Stadt verschwinden. Aber Freddy konnte noch hören, wie sich aus der Musik eine Antwort auf seine Frage herauszuschälen begann. Sie setzte sich zusammen und begann auf ihn zuzueilen. Aber als sie schon fast bei ihm angekommen war, wurde sie abrupt von einer anderen, albernen Musik verscheucht. Eine fröhliche Familie feierte ein Picknick an einem Bach. Sie warb, wie sich herausstellte, für Erdnußbutter. Er starrte auf den Spot und wandte sich dann wieder dem Chaos um ihn herum zu. Er hob den Umschlag auf, der voll war mit juristischen Dokumenten. Ein paar fielen ihm zu Boden, als er sie herausfingerte. Fotokopien, erkennbar an den grauen Balkenrändern. Oben drüber stand Per Curium. Er trank einen Schluck Whiskey, und während im Fernseher der Ton von Gekichere in Motorengeräusche überging und dann in eine Empfehlung mit sonorer Stimme für irgendwelche Aktien, las er es. Per Curium. Und er las weiter. Per Curium Der Angeklagte hat Revision eingelegt gegen das Urteil des Berufungsgerichts bezüglich seiner Verurteilung wegen Totschlags, § 21 3.32 (4) Strafgesetz (Tötung aus niedrigen Beweggründen) sowie drei Fällen rücksichtsloser Gefährdung ersten Grades (Strafgesetz § 122.32). Die Anklage gründete sich auf einen Vorfall, bei welchem der Angeklagte mit seinem Auto mehrere Blocks weit auf einer Straße bzw. teilweise auf dem unmittelbar anschließenden Gehsteig in einem Wohngebiet von Studio City, Kalifornien, fuhr und dabei das Leben mehrerer Fußgänger gefährdete sowie das Kind Emily Gale tötete. Die einzige Begründung des Angeklagten für sein Revisionsgesuch ist, daß die Beweise nicht ausreichend seien für eine Verurteilung wegen Tötung aus niedrigen Beweg179
gründen. Soweit das Berufungsgericht das Urteil des Geschworenengerichts bestätigt hat, müssen die Beweise unter dem Blickwinkel des öffentlichen Interesses gesehen werden (vgl. Fall Robinson, 62 La 3 220, Beweisablehnung). So betrachtet ist erwiesen, daß der Angeklagte am 12. Mai 1988 zwischen 15.4 5 und 16.00 Uhr mit einem ihm gehörenden Kraftfahrzeug aus der Tankstelle an der Ecke Brent und Belltower herausfuhr, wo er ein Päckchen Zigaretten gekauft hatte. Er fuhr mit ca. 80 Stundenkilometern in die Belltower ein, beschleunigte dort noch weiter, fuhr gegen ein geparktes Auto und schleuderte es weg, setzte aber seine Fahrt dessenungeachtet in nördlicher Richtung in Schlangenlinien von einer Fahrspur auf die andere weiter fort bis zur Kreuzung Belltower und Wood. Er bog nach den Aussagen der beiden Zeugen William Gilchrist und Sheila Simon, welche aussagten, der Angeklagte habe sichtlich die Herrschaft über sein Fahrzeug verloren, immer noch weiter seine Fahrt beschleunigend nach Westen auf die Wood ein und rammte ein weiteres Fahrzeug, den geparkten Lieferwagen von Thomas A. Bernbaacher, auf dem Lackschäden und Dellen an der linken Seite in Höhe der Schiebetür zurückblieben. Mr. Bernbaacher war eben aus seinem Fahrzeug ausgestiegen und sah den Angeklagten von seinem Lieferwagen abprallen und wild bremsen, während er mit einem der Vorderräder auf dem Gehsteig war und mit der rechten Stoßstange einen Baum streifte. Er stieg aus und versuchte mit Mr. Bernbaacher seine Versicherungsdaten auszutauschen, war aber so stark alkoholisiert, daß es ihm nicht gelang, seinen Führerschein und seine Versicherungskarte zutage zu fördern, so daß ihm Mr. Bernbaacher dabei behilflich sein mußte. Mr. Bernbaacher hat ausgesagt, daß er den Angeklagten aufforderte, nicht wieder in sein Fahrzeug einzusteigen, weil er zuviel Alkohol in sich 180
habe. Doch der Angeklagte erklärte, daß er »niemals betrunken« werde, »ganz gleich, wieviel ich trinke«. Er ging trotz des Protestes von Mr. Bernbaacher zu seinem Wagen zurück, steuerte auf die Fahrbahn und fuhr weiter die Wood entlang, wieder unter starker Beschleunigung. Zwei Häuserblocks weiter an der Ecke Wood und Wetlands überfuhr er ein Stoppschild und stieß fast mit einem entgegenkommenden Fahrzeug, einer schwarzen Limousine, zusammen. Bei seinem Versuch, diesen Zusammenstoß zu vermeiden, verlor er die Herrschaft über sein Fahrzeug, fuhr auf den Gehsteig und wieder zurück auf die Fahrbahn und von dort auf den Gehsteig auf der anderen Straßenseite, wo er um ein Haar den NachbarschaftshilfeKreuzungslotsen Milton Mooney überfahren hätte, der dort gerade im Einsatz war und seine Stopptafel hochhielt, um Emily, einer acht Jahre alten Schülerin, die Straße für den Übergang frei zu machen. Die linke vordere Stoßstange des Fahrzeugs des Angeklagten stieß an eine Steinmauer. Der Aufprall warf das Auto zurück auf die Straße und traf dabei Emily Gale. Sie wurde fast sechs Meter weit in südwestlicher Richtung von ihrem Standort durch die Luft geschleudert. Sie las in einem Buch, während sie bei Mr. Moody auf ihr Zeichen zum Überqueren der Straße wartete. Einer ihrer Schuhe hatte sich im Kühlergrill des Autos des Angeklagten verfangen, das im Vorgarten des Hauses von Edmond Glazier an der Nordwestecke der Kreuzung Wood und Westlands zum Stehen gekommen war. Der Einband und einige Seiten des Paperbackbuchs, in dem Emily Gale gelesen hatte, hatte sich in das Profil des rechten Vorderreifens des Autos des Angeklagten gedrückt. Als erste Polizeibeamtin war Officer Lucinda Tillman von der Polizei von Los Angeles am Unfallort. Zur Zeit ihres Eintreffens hatte sich bereits eine Menschenmenge 181
angesammelt. Der Angeklagte saß auf dem Randstein neben dem toten Mädchen. Obwohl Officer Tillman von mehreren Seiten versichert wurde, das Mädchen sei bereits tot, prüfte sie die Lebenszeichen und konnte danach nur den Tod des Mädchens bestätigen. Minuten später traf ein Notarztwagen ein, und Officer Tillman ging zu dem Angeklagten, der immer noch auf dem Bordstein saß. Mit seiner Einwilligung ließ sie ihn in das Alkoholtestgerät blasen. Dieser Test ergab einen Blutalkoholgehalt des Angeklagten von 1,7 Promille. Sie sagte als Zeugin aus, daß er »weggetreten« gewesen und daß sein Gemütszustand »zuweilen fast hysterisch« war, während er »sonst einfach nur apathisch dasaß«. Man las ihm seine Rechte vor. Er fragte Officer Tillman immer wieder, ob sie ihm nicht sagen könne, was denn eigentlich passiert sei, und ob sie ihn nicht irgendwohin bringen könne, denn er müsse dringend seine Notdurft verrichten. Officer Tillman begleitete ihn daraufhin in eines der umliegenden Häuser. Zu dieser Zeit war auch Mr. Bernbaacher am Tatort angelangt. Als Officer Tillman zurückkam, berichtete er ihr den Vorfall mit seinem Lieferwagen. Der Angeklagte, danach befragt, sagte, er könne sich »an nichts erinnern«, aber es könne »schon sein«. Als Mr. Bernbaacher dem Angeklagten vorhielt, er habe ihn doch gewarnt, nicht weiterzufahren, weil er »viel zu betrunken und damit eine öffentliche Gefahr« sei, antwortete dieser ihm, er könne sich »nicht daran erinnern«, aber es könne »schon sein«. Bei der anschließenden Befragung durch Officer Tillman, an was er sich denn überhaupt erinnern könne, sagte er: »Alles ging so schnell, jedenfalls einiges … oder sogar das meiste …« Er habe sich irgendwo mächtig den Kopf angeschlagen, »an irgendwas, vielleicht am Seitenfenster, und von da an war ich fast völlig weggetreten«. Officer 182
Tillman stellte in der Tat eine Abschürfung und eine leichte Wunde an der linken Wange des Angeklagten fest und forderte den Notarzt auf, ihn zu behandeln. In dem Strafprozeß gegen ihn ist der Angeklagte zu einer unbestimmten Haftstrafe von 2 5 Jahren bis lebenslänglich verurteilt worden, und zwar wegen des Totschlagsdelikts zusammen mit den drei Fällen rücksichtsloser Verkehrsgefährdung, dazu wegen Führens eines Kraftfahrzeugs unter Alkoholeinfluß und wegen Fahrerflucht. Das Berufungsgericht änderte das Urteil insoweit, als es statt der einzelnen Delikte ein einziges fortgesetztes annahm. Der generelle Schuldspruch der Geschworenenjury wurde jedoch bestätigt, daß die Tat des Angeklagten John Booth die Folge grob rücksichtslosen Verhaltens gewesen sei. Die Tatsache, daß der Angeklagte in einem Wohnviertel mit erhöhter Geschwindigkeit fuhr, obendrein in Schlangenlinien und mehrfach auf dem Gehsteig, und daß er, auch nachdem er ein anderes Fahrzeug angefahren hatte und danach wegen seines alkoholisierten Zustandes ausdrücklich, aber vergeblich davor gewarnt wurde, weiterzufahren, trotzdem weiterfuhr, erfüllte den Tatbestand der groben Rücksichtslosigkeit. Mit anderen Worten, es ist eindeutig nachgewiesen, daß der Angeklagte John Booth sich sehr wohl des nicht zu rechtfertigenden Risikos, das er einging, bewußt war, es aber mißachtete. Dem Angeklagten mußte ferner der juristische Tatbestand der »niederen Beweggründe« nachgewiesen werden. Die Feststellung einer »groben Fahrlässigkeit« auch mit der Folge der Tötung einer Person ist indessen noch keine mens rea – Tatbestandsmerkmal – an sich für das auch subjektive Vorliegen »niederer Beweggründe«, sondern bedarf auch des objektiven Merkmals der ausdrücklichen Tatabsicht, zumindest aber der Inkaufnahme der Tötung durch das eigene Handeln. Letzteres ist aber nachweisbar 183
beim Vorliegen eines uneinsichtigen und böswilligen Verhaltens, das mit dem Risiko einer Tötung verbunden ist, weshalb hier die Verurteilung wegen Totschlags auf dieser Basis gerechtfertigt ist. Auf dem Bildschirm waren ein Automechaniker und eine Ballerina von einem schlanken roten Sportwagen hypnotisiert, der, leider ohne sie, über eine weite ebene Wüste raste. Betrübnis mischte sich mit unerfüllter Lust, als sie nacheinander griffen. Als Freddy nach unten blickte, um sich wieder den Prozeßdokumenten zuzuwenden, fiel ihm ein Zeitungsausschnitt in die Augen, der irgendwie zwischen die Gerichtsdokumente geraten war. Es war ein Bericht aus Nezaba, Arizona, über das Schicksal von Sally Renne, einem zehn Jahre alten blonden Mädchen mit einer Bifokalbrille, das mit vorgehaltenem Messer von einer Schlummerparty im Haus einer Freundin entführt wurde. Aus Angst vor Gespenstern und Monstern, vor denen sie sich schon ihr ganzes Leben gefürchtet hatte, schlief sie bei eingeschaltetem Licht. Ein auf Bewährung freigelassener Kinderbelästiger, ein wirkliches Ungeheuer, schlich sich in das Zimmer, wo Sally zusammen mit den anderen Mädchen schlief, während die Erwachsenen im Nebenzimmer herzhaft schnarchten, und nahm sie mit sich in die Nacht, wo sie durch seine Hand den Tod fand. Ein gewisser Bob Rüssel Smith. Dieser Abschaum der Menschheit. Exsträfling wegen Kidnapping, nur auf Bewährung entlassen. Ging es ihm wenigstens dieses Mal endgültig und buchstäblich an den Kragen? Mußte er sühnen? Heulte und jammerte er und machte er sich in die Hosen und fand er tausend Entschuldigungen für sich? Darauf sollte man besser nicht zählen. Er warf den Ausschnitt beiseite und versuchte ruhig zu 184
sein und nachsichtig. Als könne er damit vermeiden, daß Sally noch mehr Leid zugefügt wurde. Oder das Foto von Katie Biers mit den sportlichen Augen und diesem ausgenippten Erwachsenenhut, der frühreifen Ehrgeiz und Stil verriet. Er griff zu seiner Flasche und trank einen Schluck. Neun Jahre alt. New York. Long Island. Gekidnappt und lebendig begraben, sechs Fuß unter der Erde unter zweihundert Pfund Beton in einer Grube einsachtzig mal einsfünfzig mal einsfünfundsiebzig. Einfach dort gefangengehalten. Von diesem Dreckskerl, der sich ihr Freund genannt hatte. Diesem Perversen. Und wozu? Vier Tage lang hielt er sie da. Vergraben wie eine Tote. Denn wo lag der Unterschied? Freddy wollte es gern wissen. Er trank noch einmal. Zum Teufel mit ihnen allen! Zum Teufel mit John Booth. Was unterschied ihn schon von denen? Die Straße entlangrasen. Sie ihm stehlen! Mit der Fernbedienung in der einen und seinem Bourbon in der anderen Hand starrte er beides einen Augenblick lang an und überlegte, welches von beiden er nun zum Mund führen und trinken mußte und welches in die Richtung des Fernsehers zu halten war. Diese Frage überforderte ihn, und er ließ sich einfach seitlich wieder auf die Couch zurücksinken. Ein knurrender Leopard zerriß irgendeine geschmeidige Antilope. Dramatische Musik begleitete die Stentorstimme, die verkündete, man könne sich diesen wunderbaren Tierfilm auf persönlicher Videokassette unter dieser und dieser Telefonnummer bestellen. Eine Riesenschlange riß ihr Maul auf und spuckte. Eine Tarantel wickelte einen wild strampelnden Käfer in ihre Fäden ein, schrumpfte dann ihrerseits auf winzige Größe zusammen, als sie an einem Stock über einer Flamme geröstet wurde, woraufhin ein menschlicher Wilder sie zu 185
essen gedachte. Dad! Daddy! Daddyschatz, hör zu! Ich sage dir das nicht gern, aber es muß sein. John Booth lacht nur über dich. Er glaubt, du bist ein totaler Versager, so wie du dich vergangene Nacht benommen hast. Du weißt schon, bei ihm aufkreuzen und ihm drohen – mit einer ungeladenen Pistole! Das ist doch bescheuert! Er konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen, sobald du weg warst. Und jetzt ist er völlig aufgekratzt darüber, wie er dich mit dem ganzen Geschwätz von dieser Selbsthilfetherapie am Ende aufgezogen hat, als wäre er dein Freund. Als würde er dich kennen. So daß er dir fast schon ins Gesicht lachen könnte. Du mußt ja auch zugeben, das war einfach idiotisch, was du da getan hast. Ich meine, da reingehen ohne – was hast du dir denn dabei gedacht? Jetzt fängt er nämlich schon an Pläne zu schmieden für sein künftiges Leben. Und warum auch nicht? Immerhin lebt er ja noch. Er war im Knast, und jetzt ist er wieder draußen. Frei. Er hat seine Strafe abgesessen und ist der Öffentlichkeit fetzt nichts mehr schuldig. Ja, aber stimmt das denn? Hat er denn für seine Tat bezahlt, Daddy? Nicht so wie du. Nein, das glaube ich nicht. Und nicht wie ich. Wo ich hier an diesem schlimmen Ort festsitze, allein mit der Hoffnung, ihn demnächst hier bei mir zu sehen, wo er meine Agonie mit mir teilt. Denn andernfalls lebt er ja weiter. Er wird leben, wenn du nichts unternimmst! Dann zieht er herum und amüsiert sich und liegt am Strand und spielt Karten oder irgendein Computerspiel. Und sieht sich im Kino lustige Filme an und lacht darüber und flirtet mit Mädchen und zieht sich schick an und geht einkaufen im Shopping-Center und ißt Schokoladenplätzchen und geht tanzen und lernt ein Mädchen kennen und hat eine Freundin. Das alles tut er. Er sucht sich eine Freundin und kauft ihr ein hübsches 186
Kleid und dann einen Ring, und dann heiratet er sie, und sie kriegen Kinder. Dann hat er eine Menge süßer Kinder und eine große schöne Familie mit schönen kleinen Töchtern, die er im Arm halten und denen er zusehen kann, wie sie erwachsen werden. Oder ist es dir etwa lieber, wenn ich dieses ganze Elend allein ertragen muß? Soll ich wirklich die Asche meiner unerfüllten Rache alleine schlucken? Ich will Fairneß! Gerechtigkeit! Vergeltung! Ich trinke diesen schwarzen schwärenden Verlust nicht allein! Ohne dich, Daddy, habe ich doch niemand! Hier gibt es nichts, Daddy. Keine Engel und keine Teufel. Ich hasse ihn! Bitte, Daddy, bitte! Jeder Atemzug von ihm tut mir weh und macht sich über das lustig, was mir entgeht und was ich nie erfahren und kosten konnte. Bitte, Daddy! Ein kleiner Mord aus niederen Beweggründen, das ist alles! Eine kleine rücksichtslose Gleichgültigkeit! Komm schon, Dad! Das ist alles! Sei ein Cowboy. Sei eine Tarantel! Und ein Gepard! Ich meine, was verlangt es schon Großes, Dad? Du schaffst das blöde Schwein aus der Welt, fertig. Aber tu es! Tu es einfach! Taranteln und Geparden und Cowboys tun es doch auch! Ein kleiner Mord aus niederen Beweggründen, Dad! Beweggründemord … Es war bereits Tag. Die Vormittagswärme stand schon im Raum. Er war schweißgebadet. Der Fernseher, obwohl er immer noch plärrte, schien kleiner zu sein. Auch sein Bild war in dem blendenden Tageslicht nur noch ganz blaß. Die verwaschene Gestalt eines Mannes mit Hosenträgern und gestreiftem Hemd kreischte und wedelte mit einem langen Stock in einer manischen Demonstration, die die Instruktion einer Puppe darstellen sollte. Die Puppe sah ein wenig aus wie ein Stück eines mit ausgefranstem Pelz bedeckten Feuerwehrschlauchs mit aufgerissenem 187
Mund, roter Zunge und großen weißen Augen und versuchte dem Ton und der Mimik des Menschen zu folgen. Dann erkannte er es erst: es war Sesamstraße, und der Bursche war ein weltberühmter Komiker, dessen Name ihm einfach nicht einfallen wollte. Der Komiker sprach mit Krümelmonster, den Emily liebte. Aber es war nicht Krümelmonster. Denn er hatte die falsche Farbe. Krümelmonster war blau. Manchmal hatte er Krümelmonsters Stimme für Emily nachgeahmt, und sie hatte sich halb totgelacht. Sie besaß mehrere Krümelmonsterpuppen verschiedener Größen. Aber es war nicht Krümelmonster, den der weltberühmte Komiker verwirrte. Die Puppe schien perplex zu sein, aber auch interessiert. Höflich, aber verständnislos, als der weltberühmte Komiker einen Dirigenten imitierte und seinen Stock wie einen Dirigentenstab schwenkte. Auf dem Kaffeetischchen lag die silbern schimmernde Pistole inmitten des Durcheinanders der vergangenen Nacht. Die Artikel, die er gelesen hatte, lagen säuberlich gestapelt neben der Whiskeyflasche. Eine offene Chipsschachtel stand neben einer Plastikflasche mit Limonade. Er griff nach ihr und trank sie fast leer, saugte Schluck auf Schluck in sich hinein. War er unten im Wagen gewesen, um die Pistole zu holen? Er nahm sie in die Hand, drehte sie herum und inspizierte die Unterseite des Griffs. Das Magazin steckte darin. Der weltberühmte Komiker hüpfte inzwischen ungelenk herum wie einer, der es nicht so richtig schafft, auf der Stelle zu laufen. Die Puppe blickte hilfesuchend aus dem Bild. Er nahm noch einige Chips und begann die Pistole von einer Hand in die andere zu legen, als sei dies eine brauchbare Methode, ihrem Zweck auf die Spur zu kommen. Er wußte nicht einmal, ob das blöde Ding überhaupt funktionierte! Wann hatte er das letzte Mal mit 188
ihr geschossen? Das war doch sein erster idiotischer Fehler gewesen. Dorthin zu gehen, als erwarte er, daß irgend etwas für ihn zu handeln beginne und es für ihn täte. So wie sie im Fernsehen immer redeten. Diese große flüsternde Stimme oder dieser Wind oder diese Tiergestalt oder dieser Donner, die kein anderer hörte und die die eigenen Gedanken auslöschten. Haben Sie sie denn nicht ausprobiert? Das mußte man sich mal vorstellen, John Booth hatte tatsächlich den Nerv gehabt, ihn das zu fragen! Haben Sie sie denn nicht ausprobiert? Nein, dachte er. Aber das werde ich jetzt tun. Er stand auf, sein Blick wanderte durch den ganzen Raum, von einer Ecke in die andere und durch den Durchgang hinüber in die Küche. Was er getan hatte, war, sich wegen der Pistole zu sorgen. Sie immer wieder zu prüfen, immer wieder blind abzuschießen und den Hammer zu spannen. Hüpfend entledigte er sich des Schuhs, den er noch anhatte, und lehnte sich an die Wand neben der Tür, wo er sie mit den Fingerknöcheln an mehreren Stellen nach festen Punkten abklopfte. Seine Kopfschmerzen waren zu einem vagen Filz geworden, der sich wie eine Fassade, in der jedoch alle paar Sekunden ein Schmerzpunkt aufsprang, über seine Gedanken legte. Hinter der Wand, wo er stand, lag der Flur des Apartmenthauses. Da konnte, ohne daß er es ahnte, jederzeit jemand vorbeigehen. Besser war die andere Wand drüben mit den nach draußen gehenden Fenstern im achten Stock. Die Ziegel der Außenmauern des Hauses waren ein sicherer Schutz. Als er erst einmal eine passende Stelle gefunden hatte, packte er dort einen Stapel Kissen hin, die er sich nach und nach von der Couch holte 189
und so lange aufeinanderlegte, bis die Polsterung dick genug war. Als ihn das Gefühl überkam, beobachtet zu werden, fuhr er herum und suchte den Raum ab. Aber da war niemand. Nur der Fernseher natürlich mit der Puppe und dem weltberühmten Komiker, dessen angestrengtes Gesicht suggerierte, daß er es allmählich satt hatte. Er schlüpfte aus seinem Blazer und warf ihn zur Seite, zog die Pistole aus dem Hosenbund und lud sie durch. Dann trat er von den Kissen zurück und hob die Waffe. Er holte tief Atem und drückte aus drei Metern Abstand ab. Ein ohrenbetäubender Knall schien das Zimmer explodieren zu lassen. Brandgeruch kam hinzu. Der Rückstoß des Schusses hatte ihm den Arm zurückgerissen, und von seinem Ellenbogen fuhr ein stechender Schmerz bis in seine Schulter. Seine leere Wohnung hatte sich plötzlich mit einer schnellen Fremdheit gefüllt. Der Schuß hinterließ eine wache Erregung, die aber gleich darauf wieder Vergangenheit war. Er legte die Pistole auf die Armlehne der Couch und ging die Kugel suchen. In jedem der übereinandergestapelten Kissen wurde das Einschußloch größer. Die Kugel, ein verformtes Stück Blei, steckte noch ein Stück in der Wand. Er pulte sie mit Daumen und Zeigefinger heraus, roch an ihr und biß auf sie, prüfend, ob sie noch weiter verformbar war. Er schnellte das Magazin heraus und dann die Patronenhülse aus der Kammer, damit er sie wieder hineinschieben konnte, ehe er das Magazin mit dem Handballen zurücksteckte. So simpel war das. Noch einmal sollte ihm das nicht passieren. Nächstes Mal würde es keine blöden Fragen geben. Da war doch irgendwas wegen Tagen gewesen? Was für ein Mist war denn das gewesen? Was war das gewesen? Der Rauch des Schusses wirkte wie ein chemischer 190
Wecker. Er griff nach dem Newsweek-Heft und blätterte darin herum. Er ging zum Fenster, um es zu öffnen und durchzulüften, als ihn wieder dieses Gefühl überkam, beobachtet zu werden. Aber als er sich ruckartig umdrehte, war da nichts weiter als der Fernseher mit der Sesamstraße. Die erste Puppe war nicht mehr da, auch der weltberühmte Komiker nicht, nur das Krümelmonster. Freddy kannte seine blaue Pelzbraue und sein Gesicht und seine Stimme genau. Er hatte, als er sich die Sesamstraße mit Emily auf dem Schoß angesehen hatte, seine eigene Begeisterung für diese Puppe entwickelt. Im Augenblick versuchte das Krümelmonster seine Würde gegen eine Gruppe herablassend wirkender, gelehrt aussehender anderer Puppen mit Brillen und Büchern zu verteidigen. Sie waren mitten in irgendeiner pedantischen Debatte, und es versuchte sich ihrer zu erwehren und sich gegen ihre Anschuldigungen zu verteidigen, daß es vollständig ahnungslos hinsichtlich der Funktion von Wolken sei und wie sie sich mit oder ohne Regen bildeten. Emily liebte es in solchen Augenblicken und pflegte unverwandt hinzustarren und vor Anteilnahme zu zittern. Wenn sie jetzt hier wäre bei ihm, hätten sie viel Spaß dabei. Sie auf seinem Schoß. Wie alt wäre sie jetzt? Sechzehn. Emily wäre inzwischen schon sechzehn. Es schien eine sehr einfache Frage zu sein, aber die Antwort war wie ein Messer. Ein Messer, das ganz langsam schnitt, so daß jeder Zentimeter seines Vordringens spürbar war. Sechzehn. Fast schon erwachsen. Sie hätte bereits Brüste. Und längst schon ihre erste Periode. Emily. Ein kleiner Mord aus niederen Beweggründen … Eine kleine, gleichgültige Rücksichtslosigkeit gegen das Leben … Richtig, genau das war nötig. Ein kleiner Mord aus 191
niederen Beweggründen. Er mußte nüchtern werden. Mit dem Trinken aufhören. Duschen, etwas essen. Ein paar Vitamine kaufen. Eine anständige Mahlzeit zu sich nehmen. Eine Tasse Kaffee. Rüber zum Laden. Eine Weile im Geschäft bleiben. Dann ein ordentliches Abendessen. Danach richtig ausschlafen. Er mußte sich in Form bringen, verdammt. Er mußte seine Wut schüren und pflegen wie ein kostbares Gut, wie eine delikate Giftpflanze, nicht wie ein grobes Unkraut, das von ganz allein wucherte und sowieso nicht unterzukriegen war. Sondern wie etwas Seltenes. Ein kleiner Mord aus niederen Beweggründen. Er saß auf der Couch und zog sich zum Duschen aus. Im Fernsehen tanzten das Krümelmonster und Ernie zu einem großen Bigbandschlager der vierziger Jahre. Sie hatten mit ihren kurzen Stummelarmen Mühe, einander zu umfassen, und ihre großen Kulleraugen starrten verzückt zum Himmel empor, und ihre roten Zungen hingen ihnen heraus. Dann packte Ernie das Krümelmonster und küßte es oben auf den Kopf. Das Krümelmonster war ganz verlegen über diese liebevolle, aber keusche Geste und wich etwas zurück und stöhnte laut auf und bedeckte seine Augen. Es ertrug seine eigenen Gefühle nicht.
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14. KAPITEL Helen war um halb acht aus dem Bett gekrochen und kochte im Nachthemd starken Kaffee. Sie hatte keinen Zweifel, daß das Gefängnis aus John einen Frühaufsteher gemacht hatte. Aber dann wurde es halb neun und neun Uhr, ohne daß er sich blicken ließ. Inzwischen war auch Stuart aufgestanden. Er hatte sichtlich nicht geschlafen. Seine Augen waren ganz rot. Er wollte Schinken und ein Käseomelett, also machte sie zwei, eines für sich selbst. In der Hoffnung, John werde nun doch jeden Moment auftauchen, bereitete sie auch gleich ein Jelly-Omelett vor, seine Leibspeise aus Kindertagen. Aber es wurde zehn und später, und sie und Stuart waren satt und fast ein bißchen überdreht von zuviel Kaffee, und Johns Omelett war inzwischen kalt und schon öfter wieder aufgewärmt, als ihm guttat, also auch nicht mehr wert, weiter aufgehoben zu werden. Sie sprach mit Stuart über all das, während sie sich ihres Nachthemds, er sich seines Pyjamas entledigte und sie sich anzogen. Stuart rasierte sich und zog Hose und Hemd an, während Helen lediglich in ein Hauskleid schlüpfte. Dann schlichen sie leise hinaus zum Wohnwagen und spähten durch ein Fenster hinein und erblickten John, wie er mit geschlossenen Augen dalag und seine Brust sich gleichmäßig atmend hob und senkte. Sie kehrten in die Küche zurück, wo Stuart einen blauen Anorak vom Haken an der Tür nahm. Er wollte den Volvo in die Werkstatt fahren, damit ihn Eddie, der freundlichste aller Automechaniker, mal untersuchte. Er hatte auf der Rückfahrt vom Gefängnis ein seltsames Flattern des Bremspedals bemerkt. 193
»Glaubst du, es ist was Großes?« »Irgendwas mit der Bremse. Mit der Bremse will man schließlich kein Risiko eingehen, nicht?« Sie wußte, daß dies eine direkte Anspielung auf Johns Unfall war. Die Polizei hatte damals schließlich festgestellt, daß außer seinem alkoholisierten Zustand die Bremsen ramponiert gewesen waren. Sie sah ihm von der Haustür aus nach, wie er wegfuhr, als sie den ganzen Abfall von Krümeln und Papier und Verpackungen auf dem Rasen bemerkte. Verblüfft besah sie es sich aus der Nähe. Hatte sich da ein Obdachloser breitgemacht? Sie überlief es eiskalt. Plötzlich klingelte das Telefon, und sie fuhr so erschreckt hoch, als habe dieser nächtliche Eindringling sie angeschrien. »Hallo? Mrs. Booth?« sagte eine Stimme, als sie im Haus war und abhob. »Ja?« »Hier ist Peter. Johns Freund.« »Ach ja, Peter. Ja, John ist da.« »Ist er zu Hause?« »Ja. Aber er schläft noch.« »Er schläft noch? Das wird ihm guttun.« »Ja, aber wissen Sie was, Peter? Ich wecke ihn jetzt auf. Rufen Sie in zehn Minuten noch mal an, ja?« »Ach, lassen Sie ihn mal schlafen, Mrs. Booth. Meinetwegen müssen Sie ihn nicht wecken.« Sie legte auf und ging hinaus zum Wohnwagen. Sie drückte vorsichtig die Tür auf und freute sich, daß im Schlaf seine Züge wieder die einstige kindliche Unschuld hatten. »Johnny«, sagte sie. »Johnny!« 194
Seine Augenlider flatterten und öffneten sich langsam, dann fuhr er abrupt hoch. Als er sie erblickte, legte er sich in den Kissen zurecht, und die Glasigkeit seiner Augen verschwand, so wie die Sonne den Morgendunst aufreißt und einen schönen Tag vorbereitet. »Morgen, Mom.« Eine Gänsehaut überlief sie. »Du hast aber lange geschlafen.« »Scheint so.« Er starrte auf den Wecker neben seinem Bett. »Hättest du gern ein Jelly-Omelett?« »Nun ja«, sagte er, und der Rest war eine Art amüsierten Schweigens. Sie mochte es nicht, auf eine direkte Frage keine klare Antwort zu bekommen. Aber es gefiel ihr, wie er lächelte. »Es ist Kaffee da«, sagte sie, »aber er ist nicht mehr ganz frisch. Ich koche dir neuen. Und ja, Peter hat angerufen.« »Peter? Tatsächlich?« »Er ruft in zehn Minuten noch mal an. Ich habe ihm gesagt, dann bist du inzwischen auf.« Sie machte starken Kaffee in der Kaffeemaschine und ging dann mit einem Staubwedel, einem Besen und einer Schaufel hinaus zum Rasen. Sie war mit dem Wegräumen des Mülls beschäftigt, als John erschien, in derselben Hose und demselben Hemd, die er auch gestern getragen hatte. Sie war aufs neue verblüfft, wie groß er doch war, aber als sie merkte, daß er sie fragend ansah, sagte sie: »Sieh dir das hier mal an. Kann ich mir nicht erklären.« Sie fegte und kehrte weiter. »Hier muß irgendeiner gepicknickt haben heute nacht.« »Das war ich, Mom.« »Was?« 195
»Ich war das. Ich wollte es schon selber wegräumen. Es war nur so dunkel.« Er griff nach dem Besen. »Laß mich das machen.« »Du warst das?« »Ja, ich bin heute nacht bis zur Tankstelle gelaufen und habe alles mögliche Zeug gekauft und mich hierher gesetzt und es gegessen.« »Und ich dachte, es war irgendein Penner.« »Ja, ich Penner«, sagte er und dachte leicht amüsiert daran, was er getan hatte, und daß er jetzt hier stand mit einem Besen in der Hand und den Rasen kehrte. Diesmal war Helen vorbereitet, als das Telefon wieder klingelte. »Das muß Peter sein«, sagte sie und nahm ihm den Besen aus der Hand. Als er hineinging, rief sie ihm nach: »Ich mach dir gleich das Jelly-Omelett.« Stuart kam mit dem Volvo zurück, und sie winkte ihm zu, aber er sah sie nicht. Knapp drei Meter vor der Stelle, wo er sonst immer zu halten pflegte, blieb der Wagen quietschend stehen. Sie beobachtete, wie er wieder anfuhr. Aha, er probierte die Bremse aus. Auf einmal schien es, als ramme er eine Mauer. Stuart sah aus dem Seitenfenster zu ihr herüber. »Sie haben sie gleich justiert. Es ist die rechte, glaube ich. Ich fahre vorsichtshalber noch um den Block.« »John ist aufgestanden.« »Schön.« Nachdem sie John eine Zeitlang telefonieren gesehen hatte, war ihr klar, daß das wohl noch eine Weile dauern würde. Inzwischen konnte sie ja das Jelly-Omelett machen. Als er in die Küche kam, hatte sie es zubereitet. Er griff herzhaft zu und schob sich einen Löffel fettige 196
Jelly mit einem Bröckchen Toast in den Mund, als Stuart hereinkam, mit einem Schmierflecken auf der Nase, aber breit lächelnd. »Na, wer ist der Fremde denn?« versuchte er zu scherzen und sah Helen an, damit sie sich an dem Scherz beteilige, dann wandte er sich John direkt zu. Fast herausfordernd sagte er: »Lange nicht gesehen, was?« »Kannst du laut sagen, Dad.« »Laß wenigstens den Teller übrig.« Er ging zum Spülbecken, um sich zu waschen. »Sie hat schon seit Sonnenaufgang darauf gewartet, dich zu füttern. Sie dachte wahrscheinlich, du würdest dich auf ein richtiges Essen ohne Mollimix drin freuen.« »Was ist das?« fragte Helen. »Ohne was?« »Ach, gar nichts, Mom«, sagte John und sah seinen Vater an. »Sollen wir welches besorgen?« wollte Helen wissen. »Mollimix«, sagte Stuart. »Was ist das, Mollimix?« Helen lächelte zwar, doch das Mißtrauen wegen der offensichtlichen Geheimnistuerei zwischen den beiden Männern regte sich bereits in ihr. »Was ist es? Irgendein neues Getreide, das ich noch nicht kenne?« Stuart schüttelte lachend den Kopf, als habe sie einen Scherz gemacht. Oder genauer gesagt, als sei sie selbst ein Witz. Die nachlässige Art, mit der er das Handtuch in das Spülbecken warf, bevor er an den Tisch kam, empfand sie als Triumphgeste darüber, sie im dunkeln tappen zu lassen. »Oder ist das irgendein Verbrechen, von dem ich noch nie gehört habe?« forschte sie weiter. »Oder ist es ein Verbrechen, wenn man noch nie was von Mollimix gehört hat?« »Das tun sie einem im Gefängnis ins Essen, Mom«, 197
sagte John, »damit man keine Erektion kriegt.« Er sagte gleich darauf etwas Entschuldigendes, aber das war ihr jetzt egal. War ja auch ohnehin zu spät. »Ach so, das«, sagte sie. »Salpeter, Soda. Ja, ja, davon habe ich gehört. Und, wirkt das?« »Es hilft. Na ja, es hält ihn unten. Und man wird eben mollig dabei.« »Ach darum. Hast du das auch gegessen, Smart?« fragte sie. Es war ihr zuerst nicht bewußt gewesen, wie sehr die beiden sie mit ihrer Geheimnistuerei verletzt hatten, bis sie jetzt am Aufblitzen in Stuarts Augen merkte, wie sehr sie ihn damit verletzt hatte. »Ist sie nicht eine wirklich charmante Frau«, sagte Stuart, »ist sie nicht verblüffend?« Er stand auf und ging zur Hintertür, als habe er vor, wegzugehen und sie allein zu lassen. »Na, du hast doch damit angefangen«, sagte Helen. »Weil ich dachte, du wolltest es vielleicht wissen.« »Hast du nicht.« »Hab ich doch.« »Aufziehen wolltest du mich.« »Wir sollen sie aufgezogen haben, John? Wir?« »Iß nicht so schnell, John«, sagte Helen, als John mit einer zweiten Scheibe Toast über den Teller wischte. »Du mampfst.« »Sag guten Tag zu deiner neuen Aufseherin, John!« sagte Stuart. »Damit meinst du mich wohl, wie?« »Wenn du dich betroffen fühlst.« »Schon gut, schon gut«, sagte Helen. »Also, ich hab dich 198
angeschossen, Stuart, und du mich, also sind wir wieder quitt. Das kommt alles nur von dieser blöden Fernsehserie - Verheiratet, mit Kindern. Da gehen sie dauernd alle miteinander so schlimm um, und allmählich denkt jeder, so ist das ganz normale Familienleben auch in Wirklichkeit. Alle führen sich gemein auf und beleidigen einander pausenlos. Es tut mir leid, Stuart. Wirklich. Ich mache dir einen Hamburger dafür.« »Schon gut«, sagte Stuart und kam an den Tisch zurück. Helen ging zum Herd. Stuart griff nach seinem Kaffee. »Also, was hast du vor«, fragte er John, »an deinem ersten Tag in der Freiheit?« »Peter hat mir einen Job besorgt, unten in Long Beach. Deswegen hat er angerufen. Ich soll mit Ray hinfahren und mich vorstellen.« »Heute?« sagte Helen. »Was denn, heute schon?« »Was ist denn das für ein Job?« fragte Stuart. »Was Gutes?« »Hast du wirklich gesagt, heute? So schnell schon?« »Wann hast du mit Peter geredet?« »Natürlich mußt du arbeiten«, sagte Helen. »Das ist schon in Ordnung. Ich finde es ganz toll, daß deine Freunde dir behilflich sind und sich um dich kümmern. Aber du bist grade erst heimgekommen. Du mußt dich doch auch um dich selbst ein wenig kümmern. Das ist auch wichtig.« »Mach ich schon, Mom.« »Iß nicht so schnell.« »Ich muß. Ich muß ja weg. Und zuvor muß ich noch duschen und mich rasieren. Peter hat gesagt, ich soll um zwei unten an der Post auf Ray warten, wenn seine Schicht aus ist. Ray fahrt mich nach Long Beach. Es ist 199
was auf den Booten, ein Job auf den Fischerbooten.« Er stemmte sich vom Tisch ab und stand auf. »Ich meine ja nur«, sagte Helen, »es ist doch übertrieben, das gleich so zu überstürzen. Das meine ich nur.« »Ja, aber ich kann doch nicht einfach absagen, Mom. Wenn der Mann mich heute –« Das klingelnde Telefon ließ sie alle drei abrupt verstummen. Stuart und Helen sahen einander mißtrauisch an, als seien sie sicher, der jeweils andere habe diese unhöfliche Störung eingefädelt. »Erwartest du einen Anruf?« fragte Stuart. »Nein.« Sie schüttelte nachdrücklich und stirnrunzelnd den Kopf, während das Telefon wieder klingelte. »Wer kann das sein?« »Wahrscheinlich Peter«, sagte John. Helen stand wie gelähmt da. John stand auf und hob den Hörer ab. »Hallo?« »John?« sagte die Stimme. »Ja. Peter?« »Wer?« sagte die Stimme. »Nein. Hier ist Freddy Gale.« »Oh, hallo!« Er blickte sich im Raum nach einem Fluchtweg um, während er sich gleichzeitig davon zu überzeugen versuchte, daß seine Eltern die Stimme des Anrufers nicht hören konnten. Mit perfekter Verleugnung jeder Spur von Wahrheit machte er eine achselzuckende Geste zu seiner Mutter hin und hob einen Finger, um ihr zu bedeuten, daß es nicht lange dauern werde. »Sind Sie noch da?« fragte Freddy. »Ja.« 200
»Wegen heute nacht. Damit wir uns nicht mißverstehen, ja? Das wäre ein Irrtum.« »Und was wäre das korrekte … ich meine, das richtige Verständnis?« »Was heute nacht passiert ist, wird sich nicht wiederholen, begreifen Sie das?« »Ich denke schon, ja.« »Ich komme wieder und hole Sie mir. Das sollten Sie wissen. Es ist wichtig, daß Sie das wissen.« »Warum?« »Warum was? Warum ich Sie mir holen komme oder warum es wichtig ist?« »Beides.« »Wir haben da was von irgendwelchen Tagen gesagt. Erinnern Sie sich daran?« »Sie haben eine Menge gesagt.« »Ich meine das mit den Tagen. Eine bestimmte Anzahl Tage, die Sie noch zu leben haben sollten. Erinnern Sie sich jetzt? Davon spreche ich.« »Richtig.« »Also Sie erinnern sich? Sie sagen ›richtig‹. Meinen Sie damit, daß Sie sich erinnern?« »Ja.« »Es war ein wenig verwirrend. Wir kamen auf das Thema mit den Tagen, und dann entstand Verwirrung. Vielleicht ist es auch nur meine eigene Verwirrung, aber ich will absolut keine Verwirrung haben. Drücke ich mich klar genug aus?« »Ziemlich, ja.« »Gut. Trotzdem möchte ich das ganz klarstellen. Es standen da einige Zahlen im Raum. Die Anzahl der Tage, 201
meine ich. Sie sagten eine bestimmte Zahl, und ich sagte eine. Erinnern Sie sich?« »Ja, sicher.« »Gut, ich möchte die korrekte Zahl festlegen. Sind Sie damit einverstanden?« »Rufen Sie etwa deshalb an?« »Mir erscheint es wichtig genug für einen Anruf. Die Anzahl der Tage, die Sie noch zu leben haben. Ich denke doch, daß das wichtig ist. Oder?« »Na ja, das nehme ich an.« »Sie nehmen es an? Haben Sie das eben gesagt?« »Ja.« »Na, ich würde doch meinen, da sollten Sie sich ganz sicher sein.« »Ich denke, Sie sollten sich diese Sache noch einmal gut überlegen. Das habe ich Ihnen schon gesagt, als wir darüber redeten. Und ich sage es jetzt noch einmal.« »Die korrekte Zahl ist drei. Ich habe entschieden, drei Tage. Und heute ist der zweite von diesen dreien. Letzte Nacht mitgerechnet. In Ordnung?« »Ja, ja.« »Gut. In Ordnung. Ein kleiner Mord aus niederen Beweggründen, John.« »Was? Wie war das?« »Mein Mantra, John. Meine magische Formel. Ein kleiner Mord aus niederen Beweggründen. Eine kleine gleichgültige Rücksichtslosigkeit gegen menschliches Leben. Haben Sie auch eines?« »Denken Sie nach. Okay?« »Was?« »Sie sollen darüber nachdenken, habe ich gesagt. 202
Nachdenken.« »Etwas anderes tue ich doch ohnehin nicht.« Es knackte in der Leitung. John blickte nachdenklich auf den Telefonhörer. »Was wollten sie denn jetzt schon wieder?« fragte Helen. Sie brachte Stuart eben seinen Hamburger und schenkte ihm frischen Kaffee nach. »Ach, es sind nur Verabredungen, Mom. Jetzt muß ich aber los.« John sagte es, rührte sich aber nicht von der Stelle. Er stand da wie angewurzelt. Dabei war es weniger der Schock über dieses Telefongespräch, der ihn festhielt, sondern seltsamerweise die plötzliche Wahrnehmung des feinen Blumenmusters der Tapete an der Wand des durch den Durchgang sichtbaren Eßzimmers drüben. Um die Decke herum lief eine weiße Stuckleiste. Auch die Bodenleiste war weiß. Alles war gestrichen und gepflegt. An den Wänden hingen Körbe wie Bilder. Da stand ein fleckiger Mahagonitisch, dort eine Obstschale mit Plastikfrüchten. Etwas weiter, hinter einem anderen Durchgang, schimmerte ein Stück braune Farbe als Hintergrund der wilden Blumen. Das war das Wohnzimmer, wo zu beiden Seiten der von seiner Mutter gemalten Bilder holzgerahmte, straffgespannte Stickereien an der Wand hingen. Ein großes Ölporträt auf Leinwand. Ein auf einem Stuhl sitzender Mann. Der ganze Raum war außerdem voller gerahmter Fotos. Er mußte sie gar nicht eigens sehen, um zu wissen, daß sie sein ganzes Leben darstellten, vom Säuglings- und Kleinkindalter an. Auf einem war er acht Jahre alt in einem Cowboykostüm, und auf einem anderen hatte er einen Piratenhut auf. Dann war er als Teenager in Baseballkleidung zu sehen. Wenn er von hier aus dem Fenster sah, blickte er genau auf die 203
Stelle, wo es aufgenommen worden war, wie er so tat, als fange er gerade einen Ball. Dazwischen hingen auch Fotos seiner Eltern. Wie sie noch jung waren und dann immer älter wurden, manchmal zusammen, manchmal allein. Die frühesten zeigten sie Arm in Arm, an ihrem Hochzeitstag, formell angezogen und in die Kamera strahlend, zwei eifrige Leute, jünger als er inzwischen war. Es war alles so einfach und so hartverdiente Normalität. Und mehr als nur ein Zimmer, die man vor sich sah. Er war betroffen. Nicht von der Vertrautheit dieses Hauses und seiner ganzen Erinnerung, von dem er als Teenager einmal hatte weglaufen wollen, sondern von seiner Zerstörbarkeit. Und der erstaunlichen Tatsache, daß diese Normalität überhaupt existierte. Als er aufsah, erblickte er zwei alte Menschen mit Kaffeebechern in der Hand. »Jetzt muß ich aber endlich duschen gehen«, sagte er, drehte sich um und eilte davon. Doch die Stimmung, in die ihn dieser Augenblick versetzt hatte, verging nicht so schnell wieder. Sie hielt an, während er bereits frische Sachen im Wohnwagen heraussuchte. Falls sie sich überhaupt verändert hatte, als er in die Küche zurückkam, die er leer vorfand, dann war sie allenfalls noch stärker geworden. Einen Moment lang erwog er, nach seinen Eltern zu suchen. Doch im Flur hörte er ihr gedämpftes Murmeln im Schlafzimmer. Er ging ein paar Schritte weiter bis zum Bad, kam dann zurück und lauschte an der Wand. Er fühlte sich getrieben und verwirrt, wie einer, der sich mitten in mysteriösen Vorgängen findet und glaubt, die Wände redeten. Oder als höre er Gespenster.
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15. KAPITEL Freddy telefonierte mit Robbie Perrin, einem Juwelierbedarfsgroßhändler, und beschwerte sich über dessen »langweilige, monotone und unerträgliche Nachlässigkeit«. Eine Bestellung modernisierter Schaufensterpodeste und samtbezogener Schatullen war nun schon die dritte Woche überfällig. »Genau das sage ich«, erklärte er. »Ich weiß, wann sie dasein sollten. Aber sie sind nicht hier. Sie kommen einfach nicht. Genau das sage ich. Sie kommen nicht. Das versuche ich Ihnen gerade klarzumachen.« Robbie Perrin versuchte sich mit der Erklärung zu verteidigen, daß er einen neuen Vertriebsleiter habe. Er gab sich schockiert und betroffen, als habe er sich dieser Art Problem bisher noch niemals gegenübergesehen. Offenbar gab er sich der Hoffnung hin, Freddys Gedächtnis sei nicht so gut, daß er sich daran erinnerte, daß sie dasselbe Gespräch erst vor einer Woche fast wörtlich geführt hatten, nur daß da ein unzuverlässiger Vorarbeiter an der Verladerampe schuld war. Wer bei seiner ersten Mahnung vor zwei Wochen schuld war, das wußte Freddy schon nicht mehr. Robbie Perrin versprach jedenfalls, sich der Sache nun aber persönlich anzunehmen. Was freilich Freddys Zuversicht auch nicht wesentlich steigerte. »Fangen Sie lieber nicht mit persönlichen Gefallen an, Robbie.« Er trank seine zehnte Tasse Kaffee an diesem Tag. Er spürte auch bereits, wie sein Magen zu revoltieren begann, als gebe es irgendeinen Ort, wohin er entfliehen könne. 205
»Nein, das ist mein voller Ernst, Freddy. Wirklich.« Freddy suchte nach dem richtigen Wort, das jetzt angebracht wäre, um seiner wahren Meinung Ausdruck zu verleihen, doch da klingelte es auf der zweiten Leitung. Robbie war ein typisch billiger Stinker. Selber schuld, dachte er. Wer billig kauft, kriegt billiges Zeug. »Augenblick«, sagte er und ging in die zweite Leitung. »Ja?« »Freddy?« sagte eine Frauenstimme. »Ja?« Nichts weiter. Aber auch kein Freizeichen. Nichts. Tot. Er sagte: »Hallo?« Aber schon während er wartete, wußte er, daß es nur Mary sein konnte. Zornig trank er seinen Kaffee aus und steckte sich eine Zigarette an. Er warf sich im Sessel zurück. In der anderen Leitung hing noch immer Robbie Perrin. Das blinkende Licht am Knopf der ersten Leitung signalisierte es schwach. Laß ihn verhungern. Wieso rief Mary ihn an? Natürlich, dachte er. Aber welcher von der Million möglicher Gründe war es? Außer sie war es doch nicht. Er schloß die Augen und zog heftig an seiner Zigarette, beides nachdrückliche Bemühungen, sich die Stimme noch einmal zu vergegenwärtigen. Als er sich ganz sicher war, wußte er ohne jeden Zweifel: Es war Mary gewesen. Nach einer Weile hörte das Blinken auf dem Knopf der ersten Leitung auf. Robbie Perrin hatte also die Nase voll davon gehabt, noch länger zu warten. Er lächelte und stand auf, weil er zu spüren begann, daß er außer der Gewißheit, daß dies nur Mary gewesen sein konnte, auch ganz genau wußte, was sie gewollt hatte. Er fuhr durch zwanzig Minuten sonnenerfüllte Leere, nämlich fünfzehn Meilen greller Gedankenlosigkeit. Sein 206
Atem ging ganz flach und schien sich nicht weiter als nur in der Brust auszubreiten. Der Kater und zuviel Kaffee ließen sein Blut nur zäh fließen, und er fühlte sich ziemlich erschöpft. Als er auf der gegenüberliegenden Straßenseite des stattlichen Hauses anhielt, in dem er einst selbst gelebt hatte, war ihm, als erwache er gerade aus einem fiebrigen Mittagsschlaf. Er ging über den schmalen Weg unter den roten Ahornbäumen neben dem penibel gepflegten Rasen auf der einen und Blumenbeeten auf der anderen Seite bis zum Haus. Es kam ihm so vor, als komme er als eingeladener Gast zu einer Party oder als Hausfreund zu einem diskreten Rendezvous. Er war begierig, in Marys Augen zu sehen, und überlegte, wie lange es wohl dauern werde, bis sie zugab, ihn angerufen zu haben. Statt dem fröhlichen Singsangklang der Hausglocke, den er immer so geliebt hatte, als er noch hier wohnte, gab es jetzt nur mehr – und das schon seit einigen Jahren – einen dieser unpersönlichen, mechanisierten Summertöne. Er drückte noch einmal auf den Knopf und dann wieder, aber erst nach dem vierten Mal vernahm er leise Schritte, gefolgt von einer schemenhaften Gestalt hinter der dicken Tür aus Glas. Aber es war nicht Mary. Er stand Roger Webster gegenüber, Marys jetzigem Ehemann. So, wie Roger ihn anblickte, mit offenem Mund und sichtlich enttäuschten Erwartungen, mit einem schnurlosen Telefon in der Hand, war es offensichtlich, daß er noch weniger als Freddy auf diese Begegnung gefaßt war. Er zog ein wenig den Atem ein und sagte dann ins Telefon: »Augenblick, Phil.« Freddy griff nach Rogers langer, knochiger Hand und schüttelte sie. »Hallo, Roger, schön, Sie zu sehen.« »Freddy! Wie geht es Ihnen? Ist was?« 207
»Ist Mary da?« »Nein.« »Nein?« Roger trat, obwohl nicht gerade erfreut, einen Schritt zurück und gab die Tür frei. »Wollen Sie reinkommen?« »Wann kommt sie denn wieder?« fragte Freddy und trat über die Schwelle in die weite Vorhalle, die ihm eigenartig und fremd vorkam. Der Boden war neu mit dunklen Fliesen belegt. An der Wand rechts war ein neuer Spiegel und direkt darunter ein antiker Tisch, auf dem ein prächtiges großes Blumenarrangement stand. Ein eingetopfter Bananenstrauch blühte, die Stengel wuchsen aus einem großen Flechtkorb in der Ecke. Die Vestibülwände waren ebenso neu gestrichen wie alle anderen in den anschließenden Räumen, soweit es von hier aus durch mehrere Durchgänge sichtbar war. Roger war mit dem Rücken zu ihm mit den Blumen beschäftigt, während er weiter in sein Telefon murmelte. Der Blick, den er Freddy zuwarf, galt gar nicht wirklich ihm, obwohl er sagte: »Augenblick noch, Freddy, ich bin gleich fertig.« Es war Freddy ziemlich egal, wie lange er noch brauchte oder nicht. Er war in die Dissonanz der Jahre versunken. Er fühlte fast körperlich, daß hier noch einiges Gift aus der Vergangenheit übriggeblieben war, trotz der beunruhigenden Art, wie sie versucht hatten, diese durch die Veränderung so vieler Einzelheiten auszulöschen. In den ersten Jahren nach seiner Scheidung war er noch oft zu Besuch gekommen. Aber niemals hatte das so ein Gefühl in ihm ausgelöst wie diesmal. Seit Marys Wiederverheiratung vor jetzt drei Jahren war er nicht mehr hier gewesen. Er hatte, wenn er seinem Besuchsrecht nachkam und die Zwillinge abholte, immer draußen im Wagen auf sie gewartet. 208
»Sieht sehr schön aus, das Haus, Roger«, sagte er. »Was?« fragte Roger. Er winkte ihm zu und machte eine bedauernde Geste, daß sein Anrufer offenbar gar nicht mehr aufhören wollte, und sprach weiter in sein Telefon. »Ja, ich weiß, Phil, ich weiß ja. Ich rufe dich wieder an, ja. Aber falls du ausgehst, melde dich zuerst. Was ist so kompliziert?« Er blickte wieder Freddy an, während er den Ausschalteknopf drückte. »Was sagten Sie eben, ich habe es nicht verstanden?« »Das Haus sieht toll aus. Sie haben da eine Menge Arbeit reingesteckt.« »Sie kennen ja Mary. Sie hat ziemlich genaue Vorstellungen von dem, was sie haben will.« »Die Jungs sind wohl in der Schule, wie?« »Nein, zufällig nicht. Sie haben aus irgendeinem Grund keine Schule. Mary ist mit ihnen zum Friseur gefahren. Fragen Sie mich nicht, warum. Aber sie müßten an sich jede Minute zurückkommen. Kann ich Ihnen was anbieten?« »Nein, nein, danke, nichts.« Er wollte ganz bestimmt nichts zu trinken. Von Roger, dieser Klatschbase, schon gleich gar nicht. Er würde es hinterher nur sofort bei Mary gegen ihn verwenden. Ganz abgesehen davon, daß er wirklich keine Lust auf ein Getränk hatte. Es war alles so erstaunlich. Als sei er ein herumwandernder Besichtigungstourist in einem exotischen Land, der die detaillierte und polierte Gegenwart mit der nicht beseitigten Vergangenheit verglich. Alle paar Schritte stieß er auf irgendeinen bekannten und vertrauten Gegenstand und hielt inne, um ihn zu betrachten. Meistens war es ein unbewegliches Einrichtungsstück wie beispielsweise der Kamin, vor dem er stand. Diese Dinge verstärkten sein ohnehin unbehagliches Gefühl nur noch. 209
Es war wie eine Unausweichlichkeit. Er fühlte sich wie einer, der ganz überwältigt ist von dem unerwarteten Anblick, der sich ihm bot. Er ließ sich auf der Couch nieder und streckte die Arme bis zu den Kissen von sich. »Sie haben so gut wie alles verändert, Roger.« »Nun ja, ziemlich viel. Ja.« »Nur der Kamin ist noch, wie er war.« »Ja.« Roger stand etwas unsicher mitten im Zimmer, bis er sich schließlich neben Freddy auf die Couch setzte. »Also, Sie meinen, sie werden jede Minute zurück sein?« »Ja, ja, jede Minute.« »Gut.« Sein Blick wanderte von einem Aquarell ausgedünnter Bäume mit braunen unscharfen Bergen im Hintergrund weg. Nicht daß er irgend etwas Bestimmtes gesucht hätte, aber er wollte auch nichts übersehen und ließ seinen Blick also weiter umherwandern. Und dann blieb er an etwas hängen. Auf dem Kaminsims stand eine Keramikfigur eines Landstreichers. Diese zottelige, abgerissene Figur hatte für Emily, als sie drei oder vier Jahre alt gewesen war, etwas Faszinierendes gehabt. Und deshalb ließ sie ihn jetzt nicht mehr los. Sie war bronzefarben, die Gestalt gebeugt und unrasiert. »Da«, sagte er. »Gott.« »Was?« »Em … liebte sie, diese Figur. Ich bin überrascht, daß sie immer noch da ist. Wieso steht sie da? Wir hatten sie immer da drüben stehen – auf der Theke dort. Da konnte sie … Em … kaum an sie ran.« Die Erinnerung, und wie sie ihn wieder auf Emily stieß, überwältigte ihn. Wie sie sich damals, als sie glaubte, allein zu sein, zu der Figur schlich. Sie hatte ein Feder210
werk mit einem Schlüssel am Rücken. Wenn man es aufzog, erklang ein hübsches Liedchen. »Sie streckte ihren ganzen Körper bis ins letzte Fingergelenk, um es aufzuziehen«, sagte er. »Spielt es jetzt noch jemand manchmal?« »Selten.« Ein gerahmtes Foto von Roger und Mary mit seinen eigenen Zwillingen Andrew und Anthony stand links von der Figur. Die Sonne schien direkt auf das Glas und machte das Foto kaum erkennbar. Er mußte es leicht hochheben, um seine beiden Jungs zu sehen. Sie hatten gleiche Jacken und Hemden an. Mary und Roger gaben den Hintergrund konventionellen Erwachsenseins ab. Mary hatte die linke Hand auf Anthonys Schulter, und Roger zog Andrew an sich. Er merkte, daß Roger hinter ihm stand. Das waren schließlich seine Jungs. Und Mary war seine Exfrau. Aber deswegen waren sie doch nicht seine Exsöhne? »Ihr seht wie eine natürliche Familie aus«, sagte er. »Ich meine, Sie könnten ohne weiteres auch der richtige Vater sein.« So versöhnlich die Worte schienen, so verräterisch war der Unterton, mit dem sie gesagt wurden. »Danke, Freddy.« »Hat sie denn keine mehr von Emily da stehen? Fotos, meine ich?« »Nein. Sie … Nicht daß ich wüßte.« »Aber Sie wüßten es, wenn, nehme ich an.« »Sicher. Das glaube ich auch.« »Es ist hart für sie. Ich verstehe es ja.« Nachdem er das Foto wieder hingestellt hatte, schien er sofort wieder alles Interesse daran verloren zu haben. »Sieht wirklich verblüffend wie eine echte Familie aus. 211
Wirklich. Sie müssen stolz sein«, sagte er und schlenderte weiter. »Freddy, was kann ich denn für Sie tun? Gibt es irgend etwas, das ich –« »Nein, nein, nichts. Gar nichts. Ich bin wirklich nur wegen Mary da.« »Na ja, sicher. Ich meine, ich will mich ja da nicht einmischen, aber worum geht es denn?« »Tja, Roger, wenn Sie sich nicht einmischen wollen, wie Sie sagen, dann ist der einzige Weg, es nicht zu tun, der, sich nicht einzumischen, meinen Sie nicht?« »Herrgott, nun sagen Sie’s schon.« »Ich will mit Mary reden.« Roger schien sich an eine Anzahl ferner Prinzipien erinnern zu müssen, um die Situation zu überstehen. Er kam offensichtlich zu dem Ergebnis, das beste sei, sich zurückzuhalten und nicht dazwischenzufunken. »Nun ja, der Logik entspricht es ja wohl«, sagte er und rang sich ein resigniertes Lächeln ab. Freddy wollte sich in diesem Spiel völliger Unaufrichtigkeit nicht übertreffen lassen und grinste seinerseits falsch zurück, aber sein Gesicht verzog sich dabei so, als habe er in Wirklichkeit die Absicht, Roger zu verschlingen. Er zog die Augenbrauen hoch und sagte: »Eben. Wenn ich mit Mary reden möchte, dann muß ich eben mit ihr selbst reden, nicht? Das ist dann so am besten.« Roger schüttelte den Kopf, als übersteige diese Art Unterhaltung sein Fassungsvermögen. Er stand auf und entfernte sich. »Na gut, ich glaube, ich mache mir was zu trinken«, sagte er. Freddy glaubte in diesem Moment draußen ein Auto 212
vorfahren zu hören, und sah Roger fragend an. Aber Roger reagierte nicht mehr. Er schenkte sich einen kleinen Stamper Cognac ein und nippte daran. Wieso reagierte er nicht auf die zunehmenden Geräusche des nahenden Autos? »Ich bin ebenfalls geschieden, wissen Sie«, sagte Roger schließlich. »Auch meine Kinder leben bei meiner Exfrau.« »So wie die meinen bei Ihnen.« »Richtig. Und ich kümmere mich gut um sie.« Jetzt schlug die Haustür, und laute Jungenstimmen veränderten die Atmosphäre im ganzen Haus, als sie hereinkamen. Roger fuhr herum, als sei er völlig überrascht. Er schluckte den restlichen Cognac hinunter und ging hinaus in den Flur. Freddy folgte ihm mit Abstand. Die Jungen war ein kräftiges Paar. Sie trugen verschiedenartige Sportschuhe und Baumwollhosen verschiedener Farbe. Andrew hatte dazu ein DisneylandT-Shirt an und Tony ein grünes Hemd mit der Erdkugel. Sie riefen Roger »Daddy! Daddy« entgegen, der sie mit ausgebreiteten Armen empfing. Mit dem schnellen Kuß, den er Mary gab, machte er gar keinen Versuch, Heimlichkeiten zu verbergen, und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Andrew war einige Schritte weitergegangen und stieß unvermutet auf den nachkommenden Freddy. In einer entnervenden Mischung aus Neugier und Zurückhaltung sagte er: »Oh, hallo, Freddy.« »Na, wie geht’s?« Andrew erschien neben seinem Bruder und sagte ebenfalls: »Hallo, Freddy.« 213
»Hört euch das an. Meine eigenen Kinder nennen mich Freddy!« Mary kam zu den Jungen. »Geht doch rauf und seht mal, was es im Fernsehen gibt.« »Cartoons«, sagte Anthony. »Was für welche?« fragte Roger, der sie vor sich her zur Treppe bugsierte. »Die Ninjaschildkröten.« Und schon waren sie weg. Freddy blickte hinter ihnen her, bis oben eine Tür zuschlug und ihre Stimmen verschluckte. »Macht es dir etwas aus, wenn ich rauche?« fragte er und sah sich nach einem Aschenbecher um. »Nein«, sagte sie, versuchte aber nicht ihre Ungehaltenheit zu verbergen. »Na schön, dann nicht«, sagte Freddy und lächelte. Ihr Modegeschmack war einfach, aber auffällig wie immer. Ihr schwarzes Haar paßte zu dem dunklen Marineblau ihres Kostüms, dessen Jacke einen tiefen V-Ausschnitt über der weißen Bluse hatte. Es hatte ihm immer gefallen, wenn sie Perlenketten getragen hatte und dazu Perlenohrringe, so wie jetzt, und das schien mehr zu sein als nur Zufall. »Weißt du«, sagte er, »du siehst wirklich großartig aus.« »Na ja, großartig ist ja wohl ein bißchen übertrieben.« »Nein, wirklich. Du siehst großartig aus.« Sie hatte eine große Tüte Lebensmittel im Arm. Sie ging an ihm vorbei, und er folgte ihr in die Küche. »Wie geht das Geschäft? Gut?« »So lala«, sagte er. »Es ist schließlich nur ein kleiner Juwelierladen. Kleiner Laden, wenig Umsatz. Und wie ist 214
es bei dir? Immer noch Immobilien?« »Der Markt ist im Augenblick zäh. Aber ich habe ein paar gute Objekte an der Hand. Auch Roger ist ziemlich aktiv, wo doch an der Wall Street soviel Unruhe ist. Aber er hat einen hervorragenden Instinkt und in den letzten Jahren guten Umsatz gemacht, so daß ich einiges sparen konnte und wir keine großen Sorgen haben. Daher kann ich auch den Jungs mehr Zeit widmen.« »Wunderbar.« Sie versuchte gar nicht erst ihre Zweifel an seiner Aufrichtigkeit zu verbergen, aber sie wehrte seine Lobesbekundungen auch nicht ab. Sie musterte ihn nur kritisch und fuhr fort, die Eier aus dem Karton ins Eierfach des Kühlschranks zu legen. »Nein, nein«, wiederholte er, »wirklich. Das finde ich wunderbar, Mary.« »Es ist auch wichtig, wenn man alles bedenkt.« »Eben. Genau meine Meinung.« »Das hoffe ich.« Ihre Beschäftigung schien ganz ungewöhnliche Aufmerksamkeit und Vorsicht zu erfordern. Ihre Konzentration hypnotisierte ihn für ein paar Augenblicke, dann sagte er: »Ich habe dir etwas zu sagen. Ich möchte, daß du es weißt. Aus diesem Grund bin ich hier.« »Freddy …«, sagte sie und nahm ihre Stimme wie hinter einen Schild zurück. »Was ist?« fragte er achselzuckend und überlegte, warum sie diesen Tonfall annahm, wenn sie ihm doch durch den Anruf bedeutet hatte zu kommen. »Ich muß dir etwas sagen, weißt du«, wiederholte er. »Ach, Freddy, du hast mir doch etwas versprochen. Und ich hoffe, du hältst es.« 215
»Ja, ich habe dir etwas versprochen. Sicher, gewiß.« »Wenn es wieder darum geht, dann geh lieber gleich.« »Nein, nein. Das sind zwei Dinge. Zwei verschiedene Dinge. Ich habe dir etwas versprochen. Das ist das eine. Und ich habe eine große Neuigkeit. Das ist das andere. Also, was ist, hörst du mich an oder nicht?« »Eine große Neuigkeit?« »Ja.« »Was denn?« »Es ist toll.« »Schön, aber was ist es? Was ist die große Neuigkeit? Heiratest du wieder?« »Nein, nein«, knurrte er verächtlich. »Wirklich eine große Neuigkeit, Mary. Sensationell. Okay. Bist du bereit?« Sie nickte, aber die Art, wie er sprach, machte sie sichtlich nervös. Zweifel lag in ihrem Lächeln, das ihn seinerseits reizte, sie noch ein wenig hinzuhalten. »Bist du sicher? Bist du wirklich bereit?« »Jaaa.« »Er ist draußen. John Booth.« Sie starrte ihn an. »Ich will davon nichts hören, Freddy.« »Aber natürlich willst du das.« »Es ist besser, du gehst.« »Warum hast du mich dann angerufen, wenn du es nicht hören willst und wenn du nicht weißt, daß er raus ist?« »Ich weiß gar nichts davon. Ich weiß nicht, wo er ist, und will es auch gar nicht wissen.« »Ich werde ihn umbringen.« Sie machte die Kühlschranktür zu und drückte ihr ganzes Gewicht dagegen, wie um eine gefährliche Kraft da 216
drinnen nicht herauszulassen. »Und wieso angerufen? Ich habe dich nicht angerufen.« »Ach komm.« Sie fuhr herum. »Verschwinde! Und zwar sofort!« »Das tue ich nicht. Jedenfalls nicht, bevor du mir nicht die Wahrheit sagst … und bevor du …« »Welche Wahrheit, Freddy?« Roger war auf der Treppe, er kam rasch herunter und beugte sich vor, als könne er so noch schneller herunterkommen. »Was ist los hier?« »Du hast versprochen, Freddy, daß du es nicht tun würdest! Du hast es versprochen!« »Was nicht tun würde? Unser Kind nicht erwähnen? Weil du mich dazu erpreßt hast?« »Ich habe dich niemals erpreßt!« »Daß ich, wenn ich mit der Mutter meiner Kinder reden wolle, niemals unsere Tochter erwähnen dürfe?« Roger atmete heftig mit offenem Mund wie ein Goldfisch im trüben Wasser ohne Sauerstoff. Er wies zur Tür. »Schluß damit. Verlassen Sie unser Haus!« »Lieber Freund, das ist mein Haus«, sagte Freddy. »Nach jedem Naturrecht ist dies mein Haus. Wenn meine Kinder hier leben, wer will mir da sagen, daß ich nicht zu jeder beliebigen Stunde herkommen kann, um –« »Soll ich die Polizei rufen?« schrie Mary. Und sie stürzte zum Telefon, blieb aber plötzlich wie angewurzelt stehen, als sei diese Kraftprobe zwischen ihnen ein Spiel wie Charade, bei der sie pantomimisch drohen müsse. »Möchtest du der Polizei vielleicht etwas über naturgegebenes Recht erzählen? Das wird sie zweifellos sehr interessieren. Du warst doch nie ein Vater für sie. Du hast bei deiner Tochter aufgehört, ein Vater zu sein.« 217
»Emily!« »Richtig. Stell dir vor, ich weiß ihren Namen auch! Emily! Und sie ist tot! Aber die Jungs sind noch da, falls du das vergessen haben solltest, und ihnen bin ich alle Liebe schuldig, deren ich fähig bin, und die gebe ich ihnen, aber das kannst du nicht ertragen. Es bringt dich um, daß ich es kann und du nicht, weil du –« »Ach Blödsinn«, sagte Freddy. »… du glaubst …« »Ach Blödsinn!« »Du bist der Blödmann, Freddy! Du bist der –« »Blödsinn!« rief er. »Blödsinn!« Er lief auf sie zu mit erhobener Hand in der spontanen Absicht, sie zu packen und zu schütteln. Doch dann spürte er, wie sich dieser Wunsch bereits wieder wandelte und seine Hand sich zur Faust ballte, um sie damit niederzuschlagen, und ihr die Nase in ihrer blöden, verlogenen, arroganten, Unsinn redenden Visage einzuschlagen. Aber dann war er unfähig, sich zu bewegen, weil Roger ihn von hinten umklammerte. »Verlassen Sie unser Haus jetzt«, sagte Roger. Freddy fuhr herum, packte Roger, der zurückzuweichen versuchte, aber sich im nächsten Augenblick mit dem Kopf in Freddys Hüfthöhe im Schwitzkasten befand. Mary kam herbei und schlug auf Freddy ein. »Laß ihn sofort los!« In der unangenehmen Situation, die sich ergeben hatte, befand sich Rogers Hinterteil vor Mary. Freddy konnte ihn richtig als Puffer zwischen sich und ihr benützen, während er sie anschrie: »Sag doch die Wahrheit, Mary! Du willst doch in Wirklichkeit, daß ich John Booth umbringe, oder? Genau wie du möchtest, daß ich die Last von Emilys Tod 218
allein trage. Damit du es nicht mußt. Das ist mein Job, und deiner ist weiterzuleben, als wäre nie etwas geschehen.« »Scher dich zum Teufel!« »Aber mir gefällt mein Job, verstehst du? Ich glaube, mein Job –« »Freddy!« sagte Roger und zerrte an seinem Gürtel, »lassen Sie mich los, Freddy.« »Du Dreckskerl!« sagte Mary. »Warum lassen Sie mich nicht los«, sagte Roger noch einmal. »Dann mache ich uns Kaffee. Freddy? Ich mache uns Kaffee.« Es war einfach zu lächerlich. Roger jammerte ihm etwas vor, und Mary starrte ihn haßerfüllt an. »Kaffee?« sagte Freddy. »Also gut. Ich trinke gern einen Kaffee.« Er ließ Roger los und trat von beiden etwas zurück, während Mary ihn anfunkelte und zur Seite auswich. Roger richtete sich auf, zog sich in die Küche zurück und hielt sich mit einer Hand den schmerzenden Nacken. Mit der anderen machte er beschwichtigende Bewegungen in der Luft, wie um deren Wirbelströmungen zu glätten. Er versuchte Kontakt mit Mary aufzunehmen, doch er sah keine Möglichkeit, in ihre ganz auf Freddy fixierte Konzentration einzudringen. »Setzt euch ruhig hin, und wir trinken Kaffee und reden in Ruhe wie erwachsene Menschen.« »Wissen Sie, was, vergessen Sie den blöden Kaffee.« Freddy konnte plötzlich keine Sekunde länger diesen verwunderten, verurteilenden Blick ertragen, mit dem Mary ihn anstarrte. »Ich mag überhaupt keinen Kaffee. Davon kriege ich nur Herzrasen.« Und er schlug sich mit 219
der Faust an die Brust, um seinen Herzschlag zu imitieren. Aber sein Herz schlug tatsächlich heftig, so daß jeder Schlag schmerzte. Er hatte das Gefühl, als habe man ihm die Beine weggezogen. »Grade noch haben Sie gesagt, daß Sie Kaffee wollten, Freddy. Grade noch.« »Ja, ich weiß, Roger. Aber augenblicklich bin ich etwas schwierig im Umgang.« Er wartete, daß seine Beine wiederkamen, und sie kamen wieder. »Kein Kaffee. Ich gehe. Mir geht’s wieder gut.« Er wollte, daß sie ihn nicht mehr ansah. Er versuchte sie mit Blicken wie Messer, wie Fäuste davon abzubringen. »Ich fühle mich gut, Mary.« »Das zu wissen, ist auch von ungeheurer Wichtigkeit für uns, Freddy«, sagte sie. »Das weißt du doch. Vielleicht sogar für die ganze Welt. Wenn nicht gar für das Universum. Doch ja, ich würde sagen, es ist für das ganze Universum von unerhörter Wichtigkeit.« »Laß mich nur dies eine sagen, verdammt noch mal. Ich habe eine Menge für dich getan. Und ich finde es sehr mies und billig von dir, daß du nicht einmal zuhören willst, wenn ich dir diese Dinge … diese Dinge, die wichtiger sind als alles andere … Dinge …« »Weißt du, was du bist, Freddy? Du bist ein Arschloch. Ein egozentrisches –« »Sie sehen doch«, sagte Roger, »daß sie außer sich ist. Warum gehen Sie denn nicht einfach?« »Ja. Wahrscheinlich haben Sie recht. Ich gehe wohl am besten«, sagte Freddy. »Ich bin nicht außer mir«, sagte Mary. Freddy ging hinaus auf den Flur und zur Haustür, als ihm Mary plötzlich nachgerannt kam wie ein bellender 220
Hund einem vorbeifahrenden Auto. »Weil du dich irrst, Freddy, wenn du glaubst, ich führe Buch darüber, wer was für wen getan hat!« rief sie heulend. »Hast du gehört? Und wenn du das mies und billig findest, dann kannst du mich mal! Ich weiß nicht, ob du das wirklich ernst meinst mit dem Mann. Daß du ihn umbringen willst. Aber mit unserer Tochter hat das gar nichts zu tun. Unser kleines Mädchen ist tot, und nichts, was du tust oder nicht, macht sie wieder lebendig, ob das nun in deinen blöden Schädel geht oder nicht! Geht es rein, Freddy? Ist das so schwer zu glauben?« »Nicht, wenn du es mir sagst, Mary. Weil ich weiß, daß ich dir vertrauen kann.« »Kein Mensch ruft dich an oder schreibt dir einen Brief und enthebt dich all dessen.« »Du klingst, als würde dich das in gewisser Weise befriedigen.« »Du bist doch nicht mal, auch nur ein einziges Mal, an ihrem Grab gewesen, du Blödian! Nicht einmal warst du an Emilys Grab!« »Aber natürlich war ich das.« »Wann denn? Wann denn, Freddy? Sag’s, ich will dich ja gar nicht falsch beurteilen.« Das war die Hand, die sie in ihn steckte und mit der sie seine verwundbare Stelle traf. Er mußte das unterbinden. »Warum?« sagte er. »Wie kommst du denn darauf? Nur weil ich nicht zu deiner Party kam? Zu deiner Beerdigungsparty? Ich bin für mich alleine hingegangen, Mary. Ganz allein für mich.« »Ach, wirklich, ja?« »Ja.« Verdammt noch mal, wie konnte sie es wagen, ihn auf diese Weise der Lüge zu bezichtigen? Das war 221
ungeheuerlich. »Richtig«, sagte er. Es ging sie überhaupt nichts an, daß und warum er nie hingegangen war. Das war seine Sache. Heute noch zog sich ihm allein bei dem Gedanken, zum Friedhof zu gehen, sein Herz zusammen wie eine Faust. »Dann bist du ja tapferer, als ich dachte«, sagte sie. »Sag mir doch, was auf dem Grabstein steht?« Er sah weg, als wolle er diese Art Argumentation gar nicht erst zur Kenntnis nehmen. Aber sie kannte die Wahrheit, ganz gleich, was er sagte oder tat. »Welche Farbe hat er?« forderte sie ihn weiter heraus. »Wo liegt es, auf einem Hügel, unter einem Baum? Oder hast du das nicht wahrgenommen? Warst du zu beschäftigt dafür?« »Soll das ein Verhör sein?« Sie ging auf sein Ausweichmanöver gar nicht ein und verblüffte ihn mit dem direkten Wissen, das sie in seinen Augen las und mit dem sie seine Vorwände wegriß. »Ist es eben oder ragt es aus dem Boden hervor?« Er versuchte ihrem Blick standzuhalten, aber sie schüttelte einfach nur den Kopf und ging weg und ließ ihn stehen mit nichts als der Tatsache, daß sein Verhalten etwas Beschämendes über ihn verriet. Seine völlige Erstarrung war ihr so zuwider, daß sie ihn nicht einmal mehr ansehen mochte. »Genauso wie ich dachte«, sagte sie. Er sah ihr nach, wie sie die Treppe hinaufstieg. Er schwor sich, daß sie ihm das büßen werde; und haßte sie mit jedem Schritt, den sie tat, ein Stück mehr. »Roger«, sagte er, »ein Wort von Mann zu Mann. Wenn Sie in der Zeitung lesen, daß John Booth erschossen worden ist, dann müssen Sie ihr ins Gesicht sehen. Dann müssen Sie den gottverdammten Mumm haben und ihr ins 222
Gesicht sehen und zu mir kommen und mir sagen – wo immer ich dann bin, und wenn es das Gefängnis ist, kommen Sie dorthin –, ob Sie Stolz und Erleichterung in ihrem Gesicht gesehen haben. Sie müssen mir die Wahrheit sagen. Sie werden es auch sehen, verlassen Sie sich darauf. Stolz und Erleichterung, Mary.« »Du bist einfach nur ein Arschloch«, sagte Mary vom Treppenabsatz herab. Dann war sie fort. Aber er wußte, daß sie glücklich über das war, was sie eben gehört hatte; ganz egal, wie sie sich verhielt. Sie mochte es nicht zugeben, aber sie ertrug es genauso wenig wie er, daß die Welt ihren Kummer nicht zur Kenntnis nahm. Sie wollte sich nicht davon peinigen lassen, während sie alle weiterlebten, als sei nichts gewesen und als zähle sie gar nichts und sei lediglich irgend etwas, das zufällig auch irgendwie vorhanden war. Das vereiste Glas der Tür vor ihm war ein Rechteck aus Licht und ein Tuch gefrorenen Regens. Das gerippte und zerknitterte Innere einer riesigen Blumenblüte. Rote und gelbe Blasen und Blütenblätter schwebten über dem Dunst von Farnen auf dem Tisch des Flurs. Neben der Tür füllte der sich ausbreitende leuchtendgrüne Bananenstrauch die ganze Ecke aus. Eine Leichenhalle ist das hier, dachte er. Und er schlug die Tür hinter sich zu und hoffte, aber, vergebens, ihr Glas möge zersplittern.
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16. KAPITEL Als er endlich unter der Dusche stand, wollte John möglichst lange unter ihr bleiben, obschon er wußte, daß es nicht ging. Zeit war jetzt auf einmal kein endloses Vakuum mehr, angefüllt mit nichts als lethargischer Langeweile, wie im Gefängnis. Schon gab es wieder Anforderungen und Termine. Er schob den Duschvorhang zur Seite und stieg hinaus. Er betrachtete im Spiegel seine Narbe mit einer Intensität, als führe sie ihn auf eine bisher nie gesehene Spur. Noch immer mit unverwandtem Blick in den Spiegel starrend, steckte er sich langsam eine Zigarette an. Seltsam, alle waren sie sofort wieder hinter ihm her. Komm hierher. Geh dorthin. Tu dies, mach das. Peter. Seine Eltern. Und der bescheuerte Freddy Gale. Er schreckte hoch, als an die Badezimmertür geklopft wurde. Als könne Freddy mit seinem Schießeisen schon wieder dasein. Aber es war sein Vater. »Ich bin’s, John. Mach mal einen Augenblick auf.« Er war noch immer tropfnaß. Er legte sich ein Handtuch um die Hüfte und machte die Tür auf. »Was ist denn?« »Hör mal«, sagte Stuart und kam zögernd herein, »wir können dich zu Ray hinfahren, das spart dir Zeit.« »Nein, nein, das ist doch viel zu weit. Und dann den ganzen Weg wieder zurück.« Das ordentlich geschnittene, wellige Haar seines Vaters war schon völlig weiß. Als John ins Gefängnis ging, hatte er noch viele kräftige schwarze Strähnen gehabt. »Deine Mutter will es aber.« 224
»Ich kann doch den Bus nehmen.« »Sie möchte es gerne.« »Aber ich möchte den Bus nehmen. Dad, ich war lange eingesperrt! Nicht?« Stuart hob beide Hände in schmerzlicher Einsicht, daß er daran nicht gedacht hatte. »Dann fahren wir dich aber wenigstens bis zur Bushaltestelle, ja?« »Das willst du wirklich tun?« »Ja.« »Na gut, meinetwegen.« »Und John … tu mir noch einen Gefallen, ja?« »Sicher.« »Es ist nicht viel.« »Was denn?« »Wenn du runterkommst und bevor wir fahren, sei doch so nett und sag ein paar Worte zu deiner Mutter über ihre Bilder.« »Ihre was?« »Die Bilder, die sie malt. Du weißt, sie hat dir gestern auf der Fahrt von ihrem Malkurs erzählt.« »Ach das, ja.« »Erinnerst du dich?« »Ja, sicher.« »Sie will mit dir über sie reden. Das bedeutet ihr sehr viel, verstehst du?« »Ja, aber ich habe doch nicht viel Zeit, Dad.« »Das dauert nicht lange.« »Also gemalt hat sie, wie?« »Dein Schnauzbart gefällt mir«, sagte Stuart und musterte Johns Gesicht im Spiegel eingehend. Dabei fiel 225
ihm dann die Narbe auf. »Und der Kinnbart dazu«, sagte er. »Das muß schlimm gewesen sein da drin, wie?« Er war ganz verblüfft über die Entdeckung, daß ihm das alles bisher völlig entgangen war. John feuchtete sein Gesicht an und rieb es mit Rasiercreme ein. »Es gab auch andere Momente«, sagte er und schabte in kleinen Zügen mit dem Rasierapparat. »Ich meine, ich dachte, vielleicht sollten wir unsere Gewehre nehmen und übers Wochenende rausfahren. Eine Hütte mieten. Bißchen jagen.« »Wäre nicht schlecht.« Am Eßzimmertisch wartete Helen mit einer Tasse Kaffee auf sie, bis sie aus dem Bad kamen. Sie wollte eigentlich selbst ins Bad. Zwar hatte sie es aufgegeben, selbst noch zu duschen, aber auf die Toilette mußte sie jedenfalls. Obwohl sie es eigentlich haßte, ohne zu duschen frische Sachen anzuziehen, hatte sie es getan, wenn auch nach längerem Überlegen im Schlafzimmer, länger, als es die Sache wert war. Am Ende hatte sie einfach nur eine schwarze Hose und eine pfirsichfarbene Bluse dazu angezogen und darüber einen langen, grauen Strickpullover. Stuart hatte immer noch dasselbe Hemd und dieselbe Hose an wie am Morgen und dazu seinen blauen Anorak. Er war eine ganze Weile im Bad gewesen, dachte Helen. Was die beiden nur so lange zu bereden hatten? Und was Johns Narbe auf seiner Stirn anging, so hätte sie die nächste Monatsrate der Hypothek auf das Haus verwettet, um zu erfahren, woher er sie hatte. Sie hatte Stuart den bereits eingeschenkten Kaffee warmgehalten, indem sie die Untertasse auf die Tasse 226
legte. Jetzt schob sie ihm, als er sich wieder setzte, den Zucker hin. Er rührte um und trank einen kleinen Schluck, um dann dezent zu rülpsen. »Entschuldigung«, sagte er. »Zuviel Kaffee.« John kam, stand in der Tür, Haare und Bart noch feucht. Sie stand rasch auf, weil sie inzwischen dringend mußte. »Weißt du, Mom«, sagte John indessen, »dieses Bild da im Wohnzimmer ist wirklich gut. Seit wann malst du denn jetzt schon?« »Welches meinst du denn?« »Gibt es denn mehr als eines?« »Im Wohnzimmer nicht.« »Der Mann«, sagte John. »Der Mann auf dem Bild meine ich.« »Gefällt er dir? Hast du auch mein Bild von Omas Haus gesehen?« »Nein, wo hängt es?« »Im Studio. Das ist dein früheres Zimmer.« Sie waren inzwischen vor dem Porträt des auf einem Stuhl sitzenden Mannes mit dem dunklen, welligen Haar und einem Schnauzbart angekommen. Er hatte es zwar zuvor schon gesehen, aber erst jetzt fiel John auf, daß es seinen Vater darstellte. Die Farbtöne waren kräftig, aber das Bild selbst flächig und zweidimensional. Der Mann hatte eine Schürze um und hielt einen Teller mit Essen auf dem Schoß – es mochten Eier sein – und verdeckte ein Stück des Fensters hinter sich, durch das das Tageslicht hereinfiel und so grell war, daß es selbst sein weißes Hemd noch bleichte. »Acrylfarben«, sagte seine Mutter. »Ach, ja?« »Ich muß mal schnell ins Bad.« Sie hielt es keine 227
Sekunde mehr aus. »Ich bin gleich wieder da.« »Ja, aber es ist Zeit, daß wir aufbrechen«, sagte Stuart. »Nein, nein, ich bin gleich wieder da.« »Aber John hat eine Menge zu tun, hast du ihn nicht gehört? Wir können nicht den ganzen Tag hier herumstehen. Nicht, John? Wir müssen los.« »Ja.« »Ja, ja, ist ja gut«, sagte sie und trat von einem Fuß auf den anderen. »Schon gut, schon gut«, und rannte davon. Die Bushaltestelle war zehn Häuserblocks entfernt an der Ecke Diego und Weber. Die Mittagssonne zwang sie auszusteigen, so heiß wurde es drinnen. Sie lehnten am Kühler und an der Seite. Helen wurde an unruhige Teenager erinnert, die sich nicht sicher waren, wie lange sie noch Zusammensein würden. »Tatsache ist nämlich«, sagte sie, »man kann es lernen.« Sie versuchte ihre Erregung und die Aufmerksamkeit zurückzuholen, die sie gerade noch im Wohnzimmer verspürt hatte. Trotz des leicht verlegenen Gefühls, das die Aufmerksamkeit der beiden in ihr ausgelöst hatte, war sie doch plötzlich von einem Hochgefühl darüber erfaßt worden, als habe sie hastig ein ziemlich großes Glas Champagner ausgetrunken. »Da gibt es auch eine Anzahl Tricks. Wie bei allem, mit dem man eben nicht geboren ist. Aber es gibt Regeln und auch Leute, die bereit sind, einem diese Regeln und Tricks zu vermitteln. Beispielsweise, wie man die Farben richtig mischt. Wenn man also einen Fehler macht, kann man ihn mit der entsprechenden richtigen Mischung wieder korrigieren. Wie bei Omas Haus in Seattle. An dem arbeite ich gerade.« Sie machte eine Pause, um sich eine Zigarette anzuzünden, und John blickte die Straße entlang, wo der 228
Bus ein halbes Dutzend Häuserblocks weiter schon hielt. Als er sich seinerseits eine seiner filterlosen Zigaretten zwischen die Lippen steckte, lächelte er ihr zu, wie um ihr zu sagen, ihr Verlangen nach einer habe auch seinen Wunsch nach einer geweckt. Schließlich schloß sich ihnen auch noch Stuart an. Er sagte kichernd: »Wie der Herr, so’s Gescherr« und steckte sich ebenfalls eine Zigarette an. »Kennst du den Mann eigentlich, Mom?« fragte John. »Auf dem Bild, meine ich. Wer ist das?« »Hab ich mich auch schon gefragt«, sagte Stuart. »Und was ißt er da? Ja, ich weiß, du hast es mir schon mal gesagt.« »Zwiebelkuchen.« »Ich dachte, das bist du, Dad. Einen Augenblick lang. Du nicht?« »Nein, nein«, sagte Helen. Sie haßte diese Art Fragen. Sie fühlte sich immer hochgenommen und bloßgestellt dabei, als wären alle Knöpfe ihrer Bluse auf. In solchen Momenten wünschte sie, sie hätte nie zu malen angefangen, wenn einem dann solche Fragen gestellt wurden. »Ja, anfangs fürchtete ich selbst, ich sei es«, kicherte Stuart noch einmal. »Aber er ist es nicht. Also brauchst du auch nichts zu fürchten.« Sie drückte sich die Sonnenbrille heftig an die Augen. »Es ist niemand Bestimmtes. Ich habe ihn frei erfunden.« Das war zumindest keine vollständige Lüge, und ihre Gewissensbisse wegen der Unwahrheit wurden durch den Teil, der tatsächlich stimmte, beruhigt. »Du machst dir keinen Begriff«, sagte Stuart, »wieviel 229
Zeit sie dafür aufgewendet hat. Stunden um Stunden hat sie daran gearbeitet.« »Na ja, es ist auch nicht leicht, Stuart. Das versuche ich dir doch ständig klarzumachen. Besonders für eine Anfängerin wie mich nicht. Aber irgendwie ist jede Sekunde es wert. Es gibt einem soviel Befriedigung.« »Weißt du, wem er ein klein wenig ähnlich sieht?« sagte Stuart. »Hitler.« »Das tut er nicht«, sagte Helen. »Ich sage ja nicht, daß er es ist.« »Meine Güte, als wenn ich Hitler malen wollte.« »Hier ist der Bus«, sagte John. Er war froh, daß er ihn kommen sah und darauf hinweisen konnte, damit sie sich alle drei dem kastenartigen Gefährt mit seinen blitzenden Glasfenstern zuwendeten. »Da«, sagte Stuart und reichte John seine Zigarettenpackung. »Wie ich sehe, hast du fast keine mehr. Du kannst meine haben. Auch meine Sonnenbrille kannst du haben, bis du deine eigene hast. Die brauchst du schon, wenn du runter zum Wasser kommst.« Helen wühlte in ihrer Handtasche. »Da hast du ein paar Busmünzen für hin und zurück. Hätte ich fast vergessen.« John nahm geduldig alles entgegen. »Soll ich Essen kochen oder ißt du auswärts?« »Wahrscheinlich auswärts. Aber ich komme nicht spät heim.« Er ging rückwärts zum Bus. Er mußte durch die schwarze Auspuffwolke, die das Fahrzeug ausstieß. Die Hydraulik quietschte, als die Tür aufging. »Man kriegt immer nur eine Chance im Leben, denk 230
daran«, sagte Helen. »Was?« »Hör nicht auf sie«, sagte Stuart. »Was?« »Amüsier dich gut!« rief Helen. »Nun steig schon ein, John, sonst fährt er ohne dich ab. Das machen die heutzutage eiskalt. Denen ist sogar ganz egal, ob du direkt vor ihnen stehst.« »Vielen Dank fürs Herbringen.« »Viel Glück, Junge.« John kletterte in den Bus und warf eine Münze ein. Der hagere schwarze Fahrer mit den scharfen Gesichtszügen hatte kein Interesse, ihn auch nur anzusehen. Ohne den Blick von der Straße zu nehmen, drehte er die Endstationsanzeige auf Glendale und fuhr los. John wandte sich um und bückte sich etwas, um auf Augenhöhe mit dem Fenster zu sein. Seine Eltern standen noch da und versuchten in den Bus hineinzusehen, dann wurden sie kleiner und kleiner, als der Bus sie hinter sich ließ. Sie sahen ihm immer noch nach und winkten, und er dachte daran, wie er sie gestern durch dieses andere Fenster erblickt hatte, in dem Gefängnisauto, und wie er dabei eine merkwürdige Emotionswelle in sich verspürt hatte, als er sie da praktisch mitten in der Wüste stehen und warten sah und wie sie dabei immer größer wurden, als er eilig auf sie zukam. Doch jetzt war er schon wieder froh, daß er sie los war. Er war das alles nicht mehr gewöhnt. Es war eine Erleichterung, fort und allein zu sein.
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17. KAPITEL Freddys Wagen parkte noch immer vor Marys Haus. Freddy hing über dem Steuerrad. Ein Impuls, gegen den er ankämpfte, lahmte ihn. Steh auf, steig aus, geh noch mal rein. Einfache Dinge wie diese auszuführen, versprachen eine Menge. Ja, aber was genau? Worin bestand das Versprechen? Das war ein Schattenreich, in dem man alles erst hinterher erfuhr. Alles, was er im Augenblick tun mußte, war, aus dem Auto auszusteigen und noch mal in das Haus zurückzugehen. Nicht einmal anklopfen. Einfach reingehen und sie stellen, wo sie sich auch gerade aufhalten mochten. Mittendrin in dem, was sie gerade tun mochten. Wie sie hinter seinem Rücken über ihn redeten. Die Tür aufstoßen, hineinstürmen und sie dabei ertappen, wie sie ihn vor seinen eigenen Söhnen beleidigten. Oder einander im Arm hielten. Und sich küßten. Oder im Bett lagen. Er umklammerte das Steuerrad, so fest, als sei seine Wut der Saft darin, den er herausquetschen konnte, wenn er nur fest genug drückte. Was sie mit dem Haus angestellt hatten, konnte doch nur eine absichtliche und bösartige Unternehmung sein, jede kleinste Erinnerung daran auszulöschen, daß auch er einmal darin gewohnt hatte. Gut, es war bestimmt Roger gewesen, der es so gewollt hatte. Bei ihm war das immerhin irgendwie verständlich. Aber Mary? Was sagte es über sie aus? Über die Unzuverlässigkeit all ihrer Gefühle? Die waren doch nur sehr dünn. Kalt wie Eis war sie. Na gut, aber warum sollte ihn das denn überraschen? Nach Emilys Tod hatte sie doch ihre wahre Natur schon gezeigt. Da hatte sich gezeigt, wer sie wirklich war. Wie sie geheult hatte und 232
sich in die Vorbereitungen des Begräbnisses stürzte, als wäre das eine große Show und eine Gelegenheit, ihre Energie und Unverwüstlichkeit und ihre blöde Vornehmheit vorzuführen. Er hatte ihr dabei zugesehen und sie beobachtet, als eine Art Spion für Emily, wie er es empfand. Und was er dabei gesehen hatte, war eine leere, ungläubige Seele gewesen. Wie von Röntgenstrahlen durchleuchtet, lag das Spektrum ihrer Böswilligkeit vor ihm. Aus den Augen, aus dem Sinn, das war ihre wirkliche Natur. Das war das ganze Geheimnis um sie. Immer Doppelspiele betreiben, immer gefährlich sein. Wie konnte sie es wagen, ihn der Vernachlässigung Emilys zu beschuldigen, weil er nicht zu ihrer Beerdigung gegangen war? Was für eine niedrige Gemeinheit, ihm das, was er getan hatte, als beschämend vorzuwerfen! Er war stolz auf seine Entscheidung. Sie war im Sinne Emilys. Weil jemand sich demonstrativ gegen diese Unfairneß stellen mußte. Weil jemand rebellieren mußte gegen diese Maschinerie von Status, die nur versuchte, mit ihren Ritualen und vorgeschriebenen Verhaltensregeln die Wahrheit zu narkotisieren und aus etwas Abscheulichem und Blasphemischem etwas Feierliches zu machen. Als sei auch nur irgendwie akzeptabel, was geschehen war. Er ließ die Hand zum Autoschlüssel sinken und startete den Motor. Es hatte keinen Sinn, irgend etwas zu ihr zu sagen. Wozu? Es hatte ja doch keinen Zweck. Es war ja noch nicht einmal möglich. Er hatte es zuletzt am Morgen des Begräbnistages versucht, und sie hatte ihn nur gehaßt dafür. Und heute hatte er es wieder versucht. Und wieder war es vergeblich und sinnlos gewesen. Als er nach einer Weile zum Sunset Boulevard kam, fuhr er diesen weiter entlang bis zum Meer. Er durchquerte ganz Venice und besah sich das Menschengewühl dort, wo sie sich auf die Füße traten und auf Rollschuhen herum233
sausten und in Jogginganzügen hin und her rannten und halbnackt in der Sonne brieten und die Mädchen ihre Hinterbacken aus knappen Radhosen hervorquellen ließen und ihre Brustwarzen sich deutlich unter ihren Latexoberteilen abzeichneten. Und Kerle mit modischen Fetzensweatshirts und mit Tätowierungen oder Muskelpaketen am Oberkörper und an den Armen. Und alle von einer irren Selbstverliebtheit. Wie sie sich produzierten und naiv herummachten und nichts im Kopf hatten außer ihrem bißchen Körper, mit dem sie einen Kult trieben. Mein Gott, was für eine Verschwendung, dachte er. Da pulsiert Leben in allen diesen strohdummen Holzköpfen, und für Emily war nichts von all dem Leben übrig. Dieser hirnlose Affe da in seinem roten Body auf den Rollschienen, dem die Augen fast herausfielen, soviel Testosteron hatte er in sich reingepumpt. Der konnte atmen und hier herumsausen und seine Beine bewegen. Und Emily konnte keinen Finger mehr rühren. Wenn er jetzt jedoch das Steuerrad nur ein ganz klein wenig herumdrehen würde, dann wäre es im nächsten Moment vorbei mit der lachenden Lebenslust dieses blöden, grinsenden Ochsen. Wenn ihn die Stoßstange seines Cadillac erfassen würde und er im hohen Bogen über die Motorhaube hinwegflöge und dahinter in einer ganz neuen Welt voll dunkler Alternativen erwachte … Da hätte er dann Zeit und Gelegenheit genug, darüber nachzudenken, wie wertvoll sein von ihm selbst so hoch eingeschätztes, leichtes, frohes Leben denn nun wirklich sei, nachdem er gezwungenermaßen hätte erkennen müssen, daß er in den Augen der Welt in einer einzigen Sekunde ausgelöscht und weg sein konnte. Vergessen und nicht mehr vorhanden. An einem Restaurant mit Tischen zum Strand hin bestellte er sich einen Cheeseburger und Fritten. Er 234
beobachtete die anderen Tische, horchte halb auf das sinnlose Geschwätz, mit dem diese Leute einfach nur die Zeit totschlugen statt sich selbst. Gebirge von Gefasel und leeren Floskeln. Es verlangte ihn nach einem Drink, aber es war besser, er hielt sich zurück. Doch dann verwandelten sich der Cheeseburger, das Ketchup und die Fritten in seinem Mund von Nektar und Ambrosia auf seiner Zunge in übelkeitserregenden, metallischen Geschmack. Er legte den Cheeseburger hin und spuckte, was er noch im Mund hatte, in seine Papierserviette, wickelte es zusammen und legte es neben seinen Teller. Er trank seine Cola aus und überlegte, ob er nun nicht doch einen Bourbon trinken solle. Die Kellnerin, eine gutgebaute Frau mit einem Muttermal am Hals, kam vorbei, und er hielt sie an. Sie sah auf ihn herab, und ihre natürliche Angewidertheit wurde nur mühsam von einem künstlichen Lächeln, wie es die Stellenbeschreibung verlangte, überdeckt. So wie sie aussah, erinnerte sie sich zwar daran, daß sie zugestimmt hatte, ihre rüde Natur mit Charme zuzudecken, aber das Ergebnis war doch lediglich so, daß man meinte, sie habe Essig getrunken. »Ich hätte gerne eine Tasse Kaffee«, sagte er. »Schwarz, ohne Zucker. Bringen Sie sie mir gleich an die Kasse, ja?« Er stand auf. »Schwarz, wie gesagt.« Sie blätterte bereits in ihrem Stapel nach einer Rechnung. »Ja, ja. Schwarz.« Er kehrte in den Laden zurück, behielt Jeffrey im Auge, der, wenn er nicht gerade Charme versprüht und Kundinnen zu becircen versuchte, mit den Schaufensterdekorationen beschäftigt war. Er gab einer Kette mit dem Finger eine gefälligere Rundung und 235
ordnete kritisch eine ganze Weile ausgelegte Armbänder und versuchte sie in eine ästhetische Ordnung seiner ganz persönlichen Vorstellung zu bringen. Immer wieder trat er einen oder zwei Schritte zurück, um sich so einen kritischen Überblick über die Gesamtwirkung zu verschaffen, als erkenne er so die Schmuckstücke, die sich gegen seinen Formwillen noch auflehnten. Freddy fand einen Stoß Zettel mit Telefonnachrichten auf seinem Schreibtisch vor, lauter Namen und Nummern von Leuten, die ihm dies oder jenes mitzuteilen wünschten, alles in Jeffreys eleganter Handschrift. Er hatte ihn auf seinem Überwachungsmonitor bei seinem Schaufensterwerk im Blick. Er behielt ihn auch im Auge, während er sich eine Zigarette anzündete und sich durch den Zettelstapel arbeitete in der Hoffnung, einen zu finden, der ihn auch wirklich interessierte. Andererseits war es ihm im Grunde egal. Er zählte sie und fand, allein ihre Anzahl sei schon ein Wertbegriff. Es waren siebenundzwanzig. Bei zweien rief er zurück, dann saß er auch schon wieder in seinem Auto. Die Nachmittagssonne stand bereits niedrig, war aber noch immer glutheiß. Sie fraß sich durch Palmblätterritzen und projizierte sie auf die Dächer und Fenster der vorüberfahrenden Autos. Er hatte keine Ahnung, wohin er fuhr. Allein die Bewegung, wie ziel- und zwecklos sie sein mochte, versetzte ihn in einen Zustand vager Erwartung, wie er sich gelegentlich auch beim nächtlichen planlosen Sendersuchen am Radio oder Fernsehen einstellte. Er steckte sich gerade eine neue Zigarette an, als der Kombi vor ihm abrupt anhielt und er heftig auf die Bremse treten mußte. Es schien unausweichlich, daß er auffuhr. Doch dann federte der Cadillac zurück und kam gerade noch Zentimeter vor der hinteren Stoßstange des Kombi zum Stillstand. Der Fahrer des Kombi vorne hob den Kopf 236
und blickte Freddy durch den Rückspiegel wütend an. Freddy hupte ärgerlich und knurrte: »Idiot. Natürlich bin ich schuld, wie?« Dann kurbelte er das Fenster herunter und rief nach vorne: »Mann, du fährst ja schlimmer wie ein blöder Tourist!« Und wenn er daraufhin aussteigen müßte, wäre es ihm auch recht. Doch dann fuhr der Kombi wieder an. Er folgte ihm über eine Kreuzung hinweg, wo plötzlich ein kleiner, weißhaariger Mann in kurzärmeligem Polyesterhemd und Bermudashorts auf der Straße stand. Er trat auf die Bremse, fuhr auf den Gehsteig, neben dem ein Aluminiumgartenstuhl auf dem Rasen stand, und nahm ein großes Verkehrsschild mit, ein rotes Achteck mit dem Wort STOP in Schwarz darin. Auf seinem Standrohr sah es aus wie ein überdimensionaler Lutscher. Der kleine, weißhaarige Mann hatte eine Art Militärkoppel mit Schulterriemen um, beide weiß. Sein Cadillac rollte immer langsamer werdend auf dem Gehsteig an ihm vorbei, als sei ihm das Benzin ausgegangen. Als er schließlich zum Stehen kam, drehte Freddy sich herum zu dem Mann, der jetzt auf dem Gartenstuhl saß und an seinem kleinen Radio herumfummelte und sich einen kleinen Kopfhörerknopf ins Ohr steckte. Das Stoppschild lag neben ihm, und er saß da und starrte die scheinbar ruhigen Wohnstraßen entlang. Freddy zündete sich die Zigarette, die er seit dem Vorfall mit dem Kombi noch in der Hand hatte, neu an und inhalierte tief. Es fuhren fast nur Personenwagen vorüber, in fließendem, aber nicht dichtem Verkehr. Gelegentlich war auch ein schwerer Lastwagen darunter. Der kleine alte Mann rührte sich nicht vom Fleck, und nach einer Viertelstunde steckte sich Freddy eine weitere Zigarette an. Er hatte inzwischen schon einen steifen Hals von der verdrehten Körperhaltung, in der er dasaß. Als auch diese 237
Zigarette zu Ende war, warf er den Stummel weg und stieg endlich aus. Er kam seitlich auf den alten Mann zu. Schon beim Näherkommen erkannte er, daß der Alte ein zerfurchtes Gesicht hatte und eine schiefe, offenbar schon oft gebrochene Nase. »Wie geht es Ihnen?« fragte Freddy. »Was meinen Sie?« Der alte Mann griff an sein Ohr und stellte das Radio ab. »Ich sagte nur guten Tag.« »Hab Sie nicht kommen hören. Kann ich Ihnen helfen?« »Nein.« »Tut mir leid, daß ich Sie nicht gesehen habe. Wunderschöner Tag, wie?« Freddy sah sich um. »Ja, ja.« »Was kann ich für Sie tun?« »Nichts.« »Nur so unterwegs, einmal um den Block?« »Machen Sie das hier jeden Tag?« »Was, hier sitzen? Ja, ja. Die Kinder müssen ja über die Straße, nicht? Die alten Leute auch.« »Wie lange machen Sie das schon?« »Würde ich das nicht machen, säße ich nur vor der gottverdammten Glotze, und da verblödet man doch, mit diesen ganzen Typen dort. Ich würde mich dauernd fragen, warum dieses ganze Land so den Bach runtergeht. Ja, das wäre dann der Fall. Da bin ich doch lieber hier draußen in der Sonne, ich bin sowieso gern draußen im Freien, immer schon. Da kann ich das Spiel der Dodgers hören, wenn sie spielen, oder der Lakers oder der Kings oder der Rams. Nur die verdammten Raiders, die hasse ich. Interessieren Sie sich für Sport?« 238
»Nein, ich wollte eigentlich nur wissen, warum Sie das hier machen.« »Weiß ich auch nicht. Dachte, ich hätt’s Ihnen grade erklärt.« »Nein, ich meine … ich fragte eigentlich was anderes.« »Was?« »Na ja –« »Nun«, sagte er alte Mann, und seine Augen weiteten sich. »Moment mal!« Er wand sich von seinem Stuhl hoch und mühte sich auf die Beine, und sein Blick ging an Freddy vorüber nach hinten. Zwei kleine Mädchen, fast gebeugt unter der Last ihrer über die Schulter gehängten Schultaschen, kamen heran. Das eine war dunkelhaarig, das andere blond. Sie mochten neun oder zehn sein. Das blonde Mädchen hatte eine Bluse mit Blumenmuster und einen glatten, beigen Rock an, das brünette ein Sommerkleid. Das blonde Mädchen aß einen Schokoriegel. Der Kreuzungslotse war bereits auf der Straße. Er schritt furchtlos und zielstrebig zu seinem Platz und trug seine Stoppkelle wie einen Schild vor sich her. Dann stellte er sich mitten auf der Fahrbahn hin. Gerade als er seine Kelle hob, kam ein schlanker, leiser, eleganter Lincoln aus der Gegenrichtung daher. Die beiden kleinen Mädchen hielten kaum an, traten dann auf die Fahrbahn und überquerten sie, ohne in ihrem Geschnatter innezuhalten. Das blonde Mädchen lächelte den alten Lotsen an, als sie an ihm vorbeikamen. Hinter dem Lincoln hatte inzwischen auch ein großer Laster angehalten. Auf der anderen Fahrbahn in der Gegenrichtung standen drei Autos hintereinander, ein grüner Chevrolet, ein schwarzer Ford Bronco und ein Lieferwagen. Alle warteten sie gehorsam. Freddy hatte das plötzliche Gefühl eines Wunders an Vertrauen und Ruhe 239
und Ordnung, von welchem er aber ausgeschlossen war. Als die beiden Kinder die Straße überquert hatten, ging der alte Mann wieder weg, die Autos fuhren an und weiter, und der Eifer, mit dem der alte Lotse zurückkam, sagte Freddy, daß er die Unterhaltung offenbar gerne fortführen würde. Doch er schüttelte den Kopf, wandte sich um und ging zu seinem Wagen zurück. Die Empfindungen, die ihn erfüllten, waren von unirdischer Art. Er bog in die erste schmale Nebenstraße ein, an die er kam, fuhr an einem koreanischen Lebensmittelladen vorbei, einem Drugstore und einem Fahrradgeschäft und hielt an dem Spirituosenladen an, der dann kam. Dort kaufte er sich eine Flasche Wodka, die er gleich auf dem Parkplatz zu trinken anfing. Er wartete, daß sich seine Gefühle endlich wieder änderten. Er trank und trank und wartete, aber zu mehr als zu einer gewissen Taubheit statt wirklicher Erleichterung gelangte er nicht. Immerhin, es war wenigstens etwas. Er nahm noch einmal einen kräftigen Schluck, schraubte die Flasche zu und fuhr zum Calypso Club.
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18. KAPITEL Die Frau, die den Mittelgang des Busses entlang kam, hatte eine hellbraune Jacke an und eine große, gewürfelte Einkaufstasche in der Hand. John sah, daß sie an zwei oder drei leeren Sitzen vorbeiging, während sie auf ihn zukam. Er hoffte, sie werde sich auf einen davon setzen. Er hatte sich ungefähr in die Mitte gesetzt und eine Reihe Abstand zwischen sich und einem dunkelhaarigen Mädchen gelassen. Doch die Frau kam direkt auf ihn zu. Er schloß die Augen, als sie sich seufzend auf den freien Platz neben ihm niederließ. Die Bustüren gingen quietschend zu, der Fahrer schaltete, und dann glitten die im Sonnenglast liegenden kalifornischen Straßen wieder an ihnen vorüber. Der Gedanke, unmittelbar am Meer zu arbeiten, gefiel ihm. Er versuchte sich vorzustellen, auf welches Boot oder Schiff es ihn wohl verschlagen werde. Und er versuchte sich vom Rhythmus des fahrenden Busses und der Straße einlullen zu lassen und sich zu denken, es sei das Schaukeln und Wiegen auf dem unruhigen Meer. Doch statt dessen fiel ihm immer wieder ein, was wohl Ray oder Peter sagen würde, wenn er ihnen von letzter Nacht und Freddy Gale erzählte. Und von dem Anruf heute morgen. »Wissen Sie, wo dieser Bus umkehrt?« fragte die Frau neben ihm. »Pardon?« sagte er, ohne sie anzusehen. »Bleibt er in Glendale?« »Wie meinen Sie?« »Glendale.« »Keine Ahnung.« 241
»Sie meinen, Sie wissen nicht, ob dieser Bus in Glendale bleibt der nicht?« »Ob er dort bleibt? Das glaube ich nicht, nein.« »Kehrt er dann um und kommt wieder zur Marge Street zurück?« »Ich weiß es wirklich nicht.« »Fahren Sie vielleicht zurück zur Marge Street?« »Ich? Sie meinen, ich persönlich? Nein. Ich weiß überhaupt nichts von der Marge Street.« »Meine Schwester hat einen Wagen. Einen Valiant. Sind Sie mal in einem Valiant mitgefahren?« Sie war keine unangenehme Person. Hellbraunes Haar, eine Stimme, die im Grunde gerne plapperte, wenn sie wohl auch ein wenig schüchtern war. Sie hatte klare Augen, und die Ohrringe, die sie trug, waren mit weißen Plastikknospen besetzt. »Nein«, sagte er. »Meine Schwester hat einen grünen Valiant. Aber ich fahre den ganzen Tag immer nur im Bus.« »Wieso?« »Was meinen Sie?« Sie schien diese Antwort für sehr gewagt zu halten. »Na ja, Sie sagten, Sie fahren den ganzen Tag im Bus.« »Mache ich ja auch. Sie nicht?« »Nein. Ich fahre nur ab und zu mal irgendwohin.« »Wohin?« »Na, wo ich halt gerade hin will.« Er lächelte. Er fand bereits Verwendung für seine Gefängniserfahrungen. War doch nicht nur verschwendete Zeit. Dies war genau die Art Unterhaltung, wie er sie dort hinter Gittern zahllose Male geführt hatte und die einem einen angenehmen und 242
sanften, nicht aggressiven Weg durch die tagtägliche totale Verrücktheit dort ermöglichte. Mit einem Psychopathen lang und breit über das Frühstück diskutieren. Mit einem Soziopathen im Hof auskommen. Und mit einem Mordbesessenen im Flur. »Hab ich schon gesagt, daß der Valiant meiner Schwester grün ist?« fragte sie. »Ja.« »Sehr hübsch.« »Ich mag grüne Wagen«, sagte er nun. »Sonst mag ich nichts Grünes, aber grüne Wagen schon.« »Ich habe einen Behindertenausweis«, sagte die Frau. »Deshalb brauche ich keine Fahrkarte. Aber den Fahrer hier kenne ich nicht. Kennen Sie ihn?« Sie beugte sich zu ihm herüber. Ihr Atem war eigenartig. Nicht eigentlich unangenehm, aber seltsam. Er vermochte den Geruch, der zwischen ihnen hing, nicht recht zu deuten. Sie sah um ihn herum auf die Art, wie sie etwa um einen Felsblock herumblicken würde, hinter dem sie sich versteckte, um heimlich den Fahrer zu beobachten. »Wenn der uns nur nicht irgendwohin fährt, wo wir gar nicht hin sollen«, sagte sie. »Das beunruhigt mich.« »Warum sollte er denn?« »Weiß ich auch nicht. Es beschäftigt mich eben.« Er wandte sich nach vorne und ließ sie denken, er beobachte nun seinerseits den Fahrer und denke über ihn nach. Aber er blickte nur hinaus auf den Verkehr und auf die Fußgänger und auf die vorübergleitenden Häuser. Dann sagte er endlich: »Nein, nein, der ist schon in Ordnung, der Fahrer. Da müssen Sie sich keine Sorgen machen.« »Mache ich mir aber.« 243
»Er hat ein freundliches Gesicht. Ja, ein freundliches Gesicht, finde ich«, sagte John. Ihre Antwort war weniger ein Testen seiner Meinung und eine neue Überprüfung des Fahrers, sondern ein direktes Forschen in seinen Augen. Fast eine halbe Minute lang blickte sie ihn unverwandt an. Dann sagte sie: »Das stimmt, er hat ein freundliches Gesicht. Ich dachte erst nicht, daß er ein freundliches Gesicht hat. Aber er hat es. Sie haben recht.« Und er spürte, wie sie sich entspannte. Auf ihrer gemeinsamen Sitzbank war ihre Erleichterung deutlich spürbar. Das Gefängnis machte einen sensibel für so etwas und für viele andere Dinge, die anderen Menschen gar nicht weiter auffielen. Er mochte diese Frau, doch es war ihm klar, daß sie genausogut in der nächsten Sekunde ein Messer ziehen und versuchen konnte, es ihm zwischen die Rippen zu stoßen, auf der Suche nach seinem Herzen. Vielleicht sollte er, wenn er wieder zu Hause war, sich doch mal die Waffen seines Vaters näher anschauen. Sehr unwahrscheinlich, daß sich daran etwas geändert hatte, seitdem er weg war. Also müßten sie immer noch dasein, die beiden 30.er und die beiden Zwölfschußgewehre und eine Pumpe und eine Zweiläufige. Vielleicht sollte er sich eine davon in den Wohnwagen legen. Und dann konnte er darauf warten, daß der Spinner wieder kam und seine bescheuerte Nummer erneut abzog. Ich habe bezahlt, dachte er. Sind acht verdammte Jahre etwa nicht genug? »Als du mich das erste Mal verlassen hast«, sagte die Frau neben ihm, gerade als er in Gedanken die Zweiläufige abgeschossen hatte, »hat mich dein Seufzen fast zerrissen.« Er starrte sie an. Offenbar dachte sie angestrengt laut über etwas nach. Wenn da Melancholie zwischen ihnen schwang, dachte er, dann stammte sie von ihr, nicht von 244
ihm. »Aber jetzt bin ich wieder stärker«, sagte sie. »Du aber hast dich – wirklich, ich sehe es ja – besser gehalten als ich.« »Mit wem reden Sie denn?« »Mit Richard.« »Der bin ich aber nicht«, sagte er und verringerte zugleich den Abstand zwischen ihnen, ihre Nasen stießen fast aneinander, die Ausstrahlung ihres Körpers kitzelte ihn fast in den Nasenlöchern, und er öffnete den Schleier vor seinem Auge, damit sie sehen konnte, daß auch er gut wußte, was es hieß, verrückt zu sein. »Aber ich liebe dich sehr«, sagte er. »Vielen Dank.« Ihr Atem ging schwer, als sei die Luft dünner geworden. Und ihr Ausdruck war, wenn auch furchtlos, so doch von einer Frage überschattet. »Doch mein Herz gehört immer noch Richard«, sagte sie. »Das verstehe ich.« Der Bus bremste abrupt, und sie fiel hilflos gegen ihn. »Was für eine Haltestelle ist das?« fragte sie. »Ich weiß nicht.« Sie rappelte sich auf und klopfte ihre Taschen ab. Er blieb wachsam wegen des Messers. Vorne im Bus wurde der Fahrer auf sie aufmerksam. Sein hochgereckter Kopf machte deutlich, daß er ein Auge im Rückspiegel auf sie hatte. Sie atmete schwer angesichts der Schwierigkeiten, all ihre Habseligkeiten zusammenzubekommen, und der von ihr ausgehende Geruch war, bemerkte er jetzt, chemikalisch. Chemisch. Medizinisch vielleicht. Sie sah ihn nicht weiter an und ging mit ihren vielen Taschen und Tüten nach vorne zum Ausgang. Ein paar Blocks weiter stieg auch er aus. Gegenüber war die Post. Er war gerade auf dem Weg zur Laderampe 245
hinten im Hof, wo er sich mit Ray treffen sollte, als eine Seitentür aufging und zwei uniformierte Postbeamte herausgeeilt kamen. Der erste, in den Vierzigern und mit einem Bierbauch, war mitten im Erzählen irgendeiner unangenehmen Geschichte. Er setzte ein Ausrufezeichen dazu in Form eines höhnischen kurzen Auflachens, woraufhin sein Begleiter, dürr und mit einer Himmelfahrtsnase, lauthals herausplatzte. Sie kamen direkt auf ihn zu, er wich ihnen aus und versuchte auch ihren Blicken zu entgehen, weil er das Gefühl hatte, sie würden ihn sonst augenblicklich des Bruchs irgendeiner Regel bezichtigen, von der er noch nie etwas gehört hatte. Er atmete durch und ließ sie vorbei und erinnerte sich daran, daß er schließlich nicht mehr im Gefängnis war und diese beiden Männer, auch wenn sie Uniformen trugen, kein Recht hatten, ihn anzubrüllen. Die ganze Verladerampe hinten stand voller Postsäcke. Das große Tor der Halle war offen. Lattenkisten wurden in mehreren Stapeln aufeinandergeschichtet, doch er sah immer nur Zellen, deren Insassen die Pakete und die großen Umschläge waren. Er lachte auf und holte sich eine Zigarette aus dem Päckchen, das ihm sein Vater zugesteckt hatte. Er ließ das Feuerzeug aufflammen und inhalierte und ging eine der schrägen Aufgänge zur Rampe hinauf. Nach einigen Zügen legte er die Zigarette auf dem Rampenrand ab und machte rasch zwanzig Liegestützen und legte sich dann auf den Rücken. »Schau dir das an«, sagte Ray, als er ein paar Minuten danach aufkreuzte, »du bist ein richtiger Hüne.« Er trug eine Motorradlederjacke zu seinen Jeans, und seine kurzgeschorenen Haare sahen aus, als habe er einen Strumpf darüber gezogen. »Hallo, Ray«, sagte John. 246
»Womit haben Sie dich denn gefüttert«, fragte Ray, »mit Steroiden?« »Mit Langeweile«, sagte John. »Das ist der Hauptgang. Davon gibt’s ’ne Menge.« »Kann ich mir vorstellen«, sagte Ray. »Kann ich mir gut vorstellen. Und sonst? Wie steht es mit Mist? Ich wette, auch davon haben sie eine Menge.« »Richtig.« John stand auf, und Ray zögerte ein klein wenig. »Entschuldige, daß ich dich nie besucht habe. Wollte ich eigentlich.« »Schon gut, du wärst sicher mal dorthin gekommen, wenn du mehr Zeit gehabt hättest«, sagte John und schloß zu Ray auf. »Ich war ja auch nur acht Jahre dort.« »Du, ich sag dir ehrlich, wie es ist. Vor Gefängnissen graut mir.« »Wenn du es genau wissen willst, sind sie ja auch grauenhaft. Genau das sollen sie ja auch sein.« »Da ist wohl dieser Abschreckungseffekt, wie, von dem sie dauernd reden? Ich meine, ein paarmal war ich ja auch schon auf dem Weg, aber dann bin ich jedesmal wieder umgekehrt, ehe ich noch angekommen war. Manchmal war es nicht mal ein bewußter Entschluß, umzukehren. Ich kam einfach aus der Tankstelle auf der Strecke raus und fand mich in der Gegenrichtung wieder. Ganz vertrackte Geschichte, sage ich dir.« »Ich verstehe das. Hätte ich wahrscheinlich auch gemacht an deiner Stelle.« »Eben, so habe ich das verstanden. Es erschien mir normal.« Ray machte die Tür seines Wagens auf, ein Rivera aus den frühen siebziger Jahren, eine ziemlich zerbeulte und verrostete Karosserie mit großen Fenstern. 247
Auf dem Weg zur Beifahrerseite sah John den mit Klebstreifen befestigten Zettel ZU VERKAUFEN hinter einem der Fenster. »Den Karren willst du noch verkaufen?« »Das Schild, meinst du? Nein, das ist nur ein Statussymbol.« John lachte und setzte sich auf den Beifahrersitz. Dann knallte er die Tür zu mit einem Gefühl, das ein Gemisch aus Nostalgie und Ungläubigkeit sein konnte. Ray sagte: »Eines möcht ich wissen: Haben sie dich von hinten gefickt?« Er machte dazu einen Mund, als habe er in etwas Verdorbenes gebissen und wolle es gleich wieder ausspucken. Du blödes Arschloch, dachte John. Du verdammter Idiot. Er setzte seine Sonnenbrille auf und sagte: »Ich glaube, Ray, ich habe vergessen, wie ungewöhnlich du bist. Aber eigentlich habe ich es gar nicht vergessen.« »Was meinst du denn damit?« fragte Ray. Er trat aufs Gas und sauste die Einfahrt hinaus auf den Compton Boulevard, wo er sich in den Verkehrsfluß drängte. »Ich meine, ich halte mich nicht für ungewöhnlich. Aber was weiß man schon, nicht? Ich meine, ich bin ja nun immerhin die meiste Zeit mit mir zusammen, nicht, also glaube ich, bin ich gewöhnlich bei mir selbst. Also bin ich gewöhnlich, finde ich.« Er bog um eine Kurve, dann fuhr er auf die linke Fahrspur, wo er einen Lieferwagen überholte, der auf der Ladefläche einen großen schwarzen Hund sitzen hatte, und in die Einfahrt und auf den Golden State Freeway. »Wie geht es Peter?« frage John. »Er ist geschieden, falls du das nicht weißt.« »Ich weiß nicht mal, daß er geheiratet hatte«, sagte John. 248
Ray war durch einen langsam fahrenden Chevy-Kombi vor ihnen genervt. Er wechselte abrupt auf die rechte Fahrbahn und trat aufs Gas, als wolle er dem grauen Mercedes vor ihm hintendrauf preschen, zog aber dann schräg wieder auf die alte Fahrspur zurück. »Na, und wie kommt er zurecht mit seiner Scheidung?« fragte John. »Geht es ihm gut?« »Wann ist es Peter denn schon jemals gutgegangen? Nein, die Scheidung ist es nicht. Das ist ja auch schon ein paar Jahre her. Und wenn du meine Meinung hören willst, er läßt sie ein bißchen nahe an sich ran, seine Ex, meine ich. Die belauert ihn auf so eine gewisse Art, und ihm scheint das auch noch zugefallen. Als spielten sie mit scharfen Messern. Aber im Moment hat er grade wieder mit seiner jetzigen Freundin gebrochen. Das ist eine neue frische Wunde. Das hielt auch nicht besonders lange. Aber dafür war es um so heißer. Sie ist so eine Art Künstlerin und sehr empfindsam. Im Augenblick jedenfalls. Und Peter ist ja intellektuell, nicht, sogar wenn er Gitarre spielt. Das sind einfach so Verwirrungen, verstehst du. Er ist eben der Poptyp des Intellektuellen. Und sie der visuelle Typ. Das ist ihr Bereich. Instinktiv und gewissermaßen gedankenlos. Wenn auch durchaus clever. Sehr clever. Aber auf die nonverbale Art, verstehst du. Er hat ein Gemälde von ihr über seinem Bett hängen. Es hat eben einfach nicht funktioniert auf diese Weise. Kannst du dir auch vorstellen, wie jemand nonverbal mit Peter zurechtkommen will?« Mit einem Mädchen Schluß machen, das gefiel John. Er sah es als beneidenswertes Problem an. Er hätte gerne selbst ein wenig von diesen Schwierigkeiten gehabt. Von dieser Sorte Melancholie. Nur mußte man dazu natürlich zuerst mal ein Mädchen haben. »Aber sonst ist er okay?« »Na, also ehrlich gesagt, ich glaube, sie hat ihn 249
ausgenommen nach Strich und Faden. Sie ist ein phantastisches Miststück, weißt du. Na gut. Die meiste Zeit ist er ganz umgänglich, aber manchmal ist er ziemlich mies gelaunt. Aber er ist okay. Klar doch.« Ray wechselte erneut abrupt auf die rechte Fahrspur, fuhr an einem dunklen Lieferwagen vorbei, der sich offenbar nicht recht entschließen konnte, welche Spur er nun endgültig nehmen sollte. John warf im Vorbeifahren einen kurzen Blick auf den bebrillten Fahrer, der eine Karte vor sich zu haben und sie zu studieren schien. Ray überfuhr das Autobahnkreuz und wechselte auf den Glendale Freeway in Richtung Pasadena und legte noch ein wenig Tempo zu. John blickte über die Schulter auf einige der vorbeifliegenden Verkehrszeichen. Rays letztes Manöver brachte sie noch weiter weg von Long Beach, wenn ihn seine Erinnerung nicht trog. Er hatte angenommen, sie führen auf direktem Wege nach Long Beach. Er ging hastig seine Erinnerungen durch und überlegte, ob er nicht etwas sagen sollte. Aber das war nicht einfach. Die letzten acht Jahre hatte er immerhin unter einem Regiment absurder Aufgaben und Regeln zugebracht, denen ohne Diskussion gehorcht zu werden hatte, und diese noch immer tiefsitzende Erfahrung lahmte ihm die Zunge. Irgendwie schien es unzulässig, sich Gedanken darüber zu machen, ob sie nun auf dem richtigen Weg seien oder nicht. Ray sah zu ihm hinüber und lächelte. »Was ist?« »Wieso?« »Du siehst so besorgt aus.« »Was meinst du damit?« »Daß du besorgt aussiehst.« »Ich bin nicht besorgt.« 250
»Gut. Ich dachte.« »Nein.« Ray manövrierte sie von der Überholspur auf die mittlere und auf die ganz rechte und dann wieder zurück, um auf diese Weise sechs Wagen hinter sich zu lassen, und sagte: »Ich dachte nur, es beunruhigt dich etwas, daß wir nicht nach Long Beach fahren. Daß du vielleicht meinst, wir fahren in die falsche Richtung.« »Ja, aber wir fahren doch hin, oder?« sagte John. »Planänderung«, sagte Ray. »Ich dachte, wir wollten dorthin. Peter sagte doch –« »Nein, nein. Schau mal, das ist alles viel einfacher, als alle dachten. Peter und ich, wir haben beide mit dem Mann geredet, dem das Boot gehört. Und weil du ein Freund von mir und auch von Peter bist und weil der Mann – er heißt übrigens Ol’ Hank und hat ein Lungenemphysem, aber er ist ein tadelloser Mann –, also weil er auf uns beide große Stücke hält, hat er einfach nur gesagt, okay, abgemacht, alles klar. Also brauchst du auch einfach nur morgen früh aufzukreuzen und anzufangen, fertig.« »Wo aufkreuzen?« »Ich fahr dich ja hin, gleich in der Frühe. Oder Peter. Einer von uns beiden. Das Boot legt um sechs ab, und du sollst um Viertel nach fünf da sein.« Seine Enttäuschung verwirrte John für einen Augenblick, bis er sich darüber klar wurde, daß er sich wohl auf unterbewußter Ebene phantastische Vorstellungen von sich an steinigen Strandbefestigungen brechenden, mächtigen Wellen gemacht hatte. Er hatte mit großer Vorfreude den Anblick der offenen See erwartet. »Ja, aber ich würde den Mann doch gern kennenlernen«, sagte er. »Direkt, meine ich. Persönlich. Wie heißt er noch 251
mal?« »Ol’ Hank. Ein toller Bursche.« »Und warum fahren wir nicht ans Meer?« »Wozu?« »Ich habe es lang nicht gesehen.« »Ach, du wirst es noch oft genug sehen, John. Nein, ich dachte, wir fahren raus und sehen mal, ob Peter zu Hause ist?« »Was denn, du weißt nicht mal, ob er zu Hause ist?« »Ich glaube schon.« »Rufen wir ihn doch an. Dann können wir alle zusammen fahren. Wir fragen ihn, ob er mitkommen will. Mann, ich will einfach das Meer wieder mal sehen. Und ich sollte auch den Mann kennenlernen, denke ich. Einfach aufkreuzen und zu arbeiten anfangen, das paßt mir nicht so. Was für eine Arbeit ist das denn überhaupt? Ich meine, was für Fische fangen wir da, und wie groß ist das Boot?« Ray nahm die nächste Ausfahrt unter einer Palmengruppe, die fast ganz abgestorben war. Nach zwei Blocks erschien eine Tankstelle mit einer in die weißgekachelte Wand eingelassenen Telefonzelle. Während John im Wagen wartete und sich eine neue Zigarette anzündete, warf Ray Münzen ein und telefonierte anschließend eine halbe Minute lang lebhaft. Dabei winkte er John zu und nickte. John dachte an das Boot, auf dem er morgen sein würde, und versuchte sich dessen Größe vorzustellen. Wie weit würden sie hinausfahren, und würden sie mit Netzen fischen oder mit Schleppangeln? Ray kam zurückgerannt und ließ sich auf den Sitz fallen und berichtete: »Er sagt, wunderbar, und wir sollen ihn 252
abholen. Er will den Mann anrufen, den mit dem Boot, und zusehen, daß er grade da ist, wenn wir vorbeikommen.« »Weißt du, ob wir mit Netzen oder mit Schleppangeln fischen?« »Nein, das weiß ich nicht.« »Und was für Fische? Weißt du, was für Fische wir fangen werden?« »John, ich bin bei der Post. Das alles weiß ich doch nicht.« »Thunfisch, nehme ich an. Oder vielleicht Makrelen. Oder Hering.« Peter wohnte direkt am Freeway in einem Apartmentkomplex von sehr mediterranem Flair. Mit Kopfsteinpflaster, einer Menge Blumenschmuck und einem Brunnen am Haupttor. Die zu der Wohnung gehörende Garage befand sich in einer kleinen schmalen Seitengasse. Ray fuhr direkt in die offene Einfahrt und hielt dort an. »Na denn«, sagte er, als er ausstieg. »Bist du soweit?« »Ich warte hier.« »Was? Nicht doch. Peter erwartet uns doch. Mann, er will dich sehen.« »Es ist schon ziemlich spät. Geh einfach rein und hole ihn. Wenn wir beide reingehen, dauert es zu lange, bis wir wieder wegkommen. Hol ihn einfach.« Ray ging auf das Haus zu, blieb aber dann am Tor vor einem Arrangement rosafarbener Stäbe mit Flamingoköpfen stehen. Er stand vorgebeugt da und sah plötzlich etwas genervt aus. »Was ist los?« rief ihm John hinterher und machte die Tür auf, stieg aber nicht aus. »Du siehst aus, als wäre 253
etwas passiert. Stimmt was nicht?« Ray kam zurück. »John«, sagte er und sah ganz erledigt aus, als sei er im Griff eines unsichtbaren Gegners, dessen er sich nicht erwehren konnte. »Ich muß dir etwas sagen. Du mußt mit reinkommen.« In Johns Kopf läutete die Alarmglocke. Ein Warnsignal sagte ihm, es gebe Probleme und Schwierigkeiten. Aber was und wieso? Was war schiefgelaufen? Was konnte in Ray gefahren sein? Was war über ihn gekommen? Wer konnte ihn zu seinem Feind gemacht haben? »Du kannst hier nicht sitzen bleiben. Du mußt mit reinkommen«, sagte Ray. »Was ist los, verdammt noch mal, Ray? Was soll der Quatsch?!« »Du mußt einfach mit reinkommen. Ich darf es dir eigentlich nicht sagen, aber es – also, es ist eine Überraschungsparty. Du kennst ja Peter, der findet doch immer einen Grund. Also hat er jetzt diese Party für dich arrangiert. Nur daß es eben eine Überraschungsparty ist.« John drehte sich um, als wolle er weggehen, dann aber noch einmal, so daß er einen vollen Kreis beschrieben hatte, als sei er auf der Hut, weil ihm etwas an den Kopf geworfen wurde und jeden Augenblick noch etwas nachkommen konnte. »Richtig. Das ist es«, sagte Ray. »Tu also überrascht.« Und er ging durch das Tor. Die Vorstellung, daß Leute ihn erwarteten, machte John zunächst nervös, dann beschämte es ihn aber sogleich. Er fragte sich, ob sie denn alle wüßten, daß er gerade aus dem Gefängnis kam und warum er dort gewesen war. »Kennen die mich alle?« »Ein paar, andere nicht. Aber du kennst ja Peter. Weiber, 254
wo du hinsiehst.« Sie gingen einige Stufen hinauf. John hoffte, die Beklemmung, die er verspürte, werde sich legen und vor allem nicht zum Zorn werden, weil ein Teil von ihm sich beleidigt fühlte und man ihn auf diese Weise ja doch irgendwie hereingelegt hatte. Seit heute morgen hatten Peter und Ray ihn also angelogen. Es war ihm zuwider, unter solchen Umständen hergelockt worden zu sein. Und wenn das so war und er ihnen also bis jetzt gar nicht hatte glauben können, sollte er es dann künftig tun? Er blickte Ray hinterher, der vor ihm an einer großen Holztür stand, die ein nachgemachtes Indianerschnitzmuster aufwies. In den ganzen acht Jahren hatte der kleine Dreckskerl ihn kein einziges Mal besucht, und die zwei Briefe, die er von ihm bekommen hatte, waren jeder nur vier Zeilen lang gewesen. »Sag mal«, sagte er, »wenn ihr das alles hier arrangiert habt, um mich hierherzukriegen, heißt das dann, daß ich gar keinen Job bekomme? Daß es den Job auf dem Fischerboot gar nicht gibt?« »Was?« »Ich meine, was soll ich denn nun glauben?« »Ach, Mann, nein, nicht doch. Machst du dir deshalb Sorgen?« »Muß ich?« »Ich dachte, ich hätte das klargestellt. Tut mir leid. Natürlich hast du den Job.« »Ich meine, ich möchte nicht, daß man mich auf den Arm nimmt, ja? Ich habe genug Probleme.« »Nein, nein. Es ist einfach nur zu spät geworden, um da runterzufahren und dann wieder hier rauf zu der Party, die Peter unbedingt für dich geben wollte. Aber ich fahre dich 255
morgen früh hin. Oder Peter. Einer von uns beiden. Du brauchst dir deswegen keine Sorgen zu machen.« Und damit griff er grinsend zur Türklingel, die kaum den ersten Ton von sich gab, als Peter schon die Tür aufmachte, Ray zur Seite schob und John umarmte und mit sich zog, während Ray hinterherkam und ihn vorwärts drängte. »Ich hoffe, das ist okay, Mann, wie?« sagte Peter und strahlte. »Nur eine kleine Party, okay? Ich dachte mir, du möchtest doch bestimmt ein paar Leute um dich sehen, nicht?« Und er legte den Kopf zurück, als wolle er das Blickfeld, in dem er John hatte, noch weiter vervollkommnen. Dann sah er ihn kurz eindringlich an. »O Mann«, sagte er, »du bist ja wirklich total überrascht.« Und er eilte zu den wartenden Leuten, die überall auf Couchs und in Sesseln und auf Stühlen saßen, und rief: »Er ist total ÜBERRASCHT!« Und alle schrien ihm nach: »ÜBERRASCHUNG, ÜBERRA-SCHUNG!«
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19. KAPITEL Als Mary vom Treppenabsatz in ihr Schlafzimmer flüchtete und Freddy unten stehen ließ, war ihr ganz schwindlig im Kopf. Wie sie die Tür nachdrücklich hinter sich zuschlug, war zugleich die Isolierung ihrer selbst von der Welt und eine Verachtungsgeste für ihn. Hätte sie noch irgend etwas gesagt, wäre sie in Bereiche geraten, wo, wie sie klar spürte, das Risiko für sie selbst größer geworden wäre als die Wirkung, die sie damit allenfalls auf Freddy hätte erzielen können. Also knallte sie als letztes Wort lieber einfach die Tür hinter sich zu. Die Heftigkeit, mit der sie es tat, mußte ihm klarmachen, daß sie endgültig fertig mit ihm war. Und die präzise Ausführung mußte ihm klarmachen, daß sie keineswegs hysterisch geworden war, sondern sich voll unter Kontrolle hatte. Daß sie ihn stehenließ. Daß dies ein ganz bewußter Willensakt war. Daß sie absolut nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Und seiner vollkommen überdrüssig war. Indessen war die Wahrheit natürlich eher, daß ihr Weglaufen einem Fluchtbedürfnis entsprungen war und daß sie ihn keineswegs los war, nur weil sie ihre Schlafzimmertür hinter sich zugemacht hatte. So sehr schützte diese Tür sie nun auch wieder nicht vor den Beunruhigungen, die er ins Haus gebracht hatte. Seine Stimme drang immer noch von unten bis zu ihr herein, wenn es auch nur ein sinnloses Geschwätz war, als er immer noch weiter auf Roger einredete. Im Wäschekorb am Fenster lag im Sonnenschein frisch gewaschene Wäsche. Sie ging rasch hin und beschäftigte sich mit hektischem Eifer damit. Sie packte sie auf das 257
Bett und begann sie zu sortieren. Rogers Boxershorts lagen neben ihren Slips und BHs und seine Anzugsocken mitten unter den weißen Dresshemden, die sie gerne trug, wenn die Umstände zwanglose Tennisschuhe gestatteten. Die letzte Gelegenheit dazu war gestern abend gewesen, als sie mit Roger und den Jungs im Hof hinten Fußball spielte. Zusammen mit Andrew als Team hatte sie herumgetobt und sich wieder wie ein Mädchen gefühlt, fröhlich und albern zugleich, kichernd über die totale Ernsthaftigkeit, mit der die Jungs sich dem Spiel hingaben. Es amüsierte sie, wie wichtig sie dies alles nahmen und herumrannten und stöhnten und schwitzten und kämpften wie die Löwen. Und sie an Freddy erinnerten. Hol dich der Teufel, Freddy, dachte sie. Seine Ansprüche und die Intensität, mit der er an ihnen festhielt, hatten sich wie eine Art Süchtigkeit auf sie gelegt, wie narkotisierend, als stünde sie unter Drogen. Sie nahmen ihr den Halt und zerrten sie immer wieder in die Vergangenheit zurück, die an jeder Ecke wartete, aber nur ein Feld giftiger Blumen war, deren verführerische Einwirkung sie freilich nur zu sehr spürte und die sie ganz einhüllte. Das ganze Haus erzitterte in seinen Grundmauern, als Freddy unten, die Türen knallend, das Haus verließ. Seine Aggression war wie eine Vergeltung. Wie die Entgegnung auf ihr Türenknallen. Und wie üblich verringerte seine Entgegnung ihre Initiative und ließ sie mit dem Gefühl zurück, überwältigt worden zu sein. Ihre gefaltete Unterwäsche gehörte in die zweite Schublade der Kommode, die sie mit Roger teilte. Sie packte sie zu einem ordentlichen Stapel, die BHs daneben. Die dritte Schublade war für seine Unterhosen und Socken reserviert. Er trug vorwiegend Boxershorts mit ziemlich 258
langweiligen Mustern, meistens aus Baumwolle. Nichts Ausgefallenes, nichts war sexy, wie Freddy es liebte. Keine knappen Höschen, nichts aus Seide. Sie versuchte Freddy aus dem Kopf zu verbannen und dazu gleich die tristen Gegenstände vor ihren Augen, beides in der Vergangenheit, wegzuschließen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Als bestehe ihr Gedächtnis aus Regalbrettern, die man auch einzeln wegnehmen konnte. Und das, was auf ihnen gegenwärtig stand, von jeder Erinnerung befreien. Der Fernseher im Zimmer der Jungen überzog mit seinen Schallwellen alles wie eine Staubwolke. Die Geräusche drangen herüber, aufgeregtes Geschnatter und melodramatische Wogen von Musikuntermalung. Sie konnte die Bilder dazu vor sich sehen. Gefällige, aufdringliche Muskelpakete, die über den Bildschirm jagten und die unmöglichsten Taten vollbrachten. Was sie auch versuchte, um ihre Gedanken zu vertreiben, es gelang ihr nicht. So erreichten die Spuren des Lebens nebenan ihr Zimmer hier niemals. Sie ging zur Wand und lauschte auf die Schreie und das seltsame motorische Knurren, das durch Gips und Farbe drang. Es klang ein wenig nach Zeichentricktieren, die irgendwelchen finsteren Mächten zu entkommen suchten. Wie üblich eben und immer wieder. Und das Monster verfolgte sie durch leere Zeichentrickstraßen und über stürmische Höhen und durch urbane Sterilität und Naturgefahren und fing sie schließlich, aber sie entkamen wieder. Im Augenblick allerdings schien sich die tumultuöse Musik mit dem Erscheinen eines weiteren Ungeheuers oder wilden Tiers zu vermischen. Und dieses sah offensichtlich sie, Mary, als seine Beute an. Es glaubte, Freddys Geschrei habe eine Wahrheit enthalten, die sie mit Absicht zu ignorieren versuchte. Aber das Ungeheuer hatte sie wahrgenommen und wollte sie nun 259
daran erinnern. Was hatte Freddy gesagt: daß er die ganze Bürde tragen müsse und sie dafür leichthin weiterlebte? Daß er den ganzen Zorn und die ganze Schuld auf sich genommen habe, damit sie nicht damit belastet sei und ungehindert ihr Leben fortsetzen konnte? Der Gedanke an all das machte sie krank. Es stellte sie und Freddy auf die beiden Seiten eines mysteriösen, vagen Gleichheitszeichens mit einem Hauch von Verkleinerung, Abwertung, obskurer Subtraktion. Ihr Blick fiel auf ihr Scheckheft auf dem Nachttisch. Beim Friseur heute hatte sie mit einem der Schecks daraus bezahlt, die sie lose in der Tasche bei sich trug – eine Angewohnheit, die schon Freddy immer als bodenlosen Leichtsinn bezeichnet hatte und nach ihm auch Roger; schon deswegen, weil man damit den genauen Überblick und die Kontrolle über seine Ausgaben verlor. Sie ging hin und nahm das Scheckheft zusammen mit dem danebenliegenden Füller in die Hand. Als Roger hereinkam, war sie dabei, eine Anzahl zurückliegender Scheckausstellungen einzutragen, die sie in den letzten paar Tagen übersehen hatte, und die Zahlen gegeneinander abzuwägen. Roger lächelte verständnisvoll als Antwort auf den schnellen Blick, den sie ihm zuwarf. »Er ist weg«, sagte er und kam zu ihr. »Na, wie geht es? Alles okay jetzt?« »Ja, ja.« Als er ihr Knie tätschelte, empfand sie die Berührung als aufdringlich. Und als er dann noch mit fürsorglicher Geste den Arm um sie legte, fühlte sie sich geradezu mißbraucht. Es war so anmaßend von ihm. Sie versuchte sich zu erinnern, warum sie ihn eigentlich geheiratet hatte, außer daß er ordentlich war und anständig. Und verfügbar. 260
»Dieser Freddy!« sagte er. »Er ist so verdammt selbstsüchtig und egozentrisch. Marschiert hier einfach rein wie ein melodramatischer Jüngling und macht sich hier bei uns breit ohne jede Hemmung.« »Ja, sicher«, sagte sie. Aber das stimmte nicht wirklich. In Wahrheit war sie mit dem Herzen hin und her gerissen zwischen den widersprüchlichsten Gefühlen. Roger erschien ihr tatsächlich als der wirklich Hohle und Schale und Gedankenlose. Und wenn jemand hier egozentrisch war, dann doch wohl er mit seinen selbstgefälligen Kommentaren. »Ich meine, zugegeben«, fuhr Roger fort, »es ist irgendwie durchaus beeindruckend, wie bedenkenlos er über anderer Leute Empfindungen hinwegzugehen imstande ist. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Nicht.« »Ja, ja«, sagte sie, aber auch das war gelogen, und als Folge davon merkte sie, wie sie Gewissensbisse bekam. Wie etwas Tieferes und Älteres und weitaus Wertvolleres, nämlich ein wie selbstverständliches Einverständnis mit Freddy, sich meldete und seinen Platz in ihren Gefühlen beanspruchte. »Tut mir leid, daß er dich derart belästigt und aus der Fassung gebracht hat.« »Schon gut.« »Ich hatte ja eigentlich die Absicht, ihm schon gleich, als er ankam, zu sagen: Vielen Dank, Freddy, aber wir kaufen nichts. Schon gar nicht dein Geschwätz. Ich habe es mir überlegt, und jetzt im nachhinein bereue ich es, daß ich meiner spontanen Eingebung nicht folgte. Aber dann hatte ich eben auch das Gefühl, daß es nicht meine Aufgabe und nicht mein Recht war, ihm die Tür zu weisen. Ich meine, das ist ja alles auch nicht so ganz einfach, nicht?« »Ja«, sagte sie. 261
»Ich meine, ich weiß das ja. Denn wie sehen meine Rechte aus? Was habe ich für Rechte? Wenn ich zu Sally komme und meine eigenen Kinder besuche, ist auch immer ihr jetziger Mann da. Aber wenn er sich taktvoll verhält, benehme ich mich auch taktvoll, wie es sich gehört. Trotzdem, ein Rest Unwägbarkeit bleibt immer. Man muß ganz einfach immer im Sinn behalten, daß es für alle Beteiligten schwierig ist.« »Das ist es. Sehr schwierig.« »Also habe ich gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Aber das nächste Mal, glaube mir – Gott bewahre uns vor einem nächsten Mal! –, jedenfalls, wenn es ein nächstes Mal gibt, und Mr. Freddy Gale steht draußen vor der Tür mit seinem eitlen, selbstgefälligen Grinsen, dann verspreche ich dir –« »Nein, nein«, unterbrach sie ihn hastig, »du hast das schon richtig gemacht.« Er mißfiel ihr auf eine Weise, die sie erschreckte, und sie küßte ihn auf die Wange und schenkte ihm eilig ihr süßestes Lächeln wie zur Buße und sagte: »Ich danke dir für deine Hilfe in dieser Angelegenheit.« Und er war erfreut über diesen Dank und führte seine Bescheidenheit vor zum Beweis, wie befriedigend es doch sei, ihre Dankbarkeit errungen zu haben. Mary aber war sich plötzlich ganz klar über ihre wahren Gefühle der Verachtung und Ablehnung, und sie machte sich aus seiner Umarmung los, auch wenn diese ohnehin nur kameradschaftlich war. Sie entfloh schlicht dieser Intimität, zusammen mit dem Gefühl der schamlosen Täuschung und Vorspiegelung, das sie auslöste. Sie ging hinüber zu den Jungs und sah ihrem Fernsehprogramm zu. Ein Superheld mit Adlernase im blutroten, hautengen Trikot stürmte durch eine Stadt. 262
Palastartige Ansichten und dräuende Farben schufen eine Atmosphäre, die zugleich altertümlich und kalt futuristisch war, und das erweckte in ihr den Wunsch, die Jungen sollten lieber draußen spielen und sie mit diesem Programm alleinlassen. Als nach ein paar Minuten auch Roger dazukam, wuchs das Gefühl des erstickenden Verfolgtwerdens in ihr nur noch weiter an. Er setzte sich neben sie, und ihre Verwirrung wurde so übermächtig, daß sie ihn nervös tätschelte und zur Tür ging. »Willst du heute die Kinder dieses Zeug anschauen lassen?« fragte er in Anspielung darauf, wie strikt dagegen sie üblicherweise war. Wenn mir nichts Schlimmeres passiert als dies, dachte sie im stillen, dann kann ich froh sein. Ein schwarzes, bewaffnetes Fahrzeug stürmte durch einen Hagel überschallschneller Geschosse, die leuchtende Bahnen zogen. »Ich muß mal«, sagte sie und ging hinaus auf den Flur und von da in die Toilette neben ihrem Schlafzimmer, wo sie in den Spiegel sah und verblüfft war über das fast heitere Gesicht, das ihr entgegensah. »Hör zu«, sagte sie laut zu ihrem Spiegelbild, »ich habe dir was zu sagen. Na gut, und was?« Sie zog ihren Slip herunter und setzte sich und rieb sich die Schläfen, und ihr Blick blieb starr auf dem Boden haften. Wie auf dem Fernseher drüben hinter der anderen Wand samt seiner unheilvollen Untermalungsmusik erblickte sie auch in den Bodenkacheln die Projektion ihrer Ängste, daß das Haus heute nacht in Flammen aufgehen würde. Oder daß die Gasleitung unten in der Küche leckte. Oder heute abend zu lecken beginnen würde. Oder daß irgendein Stromkabel in der Wand blank liege, weil es irgendein gedankenloser Handwerker bei der Renovierung unwissentlich auf geschabt hatte und der daraus austretende Strom nun 263
allmählich das Holz des Balkens, an dem die Leitung entlanglief, in Brand setzte. Sie ging hinunter in die Küche. Im Kühlschrank stand noch eine offene Flasche Wein. Sie schenkte sich ein Glas ein und rief nach einem nachdenklichen Schluck Dr. Glazier an. Er moderierte ihre Gruppe und war auch für individuelle Beratung da. Sie war schon einmal in seiner Sprechstunde gewesen, gleich am Anfang, als sie zu den Gruppentreffen ging. Sie hörte die langsame, sonore und begütigende Ansage auf seinem Anrufbeantworter, als sei sie ausdrücklich dazu gesprochen, hysterische, übererregte Anrufer zu beruhigen. »Hier spricht Mary Manning, Dr. Glazier«, sagte sie. »Könnten Sie mich wohl bitte zurückrufen, falls Sie Zeit finden? Ich bin zu Hause. Ich rufe von zu Hause aus an, es ist jetzt Nachmittag.« Sie sah zur Uhr. »Spätnachmittag.« »Hallo«, meldete er sich selbst. »Mary?« »Ja.« »Ich – sind Sie beschäftigt, störe ich?« »Nein, nein, ich habe schon etwas Zeit.« »Ich meine, heute nachmittag haben Sie wohl keine Zeit mehr, oder?« »Ist was? Etwas Dringendes?« »Nein, nein, das nicht«, sagte sie. »Ich hätte tatsächlich in etwa einer halben Stunde Zeit. Wenn Sie bis dahin herkommen möchten …« »Sie sind ja nicht weit weg. Ja, gut.« »Ein Patient ist die ganze Woche nicht da.« »Ich komme gleich rüber.« Roger stand in der Tür, als sie auflegte. »Wer war das denn?« 264
»Dr. Glazier.« »Oh.« Sie nickte, wie um die Besorgnis in seinen Augen zu bestätigen, als sie auf ihn zuging, ihm einen schnellen Kuß auf die Wange gab und an ihm vorbei hinaus auf den Flur schlüpfte. »Na ja, du weißt ja.« Auf ihrem Weg schien ihr die späte Nachmittagssonne vom Meer her direkt ins Gesicht. Sie holte sich die Sonnenbrille aus der Handtasche und setzte sie auf. Es war alles so konventionell und stereotyp vor sich gegangen, als es zwischen ihr und Freddy auseinanderging, nach Emilys Unfall. Sie hatte sich selbst irgendwie einzigartiger gefühlt. Und daß ihre Verbindung ein Geflecht von Linien und Material sei, dessen vibrierende Stärke mit nichts zu vergleichen war, das sie bis dahin erlebt hatte. Schon gar nicht in der Ehe ihrer Eltern, die es geschafft hatten, eine scheinbar ruhige Oberfläche und ein um so stürmischeres Inneres zu vereinen, bis ihr Vater sich scheiden ließ, sobald sie, Mary, aus dem Haus war. Und nirgends bei ihren Freunden fand sie, wenn sie sich umsah, dieses Maß an Wert und Gewicht, das sie und Freddy verband. Bei den allermeisten Paaren, die sie kannten, stimmte es nicht. Sie sah stets ganz deutlich, woran es jeweils lag, welcher Stich falsch und welcher Faden lose war und welche Masche demnächst fallen würde und das Paar dann endgültig auseinandergehen ließ. Aber sie selbst fühlte sich mit Freddy ganz und gar unangreifbar, was dies betraf. Nichts konnte ihnen etwas anhaben. Dieses bei anderen normale und übliche Hin und Her und Gezeter betraf sie nicht. Und auch die eher versteckten Sticheleien gab es nicht bei ihnen. Niemals in ihrem ganzen Leben hatte sie sich mit jemandem so verbunden gefühlt. Und er war ihr immer als souverän und fähig und standfest erschienen. Er war 265
imstande, auch komplizierte Dinge und verwirrende Situationen klar zu durchdenken und einen Weg zu finden, selbst da noch, wo sie keinen mehr gesehen hatte. War ein Problem drängend und konkret, hatte er immer angemessen reagiert. Er konnte sehr direkt und streitbar sein, wenn es sein mußte. So wie damals mit diesem Kerl, der aus dem Parkplatz herausgesaust kam und direkt in ihn hineinfuhr. Und er kannte Scherze und Witze für alle Situationen und konnte sich praktisch jeder Lage anpassen und für jede Perspektive eine unerwartete Bemerkung finden. Sie mochte albern sein oder auch Galgenhumor haben. Aber ihm gelang es immer, der Sache, um die es ging, einen anderen Blickwinkel, ein neues Verständnis zu geben. Eine Pufferzone zu schaffen, in deren schützendem Kreis sie sich geborgen fühlte. Wie damals in diesem Flugzeug. Sie würde das Dr. Glazier erzählen, beschloß sie. Als sie nach Vegas flogen und sie die blanke Panik bekommen hatte, weil sie fürchtete abzustürzen. Freddy hatte einfach einen seiner Witze gemacht, und die ganze Situation war entschärft. Das einstöckige Haus, in dem Dr. Glazier seine Praxis hatte, war rosa gestrichen und hatte ein orangegelbes Ziegeldach. Der Eingangsweg war von den Vorbesitzern blau gestrichen worden. Sie hatte nie verstanden, wieso er das nicht alles neu streichen ließ. Es sah so billig und geschmacklos aus. Seine Gleichgültigkeit gegenüber einer Farbgebung, die sie geradezu abscheulich fand, störte sie. Es schien ihr ein Zeichen dafür zu sein, daß er womöglich frivol und nachlässig war und unsensibel gegen materielle Details. Es sah einfach aus wie das Haus eines albernen, dummen Menschen. Wie auch immer, sie ging hinein, und er erwartete sie bereits. Er führte sie in sein Sprechzimmer und setzte sich auf seinen breiten Ledersessel neben der dazu passenden Couch, deren Kissen mit einem Papiertuch 266
belegt war. »Ich möchte eigentlich lieber nur sitzen und reden, wenn das geht«, sagte sie. Es stand noch ein anderer Sessel seinem gegenüber, bezogen mit einem altmodischen Herbstmusterstoff – Blätter und dunkle Baumstämme. »Ich hielte es schon für besser«, sagte er, »wenn Sie sich hinlegen. Aber wie Sie wollen.« Sie legte sich also gehorsam auf die Couch, streckte sich aus und seufzte. Ihre rechte Hand blieb über ihr in der Luft hängen, lose im Gelenk und baumelnd, ehe sie sich über ihre Augen herabsenkte wie ein Blendschirm. »Ich fühle mich völlig verquer«, sagte sie, »wenn ich einfach so daliege. Mein Gott.« Und sie sah Freddy durch ihre Gedanken wandern. Wie er durch ihr Haus ging. Alles im Kleinformat in ihrem Kopf. Sie sagte: »Freddy war heute da.« Und sie verfolgte ihn wieder eine Weile im Geiste, wie er herumtobte und überall stehenblieb und alles anfaßte wie ein Hund, der an jeder Ecke sein Bein hebt, um seine Markierung zu hinterlassen. »Und als er wieder ging, nachdem er wieder mal seine übliche Nummer abgezogen hatte, war es mir sogar recht. Das weiß ich jetzt. Als ich noch jung war und wir uns erst kennenlernten und ich ihn liebte, mochte ich ihn auch deswegen, wie er mich immer überwältigen konnte. Wie er mir einfach gewisse Verpflichtungen abnahm. Gut, also da war er wieder. Und erzählte seinen üblichen Blödsinn. Als wäre es etwas gewesen, das ich mir gewünscht hätte. Genau wie damals an diesem Morgen, dem Morgen von Emilys Beerdigung, als er ankam und sagte – ich meine, Sie erinnern sich ja daran, nicht?« »Ja, natürlich.« »Daß er nicht zur Beerdigung ginge und daß ich es auch 267
nicht tun sollte. Als wäre das dieser große, einmalige Affront. Seine Verachtung, die er der ganzen Welt zeigte. Womöglich dem ganzen Universum. Was dachte er sich dabei? Die ganze Beerdigung einfach absagen oder was? Ich verstand das nicht, damals nicht und heute auch nicht. Außer natürlich seine Wut. Er war dermaßen zornig. Also bringt er den Kerl um, denkt er sich und sagt es. John Booth. Den betrunkenen Fahrer. Und kommt zu mir damit – als wäre es seine Trophäe.« Sie machte eine kleine Pause. »Ich meine, ich konnte ihm das damals an dem Morgen nicht glauben, daß er mir das wirklich antun wollte. So zu tun, als sei ihre Beerdigung seine Privatsache. Und wie er sich benahm. Daß wir alle dastehen und nur noch ihn anschauen sollten. Was macht Freddy? Seht mal, wie er sich verhält. Gar nicht wie wir anderen alle. Ein toller Bursche. Geht nicht mal zur Beerdigung seiner Tochter.« Sie überlegte kurz. »Aber mir war das einfach egal, ich kümmerte mich einfach nicht darum. Worum ich mich kümmerte, das war sie. Emily hatte Empfindungen und all die Leute auch, und mit denen kann man doch nicht einfach so umgehen. Und auch heute wieder. Weiß er vielleicht nicht, wie ich mich dann immer fühle? Wenn er immer auf diese Art daherkommt? Ich konnte es damals an diesem Morgen einfach nicht glauben. Daß er sich da einfach hinstellte und all diese Sachen sagte. Und heute wieder genau dasselbe. Schert sich einfach einen Dreck darum, was ich dabei fühle. Was das in mir alles auslöst und anrichtet. Ist ihm einfach egal. Ich beherrschte mich mit aller Macht an diesem Morgen damals und verließ mich darauf, daß er mich da schon hindurchführen würde. Daß er da wäre. Mich stützte und aufrecht hielt und so. So wie er es bis dahin ja auch immer gemacht hatte. Und versprochen hatte und auch gehalten hatte und damit 268
versprochen hatte, es auch in Zukunft weiter zu tun. Und dann ist er auf einmal nicht dabei, nicht einmal da. Und da haßte ich ihn. Ich sah, daß er einfach nur Angst hatte und es nur nicht wußte.« Dann fuhr sie fort: »Es gab einen fürchterlichen Streit. Ich konnte ihm das nicht verzeihen und werde es nie tun können. Ich meine, schließlich war er es doch, der sie von der Schule abholen sollte, was er aber nicht tat. Irgendein blöder Termin, den er einfach nicht zu Ende brachte. Und damit war er eben nicht zur Stelle. Schön, er hinterließ eine Telefonnachricht für mich, aber was hilft das, wenn ich nicht zu Hause bin? Und es gab keinen Grund, daß ich hätte zu Hause sein müssen. Ich war mit den Zwillingen bei Nachbarn, die einen Pool haben. Das war ein ganz spontaner Entschluß gewesen. Wir hatten es beim Frühstück ausgemacht, zu dritt. Emily aß Waffeln mit Heidelbeeren aus der Tiefkühltruhe. Und Freddy saß da mit seiner Zeitung und seinem Kaffee. Er sollte sie abholen. Er machte sogar ein paar Witze, wie er mit seiner Kutsche angefahren komme. Also war alles abgemacht. Und als dann meine Bekannte anrief und uns zu ihrem Swimmingpool im Garten einlud, ging ich eben hin. Er hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, ich sollte sie abholen. Aber die Nachricht erreichte mich nicht. Ich rief nicht zu Hause an oder sonst was. Also gut, er rief auch in der Schule an und sagte, sie sollten aufpassen, daß sie nicht ohne ein Elternteil wegging. Aber irgend etwas klappte dann nicht. Die Nachricht drang nicht bis zu ihrer Lehrerin. In der Telefonzentrale kam sie zwar an, doch niemand kümmerte sich weiter darum. Er hätte einfach dort sein müssen. Wen interessiert denn, was er für Nachrichten hinterließ oder wer diese nicht weitergab? Oder in welchem Papierkorb der Zettel landete, oder hinter welchen Schreibtisch er runterfiel? Er hätte dort 269
sein müssen, basta.« Sie hatte sich in Rage geredet. »Und dann heute wieder, alles von vorne, wie immer. Marschiert rein, führt sich auf. Nur wissen Sie, was? Komischerweise verursachte er mir heute das Gefühl, daß meine jetzige Ehe eine Heuchelei sei. Er gab mir das Gefühl, daß ich mich einfach zu Roger geflüchtet hätte. Daß ich mir einfach diese Auszeit in meinem Leben genommen hätte, nach Emilys Tod. Wie schafft er das, möchte ich wissen? Wie bringt er es fertig, mir einzureden, daß alles seit damals wirklich nur eine Auszeit für mich sei und daß ich Roger auch nur deswegen heiratete, weil das Spiel einfach nicht weiterging und es deshalb sowieso ganz egal gewesen sei, was ich tat? Also einfach diesen erstbesten Mann heiratete, den ich gar nicht liebte. Aber das wußte ich nun schließlich selbst von Anfang an. Ich wußte nur bis heute nicht, daß ich ihn eben ausgerechnet deswegen heiratete: weil ich ihn nicht liebte. Ich meine, das war tatsächlich der wirkliche Grund. Weil ich ihn nicht liebte. Und nie lieben werde.« Sie schwieg und bemerkte es, obwohl sie sich gar nicht hatte sprechen hören. Das einsetzende Schweigen war ein neues Element im Raum. Und als es sich hinzuziehen begann, fühlte sie sich am Rand der Formulierung von etwas, das sich außerhalb des Sagbaren befand. Aber sie war sich sicher, in den nächsten Sekunden die Worte dafür zu finden. Doch dann dehnte sich das Schweigen weiter, und sie sagte doch nichts mehr, und was allenfalls noch mitzuteilen war, konnte nur durch Schweigen ausgedrückt werden. Und es betraf Freddy und sie selbst und Emily und schmerzte. Es ausdrücklich mit Worten einzugestehen, wäre, schien ihr, eine Verleugnung all dessen gewesen, was sie sich bisher zu verdeutlichen bemüht hatte. Dieser zwanghafte Drang jetzt, zu reden, 270
kam ihr vor wie eine Erpressung. Sich dieser zu beugen, weigerte sich ihre Zunge. »Wen lieben Sie denn?« fragte Dr. Glazier. Seine Stimme ließ sie aufschrecken, als habe sie vergessen, daß er anwesend war. Er pflegte sie üblicherweise nur selten zu unterbrechen. Er neigte eher dazu, das Schweigen anwachsen zu lassen und sich zurückzuhalten. »Wie?« sagte sie, obwohl sie gut wußte, daß er sich nicht wiederholen würde. Wen sie liebte? Nun, die Jungs natürlich. Die Jungs. Und Roger? Stimmte ihre Behauptung denn? Dies waren Fragen, die wie schwere Steine in ein tiefes Loch fielen. Die Risse, die sie dabei verursachten, waren merkwürdig fern und nicht zu erklären. Die Tränen, die ihr über das Gesicht liefen, waren aus ihren geschlossenen Augen gekommen. Wegen irgend etwas und irgend jemandem, worüber sie nichts gesagt hatte. Ein Phantom letztlich, doch ein schmerzhaftes und hartnäckiges. Nicht der Freddy, den sie heute wieder erlebt hatte, sondern der, den sie damals verlor. Der Freddy, den sie liebte. Und die Mary, die ihn liebte. Diese beiden liebte sie. Aber es gab sie nicht mehr. Sie waren tot und begraben. »Wie an diesem Beerdigungstag«, sagte sie. »Wie er mich da beschuldigte und anklagte. Und wie er mir seine Verachtung zeigte, weil ich die Beerdigung wollte. Um ihr die Ehre zu erweisen. Ich konnte mich kaum aufrechthalten, aber ich wußte, sie wünschte es sich. Sie liebte Partys. Sie war ein sehr geselliges Mädchen. Sie liebte es, mit anderen Leuten zusammenzukommen und sie zu beobachten. Ihr hätte es sehr gefallen. Die Hüte und die Kleider. Daran dachte ich. Ich dachte daran, was sie wohl von dem Hut gehalten hätte, den Susie Tilbey trug. Oder von Mrs. Guilsons wirklich sehr ausgefallenen 271
Ohrringen. Oder von den Handschuhen und Schuhen von Mrs. Samuels – zwar schwarz, aber mit diesem ganzen Glitzerzeug daran. Und alle ihre Freundinnen waren da – ihre Schulfreundinnen –, alle herausgeputzt und eitel und in Wirklichkeit nur mit sich selbst beschäftigt. Aber warum auch nicht? So ist das nun mal, so sind die Menschen.« Sie fuhr fort: »Sie war noch ein kleines Mädchen. Sie stand noch nicht mal vor einem Schulabschluß, geschweige einer Hochzeit. Ein kleines soziales Wesen. Sie liebte die Art, wie die Leute ihre Angelegenheiten regelten, und die ganze Mühe, die sie sich machen, um lediglich eine Party zu organisieren. Sie wollte ein Teil der Welt sein. Ein Teil des Lebens, der Gemeinschaft. Das war doch auch ihre einzige Chance, sich der Welt bemerkbar zu machen: seht her, mich gibt es auch. Und deshalb hatte, was Freddy sagte, einfach keinen Sinn. Sie selbst wäre auf jeden Fall hingegangen, wenn sie nur gekonnt hätte. Also ging ich für sie. Und er hätte das auch tun müssen! Ich meine, er … Das tut man einfach! Das gehört sich so, alle tun es. Hochzeiten, Begräbnisse, Partys, das macht man eben. Und sie wollte ein Mensch sein wie alle anderen. Aber er, nein, mußte so tun, als sei das etwas, wofür man sich schämen müsse. Und ich mich schämen müsse. Und daß er uns verdammen müsse, weil wir bei ihr sein wollten, weil das alles war, was wir überhaupt taten, Freddy, du gottverdammter Dreckskerl!« Der Gefühlsausbruch, in den sie sich hineingesteigert hatte, ließ sie erschöpft zurück. Sie saß im Wartezimmer, um sich noch etwas zu erholen und ihre Emotionen abklingen zu lassen. Sie starrte auf die Seiten einer Zeitschrift. Als sie das Sprechzimmer verließ, hatte Dr. Glazier sie noch gefragt, ob sie nicht den Rest der Woche jeweils zur gleichen Zeit wiederkommen wolle. 272
Und sie hatte gesagt, sie wisse es nicht. Morgen würde sie aber auf jeden Fall noch einmal kommen und sich dann erst entscheiden. Auf den Stufen vor Dr. Glaziers Haustür blieb sie stehen und setzte sich gerade die Sonnenbrille auf, als ein Wagen anhielt und die Tür aufging. Ein Mann stieg aus. Er griff sich, ehe er die Tür zuschlug, seine Jeansjacke vom Sitz. Er war blond und schlank und stemmte die Arme in die Hüften. Sein typischer, etwas eigenartiger Gang, mit dem er auf sie zukam und der Gehemmtheit und Mühe ausdrückte, identifizierte ihn unverkennbar als Bobby. Er blickte verlegen starr zu Boden, und etwas schien ihn niederzudrücken. Sie starrte ihm entgegen und wartete darauf, daß er den Blick hob und sie ansah oder etwas sagte. Aber als er einfach an ihr vorbeiging, folgte sie ihm mit ihren Augen. »Waren Sie nicht neulich beim Gruppentreffen?« sagte sie. »Wie?« Er fuhr hoch und wandte sich um und nestelte an seiner Jacke herum. »Ich war dort, als Sie redeten, neulich.« »Ach so. Ja. Hallo.« »Hat es – hat es Ihnen – ich meine, wie geht es Ihnen?« »Ich bin schon sehr spät dran bei Dr. Glazier«, sagte er und blickte verlegen nach oben, als lese er die Zeit am Sonnenstand ab. »Oh«, sagte sie. »Tut mir leid. Ich will Sie natürlich nicht –« »Nein, nein«, widersprach er. »Ich habe Sie da schon gesehen, glaube ich. Gehen Sie da schon lange hin?« »Zu den Treffen? Seit acht Jahren.« »O Mann«, sagte er. 273
»Wie?« Er ging rückwärts weiter und nickte und bemühte sich um korrekte Höflichkeit. Sie sah, wie er die Hand hinter sich zur Haustür ausstreckte. Irgendwie faszinierte er sie mit seiner fast verkrüppelt aussehenden Schlankheit. Alles an ihm sagte ihr zu. Irgend etwas gab selbst seinen beiläufigsten Bewegungen und Gesten starken Ausdruck. »Das ist eine lange Zeit«, sagte er, und sein Lächeln dazu schien ebenso Ironie zu enthalten wie Melancholie. Ihre Begegnung und ihre belanglose Unterhaltung bekamen auf einmal irgend etwas Besonderes. Irgend etwas leuchtete von innen her auf. Eine Art Erkenntnis, daß dieser Augenblick keineswegs reiner Zufall sein könne, sondern klar vorherbestimmt sei. Die Gemütsbewegung, mit der sie ihm schon beim Gruppentreffen zugehört hatte, kam wieder und enthielt den eindeutigen Wunsch nach näherem Kontakt. Sie erinnerte sich plötzlich an den mysteriösen Telefonanruf am Morgen nach diesem Gruppentreffen und wie sie sofort gewußt hatte, daß es ebendieser Mann, Bobby, gewesen sein mußte. »Jetzt muß ich aber gehen«, sagte er. »Sonst komme ich tatsächlich zu spät. Hat mich sehr gefreut.« »Vielleicht möchten Sie sich mal ausführlicher unterhalten? Wie wäre es mit einem Kaffee nach Ihrer Sitzung?« »Wie?« »Nach Ihrer Sitzung.« »Ach so. Nun, ich – ich kann leider nicht.« Er sah verwirrt aus, und Mary fühlte sich zurückgewiesen. »Oh.« »Ich meine, heute«, sagte er hastig. »Aber morgen ginge 274
es. Ich bin auch morgen hier.« »Oh«, sagte sie noch einmal. »Morgen. Ja sicher. Morgen ist gut.« Sie schob mit dem Zeigefinger die Sonnenbrille hoch und blinzelte, als sie ging, und hielt sich gerade und blickte scheu um sich wie ein Dieb, der sich vergewissern will, daß seine Maske auch richtig sitzt.
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20. KAPITEL »Also Entschuldigung, Entschuldigung. Tut mir leid. Es fiel mir grade erst auf. Aber wir sind hier nur lauter Weiße.« John machte keinen weiteren Schritt. Er hatte nun schon einige Stunden diese Party durchwandert. Der Mann, der sprach, war ein rundlicher, gnomenhaft aussehender Typ. Er gehörte zu einem Trio zweier Männer und einer Frau, die so mit sich selbst beschäftigt waren, daß sie Johns Interesse an ihnen gar nicht wahrnahmen. Er kam noch näher, aber er spürte, daß die Bindung dieser drei so eng war, daß er sich hätte dagegenlehnen können. »Ja, aber weißt du, was«, sagte der zweite Mann, »beim nächsten Aufruhr bin ich auf der Seite der Schwarzen. Dann kreuze ich in Beverly Hills auf und plündere ein bißchen mit.« »Nur zu«, sagte die Frau. Die beiden Männer sahen einander an, um sich gegenseitig ihres Einverständnisses zu versichern, ehe sie nach dem der Frau suchten. Dann lachten sie herzhaft. Die Frau wartete auf den richtigen Moment, ehe sie ihr eigenes Kichern hinzufügte. Als einer der Männer endlich Johns Anwesenheit wahrnahm, blickte dieser rasch auf seinen Teller hinab, der voller Fett- und Barbecueflecken war und wo noch ein paar zerbrochene Kartoffelchips neben den Resten der Spareribs lagen, die er abgenagt hatte. Eine Gitarre dröhnte durch den ganzen Raum und begann mit Country-und-Western-Musik, die Peters Gesang einleitete. »I was born a Cowboy, and a Cowboy I will die …« Er hatte den ländlichen Tonfall richtig drauf und bewegte sich dazu gleichgültig und burlesk. 276
»Tut mir leid, Ray«, sagte jemand hinter John. Er drehte sich um. Offenbar war Ray gerade auf dem Weg zu ihm gewesen, als ihn dieser Bursche mit seinem T-Shirt abfing, auf dem Grunge aufgedruckt war, was soviel bedeutete wie langweiliger Mist. Es schien aber ein neuer Modebegriff zu sein. »Nun sei doch nicht so«, sagte der Bursche. »Er ist nun mal als Cowboy geboren. Ist das so schlimm, wenn ich das gesagt habe?« Ein blondes Mädchen mit einer Fliegerbrille hing in der Nähe herum. Sie sagte: »Du bist Ray auf den Schlips getreten.« Ray sah John an, als habe ihm soeben jemand mitgeteilt, alle seine Kreditkarten seien gestohlen. »Ich muß mich mal darum kümmern, John«, sagte er. »Dieses blöde Mißverständnis.« Und weg war er, die anderen hinter ihm drein. Sie ließen John in einer Zigarettenrauchwolke und in mehreren heftigen Gesprächen zurück. Überall lagen Bücher herum, auf Tischen, Stühlen, Regalbrettern und selbst auf dem Boden. Er trat auf eines und beugte sich hinunter, um es aufzuheben. Sein Titel war Produktionseinverständnis. »John!« sagte Peter und hob sein Tequilaglas, um ihm zuzuprosten, und hörte einfach zu singen auf. »Das ist ein großartiges Buch.« Er saß in einem großen Ledersessel, als dirigiere er, und ließ die Gitarre sinken. Seine braunen Wüstenschuhe hatte er auf dem kleinen Kaffeetischchen vor sich liegen, auf dem sich allerlei Partymüll befand. Ein anderer Mann mit einer Gitarre kam zu ihm und ließ sich bei ihm nieder. Ihre beiden Gitarren begannen sich wie nebenbei miteinander zu unterhalten. 277
Eine Parfümwolke wehte an ihm vorüber und wirkte auf ihn wie ein delikater, lautloser Angriff. Etwas huschte vorbei. Eine schemenhafte, lange, rothaarige Frisur und ein Pullover. Hinterher tigerte ein dürrer, stoppelhaariger Bursche in einer weichen schwarzen Lederjacke. Aus der anderen Richtung näherte sich das Fliegerbrillenmädchen wieder, den Typen mit dem Grunge-T-Shirt im Schlepptau. »Du bist Ray auf den Schlips getreten«, sagte sie wieder. Sie zogen an ihm vorbei, ohne daß er seine Aufmerksamkeit von dem anderen Mädchen abgewandt hätte, und der Stoppelhaarige beugte sich zu ihr vor und fragte: »Hast du eine Pistole?« Ihre Haut glänzte. Er bemerkte ihre klaren, haselnußbraunen Augen. Und als sie die Frage verneinte, fiel ihm auf, daß die Party alle möglichen Farben aufwies. Die Kleidung, das Essen. Aber nichts Ganzes. Bis zu dieser Sekunde nun. Der Stoppelhaarige hatte einen Ziegenbart und dicke Brillengläser. An den Ohren des Mädchens glitzerten kleine goldene Ohrringe. »Du solltest aber eine haben«, sagte er. »Weil sie nämlich einen Plan haben. Internierungslager.« »Ja, ist ja gut«, sagte sie. Aber ihre Augen wichen ihm seitwärts aus, um seiner Aufdringlichkeit zu entgehen. In dem Bogen, den sie mit ihrem Fluchtblick beschrieb, erblickte sie John und lächelte. Und ihm war es, als träfe ihn ein Stromschlag. Dann trat ihm der Stoppelhaarige in den Weg. »Bist du nicht auch der Meinung?« »Völlig, völlig«, sagte sie. »Gott sei Dank. Weil es nämlich anscheinend sonst niemand ist. Weil der Plan nämlich lautet, daß du … also, du ißt ein Stück Truthahn, aber da nimmst du dieses 278
Tryptophan mit auf. Und ehe du dich versiehst, bist du im Internierungslager. Ich habe ja früher eine Menge Kokain genommen. Aber jetzt nicht mehr. Weil das ganze Geld direkt der Black-Ops-Fond kriegt. Und das ist gar nicht spaßig, weil es ziemlich schwer für mich war, aufzuhören.« »Halt still«, sagte Peter. Er klimperte auf der Gitarre, der andere Gitarrist begleitete ihn. Er beugte sich tief über den Hals des Instruments, als wolle er ihm Anweisungen zuflüstern. »Halt still, halt still«, sang er, »es ist nicht die Nacht, ich bin es …« Seine Stimme klang jetzt anders und füllte den ganzen Raum mit großer Sicherheit und einer sturen, hartnäckigen Forderung. Sie zog die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Und wirklich forderten fast alle einander gegenseitig zum Schweigen auf oder kamen näher. Gefangen zwischen seinem Interesse an dem Mädchen und dem allgemeinen Sog im Raum, sah er, wie das Mädchen eine Drehbewegung vollführte, offenbar um ihren hartnäckigen Begleiter loszuwerden. Sie tat, als ob ihre Bewegung von der Musik veranlaßt sei, und das machte sie anmutig, aber auch raffiniert. Sie drückte sich in eine kleine Lücke auf einer Couch Peter gegenüber. John folgte ihr unter dem Vorwand, näher zur Musik zu wollen. Peter hatte das Mädchen beobachtet, wie es herankam. Jetzt musterte er John, der sich hinter sie gestellt hatte. Und er wandte sich direkt an sie, als er sang: »Ich bin geladen, aber ich bin kein Schießeisen. Du bist high und ich bin high.« Dann war er wieder weg, und seine melodiöse Stimme ging in ein Knurren über. »Alles, was blutet, ist irgendwie Liebe.« Sein Publikum geriet, gar nicht auf diese Töne gefaßt, in Begeisterung. Noch immer gab es Leute, die herbeidrängten und sich mit entschuldigender Miene und Geste setzten, als seien sie zu 279
spät kommende Konzertbesucher. »Wenn du es nicht findest, heißt das etwa, daß es nie da war?« schmachtete Peter. Eine große Frau in einem orangefarbenen Hemd und Overall, von dem ein Schulterträger aufgegangen war, der nun herunterhing und einen Hauch von Ausgezogensein vermittelte, kam hinter ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er reagierte, indem er sich etwas zurücklegte und ihr einen unsteten Blick widmete, den er jedoch sogleich wieder weiterwandern ließ, um ihn auf das Mädchen zu heften, das auch John beobachtete. Peters strähniges rotes Haar schwang hin und her, als er unter dem Licht an der Decke den Kopf wiegte. Sein Habichtsprofil verschwamm abwechselnd und wurde scharf. Er sah aus, als tue ihm das Singen weh. Er riß an den Saiten und begleitete dies mit Knurren und Stöhnen, als werde von verschiedenen Seiten her auf ihn eingeschlagen. Er holte Atem und gab dann einen Ton von sich, als habe man ihm einen Nagel in den Fuß eingeschlagen oder herausgezogen. »Unheimlich katholisch«, lächelte er. »Was?« fragte die große Frau. »Das Lied. Das Blut.« Er schlug einen schrillen, verstimmten Akkord an. Da er direkt vom Singen zum Sprechen übergegangen war, verhinderte das den eigentlich sicheren donnernden Applaus und führte dazu, daß nun alle seine Gespräche mit der großen Frau erfolgten, als sei es noch eine Fortsetzung des Liedes. »Das ist aber nicht nett, Peter«, sagte sie. »Wirklich nicht.« Sie schüttelte den Kopf dazu. Es erinnerte John an eine Mutter mit einem traurigen, verschreckten Kind. »Nett?« sagte Peter. »Nett? Was haben wir hier mit nett zu tun?« Und er blickte John verständnisinnig an, um 280
auszudrücken, daß sie beide dieser Meinung seien, ganz eindeutig und problemlos und ohne Frage. »Nett, John, sagt sie. Nett?« »Erstens«, sagte die Frau. Sie sprach mit Peter, sah aber John dabei an. »Erstens möchte ich mal, daß du mir erklärst, wieso du kein gutes Haar an der katholischen Erziehung läßt.« »Weil man mich katholisch erzogen hat.« »Mich auch.« »Na, dann bist du eben ein Produkt ihrer Gehirnwäsche. Gibst du das zu?« »Was soll ich zugeben, Peter? Was genau?« »Habe ich dir doch gerade gesagt.« Gelächter erhob sich ringsum wie billige Feuerwerkskracher, und es hörte sich an wie Zischen und halbe Explosionen. »Schön«, sagte die Frau. »Sehr witzig.« Das Seltsame war, daß ihr Benehmen distanziert und komisch und aufreizend zugleich war. »Aber die Kirche einfach nur zu attackieren, ohne einen –« »Lieber Gott, Karen, ich meine die christlichen Soldaten. Gehen wir doch mal nach Peru und –« »Wie kommst du denn auf Peru?« »–und schärfen unsere Schwerter an den peruanischen Kindern.« »Was habe ich denn mit Peru zu tun und mit peruanischen –« »Wie lange waren wir verheiratet?« »Was?« »Wie lange wir verheiratet waren, sag?« 281
»Was hat das denn damit zu tun?« »Sag es einfach, Karen, ja? Wie lange waren wir verheiratet?« »Also du gibst es endlich zu! Du gibst zu, daß es alles nur wegen mir war. Diese Vendetta gegen die arme katholische Kirche, die Probleme und Schwierigkeiten genug hat. Aber nach wie vor das Mitgefühl kennt, und das ist mehr, als du von dir sagen kannst. Weil du manchmal so verdammt schlau bist. Kalt und rechthaberisch. Unbarmherzig und selbstgerecht.« »Ich bin selbstgerecht?« »Als wenn du das nicht genau wüßtest!« Er schien von dem Echo des Elends, das er mit seinem Song ausgelöst hatte, stark berührt zu sein, nur schwieg er nun und dachte über ihre Bemerkungen nach. »Jetzt hast du ihn aber verstimmt«, sagte das Mädchen vor John. Karen warf ihr einen Blick fast amüsierter Ungläubigkeit zu, als halte sie sie für verrückt. Sie gab damit zu erkennen, daß das Mädchen ihr eine so einseitige Gelegenheit verschafft hatte, daß sie fürchtete, sadistisch zu sein, wenn sie sie ergreifen würde. »Nun, du mußt es natürlich wissen, Jo Jo«, sagte sie achselzuckend und tat, als sei dies nur ein Scherz. »Ach, weißt du, Jo Jo«, sagte Peter zu ihr, »sie bringt mich nicht dazu, mich mies zu fühlen. Das schafft sie nicht.« Und mit einer Geste erklärte er sämtliche gegen ihn gerichteten Anstrengungen als sinnlos, auch wenn er anscheinend doch einen Schluck Tequila brauchte. »Na ja, irgendwie sitzen wir ja alle in der Falle«, erklärte er. »Und die Falle ist schon zugeschnappt und –« »Du sitzt in der Falle?« fragte Karen erstaunt. »Das ist ja 282
ganz was Neues. Du und in der Falle? Wann ist das denn passiert? Ich dachte, unsere Scheidung hätte dich so befreit?« »Nein, nein, nein. Denk mal nicht an mich«, sagte er. »Denk nicht an mich. Vergiß mich einfach. Aber sieh dir Jo Jo an.« Und er deutete auf das Mädchen. »Das Bild, das ich oben von ihr habe … bemerkenswert! Sie malt sich mit Farbe an und rollt sich dann auf dem Papier. Sie rollt auf dem Papier und –« »Tu ich nicht.« »Gut, Leinwand. Ich meinte ja Leinwand. Und versucht so Gott darzustellen. Zu repräsentieren. Wenn du nämlich nach Gott suchst, findest du einen Eindruck von dir selbst.« »Ach was, das ist Gott, wie? Das Bild ist Gott?« sagte Karen. »Ja, weil es nämlich immer nur darum geht«, sagte Peter. »Bei allem. Das Kirchenzeug und das Sexzeug und das Beziehungszeug – alles dasselbe. Ist alles wir selbst. Die Falle sind nämlich wir selbst. Wir setzen uns selbst in die Falle.« »Moment mal, Moment«, sagte Karen. »Damit wir uns richtig verstehen. Also das Bild da oben bei dir ist Gott, ja, sagst du? Dieses Bild über deinem Bett, behauptest du, ist Gott?« »Nein«, sagte Jo Jo. »Euer Gespräch da ist ganz schön bescheuert«, sagte der Stoppelhaarige und zog an einer Zigarette. »Seit wann weiß irgendwer, daß es Gott überhaupt gibt?« »Man braucht nicht zu wissen, ob etwas existiert«, erklärte Peter, »um darüber zu diskutieren. Du kannst auch eine Armada loslassen oder einen Krieg anfangen über 283
irgendwas, das nichts weiter ist als eine Theorie. Solange nur die Leute daran glauben.« »Ich glaube an King Kong«, sagte Jo Jo. »Was?« »Das ist gut«, sagte Peter. »Und warum, Jo Jo? Warum glaubst du an ihn? Vielleicht können wir es alle.« Sie hob ihr Weinglas und starrte es an. Dann lächelte sie Peter ein Du-kannst-mich-Mal zu. Es war nicht ohne Traurigkeit, obschon es sie nicht weicher machte. »Na, wie er sie doch in seinen Händen hält. Er hält sie in seiner Hand und liebt sie einfach nur. Das ist Freiheit.« »Ich dachte, wir reden von Gott.« »Jetzt reden wir von Freiheit.« »Aber das ist doch keine Freiheit«, sagte Peter. »Die ist ein winziges Wesen, das diesen Riesenkerl anschleppt, Jo Jo. Das ist Totalitarismus.« »Ach, Peter, was weißt du denn davon?« warf Karen wieder ein. »Gerade hast du doch noch gesagt, du sitzt in der Falle!« Peter musterte sein Publikum, und dann blieb sein Blick bei John hängen. Er hob sein randvolles Tequilaglas und trank einen Schluck. »Ich will ja nicht unbedingt Parallelen ziehen. Aber wenn wir schon von Gefangenschaft reden, dann haben wir hier in John einen Experten dazu.« »Du wirst mich da nicht reinziehen«, sagte John. »Aber wieso denn nicht? Du weißt doch Bescheid darüber?« John nahm sein Feuerzeug, zündete sich eine Zigarette an und ließ sich, während er den Rauch ausblies, zurücksinken. Er wollte nicht sagen, wofür er sie alle hielt: 284
für blöde Affen. »Ich will dazu nichts sagen«, erklärte er. »Du mußt!« Er faßte sich an die Nasenwurzel. »Na schön«, sagte er. »Auf die Gefahr hin, daß es so klingt, als wüßte ich, wovon ich rede, meine ich, Freiheit wird« – wenn er hier wirklich Urteile abgeben sollte, konnte das nur ein Witz sein –, »wird überschätzt.« Er dachte an Two Tommys und die Abmessungen ihrer Zelle. Wie er, wenn er aufwachte, Two Tommys in der Ecke sitzen und ihn anstarren sah. Und er dachte an den Kahlkopf auf der Treppe, dessen Blut den Sprüngen im Beton folgte. Und an das Geheul des Diebs und an den Wahnsinn in den Stimmen derer, die auf ihn losgingen und Nummern schrien, während sie ihn mißbrauchten. Oder an den Jungen, der sich vor den Psychopathen hinkniete, als bete er die Verrücktheit an. »Ich meine, Freiheit ist ja ganz schön und nützlich und erheiternd. Aber wenn es nichts Größeres gibt als sie, dann ist sie doch bloß … ein Dreckhaufen, wie ihr alle hier … Bloße Unterhaltung.« »Unterhaltung?« sagte Karen. John wußte inzwischen, daß ihre Eingebildetheit auch nur Fassade war. »John, das ist Karen«, sagte Peter. »Wir haben geheiratet in der Zeit, als du weg warst. Und uns wieder scheiden lassen, während du noch weg warst.« »Ich glaube, was er sagt, ist etwas ganz anderes«, sagte Jo Jo. Sie drehte sich auf ihrem Platz herum, so daß sie John ansehen konnte. »Aha, also die King-Kong-Sache bedeutet sogar was?« sagte Peter. »Ich würde dieses Bild gern sehen«, sagte John. »Du meinst, dieses Gottesding?« fragte Peter. »Das ist toll.« 285
»Aber es nicht Gott«, sagte Jo Jo. »Und ich habe mich auch nicht hingerollt.« Es irritierte sie sichtlich, daß sie diesen Punkt so oft klarstellen mußte. »Zeig’s ihm doch«, sagte Peter. »Zeig es ihm.« Er lächelte wie einer, der dachte, es sei sehr komisch, wenn die eigene Hand verbrennt. »Es ist da oben«, sagte Jo Jo und deutete zur Treppe hinter ihnen und zu der rundum laufenden Galerie über ihnen. »Ich kann ja mal nachsehen«, sagte John und ging. »Geh doch mit ihm«, drängte Peter. John war gerade an der Treppe, als die beiden Gitarren hinter ihm wieder erklangen. Der fleischfarbene Wandanstrich oben auf der Galerie wurde von einem roten Buchregal durchbrochen, von einer Walnußkommode und von dem Rechteck des Bildes von Jo Jo. Es war sehr viel größer, als er erwartet hatte, und hing direkt über Peters schwarzbezogenem Bett. Wo er sie offensichtlich gebumst hatte. Und die andere auch, seine Exfrau. Das ließ sich denken. Diese Jo Jo war natürlich seine Exfreundin. Die, von der ihm Ray erzählt hatte. Die Nonverbale. Die Instinktive, aber trotzdem ganz Clevere. Die mit dem Riesenhintern. Und die Exfrau war eben eine Exfrau. Peter war ganz schön beschäftigt gewesen, während er im Gefängnis war. Nun ja, gut, immerhin acht Jahre, da läppert sich eben einiges zusammen. Das ist Zeit genug, um zu leben und sich das Leben zu versauen. Und es mit Jo Jo zu treiben: Wie oft wohl? Und wie viele andere noch haben hier oben geplappert und sind anschließend in diesem Bett gelandet? Er hob den Blick. Der Hintergrund des Bildes war kosmisch. Glatte schwarze Fläche mit weißen, eisigen Objekten darin. 286
Er hörte Schritte hinter sich und wußte, Jo Jo kam ihm samt ihrem nonverbalen, aber cleveren, prächtigen Hintern die Treppe rauf nach. Das letzte, was er auf dem Bild noch wahrnahm, waren zwei Menschenköpfe in diesem Lichtgebilde in der Mitte, das wie ein Schraubglas aussah oder wie eine Retorte. »Ich bin Jo Jo«, sagte sie. Er sah sie lange an. Es war, als schulde sie ihm etwas. »Wissen Sie Bescheid über mich?« »Inwiefern? Sie meinen, was passiert ist?« »Daß ich im Gefängnis war. Und grade erst raus bin.« »Ja, ja, Peter hat es mir erzählt. Ein Unfall, sagt er.« »Ich war betrunken.« »Er sagte so was, ja. Daß Sie getrunken hätten.« Er konnte deutlich wahrnehmen, daß das Tohuwabohu von Impulsen, die er aussendete, sie verwirrte. »Meine Mutter malt auch«, sagte er. »Tatsächlich?« »Ja. Sie hat angefangen damit, als ich im Gefängnis war.« »Ach was«, sagte sie und war nur scheinbar beeindruckt. »Ist ja interessant. Was malt sie denn?« »Acrylbilder.« »Das hier ist Öl.« Sie stand nun neben ihm, und sie starrten beide auf das Bild. »Sieht aus wie zwei Leute in einer Plastiktüte«, sagte er. »Weiß nicht.« Die nur wenigen Zentimeter Luft zwischen ihnen begannen zu zittern. Ihre bloße Nähe lenkte sein Blut um, als herrsche eine Dringlichkeit in seinen Lenden. »Der 287
Vater von dem Mädchen, das ich überfuhr«, sagte er, »kam heute nacht zu mir und drohte mich umzubringen.« »Was?« Als sie ihn dabei ansah, sah er sie in seiner Vorstellung auf dem Bett liegen und die Beine öffnen, um ihn aufzunehmen. »Vergangene Nacht«, sagte er. »Wie meinen Sie das, er kam zu Ihnen? Wohin kam er?« »Er drohte mich zu erschießen.« »Im Ernst?« »Ich glaube schon, daß es ihm ernst war.« »Aber ich denke, es war ein Unfall?« »Sie sind der einzige Mensch, dem ich es bis jetzt erzählt habe.« »Ich?« Sie sah ihn an, als habe sie gerade die interessanteste Geschichte ihres Lebens gehört, obwohl sie es wohl nicht ganz verstand. »Wieso? Warum rufen Sie nicht die Polizei?« Ich werde mich nicht mit der Polizei anlegen, dachte er. »Ich glaube, ich dachte, das sei romantisch«, sagte er. Sie ging zur Treppe, als verlange seine Bemerkung, sich zu versichern, daß niemand in der Nähe sei. »Und wieso wollen Sie romantisch sein?« Einen Augenblick lang hörte er noch die Stimmen von unten, dann vergaß er sie. Sie kam wieder zu ihm zurück. Klarer Fall. Peter war intellektuell. Und sie nonverbal. Und was war er? Ein Exsträfling. Jo Jos Gefängnisabenteuer. Er konnte das in ihrem Kopf laufende Band direkt hören. Und vielleicht konnte er ihr das Gefühl vermitteln, wie das ist. So ein Fressen aus zweiter Hand. Wie ein Wolf, der das Fleisch für seine Gefährtin vorkaut. Oder so wie eingeatmeter Zigarettenrauch von einem anderen. Für ihre geistige Fortbildung. In seiner Hose 288
rührte es sich schon, sie sah es. Acht Jahre im Bau, immerhin. Vielleicht dachte sie, so einem wie ihm ginge er nun sofort hoch und bliebe so eine ganze Woche lang. »Wie sind Sie denn zu der Narbe an Ihrem Kopf gekommen?« Das war eine gute Story, aber er wollte sie sich noch aufheben. Sie ihr erst später erzählen. Wie er zu brüllen angefangen hatte und nicht mehr aufhören konnte. Und der andere Sträfling neben ihm, der dann gesagt hatte: Hau dir den Schädel an die Wand. Aber sie insistierte: »Im Gefängnis?« »Ich wollte auf andere Gedanken kommen«, sagte er, »aber die wollten sich nicht einstellen.« Wenn sie jetzt nach unten sah, mußte sie das Spannen in seiner Hose bemerken. Sie sah nach unten. Sie knurrte verächtlich, aber das war mehr gegen sie selbst gerichtet, stieg auf das Bett und stand dort oben auf den Laken. Sie war mit ihren Augen auf Johns Nasenhöhe und drückte ihren Mund auf den seinen und teilte seine Lippen mit der süßen Weichheit ihrer Zunge. Dann wich sie zurück und sprang wieder auf den Boden. Sie blickte zu ihrem Bild hinauf, wie um sich an ein wenig Klugheit oder Geschichte darin zu erinnern. John wartete und setzte seine Chancen auf die eigene Nonverbalität. »Das ist schnell«, sagte sie. »Das geht zu schnell.« »Sie sind mit Peter ausgegangen, nicht?« Der Blick, mit dem sie ihn daraufhin ansah, hatte nichts Böswilliges, aber sie schien mit einem Schlag wachsam zu sein. »Er ist zu intellektuell«, sagte John. »Er ist ein toller Kerl, aber ich glaube nicht, daß er Ihrem Naturell 289
entspricht. Dem besten. Ich meine, Sie sind ja offensichtlich clever.« Seine Augen wanderten wieder zu dem Bild, und sie folgte seinem Blick. Sie starrte noch auf das dunkle Flugzeug mit den eisigen Insassen, während er seine Aufmerksamkeit bereits wieder ihr zuwandte. »Aber Sie sind, glaube ich, intuitiver. Instinktiver.« Sie drehte sich zu ihm herum und widmete ihm ihr durch die Betrachtung des Bildes erregtes, weiches, rezeptives Interesse. »Sie waren acht Jahre lang im Gefängnis?« Es war ein Zustand, über den er mehr wußte. »Ich habe einen Menschen getötet«, sagt er. Das bewirkte etwas in ihr: daß er es einfach so sagte. Sie versuchte sich ein Bild von ihm zu machen. Wie man an ihn herankommen könne in seinem kaputten Zustand. Sie spielte mit seinen Haarspitzen. »Ich werde Ihnen meine Telefonnummer geben«, sagte sie. Sie holte einen Füller aus der Kommode und schrieb sie auf einen Zeitungsrand. Sie schrieb sorgfältig und blickte dann zu ihm hoch und sagte: »Und Sie rufen mich an, ja?« Unten vermischten die beiden Gitarren ihre Töne. Sie waren wild geworden und außer Kontrolle geraten. »Halt still«, sang Peter immer noch. Jo Jo huschte die Treppe hinab, ihre Hand rutschte am Geländer mit, und John ließ sie keine Sekunde aus den Augen. Aber du hast es doch versprochen. Du hast versprochen, daß du dich von Daddy umbringen läßt, wenn er es möchte, sagte Emily. Du hast es doch versprochen. Er wandte sich wieder dem Bild zu und suchte es ab, wie es Jo Jo getan hatte. Als könne es ihm seine Fragen 290
beantworten. Manche Mädchen sind tot, dachte er. Und manche nicht. Er griff sich die Zeitung und ging zum Treppengeländer. Jo Jo stand unten bei Peter mit ihrer Hand in seinem Haar. Er sah sie beide lange an, bis er sich endlich sicher war. Und sie tätschelte ihn wie einen Hund.
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21. KAPITEL Sich nichts draus zu machen, besaß eine erdenschwere Attraktion, fand Freddy, als ihn Nicky Blairs Restaurant in sich einsog. Der Anblick, der sich ihm bot, war die dort übliche Versammlung von Hollywood-Gesocks in ihren vor allem teuren Klamotten. Designerhemden und krawatten. Rolexuhren. Und die silikoninjizierten Weiber dazu. Der ganze Kokolores. Getue und glänzende Haut und Alkohol und die sogenannten Gedichte irgendeines angeblich berühmten Kochs, der seine Phantasie austobte. Er war nicht allein. Er hatte Verna, Tanja und Jennifer bei sich, drei Stripperinnen aus dem Club. Zwei irre schwarze Girls und eine kühle Weiße, und alle drei plapperten zwei Schritte hinter ihm wie High-SchoolGirls. Nicky Blair höchstpersönlich hielt sich – dunkler Seidenzweireiher, damit seine vierschrötige Figur etwas Eleganz bekam – bei seinen Bargästen auf. Ein Wort hier, ein Augenzwinkern dort, ein schmeichelndes Kneifen … Als er seinen Blick einmal kurz hob wie ein Raubvogel, der seine Beute mustert, entdeckte er Freddy, zog die Brauen zusammen und beugte sich dann zu einer Frau im schwarzen Kleid neben ihm. »Er fragt«, flüsterte Freddy Verna zu, »wer, zum Teufel, ich bin.« Die Frau warf ihm einen schnellen Blick zu, schenkte ihm ein übertriebenes Lächeln und ging sichtlich im Geiste im Eiltempo das Adressenregister durch, das ihr Nicky Blair eingetrichtert hatte. Dann beugte sie sich ihrerseits zu ihm und flüsterte ihm etwas zu, und Nicky fuhr hoch, kam herbeigeeilt und floß über vor 292
Begrüßungsfreude und Erleichterung, daß Freddy am Ende doch noch gekommen sei. »Mr. Gale! Wie schön, Sie wieder mal zu sehen. Sie müssen entschuldigen, aber ich habe seit Ihrem Anruf alle Hände voll zu tun gehabt, und es war einfach unmöglich, Ihnen die gewünschte Nische zu reservieren. Wie Sie sehen, ist das heute abend hier das reinste Tollhaus. Aber ich habe einen anderen schönen Tisch für Sie bei der Bar. Wenn Sie mir folgen möchten.« Freddy überflog seinen kleinen Harem auf dem Weg. Tanja und Jennifer plusterten sich in ihren Glitzerkleidern und den großen Glasohrringen auf, Verna gab sich hingegen dezent und zugehe ihre Begeisterung, um nicht für naiv gehalten zu werden. »Ich schicke Ihnen sofort den Ober«, versicherte Nicky Blair, während er wartete, bis sie saßen, ehe er sich wieder zurückzog. Er hatte ihnen eine Ecke mit dunklem Leder und Kerzenlicht zugewiesen. »Schöner Tisch, nicht?« sagte Freddy. »Was? Guter Tisch!« »Ganz schön«, sagte Verna. »Annehmbar«, meinte Jennifer. Und Tanja gab auch ihren Kommentar ab. »Man sieht die Bar gut von hier aus.« Der Ober, weißes Hemd, schwarze Hose, war schlank, Ende Zwanzig und eifrig. Er schwebte dienstfertig und beflissen herbei. »Was darf ich Ihnen zu trinken bringen?« »Einen Blow Job«, sagte Jennifer. Tanja legte zuerst den Finger ans Kinn, ehe sie ebenfalls sagte: »Blow Job.« 293
»Vern?« fragte Freddy und hoffte, sie werde sich anschließen. »Was nimmst du denn, Freddy?« »Einen kleinen Wodka, denke ich.« »Dann für mich das gleiche wie er«, erklärte sie dem Ober. »Also dann zwei Blow Job«, faßte Freddy zusammen, »und zwei Absolut on the rocks.« »Kommt sofort«, versicherte der Kellner und verteilte noch Speisenkarten, ehe er sich zurückzog. »Ich habe immer Whiskey getrunken«, sagte Freddy, »aber der scheint mich betrunken zu machen.« »Tatsächlich?« »Und da dachte ich mir, ich wechsle einfach mal zu Wodka.« »Das ist klug«, meinte Tanja. »Obwohl es ja manchmal darauf ankommt, betrunken zu werden, nicht?« »Da ist was dran«, sagte Freddy. »Solche Momente gibt’s.« »Du hättest gestern abend bei uns sein müssen«, teilte Jennifer mit. »Da waren wir vielleicht hinüber!« »Wirklich, Schätzchen, hättest dabeisein müssen«, bestätigte auch Tanja und tätschelte ihm das Bein. »Und wenn ich dabeigewesen wäre?« fragte Freddy. »Wo wart ihr denn?« »In unserer Wohnung, haben Fernsehen geguckt. Und dann haben wir drei Stunden lang die Wohnung saubergemacht.« »Mindestens.« »Das ist aber eine ganze Menge«, meinte Freddy. »Ich hätte vorbeikommen sollen.« 294
»Quäl dich nicht, Schätzchen. Wir waren mächtig wild, das hast du verpaßt.« Als die Getränke kamen, hielt Freddy den Ober zurück, indem er ihn anfaßte wie eine Marionette, deren Fäden er hielt. Er setzte seinen Wodka an den Mund, als sei er Wein, den er probieren müsse, ehe er ihn für in Ordnung erklärte, nippte zuerst und kippte ihn dann hinunter. Tanja und Jennifer kicherten albern, während Freddy aufstöhnte und sich schüttelte und den Ober anstrahlte: »Gleich noch eine Runde!« »Bitte sehr.« Nachdem der Ablauf auf diese Weise erst einmal eingeläutet war, gab es keine weiteren Schwierigkeiten mehr damit, daß der Ober automatisch jede Viertelstunde mit einer Runde Drinks ankam und die leeren Gläser und Reste der vorigen Runde wegräumte. Die Mädchen begannen sich über die umsitzenden Männer auszulassen, hielten gar nicht mehr auf ihren Ruf aus dem Calypso Club und machten sie als wertlosen Haufen herunter – Freddy selbstverständlich ausgenommen. Ihn tätschelten sie liebevoll. Obwohl es ihm total egal war, was sie dachten oder nicht. Er knabberte Salzstangen und wußte längst nicht mehr, wie viele Wodkas er inzwischen intus hatte. Verna inhalierte Zigarettenrauch, und ihr blasser Ausschnittspalt wölbte sich dabei auf im scharfen Kontrast zu ihrem roten Kleid. Tanja nuckelte an einem Eiswürfel, und Jennifer war über ihr leeres Glas gebeugt und erforschte dessen Innenseite mit ihrer Zungenspitze. Er überlegte sich, ob Emily wohl auch so geworden wäre wie diese Mädchen da, falls sie noch lebte. Wie diese dämlichen Luder an seinem Tisch. Wäre sie etwa auch zu so einer Schlampe herangewachsen? Er versuchte sie auf eine gewisse neuartige Weise zu betrachten, wie er es noch nie verspürt hatte. Als wären sie Emily. Oder einfach 295
nur fremd. Aber alles, was er sah, waren ihre dunklen Haare, wellig oder lockig, ihre Glitzerklamotten und ihr falscher Schmuck. Und alles, was er hörte, war ihr Geschnatter. Und er spürte, wie seine Augen heiß wurden und etwas in seiner Kehle zu flattern begann und wie ihn eine verborgene Traurigkeit erfüllte. Er wollte ihnen erzählen, was ihm widerfahren war. Er fühlte sich ignoriert, aber andererseits konnte er ihnen auch nicht gut einen Vorwurf machen, wenn sie gar nicht wußten, was los war. Wenn alles Wichtige und seine ganze Seele ein Geheimnis blieb. »Ich möchte mal ein Thema zur Sprache bringen«, sagte er. »Nämlich Gerechtigkeit.« Der Ober unterbrach ihn. Er brachte das Essen. Es war verlockend auf großen weißen Tellern angerichtet. Schwertfischsteaks, Jungtaube und ein Rindersteak. Freddy wußte nicht mehr, wer was bekam. Er sah es nur herumschwirren und wartete auf sein eigenes Steak. »Gerechtigkeit?« sagte Tanja. »Klar, ich bin dafür.« »Hat er das gesagt?« »Angefangen.« »Wo ist das Salz? Wer hat das Salz?« »Still!« sagte Verna, als habe sie ein besonderes Interesse an Freddys Ideen. »Also, da ist ein schlechter Mensch«, sagte Freddy. »Er macht schlimme Sachen. Und dann gibt es einen guten Menschen, und der macht auf einmal einen Fehler. So, und was ist nun Gerechtigkeit? Was den schlechten Menschen betrifft, ist es einfach. Weg mit ihm. Aber der gute?« »Her mit ihm«, sagte Jennifer. Tanja schob sich genüßlich ihr Glas zwischen die Lippen 296
und saugte daran. »Na, also was ist mit dem Guten?« wollte Verna wissen. »Er redet doch philosophisch, Verna!« sagte Jennifer tadelnd. »Und philosophisch sagt man doch nicht: Was ist mit dem?« »Na, ich hab nicht richtig verstanden, was er gesagt hat.« »Er probt auf den Tod«, sagte Tanja. »Darum geht doch die ganze Philosophie nur.« »Was?« »Probe für den Tod.« »Einfach nur eine Probe für den Tod«, nickte Jennifer. »Ihr beide seid zynische Luder«, sagte Freddy. »Generische Luder!« sagte Verna mit angewidert verzogenem Mund. Und Tanja und Jennifer machten unisono: »Oh, oh, oh!« Als hätten sie es einstudiert. Als würden ihre Gefühle häufig zugleich verletzt. »Oh, oh, oh!« »Sie will dich haben, Blödian«, sagte Tanja und zeigte auf Verna. »Paß lieber auf. Verna ist hinter dir her, Freddy. Das mag gut sein oder schlecht, aber falsch ist es nicht.« »Weil es die Wahrheit ist.« Verna verdrehte die Augen und zeigte mit dem Zeigefinger auf die anderen beiden Frauen. »Euch puste ich doch weg wie schlechte Luft, euch zwei«, sagte sie. »Ruhe, Ruhe«, griff Freddy ein. »Seid friedlich. Was ich sagen wollte, müßte schon ein wenig ernsthafter …« »Siehst du den orangen Büffel da?« fragte Jennifer. »Den was?« 297
»Den orangen Büffel! Siehst du ihn?« Freddy war verärgert, da sie kein ernsthaftes Interesse an seinen komplizierten Gedanken zeigten. Er wandte den Blick von Jennifer ab und fand, eigentlich müßte er aufstehen und einfach weggehen, verdammt. Raus hier. Aber als sein Auge dann auf einen rothaarigen Kerl an der Bar fiel, zählte er zwei und zwei zusammen und fragte sich, ob der mit dem orangen Büffel gemeint sei. In den wenigen Augenblicken, die er ihn anstarrte, bemerkte der andere dies und sah zu ihm herüber. Sein käsiger Teint, sein Stiernacken und das zweitklassige Lächeln waren noch widerlicher, als Freddy merkte, daß er sein flüchtiges Interesse an ihm mißverstand. »Ja, jetzt sehe ich ihn«, sagte Tanja. »Und was hast du gemacht, als du ihn gesehen hast?« wollte Jennifer wissen. Der Mann trug einen schwarzen Anzug mit offenem Hemd. Das richtige Ensemble für eine tolle SwingerNacht, wenn sie unterwegs sind und Alternativen zu ihrem langweiligen Leben suchen. »Ich hab gefragt, was du gemacht hast, als du ihn gesehen hast«, beharrte Jennifer. »Ich hab ihm eine auf den Pelz geknallt«, sagte Tanja. Die Mädchen kicherten. Verna kuschelte sich an Freddy und versuchte ihm dadurch zu zeigen, daß sie nicht so albern war wie die beiden anderen, die man einfach im Kindergarten lassen sollte. Freddy aber dachte wieder darüber nach, wie wohl eine erwachsene Emily sich in einer Situation wie dieser verhalten hätte, und starrte den dämlichen orangen Büffel an der Bar an. Er wollte vor ihm damit protzen, was er am Tisch hatte, eine große Show mit seiner Herde veranstalten und ihm zeigen, was für ein Würstchen er sei. 298
»Wo hattest du die Pistole her?« fragte Jennifer. »Von da, wo du den orangen Büffel her hast«, sagte Tanja. Daraufhin vermochten Tanja und Jennifer ihre hysterische Heiterkeit nicht länger zu beherrschen. Freddy riskierte noch einen Blick auf den orangen Büffel an der Bar, der mit seinem streitsüchtigen Blick immer noch glaubte, ihren Kontakt zu vertiefen. Seine Oberlippe ging hoch und zeigte seine Zähne in einer Geste geheuchelter Kameraderie. Er hob sein Glas zur stummen, verständnisinnigen Feier eines soeben zwischen ihnen geknüpften innigen Bandes. »Ich hoffe«, sagte Freddy zu Tanja, »du hast das Schießeisen immer noch.« Aus dem Augenwinkel sah er, wie der orange Büffel vom Barhocker rutschte und sich auf den Weg zu ihnen machte. »Weil wir nämlich gleich einen echten orangen Büffel von links kriegen.« Ehe die drei Mädchen begriffen hatten, wovon Freddy sprach, blickte der orange Büffel bereits an ihrem Tisch dreist auf sie herab. »Die Damen«, sagte er, »scheinen sich prächtig zu amüsieren.« Er hatte eine unseriöse Stimme, und seine Augen wanderten über sein Publikum hin auf der Suche nach Zustimmung. »Sie sind ein komischer Kerl«, sagte er zu Freddy. »Ich bin ein Unruhestifter. Hauen Sie ab.« »Mein Gott, was habe ich denn getan? Ich mache nur ein wenig Spaß.« »Machen Sie woanders Spaß, Mann. Los, gehen Sie jetzt.« »Freddy!« mahnte Verna und drückte seine Hand. »Was ist mit Ihnen los, Kumpel?« fragte der orange 299
Büffel. »Er mag keine orangen Büffel«, sagte Verna. »Was mit mir los ist?« knurrte Freddy. »Daß ich dir gleich deinen blöden Schädel einschlage, das ist los.« Der orange Büffel hatte Jennifer am Handgelenk gefaßt. »Ist das ein Blow Job, was Sie da trinken?« fragte er. Tanja und Jennifer kicherten wieder. Aber als Freddy auf der anderen Tischseite aufsprang, hörten sie sofort auf. Sein Knie schlug an die Tischkante, Teller und Gläser fielen um. Er stand auf seinem Stuhl und sprang in der nächsten Sekunde über den Tisch. Er fühlte sich befreit und verrückt zugleich. Er stieß mit Schultern und Kopf gegen den Mann und schrie: »He, Moment mal!« Aber da fielen sie schon beide auf den Teppich am Boden, Freddy über ihm. Die Mädchen kreischten, aber den Aufruhr ringsum an den Tischen nahm er nur wie ein fernes Summen wahr. Mit der linken Hand hatte er sich ein rotes Haarbüschel gekrallt und hielt den Kopf des anderen so fest, daß er mit der Rechten zuschlagen konnte. Doch der orange Büffel hielt nicht einfach ergeben still. Er knurrte und wand sich wie ein Tier und schüttelte Freddy ab, der nach irgend etwas griff und eine Gabel zu fassen bekam und damit auf die Augen des anderen zustach. Doch dann stoppte ihn jemand. Wer es auch war, er war stark und kräftig. Nein, es war nicht nur einer, es waren drei oder vier. Da lag er bereits draußen. Wie einen Müllsack hatten sie ihn weggezerrt, der Rausschmeißer des Lokals und drei Gäste. Und sie hielten ihn noch immer drohend in Schach. Sie machten Witze und putzten sich die Anzüge ab. Verna wollte sich zu ihm setzen, aber sie ließen sie nicht, also wich sie vorsichtig und unter Tränen zurück. Die Männer verwickelten sich in Diskussionen darüber, in die sie ihn sogar einzubeziehen versuchten, 300
wer mit dem Streit angefangen und was ein jeder von ihnen zu seiner Beendigung beigetragen habe. Freddy war an der Diskussion nicht interessiert. Die Nachtluft war kühl, und er verbrannte an dem Feuer, das in ihm loderte. Es war wie ein Fieber, über das er mit niemandem zu sprechen wagte, am wenigsten mit den Bullen, die bereits mit ihrem Drehlicht auf dem Autodach ankamen. Nicky Blair begrüßte die beiden Polizisten, die sich aus ihrem Wagen wanden, als seien sie Gäste, nach denen er sich heftig gesehnt habe. Er schüttelte ihnen die Hand, faßte sie am Ellenbogen und erfragte ihre Namen. Dann erst deutete er mit einer Geste unerklärlicher tiefster Vertrauensverletzung auf Freddy, der inzwischen auf einem kopfstehenden Abfalleimer saß. Die beiden Polizisten kamen im kalten militärischen Gleichschritt wie ein Mann auf ihn zu, forderten ihn auf, sich umzudrehen und die Hände hinter den Kopf zu legen. Nicky Blair stand dabei, und seine tötenden Blicke gaben seiner grenzenlosen Enttäuschung Ausdruck. Eine Handschelle klickte, darauf wurden ihm die Arme nach unten und nach hinten auf den Rücken gedrückt, und die zweite Handschelle schnappte zu. Sie führten ihn zu ihrem Wagen und schoben ihn hinten hinein und schlugen die Tür zu. Da saß er nun hinter Glas und Metall, isoliert von allem und allen, und die Tränen kamen ihm. So, dachte er, jetzt kommen wir der Sache schon näher. Die beiden Polizisten gingen vor dem Lokal von Gruppe zu Gruppe und befragten die Leute und unterhielten sich mit den Mädchen, die ihm ihrerseits Blicke voller Loyalität und Ermutigung zuwarfen, sobald sie sich sicher glaubten, daß es niemand sah. Was ihn selbst betraf, so hatte er das Gefühl, ein großer, aber überflüssiger Teil seines Gehirns sei ihm abhanden gekommen. Oder habe jedenfalls eine 301
Novocain-Injektion erhalten Was noch an klar denkendem Verstand übrig war, wiederholte permanent den Satz: Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Er konnte im Augenblick allerdings nicht feststellen, was denn aus dem fehlenden Teil seines Gehirns geworden war, und dieser Anflug von Amnesie hörte auch nicht auf, als die beiden Cops endlich kamen und ihm eröffneten, daß er wegen Angriffs mit einer tödlichen Waffe vorläufig festgenommen sei, nämlich der Gabel. Als sie wegfuhren, hatte er kein Interesse daran, zu denen, die er zurückließ, zu blicken. Er hoffte vielmehr, überhaupt alles hinter sich lassen zu können. Genau das wünschte er sich. Wenn es möglich wäre. Denn das einzig wirklich Interessante lag nicht hinter ihm, sondern vor ihm. Auf dem Revier des Sheriffs von West Hollywood wurde er registriert. Man nahm ihm Gürtel und Schnürsenkel ab und alle persönlichen Sachen, die er bei sich trug: Armbanduhr, Brieftasche, Schlüssel, Kleingeld, Goldkettchen, und alles kam in eine Plastiktüte. Dann wurde er fotografiert, und die Fingerabdrücke wurden ihm abgenommen. Er starrte auf seinen Daumen und dann auf jeden einzelnen Finger, wie sie bereitwillig Geheimnisvolles über ihn erzählten und wie nun seine landkartenartige Identität auf einem Karteiblatt in schwarzer Farbe verewigt war, und er dachte: So sieht die Praxis aus. Ordentliche Praxis. Auf die Art gewöhne ich mich daran. Er wehrte sich gegen die Anschuldigung des Angriffs mit einer tödlichen Waffe und rief Jeffrey an, die tausend Dollar zu beschaffen und herzubringen, die als Kaution festgesetzt worden waren. Er mußte in der Arrestzelle darauf warten. Sie kam ihm vor wie ein Großtierkäfig im Zoo. Die anderen zehn Mitinsassen waren alle genauso 302
vakuumverpackt wie er, jeder in seiner eigenen Röhre, ein flüsterndes Paar auf der Bank allenfalls ausgenommen. Er verstand es, seinerseits ein Isolierungsnetz über sich zu werfen. Er versuchte sich rasch an die Situation zu gewöhnen und anzupassen, schätzte die Anonymität der anderen ab und stand in einer Ecke mit dem Rücken zur Wand, bis ein verkotzt riechender Bursche mit struppigem Bart seinen Blick suchte. Freddy starrte zurück, bis es unheimlich wurde. Als blicke man unter einen Komposthaufen, wo sich krabbelndes Leben tummelt, um von dem Gewimmel die Tricks zu lernen, wie man selbst überlebt. Als Jeffrey endlich mit dem Geld kam, starrte Freddy längst wieder die Wand an. Es war ihm, als habe er einen Zustand erreicht, der ihn von den normalen Beziehungen des Lebens absonderte. Die Vergangenheit entglitt ihm ein wenig wie die Sorgen schon lange toter historischer Personen, die freilich selbst zu ihren besten Zeiten auch nur vergleichsweise bescheidene Rollen spielten. Er ging, Jacke, Krawatte und Gürtel in der Hand, zur Sicherungstür, blieb davor stehen und wartete darauf, daß der Summton kam, mit dem sie sich öffnete. Ein kleines viereckiges Fenster war in ihr, durch das man draußen den Flur sehen konnte. Dort wartete Jeffrey zusammen mit seinem blonden Freund. Sie hatten alle beide Tanktops und zugebundene Ballonhosen an und saßen brav auf einer Bank in der Ecke. Der Blonde rieb an Jeffreys Füßen. Auf einer anderen Bank schliefen Jennifer und Tanja und sahen aus wie ein Resthäufchen Abfall von einer Glitzerparty. Etwas weiter weg von ihnen stand Verna am Münztelefon an der Ziegelmauer und sprach in den Hörer. Mit einem automatischen Geräusch öffnete sich die Tür, und er ging nach draußen. Jennifer und Tanja bewegten sich und versuchten sich hochzurappeln. Verna schickte 303
ihm einen innigen Blick, während sie auf ihr Telefon deutete, als sei sie diejenige, die sich zu entschuldigen habe. Im Näherkommen hörte er, was sie sagte. »Ich weiß, Angie, Schätzchen, und es tut mir ja auch leid. Aber geh jetzt einfach wieder schlafen, wie Kerry sagt, ja? Und sag Kerry, daß ich gesagt habe, es gibt keinen Grund zur Sorge. Weil ich rechtzeitig daheim sein werde, so daß genug Zeit bleibt, sie heimzufahren, damit sie sich für die Schule anziehen kann. Was? Nein, nein. Ja, vielleicht.« Sie sprach mit ihrer Tochter. »Okay, Angie, Schätzchen, gib mir jetzt Kerry. Nein. Nein, nein, das bedeutet nicht, daß ich sie mehr liebe als dich. Sie ist unser Babysitter. Liebst du sie denn nicht? Na also, siehst du? Was? Angie, Schätzchen, das ist nicht … Nein, nein.« Freddy stand längst neben ihr. Sie blickte ihn an, und ihr Gesicht sagte: Ach Gott, was noch alles! »Oh, Kerry. Hallo. Tut mir leid. Nein, nein, ich hab deine Mom schon angerufen. Also, geht jetzt einfach wieder ins Bett und laß Angie bei dir schlafen, wenn sie will. Ja, ich weiß. Ich weiß. Aber ich meine – sieh es doch mal so –, du wirst doch immerhin nach Stunden bezahlt.« Sie hängte ein und wandte sich schnarrend und mitfühlend an ihn. »Geht es dir auch gut, Schätzchen?« »Sehen wir zu, daß wir von hier wegkommen«, sagte Tanja. Verna wollte ihn küssen, und er ließ sie. Sie drückte ihm die Lippen auf die Wange, aber seine Haut war empfindlich. Ihre Berührung schmerzte fast. »Tut mir leid. Offenbar bin ich da verletzt.« 304
22. KAPITEL Stuart hatte einen Alptraum. John war hinter ihm her. Er verfolgte ihn von einem Raum zum anderen. Im einen Augenblick war er ein normaler Erwachsener und im nächsten ohne ersichtlichen Grund ein fremdartiger Riese. Er begab sich in einen Raum, und wenn Stuart in einen anderen ging, weil er glaubte, dort sicher zu sein, war John bereits da – nun als Baby, auf einem Bett, in eine Decke gewickelt. Und er wollte von ihm wissen, was das Schlimmste gewesen sei, das er in seinem Leben gemacht habe. Aber was war das? Hatte er denn je etwas Schlimmes getan: etwas so Schlimmes wie John und wie Hitler? Hatte er jemals etwas so Schreckliches getan wie Hitler? Er ging in die Küche, aber dort fand er nicht seinen Kühlschrank vor und nicht seine Löffel, und aus dem Spiegel sah ihm nicht er selbst entgegen, sondern Hitler. Aber er war doch gar nicht Hitler. Er war jemand anderer. Nur so schlimm wie Hitler war er. Dann kam im Küchenausguß aus dem Abflußrohr John herauf und sagte ihm, er, John, habe etwas Schreckliches getan, und er fürchte, die Ursache dafür läge in seinen Genen. Daß es also eine ererbte Neigung sei, so etwas Schreckliches und Unverzeihliches getan zu haben. Und deswegen frage er. Er müsse die Antwort darauf wissen, ob denn er, Stuart, jemals jemanden getötet habe. Weil er, John, das ja getan hatte. Und dann verschwand John wieder im Abfluß des Ausgusses und ließ das Wasser weiterlaufen. Davon trank er, Stuart, und das Wasser war die Wahrheit, und während er es trank, wußte er auch, daß er John die Wahrheit sagen mußte, der aber nun wieder fort war. Und im Spiegel war 305
inzwischen gar kein Bild mehr. Die Antwort auf Johns Frage hatte er jedoch gesehen. Die Antwort lautete: Er hatte John geschlagen. Er hatte ihn einmal bei irgendeiner dummen Kleinigkeit erwischt – John hatte versucht, das Hundefutter zu essen, das war noch oben in Seattle, und er war ohnehin zornig wegen Helen gewesen, weil er sie nicht finden konnte und nicht wußte, wo sie war – und da hatte er seine Wut an John ausgelassen. Hatte ihn auf den Boden gedrückt und links und rechts geohrfeigt und ihm sogar Fausthiebe verpaßt und hätte ihn am liebsten umgebracht. Er sagte: John? John, ich weiß schon, was ich getan habe damals. Wo bist du denn, John? John? Er blickte in den Ausguß und in den Abfluß selbst und auch noch in den Spiegel, aber nirgends war John. John? Ich möchte dir deine Frage beantworten. Ich habe dich damals tatsächlich umbringen wollen. Das habe ich gewollt, ja. Ich wollte, daß du tot wärst. Und ich explodierte in dem Augenblick fast in Flammen. Als er John nirgends finden konnte, nicht im Keller, nicht im Ausguß, nicht im Werkzeugkasten und auch nicht im Wohnwagen draußen – der war sowieso verschwunden, auch seine Schuhe waren weg –, fing er an, nach Helen zu suchen, aber auch sie konnte er nicht finden. Helen aber suchte inzwischen, während er träumte, nach einem Grün, das sie schon fast ihr Leben lang verfolgte, obwohl sie bisher nie direkt daran gedacht hatte. Doch jetzt, da sie es für den exakten Farbton der Fichten und Kiefern und Zedern um das Haus ihrer Großmutter in Wellsbury am Ostrand von Seattle, wo sie aufgewachsen war, benötigte, fühlte sie sich davon verfolgt. Sie hatte sich zu eigen gemacht, was ihr Lehrer ihr gesagt hatte: sich nur der ihr ganz persönlich zusagenden und entsprechenden Farbpalette zu bedienen. Also hatte sie 306
ihre Farbkarte und ihr Farbenbuch. Und suchte und verglich und probierte und überlegte. Und sie dachte: Grandma. Und sah ein Fenster mit gerafften weißen Vorhängen. Der Wald um das Haus herum war eine dichte, grüne Befestigung. Grandma. Eine blaue Schürze mit eingesticktem Apfel. Es war fast zwei Uhr nachts. John war noch immer nicht zurück. Sie blickte in die Nacht hinaus durch das nächste Fenster über der Anrichte und merkte, wie das letzte Restchen Energie sie verließ. Seine Abwesenheit war schwer erträglich. Sie schraubte die offenen Farbtuben zu und schaltete das Licht aus. Ihr unvollendeter Baum versank in der Dunkelheit. Sie war froh, ihn los zu sein. Im Wohnzimmer schnarchte Stuart auf der Couch vor dem Fernseher, dessen Ton ganz leise gestellt war. Ein rotes Auto zitterte auf einer kurvenreichen Straße über den Bildschirm. Sie blieb stehen und überlegte kurz, ob sie ihn aufwecken sollte. Doch dann mußte sie mit ihm reden. Sie war noch nicht müde genug fürs Bett, und alles, worüber sie dann reden würde, wäre John. Und dabei würden sie sich dann alle beide in Rage reden. Sie ließ den Fernseher weiterlaufen, weil er wohl nur aufwachen würde, wenn sie ihn ausschaltete. Irgendwie erinnerte sie dies alles hier an jene Zeit einst oben in Seattle, als sie immer spät heimlich ins Haus zurückschlich, damals während ihrer jahrelangen Affäre mit Mac Toland, ebenjenem Mann auf ihrem Bild an der Wand, unter dem Stuart schlief. Der Mann auf dem Stuhl mit dem Schnurrbart und mit dem Teller mit Zwiebelkuchen auf dem Schoß. Hitler, dachte sie und kicherte lautlos kopfschüttelnd in sich hinein. Sie ging in die Küche, holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und rauchte in der offenen Hintertür eine Zigarette. Heute morgen, als sie alle drei vor dem Bild 307
gestanden waren und Mac angesehen hatten und jeder seine Meinung dazu sagte, wer der Mann wohl sei und wie er aussehe, hatte sie das ganze Elend von damals wieder verspürt, als sie dauernd Angst gehabt hatte, alles werde entdeckt. Sie blies den Rauch durch die Gittertür nach draußen und sah ihm nach, wie er ostwärts davontrieb, hinüber zum Wohnwagen und dem ersten Jakarandabaum. Damals in jenem verrückten Jahr hatte sie eine Menge Motelzimmer von innen gesehen, pausenlos am Rand des Durchdrehens und Ausflippens. Jedes Wort eine Lüge, jeder Atemzug eine Lüge. Nur noch auf Zehenspitzen war sie über das dünne Eis ihres Lebens balanciert, immer entschlossen, endlich zu einem Entschluß darüber zu kommen, was sie denn nun wirklich wollte und wen sie nun liebte und was diese Liebe überhaupt sei. Und ob sie nun Stuart und John, der damals ja noch ein Baby war, tatsächlich davonlaufen sollte. Immer den Gedanken im Kopf, schon wirklich mit Mac auf und davon gehen zu wollen. Aber gleichzeitig auch das Gefühl der Beschämung: wie sie auch nur in Betracht ziehen konnte, ihren kleinen Jungen einfach zu verlassen. Jede Stunde an jedem Tag dachte sie darüber nach, weil sie an nichts anderes mehr denken konnte als an Mac, der sie auf eine wilde, sinnliche Weise sich selbst entfremdet hatte, wie sie es mit Stuart nie erlebt hatte. Als sei Sex etwas Magisches, das einen verändern konnte. Alle diese Gefühlsstürme von Lebendigkeit und Verlangen ein einziger wolkiger, unscharfer Taumel – Mac war der wirkliche Grund gewesen, warum sie damals einverstanden gewesen war, von Seattle nach Los Angeles umzuziehen, als Stuart damit angekommen war. Um von Mac weg- und loszukommen. Wirkliche, auch räumliche Distanz zu ihm und zu ihrer unstillbaren Gier zu bekommen, ständig in 308
diese Motelzimmer zu rennen, wo er auf sie wartete. Nur Entfernung konnte diese Gefühle einschläfern. Sie hatte ihn tatsächlich nie mehr gesehen seit ihrem Umzug. Es hatte zwar einige verzweifelte Telefongespräche und Nächte gegeben, aber sonst nichts mehr. Sie erinnerte sich an das letzte Telefonat. Wie sie geflüstert hatte, daß sie nicht reden könne. Etwas später hatten sie dann dieses Haus hier gekauft. Und John war inzwischen ein erwachsener Mann, der bereits jahrelang im Gefängnis gesessen hatte und mittlerweile wieder heraus war. Und Stuart war seit einem Jahr pensioniert und schlief in Gesellschaft des Fernsehers auf der Couch. Hätte es diese Affäre nicht gegeben, wäre auch alles andere nicht gekommen. Jedenfalls nicht so, wie es kam. Denn dann hätte sie auch niemals zugestimmt, die Wälder um Seattle zu verlassen und dieses wunderschöne, herzzerreißende Grün um Grandmas Haus herum, nach dem sie jetzt auf ihrer Palette suchte. Und was wäre dann gewesen? Wie wäre es dann gekommen? John wäre niemals ins Gefängnis gewandert, das stand fest. Wo wären sie dann jetzt alle? Natürlich wäre sie so alt wie jetzt. Daran war nichts zu ändern. Aber John, wo stünde der? Und das kleine überfahrene Mädchen? Diese arme kleine Emily Gale? Hätte sie, Helen, sich nicht so blind in Mac Toland verliebt, dann wäre es ihr auch nicht so unmöglich gewesen, ihm zu widerstehen. Und sie hätte nicht am Ende sogar vor ihm flüchten müssen. Wäre dieses kleine Mädchen denn jetzt noch am Leben? Oder einfach nur von irgendeinem anderen überfahren worden? Sie machte die Gittertür auf und schnippte den Zigarettenstummel hinaus ins Gras. Sie konnte den Frühtau riechen und die Nachtkerzen und das Johanniskraut und die Tigerlilien in den Beeten draußen. 309
Sie starrte durch eine Lücke in den Fichtenwipfeln hinauf in das kleine sichtbare Stück sternenlosen Himmels. Angesichts ihrer Fülle von Gedanken machte es ihr nichts weiter aus, daß sie in ihre Einsamkeit eingebrochen waren. Ihr nächtliches Grübeln hier war ihr zur lebendigen Gegenwart geworden. Wenn es auch eigentlich, dachte sie, nichts weiter war als ihre Vergangenheit. Dann aber wurde ihr klar, daß ihre plötzlichen Empfindungen körperlich und direkt waren. Sie fuhr herum. Sie wäre, wenn nicht auf Stuart, auch auf einen Einbrecher gefaßt gewesen. Aber der Schatten in der Tür war eindeutig John. »Entschuldige, Mom«, sagte John. »Habe ich dich erschreckt? Ich wußte nicht, wie ich mich verhalten sollte, aber es war mir klar, daß ich dich so und so erschrecken würde, was ich auch täte.« »Wie lange stehst du denn da schon?« »Was machst du da, Mom, mitten in der Nacht im Dunkeln an der Tür?« »Gedankenverloren, wie man so sagt. Weißt du, je älter ich werde, desto mehr verstehe ich, was damit gemeint ist. Verloren. Man verliert sich. So wie Dinge verlorengehen.« »Soll ich Licht machen?« »Wozu denn? Zum Denken oder Reden braucht man kein Licht. Oder willst du etwas? Möchtest du etwas essen?« »Nein, nein.« Er kam einen Schritt näher und stand mit dem Oberkörper im Mondschein. »Ich habe Dad auf der Couch gesehen«, sagte er. »Ich dachte, du bist im Bett. Ich wollte mir nur einen Schluck Wasser holen und dann auch Schlafengehen.« »Du wolltest doch eigentlich viel früher zurück sein?« Er ging an ihr vorbei zum Ausguß und drehte den Hahn 310
auf. »Wie spät ist es denn?« »Viertel nach zwei. Möchtest du Eis in dein Wasser?« »Tut mir leid, daß ich nicht angerufen habe. Ich wollte, ja, aber dann wurde es so spät. Ich habe wirklich nicht geglaubt, daß du noch auf bist.« »Aber natürlich waren wir auf. Wo du doch grade nach Jahren wieder zu Hause bist. Da wollen wir doch etwas von dir haben. Konntest du dir denn nicht denken, daß wir uns Sorgen machen?« Sie trank aus ihrer Bierflasche, obwohl sie längst leer war. »Noch Bier da?« fragte er und ging zum Kühlschrank. »Ich habe den Job, Mom. Aber dann haben Peter und sein Bruder eine Willkommensparty für mich veranstaltet. Das hat sich einfach so ergeben.« »Wann fängst du an?« Er öffnete die Bierflasche, die er sich herausgeholt hatte, und starrte auf den grauen Dunstschleier an der Wand. »Genau gesagt, schon in ein paar Stunden.« »Ach, Junge, warum tust du dir das denn an? Ich meine, so lange ausbleiben, wenn du weißt, daß du am nächsten Morgen eine neue Stelle antreten mußt? Wollen dir denn deine Freunde nicht eine kleine Erholung gönnen?« »Aber es war sehr lustig, Mom!« Selbst in dem schwachen Licht des Mondes durch die halbgeschlossenen Jalousien konnte er noch erkennen, wie besorgt sie auf seine Bierflasche sah. »Das ist das erste, was ich heute trinke, Mom. Auf der Party blieb ich eisern bei Cola.« »Ich kann nicht wie ein Polizist hinter dir herlaufen und auf dich aufpassen, John.« »Ich meine ja nur, du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« 311
»Ich mache mir keine Sorgen. Du bist schließlich ein erwachsener Mann und kannst auf dich selber aufpassen. Wer war denn alles da?« »Ach, eine Menge Leute. Die meisten kannte ich gar nicht, nur ein paar. Und was hast du gemacht?« »Ich? Nichts. Mich gesorgt. Dein Vater hat ferngesehen.« »Ich dachte, du machst dir keine Sorgen?« Er lächelte sie an und kam näher, um festzustellen, ob sie amüsiert darüber war oder nicht. »Tu ich auch nicht.« Er kam noch näher, um sie genau zu betrachten, und entdeckte etwas auf ihrer Nase, was sich als ein grüner Farbspritzer erwies. Er faßte hin und sagte: »Du hast Farbe auf der Nase.« »Ach, du liebe Güte, richtig«, sagte sie. »Habe ich tatsächlich.« Er feuchtete seinen Finger an der Zungenspitze an und wischte damit über die Farbspritzer, die sich als ausgedehnter erwiesen als zuerst wahrgenommen. Er blickte konzentriert darauf, während er sie wegrieb, und seine Berührung schien ihren Atem zu beruhigen. »Ich habe übrigens heute ein Mädchen kennengelernt, das selbst Malerin ist.« »Ach ja?« »Ja.« »Wo, auf der Party? Woher weißt du, daß sie Malerin ist?« »Ein Bild von ihr hängt bei Peter.« »Hast du ihr etwas von mir gesagt?« »Peter hat ihr das Bild abgekauft, so sehr gefiel es ihm. 312
Ein schwarzer Weltraum, weißt du, und darin Gesichter aus Eis.« »Ach Gott«, sagte Helen. »Abstrakt also. Ich weiß nicht, wie jemand so abstrakte Sachen malen kann. Es ist so tapfer und mutig.« »Tapfer und mutig findest du das?« »Na ja, stell dir doch mal vor: man malt etwas, von dem man selber nicht weiß, was es sein soll.« Als John sie ansah, erkannte er, wie die Dinge, die sich ihrem Verständnis entzogen, ihr die Augenbrauen voller Betrübnis zusammenzogen. Er nahm sie in die Arme und dachte: ach Mom, Mom, meine Mom. Und er drückte sie an sich, bis ihre verblüffte Abwehr nachließ, und so standen sie da und wiegten sich liebevoll. »Was ist denn in dich gefahren?« fragte sie dann. Er lachte leise auf und trat etwas zurück. Er wollte etwas sagen und spürte auch, wie er in der nächsten Sekunde zu reden beginnen würde. Wie er einen Anfang finden würde und wie es, wenn das erst einmal geschafft war, kein Problem mehr sei, ihr zu erzählen, wie fremd und seltsam ihm doch der Verlauf seines Lebens erschien. Und daß er sie dann mitnahm. »Alles ist anders, Mom«, sagte er. »Was, alles?« »Es ist einfach anders. Du hörst von diesen Sachen, die ich gemacht habe, und du denkst, du weißt, wie das ist. Aber wenn du selbst betroffen bist, ist es immer ganz anders, als du bis dahin dachtest.« Über ihnen brummte ein Flugzeug. Eine einmotorige Propellermaschine, dem dünnen, aber gleichmäßigen Geräusch nach zu schließen. Er dachte daran, was er gefühlt hatte, als er auf dem Heimweg Jo Jo anrief. Er hatte ein Taxi nehmen müssen, weil er weder Ray noch 313
Peter finden konnte. Während der Taxifahrer an einer Selbstbedienungstankstelle anhielt und tankte, hatte er sie angerufen und sich mit ihr zum Essen verabredet. Als sie annahm, hatte er ein Gefühl, als greife er sich etwas, das ihm nicht gehörte, von einem Regal. Als sei sie etwas, auf das er überhaupt kein Recht hatte. Als tue er etwas Verbotenes und Unrechtes. Vielleicht weil das gegen Peter ging. Zwischen den beiden war ja offenbar noch irgendwas. Das mochte es wohl sein, was ihn daran störte. Natürlich ist es nicht das, sagte Emily. Wen kümmert Peter? Peter ist es nicht. Du weißt in Wirklichkeit ganz genau, was es ist. Ich hin es. Das, was du mit mir gemacht hast, ist es. Und deswegen hast du kein Recht zu so was, glaubst du. Deine Rechte sind weg. Oder siehst du sie irgendwo? Ich nicht. »Ich war ja nie eigentlich unglücklich, nicht, Mom? Als Kind, meine ich. Oder?« »Nein, habe ich nie gedacht.« Ohh, oh, oh. Buuuh! Daß ich nicht kichere! »Und auch jetzt bin ich es nicht. Nein, das ist es nicht. Ich weiß nur nicht genau, was es ist.« Quatsch! sagte Emily. Blödsinn! Mach dir doch nichts vor, Mann. Ich sag Ihnen ganz genau, was es ist, Mister Oberidiot! »Ich meine, ich habe Unglück verursacht.« Vorsicht, Mann, verdammt vorsichtig jetzt, ja? warnte sie. »Tod habe ich verursacht.« Es war, als schreie sie auf. Als stecke sie mitten in ihm und schrie dort. Nein, nein. Tod. Tod hast du verursacht. »Ich meine, wie du zu mir gehalten hast, und … und …« Er konnte vor lauter Lärm seine Gedanken kaum hören. 314
Sie waren da, es waren seine, aber sie waren schmerzunempfindlich. »Du bist schließlich unser Sohn«, sagte Helen. »Das meine ich. Alle diese Dinge oder diese glückliche Art, wie ich mich vor dem Unfall fühlte, das ist alles noch immer da. Nur daß eben das andere jetzt mit dabei ist. Das ist hart, und ich wollte, es wäre nicht da. Aber es ist nun mal so … ich meine … es ist …« Dein Leben, meinst du? Genau, das ist dein Leben. Hast du Angst, es auszusprechen? Auszusprechen, daß du immerhin dein Leben spürst, während ich das nicht mehr kann? Nur zu, spuck’s aus! Mir ist dieser Quatsch egal. Allenfalls wie du dich aus deiner Verantwortung zu stehlen versuchst, geht mir dermaßen auf den Geist! Wo es schließlich nur einen einzigen Ausweg gibt. Nur eine einzige Möglichkeit zu bezahlen, John! Und du weißt ganz genau, welche. Also hör auf mit diesem Mist, ehe ich dich eigenhändig umbringe! »Was macht ihr denn da?« sagte plötzlich Stuart vom anderen Zimmer herüber. »Oh«, sagte Helen, »oh.« Seine Stimme kam aus dem Dunkeln, wo er noch immer lag. Sie fuhren im Küchenschatten wie ertappt erschrocken auseinander und blickten hinaus auf den noch immer laufenden Fernseher, in dessen Spiegelung sie ihn aufstehen sahen. »Was heckt ihr da aus?« sagte er. »Ach, gar nichts, kümmere dich nicht darum«, sagte sie. »Wahrscheinlich wollt ihr mich umbringen, wie?« »Ach, hör doch auf«, sagte Helen. »Wir reden lediglich darüber, wie sehr wir dich lieben.« »O Gott«, sagte Stuart, »da bin ich ja wirklich in Schwierigkeiten.« Er kam in die Küche und schaltete das 315
Licht an. Die Leuchtröhre oben blitzte auf, so daß sie alle drei blinzeln mußten. »Muß euch wohl mal unter die Lupe nehmen. Hier im Finstern Heimlichkeiten haben«, sagte er und musterte sie. »Wie ich mir dachte.« John stand am Spülbecken und holte sich ein Glas für sein Bier aus dem Wandschrank. Helen hatte inzwischen eine Zigarette im Mund und steckte sie sich an. »Heuchelbande«, sagte Stuart. »An der Nasenspitze sieht man euch an, wie verlegen ihr seid.« Helen verteidigte sich. »Mein Gott, John ist gerade erst heimgekommen, und da haben wir uns noch ein wenig unterhalten, das ist alles.« Sie mußte sich abwenden, um den Rauch durch das Gittertor nach draußen zu blasen. »Komplott«, sagte Stuart. »Nein, nur reden.« »Worüber denn?« »Mein Gott, über alles eben. Dies und das.« »Zum Beispiel?« Er hielt den Finger unter das laufende Wasser, um festzustellen, wann es kühl genug zum Trinken sei. »Na, ich war gerade dabei, ihn über Seattle zu fragen. Ob er noch gelegentlich daran denkt, wie wir dort lebten. Und was wohl gewesen wäre, wenn wir dort geblieben wären.« »Daran verschwende ich niemals einen Gedanken«, sagte Stuart. »Natürlich nicht.« In ihrer bisher normalen Haltung war plötzlich eine Spur Aggression, etwas Enttäuschtes und Widersprüchliches. Als wolle sie erklären, sie lege keinen Wert mehr darauf, noch irgend etwas vorzugeben, und wenn es sein müsse, 316
könne auch etwas sehr Persönliches an dessen Stelle treten. John fragte sich, was das wohl sein würde, und bezweifelte sogleich, daß er es je erfuhr. Aber er spürte jedenfalls ganz deutlich, so wie eben noch, die seltsame Fremdheit seines eigenen Lebens, jetzt die ihre, und irgendwie wußte er es auch. »Warum gehst du nicht schlafen, Stuart«, sagte Helen. »Lieber Gott.« »Der Damm läuft über«, sagte Stuart. »Das ist alles, worum es geht. Überhaupt alles.« »Glaubst du das, ja?« »Was soll einer denn sonst glauben?« »Ich weiß es nicht.« Sie warf John einen hilfesuchenden Blick zu. Und die selbstsichere Art, wie sie zu ihm kam, drückte ihre Gewißheit aus, daß zumindest er ihre Ansicht teilte. »Außerdem wollte ich John sowieso gerade wegen der Narbe fragen. Gerade wollte ich ihn fragen, woher er sie hat.« »Und?« »Die?« sagte John und faßte sich an den Gewebewulst über dem Auge, als müsse er sich erst dieser Narbe vergewissern. »Es sei denn, du willst nicht darüber reden«, sagte Helen. »Nein, nein. Ich bin hingefallen. Gestolpert und hingefallen.« »Was denn, wo denn?« »Auf der Treppe. Die Treppe rauf nach dem Essen.« »Tatsächlich?« sagte Stuart. »Und dann haben sie dich genäht?« »Ich glaube schon, daß es nach dem Essen war. Das ist 317
lange her. Gestolpert und gefallen. Ich hab einfach nicht aufgepaßt.« »Wetten, du hast gehofft, daß es sehr viel aufregender war, was, Helen?« sagte Stuart. »Nein.« »Du hast dir wohl so eine wilde Gefängnisstory vorgestellt.« »Ich hab mir gar nichts vorgestellt. Ich habe lediglich gefragt. Aus reiner Neugier«, sagte sie zu Stuart. »Wenn man nicht fragt, erfährt man nichts.« »Neugier treibt den Vogel in die Schlinge«, hielt Stuart dagegen und ging in den Flur hinaus. »Und wer nicht schläft, fällt tot um, ihr Nachteulen.« »Na gut«, sagte John. »Ein wenig Schlaf kann ich gut gebrauchen.« Und er war schon durch die Küche und zur Hintertür hinaus. Gleich darauf hörte Helen die Wohnwagentür auf- und zugehen.
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23. KAPITEL Es ärgerte Freddy, daß Verna friedlich schnarchte, während er schlaflos zur Decke starrte. Immerhin war er gekommen und sie nicht, warum also sollte er nicht schlafen können? Er war gekommen, und dann war sie ins Bett hingesunken, als hätte sie eine Handvoll Valium geschluckt. Er hatte sich aufs Bett gesetzt, wahrscheinlich um die Schuhe auszuziehen, und sie hatte sich vor ihn hingekniet in dem Dämmerlicht und hatte seinen Reißverschluß aufgemacht und ihn ernsthaft und voller Entschlossenheit herausgeholt und in den Mund genommen. Und er hatte noch daran gedacht, sie auf die gleiche Weise zu befriedigen, brachte aber nicht die Energie auf, damit anzufangen, und als die Zeit verging, war es keine so interessante Idee mehr. Es gefiel ihr eindeutig, die Regie bei der Show zu führen, jedenfalls nach ihrem Gestöhne und ihrem Verhalten zu urteilen. Sie schien genau zu wissen, was sie wollte, und bediente ihn so, wie er es haben wollte. Als sei der Service der höchste ihrer Wünsche. Jedenfalls diese Nacht. Und bald war sie mittendrin gewesen, und ihre Konzentration nahm zu, als sei er ein verwundeter Kriegsheld, der Gefahren und Mühen überstanden hatte. Was ja auch in gewisser Weise durchaus stimmte, wenn er an den orangen Büffel und den anschließenden Gefängnisaufenthalt dachte. Was sie also tat, war eine Kombination aus Krankenpflege, Hurendienst und Lobpreisung. Und über ihre eigene Hingabe und Geschicklichkeit bei der ganzen Angelegenheit wurde sie selbst wild und verrückt und erregt. Oder durch sonst was. 319
Vielleicht ja sogar durch ihn. Dann wollte er es jedoch schnell hinter sich haben und sagte es ihr, und sie steigerte ihre Anstrengungen. Und er stöhnte, als er kam. Dann schlug er zu, und sie fuhr zurück. Aber so schlimm war es nicht gewesen, und sie wußte, daß sie keine Angst zu haben brauchte. »O Freddy«, sagte sie, »was ist denn?« »Du bist zu blöd für Worte«, sagte er, zog sie in seine Arme und zerrte sie mit sich, als er sich aufs Bett zurückfallen ließ. Sie lag über ihm und deckte ihn zu, ein weicher Strom von Fleisch auf ihm. Und er dachte an seine tote Tochter und seine toten Eltern, Herzinfarkt der eine, Eierstockkrebs die andere, weshalb er ab seinem vierzehnten Lebensjahr bei Onkel James aufgewachsen war, dem Bruder seines Vaters, bis er das Militäralter erreicht hatte. Und er hatte sich umgedreht und Verna von sich weggeschoben, wollte sie von sich runterhaben, wollte überhaupt weg und sie los sein, als sei sie das Schleusentor vor dem Staudamm seiner Erinnerungen, die er herauszulassen sich weigerte. »Ich muß mal pinkeln«, sagte er. Und als er nach ein paar Minuten wiedergekommen war, lag sie bereits schlafend im kalten schwachen Licht, das durch die geschlossenen Jalousien kam. Sie sah aus wie tot, und er fragte sich einen Augenblick lang, ob er sie tatsächlich getötet habe. Ob er am Ende in eine andere Realität hinübergewechselt war, wo er nicht der war, der er zu sein schien, sondern ein Hochstapler, der keinerlei Hemmungen und sie kaltgemacht hatte, ohne es recht wahrzunehmen. Er spürte auch, daß er sich durchaus an der Schwelle dazu bewegte und schon an die Pforte klopfte, und daß auch jemand zurückklopfte – wer immer das auch war auf der anderen Seite der Tür. Vielleicht sollte dieser andere einen Namen haben, dachte er. 320
Irgendwas anderes als Freddy. Richard vielleicht. Oder Tommy oder Bobo oder Arch. Irgendwas. Vielleicht auch etwas Ungewöhnlicheres. Warum nicht Bartholomäus? Oder Crabbe? Oder noch was Ausgefalleneres. Ezechiel. Elias. Oder etwas Undefinierbares. Beispielsweise … Assssunda oder Mentomabba. Sie hustete. Er beugte sich nahe über sie und hörte sie seufzen. Im Schlaf hob und senkte sich ihre Brust, aber die Bewegung hatte wenig mit ihr selbst zu tun. Automatischer Ablauf. Vegetatives Nervensystem. Eine atmende, lebende Maschine, die Luft einsog und wieder ausstieß, während ihr Geist sich abgekoppelt und von der Welt verabschiedet hatte. Ganz anders als er, der hier saß und versuchte mit den Gefühlen fertig zu werden, die ihn umgaben, deren Lektion zu lernen er aber nicht imstande war. Nun waren die wirklich wichtigen Lektionen im Leben ja immer unklar. Wie beispielsweise der Himmel oder die Sonne. Oder eine Gebirgslandschaft. Was bedeuteten sie? Oder ein Fausthieb ins Gesicht. Oder der Tonfall einer Stimme, die man nicht mehr aus dem Kopf bekam. Der intensive Blick eines Fremden oder von jemandem, den man gut kannte, der einen aber nun mit einem Ausdruck ansah, den man bisher noch nie an ihm entdeckt hatte. Was bedeutete all das? Er stand auf und sah, daß er nackt war. Er ging zum Schreibtisch und schaltete das Licht dort an. Und was er tat, geschah ohne die leiseste Ahnung, daß er es tat – außer der Tatsache der rein körperlichen Verrichtungen. Gehen, Licht einschalten, sich setzen, den Umschlag mit den Fotos hervorholen und sie ansehen. Beispielsweise das Foto von Anthony und Andrew in gleichen Pullovern, die Arme einander um die Schultern gelegt. Was mochte also die Lektion dieses Augenblicks sein und der Art, wie 321
dieser aus der Zeit herausgeschnitten war, um ihn hier und jetzt zu beschäftigen und seine Gedanken zu verwirren? Gut, es mochte etwas zu bedeuten haben, daß er hier saß und diesen Lebensteil anstarrte. Aber es erschien ihm dennoch eher unwahrscheinlich. Er fühlte sich unbehaglich und verlegen. Ihre Hochglanzgesichter waren in Wirklichkeit ein Abgrund, in den er blickte. Immer schon hatte er darüber nachgegrübelt, ob die Tatsache, daß die Jungs Zwillinge waren, nicht eine Ironie des Schicksals sei. Ihre Doppelexistenz mochte eine Art Angebot darstellen. Als ob die höheren Mächte, die ihm Emily genommen hatten, damit versuchten, ihn wieder zu versöhnen. Er schenkte sich einen Aluminiumstamper Wodka ein und kippte ihn geistesabwesend hinunter. Nur sein Blut veränderte sich und damit seine Stimmung, die in getrübte und schrumpfende Wahrnehmung versank. Als befinde er sich in einem Raum, in dem nach und nach alle Lichter ausgingen. Er begann darüber nachzudenken, daß man, um etwas zu tun, durchaus nicht wissen mußte, daß man es tat und was es war. Er wußte zum Beispiel, daß er nun in seine Kleider und in seine Schuhe schlüpfte und daß er sich aus der Wohnung hinaus auf den Flur schlich und daß die metallene braune Doppeltür des Aufzugs aufging und er einstieg und auf den Knopf drückte und die Tür wieder aufging. Aber er hatte keine Ahnung, was er wirklich tat. Draußen auf der Straße fingerte er sich eine Zigarette aus dem Paket, zündete sie an und ging los. Die städtische Nacht verschluckte ihn. Hausdächer in riskanten Höhen ragten in den Himmel über ihm und teilten ihn in Steinblöcke und schwarze leere Luft. Lichtstreifen aus Fenstern und von der Straßenbeleuchtung erhellten das Pflaster unter den grellen Neonlichtern der Bars. 322
Vor einem Feuer in einer Mülltonne standen Obdachlose, die sich darum herum wärmten, und er blieb etwas außerhalb des Kreises, den sie bildeten, stehen, als wolle er abwägen, ob sie Kraft genug hätten, ihn wie Magnete an sich zu ziehen. Es dauerte nicht lange, bis sie ihn bemerkten und jemand aus ihrer Mitte zu ihm schickten. Der Mann, der auf ihn zukam, erschien ihm zuerst kaum älter als er selbst, doch je näher er kam, desto älter sah er aus. Er hatte eine Schnur als Hosengürtel, und sein Holzfällerhemd war schief geknöpft. Er starrte Freddy an, als gäbe es eine strenge Verhaltensregel für Begegnungen dieser Art, ehe er dann fragte: »Was wollen Sie hier?« Freddy sagte, das wisse er nicht. Der andere musterte ihn mißtrauisch mit seinem benebelten Blick aus blutunterlaufenen Augen. »Das dachte ich mir«, sagte er. »Was?« »Gib mir ein bißchen Geld.« »Nein.« »Man soll teilen, was man hat, Mann.« Freddy lachte unterdrückt auf und sagte: »Ich heiße Bobo, und wie heißt du?« »Wir brauchen Geld für ein bißchen Fusel, Mr. Bobo. Wollen Sie mitmachen? Sie kaufen, wir teilen.« »Nein.« »Was’n los mit Ihnen, Mann? Sie sind doch reich? Sehen Sie sich an! Was machen Sie? Sind Sie beim Film? Arbeiten Sie für ein Filmstudio?« »Ich bin Juwelier.« »Na, was sage ich! Juweliere arbeiten mit Juwelen, Mann. Edelsteine, Diamanten, Perlen, Uhren. Sie sind 323
reich. Sie können mir zwanzig Dollar geben und merken es gar nicht.« »Nein, da irren Sie sich«, sagte Freddy, wandte sich um und ging. »Kommen Sie mir nicht so, Mann!« sagte der andere. »Sie sind schließlich hier bei uns eingedrungen, in unseren Lebensraum. Dies hier ist unser Regenwald, Mann. Dies hier ist unser grünes Grasland!« Freddy ging unbeirrt weiter und ärgerte sich darüber, daß er überhaupt stehengeblieben war. Diese im Widerschein des Feuers in der Mülltonne flackernden Silhouetten steigerten die Verwirrung seiner Gedanken. Das Schild, das ihn schließlich erneut stehenbleiben ließ, sah federleicht aus. Es war ein Viereck aus Lavendel mit Buchstaben aus noch anderem, kräftigerem Lavendel und stellte die Einladung zu einem Traum dar: TRAUMLAND TERRA SUENO Einhundert schöne Mädchen Das Schild hing über einer Tür. EINHUNDERT SCHÖNE MÄDCHEN. Einhundert. Einhundert. Mädchen. Die ihn einluden. In ein Traumland. Er war froh, daß er doch nicht bei den Pennern und ihrer Mülltonne geblieben war. Der Lavendelnebel im Foyer kam von einem Scheinwerfer oben. Wäre er bei den Pennern geblieben, wäre er jetzt immer noch dort statt hier. Der Liftführer, der die Aufzugtür öffnete, war ein klappriger, weißhaariger alter Mann mit knochigen Händen und starrem Blick. Sie fuhren ein paar Stockwerke, dann bremste die Kabine ab, und von draußen waren bereits mexikanische Klänge zu vernehmen. Ein Liebeslied. Er trat in einen altmodischen Ballsaal 324
mit gewürfelten Fliesen an der Wand und einer stummen Musicbox in der Ecke. Nicht weit weg saß ein stämmiger Chicano mit Cowboyhut und lavendelbesticktem Hemd an einem Tisch mit einer Kasse samt mehreren Tischlampen. Hinter ihm an der Wand hing ein großes handgeschriebenes Schild: Tanzen mit einem hübschen Mädchen 21.00 $. Er blickte an dem trägen Chicano vorbei zu der schwach beleuchteten Bar im Hintergrund, an der sich schemenhaft die Mädchen drängten. Sie saßen auf den Barhockern, an die Bar gelehnt wie ausgestelltes Obst. Lauter Pfirsiche und Pflaumen. Der blanke hölzerne Tanzboden war auf drei Seiten mit einem lavendelblumenverflochtenen Spaliergitter umgeben. Über die Tanzfläche und die Tanzenden wanderten von oben blaue und rote Lichtstrahlen. Die Musik machten drei kleine, fette Gitarrespieler und eine hochgewachsene Sängerin. »Kann ich Ihnen helfen?« fragte der Chicano, nachdem er Freddy unter seinem Cowboyhut hervor von oben bis unten gemustert hatte. Aber sein Blick war unstet, als sei er todkrank. Freddy nickte, bezahlte und ging hinein. Die Musiker waren schon ziemlich erschöpft. Ihre Musik klang eher deprimiert als klagend. Es mißfiel ihnen sichtlich, sich noch zu dieser späten Stunde vor lieblosen Liebespaaren, die sich ohnehin nur über ihre geringen Anstrengungen mokierten, produzieren zu müssen. Und das machte sie noch lustloser, als sie ohnehin schon waren, so daß sie kaum noch irgend etwas zuwege brachten. Vor ihm fiel das Licht durch die Rauten des Gitterspaliers und warf Muster von Lichtstreifen und Schatten auf die herumsitzenden Mädchen. Er kam an einer schwarzen Ledercouch vorbei, auf der noch so ein 325
Gringo wie er saß. Die Mädchen kicherten. Sie waren alle dunkelhaarig und steckten in engen schenkelkurzen Kleidern in schreienden Farben, hatten Colagläser vor sich und nippten ab und zu daran. Etwas lustlos versuchten ein paar ihn anzumachen und seinen Gringo-Geschmack zu erraten. Hinter der Bar war eine alte Frau mit stoppelkurz gestutzten schwarzen Haaren. Sie sah aus wie eine leibhaftige Hexe, und mit ihr wollte er ganz bestimmt nicht tanzen. Mit allen anderen hingegen schon, besonders mit den molligen, die er gerne über den Unsinn beraten wollte, daß sie zu viele burritos und tacos aßen. Er lächelte um sich, und sie grinsten zurück, und es war unmöglich, eine bestimmte auszuwählen. Doch dann entdeckte er eine, die ganz unauffällig war. Sie war sichtlich die jüngste und auch die kleinste und hatte rötliche Haarsträhnen. Ihr plumper kleiner Leib steckte in einem engen Wäschekorsett samt Strumpfhalter und Strümpfen. Sie lehnte am Gitterspalier und hielt sich mit den Fingern krampfhaft daran fest und sah eher aus wie eine den Kopf hängenlassende Mohnblume zwischen Rosen und Morgentau um sie herum. Tanzen wir, sagte Emily. Freddy streckte die Hand aus, und das Mädchen kam, fragenden Blickes zwar, doch dann sah sie, daß er es ernst meinte. In seiner Hand entspannten sich ihre Finger. Er führte sie zur Tanzfläche, nahm sie dort in den Arm, und die trostlosen Musikanten begannen mit der Erinnerung an alles, was sie einst konnten, zu spielen. Alle schauen sie her, sagte Emily. Freddy hatte die Arme um das Mädchen gelegt und tanzte Wange an Wange mit ihr. Nein, nein, schau nicht, Dad. Kannst mir auch so ruhig glauben. Ich sag’ dir die Wahrheit. Alle schauen sie rein durch das Spaliergitter, um dich mit diesem glücklichen Mädchen tanzen zu sehen. Alle, mit denen du 326
nicht tanzen wolltest. Sie drücken sich die Nasen an dem Spaliergitterplatt wie kleine Kinder, die rein möchten, aber kein Geld haben. Schau nicht hin, Dad. Alle Augen sind auf dich gerichtet. Der Gringo, der mit dem Mauerblümchen tanzt. Alle sind sie traurig, weil du mit ihr tanzt und sie im Arm hältst und mit ihr redest. Sie wissen ja alle, daß man Liebe so schwer findet. Sie aber müssen zusehen, voller Sehnsucht und Neid, und wüßten gern, was du alles erzählst, sie sind ganz wild darauf, es zu erfahren. Dabei sagst du doch überhaupt nichts zu ihr. Weil ich nämlich mit dir rede. Ich bin diejenige, der du dein Herz ausschüttest. »Sie ist eine schöne Frau. Hab ich dir das schon gesagt? Meine Frau. Eine schöne Frau. Am Tag. Das war mein Untergang. Du bist sehr schön, aber weißt du, es ist Nacht, und wir tanzen. Da ist man sicher. Nie im Leben könnte ich mich in dich verlieben, Mädchen. Deshalb ist alles bestens, und wir tanzen. Ich habe meine Frau in der Sonne kennengelernt. Aber jetzt. Na ja. Erinnerst du dich daran, wie du ein kleines Mädchen warst, und eine deiner Spielkameradinnen machte dich derart nervös und verlegen, weil sie ihre Eltern mit deren Vornamen anredete? Ich haßte das als Kind. Und jetzt meine Exfrau. Ja, sie ist eine wunderschöne Frau. Aber sie veranlaßt meine eigenen Kinder, mich beim Vornamen zu nennen. Was sagt man dazu, was?« Die Aufzugtür ging, und da war der Flur vor seiner Wohnung, aber er vergaß auszusteigen, so müde war er. Er stand da, und die Tür ging wieder zu, und der Aufzug fuhr nach unten, und die Tür ging wieder auf. Und es war Tag. Und er ging heim, während die Sonne langsam aufging und der Himmel sein Schwarz aufgab und ins Purpurne und Stürmische wechselte und dann wie von einer Wunderkerze angezündet in Flammen ausbrach und blasse 327
Reste hinterließ, aus denen sich ein fahler Schimmer von Straßen und aufsteigenden Häusern erhob. Er drückte den Knopf. Wieder aufwärts. In der Kabine spürte er sein Herz schlagen. Und dann noch einmal, und er sah, wie sein Herz einen Test machte, der überaus gewagt war. Es machte tatsächlich Dinge, die ein Herz niemals tun sollte. Als er versuchte aus dem Aufzug zu treten, schien zwischen zwei Schritten eine sehr lange Zeit zu vergehen. Er stolperte in seine Wohnung und war sehr erstaunt, Verna darin vorzufinden, die sich eben die Haare bürstete. Sie hatte Rock und Bluse an und bürstete unentwegt ihr Haar. Er trat hinter sie und setzte sich in den großen bequemen Sessel. Auf dem Tisch daneben stand die Wodkaflasche, und weil sie schon einmal dastand, griff er sie sich und nahm einen kräftigen Schluck. Dann sah er weiter Verna zu, wie sie sich die Haare bürstete. Er zündete sich eine Zigarette an und schenkte sich ein Glas ein. »Du bist ein Dreckskerl!« sagte Verna und bürstete und bürstete. »Wo bist du hingegangen? Ich meine, was denkst du dir eigentlich? Daß ich eine Nutte bin oder was? Und daß du einfach mitten in der Nacht aufstehen und fröhlich deiner Wege gehen kannst und dann einfach wiederkommen, als sei nichts gewesen, und so tun, als sei das überhaupt kein unmögliches Benehmen? Als hätte ich überhaupt keine Gefühle? Aus welchem Grund überhaupt, möchte ich wissen? Nur weil ich fast nackt auf einer Bühne tanze und mit meinen Titten und meinem Arsch vor dem Gesicht irgendeines Kerls herumwackle, beweist das, daß ich keine Gefühle habe und eine Nutte bin?« Er inhalierte tief und überlegte, ob sie mit ihrem 328
Haarbürsten jetzt fertig sei, weil sie damit aufgehört hatte, während sie sprach. Er hoffte nicht. »Und dabei mag ich dich sogar. Ich mache es wirklich nicht mit jedem, das kannst du mir glauben.« Er inhalierte noch einmal und nippte an seinem Wodka und beschloß, sie darüber aufzuklären, daß sie es, genaugenommen, auch gar nicht getan hatten. »Wir haben es gar nicht getan«, sagte er. »Du hast mir nur einen runtergeholt.« Das schien sie anzuwidern, so daß sie wütend wieder ihre Haare zu bürsten begann und wieder mit ihrer Litanei fortfuhr. »Du bist ein blödes Arschloch. Wo bist du hingegangen? Ich meine, was denkst du dir eigentlich? Daß ich so eine Nutte bin? Daß du mitten in der Nacht aufstehen und fröhlich rumziehen kannst und dann wieder hier reingestolpert kommst, als war das kein unmögliches Benehmen? Als hätte ich überhaupt keine Gefühle? Bloß weil ich nackt auf einer Bühne tanze und meine Titten jedem erstbesten Kerl entgegenstrecke?« Er träumte, daß es noch eine ganze Zeit so weiterginge. Daß Verna keifte und keifte und versuchte ihn dazu zu bringen, sich mies und unglücklich zu fühlen, und daß sie die Sache beredeten und aus der Welt schafften und sie dabei unentwegt ihre Haare bürstete. Es spielte gar keine Rolle, was sie sagte und wie wütend sie war und wie verbittert und wie verletzt und wie anklagend. Wenn sie nur nicht aufhörte, sich die Haare zu bürsten. Es machte ihn glücklich, die Bewegung ihres Arms dabei zu sehen, wie er auf und ab fuhr, Strich um Strich, und wie das Haar flog und flatterte und wie energisch und kraftvoll und zielstrebig sie sich dabei bewegte, konzentriert und entschlossen. Und ungeheuer lebendig. 329
»Ich habe das Bett gemacht«, sagte sie und ging zur Tür hinaus. Aber er war deshalb nicht allein. Emily kam statt ihrer herein und lächelte zu ihm herab und griff nach der Zigarette, über der er eingeschlafen war und die ihm die Finger anbrannte. Sie nahm sie ihm vorsichtig weg, sanft und leise, damit sie ihn nicht aus dem Schlaf schreckte, und zerdrückte sie im Aschenbecher. Dann nahm sie seinen Kopf in ihre Hände. Schlaf, Daddy, sagte sie. Schlaf.
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24. KAPITEL John lehnte am Bug des Boots Southern Gal, die Arme über der schwarzen Fischerschürze verschränkt, die er trug, und blickte auf das meilenweite Wasser vor der Küste hinaus, durch das das Boot pflügte. Der Hafenverkehr war lebhaft, einige Schiffe fuhren hinaus, andere kehrten zurück, an den Ölfässern und Bojen vorbei zu den Lagerhäusern, die ins Wasser hineinragten. Geparkte Autos standen am Ende der verwitterten Docks, und dahinter tauchte das Licht der Stadtsilhouette auf, und hinter dieser erhoben sich im Dunst die Berge. Die vibrierende Schiffsmaschine unten rüttelte ihm fast die Schuhe von den Füßen. Möwen flogen um das Boot herum, tauchten in die schaumigen Wellen und kreischten. Er blickte über die Schulter, als wolle er sich noch einmal die langen Stunden, die nun hinter ihm lagen, vergegenwärtigen. Zu einem gewissen Zeitpunkt hatte ihn eine seltsame Orientierungslosigkeit überfallen, eine Folge des allzu harten Aufeinandertreffens von Eingesperrtsein und weitem, endlosem Raum um sich herum. Der Horizont schien endlos zu sein, und doch war das Boot wie eine Gefängniszelle. Als Ol’ Hank heraufgerumpelt kam und ihn anwies, sich zum Andocken fertigzumachen und bereitzuhalten, ging er nach hinten zum Schandeck und griff sich eine der schweren Trossen dort. Er behielt Ol’ Hank im Auge, der vorne am Bug ebenfalls mit einer Trosse in der Hand stand. An Land sah er Ray winken. Er hatte es also geschafft, ihn abzuholen. Am Morgen allerdings hatte er es verpaßt, ihn herzubringen, und ihn nur angerufen und ihm etwas von einem fürchterlichen Kater vorgejammert. 331
Er hatte seine Eltern geweckt und angeboten, ihm ein Taxi zu bezahlen, wenn er ihn nur nicht fahren müsse. Jetzt aber schien er, wie er da so am Piergeländer stand, wieder ganz in Ordnung zu sein. Er stand im Gegenlicht der Sonne und hielt eine Bierdose in der hochgereckten Hand. Als er das schwere Tau faßte und sich bereitmachte, taten ihm die Finger weh, und seine Rückenmuskeln schmerzten. Seine Kniekehlen brannten. Es war keine Sache mangelnder Kraft gewesen, stark genug war er. Aber er hatte sich ungeschickt angestellt. Die Wellen schienen stets gegen ihn zu laufen, und so hatte er sich eigentlich nie im Gleichgewicht befunden. Sie hatten ein zweihundert Meter im Quadrat großes Netz im schnellen Kreisbogen um die in Panik geratenen Thunfische ausgeworfen und eingeholt, das eine Ende am ausgesetzten Beiboot, das andere im Schlepp der Southern Gal. Die Falle war zu, das Wasser begann zu brodeln, und dann hob sich ein Gemisch aus Schaum und Blut und zappelnden Fischen, die wie ein stinkender Wasserfall in die Luke fielen. Er hoffte, Ray werde ihm helfen, zu Emilys Grab hinauszufahren. Andernfalls bedeutete das Taxis und lange Fußwege und keine Chance mehr, rechtzeitig zu seiner Verabredung mit Jo Jo und zum Essen mit Ray und Cammy wie geplant zu kommen. Irgendwann in der Mitte des Tages, als sie in keiner Richtung mehr Land in Sicht gehabt hatten, hatte er diesen Besuch an Emilys Grab beschlossen. Vielleicht nur, um herauszufinden, wie es sein würde, jetzt dort zu stehen. Emily Gales Grab. Während des Prozesses nach seiner Freilassung gegen Kaution war er schon einmal dort gewesen. Er erinnerte sich an die Zypressen am Horizont und das Gräberfeld und ihren Stein im Gras. Er war nicht lange geblieben. Jetzt, nach all den Jahren mochte es durchaus anders sein. 332
Vielleicht sollte er zu reden versuchen. Aber mit wem? Mit sich selbst vielleicht. Oder mit irgendwem, der dort möglicherweise war. »Na, wie hat er sich gemacht?« rief Ray herüber, als das Boot an die Pfähle stieß und die Leinen festgemacht wurden. »Er hält das Maul«, antwortete Ol’ Hank. »Aha. He, John, wie lange machst du’s?« »Frag ihn«, sagte John und deutete auf Ol’ Hank, der, obwohl nörgelig und fett, so seltsam leichte Bewegungen machte, als hätten die vielen Jahre auf See alles Gewicht aus seinen Schritten genommen. Er trug ein Sweatshirt und eine Zipfelmütze und ließ sich Zeit mit der Trosse. »Also, Hank, wie lange?« fragte Ray noch einmal. Der Alte keuchte und versuchte zu Atem zu kommen. Dann begann er zu husten. Er sprang auf den Pier und stand neben Ray. Seine Augen tränten, und er versuchte dem Hustenreiz in seiner Kehle Herr zu werden, während er eine Zigarette herauszog und mit seinem Feuerzeug anzündete. »Ich muß das Bier noch nachfüllen und das Mineralwasser«, sagte John. »Ist außerdem noch was?« Ol’ Hank deutete zum Heck, wo die Möwen sich kreischend und flatternd um die Abfälle stritten, die ein paar Mann der Besatzung dort ausleerten. »Frank und Rabbit spritzen das Deck ab. Du bist ja vermutlich erledigt wie eine alte Hure, was? Um die Ködertonne kann Sammy sich kümmern. Wie war sie heute früh?« »Ziemlich voll.« »Es ist wichtig, daß sie immer ordentlich kontrolliert wird am Morgen. Und falls tote Köderfische drin herumschwimmen, sofort rausfischen und weg damit.« 333
John nickte und verschwand hinter dem Steuerhaus unter Deck. Ol’ Hank betrachtete nachdenklich seine Zigarette, als sei sie ein höchst seltsamer Gegenstand, den ihm irgend jemand zwischen die Finger gesteckt haben mußte, als er nicht hinsah. Er stieß Ray mit dem Ellenbogen an. »Fische sterben ohne richtigen Grund, weißt du. Genau wie ich. Ohne verdammten Grund. Wenn ich sterbe, kommt einfach irgendein anderer und macht genau das gleiche wie ich. Du auch, Ray. Für dich gilt genau das gleiche.« »Meinst du?« sagte Ray. »Ich?« »Na gut«, sagte Ol’ Hank, »also du vielleicht nicht.« »Er ist ein ulkiger Kerl«, sagte Ray zu John, als sie etwas später den Pier entlang zum Parkplatz unterwegs waren. John hatte ein kleines Säckchen und einen Kleidersack dabei. Er zog sich mit den Zähnen die Handschuhe aus, die er noch immer anhatte, und brachte sie irgendwie zusammen mit seiner schwarzen Mütze in dem Säckchen unter. Er hatte noch immer zittrige Beine und spürte nach wie vor die schaukelnden Planken unter sich. »Paß auf«, sagte Ray, »ich hab mit Jo Jo gesprochen, und wir wollen uns im Restaurant treffen.« »Okay.« »Hat sie nicht eine tolle Telefonstimme? Sie hat mich und meine Freundin zum Essen eingeladen. Falls du nichts dagegen hättest.« »Überhaupt nicht.« »Dann können wir kurz bei mir halten. Wir trinken ein paar Bierchen und säubern uns, ich mich vom Poststaub, du vom Fischgestank.« Nach ein paar Schritten sagte John: »Hör mal, ich muß 334
dich was fragen.« »Na los. Aber zuerst sagst du mir was. Das mußt du, okay? Weißt du, Jo Jo ist eine Traumfrau für mich.« »Ach so?« »Also sag mir, Mann, wie ist sie im Bett? Das mußt du mir verraten. Erzähl es mir. Ganz genau.« John blickte zur Küste hinüber, an deren Steine die Wellen klatschten. »Da fragst du den Falschen, Ray.« »Wieso? Ich denke, du hast sie mit heimgenommen?« »Wovon redest du denn?« »Alle sagten, du hast sie heimgebracht.« »Du warst doch schon hinüber, Ray. Und verschwunden.« »Deswegen weiß ich trotzdem, was alle sagten.« »Wer?« »An einzelne erinnere ich mich nicht.« »Und so ein Gerede genügt dir?« sagte John. Er spuckte ins Wasser, wo das Seegras über die Steine schwappte und eine leere Bierflasche schwamm. »Schau mich an«, sagte Ray. »Sieh mich mal genau an.« John wußte, daß Ray nun wieder versuchen würde, lang und breit und mit vorgetäuschter Ironie sein altes Klagelied zu singen. Daß er klein war und eine ziemlich hohe Stirn und eine Knollennase hatte. »Meinst du vielleicht, ich kriege oft was ins Bett?« sagte Ray. »Ja«, sagte John. »Da kannst du Gift drauf nehmen«, erklärte Ray. »Trotzdem ist Jo Jo mein Traum.« »Ich denke, sie ist Peters Mädchen.« 335
»Moment mal, Moment, John. Es geht um Heterosexualität, nicht? Die ist doch dafür gemacht. Und du warst schließlich, daran muß ich dich doch nicht erinnern, im Knast. Selbstverständlich gönne ich dir, daß du sie dir nimmst und es mit ihr treibst. Ich bin doch dein Kumpel, Mann, ich halte doch zu dir!« »Kann ich dir mal was sagen?« sagte John. Er fühlte sich, als lese er eine Gebrauchsanweisung, die ihn nur langweilte und er doch Seite um Seite umblätterte. »Hast du mal einen Hund oder eine Katze gesehen, die hinter ihrem eigenen Schwanz herjagen?« »Klar.« »Das ist irre komisch, nicht?« »Hysterisch ist es. Und irre komisch.« »Weil es eben verrückt ist, verstehst du? Deshalb ist es ja so komisch.« Er rieb das Feuerzeug mit dem Daumen und zündete seine Zigarette an. »Und bei den Weibern ist man immer nur so einer, der hinter seinem eigenen Schwanz herjagt.« Ray nahm ihm die Zigarette aus dem Mund, zog intensiv daran und blieb stehen, um ins Wasser hinabzustarren. Er runzelte die Stirn und preßte die Lippen zusammen, bis sein Gesicht Dellen bekam und er aussah, als sei er einer, den Denken so schmerze wie ein Hammerschlag auf den Daumen. »Ich bin nicht blöd«, sagte er. »Ich weiß schon, was du sagen willst. Es geht um den Respekt. Aber ich sag dir was. Nachdem du mich schließlich gut genug kennst, kannst du nicht im Ernst angenommen haben, daß du mir diesen Quatsch weismachen kannst. Aber du hast es tatsächlich gesagt. Vielleicht wolltest du es nur hören.« Doch John wiederholte stur: »Ray, du bist so ein Hund, der seinem eigenen Schwanz hinterherjagt. Und du bist auch noch überzeugt davon, daß dein Schwanz diese Jagd 336
wert ist.« Er begann, nachdem sie kurz stehengeblieben waren, weiterzugehen. Ray bellte hinter ihm her wie ein Hund. John bemerkte, daß er Schmutz an den Händen hatte. Er klopfte ihn auf dem Weg zum Parkplatz ab. Ray kam keuchend und knurrend hinter ihm her. Nachdem sie inzwischen schon ein Stück vom Wasser weg waren, knöpfte John seine Jacke langsam auf und dachte darüber nach, ob es Sinn hatte, Ray jetzt gleich zu bitten, ihn zu dem Friedhof zu hinauszufahren, oder ob er lieber warten sollte, bis sie unterwegs waren. »Cammy wartet im Wagen«, sagte Ray und ging nun voraus, »und sie hat schlechte Laune.« Johns Blick enthielt mindestens ein halbes Dutzend Fragen, aber Ray beantwortete ihm nur eine. »Mein Mädchen«, sagte er und machte die Tür auf. »Sie ist Lehrerin. Du wirst sie nicht mögen.« »Das habe ich gehört!« sagte eine Frauenstimme von drinnen. John spähte hinein. Auf dem Beifahrersitz saß ein dunkelhaariges Mädchen mit ziemlich viel Make-up. Blauer Lidschatten, rote Lippen. Als sie John erblickte, lächelte sie nicht gerade liebenswürdig. »Du mußt unbedingt so ’n Mistzeug daherreden, wie, Ray?« sagte sie und blickte Ray scharf an. Ihre Stimme war wie ein Rasiermesser. »Siehst du denn nicht, daß ich einen Freund dabei habe«, gab Ray zurück. »Sei wenigstens höflich.« Cammy schenkte John noch ein halbherziges Lächeln, holte Atem und säuselte mit einer Stimme, als habe sie eben Helium inhaliert: »Hallo. Ich bin Cammy.« »Sehr erfreut, Cammy«, sagte John. Er streckte ihr die Hände über den Rücksitz entgegen, und sie nahm sie, ließ 337
sie aber gleich wieder los. Ray fuhr rasch auf die Autobahn und drückte auf die Tube, bis auf hundertzwanzig, und John merkte, wie der Wagen zu rütteln und zu flattern begann. Cammy sagte etwas zu Ray, das John hinten nicht verstand, und Rays Antwort war ein spöttischer Blick. Sie steckte sich den Mittelfinger in den Mund und gab einen erstickten Laut von sich. Ray schaltete das Radio an und hieb auf den Tasten herum, bis er tonnenschwere, kreischende HeavyMetal-Musik gefunden hatte. Es klang wie das Zermalmen von Autos im Shredder. Inzwischen keifte ihn Cammy an, und John konnte einiges verstehen. »… sie ist eine Hure, und mit der hast du eindeutig und hundertprozentig sicher rumgeflirtet!« »Das ist sie nicht. Was soll das heißen, sie ist eine Hure?« sagte Ray. »Das ist sie wohl. Eine Hure ist sie, eine Hure.« »Wieso sagst du so was? Wie kommst du dazu?« »Mit ihrer blöden Postuniform und ihrer Gangart: Schaut mal, ich bin bei der Post.« »Das ist schließlich ihr Job!« sagte Ray und trat aufs Gas. Der Tacho zeigte fast hundertfünfzig und blieb dort zitternd stehen, um dann langsam wieder abzusinken, als habe er etwas Erschreckendes erblickt. »Das sind doch alles Huren. Und genau das macht dich doch so an«, sagte Cammy. »Ach, Cammy, du machst mich an, sonst niemand. Wirklich, du, ganz ehrlich –« »Ach, hör doch auf. Du bist einfach widerlich. Ich hasse dich. Und Mundgeruch hast du auch, die ganze Zeit«, sagte sie. »Also sei lieber still und sprich nicht mit mir.« 338
Ray beugte sich vor, als wolle er den Wagen mit seinem eigenen Gewicht und Willen noch schneller antreiben. Irgendwie bekam John das Gefühl nicht los, dies alles gehe ihn überhaupt nichts an. Einschließlich Rays gemeingefährlicher Raserei. Zudem schien er leicht betrunken zu sein. Zumindest aber noch einen Kater zu haben. Im Gefängnis lernte man das. Da hielt man sich aus allem raus und kümmerte sich nur um seine eigenen Sachen und um sonst gar nichts. »Ist er nicht wirklich ein Blödmann, wie er im Buche steht?« fragte Cammy und drehte sich zu ihm nach hinten um, damit sie ihn auch voll anlächeln konnte dabei. »Lassen Sie sich nur nicht bange machen, John. Er rast nur so, weil er uns Angst einjagen will. Machen Sie sich auf keinen Fall was draus.« Ich möchte Blumen, sagte Emily. John sah zum Fenster hinaus und fragte sich, ob er nicht am Ende schon tot sei, bevor er diesen verdammten Friedhof noch erreichte. An der Böschung vor einem Feld voller Ölpumpen blühten gelbe und rote wilde Blumen. Ich hätte wirklich gern Blumen, John. Wirklich gern. »Ich habe kein Wort von dir gehört, daß du abgestritten hättest, mit ihr geflirtet zu haben«, sagte Cammy wieder. »Du hast doch gesagt, ich soll nicht mit dir reden.« »Ach so! Ja, ja, nur weiter so!« erklärte sie. Tust du das, John? Bitte! Die Heavy-Metal-Band stürzte sich inzwischen in einen ohrenbetäubenden Lärm über ihr ganzes Elend, das kein Mensch in seiner Niedertracht und Verrücktheit mehr erklären könne. Ray entspannte sich plötzlich, lehnte sich zurück und nahm den Fuß vom Gas. »Mann«, sagte er, »jetzt habe ich mich, glaube ich, selbst erschreckt.« Er ließ 339
den Wagen langsamer laufen und trat vorsichtig in Abständen auf die Bremse. Wunderschöne, wunderschöne Blumen. Von dir, John. Überrasche mich doch. »Ray?« sagte er. »Was ist?« »Könntest du wohl an einem Blumenladen halten?« »Einem was?« »Wenn es in deiner Nähe irgendwo einen Blumenladen gibt, würde ich da gerne anhalten. Wenn es dir recht ist.« »Blumenladen? Sicher, warum nicht. Wozu denn?« Blumen für mein Grab, sagte Emily. Die Frau in dem Laden war schon über siebzig. Zusammen mit ihr suchte John in den Myriaden von Farben und Formen nach etwas Geeignetem. Sie stellte Fragen. Schließlich tauchte er mit einem Armvoll Petunien, Rittersporn und Dahlien wieder aus dem Laden auf. Als er am Auto war, roch Cammy daran. »Da hat Jo Jo aber Glück«, sagte sie. »Na ja, die Liebesgeschichten fangen ja immer toll an.« »Sie sind nicht für Jo Jo«, sagte John. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber –« Es fehlten ihm tatsächlich die Worte. Er war nicht imstande, Ray in die Augen zu sehen. Er hätte ja auch nie darum gebeten, wenn er selbst fahren könnte. Er schämte sich etwas. »Ich meine, Ray, wenn ich einen Führerschein hätte, würde ich dich ja nicht darum bitten. Aber ich … ich hätte gern, daß du mich zum Friedhof fährst.« »Zum Friedhof?« »Was denn für ein Friedhof?« fragte auch Cammy. »Ich dachte, wir fahren essen.« 340
»Ich will nur kurz an ihr Grab. Emilys Grab.« »Wer?« »Wer ist denn Emily?« »Schon gut«, sagte John und ging über die Straße. »Ich kann auch per Anhalter hin.« »Was ist denn?« rief ihm Ray nach. »Wovon redest du denn eigentlich?« John war bereits auf der anderen Straßenseite, als ihn Ray einholte. »John, nun hör doch mal. Ich verstehe immer nur Bahnhof. Ich dachte … na, ich dachte, der Plan war –« »Ich will zu ihrem Grab. Das kleine Mädchen, das ich überfahren habe.« »Oh«, sagte Ray. »Ich kann nicht selber fahren. Ich habe keinen Führerschein.« »Oh«, sagte Ray noch einmal. »Ist doch klar. Natürlich.« Der Friedhof war von Zypressen gesäumt, die nur in den obersten Zweigen wuchsen und eine graugrüne Krone von Herbststimmung trugen. Ray fuhr die Einfahrt hinein und an mehreren großen Grabmonumenten vorüber. Es gab eine ganze Reihe Mausoleen, Familiengrüfte oder so was. John wußte den Weg von damals, als er schon einmal hier gewesen war. Aber das war inzwischen sehr lange her, und er irrte sich auch einmal in der Richtung. Es sah hier überall gleich aus. Ray hatte das Radio ausgeschaltet und fuhr vorsichtig und langsam. Cammy rauchte. Bei der zweiten Runde begann er sich zu sorgen, daß er wirklich nicht mehr hinfand. Doch dann merkte er an einer bestimmten Stelle, wo er sich geirrt hatte. Eine gußeiserne Figur, ein abstrakter Engel. »Hier«, sagte er, »da rein jetzt. Tut mir leid.« 341
»Macht nichts.« Etwa eine Viertelmeile weiter parkten sie, und John stieg mit seinen Blumen aus. »Es dauert nicht lange«, sagte er. »Spielt doch keine Rolle«, sagte Ray. »Ob sie mich hier zum Wahnsinn treibt oder woanders, macht keinen Unterschied.« »O Mann«, sagte Cammy nur. »Fang nicht schon wieder an.« »Wieso nicht? Du willst es doch so haben.« Aber als er sich noch einmal umdrehte, sah er, wie Cammy bereits nach links auf Rays Schoß rutschte und sie miteinander verschmolzen und sich küßten. Und dann rutschte ihre Hand, die bisher an seiner Wange sichtbar gewesen war, nach unten und verschwand. Er ging über das gelbe Gras, in dem da und dort ein Ahorn oder eine Zypresse einen grünen Fleck setzte. Nicht weit vorne sah er auch schon den großen Stein, nach dem er suchte. Es war ein großer, rechteckiger, gefleckter, hellbrauner Marmorstein auf einem Sockel in einem von Büschen gebildeten Kreis, dazu zwei Bronzestatuen eines Kindes und eines Lamms. Das Kind war ein kleines Mädchen mit breiter Stirn und Puttenbäckchen. Über seinem Haar lag ein Schal mit Sternen, und es beugte sich etwas nach unten, um dem Lamm in die Augen sehen zu können. Die eingemeißelte Inschrift lautete: UNSERE KLEINEN LÄMMCHEN Es war der Teil des Friedhofs für Kinder. Emilys Grab befand sich an einer etwas abschüssigen Stelle gleich hinter dem Monument. In der nächsten Sekunde ging er hin. Falls er den Mut hatte. Die Sonne sank schon. Hinter 342
den Zypressen am Ende des Friedhofs wurde der Horizont schon leicht rot. Er merkte, daß er weiche Knie hatte. Er gab sich noch eine Minute Zeit, bis er endgültig bereit war, als er Kinderlachen hörte. Er schreckte auf. Kinderlachen an diesem Ort hier. Das war irgendwie surrealistisch. Das Lachen klang wie Glöckchen in den Nachmittag hinein, die ihn vorwärts trieben. Er ging an dem Monument vorbei und erblickte dahinter zwei kleine Gestalten, die durch das Gras rannten. Zwei Jungs, etwa fünfzig Meter entfernt. Sie rannten aufeinander zu, und er hatte plötzlich das eigenartige Gefühl, sie seien nur ein Junge, der sich in zwei gespalten hatte. Sie wieherten wie Pferde und rannten direkt aufeinander zu, um im allerletzten Moment auszuweichen. In dem Kreis, den sie zogen, saß auf einer ausgebreiteten schwarzen Decke eine dunkle Gestalt, die Arme hinter sich aufgestützt, die Beine ausgestreckt und die Füße übereinandergelegt. Sie sah den Jungs zu und schien sich an ihrem Anblick zu erfreuen wie Sonnenbadende an der Sonne. Dann bemerkte er, daß die beiden Jungs Zwillinge und gleich angezogen waren, und daß die dunkelhaarige Frau Emilys Mutter war. Er fiel auf die Knie und rutschte zurück, bis er wieder vor dem Monument war, wo sie ihn nicht mehr sehen konnten. Dort blieb er knien, wollte flüchten, spähte aber doch durch die Beine des Lamms auf Mary Gale. Die Decke sah aus, als sei sie auf das Gras gemalt. Die Jungs rannten weiter um sie herum, aber sie saß reglos da. Er fragte sich, was sie da mache, wenn sie so ganz entspannt und gelassen dasaß. Sie hätte besser an einen Strand gepaßt oder auf einen Spielplatz. Es sei denn, für sie war es das hier. Hier, wo ihre beiden herumrennenden Jungs mit ihrer Schwester spielen konnten. Ihre lebenden Kinder mit ihrem toten. Nein, sagte Emily. Nein. Schau dir doch die Blumen in 343
deiner Hand an. Die Sonne blendet, nicht? Riech mal, wie sie duften, bei jedem Atemzug, stark und unverwechselbar. So kleine Unterschiede, und dabei doch ganz deutliche. Ganz subtil, endlose Variationen. Das ist Leben. So wie meine Brüder da. Er machte die Augen auf und sah den Übermut der Jungen. Und wie ihre blauen und roten Sweater leuchteten. Und wie sie ganz unbefangen lachten und schrien und herumrannten und umkehrten. Und meine Mutter ist bei ihnen, sagte sie. Sieh dir ihre ruhige Schönheit an, wie sie sich auf ihre Arme stützt und das Gesicht zum Himmel emporhebt und in den Wind halt. Das ist Leben. Sie ist da. Und meine Brüder. Sie sind da. Und du bist auch da, John. Alle seid ihr da. Bloß ich nicht. Ich bin nur wie der Geruch und die Farben der verwelkten Blumen dort drüben auf dem Boden. Sieh doch die vielen Sträuße und die Knospen und die Stengel, wie sie überall herumliegen hier. Schau sie dir an. Eine solche Menge. Siehst du, wie sie dahinwelken? Wie sie die Farbe verlieren und vertrocknen, nach und nach? Wenn man sie anfaßt, zerfallen sie. Aber sie stinken auch, ganz innen. Aber einmal waren sie wie die Blumen hier in deinem Arm, duftend und lebendig. Nur, wo ist ihr Duft und ihr Glanz jetzt, John? Und so ist es auch mir ergangen, John. Wie ihrem Duft und Glanz. Ich bin weg. »Na, sag mal?« Die Stimme von Ray hinter ihm schreckte ihn auf. »Ich denke, du wolltest nur mal kurz weg sein?« John entdeckte einen beunruhigten Blick in Rays Augen. Doch Ray war gar nicht weiter interessiert, schien es. Oder er hatte einfach anderes im Sinn. Denn er sagte: »Mann, was zum Teufel treibst du denn hier? Wir müssen fahren!« Die Zwillinge waren plötzlich still. John stellte sich vor, 344
daß sie mitten in der Bewegung innegehalten hatten. Er fühlte sich wie Mary, die ebenfalls von Ray aus ihren Träumereien gerissen worden war. Sie blickte auch tatsächlich zum Hügel herauf, wo das Monument stand und Ray herumsprang. Von ihrem Standort aus mußte es so aussehen, als wenn dieser kleine, dürre Mann dort alleine herumtanzte und mit sich selbst redete. In die Luft oder zu dem Marmorstein mit dem kleinen Mädchen und dem Lamm. Ray war jetzt abgelenkt, er hatte Mary dort unten bemerkt. »Sieht sie her?« fragte John. »Was ist denn los mit der?« fragte Ray. Dann fing er plötzlich an zu gestikulieren und laut zu rufen. »Wie konntest du mir wegsterben?« Er machte sich lustig und spottete. »Wie konntest du mir einfach wegsterben?« John warf sich auf ihn und zerrte ihn in sein Versteck hinter dem Stein, wo er ihn zu Boden schleuderte. »He, au!« sagte Ray. »Verdammt noch mal!« Aber John rannte bereits davon, zurück zum Wagen. »He!« rief Ray ihm nach. Aber John rannte. Es gelang ihm einfach nicht, zu tun, was er wollte. Nichts. Nichts klappte, verdammt. Nein, sagte auch Emily. Es klappt nicht. Er warf die Blumen zornig weg. Vielen Dank. Er sah sich um. Ray kam hinter ihm hergerannt. Er war hoch genug oben, so daß er sehen konnte, wie Mary von der anderen Seite unten mit den Jungs zu einem geparkten weißen Wagen ging. Sie führte sie an der Hand, den einen 345
links, den anderen rechts, während sie selbst leicht mißtrauisch zu ihm heraufsah. Er hatte keine Ahnung, ob sie ihn erkannt hatte. Aber ganz eindeutig sah sie zu ihm her. Er drehte sich heftig herum und ging weiter.
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25. KAPITEL Als sie auf das Essen warteten, hatte John seinen ersten Drink. Scotch mit Wasser. Jo Jo saß links neben ihm, Ray und Cammy tranken Wein und quälten einander mit dem lebhaften Sadismus, der ihnen im Umgang miteinander zur zweiten Natur geworden zu sein schien. John ließ bei seinem zweiten Drink das Wasser weg und trank den Scotch pur. Er brauchte ja nicht vorsichtig zu sein, er fuhr ja nicht. Das Erlebnis auf dem Friedhof hatte ihn auf eine wilde Art deprimiert, und am liebsten wäre er gleich nach Hause gegangen. Aber sobald er auch nur anfing davon zu reden, bestanden Ray und Cammy darauf, daß er an dem vorgesehenen Plan festhielte. Er mußte ausgehen, unter die Leute. Sich amüsieren. Auf andere Gedanken kommen. Das mußte er jetzt. Amüsieren mußte er sich. Und Cammy redete und redete von irgendeinem Fernsehprogramm, das sie gesehen hatte. Die Schwierigkeit des Übergangs hatte es geheißen, sagte sie. Und weil er so verwirrt war und so niedergeschlagen, hatten sie es leicht, gegen ihn zu argumentieren. Dafür hörte er nach einer Weile gar nicht mehr hin. Er hatte abgeschaltet. Bei Ray machten sie sich dann frisch und zogen sich um, ehe sie zum Restaurant fuhren. Jo Jo, die mit ihrem Wagen aus der entgegengesetzten Richtung gekommen war, erwartete sie bereits. Ihr Tisch stand in einer Ecke unter einem Baum, in den ein großes, hawaiianisches Totem geschnitzt war. Sie bestellten Getränke und aßen Brot und dann Salzstangen. John trank einen Scotch und dann einen zweiten. Soweit es ihn betraf, waren sein ganzer Plan und all sein Ehrgeiz für den Nachmittag durch die 347
unglücklichen Umstände zerstört worden. Alles Umstände, die ihn in die Gefängniszelle zurückzustoßen versuchten. Zumindest ein Teil von ihm hatte sich auch bereits gefügt und es getan. Der Besuch des Friedhofs – lächerlich. Zu glauben, man könne mit einem Armvoll Blumen irgend etwas erledigen oder klären. Aber das hatte er wirklich geglaubt. Doch jetzt nicht mehr. Die Dinge klären, das ging überhaupt nicht. Und er hatte es satt, es auch nur zu versuchen. Da war nichts zu tun. Was er wirklich tun konnte, war, Jo Jo flachzulegen. Sie saß neben ihm mit ihrem lang fließenden, blonden Haar und ihrem orangefarbenen, knappen Kleidchen mit dem Hieroglyphenmuster, und er war wild darauf, es mit ihr zu treiben. Ob er sonst noch etwas wollte, wußte er nicht so genau, aber allem die kaum sichtbaren Spaghettiträger ihres Kleids ließen ihn an nichts anderes mehr denken. Der Teil von ihm, der im Gefängnis immer nur unterdrückt, zurückgedrängt worden war, verlangte nach ihr. Gemeinsam mit dem Teil von ihm, der Scotch trank. Und am schärfsten war der Teil von ihm auf sie, der alle Hoffnung hatte fahrenlassen. Konnte ja sein, daß er mit seinen Begierden nicht Schritt zu halten vermochte. Konnte durchaus sein, daß er in Wirklichkeit schon wieder im Gefängnis war. Aber jedenfalls konnte er sie flachlegen, und sie würde ihn schon herausholen aus seinem Kämmerlein mit den Gitterstäben. Seinen Ausbruch organisieren. Oder aber andersherum, er zerrte sie zu sich in die Zelle herein. Sie machte Allerweltskonversation, und er saß da und starrte sie an, als würde sie jeden Augenblick explodieren und damit den finsteren Raum, in dem er sich befand, hell erleuchten. Dann und wann ertappte sie ihn bei seiner Abwesenheit und stellte ihm Fragen. Aber es gab keine Möglichkeit, sich zu erklären, auch wenn Ray und Cammy 348
nicht zugegen gewesen wären. Das waren sie aber. Sie stritten wie üblich und hinterließen sozusagen die Blutspuren ihrer psychopathischen Schlachten auf dem ganzen Tisch. Dann kam Peter noch, und die Stimmung, die sie am Tisch einigermaßen gehalten hatten, verschwand. Als Peter lächelnd vor ihnen stand und die ganze Fremdheit und Seltsamkeit der Szene sich gerade im Austausch der üblichen rituellen Freundlichkeiten ausdrückte, hatte John das Gefühl, daß sie endgültig alle zusammen in der Surrealität versanken. »Na komm, setz dich«, sagte Ray. »Nein, nein, ich habe gerade gegessen«, wehrte Peter ab. »Und ich werde auch drüben im Ruskin erwartet.« Er sah auf die Uhr und fand, daß es – leider, leider – Zeit sei, gleich wieder zu gehen. »Da spielt heute abend ein toller Jazzpianist, er tritt zum erstenmal hier auf. Hat aber schon eine mächtige Reputation drüben im Osten.« »Na, vielleicht kommen wir auch noch vorbei.« »Wie ihr wollt«, sagte Peter, lächelte noch einmal allen zu und ging, nicht ohne John noch einmal zuzunicken. Nachdem er weg war, erzählte Ray einen Witz von einem Schweißer, einer Nutte, einem Besenstiel und einer Fackel, aber er war so lang und kompliziert, daß John einfach nicht die Geduld hatte, ihm bis zum Ende zu folgen. Er merkte, wie er immer wieder an etwas anderes dachte, so daß er schließlich die Pointe nicht verstand, als Ray endlich bei ihr angelangt war. Aber er lachte natürlich mit, obwohl alles, was er denken konnte, war, was für ein Arschloch Ray doch war und er selbst ja auch, was das betraf. Dann aßen sie große Salate mit Dressing und machten weiter mit Steaks und Lasagne und gebratenen Zwiebelringen. Dann kamen der Kaffee und die Desserts 349
mit Eis und Kuchen. Als alles vorbei war, bot Jo Jo John an, ihn heimzufahren, da sie ohnehin in seine Richtung fuhr. Wäre doch albern, wenn Ray extra hin- und dann wieder zurückfahren müßte. »Wo ich doch für Albernheiten überhaupt nichts übrig habe«, meinte Ray. »Sei ruhig, Ray«, sagte Cammy. »In Ordnung«, sagte Ray. »Von heute an bin ich ein ganz anderer Mensch.« Und damit fuhren die beiden davon. John und Jo Jo standen unter den Bäumen, die den Parkplatz des Restaurants umgaben. Vor einigen der Restaurantfenster hingen Blumenkästen. Ein junger Parkwächter in roter Jacke kam herbei, und Jo Jo reichte ihm ihr Parkticket. Jo Jo spielte mit den Knöpfen ihrer noch offenen Jacke. John zählte sein Geld und hielt das Trinkgeld bereit. Er spürte, wie sie neben ihm atmete. Er hatte einen blauen Pullover und Jeans angezogen. Er schlüpfte in seine schwarze Lederjacke, die er zur Arbeit in seinem Kleidersack und auch hierher mitgenommen hatte. »Ich denke immer daran, wie Sie im Gefängnis waren«, sagte Jo Jo. »Ich kann mir das gar nicht vorstellen, wie Sie das überstanden haben.« Na gut, wenn sie Gefängnisgeschichten hören wollte, dann konnte er ihr schon einige erzählen. Das war in Ordnung. Er konnte ihr erzählen, was sie hören wollte. Wenn sie informiert werden wollte, bitte sehr, damit konnte er dienen. Er konnte ihr sogar, falls sie es wünschte, eine Heidenangst einjagen. Der Parkwärter kam mit dem Wagen. Es war ein blauer, gutgepflegter und blitzblanker kleiner Honda. Sie stiegen ein, Jo Jo fuhr, John setzte sich neben sie. Sie fuhren los, 350
und sie hielt an den Ampeln an und bog hier ab und dort und hielt für Fußgänger an. »Haben Sie Freundschaften im Gefängnis geschlossen?« Two Tommys, dachte er, könnte er als etwas Besonderes erwähnen. Aber das wollte er sich noch aufsparen. »So kann man das nicht nennen. Man trifft höchstens ein paar Abkommen, verstehen Sie.« Ein bißchen aufplustern konnte nicht schaden. Bitte sehr, wie sie es haben wollte, er spielte mit. Ihren Horizont erweitern, ihre Ansichten etwas differenzieren. In Ordnung. Solange sie ihn nur aus der Zelle ausbrechen ließ, in der er saß. Solange sie ihn nur rüberließ. Sie hielten an einer Ampel. Er beugte sich über das Armaturenbrett nach vorne, deutete auf eine Autobahnauffahrt und dann auf ein Straßenschild und erklärte ihr den kürzesten Weg zum Haus seiner Eltern von der Kreuzung aus, an der sie standen. Sie hörte aufmerksam zu. Als Grün kam, neigte sie sich zu ihm herüber und legte ihm die Hand auf das Knie. »War das nicht merkwürdig, wie Peter da auf einmal aufkreuzte?« sagte sie. Und dann fuhr sie weiter in eine Richtung, die nichts mit seinen Erklärungen zu tun hatte. Na gut, wenn sie zurück zu Peter wollte, bitte. Wenn sie ihn, John, nur als Köder für irgendein Experiment benutzte, um Peter eifersüchtig zu machen, mit anderen Worten, wenn das für sie alles nur ein bestimmtes Stadium in dem notwendigerweise unkonventionellen Entwicklungsprozeß ihrer modernen, schwierigen, langfristigen Beziehung darstellte, dann sollte ihm das auch recht sein. Dann diente er eben als Verbindungsglied zwischen ihr und Peter; als die Demarkationslinie, an der sie im Rückblick Maß und Gewicht ihrer Verbindung erkennen konnten. 351
»War es Ihnen unangenehm?« fragte er. »In welcher Hinsicht?« »Ich meine, ihn auf diese Weise zu treffen. Wie er da plötzlich daherkam. Wo wir alle … ich meine, ich kenne Peter schon sehr lange und …« »Wie lange?« »Meine Zeit im Gefängnis eingerechnet, an die … zwölf Jahre, glaube ich … Lassen Sie mich nachdenken … 1980 war …« »Falls Sie das beruhigt, es ist aus. Ich meine, mit ihm und mir. Aus und vorbei. Haben Sie gemerkt, wie er das gehandhabt hat?« »Was?« »Das, was nicht stimmte.« »Ich weiß nicht. Sie meinen, da plötzlich aufzukreuzen?« Die Möglichkeit, daß er etwas sagen könnte, was ihr nicht gefiel oder sie falsch auffaßte, ließ ihn für eine ganze Weile stumm bleiben, wahrend er sorgfältig abzuwägen versuchte. »Aber nein, John. Sie wissen doch genau, was ich meine.« Es schien noch immer leicht riskant zu sein, etwas zu sagen, also blieb er lieber bei seinem langsamen, ernsthaften Denkprozeß. »Was falsch war, John«, sagte Jo Jo, »nicht wie. Daß er es überhaupt tat. Es mußte auf eine bestimmte Weise getan werden. Er hat sich da etwas ausgedacht, und das betraf uns alle. Wo wir tatsächlich alle waren, spielte für ihn keine Rolle. Er dachte einfach nur für sich. Aber Sie – Sie sind davor zurückgezuckt. Ich meine, Sie brauchen nichts zu sagen. Ich habe Sie ja gesehen.« 352
»Wird wohl so sein.« »Und ich übrigens auch. Auch ich bin zurückgezuckt. Wie es jeder Mensch tun würde.« Am Ende einer Vorstadtstraße hielt sie an und bedeutete John, auszusteigen und das Aluminiumtor zu öffnen, das mondförmig in der Ziegelmauer war. Er schob es zur Seite, und sie fuhr durch. Sie führte ihn einen schmalen Betonfußweg hinauf, öffnete die Tür, und er folgte ihr in die Wohnung. Sie schloß die Tür hinter ihm zu, und sie führte ihn durch noch mehr Türen, ohne Licht zu machen. »Diese Geschichte, die Sie mir von Ihrer Narbe erzählten …«, sagte Jo Jo und beendete den unvollendeten Satz mit einem stummen Blick, den er »forschend« fand und betrübt zugleich, als sie eine kleine Lampe auf einem Regal anschaltete. Sie zog ihre Jacke aus und schaltete dann, als müsse noch eine letzte Handlung vollbracht werden, die Lampe wieder aus, bevor sie weiterging. In Ordnung. Wenn sie ihn kosten wollte wie ein Exemplar einer Gattung, die in die Dunkelheit gehörte, bitte. Er hatte nichts dagegen. Er folgte ihr. Sie war bereits im Schlafzimmer und zündete Kerzen an. An der Wand über dem Bett hing eine Variation des Bildes über Peters Bett – die schwebenden Gesichter in Schleim. Oder was immer es darstellte. Die Perspektive war verändert, das Bild größer. Sie hielt gerade mit dem Rücken zu ihm ein brennendes Streichholz an eine große dicke Kerze in der Ecke. In Ordnung. Ihm war alles recht, er spielte mit. Wie immer sie ihn haben wollte, er spielte mit. Und sollte sie ihn etwa malen wollen, war es ihm auch recht. Er posierte auch, wenn sie das wollte, Modell stehen. Vielleicht als einer von denen, die da im Eis schrien. Über so was wußte er ohnehin Bescheid. Er war ja schon drin gewesen. Im 353
Eis. Eingesperrt. Schreiend. So ganz unrecht hatte sie ja nicht. Er konnte das für sie durchaus verifizieren. Mit Informationen aus erster Hand. Als sie nach dem Anzünden der Kerze stehenblieb, kam er zu ihr und legte ihr die Arme um die Hüften. Sie lehnte sich an ihn, und sie wiegten sich eine Zeitlang, und er schob seine Hände nach oben und legte sie um ihre Brüste und tastete nach ihren Brustwarzen, und als er sie gefunden hatte, seufzte sie auf, als habe jemand gerade eine schwere Last von ihr genommen. Ihm war es aber völlig egal, was für Gründe und Motive sie nun haben mochte, falls sie überhaupt welche hatte. Ihre Gründe waren ihre Sache, so wie die seinen seine. Sein erigiertes Glied schien lang wie das ganze Zimmer zu sein, als sie sich wortlos in seinen Armen zu ihm umdrehte und ihn auf das Bett niederdrückte. Sie sahen einander minutenlang einfach nur an. Dann griff sie nach seiner Jacke, und er zog sie aus. Sie schlüpfte aus ihrem Kleid, und er zog auch sein Hemd aus. Jo Jo, noch in der Unterwäsche, setzte sich rittlings auf ihn, als er sich auf das Bett zurücksinken ließ. Und sie strich sanft über seine Brust, und er hob ihre Arme bis zu ihrem Gesicht hoch, und sie küßten sich, und als sie sich wieder trennten, flüsterte sie: »O Gott, ist das wild.« Dann zerrte sie ihm die Jeans vom Leib und schob ihr Höschen zur Seite, und er steckte ihn ihr hinein, und es war ihm, als könnte das einfach nicht wahr sein. Es konnte nicht wahr sein, daß etwas so weich war. Daß so etwas Weiches in jemandem war und daß man dort hineingelassen wurde. Es war ihm egal, wenn sie mit ihm die Dunkelheit bevorzugte. Oder wenn er vielleicht nur ein Experiment für sie war. Oder einfach nur eine Ablenkung, mal was anderes. Doch dann drückte sie, und es war plötzlich wie auf dem Friedhof. Keine Chance. 354
»Ich hab mal in einem Buch gelesen«, sagte sie, »wenn ein Mann kommt, dann spritzt er mit fast dreißig Stundenmeilen raus. Das ist ’ne Menge Druck, Mann.« Und sie drückte ihm den Daumen zwischen die Lippen. Es war das Netteste, war er je von jemandem gehört hatte, und er nickte. Wenn sie es wollte, stand er ihr Modell. Zeigte ihr die Wahrheit. Differenzierte ihre Palette. Dann drückte und kniff sie ihn noch einmal, als sei sie voll Zärtlichkeit und Fürsorge, und er griff nach oben zu ihren Brüsten. Ihre Motive waren ihm völlig egal. Seinetwegen konnte sie auch zu Peter zurückgehen, wenn sie wollte. Sie war über ihm, wand sich nach links, so weit es ging, dann genauso nach rechts, aber alles sehr langsam, als wollte sie sich auch nicht die kleinste Einzelheit jeder Bewegung entgehen lassen und um ganz klarzumachen, warum man es auch bohren nannte. Dann aber schloß er die Augen und ließ sie zu. Und erst als er wieder steif war, blickte er sie wieder an. Er würde ihr sagen, was sie hören wollte. Sie brauchte nur zu fragen. Doch jetzt brach er erst einmal durch die Mauern und lebte wieder. Er schob sie herum und umklammerte ihre Hinterbacken und wollte nicht mehr eingesperrt sein. Sie sah auf ihn herab, und ihr Gesicht war verzerrt, und niemand sollte ihn mehr einsperren. Sie leuchtete von innen heraus, und auf ihrer Haut war ein wilder Durst, der sich in ihren Augen festsetzte, Begierde, die sich auf ihn fixierte. Er war betrübt, daß sie so viel brauchte, und fühlte sich verpflichtet, sich zu entschuldigen. Aber sein Mitleid war zu nichts nütze, und seine albernen Besorgnisse waren sinnlos vor dieser Gier, die ihn dazu trieb, sie an den Handgelenken auf das Bett zu drücken und sie dann hochzuheben und zu schütteln, als seien seine Hände ihre 355
Ketten, damit er nicht weg konnte von ihr. Das letzte, was er hörte, war ihr Flüstern. »King Kong«, sagte sie. Dann war er weg. Er wußte nicht, wohin es ihn trieb. Es war eine Art Schlaf, und er wollte es so. Nicht daß er groß die Wahl gehabt hätte. Doch noch im Wegsinken griff er nach ihr in der Hoffnung, nicht ganz allein in dem großen und einsamen Bett zu sein, und deshalb wand er sich um sie und hüllte ihre kleine, zuckende Figur in sich ein. John? sagte Emily. Hast du Zeit für eine Frage? Ich würde gerne wissen, ob du etwas bemerkt hast. Wie du da gerade über ihr warst, über ihr knietest, hat sie dich da an etwas erinnert? An irgend etwas? Das würde ich gerne wissen. Als sie diese Geräusche von sich gab, die dir so gefielen, und ihr Gesicht in dieser traurigen, ekstatischen Verzückung war, hat dich das nicht irgendwie daran erinnert, wie ich auf dem Pflaster lag mit Blut zwischen den Zähnen und zu dir aufblickte und zu sprechen versuchte? Hat es dich gar nicht an mich erinnert? An uns? Als du über mir warst, so wie jetzt gerade über ihr. Kniend. Herabblickend. Mich hat es daran erinnert, und da fragte ich mich, ob dir denn diese Ähnlichkeit nicht auch auffiel? Darf ich dir mal etwas sagen, John? Ich möchte das auch, wirklich, ganz echt. Aber du sollst dich dazu nicht gezwungen oder gedrängt fühlen. Ich möchte nicht, daß du dich unter Druck fühlst. Aber ich weiß, was ich in diesem Moment empfand, und ich glaube, du hast es genauso gespürt. Also muß ich es nun sagen. Ich liehe dich, John, ich möchte bei dir sein. Komm zu mir, John! Liebst du mich denn nicht auch? Er erwachte, und sein erster Gedanke war, daß er ein Glas Wasser haben wollte. Das nur Zentimeter von ihm entfernte Gesicht war von Jo Jo. Er betrachtete sie einen 356
Augenblick lang. Als habe der Schlaf sie zu einer Fremden gemacht. Dann löste er sich vorsichtig von ihr. Und obwohl er durchaus einfühlsam sein und sie auf keinen Fall stören wollte, war sein beherrschendes Gefühl dennoch der Wunsch, allein zu sein. Er wollte weg von ihr, als stellte ihre Nähe eine Gefahr für ihn dar. Er schlüpfte aus dem Bett und in seine Unterwäsche. Socken, Schuhe, Hose und Hemd trug er mit hinaus und war sich dennoch nicht schlüssig, ob er auch ganz weggehen sollte oder nicht. In der Küche fand er im Kühlschrank ganz unten eine Flasche Magensalz. Er ging zur Tür. Sie war nicht verschlossen. Das machte ihn wütend. Er öffnete sie und wäre nicht überrascht gewesen, draußen Freddy Gale gegenüberzustehen. Dies war die wahre Ursache seiner Unruhe. Daß irgendwo dort draußen Freddy Gale auf ihn wartete. Ihn mit einem Schießeisen bedrohte. Wenn er ihn hier fand, würde er dann auch Jo Jo erschießen? Auf der Treppe und auf dem Fußweg war niemand. Die Nacht war still, in der ganzen Umgebung rührte sich nichts. Er wollte nicht, daß Freddy Jo Jo so etwas antat. Wo war er hier überhaupt? Verdammt noch mal! Was hatte er hier herumzulaufen wie eine arme Seele und sich Reuegedanken hinzugeben, wie sie allenfalls für einen entfremdeten Verwandten oder einen verlorenen Freund angemessen gewesen wären? »John?« Jo Jo rief nach ihm. Er zog seine Zigaretten aus der Tasche und beugte sich nieder, um die Streichholzflamme nicht sichtbar werden zu lassen. »John?« rief sie noch einmal. Sie versuchte zwar einfach nur fragend zu klingen, doch ihre Stimme war tatsächlich besorgt. »John?« »Ich bin hier draußen«, antwortete er und strich das 357
Zündholz an. Er zog mit der Zigarette im Mund seine Hose an. Ihre tapsenden Schritte kamen näher. Sie kam splitternackt den Flur entlang durch die erste und dann die zweite Flurtür. »Was machst du denn hier?« fragte sie. »Ist was?« »Du solltest deine Tür zusperren«, sagte er. »Ach Gott, das würde auch nichts helfen, wenn einer hereinwollte.« Sie hob etwas auf und zog es sich über den Kopf. Es war sein Hemd. »Kannst du nicht schlafen?« »Ich dachte, ich hätte etwas gehört.« »Was? Einen Einbrecher, meinst du?« »Ich weiß nicht.« »Oder ist es dieser Mann?« Sie kam näher, als wollte sie sich in seinen Augen vergewissern, ob sie mit ihrer Vermutung recht hatte. »Sprichst du davon, John? Von diesem Mann? Dem Vater des –« »Wieso?« »Ich meine, ob du geglaubt hast, du hättest ihn gehört? Machst du dir Sorgen, daß er dich noch immer verfolgt?« »Er ist immer noch hinter mir her.« »Na, dann gehen wir lieber wieder hinein«, sagte sie und faßte ihn am Arm und versuchte ihn mit sich in die Sicherheit der hinter ihnen geschlossenen Tür zu ziehen. Sie sperrte zu und legte zusätzlich den kleinen ins Schloß eingebauten Riegel vor. »Hast du Anzeige erstattet? Was haben sie bei der Polizei gesagt?« »Was?« »Na, die Polizei.« 358
»Ich war nicht bei der Polizei.« »Du warst nicht dort?« »Nein.« »Tatsächlich? Das ist aber seltsam.« »Wieso seltsam?« »Ich verstehe das nicht.« »Na, ich war nicht bei der Polizei, fertig.« »Und das ist eben seltsam. Du glaubst, er ist hinter dir her, um dich zu ermorden, und du gehst nicht mal zur Polizei?« »Vielleicht sollte ich jetzt gehen.« »Gehen? John, wovon redest du?« »Ich mag das nicht, wie du das machst. Du frißt mich auf mit Haut und Haaren.« »Was? Nein, nicht doch. Ist das etwas, was du -? Ich versuche doch lediglich, herauszukriegen, wie dir jemand nach dem Leben trachten kann und du trotzdem nicht zur Polizei gehen willst! Das ist doch Selbstmord. Es sei denn, du möchtest das wirklich. Ich meine, willst du tatsächlich sterben?« »Ich weiß es nicht.« »Du weißt es nicht? Hast du gesagt, du weißt es nicht?« Sie lief weg und fuhr sich durch die Haare. »Du weißt nicht, ob du sterben willst! Großartig!« »Sieh mal, ich habe mehr Mist gesehen als diesen Kerl. Tag für Tag im Knast. Dort ist man tagtäglich bedroht. Da ist der dagegen lediglich ein Amateur, ein Spaßvogel. Sieh mal, im Knast, da – möchtest du wirklich etwas aus dem Gefängnis hören?« »Nein. Lieber Gott. Da wüßte ich mir was Besseres.« »Was denn? Was wäre das? Sag?« 359
»Ach, nichts.« »Kann ich mein Hemd wiederhaben?« »Aber sicher.« Sie zog sich das Hemd über den Kopf und reichte es ihm. »Hast du sie sterben sehen?« Jetzt kam sie also zur Sache. Das Gefängnis war ihr noch nicht bescheuert genug. Sie wollte den echten Hammer. »Sag mal, ist dir klar, was du mich da fragst? Was, zum Teufel, fragst du mich da?« »Vielleicht ist es wirklich besser, du gehst«, sagte sie. »Verdammt noch mal, wie kommst du dazu, mir eine solche Frage zu stellen? Ich bin doch kein verdammtes Ausstellungsstück für dich! Oder hältst du mich vielleicht dafür?« »Was?« Sie ging weg, lief, als suchte sie etwas, von einem Zimmer zum anderen, dahin und dorthin, er immer hinter ihr her. Sie suchte nach etwas zum Anziehen. »Vergiß es«, sagte sie, »okay? Ich habe nichts gesagt.« »Nein«, sagte er. »Nein.« Er starrte sie an. »Ich war betrunken. Wir hatten Spaß gehabt. Ich war auf dem Heimweg von einem Softballspiel. Wir hatten dafür früher frei bekommen. Es war ein Firmenspiel. Und ich trank Bier. Ein paar zuviel. Nur Bier. Aber was macht das für einen Unterschied. Ich wußte nicht mal, was passiert war. Ich hörte nur den Anprall. Und erst als ich anhielt und ausstieg, begriff ich es. Da lag sie auf der Straße in ihrem Blut. Und schon waren Leute da. Dieser Schülerlotse. Ein alter Mann. Der starrte mich an. In einem kleinen Häufchen Kleider lag sie da auf der Straße, und ich ging hin. Und ich sah, daß sie sich noch etwas bewegte. Ihr Mund bewegte sich irgendwie. Ich dachte, sie spricht mit jemand. Nicht mit mir natürlich. Vielleicht mit jemand, der gar nicht da war. Mit ihrer Mutter oder ihrem Vater. Als ich bei ihr war, kniete ich mich zu ihr nieder. Und da 360
sah ich es. Sie sprach nicht mit jemand anderem. Sie sprach mit mir. Sie entschuldigte sich bei mir. Weil sie nicht links und rechts geschaut hatte.« Jo Jo hatte inzwischen einen indigoblauen japanischen Seidenkimono gefunden und schlüpfte hinein und band den Gürtel zu. Dann zerrte sie an den Falten und zog, bis sie glatt waren. »Du hast so ein wunderschönes Gesicht«, sagte er. »Deine schrägen Augen. Wie ein Hündchen.« »Was soll das denn?« sagte sie. Gleich würde sie ihm eine Plastiktüte über den Kopf stülpen und ihn zu malen beginnen, wenn er erstickte. Als sie sich abwandte, sah er, daß der Kimono zitterte. Das Muster mit eingestickten Bäumen und weißen Vögeln flirrte wie im Wind. »Deine Schuldgefühle«, sagte sie, »sind mir ein wenig zu stark, glaube ich. Es ist vielleicht besser, du läßt mich wissen, wenn du meinst, du möchtest wieder leben. Das ist meine Meinung, falls du sie wissen willst.« »Ich muß zur Arbeit«, sagte er. Er ging zurück und holte seine restlichen Sachen und begann sich anzuziehen. »Ich fahre dich hin.« Der Tag stieg bereits auf. Eine wunderschöne blutrote Sonne kam am Horizont über dem Meer empor. Unscharfe Lichtpfeile schossen aus der weiten Ferne bis an den gischtenden Strand. Jo Jo fuhr ihn. Sie hatte ihm einen Becher Kaffee mitgegeben. Er hielt ihn im Schoß und nippte ab und zu daran. Er steckte sich eine Zigarette an. Sie hielt den Blick auf die Straße gewandt. Sie sprachen nur das Nötigste, wenn er ihr die Richtung angab, die sie fahren mußte. Am Fischerhafen deutete er auf den dem Pier der 361
Southern Gal nächstgelegenen Parkplatz, wo auch andere Wagen ankamen, Türen schlugen und Männer ihre Sachen herausholten. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, aber er versuchte nicht einmal, ihren funkelnden Augen standzuhalten. Als sei es dies, was sie von ihm erwartete, studierte er statt dessen intensiv das Armaturenbrett. Es war ein klarer Morgen. Schon durchpflügten die ersten Fischdampfer das Wasser und schwebten scheinbar auf der orangeroten Glut hinaus. Motoren starteten, tuckerten im Leerlauf, und der Gestank von Dieselabgaswolken stieg in die noch glasklare Luft auf, als er zu seinem Boot ging. Die Tür schlug hinter ihm zu, und er ging einfach weiter, ohne sich umzuwenden, wenn auch weder schneller noch langsamer. Es war ihm wieder, als sei diese ganze Welt um ihn herum, samt dem Morgengeschrei der Möwen und dem Klatschen des Wassers gegen die Pfähle, gar nicht wirklich die, in der auch er lebte. Ihre Hand legte sich auf seine Schulter. Ihre Finger drückten auffordernd, stehenzubleiben. Er blieb stehen, drehte sich aber nicht um. Dann schlug ihr Kopf zweimal an seinen Rücken, und ihre Hand tastete über seine Brust, bis sie den Muskel über dem Herzen fand. »Es ist da irgendwo drin«, sagte sie. Dann ging sie weg. Schön, sagte Emily. Aber ich habe es. Es gehört mir. Er sah ihr nach, wie sie davonfuhr. Es wurde ihm klar, daß die beiden ihm fehlten. Emily und ihr Vater. Sein Herz war nicht mehr, wo Jo Jo gedrückt hatte. Es war fort, und das Mädchen, das es genommen hatte, war eine besitzgierige Geliebte. Und sie war schmerzlich und furchterregend unsicher. Aber sie brauchte sich nicht zu sorgen. Ihre traurigen, schüchternen, kindlichen Augen 362
fehlten ihm, wie sie ihn anblickten und ihn zu hypnotisieren versuchten. Als er sich über die Reling schwang und an Bord sprang, kam Ol’ Hank bereits polternd von unten herauf und schrie ihn an: »Du mußt zweimal nachsehen, ob auch genug Bier und Sprudel da ist!« »Ja, ich weiß.« »Und sieh nach der Ködertonne.« »Ist gut.« »Und hole auch wirklich die toten Fische raus. Die schwimmen oben. Hol sie raus, verstanden?« »Ja, ich weiß ja. Sie haben es mir gesagt.« Er ging zur Ködertonne, und Ol‘ Hank blieb hinter ihm, die Zigarette im Mundwinkel. »Das muß jeden Morgen und jeden Abend gemacht werden.« »Sie haben es mir schon gesagt, Hank.« »Die sind nämlich die eine Minute noch völlig munter, und die nächste sind sie hin. Fische treiben einfach hoch und sind tot, genau wie wir auch. Wenn ich mal sterbe, was denkst du wohl, was passiert? Die nächste Minute ist ein anderer da und tut, was ich bisher gemacht habe. Steht hier und redet mit dir genauso wie ich jetzt. Was denkst du, wer? Du brauchst bloß einmal mit den Augen zu klimpern, falls du es überhaupt bemerkst. ›Wo ist der olle Hank?‹ ›Weiß nicht.‹ ›Der ist tot.‹ ›Wirklich?‹ ›Wenn ich’s dir sage.‹ ›Aha, und wer sind Sie?‹ Irgend so ein Würstchen. Wer, denkst du wohl, wird es sein?« »Keine Ahnung.« »John, John, John«, sagte der alte Mann und drückte seinen Arm mit seinen großen Händen. »Was ist?« 363
Aber Hank lächelte nur und drehte sich um und genoß die ganze Absurdität der Szene und spuckte einen großen schwarzen Klumpen über die Reling ins Wasser, auf dem sich eine riesige Sonne spiegelte. Das ist der dritte Tag, John, sagte sie. Heute abend nach der Arbeit suchte er Freddy Gale. Das mochte paradox sein, wie es wollte, aber es mußte sein, basta. Wie Nostalgie nach einem Platz oder einer bestimmten Zeit, einem Jahrzehnt, einer Stadt, wo sich das eigene Leben ereignete, zu dem auch alle Feinde gehörten. Einfach was man tat, wenn man jemanden vermißte. Doch zuvor fuhr erst noch mal die Southern Gal aus dem Hafen auf entgegengesetztem Kurs hinaus in die morgendliche Lichtglut des Wassers, auf dem die Wellen immer länger wurden.
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26. KAPITEL Freddy konzentrierte sich auf sein Herz, als sei jeder neue Schlag, den es tat, ein schutzloses, aber wertvolles Objekt auf dem Tisch vor ihm. Eben noch hatte er eine große Tür in seiner Brust sich schließen gespürt. Aber als der große schwarze Sack sich über seinen Kopf zu stülpen begann, legte er sich auf den Fußboden. Die bleiche Leere über ihm war die Decke. Sie transpirierte leicht, fand er. Auch mit seinem Vater war es so zu Ende gegangen. Sauerstoffmangel. Herzflackern. Ein elektrischer Kurzschluß hatte das Herz getroffen und unterband dem Gehirn den Atem und nahm dem alten Mann Energie. Und in diesem Zustand verblieb er noch eine kurze Weile, schon ein wenig grün vielleicht, aber noch imstande, irgendeine Geschichte zu brabbeln. Und danach lag er da wie ein Fernseher, dessen Stromkabel herausgezogen wurde. Ein grauer, leerer Bildschirm, auf dem er, Freddy, nichts mehr hatte sehen können und aus dem auch keiner mehr heraussah. Die Sekunden dazwischen waren schlimm gewesen. Roland Gale hatte sich stockend beklagt wie ein träumender Hund, der Schwierigkeiten in seiner Tierwelt mitteilt. Zweimal hieb er ihm die Faust auf die Brust wie bei einem komischen Wutausbruch oder auch einem Versuch, Stärke und Kraft zu demonstrieren. Er hatte das alles in erstarrtem Staunen erlebt. Wie seinem Vater dann die Augen heraustraten und zu hartgekochten Eiern wurden, als säße irgendein Monster aus einem Horrorfilm dahinter, das gleich hervorplatzen und den ganzen Raum füllen wollte, dann aber alles abblies, als sei es doch irgendwie peinlich und würdelos, sich noch weiter zu wehren, wo doch alles schon entschieden war. 365
Mit ihm jetzt allerdings geschah nichts von alledem. Es war nur der Schatten der Tür da und die Verheißung eines eigenartig schmerzhaften Schließens. Es war die Erinnerung an den Vater und an noch manches andere. Er lag auf dem Teppich und dachte nach. Diese Tatsache allein sprach dagegen, daß er tot sei. Mit der Pistole, die er beim Niedersinken zu Boden auf die Couch hatte fallen lassen, war niemand in den Kopf geschossen worden. Sein Herz klopfte unverdrossen und freute sich wie ein Kind, das gebockt hatte, darüber, welche Aufmerksamkeit man ihm schenkte. Er setzte sich auf. Er sah, daß die Pistole direkt neben dem Kalender lag, als seien sie zwei Teile derselben Sache. Er mußte den heutigen Tag durchstreichen. Doch da bemerkte er, daß er gar nicht auf dem laufenden war. Er wußte nicht, welcher Tag heute war. Er knurrte über die Absurdität dessen, was er tat. Er spuckte auf den Kalender und rappelte sich hoch. Er zog sich rasch an und blieb an der Ecke stehen, um lang und heftig zu pissen, einfach an die Wand, alles auf den Teppich. Na großartig, Dad, sagte Emily und kicherte. Mein Lieber, du bist ja ganz schön auf dem Hund. Ganz schön. Es war schon Mittag, als er ins Geschäft kam. Jeffrey, der eben mit einer Kundin in einem purpurroten, zwei Nummern zu engen Kostüm beschäftigt war, sah ihn an, als gehöre er gar nicht hierhin. Freddy blinzelte ihm zu, und Jeffreys Antwortblick schien zu besagen, es sei wohl das beste für beide, wenn sie einander die fälligen Erklärungen später abgäben. »Das ist ungeheuerlich«, schimpfte die Kundin, während sich Freddy hinter ihr vorbeidrückte, »eine derartige Unfähigkeit. Wie kann man eine dermaßen falsche Ringgröße zustande bringen?« 366
»Das ist nicht unsere Schuld«, sagte Jeffrey. »Und daß man dann hinterher auch noch belogen wird«, fuhr die Kundin unbeeindruckt fort. Sie hatte Freddy inzwischen erblickt und versuchte ihn im Auge zu behalten, ohne ihren strafenden Blick von Jeffrey abzuwenden. »Sie haben an einem Tag geschwollene Finger und am anderen wieder nicht«, verteidigte sich Jeffrey. »Ich habe keine geschwollenen Finger!« sagte die Kundin und starrte dabei Freddy an, ohne sich darüber klarwerden zu können, ob diese Auseinandersetzung auch ihn betraf. »Es tut mir sehr leid«, sagte Jeffrey, »aber ich habe sie sehr sorgfältig gemessen.« »Ich habe keine geschwollenen Finger!« beharrte die Dame. Dann erkundigte sie sich mit einem Blick zu Freddy. »Wer ist denn das?« »Ich bin hier zuständig, um Ihnen zu helfen«, sagte Jeffrey. »Also lassen Sie mich helfen.« Freddy griff in seinem Büro nach seinen Telefonbenachrichtigungen und ging sie durch. Der Kontrollmonitor auf seinem Schreibtisch zeigte ihm Jeffrey, wie er sich nach wie vor mit der ärgerlichen Kundin abmühte. Die Kamera, die sich in einer unauffälligen Ecke hinten im Laden befand, erfaßte die beiden steil von oben herab. Sie schienen immer wieder dieselben Argumente zu gebrauchen. Aber so, wie diese Frau in dem viel zu engen Kostüm steckte, schien sie generell Probleme mit den richtigen Größen zu haben. Er ging die rosaroten Notizzettel noch einmal durch und merkte, wie verärgert er darüber war, daß Mary nicht angerufen hatte. Er hatte erwartet, von ihr zu hören. Oder vielleicht war es auch John Booth, dessen Anruf er 367
erwartet hätte. Jedenfalls irgendwer, der wichtig war. Als er sich in seinen Sessel zurücksinken ließ, bohrte sich die Pistole in seinem Hosenbund in seine Wirbelsäule. Die Frau unten sagte gerade: »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, ja? Diese Finger hier habe ich schon, seit ich erwachsen bin, und die verändern sich nicht. Es sind meine Finger.« »Es kann Wasser sein«, sagte Jeffrey. »Manche Leute kriegen Wasserfinger.« »Ich nicht.« »Das gibt es«, sagte Jeffrey. »Besonders bei Frauen.« Die beiden machten ihn wahnsinnig mit ihrer endlosen Debatte. Er zündete sich eine Zigarette an und versuchte sich an das letzte zu erinnern, was Mary gestern in ihrem Haus gesagt hatte. Ihre letzten Worte. Ihre letzte Lüge. »An einem Tag hat man geschwollene Finger«, sagte Jeffrey unten, »am anderen wieder nicht. Aber das ist, entschuldigen Sie, doch Ihr Problem, nicht unseres.« Freddy zog das Magazin aus der Pistole, entnahm ihm eine Patrone und schob es wieder hinein. Er prüfte nach, ob alles stimmte. Daß Mary nicht angerufen hatte, machte alles, was er tat, schal und sinnlos. Er starrte auf Jeffrey und die Kundin auf dem Bildschirm. Unnatürlich schwarzweiß, blecherne Stimmen. Das dümmste und langweiligste Fernsehprogramm, das er seit langem gesehen hatte. »Ich hatte Größe sieben am Dienstag, und ich habe heute Größe sieben«, sagte die Frau. »Ich habe mehrere Male Maß genommen, Madam«, sagte Jeffrey. »Ich kriege ihn nicht einmal auf den Finger! Das ist nicht Größe sieben!« 368
»Und warum hat er dann vor drei Tagen noch perfekt gepaßt?« »Hat er nicht.« »Warum sind Sie dann mit ihm weggegangen?« »Hören Sie mal, ich zeige Sie bei der Verbraucherzentrale an. Wenn Sie meinen, so können Sie mit Kunden umgehen, haben Sie sich getauscht!« Diesem Weib sollte man den Pistolenlauf ins Ohr stecken und abdrücken, verdammt! Dann konnte sie zur Verbraucherzentrale gehen. Als das Magazin einklickte, lud er durch. Es gefiel ihm, wie die Patrone in den Lauf glitt. Entschuldigen Sie mal, Madam, aber ich würde Ihnen dringend raten, sich an Ihre Unterrichtsstunden in gutem Benehmen zu erinnern, oder ich ziehe Ihre Lizenz für Geräusche ein. Er drehte die Lautstärke herunter, doch sogleich danach wieder auf, weil ihr sinnloses, beschränktes und egoistisches Gequassel in seiner ganzen schamlosen Dummheit auch einen reinigenden Effekt auf ihn hatte. Finger! Die stritten sich endlos über Finger und Ringe! Er war im nächsten Augenblick unten, zog den Vorhang zwischen Treppe und Laden auf und sagte: »Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein, Madam?« »Sind Sie der Ladenbesitzer?« fragte die Frau. »Richtig, ich bin der Eigentümer.« »Na, Gott sei Dank. Ich habe diesem dämlichen Japaner hier nun schon tausendmal gesagt, daß ich diesen Ring in Größe sieben bestellt habe. Alle meine Ringe waren immer schon Größe sieben.« »Jeffrey hier hat eine gründliche Ausbildung und alle Vollmachten.« »Jedenfalls paßt mir dieser Ring nicht.« Und sie streckte 369
ihm ihre Finger mit aufgeklebten Nägeln, groß wie Bärenklauen, entgegen. Der Ring baumelte am vorderen Fingerglied. Er grinste sie an, als wolle er ihr begreiflich machen, daß er ihr, sobald er sich über die beste Methode klar sei, etwas antun werde. Er griff sich den Ring und hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger von sich weg, als sei er von ihr infiziert, nach oben ins Licht vor sein erfahrenes Auge. »Das ist Größe sieben«, sagte er. »Es ist sechseinhalb oder meinetwegen sechsdreiviertel, zum Teufel, aber höchstens. Und am äußeren Rand!« sagte die Frau stur. »Nein«, sagte Freddy. »Versuchen Sie ja nicht dieselbe Tour mit mir wie Ihr Angestellter da«, fauchte sie. Er knallte die Pistole auf die Ladentheke, worauf die Glasplatte zersplitterte. Nicht nur die Frau, auch Jeffrey fuhr entsetzt zusammen, als die Sprünge im Glas milchig wurden und eine Art Stöhnen von sich gaben, als riefen sie um Hilfe. Freddy drehte das Gesicht der Frau zu sich her und zog sie nahe zu sich heran. Er drückte ihr den Ring an die Stirn, wo sie ihn nicht mehr sehen konnte. »Sieht das vielleicht aus wie sechseinhalb oder sechsdreiviertel?« Sie versuchte mit verdrehten und verschreckten Augen, den Ring auf ihrer Stirn zu erblicken und seine Frage zu beantworten, aber er enthob sie aller weiteren Überlegungen, indem er ihre Finger nahm und sie tief in den Mund schob, daran saugte, sie herumschob und voller Speichel wieder herausließ und ihr dann den Ring bis zur Fingerwurzel über das Mittelgelenk schob. »Sie hatten völlig recht«, sagte er. »Größe sieben. Eine ganz perfekte blöde Sieben.« 370
Sie starrte wie versteinert auf den Ring, während Freddy sich die Pistole griff und zur Tür ging und daran dachte, wie sie jetzt alle auf Videoband verewigt waren Er warf einen Blick nach oben zur Kamera und lächelte makaber hinein. »Mr. Gale!« sagte Jeffrey. »Was ist?« Die Frau stand unbeweglich da wie ein altes Möbelstück, um das er sich nie geschert hatte, und er blickte auch an ihr vorbei. Jeffrey stand stocksteif da. Seine Hand bewegte sich nur langsam, und der Satz, den er offenbar sagen wollte, schien ihm einfach nicht über die Lippen zu kommen. »Jeffrey«, sagte Freddy, griff in die Tasche, holte seine Safeschlüssel heraus und warf sie ihm zu, »Sie schließen heute abend zu, okay? Und machen morgen früh wieder auf, ja?« Er fuhr eine dreiviertel Stunde lang ziellos herum, hier in eine Wohnstraße, dort in ein Geschäftsviertel. Er raste auf diese oder jene Autobahnstrecke und wieder herunter, stellte sich auf einen Parkplatz oder drängte in eine Einkaufsstraße – er versuchte den in seinem Inneren herumtobenden Adrenalinüberschuß loszuwerden. Schließlich war er auf dem Sunset Boulevard und begann wie ein einschwebendes und landendes Flugzeug die lange Abfahrt nach unten bis zum Highway der Pazifikküste. Dort bog er in Richtung Malibu ab und fiel in einen Alkoholladen ein. Er kaufte außer Zigaretten eine Flasche Absolut und ein halbes Dutzend AirlineFläschchen. Während er sein Wechselgeld einsteckte, blinzelte er einen runzligen Mann mit einem fünfzig Jahre alten Bierbauch und einem Bon-Jovi-T-Shirt an und sagte: »Kenne ich Sie nicht? Haben Sie uns nicht mal auf einer 371
Party oben in … war es dort? Moment, Moment, ich hab’s gleich.« »Glaube ich nicht«, sagte der andere. »Bartholomew heiße ich. Bart. Bart Samuels.« Der andere wußte nicht recht, was er davon halten sollte, blieb aber höflich und nahm Freddys hingestreckte Hand. »Tut mir leid, aber ich glaube nicht.« »Moment, Moment, jetzt hab ich’s gleich. Sie – sind nicht der, den ich meine.« Draußen entdeckte er Telefonzellen. Er ging zur letzten, warf ein paar Quarter ein und wählte Marys Nummer. Aber dann merkte er, daß er ihrem blöden Anrufbeantworter nichts zu sagen hatte, und hängte wieder ein. Er hatte noch Quarter übrig, also warf er einen ein und wählte E.M.I.L.Y. nach der alten Buchstabenwählscheibe. Aber damit bekam er nicht genug Ziffern für eine Nummer zusammen. Vielleicht sollte er G.A.L.E. dazuwählen? Er zählte. Zuviel. Schon nach G. A. würde es irgendwo klingeln. Er warf drei Quarter ein und begann zu wählen, hörte aber nach einigen Ziffern wieder auf. Er steckte sich eine neue Zigarette an und begann von vorne, nur wählte er diesmal die Nummer von John Booths Eltern. »Ja, hallo?« sagte eine Frau. »Ich möchte John sprechen.« »Wer ist denn da?« »Crabbe ist mein Name. C-r-a-b-b-e. Kann ich John Booth sprechen? Bin ich da richtig bei Ihnen?« »John?« »Ja. Ihren Sohn. Sind Sie nicht seine Mutter?« »Ja, aber John ist nicht da.« »Wann kann ich ihn denn erreichen? Wissen Sie, ich 372
habe eine Überraschung für ihn.« »Eine Überraschung?« »Ja.« »Das wird nicht so leicht sein.« »Wieso?« »Nun, wenn Sie ihn kennen, dann wissen Sie doch, daß John einen Job hat. Stellen Sie sich vor, er hat einen Job. Ist das nicht wunderbar? Wir sind sehr froh darüber.« Mein Gott, so ein Theater, dachte Freddy. Tut so, als sei es ein Weltwunder, daß ihr Sohn so einen Job hat. »Er arbeitet wirklich lange. Ich glaube kaum, daß Sie ihn da leicht erreichen. Er ist die meiste Zeit auf dem Boot.« »Er arbeitet auf einem Boot?« »Das ist harte Arbeit, wissen Sie.« »Kennen Sie den Namen? Von dem Boot, meine ich. Den müßte ich natürlich wissen, wenn ich zum Hafen runterfahren und ihn dort suchen soll.« »Ach so, ja, natürlich. Southern Gal heißt es. Ist das nicht ein hübscher Name?« »Na, ja, sicher. Das ist es. Na gut, vielleicht fahre ich da mal runter. Obwohl ich nicht weiß, ob ich dafür Zeit finde. Richten Sie ihm doch aus, daß ich angerufen habe. Aber sagen Sie ihm nichts von der Überraschung.« »Ja, das ist wirklich dumm. Ganz dumm.« »Das ist es, ja.« »Aber es gibt Schlimmeres.« »Gewiß.« »Nein, wirklich. Haben Sie nicht von dem Erdbeben unten in Mexiko gehört? Heute nachmittag in den Nachrichten? Das Zentrum war unter dem Vorort von irgendeiner großen Stadt, und das Epizentrum direkt unter 373
einem Altersheim. Direkt darunter. Ist das nicht schrecklich? Ich habe es grade eben im Radio gehört. Was, glauben Sie, denkt sich Gott bei so was, warum macht er das?« »Ich habe keine Ahnung.« »Alle diese alten Leute.« »Vielleicht denkt er sich gar nichts. Ich meine, vielleicht denkt er überhaupt nicht. Und tut einfach nur seine Sachen.« »Na, das wäre ja was.« »Tja, dann vielen Dank, Mrs. Booth. Auf Wiederhören.« »Schon in Ordnung, Mr. Crabbe. Wiederhören.« Nach Long Beach zu kommen, war einfach, und auch den Hafen dort zu finden, war nicht schwer. Aber den genauen Pier der Southern Gal herauszukriegen, war schon schwieriger und verlangte auch etwas Intelligenz und Geschick. Er mußte den auf seinem Motorroller herumtuckernden Hafenwächter fragen, ihn zum Anhalten bringen und ihm irgendeine Phantasiegeschichte erzählen. Es war mühsam, sich die ganzen Details dafür auszudenken und sie dem Kerl auseinanderzusetzen, der offenbar gar nicht richtig zuhörte und mit den Gedanken irgendwo anders war, vielleicht bei irgendeinem Hindernis-Pferderennen oder sonst was. Oder bei einem todsicheren Lottosystem. Das war alles fürchterlich mühsam und langweilig. Dann fuhr er immerhin zum Pier 8 und parkte dort und ging zu Fuß auf einem mit einem verwitterten und morschen alten Schild versehenen Steg weiter, und er fand es ebenfalls mühsam und langweilig, wie der Steg ständig schaukelte und knarzte. Erst links und dann wieder zurück. Und was dann, wie ging es weiter? Dann ging es wieder nach links und wieder zurück und immer dasselbe Klatschen des Wassers unten. Die Möwen 374
kreischten und tauchten und flogen nicht weg und waren wie Müll im Wind. Und das Geräusch der Dieselmotoren war langweilig, und die Kerle da oben in ihrer Matrosenkluft waren erst recht langweilig. Sterbenslangweilig, das alles. So ein Haufen Idioten, sagte Emily. »Lauter Arschlöcher«, antwortete er ihr. Einer der Burschen in der Nähe schob eine Kiste zur Seite, die ihm den Blick versperrte, weshalb er keine Ahnung hatte, was sich vor seinen Augen abspielte. Als er Freddys Stimme hörte, linste er dahinter mit einem gelangweilten Blick hervor. Freddy dachte nicht daran, stehenzubleiben, aber als dann eine Welle über den Laufsteg schwappte, stieß er fast mit der Kiste zusammen. »Hoppla«, sagte der Mann. Gleich danach tönte eine wichtigtuerische Donnerstimme aus einem Lautsprecher: »Sir, verlassen Sie das Dock! Ja, Sie, Sir! Verlassen Sie das Dock! Sofort!« Eine unglaublich langweilige Stimme. »Verlassen Sie das Dock, Sir! Verlassen Sie das Dock, Sir! Ja, ich rede mit Ihnen!« Er suchte nach der Quelle der Durchsage, aber da sang Emily für ihn. Sailing, sailing, over the bounding main. Dann tätschelte sie die Pistole, die Neunmillimeter, das tödliche Scheißding hinten in seinem Hosenbund, und er blickte hinauf zu dem Mann hinter der Kiste, und sie sagte: Ausgerechnet. »Sie wollen hier niemanden haben«, sagte der Mann an der Kiste. Er richtete sich mühsam auf. »Ach ja?« sagte Freddy. »Ja.« Der Lautsprecher dröhnte noch immer, aber er überhörte 375
ihn einfach. »Arbeiten Sie hier?« fragte er den Mann. »Auf der Southern Gal?« Und er nickte zu dem Boot hinüber, das keine zwanzig Meter vor ihnen lag. Der Name stand gut lesbar am Bug. »Ja.« »Ich suche jemand, der auf diesem Boot arbeitet.« »Wen denn?« Der Mann blickte zum Himmel hinauf, als habe er die Regeln verletzt und den Zorn des Lautsprechermannes erregt. Er schob die Kiste zurecht, um sie besser greifen zu können, wo er doch, hätte er nur etwas Grips im Kopf, das blöde Ding besser einfach stehengelassen hätte. Er hatte eindeutig keinen Schimmer einer Ahnung, wie sehr er Freddy langweilte. »Sie langweilen mich«, sagte Freddy. »John Booth heißt er.« »Ich langweile Sie? Ich langweile Sie? Wissen Sie, was Sie mich können?« »John Booth!« »Der ist nicht da. Der ist schon vor zwanzig Minuten weg. Und jetzt machen Sie, daß Sie fortkommen, ja?« »Aber ja doch«, sagte Freddy, weil er dem Mann nicht glaubte. Und plötzlich wußte er auch, warum. Weil hinter seiner blöden Kiste unverkennbar John Booth sichtbar wurde, wie er an der Kabinenseite entlangging und verschwand und sich im Innern der Southern Gal zu verbergen versuchte. »Und wer ist dann das?« fragte Freddy den Mann und rannte an ihm vorbei. »He!« rief ihm der Mann nach, und er konnte sich denken, daß er seine Kiste endlich absetzte. Er hatte die Hand schon an der Reling und war im Begriff, an Bord zu springen, als ein alter, weißhaariger 376
Mann erschien, dem Rauch und Asche um den ganzen Kopf und aus dem Mund wirbelten. Er hatte einen dicken Knüppel in der Hand, und sobald er Freddy anblickte, hustete er, was ihn jedoch nicht hinderte, den Knüppel warnend zu heben: »Kann ich Ihnen vielleicht helfen?« »Ich will nur mit John Booth reden.« »Der ist nicht hier.« Der Alte hatte einen grünlichen Teint, als seien seine Knochen darunter zersetzt, mit Grünspan bedeckt. Er pustete die Zigarette aus dem Mund, ohne die Hand zu Hilfe zu nehmen, und spuckte und spuckte in einer Tour. »Ich will nur mit ihm reden«, sagte Freddy. Der andere Mann sprang an ihm vorbei und suchte an Deck nach etwas, und als er es gefunden hatte, nämlich eine Stange mit einem mächtigen Metallhaken am Ende, der wie ein unangenehmes Fragezeichen aussah, kam er zurück. »Ich weiß nicht, was hier los ist«, sagte er. »Was ist hier los, Ol’ Hanks?« »Ruhig, ganz ruhig, ist ja schon gut«, sagte Freddy. Er machte seine Jacke auf, als sei er stolz auf sein Hemd. Und wie vor einem Bühnenvorhang steckte da seine Pistole. Der Alte hustete nun schon so heftig, daß er sich auf eine an der Kabinenwand befestigte Lagerkiste setzen mußte. Der andere legte den Knüppel ab, wollte ihn aber auch nicht ganz fallen lassen. Er sah aus, als kämpfe er mit sich um eine wirklich schwere Entscheidung. Und da kam der Hüne, den Freddy vorhin unter Deck hatte verschwinden sehen, wieder heraus und schlenderte daher, als sei er auf dem Weg zu einem Picknick. Aber er war nicht John Booth. »Ich kann’s nicht finden, Ol’ Hank«, sagte er. »Sind Sie sicher, daß Sie’s da runtergelegt haben?« Freddy hatte keine Ahnung, wovon der Mann sprach, 377
aber soviel stand fest, John Booth war er nicht. Nur noch so ein Blödmann in Matrosenkleidung. »Ich suche einen, das ist alles«, sagte er. »Ich will ihm lediglich guten Tag sagen, verstehen Sie. Vielleicht habe ich ja auch ein Geschenk für ihn, vielleicht auch nicht. Aber ihr macht da einen Zirkus und schwingt Knüppel und was weiß ich. Ich habe keine Lust, als Fischköder zu dienen, damit das klar ist. Das ist überhaupt nur ein Mißverständnis allerseits, wißt ihr. So sieht es aus. Was mich angeht, entschuldige ich mich. Und ihr sagt John einfach, Bobo war hier und hat nach ihm gefragt. Bobo Mannassadada. Sagt ihm das.« Und damit drehte er sich um und ging zu seinem Wagen zurück. Das war vielleicht gut, sagte Emily. Der Name, meine ich. Der gefällt mir. Toll, Dad, toll. Mannassadada. »Der ist wenigstens nicht langweilig«, sagte er. Hinter sich hörte er die Männer auf dem Boot. »Wer war denn der Blödmann?« sagte der Alte zwischen zwei Hustenanfällen. »Ich glaube, der hielt dich für John.« »John ist doch schon weg.« »Scheißexsträflinge«, sagte der Alte. »Das hat man davon, wenn man solches Kroppzeug nimmt.«
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27. KAPITEL Als der Bus rumpelnd an der Straße der Juweliere hielt, stieg John aus ihm aus wie ein Fallschirmspringer. Aber dann blieb er stehen. Es war ein Augenblick mit dem Gefühl, eben keinen Boden unter den Füßen zu haben. In wenigen Sekunden war er in Freddy Gales Laden und erzählte ihm etwas. Bringen Sie mich um. Bringen Sie mich nicht um. Hallo. Reden wir. Der Teufel soll Sie holen. Wenn Sie mir noch einmal über den Weg laufen, sind Sie ein toter Mann, klar? Ich warne Sie. Ich bitte Sie. Wie geht es Ihnen denn? Lange nicht gesehen. Er steckte sich eine Zigarette an und inhalierte tief, während er seinen Mut zusammennahm. Mut. Alles, was er hatte. Pausenlos fuhren Autos die Straße rauf und runter, in beide Richtungen, eine einzige Lärmlawine. An der Ecke spielte eine Chicano-Band. Er drängelte sich durch. Als er auf der anderen Straßenseite war, ging er geradewegs auf das Geschäft zu. GALE’S FINE JEWELRY. Ohne innezuhalten, lief er an den sinneverwirrenden Schaufenstern vorüber und durch die Tür in den Laden hinein. Ein junger Asiate stand gebeugt mitten im Laden und fuhr mit einem Staubsauger herum. Er hantierte mit dem Schlauch und schob ihn hin und her. Er war ganz auf den Boden konzentriert, dessen Teppich voller Glassplitter war. Wegen dem Lärm des Staubsaugers und seiner intensiven Konzentration auf seine Arbeit bemerkte er gar nicht, daß jemand gekommen war. Gleich neben ihm war eine der Glasvitrinen zersplittert. John zögerte und fragte sich, ob Freddy wohl irgendwo sei. Vielleicht im Büro? Sicher gab es hier auch ein Büro. 379
Der junge Asiate drehte sich eben herum. Als er unvermutet John vor sich erblickte, erschrak er. John nickte ihm freundlich zu. Er versuchte noch immer das Büro zu entdecken und fixierte seinen Blick bereits auf den dunklen Vorhang hinten. Der junge Mann war inzwischen auf den Fußschalter des Gerätes getreten und hatte den Staubsauger abgestellt. Er sah aus wie der aus der Modezeitschrift. Ballonhose, Zweireiher und Sweatshirt darunter. »Womit kann ich dienen?« fragte er und sah dabei aus, als habe er sich einen der Glassplitter auf dem Boden in den Fuß getreten. »Tja, ich möchte eigentlich zu Mr. Gale, dem Inhaber.« »Der ist verrückt geworden, wenn Sie es genau wissen wollen.« »Was?« »Der Mann ist reif fürs Irrenhaus. Meine Devise ist, laß deine Neurosen zu Hause, wenn du ins Geschäft gehst. Ich meine, wir flippen alle mal aus, nicht? Ich und Sie sicher auch hin und wieder mal. Aber alles mit Maß und Ziel, sage ich immer. Wenn es schon sein muß, warum dann ausgerechnet hier im Geschäft, wo Kunden sind und alles?« »Was ist denn passiert?« »Fragen Sie mich nicht. Keine Ahnung. Und ich stehe auch noch genau dabei, genau hier, als es passiert. Wenn ich heute nach Hause komme, werde ich sagen: Jetzt ist er übergeschnappt. Sonst nichts. Jetzt ist er übergeschnappt.« »Ich wollte eigentlich zu ihm. Ist er nicht hier?« »Natürlich nicht. Warum sollte er denn auch hier sein, nicht? Ist ja nur sein eigenes Geschäft!« »Wissen Sie, wo er ist?« 380
»Ehrlich gesagt, Sir, da Sie nur zu Mr. Gale wollen und nicht hier sind, um etwas zu kaufen, wäre es mir lieber, Sie würden jetzt wieder gehen. Ich will hier nur noch saubermachen und dann heimgehen. Ich habe verteufelte Kopfschmerzen.« Und er hieb seinen Fuß auf den Schalter des Staubsaugers, der wieder aufjaulte und Luft einsog. »Es war eine wunderschöne Dame hier«, schrie er über den Lärm hinweg, »die beschwerte sich über irgend etwas, weil sie der Meinung war, einen nicht so guten Kauf gemacht zu haben, und, nun gut, sie machte ein bißchen Terror, aber mein Gott, wen kratzt das, nicht? Das steckt man doch weg, als wäre es nichts. Oder? Ich verstehe das nicht, wie er sich aufführte.« »Sie meinen, er hat das hier angerichtet? Die Vitrine zerbrochen?« sagte John. »Er selber?« Er ging hin und betrachtete die Glassplitter über den kostbaren, funkelnden Armbändern. »Mit einer Pistole! Ich sage Ihnen, mit einer Pistole!« »Er hat es zerschossen?« Er kam näher, um weiterzufragen. »Er hat da reingeballert?« »Nein. Nein. Draufgehauen damit. Wie mit einem Hammer.« »Aber wo er jetzt ist, wissen Sie nicht?« fragte John. Er ging wie unter Zwang noch einmal hin und besah sich das Chaos erneut. »Na, vermutlich bei seinen Nutten.« »Was?« »Wo wird er sonst schon sein? Wie immer. Bei diesen nuttigen Tänzerinnen und seiner ganzen Freundesclique drüben auf der 7. Straße. In diesem Edelstripperladen, über dem er wohnt.« 381
»Sie meinen, er wohnt hier in der Gegend?« »Ich schreibe es Ihnen auf, wenn Sie wollen. Es ist nur ein paar Blocks weit. Vielleicht können Sie ihm ja ein wenig zureden, daß er wieder normal wird.« Er stellte den Staubsauger wieder ab und suchte in seinen Taschen herum, bis er einen Stift fand. John brauchte nicht lange zu suchen. In weniger als zehn Minuten stand er vor Freddys Wohnhaus. Der Bus, der heranfuhr und genau vor ihm hielt, erschreckte ihn. Er starrte auf die offene Tür, aber stark war die Versuchung, hineinzusteigen und mitzufahren, nicht. Dieses zufällige Zusammentreffen fesselte ihn mehr als die Möglichkeit, sich wieder zu entfernen. Was er da eben in Freddys Laden erlebt hatte, ließ ihn die Dinge inzwischen ganz anders sehen. Das sah ja so aus, als laufe Freddy mittlerweile vor ihm davon. Sachen kaputtschlagen und dann wegrennen und sich verstecken. Er klingelte fünf volle Minuten lang, ehe er auf die Straße zurückkehrte, seine Sonnenbrille aufsetzte und wartete und nach oben starrte, als erwarte er, das richtige Fenster zu entdecken oder gleich Freddy dahinter. Er ging auf und ab und rauchte eine Zigarette. Dann ging die Tür des Calypso Club ein wenig auf. Es sah nicht aus, als wäre dort drinnen viel los. Es war wohl noch zu früh dafür. Er ging trotzdem darauf zu, spähte durch einen Perlenvorhang und fühlte sich unartig wie ein Kind an verbotenen Orten der Erwachsenen. Er nahm seine Sonnenbrille ab, und das erste, was er sah, war die Bar. Ein Block schwarzen Vinyls, unterteilt mit Silberstreifen. Hinter der Bar stand eine üppige Rothaarige in Jeans und BH mit nacktem Bauch. Sonst war an der Bar nur noch ein braunhaariges Mädchen in einem Kleid, vertieft in ein Paperbackbuch. Vor der mickrigen, jetzt nur schwach beleuchteten kleinen Bühne standen die 382
Tischreihen mit Stühlen. Hinten an einem Ecktisch saß ein dunkelhaariger, narbiger Kerl vor einem Rechnungsbuch und einem Computer. Er kaute an einer Zigarre und hatte Hosenträger über einem T-Shirt. Er warf John Booth durch seinen Rauchschleier einen kurzen Blick zu und widmete sich dann wieder seiner Buchführung, den Quittungen und dem Eingeben von Zahlen. In einer Nische in seiner Nähe war eine vierschrötige Gestalt erkennbar, ein Kerl wie ein Gorilla. Sein Kopf war ihm nach hinten gesunken, und er schnarchte vernehmlich. Die Bardame musterte John, wie er das ganze Lokal in Augenschein nahm, ehe er auf sie zukam und sah, daß ihr nackter Bauch in goldenem Schimmer leuchtete. »Wir haben noch nicht geöffnet«, sagte sie freundlich. John legte seine Sonnenbrille hin und fragte: »Könnte ich vielleicht trotzdem ein Glas Wasser bekommen?« »Wasser wollen Sie haben?« Sie schlurfte davon, sichtlich zu faul, die Füße zu heben. Das Mädchen mit dem Buch hob den Blick und lächelte. John lächelte zurück, und sie blickte ihn an, als habe sie einige sehr interessante Dinge in ihrem Kopf zu ordnen und abzuwägen. Der Umschlag ihres Buchs blitzte auf, als sie es flach hinlegte und glattstrich, ehe sie sich wieder in die Seiten vertiefte. Er konnte den Titel lesen. Männer, die Frauen hassen, und Frauen, die sie lieben. Er sah, daß sie noch mehr Bücher neben sich gestapelt hatte. Aber von diesen konnte er nur einen Titel erkennen. Die Männer sind vom Mars und die Frauen von der Venus. Als die Bardame mit einem Glas Wasser wiederkam, nippte er kurz daran und suchte den Raum ab. »Kennen Sie vielleicht Freddy Gale?« »Aber sicher doch«, sagte sie. »Der ist jeden Abend hier.« 383
Das andere Mädchen blickte wieder von ihrem Buch hoch, aber diesmal sah sie sehr neugierig aus. John fand, sie sehe aus, als habe sie etwas dazu zu sagen. »Sie kennt ihn am besten«, sagte die Bardame in einem Tonfall, der bereits die ganze Geschichte war. »Hallo, Maggie«, sagte das Mädchen zu ihr. »Hallo.« »Wir kennen ihn schließlich beide.« »Aber ich nicht so genau wie du, Mia.« »Ach was. Nie?« »Man soll nie nie sagen.« »Aber jetzt ist er nicht hier?« fragte John. »Nein«, sagte das Mädchen. Sie schob ihren Bücherstapel in eine Nische hinter ihr. Die Bardame streckte die Arme, legte sie auf die Bar und stützte ihr Kinn darauf. »Na, in der Regel kommt er zwischen halb zehn und halb elf.« »Sind Sie ein Freund von ihm?« fragte Mia. »Ich kenne ihn.« »Sollen wir ihm vielleicht etwas ausrichten?« fragte die Bardame in ihre Arme hinein. »Gott, bin ich k. o. Total fertig. Ich lege am besten einen Epstein Barr auf oder irgend so was.« Gleich danach rauschte es aus den Lautsprechern, als sie sie eingeschaltet hatte. Dann ging von einer Menge Lautsprechern rundherum der Lärm los. Mia griff sich ihre Bücher, sprang von ihrem Barhocker und sagte: »Also gut.« Es sah aus, als sei sie von irgendwem gerufen worden, so eilig und beflissen eilte sie davon mit den Büchern unter dem Arm wie auf dem Schulweg. »Sie muß üben«, sagte die Barfrau. 384
Aus der Musikwolke hatte sich inzwischen eine Männersingstimme gelöst, die indianisch klang. Synthesizerakkorde waren dazwischen und verstärkten die geisterhafte Andeutung von Dingen aus anderen Welten. Auf der Bühne vorne hatte Mia inzwischen ihr Kleid abgelegt. Sie trug einen weißen Strumpfgürtel, dazu einen Hauch von Strümpfen, ein Bikinihöschen und einen schmalen BH. Sie stand noch einen Augenblick an der Seite und wartete auf die richtige Musikstelle als Einsatz für sie. Die Musik war jetzt bei einer geisterhaften weiblichen Stimme. Es war eine Mischung aus Hexenpop und Gesang toter Mönche. Dann stand sie mitten auf der Bühne im hellen Scheinwerferlicht, wo sie herumstakste und sich wand. John starrte sie an und stellte sich vor, Freddy zu sein, der es gerade mit ihr trieb. Sie war geschmeidig und graziös und hatte lange und schlanke Beine. Ihre glatten Brauen und ihre Konzentration zeugten von akademischer Anstrengung. »Kommt Freddy oft hierher?« fragte er Maggie hinter der Bar, die noch immer in ihrer Stellung verharrte. »Ständig.« Er deutete mit dem Kinn auf Mia, damit sie sie zusammen beobachteten. Maggie nickte, als habe sie gerade eine lange und detaillierte Kommunikation mit ihm hinter sich. »Daß sie verrückt nach ihm ist, meinen Sie?« »Ich weiß nicht, was ich meinen soll.« »Na ja, sagen wir, wenn Sie sie einladen würden, mit Ihnen auszugehen, würde sie wahrscheinlich schon mitgehen. Aber ansonsten ist ihre Weltsicht mehr oder minder auf Freddy reduziert, wissen Sie. Und deshalb würden Sie sich bald vom Thema Freddy eingepackt sehen. Aber wahrscheinlich würden Sie das gar nicht merken. Sie würde Sie nur als eine Art taktische Waffe 385
betrachten, nachdem Sie Freddy kennen. Man kann schließlich annehmen, daß Sie untereinander reden. Und was redet ihr schon? Über Weiber. Und Mösen. Das würde sie sich auch denken. Das könnten Sie natürlich ausnützen, vorausgesetzt, Ihre Absichten sind begrenzt. Sie könnten sie also sicher ins Bett kriegen, denke ich, falls das alles ist, was Sie im Sinn haben, und wenn es Ihnen egal wäre, daß sie dann dabei nur an Freddy denkt und über Sie in seinen Kopf reinzukommen versucht. Sie hat da so einen Grundplan, den sie nicht mal selber ganz versteht, glaube ich. Und sie haßt es auch, ihn zu erklären. Nicht daß sie die einzige wäre. Wir haben ’ne Menge Mädchen hier, Verna zum Beispiel ist verrückt nach ihm, und er könnte alles mit ihr machen, wenn er wollte. Aber sie ist älter und beschwert sich auch gern. Woher kennen Sie ihn denn?« »Freddy?« »Ja. Augenblick mal, ich brauche dringend einen Kaffee, ich bin völlig schlapp. Als wäre ich voller Drogen. Dabei habe ich letzte Nacht sogar zehn Stunden Schlaf gehabt.« Sie hob den Kopf und nahm dann die Arme von der Bar, als hätte sie sie bisher dort abgelegt gehabt, während der Rest von ihr stand. »Lieber Gott«, sagte sie. Auf der Bühne hüllte Mia sich gerade in einen weißen Chiffonschal, aus dem nur noch ihr Kopf und ihre Beine hervorsahen. Der Rest von ihr war eine weiße Wolke. Die Musik klang jetzt wie Raumschiffmusik. Danach fing der Kerl, der diese indianischen spirituellen Weisheiten von sich gab, wieder an. Das Bühnenlicht verdunkelte sich zur theatralischen Nachtszene, und Mia gewann plötzlich eine besondere Qualität. Die Geräuschwelle brandete über die schwachen Umrisse ihrer nackten Haut hin. Weil der Bühnenboden schwarz gestrichen war, verschluckte er das Licht mehr oder weniger mit dem Effekt, daß sie zu 386
schweben schien. Nun kam die Hexenstimme wieder und säuselte was vom Glauben an Schicksal, und John war, als spiele sich alles nur in seinem eigenen Kopf ab. »Ich persönlich«, sagte Maggie und kam mit zwei Tassen Kaffee wieder, »finde Freddy ja ziemlich arrogant. Körperlich und so könnte ich es mir zwar schon mit ihm vorstellen, aber der Mann scheint kein Herz zu haben. Und wenn, würde er davon Gebrauch machen? Nun kann man sich ja mit solchen Fragen ziemlich verrückt machen, nicht? Aber in meinem Fall ist das eine lange Geschichte, sage ich Ihnen. Ich habe das alles schon erlebt, und es ist immer mit einer Menge Dreck verbunden. Deshalb halte ich mich in solchen Sachen lieber etwas zurück und sage mir: Aufpassen, Maggie, sieh dich um, wo du bist, schau dir deine Umgebung genau an. Ist da alles sauber und so? Ich schau mir genau den Plan vom Lokal an, verstehen Sie, damit ich, falls es Rauch und Feuer gibt, immer gleich weiß, wo der Notausgang ist. Nicht alle sehen das natürlich so. Wissen Sie irgendwas über Epstein Barr?« »Nein.« »Das ermüdet Sie, wie?« Sie legte ihre Arme wieder auf die Bar und ließ den Kopf auf sie sinken, aber so, daß sie dabei John im Auge behalten konnte. »Spricht er oft über seine Tochter?« »Wer?« »Na, Freddy.« »Freddy? Er hat eine Tochter?« »Sie ist tot.« »Ich wußte nicht, daß er eine Tochter hat. Wann?« »Sie ist tot.« »Tatsächlich? Ich glaube nicht, daß irgend jemand hier das weiß. Tot ist sie?« 387
»Sie ist von einem Betrunkenen überfahren worden.« »Ich wußte nicht mal, daß er verheiratet ist. Er hat nur dieses kleine Apartment hier. Recht nett, aber ganz klein. Hat er denn auch ein Haus?« »Er ist geschieden.« »Ach was. Wenn das Mia erfährt, schnurrt sie gleich wieder um ihn herum. Geschieden, sagen Sie? Freddy ist geschieden, sieh mal an! Ich glaube nicht, daß einer der Kerle von seinem Tisch davon eine Ahnung hat. Wir wissen nämlich ziemlich genau, was sie wissen. Mia flippt ja aus, wenn sie das hört. Was wissen Sie denn sonst noch?« Er dachte über ihre Frage nach, fand aber keine schnelle Antwort. »Und seine Tochter ist überfahren worden?« »Vor acht Jahren.« »Vor acht Jahren schon? Lieber Gott, da war ich ja noch auf der High-School. Oder? Nein, ich hatte noch nicht mal damit angefangen. Ich war noch in der Mittelschule.« Die Musik wurde jetzt kultisch. Mia hatte sich des Chiffons entledigt und war nur noch ein paar Streifen weiße Spitze und der Rest nackte Haut. Sie wiegte sich hin und her. Von ihren Schultern lief weiße Flüssigkeit aus Spiralglasröhrchen, die sie in den Händen hielt. Es war Farbe. Die Musikakkorde klangen wie die Klagen in Höhlen eingesperrter Tiere. Dann kam das Raumschiff. Weiße Farbe war auf Mias Schultern, es sah aus wie Peitschenstriemen. Wie tropfendes weißes Blut. Die Hexe sprach. Es klang irgendwie nach »Unschuld« und »Hingabe«. John wurde unsäglich traurig. Mia sank zu Boden und wand sich und warf den Kopf zurück. Sie bestand nur noch aus Unterwäsche und Farbe. Sie rollte sich auf den Bauch und blieb so liegen, und ihre Füße 388
zeigten gestreckt nach hinten, während sie mit dem Leib alle möglichen Bewegungen vollführte, Beine und Arme ausgestreckt und die Hinterbacken angespannt, was sie aussehen ließ, als schwimme sie tauchend durch eine Wassertiefe. Genauso bin ich auch, sagte Emily. Nackt. Und allein. Und ich schwebe und fliege. Da brüllte hinten der Dicke: »Was ist denn da los, verdammt und zugenäht? Seid ihr übergeschnappt?« Das Licht ging an, die Musik brach ab, und alle starrten auf den Gorilla in der Nische hinten, der bisher geschnarcht hatte. Das Tageslicht herrschte wieder, und der Mann saß aufrecht da. Mitten am Nachmittag raffte Mia, da sie außer dem Verkehrslärm draußen keine Begleitung mehr hatte, ihre weiße Chiffonwolke und ihr Kleid zusammen. »Das ist ja Farbe!« schrie der Dicke hinten außer sich. »Die versaut ja den ganzen Boden mit Farbe!« Und er schrie den anderen pockennarbigen Mann an, der die Buchhaltung machte: »Sunny!« »Das ist doch wasserlösliche Farbe, Sunny!« rief Mia von der Bühne her. Sunny an seinem Tisch blickte interessiert, aber letztlich gleichgültig auf. Er kaute, und die Zigarre in seinem Mund sprang hin und her. »Und wer, zum Teufel, soll die ganze Sauerei aufwischen?« schimpfte der Dicke in der Nische und eilte nach vorne zur Bühne, als wolle er Mia zu Boden schlagen. »Na komm, Joe«, sagte Mia. »Ich probiere das nun immerhin schon eine Woche.« »Schau dir das an!« brüllte er und trampelte auf den 389
Farbflecken herum. »Es ist wasserlöslich, Joe. Das läßt sich problemlos wegwischen.« »Sie ist Künstlerin, Joe«, sagte Sunny hinter ihm. Er stand behäbig auf mit seinem Kassenbuch unter dem Arm. »Was ist sie, Künstlerin? Daß ich nicht lache!« schimpfte Joe. Er knurrte Mia an. »Ja, ja, ich war schon mal im Museum. Selbstverständlich bist du ein richtiger Vincent van Gogh und eine großartige Künstlerin. Mach, daß du von der Bühne runterkommst!« Mia drückte sich an ihm vorbei zum Bühnenvorhang und hielt sich die Hand vor die Augen, als sei sie noch immer von den Scheinwerfern geblendet. Dann sah sie John an und hielt sich ihren Schal vor und sagte: »Sir, entschuldigen Sie, Sir, Sie sind doch jetzt schon eine Weile hier. Finden Sie es nicht auch erotisch?« Joe war neben ihr und krümmte sich mit der Hand auf dem Leib, als habe er Magenschmerzen. »Sir!« sagte Mia noch einmal. »Sie redet mit Ihnen!« sagte Maggie zu John. »Wer sind Sie denn?« sagte Joe. »Und was machen Sie überhaupt hier? Wir haben doch noch gar nicht geöffnet. Wer ist der Mensch? Kennt den jemand?« »Laß ihn reden, Joe«, sagte Mia. »Er kann ein objektiver Zeuge sein. Wieso nicht? Ist es erotisch, Sir?« »Also gut«, sagte Joe. »Soll er seine Meinung sagen. Die meine weiß ich gut genug. Also, wollen Sie uns Ihre Meinung sagen? Ist dieser Quatsch erotisch?« »Ja«, sagte John, »das ist er.« »Wer sind Sie denn eigentlich?« sagte Joe. John kam näher, und als er direkt vor den beiden stand, sah er sie an und sagte: »Ich bin niemand.« 390
»Ach Gott, hört euch das an!« sagte Joe. Er sprang von der Bühne nach unten, kam schlecht auf, fand das Gleichgewicht wieder und knurrte: »Scheiße!« Dann ging er auf John zu und drängte ihn zurück. »Verschwinden Sie! Los, raus! Wir haben noch geschlossen. Tun Sie sich selber einen Gefallen, Mann, und gehen Sie nach Hause, nehmen Sie sich eine Pistole, stecken Sie sie sich in den Mund und drücken ab. Das nimmt ein bißchen Druck weg.« »Es ist erotisch«, sagte John. »Gehen Sie einfach immer weiter«, sagte Joe, blieb aber plötzlich stehen und blickte über das ganze Lokal hin, sein Blick sprang von Maggie zu Sunny und zu Mia und zu einem dünnen Kerl in einem roten T-Shirt, der hinter der Bühne aufgetaucht war. »He, he, bin ich etwa allein mit meiner Meinung?« John hatte sich inzwischen automatisch weiter zur Bar zurückbewegt, wo seine Sonnenbrille lag und Maggie noch immer stand, das Kinn in die Hände gestützt. »Was war das für eine Gruppe?« fragte er. »Die Musik, meine ich. Kennen Sie sie?« »Enigma«, sagte Maggie. »Die sind gut.« »Ganz gut. Sehr modern, finde ich.« Joe schoß zwischen sie und fuhr Maggie an. »He, Kindchen, für wen arbeitest du hier, für mich oder für die Daily Gazette’?« »Ich gehe ja schon«, sagte John und war auf dem Weg zur Tür. Freddys Stammlokal langweilte ihn sowieso schon. »Ich weiß«, sagte Joe. Keiner von denen weiß auch nur, daß es mich gibt, John, 391
sagte Emily. Ist das nicht seltsam? Als ich noch lebte, kam er noch nicht hierher. Erst nachdem du mich totgefahren hattest. Erst dann fing er damit an. Er suchte mich hier, irgendwie. Glaube ich jedenfalls. Er versuchte mich hier zu finden. »Er war doch ganz nett«, sagte Maggie. »Ach, füll lieber die Ketchupflaschen.« Als John auf die Straße hinaustrat, war es immer noch taghell. Die Straßen und Häuser standen noch klar im Licht, aber über den Dächern hing ein metallischer Himmel, dessen Farben mit der nahenden Dämmerung immer dunkler wurden. Er wollte nichts mehr mit Freddys Leben zu tun haben. Was er erlebt hatte, war bizarr. Es war fast, als sei er hypnotisiert gewesen und wache jetzt wieder auf. Als habe man ihm befohlen, allerlei absurde Dinge zu tun, die er auch ausgeführt hatte. Aber jetzt wollte er etwas anderes tun, irgendwo anders. Hatte er bis jetzt eine Art Nostalgie für Freddy verspürt, eine Form von Mitgefühl oder sogar Identifizierung, so wollte er sich jetzt nur noch von alledem losreißen und es hinter sich lassen. Da war er in Freddys Bar gewesen, seinem Stammlokal, und hatte mit seinen Freundinnen gesprochen und zugesehen, wie Freddys Freundin sich auszog. Hatte versucht selbst Freddy zu sein, sich ihn dort vorzustellen und wie er es mit seinem Mädchen trieb … Aber jetzt wollte er nur wieder er selbst sein. In einer Telefonzelle an der nächsten Ecke rief er Jo Jo an. Das nämlich war es, was er nötig hatte, dachte er. Noch ein Abend mit ihr. Vielleicht ins Kino. Irgendwas Einfaches. Und wenn er bei ihr war, fand ihn Freddy nicht. Freddy sollte ihn überhaupt nie mehr finden, dachte er, während er die vorübereilenden Leute betrachtete, um 392
unter ihnen vielleicht plötzlich Freddys Gesicht auftauchen zu sehen. Das Telefon klingelte dreimal vergeblich, ehe ihre Stimme kam: »Hallo, hier ist Jo Jo. Ich bin gerade nicht da, aber nach dem Piepton könnt ihr eine Nachricht hinterlassen. Wenn es was Dringendes sein sollte: Ich bin ein paar Tage in Big Sur. Eine Sache, die sich ganz plötzlich ergeben hat. Bei einer alten Freundin. Falls es sehr wichtig ist, bin ich unter der Vorwahl 235-9085 erreichbar.« Für ihn war es wichtig, aber trotzdem wollte er ihr nicht hinterhertelefonieren. Er ging auf die andere Straßenseite zur Bushaltestelle. Dann fiel ihm etwas ein, und er ging zurück zur Telefonzelle. Aber auch bei Peter kam nur der Anrufbeantworter. »Hallo, hier ist Peter oder was einmal Peter war, jetzt aber nur noch die aufgenommene Stimme von ihm ist. Ich bin übers Wochenende weg, ich meine bis zum Wochenende. Falls es aber um welterschütternde Dinge geht, bin ich erreichbar unter der Vorwahl 2359085. Und denkt dran: Ich bin als Cowboy geboren.« Als der Bus kam, stieg er ein. Er sah hinaus auf den vorüberfliegenden Stadtverkehr und dachte daran, wie er das alles offenbar selbst veranlaßt hatte. Mit seiner Art, wie er vergangene Nacht mit ihr umgegangen war. Und hinterher auf der Suche nach Freddy herumrannte, statt zu ihr zurückzukehren und sich bei ihr zu entschuldigen oder sie zumindest wissen zu lassen, daß er sie wiedersehen sollte. Nein, nein, natürlich nicht. Er hatte überhaupt nicht daran gedacht. Nicht, ehe es jetzt zu spät war. Ehe er aus seiner Hypnose wieder erwacht war und er sich an Jo Jo als mögliche Zuflucht erinnerte. Er fand schließlich sogar, daß es ihm ganz recht geschehe und eigentlich alles seine Ordnung habe. 393
Völlig recht, sagte Emily. Genauso wollen wir es haben. Dann war er eben zu Hause heute abend, wo er auch hingehörte. Und wo Freddy ihn finden konnte, wenn er wollte. Falls er nicht gerade diese Mia flachlegte und mit ihr über Kunst redete und über blow jobs und sich mit ihr einen schönen Abend machte. Er lachte. Mein Gott, war er ein Blödmann! Lächerlich. War dies etwa wirklich das, was er wollte? Allein zu sein? Weil er sich selbst zu Einsamkeit verurteilt hatte? So wie in den letzten acht Jahren? Sie beleidigen, verletzen, forttreiben. Alles verpatzen wie damals vor acht Jahren mit seinem Auto? Wollte er das wirklich? Vielleicht wußte man, was man wollte, durch das, was man hatte. Die Dämmerung war rasch hereingebrochen, und es wurde bereits dunkel. Als er nach Hause kam, war das Auto seiner Eltern nicht da. Er ging in das leere Haus und trank ein Bier, Sie hatten einen Zettel hinterlassen, daß sie mit einem anderen Paar im Ruhestand beim Essen seien und danach im Kino. Er schaute die Abendnachrichten an. Draußen war es inzwischen finster. Die Dunkelheit schien herabzuregnen im Kontrast zum flimmernden Bildschirm. Als seine Eltern zurückkamen, lag er schon im Bett im Wohnwagen, aber sein Nachttischlicht brannte noch. Er hörte sie, wie sie drüben im Hause eine Weile rumorten. Schließlich ging das Küchenlicht aus und kurz danach ihr Schlafzimmerlicht an. Er stippte seine Zigarette aus und griff zum Telefon, um die Nummer anzurufen, die Jo Jo hinterlassen hatte, selbst auf die Gefahr hin, daß Peter sich meldete. Er wollte ihr sagen, was er dachte. Was er eigentlich getan zu haben wünschte. Oder vielleicht auch gar nichts sagen. Anonymer Anrufer. Aber sie damit wenigstens stören, 394
verdammt. Er hatte gerade die ersten Ziffern gewählt, als er innehielt und wieder auflegte, weil ihm klar wurde, daß er gar nicht wirklich mit ihr reden wollte. Daß es gar nicht sie war, nach der ihn verlangte. Nein, sagte Emily. Mich meinst du. Das ist heute unser Abend. Er schaltete das Licht aus und lag wach im Dunkeln und hörte Emily zu. Aufmerksam und offen und einfach. Allem, was sie zu sagen hatte. Mit geschlossenen Augen. Er ließ sie auch zu, bis er ein leises Geräusch vernahm, draußen vor dem Fenster, und sofort wußte, daß jemand hereinsah. Freddy Gale? Nein, nein. Der kam nicht. So verrückt war er nun auch wieder nicht. Das mußte ein Hund sein oder ein Vogel oder eine Katze. Er schloß die Augen wieder, atmete tief ein und ganz langsam wieder aus, um sich mit diesem Rhythmus selbst zu beruhigen und einzuschlafen. Gute Nacht, sagte sie. Er setzte sich auf und tastete an der Wand entlang. Es half ja nichts. Er war immer noch auf der Flucht, auch wenn er hier saß. Sein Atem ging heftig und stoßweise und unkontrollierbar. Seine Ohren summten, und ihn überlief eine Gänsehaut. Er legte sich die Hand auf den Mund und sprang aus dem Bett und lief hin und her. Das mußte aufhören. Es mußte Schluß damit sein. Er lehnte sich an die Vordertür. Schweißtropfen liefen ihm von der Stirn in die Augen. Wer oder was immer da draußen herumschlich, kriegte ihn auch. Er sprang los und riß den Vorhang beiseite. Und an sein Fenster streifte der Ast eines sich wiegenden Baums. Er ließ sich atemlos auf das Bett fallen. Langsam ebbte 395
der Adrenalinstoß in ihm ab. Und als es vorbei war, fühlte er sich zentnerschwer und benommen. Er war entsetzlich müde. Leer und erschöpft und kaputt. Nichts konnte ihn mehr wach halten. Na also, sagte Emily. Siebst du? Ist doch alles in Ordnung jetzt.
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28. KAPITEL »Warum, wollen Sie wissen?« sagte Sunny. »Sie wollen wissen, warum ich die Hand in der Tasche behalte? Weil ich das Dessert aufwärmen will, deswegen!« Das Publikum reagierte amüsiert. Sunny trug seine Conférence vor. Das Bühnenlicht war so rot, daß es sein Gesicht fast unsichtbar machte. Freddy musterte die Gesichter um sich herum. Sie hielten es offenbar für Lachen, als sie mit Zunge und Zähnen die Luft kauten und ihr Zahnfleisch zeigten und ihre Spucke verteilten. »Gleich sehen wir«, fuhr Sunny oben auf der Bühne fort und machte ein Gesicht dazu, als habe er in etwas gebissen, das entsetzlich schmeckte, »eine weitere liebe Bekannte! Ina! Ina war 1912 Miss Amerika!« Und er rief: »Ach, ihr einsamen Irren. Ihr verdammten Irren!« Freddy lachte. Es gefiel ihm. Er fühlte sich wie ein Besucher. Wie ein sich mokierender Beobachter, der Material zusammentrug über alle die seltsamen, hier versammelten Lebensläufe, von denen einer ja auch sein eigener war. »Die Wahrheit ist«, seufzte Sunny, »ich mag häßliche Stripperinnen mit Hängebusen und allem. Weil das Mut erfordert. Wollen wir hoffen, daß ihr heute hier ein Publikum voller Mut seid!« Neben Freddy brabbelte jemand »Genau!«, und es wanderte weiter von einem zustimmend nickenden Kopf über Coop zu Silas und allen anderen, als habe Sunny sie soeben in das große Geheimnis einer weisen, hintergründigen Philosophie eingeweiht. 397
»Ach, Schluß jetzt mit dem Quatsch«, rief Sunny nun. »Ich nehme euch Blödmänner doch bloß auf den Arm. Tatsache ist, daß ich sie natürlich auch jung und knackig mag. Also, damit ist es nun endlich Zeit für meinen ganz persönlichen Lieblingsmoment jeden Abend hier! Hier sind, und sie verdienen ihren Namen, die Calypso Queens!« Er machte eine große Geste über die Bühne hin, als wolle er etwas Widerwärtiges weit wegwerfen, von dem er sich nicht wünschte, daß der Wind es ihm zurück ins Gesicht blies. Aus den Lautsprechern begann ein Calypso zu dröhnen, und die Tänzerinnen eilten auf die Bühne, in Federn und Bananen wie ein Schwarm Vögel mit Obst. Sunny machte ein bekümmertes Gesicht, als er von der Bühne floh, und sah überhaupt beunruhigt und traurig aus. Wenn auch nur kurz. Man bemerkte es nur, wenn man ihn aus der Nähe sehen konnte, so wie Freddy. Freddy war verwundert und fragte sich, ob Sunny etwa auch, genau wie er, einen geheimen Kummer zu verbergen, aber ihn für einen kurzen Moment gezeigt hatte. Sunny griff nicht nach seinem Drink, den er noch dastehen hatte. Er nippte lediglich kurz daran und schob ihn dann achtlos beiseite. Freddy beugte sich vor, um sich nichts entgehen zu lassen, besonders nicht diese unabsichtlich gezeigten Dinge. »Genau das hasse ich so«, sagte Sunny. »Ich hab es mit der Uhr gestoppt. Sie brauchen nicht weniger als fünf Minuten, bis sie den ganzen Mist endlich abgelegt haben und ihre Titten herzeigen. Und bis dahin müssen wir uns diesen Quatsch anhören. Was ist das für eine Musik? Wozu ist die gut? Ich hasse diese verdammte Nummer!« »Soll ich dir mal was sagen über diesen Müll?« fragte ihn Coop. »Was?« fragte Sunny. 398
»Wozu bringst du sie dann überhaupt, diese Nummer?« »Ja, ich weiß. Du hast recht.« »Mir gefällt sie«, sagte Freddy. »Ja, mir gefällt sie. Das nennt man Tradition, verstehst du. Ohne Tradition stirbt Neues.« Er lächelte und wartete, daß sich ihre Verwirrung zu einem einheitlichen Zustand verhärtete, wo sie alle nur noch Stielaugen hatten wie Hunde und seiner Erläuterungen bedurften. »Das ist gut«, sagte Coop, »das ist gut.« »Was hat er gesagt?« »Ohne Tradition stirbt Neues«, sagte Sunny. »Ich sage euch, der Kerl ist ein Dichter. Ein Juwelier-Dichter. Der einzige verdammte Juwelier-Dichter, Dichter-Juwelier, den ich je gesehen habe.« »Juwelier-Dichter«, sagte Coop. Freddy strich sich über seine Erektion. Er spürte sie durch die Hose. Er verdeckte mit dem überhängenden Tischtuch, was er tat, und schob die Hand in die Hose, unter seine Unterhose und faßte das Bündel Fleisch und Nerven, das sich regte und erhob wie ein hirnloses Wesen, das Hunger hatte und sich nach Futter umsah. Er sah eine Frau. Er wußte nicht, wer sie war. Aber er begehrte sie. »Nein, nein, nein«, sagte Silas gerade. »Ich werde euch sagen, was für ein Problem das ist mit diesem Blödsinn da. Das da soll doch das Finale sein, Mann. Versteht ihr das denn nicht? Es ist das letzte, was wir zu sehen kriegen. Dann gehen wir heim. Es sollte uns froh stimmen, statt daß wir das Gefühl haben, die Marsmenschen hätten uns überfallen.« Eine Weile starrten sie alle stumm auf das Gewusel von Federn und das hektische Hin und Her auf der Bühne und lauschten den Vogelrufen. Es sah aus wie ein zerfetzter 399
Regenbogen. Das war die große Pointe, und sie brachen alle in Gelächter aus. Freddy trank sein Glas leer, während die anderen sich gar nicht mehr einkriegten, und legte dann Coop die Hand auf die Schulter. »Ich gehe jetzt einen umbringen«, sagte er. »Was tust du?« fragte Silas. Coop blinzelte ihn an und wartete auf die Pointe, um die er nicht gebracht werden wollte. »Was?« sagte er. »Was, Freddy?« Freddy warf ihnen allen einen Blick zu, als verfüge er über Röntgenaugen, und lächelte zähnefletschend. »Ach, nichts«, sagte er. »Er sagt, er geht einen umbringen«, erklärte Silas. »Was ist los? Ich hab das eben nicht mitgekriegt«, meldete sich Manny. »Worum geht es?« »Wenn ihr mal alle zwei Sekunden ruhig wärt«, sagte Sunny, »könnte Freddy vielleicht reden.« Ein langgezogenes Psssst! wanderte rund um den Tisch, und als es bei Bobby angekommen war, sagte dieser: »Was ist los?« »Ich glaube«, sagte Coop, »er will uns jetzt, so wie damals mit seinem Staubsauger, eine Geschichte von einer Waschmaschine erzählen. Stimmt’s, Freddy?« »Stimmt, Coop«, sagte Freddy und richtete das Wort an alle. »Ihr seid schon was, Jungs, aber ich muß jetzt los. Ich habe es mir anders überlegt. Coop hat recht. Ich hasse diese blöde Nummer auch. Ich will nicht in die dunkle Nacht raus mit diesem Mist im Kopf.« Und damit stand er auf und ging. Hinter ihm redeten sie und verließen sich darauf, daß die Wut, die sie in diesem Moment erfüllte, sich schon rechtzeitig wieder legen 400
werde und sie sich schon aus der dunklen Mordverschwörung, in die er sie hineingezogen hatte, würden herausmanövrieren können. Freddy hatte seine Hand noch immer an seinem Penis und war froh über das Jucken. Es war gut, einen Freund zu haben, wenigstens einen auf dieser Welt, weil seine Erinnerung an alle anderen nichts war als ein Haufen Mist und Geplapper rund um den Tisch herum. Als er die Tür zur Garderobe der Mädchen aufstieß, blickte er sich nach einer um, die er mit nach Hause nehmen könnte. Er sah über die Abteilwand. An ihrem Make-up-Tisch saß Verna, das Telefon am Ohr. Sie sah aus wie eine Managerin an ihrem Schreibtisch. Mia und die beiden anderen genauso schönen Mädchen saßen, alle halbnackt, ebenfalls in einer Reihe vor ihren Spiegeln und kramten in ihren Sachen herum und fummelten mit ihren Lippenstiften und schwatzten miteinander. »Hat dir Kerry auch ordentlich die Zähne geputzt?« fragte Verna gerade. »Brav, das ist meine gute kleine Angie.« »Chiffon«, sagte Mia inzwischen, »ist sehr emotional, denke ich. Und Rot ist spirituell.« Sie packte einige Paperbackbücher ein. »Hallo, Freddy.« Alle sahen sie ihn an, Mia aber zeigte sich am erfreutesten. Sie lächelte strahlend und klatschte lautlos in die Hände wie ein Kind, das seinen Geburtstagskuchen erwartet. »Aladdin?« sagte Verna ins Telefon zu ihrer Tochter. »Ja, der ist hübsch, nicht?« Sie winkte Freddy zu, und ihr Blick ging von ihm zu Mia. Sie versuchte genau zu ergründen, was vor sich ging. »Jetzt muß ich Schluß machen, Schätzchen«, sagte sie und hatte es eilig, die sich 401
anbahnenden Ereignisse richtig zu verstehen: ob sie gut oder schlecht für sie liefen und ob sie sie vielleicht sabotieren oder andernfalls unterstützen sollte. »Ja, gut, Schätzchen, sei artig und laß dich von Kerry zu Bett bringen, ja? Jetzt muß ich aber wirklich. Wiedersehen, mein Liebling.« »Meine Damen«, sagte Freddy, »wer möchte heute abend früh Schluß machen?« »Mit wem sprichst du denn, Freddy?« sagte Mia, stand auf und zog sich ihre Jeans an. »Na, rate mal.« Mia kicherte. Verna griff sich den Wecker vom Schminktisch, als sei Zeit ein entscheidender Faktor, und sagte ins Telefon: »Liebling, laß mich jetzt bitte mit Kerry sprechen. Gute Nacht, ja. Bitte!« Sie funkelte Mia an, als sei deren Seidenbluse, in die sie gerade schlüpfte, ihre eigene. »Ich habe nur noch einen Auftritt, Freddy«, sagte sie. »Also, ich bin dann weg«, sagte Mia. »Kerry?« Verna schrie fast ins Telefon. »Es ist etwas dazwischengekommen. Kannst du über Nacht bleiben?« Was ist sie doch für eine Schlampe, dachte Freddy. Er wollte sie strafen, sie demütigen und heruntermachen. Sie beiseite nehmen und ihr zuerst den Mund wäßrig machen, sie dann aber nach Hause zu ihrer Tochter schicken. Statt dessen griff er lediglich nach Mias Hand. »Gehen wir«, sagte Mia. Verna legte enttäuscht den Telefonhörer auf und sah zu, wie Mia ihre Sachen nahm, eine schwarze Schultertasche und ein rotes Wildlederhandtäschchen. Freddy kam ihr zuvor und nahm ihren kleinen Keyboard-Laptop an sich. »Sonst noch was?« sagte er grinsend und stieß sie mit 402
der Nase an. »Hure«, sagte Verna, als sagte sie eben nur gute Nacht. Freddy blickte sie tadelnd an. Und Mia winkte den anderen zu, bis sie draußen waren. Sie gingen zum Bühneneingang hinaus. Die seltsame Stimmung in der kleinen Seitenstraße zwischen aufgesprungenem Beton und Ziegelwänden gaben der Szenerie etwas eigenartig Urtümliches. Er faßte Mia zwischen die Beine und streichelte sie, wie er sie sich dort gelegentlich selbst hatte streicheln sehen, und drängte sich an sie, so daß sie zurückweichen mußte. Sie stolperte und versuchte die Balance zu halten und sich an ihrer Tasche festzuklammern. Und als sie an der Ziegelmauer lehnte, ließ sie einen leisen Seufzer hören und suchte seinen Mund und seine Zunge und stöhnte. Er war aber weniger darauf erpicht, sie zu hören, und verschloß ihr den Mund, indem er mit seiner Zunge so weit hineinfuhr, daß sie allenfalls noch röcheln konnte. Als er mit seiner Hand ihre Brust umschloß, dachte er nicht an sie, sondern an Verna. Die arme, sitzengelassene Verna. Er wollte sicher sein, daß er ihr weh tat. Er wollte Verna tiefen, irreparablen Schmerz zufügen, indem er Mia küßte. Aus der Mauer, an die er sie preßte, drang Musik. Er hörte, wie auf der anderen Seite die Cranberries Linger sangen. Er küßte Mia noch heftiger und härter, um Verna den entsprechenden Schmerz zuzufügen, damit sie endlich nach Hause zu ihrer Tochter ging. Er sah die gierigen Augen der Männer drinnen, die Verna anstarrten. Vernas Bild im Spiegel, sie selbst noch hinter einem Flittervorhang, bereit aufzutreten, Tränen in den Augen, die sie wie ein Kind abwischte. Als dann die Musik aber einen herrischen Rhythmus annahm, begann sie zu tanzen, doch das interessierte niemanden. Alle quasselten 403
durcheinander und interessierten sich für alles mögliche, nur nicht für sie. Sunny fütterte die Fische im Aquarium, durch das man Verna sehen konnte, aber er blickte nicht einmal hin. Freddy löste sich abrupt von Mia und ließ sie los. Er ging die Straße entlang und zog sie an der Hand mit sich. »Wie alt bist du?« fragte sie. Jetzt packte Verna ein. Sie verstaute ihre Kleider in einer Tasche und war froh, für heute fertig zu sein, weil sie nach Hause in ihr kleines Apartment gehen konnte, wo ihre Tochter schlief. Mia lief die Straße entlang. Freddy wollte sie nicht zu weit voraus laufen lassen, aber er wollte ihr nicht nachlaufen. Im Aufzug sah sie in die Ecke und sah ihn nicht an, mit Ausnahme einiger herausfordernder Blicke über die Schulter. Oben zog sie bereits im Flur die Bluse aus. Drinnen hüpfte sie, während er noch stehenblieb, um seine Pistole auf einen Stuhl neben der Tür zu legen, schon ins Bett, hakte ihren BH auf, knöpfte ihm das Hemd auf, sprang auf und zog den Reißverschluß seiner Jeans herunter. Er entledigte sich seines Hemdes, packte sie an den Beinen, die ihm herzzerreißend erschienen, und küßte sie, vorne und an den Seiten und in die Kniekehlen, und als sie sein Gesicht in die Hände nahm und festhielt, sah er sie an. »Weißt du, Freddy«, sagte sie, »ich will es schon gerne mit dir tun, aber zuvor möchte ich dir etwas vorlesen, ja? Kann ich dir was vorlesen? Und ich will dir ein Lied vorspielen.« Sein Verlangen nach ihr ließ ihn zu allem ja sagen, was sie wollte, auch wenn er nicht wußte, was es war. Sie war schon aus dem Bett und bei ihren Taschen und zog die Reißverschlüsse auf und griff hinein. Sie kam mit einem 404
Paperbackbuch wieder hoch, schlug sehr vorsichtig eine mit einer Spielkarte markierte Seite auf und las vor: »Mark war so liebevoll im Bett, wie konnte es da so schlimm gewesen sein? Ich verstand das einfach nicht. Nie war er grob oder brutal, nicht einmal gefühllos, und nie lief es bei ihm schnell ab. Ich konnte einfach nicht glauben, daß jemand, der so wundervoll und so hingebungsvoll im Bett sein konnte, draußen so abscheulich war. Ich glaube, alles wäre gut, wenn wir immer nur im Bett hätten bleiben können.« Sie schlug das Buch zu und hielt es zwischen ihren Händen, und er wußte durch die Art, wie sie den Kopf schräg hielt, daß sie ihn musterte, obwohl ihre Augen fast geschlossen waren. Es war nicht schwer, zu erraten, was sie erwartete. »Klingt das nicht vertraut, Freddy?« fragte sie. »Was?« sagte er. Er wünschte, er wüßte eine Antwort und daß sie einfach wegginge, während sie statt dessen zu ihm kam und sich hinkniete und sich herabbeugte zu ihm auf dem Bett, bis sie einander direkt in die Augen sahen. »Ich weiß alles, Freddy.« »Was denn?« »Es war jemand da, der hat uns alles erzählt. Ich weiß alles. Ich kenne jetzt deine Sorgen. Er hat es Maggie erzählt und sie mir.« Sie war so ernsthaft, daß es keine Rolle spielte, daß er keine Ahnung hatte, wovon sie überhaupt sprach. Er versuchte sie zu sich aufs Bett zu ziehen, weil er sie näher bei sich haben wollte. »Ich habe ein Lied für dich geschrieben, Freddy, und das möchte ich dir vorspielen.« »Ach, nein«, sagte er und wollte sie lieber zu sich herziehen. 405
»Bitte.« Vielleicht ist es ja hübsch, sagte Emily. Ich würde es ganz gern hören. Ihr konnte er nichts abschlagen, das ging nicht. »Also gut. Aber beeile dich.« »Es ist für uns. Ein Lied für Mia und Freddy.« Und sie zog Stäbe raus und öffnete kleine Deckel, und da stand ihr Minikeyboard neben dem Bett. Weiße und schwarze Tasten auf Spinnenbeinen, die einige Zirptöne von sich gaben, als sie noch herumprobierte. Dann machte sie einen Schalter an, und Lichter in allen Farben flammten auf und strahlten durch die Luft. Die Einleitung war romantisch und einfach, und er hörte wartend zu. Und dann begann sie zu singen. Er hörte seinen Namen und dann ihren Namen und die Worte »Trauer« und »Kummer«, und da berührte er sie und streichelte ihre Schenkel und glitt mit seinen Fingern in sie. Mhmmm, machte Emily. Das ist ein hübsches Lied. Ich bin froh, daß wir es sie spielen ließen. »Das ist hübsch«, sagte er. »Es gefällt uns.« Er war sich nicht sicher, ob sie ihn tatsächlich hörte, weil sie nicht antwortete. Nicht daß er überrascht gewesen wäre. Sie war ja ebenfalls weiß Gott wo, und sie mußte auf ihre Keyboardtasten achten und auf ihren Text, und das, während er mit seinen Fingern in ihr wühlte. »Nur immer eins zugleich, Freddy, ja?« ermahnte sie ihn und schob seine Hand weg. »Versprich mir nur, daß du mich nicht einschlafen läßt. Ich habe noch was zu tun heute nacht.« Das kaleidoskopische Licht füllte den ganzen Raum aus und brachte ihn soweit, daß er sich allmählich in irgendeinem All schweben fühlte wie in einem 406
Schwimmbecken, während die sich entfernende Welt über ihm flimmerte. Keine Sorge, sagte Emily. Ich wecke dich schon rechtzeitig. Mach dir keine Sorgen. Kannst dich darauf verlassen. Es ist ein hübsches Lied. Und sie ist doch lieb. Sie mag dich wirklich, weißt du. Na gut, sie ist dumm. Vielleicht sogar richtig beschränkt. Ich weiß es nicht. Aber lieb ist sie. Das muß man ihr lassen. Wenn auch doof. Aber so wie ich in ihrem Alter wohl gewesen wäre, wenn ich so alt geworden wäre. Die Lichter blinkten noch immer, als Mia inzwischen über ihm war und ihn auf den Bauch küßte und an seinem Penis leckte, so daß er stöhnte. Und als sie über ihn kam und sich auf sein Gesicht setzte, küßte auch er sie dort liebevoll. Ahhh, dachte er. Ahhhh. Mehr als er erhofft hatte. Aber was hatte er sich eigentlich erhofft? Keine Sorge, Dad. Wir schaffen das schon. Du kannst auf mich zählen. Du könntest ja sowieso nicht aufhören, selbst wenn du wolltest, du verrückter Mann, mein wilder lieber Daddy. Mach ruhig weiter. Ich kümmere mich inzwischen darum, daß wir tun, was wir tun müssen. Er ist in seinem Bett. Genau wie das letzte Mal. Aber das wird diesmal die einzige Ähnlichkeit mit neulich sein. Jetzt sind wir anders. Beide. Du kannst ohne mich gar nicht leben. Wir finden ihn, wie er in seinem Wohnwagen liegt und friedlich schläft. Warum sollte er auch nicht? Ich meine, er hält dich doch für verrückt. Er denkt, wir spinnen, und er ist frei. Aber wir zeigen es ihm schon. Wie ein Windstoß durchs Fenster kommen wir rein zu ihm. Wie ein Geist. Aber mit Pistole. Unser Herz haben wir zu Hause gelassen. Mir aus der Brust geschnitten. Tot auf der Straße. Wie ein kleiner unerfahrener Körper, den es bis an den Randstein gefetzt hat zu den Mülltonnen. Aber unsere Seele stellt sich ihm gegenüber, und sie ist kalt, kalt und 407
erbarmungslos. Schießeisen an seine Schläfe, was, Dad? Und schon hat er eine Kugel im Kopf, wie? Ins Ohr haben wir sie ihm reingeballert. Der arme John. Was meinst du, denkt er dann? Oder spürt er gar nichts? Wahrscheinlich ist es nicht besonders angenehm, was meinst du? Jedenfalls nicht so angenehm wie dir jetzt. Sollen wir ihn danach fragen? Möchtest du es nicht wissen? Wenn seine Haut aufplatzt und wir reinfahren durch das Loch in ihn und brüllen wie wilde Bären, wie Löwen, wie Teufel, was, Dad? Was, meinst du, empfindet er dann? Was, meinst du, daß er dann spürt, Dad? Genau in dem Moment? Im selben Augenblick? Fragen wir ihn, okay? Wir fragen ihn. Okay, Dad? Möchtest du es denn nicht wissen und in dem Moment in ihm drin sein, Dad?
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29. KAPITEL Aha, also bist du da, John, und schläfst fest? Träumst du? Ich bezweifle es, John. Es sei denn, natürlich, du träumst von mir. Aber du schläfst. In deinem eigenen Bett. Tot für die Welt draußen. Abgeschaltet wie das Licht. Schnarchst. Wehrlos. Wie dumm von dir, John! Warst du so müde? Großartig! Wunderbar! Wo dein Leben gleich zu Ende ist! Und du machst ein Nickerchen! Oder ist das vielleicht Absicht, möchtest du das sogar so haben? Dieses Ende? Diesen Abgang von der Bühne? Keine Träume mehr von Jo Jo. Vergiß ihre süße Pussy mal, vergiß überhaupt diesen Wunsch, Freunde zu haben. Eine Freundin. Damit du alles vergessen kannst, besonders sie. Genauso wie ich alle meine Kleider und Brüder und Schulkameradinnen und Puppen vergessen mußte und all die närrischen Träume meiner dummen kleinen Kinderseele. Nichts mehr wird angefaßt, John, und niemand mehr. Kein honigblondes Haar mehr. Kein Genuß dieser Weichheit mehr. Weil du nämlich nicht mehr dasein wirst. Weg. Ohne ein Wort. Denk mal dran, wie kalt du warst und wie gemein. Und weshalb und wozu? Wo ist sie jetzt? In Big Sur. Wenn du anrufen würdest, was würdest du dann sagen? Du hast doch nicht mal eine Nachricht hinterlassen, nicht? Rate mal, wer hier spricht, oder so was. Angst hast du gehabt. Hättest du dich entschuldigt? Jedenfalls hast du es nicht getan, nicht? Kein Wort gesagt. Einfach wieder aufgelegt. Jetzt kannst du deine Entschuldigung mit ins Grab nehmen. Du hast Daddys Schießeisen im Ohr, und sein Schatten ist in deinem Raum. Und der Hammer fällt auf die Nadel und sticht in die Patrone, und die explodiert. Du hörst es dann schon. Was, 409
Donner? denkst du, es donnert? Aber da ist die Kugel schon wie der Blitz zum Lauf rausgefahren, den ganzen Tunnel durch und rein in dein Gehirn. Wirst du spüren, wie es dich aufreißt? Ich glaube nicht. Und wie wird dein zermatschter Schädel klingen? Knochen, die wie Steine herabsausen. Die Wände deiner Existenz brechen ein, und raus kommt der Mist, der immer nur drin war. Deine ganzen Türen reißen auf, und alles kann überall rein. Spürst du dieses kalte Metall in deinem Ohr? Wach lieber auf, John. Wach auf und renn davon, wenn du kannst. Aber du kannst ja nicht. Ohhh, unser armer John, er kann nicht aufwachen! Ist zu müde zum Aufstehen und nachzusehen, wer da kommt. Wer ist denn im Flur? Wer ist denn da im Hof draußen? Wer kommt denn da zu seiner Tür? Erkennst du sie, die da kommen? Ist es Daddy, oder sind es nichts als die schwärzesten Gedanken, die du je hattest? Gedanken sind es keine, John. Wer, meinst du, wer es ist? Wer kommt? Mr. Tod? Mr. Tod, John? Nein, nein. Keine Sorge. Ich bin es nur. Die kleine Emily. Sonst niemand. Hallo, ich bin da! John sprang aus dem Bett. Ohne sich anzuziehen, rannte er hinaus in den Hof und geduckt zum Haus. Wenn der idiotische Freddy Gale wieder da war, hatte er eben seine beste Gelegenheit schon verpaßt? Er ging durch die Küche und zur Kellertür und eilte die Stufen hinunter. Er wußte, wo der Schrank mit den Gewehren war. Don an der Wand. Er wußte auch, in welcher Ecke die alten Gummistiefel standen, in denen sein Vater die Schlüssel zum Vorhängeschloß aufbewahrte. Er holte sie aus der Schuhspitze heraus. Im nächsten Augenblick hatte er den Gewehrschrank auch schon aufgeschlossen. Die Waffen standen ordentlich in einer Reihe, die beiden Gewehre links neben den beiden Schrotflinten. Sie rochen nach Öl, und das stimulierte ihn richtig und schärfte seine Sinne. 410
Vier metallene Läufe, in fleckiges Holz gefaßt. Er bedachte alles noch einmal, überlegte sich die Umstände, die Wahrscheinlichkeit, ihm ganz nahe gegenüberzustehen, die Notwendigkeit, vielleicht sehr rasch reagieren und nach dem Zwölferkaliber greifen zu müssen. Links in einem Regal lagen drei Schachteln Munition, zwei offen, eine noch ganz neu und ungeöffnet. Diese griff er sich und klappte sie auf. Er öffnete das Gewehrschloß und blickte durch den Lauf und zielte zum Fenster, wo sich ein schwacher Lichtpunkt zeigte. Und dann lud er. Also, wirklich, John, denkst du, das hilft dir etwas? Er zählte. Eins, zwei, drei. Auf mich? Ich bin doch schon tot, oder? Nein, ich werde es nicht geschehen lassen. Ich werde nicht einfach liegenbleiben wie ein geduldiges Schaf und es geschehen lassen. Vier, fünf, sechs. Er lud durch und ging hinauf in die Küche, drehte den Wasserhahn auf und ließ sich Wasser in die hohle Hand laufen und wusch sich das Gesicht damit ab. Er ist soweit, Dad, sagte Emily. Er ist jetzt bereit.
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30. KAPITEL Freddys Herz litt wie der Feldherr einer belagerten Stadt. Nichts erreichte es mehr, und alles Gewebe starb ab. Das Blut in seinen Adern schwappte an die Herzklappen, als ihn die wilde Panik ergriff. Er hörte das verzweifelte Klopfen. Der Rhythmus wurde plötzlich unregelmäßig, der Muskel der Herzkammerscheidewand verdickte sich in dem Irrglauben, dadurch schneller schlagen zu können. Doch dafür benötigte er auch mehr Luft, was erst recht zu schnellerem, heftigerem, mühsamerem Schlagen und Keuchen und zur Überanstrengung führte, so daß er zunehmend kraftloser wurde, bis sein Puls im Kurzschluß versagte und ihn bis zu dem dunklen Punkt fortschleuderte, wo er starb. Mia lag schnarchend und entrückt da. Er strampelte sich frei, worauf sie nur im Schlaf grunzte. Er lief voller Panik und Schrecken im Zimmer herum wie bei einem Wettlauf. Wie konnte sie nur einfach schlafend daliegen, ungerührt von irgend etwas? Er sah sie an und griff nach der Pistole. Wenn sie aufwachte und das Ding vor sich sah, würde sie gleich nicht mehr so sorglos dreinschauen, dachte er, und setzte ihr die Waffe an den Kopf. Als er seinen Finger am Abzug sah, fiel ihm sein Traum wieder ein. Er stöhnte auf. Warum träumte er so etwas überhaupt? Es stimmte ja, daß er zu spät gekommen war. Daß er sie abholen sollte und zu spät gekommen war. Warum mußte er das auch noch träumen? Das war nicht richtig. Es war verrückt. Wenn auch die entsetzliche Forderung in einer gewissen unklaren Weise eine langsam zum Vorschein kommende Wahrheit darstellte. Aber so konnte es doch nicht geschehen sein, oder doch? 412
Mit einem Schlag wurde ihm klar, daß dies ein ganzes Paket von Tatsachen war. Wirklich wahre Dinge, die er einfach bestritten hatte und die sich jetzt mit schockierendem Nachdruck vor ihm erhoben. Außer daß sie nicht wahr sein konnten! Jemand mußte es ihm sagen. Jemand mußte ihm helfen. Jemand, der Bescheid wußte. Mary. Richtig, Mary brauchte er dazu. Seine Frau Mary. Er war im Bad, drückte sich das Telefon an die Brust und beugte sich etwas nach vorne in den Mondschein, um die Nummer zu wählen, die er auswendig wußte. Als sei das Klingeln am anderen Ende der Leitung hier bei ihm zu laut, schloß er die Tür, damit es Mia nicht hörte und davon aufwachte. Dann antwortete Mary. »Hallo?« fragte sie. Ihre Stimme war ängstlich. »Mary? Ich bin es, Freddy.« »Freddy? Freddy, was soll –« »Mary, bitte, leg nicht gleich auf. Bitte. Ich muß dich … etwas fragen …« Er lachte. Eigenartig, daß er jetzt lachte. Aber er tat es, weil sie kleine Scherze immer schon gemocht hatte. Doch dann widerfuhr ihm etwas anderes, etwas Schreckliches. »Ich falle auseinander, Mary«, sagte er. »O Gott. Mein Gott.« Das Schreckliche geschah, er konnte es nicht aufhalten. »Ich hatte wieder diesen verdammten Traum. Es ist sonnig draußen, ich fahre im Auto, und es ist ein gutes Gefühl. Mein Auto ist toll. Es ist, als werde es mich fahren, statt daß ich das Auto fahre. Und ich komme an Ems Schule vorbei, der Grundschule, und da ist dieser Fußgängerübergang. Und der Schülerlotse bringt alle Kinder über die Straße, und es ist John Booth. Er zeigt ihnen den Weg und weist sie rüber. Und Emily ist eines von diesen Mädchen, die er über die Straße bringt. Und ich komme näher und näher und steige 413
wie verrückt auf die Bremse, aber das Auto bremst nicht, kein bißchen, und das Steuer reagiert auch nicht, und so fahre ich einfach mitten durch sie hindurch. Und ich sehe Ems Gesicht noch, bevor ich sie überfahre, ihr liebes, unschuldiges Gesicht, Mary, und ich weiß nicht, was ich tun soll.« »Freddy!« sagte Mary. »Weine nicht, Freddy. Bitte, weine doch nicht.« Weinte er denn? Er hatte nicht das Gefühl. Es war nicht ein Gefühl zum Weinen, sondern als werde er bei lebendigem Leib aufgefressen. Das war also nun seine Todesart. Das Herz hörte einfach auf, und das Gesicht seines Vaters kam über ihn und ersetzte sein eigenes. Seine Augen schleuderte es aus dem Kopf, als würde er sie erbrechen, und er trommelte sich dazu auf die Brust wie ein Affe. »Bitte, Freddy, ist ja gut«, sagte Mary. Sie klang sehr traurig und besorgt. »Ist ja gut.« »Nein, das ist es nicht.« »Schhhh!« Es war, als sei sie richtig hier bei ihm. Neben ihm, hier im Dunkel. So wie früher. »Ich möchte bei dir sein. Kann ich kommen, können wir uns sehen? Ich möchte dich einfach nur sehen, Mary.« Vielleicht hatte sie ihn lieber, wenn er einen Scherz machte. Sie hatte Scherze immer schon gemocht, besonders in schwierigen Situationen. »Du bist wirklich, stimmt’s?« sagte er. »Mary? Ich bin auch wirklich. Wir waren immer wirklich. Ich möchte dich nur sehen. Okay?« »Jetzt?« »Bitte.« Sein Atem ging so laut, daß er sich nicht sicher war, ob sie ihn überhaupt noch hörte. Aber es schien so zu 414
klingen, als sei sie einverstanden. »Ja?« »Also gut, Freddy.« »Du willst? Ja, willst du? Du sagst, ja?« »Komm zu Izzy’s Diner. Kannst du da hinkommen?« »Wohin du willst. Überall.« »Da ist die ganze Nacht auf. Und es ist ungefähr auf halbem Weg für uns beide.« »Ich kann in einer Viertelstunde da sein. Okay?« »Ich werde aber wohl eine halbe brauchen. Ich muß mich erst anziehen.« »Schon in Ordnung. Sicher. In einer halben Stunde also. Bis in einer halben Stunde.« »Gut.« »Ich danke dir, Mary. Vielen Dank.« Er war völlig aufgeregt. Es war das erste Mal, daß sie zu einer Verabredung mit ihm ja sagte. Ein unglaublicher Überschwang erfüllte ihn. Eine ganze Menge von Optimismus überkam ihn. Wie immer, wenn Mary ihn früher sich gut fühlen ließ. Das lag zwar schon bis in den Zeiten der High-School zurück, doch es war, als sei es gestern gewesen. Wie er um die Telefonzelle herumschlich, er, einer von der Oberklasse, der endlich die Courage aufbrachte, dieses tolle Mädchen aus dem zweiten Jahr anzurufen, das dann fast auf der Stelle einverstanden war, mit ihm ins Kino zu gehen, und sich danach wirklich in ihn verliebt hatte. Das Wunder im Augenblick war, daß es wieder geschehen war. Sie kam. Sie kam zurück zu ihm. Mary fuhr in elegantem Bogen von der letzten Ampel auf den Parkplatz und stellte sich direkt auf den ersten Platz. Es war ja ohnehin so gut wie leer um diese Stunde. 415
Freddy hatte sich eben am Stummel der vorigen eine neue Zigarette angesteckt. Er drückte beide, als er sie kommen sah, auf dem Boden mit dem Schuh aus und lief ihr entgegen, um ihr die Wagentür aufzuhalten. Aber sie war schon ausgestiegen, ehe er sie erreicht hatte. Ihr kritisch prüfender Blick aus engen Augen machte ihn selbstbewußt. Er hatte schließlich die Pistole im Hosenbund stecken. »Ich hatte fast schon vergessen, wo das ist«, sagte Mary. »Du bist ganz pünktlich.« »Gut.« »Geh doch schon voraus hinein. Ich hole nur noch was aus meinem Wagen.« »In Ordnung.« Es war eine kleine, unwichtige Lüge, mehr nicht. Aber es war das Richtige, versicherte er sich selbst. Und er beeilte sich, die Pistole ins Handschuhfach zu legen, damit er sie nicht bei sich hatte. Die Tischnischen waren völlig leer, nur auf den Thekenhockern saßen ein paar Leute. Mary hatte beige Hosen angezogen und einen Sweater unter dem leichten Regenmantel, den sie aufknöpfte, aber nicht ablegte. Sie wartete auf ihn. Sie hatte sich in eine Nische an einem zum Wilshire Boulevard hinausgehenden Fenster gesetzt. Als Freddy kam und sich ihr gegenüber niederließ, atmete er erst einmal tief durch, zwinkerte und gab einen unsicheren Seufzer von sich. »Ach, Freddy«, sagte Mary. »Armer Freddy.« Und sie fügte dem ihrerseits einen kleinen Seufzer hinzu. »Die ganze Geschichte ist so verquer.« Er lächelte und schüttelte den Kopf, allerdings mehr aus 416
Verwunderung darüber, daß sie einander hier nun wirklich gegenübersaßen. Er fand, dies sei nicht ganz ohne einen Anflug von Ironie – angesichts der gewaltigen Aufgabe, die es für ihn darstellte, alles, was er ihr sagen wollte und auch sagen mußte, tatsächlich auszusprechen. Aber er hatte begriffen, daß er da durchmußte und daß, ganz gleich, wie zwingend das alles war, der einzige hindurchführende Weg darin bestand, überhaupt erst mal anzufangen. Er rang sich ein weiteres Lächeln ab, mit dem er für diesmal seine Hilflosigkeit eingestand, während er sich gleichzeitig schwor, wirklich einen ernsthaften Versuch zu machen. »Mary, ich –« »Nein, Freddy.« Sie hob die Hand wie eine Vorgesetzte, deren Autorität die seine überstieg. »Laß mich reden.« Und sie sagte: »Sieh mal, ich war jetzt so lange so verdammt böse auf dich. Zu wütend, um dich auch nur jemals anzuhören oder imstande zu sein, mich mit dir zu treffen oder mir überhaupt noch irgend etwas aus dir zu machen. Aber als du neulich so verzweifelt aus dem Haus gerannt bist, habe ich dich erst wieder richtig gesehen. Das erste Mal, seit Emily starb. Ich weiß durchaus, daß du kein schlechter Mensch bist und es gut meinst und daß du sie sehr geliebt hast, unendlich geliebt. Aber ich habe sie doch auch geliebt, Freddy! Und ich hätte dich so sehr gebraucht, damals, als du …« Sie brach ab. Ihr gedankenversunkenes Schweigen verriet, daß es auch für sie schwerer war, als lediglich die richtigen Worte zu finden. Er fragte sich, was sie dachte, und wußte nicht, was ihn so nervös machte an diesem Schweigen. Er wollte reden, aber er zögerte dennoch, aus Angst, rüde zu erscheinen. »Weißt du noch«, fragte Mary, »wie wir aus Las Vegas zurückkamen? Was das für ein Sturm war damals? Gott, das Flugzeug schwankte hin und her wie von 417
Riesenhänden geschüttelt. Ich hatte wahnsinnige Angst und zitterte. Weißt du noch, was du da gesagt hast? Ich konnte gar nicht glauben, wie ruhig du warst. Du hast meine Hand genommen und – weißt du noch, was du gesagt hast?« Obwohl er sich gut an den chaotischen Flug damals erinnerte und an das Gefühl, wie sie, genauso wie jetzt, seine Hand gedrückt hatte, erinnerte er sich nicht mehr daran, was er gesagt hatte. »Sag es mir«, sagte er. »Erinnerst du dich?« fragte Mary. Er spürte, daß in dieser Erinnerung vielleicht ein Kompliment für ihn war, daß er etwas Gutes getan hatte, was ihr gefiel. »Sag es mir.« »Bete, daß wir abstürzen, hast du gesagt. Weil wir uns dann Überlebende nennen können. Du warst so … ich weiß nicht, wie …« »Ich auch nicht«, sagte er. »… unerschütterlich. Durch nichts zu erschüttern.« Die Vorstellung, daß er zu derlei tatsächlich fähig sei, diese Kühle, sich über eine Lebensgefahr mit einem Scherz zu erheben, der ihr auch noch all die Jahre in Erinnerung geblieben war, machte ihn stolz, und er strahlte, als habe er diese heroische Statur jetzt wiedererlangt. »Wo ist der Mann hin?« fragte sie ihn. »Emmy starb, und dann dieser schreckliche Zorn. Er machte dich so klein. Ich haßte dich wegen deiner Schwäche. Ja, ich haßte dich. Aber was das hier jetzt angeht, Freddy, heute bemitleide ich dich. Ich bemitleide dich wirklich. Ich weiß nicht, wie ich dir helfen soll.« Sie griff wieder nach seiner Hand und drückte sie heftig. 418
Wie sich ihre Finger verschränkten, verwirrte ihn, weil er Marys Berührung so zärtlich fand, obwohl er zugleich das Gefühl hatte, etwas sei wie eine Nadel in ihn gekrochen und injiziere ihm eine eisige chemische Substanz. Er verstand es nicht, aber er hatte nur den Wunsch, sie nicht mehr loszulassen. Er lachte, um es zu verharmlosen, und versuchte verständig zu wirken. »Sieh dich um. Schau dir die Ehen der anderen Leute an. Da hatten wir doch eine gute Ehe, oder?« »Ja.« »Eine gute Zeit.« »Ja, sie war sehr gut.« »Keine Hinterhältigkeiten, nichts von dem ganzen Mist. Wir hatten beide eine enge Bindung miteinander.« »Ja, es war eine sehr schöne Zeit.« »Meine Erinnerung täuscht mich also nicht, nein?« »Nein.« Doch dann sah er, was er wirklich sah. Genauer gesagt, er spürte es. An dem kalten dampfenden Atem, den sie ihm entgegenblies, aus dem sich wolkig und verdeckt das Gift erhob. Das eine giftige Wort. Mitleid. Sie hatte Mitleid mit ihm. Ich bemitleide dich. Das war diese tückische Nadel mit der eisigen Injektion. »Also, du bemitleidest mich«, sagte er. »Du bemitleidest mich, hast du doch gesagt?« »Was?« Sie drückte seine Hand wieder. »Was soll das heißen, was? ›Freddy, ich bemitleide dich! Mann!‹« Er sprach so voller Verachtung, als speie er Erbrochenes über den ganzen Tisch. Das gefiel ihr nicht. »Freddy«, sagte sie, »was es auch ist, was du da veranstaltest: hör auf damit.« 419
Aber er konnte nicht damit aufhören und wollte es auch nicht. »Freddy, was es auch ist, was du da veranstaltest«, äffte er sie nach, »hör auf damit.« Und er lachte darüber, wie wenig sie imstande war, ihn zu verletzen, wie sehr sie es auch versuchen mochte. Als sie seinem Blick auswich und nach ihrer Tasche griff und aufstehen wollte, war ihm, als seien in seinem Gesicht Schürfwunden gewachsen. Aber er hatte nicht die Absicht, sie einfach gehen zu lassen, jetzt, wo alles endlich so lief, wie er es haben wollte. Das mußte jetzt endlich alles erledigt werden. Er packte sie am Handgelenk und zog sie wieder auf ihren Stuhl. Dann ließ er sie zwar los, hielt sie aber mit seinen zornigen Augen fest und sagte: »Ich hoffe nur, du stirbst. Ich hoffe, du krepierst.« Hatte ihre Verwünschung mit ihrer hinterhältigen Gemeinheit nichts bei ihm ausgerichtet, so aber jetzt seine bei ihr. Er blinzelte, und sie war fort.
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31. KAPITEL Er jagte die Autobahnauffahrt hinauf und hatte sein Radio auf volle Lautstärke aufgedreht. Irgendeine von diesen Lärmgruppen. Er sang lauthals mit und griff ins Handschuhfach nach der Pistole, nur für den Fall, daß auch sie zu singen anfangen sollte. Er blinzelte ihr vertrauensinnig zu und tätschelte sie, als besäße das kalte Metall das Gehirn eines wilden Tiers, dessen Seele er sich untenan gemacht hatte. Als ihn die Musik anödete, schaltete er sie aus. Noch wütender machte ihn das Klappern der Tür des Handschuhfachs, die er offengelassen hatte. Er brüllte sie an. Aber wirklich wütend wurde er erst, als irgend so ein Blödmann hinter ihm ihn mit dem Fernlicht anblinkte. Er knallte das Handschuhfach zu, aber das beschissene Ding blieb nicht zu, sondern ging wieder auf. Er schlug es noch einmal zu. Die Lichthupe hinter ihm blendete ihn derart, daß man glauben konnte, das Heck seines Wagens stehe in Flammen. Was hatte dieser Affe da hinten eigentlich vor? Falls er überhaupt die Fähigkeit besaß, vorzugehen? Das Handschuhfach klapperte. Er schlug darauf, und endlich rastete es ein. Dann hupte er. Hatte dieser Schwachkopf da hinten noch nie etwas von Abblenden gehört? Das war ja wie zwei Suchscheinwerfer. Und derart grell, daß man nicht einmal das Auto erkennen konnte, das dazu gehörte. Er fuhr in ein Schlagloch, und das blöde Handschuhfach sprang wieder auf. »Verdammte Scheiße!« schrie er, beugte sich hinüber und schlug wieder drauf. Dann trat er abrupt auf die Bremse und dachte: So, du blöder Affe, jetzt sieh zu, was du machst. Scheißkerl. Dann trat er aufs 421
Gas und zischte davon. Aus dem Lichtkegel vor ihm tauchte das rote Blinklicht eines Polizeiautos auf. Wie eine Gasfackel überblendete das rote Licht alles. Die Sirene ließ ihn hochfahren. Für den Bruchteil einer Sekunde war sein Herz verschwunden. »FAHREN SIE RECHTS RAN! FAHREN SIE RECHTS RAN UND HALTEN SIE!« Die Stimme klang über seinen Wagenlautsprecher überirdisch. Die Aufforderung setzte sich in seinem Hinterkopf fest. Er blickte auf die Pistole, die auf dem Beifahrersitz lag. Sei vorsichtig, sagte Emily. »Ja, ich weiß.« Er bremste vorsichtig auf dem Seitenstreifen ab. Im Rückspiegel kam der Streifenwagen heran, und die Scheinwerfer blendeten ab, als saugten sie ihn ein. Was sollte er jetzt machen? Verdammt, dachte er und sah wieder auf die Pistole. Sie schien auf seine Anweisungen zu warten und keine eigenen Pläne zu haben, aber mit allem einverstanden zu sein, was er vorhatte. Aber er wollte hier auf der Autobahn keine Schießerei veranstalten, jedenfalls nicht, solange John Booth nicht tot war. Hast du etwa keinen Waffenschein? fragte Emily. Na und, dachte er. Na und. »Aber sicher«, sagte er. Das kriegte er schon hin. Das konnte er schon hinbiegen. Er kannte alle Tricks, wie man den braven Bürger spielte. Den höflichen Ton und das unterdrückte, schuldbewußte Murmeln. Er faßte nach der Tür und machte sie auf. »BLEIBEN SIE IM WAGEN SITZEN, SIR!« rief der Polizist. Er hob die Hände über den Kopf und zog die Schultern hoch wie ein eingeschüchterter Landstreicher. »Da liegt 422
eine Pistole auf dem Sitz«, sagte er. »Deswegen steige ich aus. Eine Pistole liegt auf dem Sitz.« »Sie haben eine Waffe im Wagen?« fragte der Polizist. »Ja!« Er blickte dem sich nähernden Schatten entgegen. Schnieke Uniform, maßgeschneidert, gestärkt. Neben ihm noch jemand, schlanker, kleiner. Der erste vorne hatte einen schwarzen Schnauzbart und dichtes Haar. Freddy hielt brav die Hände über dem Kopf und beobachtete die beiden Bullen, wie sie einen schnellen Blick wechselten. Dann erkannte er erst, daß der zweite Polizist eine Polizistin war. »Treten Sie zurück, Sir«, sagte der Mann. »Kommen Sie rückwärts zu mir her!« Er nickte seiner Kollegin zu, an Freddy vorbeizugehen. Freddy hob die Hände noch ein wenig höher und stellte sich da hin, wo er sich hinstellen sollte. Die Frau kassierte natürlich seine Pistole. Aber die kriegte er schon zurück. Er hatte ja einen Waffenschein. Der war voll in Ordnung. Er machte nur winzige und vorsichtige Schritte, um zu demonstrieren, daß er keinen Widerstand leisten und kooperieren wollte und ein anständiger Bürger war. »Okay, bleiben Sie da stehen.« Ganz klar, am besten war, alles genau zu befolgen. Er versuchte an dem ausdruckslosen Gesicht des Bullen zu erkennen, was weiter geschehen werde, aber vergeblich. Da hätte er genausogut an die Wand reden können. »Drehen Sie sich um, lassen Sie die Hände oben und verschränken Sie die Finger über dem Kopf. Haben Sie sonst noch Waffen am Leib?« »Nein.« Das alles hatte er schon vergangene Nacht auf dem Gehsteig vor dem Lokal von Nicky Blair absolviert. Übung macht den Meister, sagte Emily. 423
»Das stimmt«, sagte er. »Wie?« fragte der Polizist. »Nichts, nichts.« »Spreizen Sie die Beine.« Wie lange soll das dauern? wollte Emily wissen. Aber Freddy, die Arme oben in seinem Nacken, die Ellenbogen nach außen gestreckt, die Beine gespreizt, hatte auch keine Ahnung, wie lange das alles dauern sollte. Eine Minute. Die ganze Nacht. Sein Leben lang. Es kam ihm vor, als bereite er sich hier auf eine nächtliche Autobahngymnastik vor. In beiden Richtungen rasten Autos vorüber, auf seiner Seite jedesmal mit einem Windstoß. Leute guckten neugierig heraus und verdrehten die Hälse, um noch möglichst lange das Spektakel zu beobachten, das sich hier darbot, als der Polizist ihn von oben bis unten abtastete. Ich werde noch ganz gut dabei, dachte er. Eine seltsame, unbehagliche Intimität, wie da ein völlig Fremder an einem herumfummelt, die Beine entlang, die Schenkel. Als er an seinen Fußfesseln angekommen war, fühlte Freddy sich bereits wie vergewaltigt und spürte, wie Zorn in ihm hochstieg. Scheißspiel, dachte er. Als der Polizist um ihn herum nach vorne kam, sagte er: »Ich habe einen Waffenschein.« »Sie haben einen Waffenschein?« »Ja.« »Wozu haben Sie die Waffe?« »Weil ich Juwelier bin. Ich habe ein Juweliergeschäft. In dem steckt alles, was ich besitze. Die Pistole soll es schützen.« »Sie können jetzt Ihre Hände herunternehmen. Haben Sie den Waffenschein bei sich?« 424
»Ja, in meiner Brieftasche.« »Ist da auch Ihr Führerschein drin? Geben Sie mir Ihre Brieftasche.« »Ja«, sagte Freddy und griff in seine Jackentasche, während die Polizistin zu ihnen kam. Sie musterte Freddy kurz, als stelle sie sich einige beunruhigende Fragen über ihn und erwarte darauf eine herausfordernde Antwort. Freddy paßte es nicht, seine Pistole in ihrer Hand zu sehen. Es war seine. Er ertrug kaum die Berührung ihrer Finger. »Eine geladene Neunmillimeter, Dennis«, sagte sie zu ihrem Kollegen. »Und durchgeladen.« »Ah?« sagte Dennis. Welche Meinung er sich von Freddy bisher auch immer gebildet haben mochte, diese Mitteilung änderte alles. Von der nächsten Sekunde an schien Freddy ihm unsympathisch zu sein, aber zugleich auch interessanter. Freddy bewegte sich langsam, als er ihm die Brieftasche hinreichte. Freddy Gale, dachte er. Wer, zur Hölle, war das? Namen, Daten, Zahlen. Wen interessierte das? »Er sagte, er habe einen Waffenschein in seiner Brieftasche«, erklärte Dennis seiner Kollegin und reichte sie ihr hin, ohne Freddy aus den Augen zu lassen. Während die Kollegin die Brieftasche durchsah und sie samt der Pistole auf den Kofferraum seines Wagens legte, musterte Dennis Freddy unverwandt, als seien seine Augen Pistolenläufe und als habe er schon längst schießen sollen. Sie zog den Führerschein heraus, die Kreditkarten und den restlichen Kram und breitete alles nebeneinander aus, als wolle sie eine Patience damit legen. »Der Grund, warum wir Sie angehalten haben, Sir«, 425
sagte Dennis, »war Ihre auffällige Fahrweise. Haben Sie getrunken?« Freddy unterdrückte den Drang, einfach wegzugehen, und sagte: »Ein paar Drinks vor ein paar Stunden.« Die Andeutung eines Schulterzuckens sollte besagen, er gedenke nicht, den Köder zu schlucken, den sie ihm hingeworfen hatten. Und die kleine Handbewegung dazu drückte ebenfalls seine Geringschätzung der ganzen Angelegenheit aus, besonders aber über sie mit ihren dämlichen Uniformen und ihrem Getue. »Pusten Sie mal in meine Hand«, sagte der Polizist. »Was?« Die Aufforderung schien ihm eine völlig unangemessene Vertraulichkeit zu sein. Doch Polizist Dennis hielt ihm sachlich und geschäftsmäßig seine Hand vor den Mund. Freddy war verlegen und ohne Erfahrung mit so was, daher atmete er aus und versuchte eine Erklärung für die wahren Absichten dieses Polizisten zu finden. »Etwas kräftiger, bitte«, sagte der Polizist. Freddy atmete ein und aus, und sein Blick fragte, ob es denn so recht sei, und der Polizist atmete seinerseits Nachtluft ein, gab jedoch nicht zu erkennen, was er dachte. »Wir werden ein paar Tests mit Ihnen durchführen«, eröffnete er ihm. »Ich erkläre Ihnen das, und Sie machen es genau so, wie ich es Ihnen sage.« Der Seitenstreifen der Straße fiel in eine Böschung ab, deren Graben von dichtem Laub verhüllt war. Durch die Zweige und Blätter der Bäume waren in einiger Entfernung Teile von Hausdächern zu erkennen. »Ist gut«, sagte Freddy. »Als erstes stellen Sie Ihre Fersen zusammen, strecken die Arme vor und dazu die Zeigefinger. Jetzt legen Sie den 426
Kopf zurück und schließen die Augen.« Er versuchte sich zu erinnern, wie viele Drinks er gehabt hatte. Über sich erblickte er den Nachthimmel. Er hoffte, sein Atem roch mehr nach Zigaretten als nach Alkohol. Weit oben war das Geräusch eines Flugzeugs zu hören, aber es war nicht zu sehen, der Nebeldunst verbarg es. Das Geräusch klang ein wenig wie Regen, der auf einen anderen Teil des Planeten niederfiel. Er stellte sich John Booth in diesem Flugzeug vor, wie er an einer Bloody Mary nippte und sich wirklich in die Vorstellung hineinsteigerte, er könne tatsächlich fortfliegen, mit Hilfe dieser beiden Bullen hier, die Freddy schikanierten und behinderten, während sie sich besser um einen gewissen John Booth kümmern sollten und ihn auf Nimmerwiedersehen einsperren und in irgendeiner Seitenallee zu Krümeln zermahlen sollten, falls sie an Gerechtigkeit interessiert waren. »Und jetzt berühren Sie mit dem rechten Finger Ihre Nasenspitze!« Freddy kam sich vor wie ein Clown auf dem Hochseil und fragte sich, was wohl die Strafe für das Augenöffnen war. Er war sich nicht sicher, ob er dazu imstande war. Schön gerade stehenbleiben. Das Wirbeln ¡n seinem Kopf nahm zu. Es drohte ihn hintenüberkippen zu lassen. »Und jetzt legen Sie den linken Finger an Ihre Nasenspitze!« sagte der Polizist Dennis. Das ist vielleicht ein Blödsinn, sagte Emily. Was machen die denn da? »Gut, Sir, nehmen Sie Ihre rechte Hand nach der Berührung der Nasenspitze wieder weg. Und jetzt noch einmal den linken Finger, bitte. Berühren Sie damit Ihre Nasenspitze. Gut, in Ordnung. Nehmen Sie jetzt Ihre Hände herunter und halten Sie sie seitlich.« 427
»Der Waffenschein ist in Ordnung, Dennis«, sagte die Polizistin. Offenbar hatte sie über ihr Sprechfunkgerät Informationen eingeholt, während er diese Gymnastik hier vollführt und John Booth Gelegenheit gegeben hatte, sich an unbekannte Orte zu verdrücken. Das hier war bald vorbei, aber dieser Gedanke blieb eine dunkle Bürde. »Ist er in Ordnung? Okay, Sir, dann noch der nächste Test, bitte. Stellen Sie Ihren rechten Fuß auf diesen weißen Streifen hier, okay?« Der Drang, diesem Dennis zu sagen, er solle sich gefälligst zum Teufel scheren, war stark, und er brauchte einige Sekunden, dieser Versuchung nicht doch nachzugeben. »Sir?« mahnte Polizist Dennis. Freddy sah erstaunt auf und nickte schließlich gehorsam. Sein Fuß folgte den Anweisungen. Er schien losgelöst von ihm zu sein und sehr viel willfähriger als sein restlicher Körper. Er hoffte nur, sein Fuß wußte, was er tat. Er sah zu, wie das Bein sich hob und dann die schwarze Form des Schuhs sich niedersenkte, direkt auf die weiße Farbe des Strichs. »Beim nächsten Test, Sir«, verkündete Dennis, »machen Sie bitte zehn Schritte auf der Linie, im Hühnchenschritt, Zehe an Ferse. Anders ausgedrückt, Sir, Sie heben den linken Fuß und stellen ihn so vor den rechten, daß seine Ferse an dessen Zehen anliegt, und so weiter. Zählen Sie dabei laut die Schritte. Sie machen also zehn Schritte, dann kehren Sie um und kommen die zehn Schritte wieder zurück. Sind Sie bereit?« Nee, sagte Emily. Was läßt du uns von denen herumschubsen? Aber er zählte gehorsam: »Eins, zwei, drei …« Er fühlte 428
sich gedemütigt und kindisch. Als spiele er ein sinnloses Schulhofspiel. Die Füße im Hühnchenschritt voreinander setzen wie die Kinder auf dem Heimweg von der Schule. Der weiße Strich wackelte, als sei er eben erst frisch, aber schlampig gezogen worden. Die ersten Schritte waren leicht gewesen, aber jetzt konnte er seine Füße kaum noch davor zurückhalten, den blöden Strich zu verlassen, und er mußte dagegen ankämpfen. Wie konnte die Straße denn zu wackeln anfangen? Es war ganz offensichtlich, der nächste Schritt würde irgendwo weit daneben landen. Er kämpfte in die Gegenrichtung und beugte sich hinüber und zwang seine Aufmerksamkeit geradeaus nach vorne, um nicht umzukippen. Er lachte vor sich hin und wußte, er brauchte den Bullen gar nicht erst anzusehen, um zu wissen, wie dessen Urteil ausfiel, nämlich, daß er es vermasselt hatte. »Sie brauchen den Weg zurück nicht mehr zu machen, Sir. Unserer Ansicht nach haben Sie heute abend zuviel getrunken.« Er blickte die beiden an, aber ihre Ansicht war ihm scheißegal. Wen interessierte das schon? dachte er. »Ihre Fahrtüchtigkeit ist eingeschränkt. Drehen Sie sich um, sehen Sie den Kofferraum Ihres Wagens an und legen Sie Ihre Hände hinten auf den Rücken.« Dieser ganze Scheiß macht mich krank, sagte Emily. Krank macht mich dieser ganze Scheiß! Freddy kämpfte außer gegen seinen auch gegen ihren Abscheu an. Er schämte sich über das, was da geschah, und über die Art, wie er verloren hatte und unterlag. Was er brauchte, war eine Minute zum Nachdenken, nur eine einzige Minute, weil ihm, verdammt, etwas Besseres einfallen mußte, als sich selbst auszuschimpfen, weil er wieder einmal versagt und alles vermasselt hatte. Erst alles versaute und sich dann noch von diesen Affen aufs Kreuz 429
legen ließ. Aber genau das tat er jetzt. Befolgte ihre Anweisungen gehorsam und drehte sich um, so daß er vor seinem Kofferraum stand wie ein braver Schuljunge, den man in die Ecke gestellt hat. Er blickte genau auf die silbrig schimmernde Pistole hinab, die da noch immer lag, wo das Polizistenweib sie hingelegt hatte, als sie in seiner Brieftasche herumfummelte. »Sie sind festgenommen wegen Trunkenheit am Steuer.« Das ging nicht. Er konnte nicht ins Gefängnis gehen. Dann würde ja John Booth die Nacht überleben, und er mußte mit allem noch einmal ganz von vorne anfangen. Das konnte kein Mensch von ihm verlangen. Hinter ihm hörte er das Geräusch der Handschellen, die aufgesperrt wurden. Auf dem gewachsten Blech seines Cadillac hatte die Pistole eine Idee. Nimm mich, sagte sie. Aber dann sah er, daß es gar nicht die Pistole war. Er starrte auf sie, wie sie dalag. Seit wann können Pistolen reden? Es war natürlich Emily. Emily schrie: Nimm mich! »Halt, bleiben Sie stehen!« rief die Polizistin. Er rutschte bereits den Böschungsgraben hinab auf die Bäume zu. »Oh, verdammt!« rief Polizist Dennis. »Melden Sie uns in Verfolgung zu Fuß!« Äste und Gebüsch standen ihm im Weg. Die leiser werdenden Rufe der beiden Polizisten hinter ihm hörten sich an wie allmählich schwindende Radiowellen. »… vier neun, wir sind auf Verfolgung zu Fuß! Richtung Süden … Viadukt …« Laub fuhr ihm ins Gesicht, er mußte sich mit Scheibenwischerbewegungen der Arme und Hände einen Weg bahnen und die Füße weit hochheben, um nicht über Wurzeln oder lose Steine zu stolpern. Hinter ihm hörte er das Schaben und Kratzen von Leder auf Beton der beiden 430
Polizisten, die sich von der Straße ins Dickicht unter den Bäumen an seine Verfolgung machten. Sein Mantel und seine Jacke behinderten ihn. Er war nicht zum Flüchten angezogen. Bis er sich durch das ganze harte Gestrüpp gebahnt und bei einer Lichtung angekommen war, japste er bereits nach Luft, aber zumindest hatte er jetzt die Andeutung eines überwachsenen Pfades erreicht. Durch die Blätter und zwischen den weißen Birkenrinden waren immer wieder weiße, vergipste Wände und erleuchtete Fenster zu erkennen. Dann stand er unvermutet vor einem Maschendrahtzaun an einer Steinmauer. Er suchte nach einem Weg, wo es weiterging. Vielleicht führte die schemenhaft erkennbare, betonierte Treppe dort drüben zu einem Tor. Er behielt recht. Er kam in eine schmale Straße mit einstöckigen Häusern zu beiden Seiten, geriet in ein plötzliches Dunstloch und versank darin, bis er die Ursache fand, die zermorschte Holzwand eines Schuppens. Sein schwerer Atem machte es ihm unmöglich, etwas anderes zu hören. Dabei mußte er doch unbedingt feststellen, wo die beiden ihn verfolgenden Polizisten waren. Er amtete noch einmal heftig ein und hielt dann die Luft an, bis ihm die Augen heraustraten. Und da hörte er sie, wie sie sich im Näherkommen mit Zurufen verständigten. Er konnte sie nicht sehen, aber er hörte sie keuchen und ihre Schritte, und so konnte er sie orten. »Ich sehe hinter diesem Schuppen nach«, sagte Dennis. Freddy drehte sich um und suchte nach einem Fluchtweg. Er stieß mit dem Ellenbogen gegen etwas. Es war ein Rechen. Er versuchte ihn aufzufangen, ehe er zu Boden fiel, verfehlte ihn aber. Doch noch ehe er gegen einen Eimer knallte, sprang er los. Dennis schrie hinter ihm auf wie ein überrascht bellender Hund. 431
Freddy hatte bei jedem Schritt Seitenstechen, und bei jedem schoß ihm ein Schmerz von den Füßen bis in die Brust. Er merkte, daß ihm übel wurde. Er mußte sich wahrscheinlich gleich übergeben. Er feuerte sich selbst an, aber er wurde langsamer. Jeder Schritt wurde zur Qual. Er mußte etwas anderes versuchen, als nur zu rennen, was ihn umbrachte. Sein Herz schien einfach nicht mehr zu wollen. Er wußte, was kommen würde, er konnte vorausahnen, wie es anfangen würde. Das Rasseln und Keuchen in der Brust würde zur donnernden Explosion werden. Wie eine Art Stromschlag, der dann den Arm hinauffuhr und sich als Agonie ausbreitete, mit dem einzigen Ergebnis, in dieser blöden kleinen Straße tot umzufallen. Es hatte keinen Sinn, er mußte aufhören zu rennen. Denn er mußte den beiden Bullen entkommen. Er hatte etwas zu tun. Er mußte John Booth töten. Nichts davon hatte sich geändert. Aber im Moment war die oberste Notwendigkeit, mit diesem Gerenne aufzuhören. Vor ihm gabelte sich der Pfad. Die eine Richtung führte zur Tür eines kleinen, roten Hauses. Er rannte darauf zu und wollte hinein, um sich zu verbergen und außer Sicht zu sein und ausruhen zu können. Also warf er sich gegen sie und griff nach dem Türknauf, und als sie nicht aufging, trat er dagegen und warf sich noch einmal mit der Schulter an sie und kniete und trommelte mit den Fäusten, als wolle er ihr begreiflich machen, daß er eintreten müsse. Als sie schließlich unter seiner Gewalttätigkeit aufbrach, stolperte er in einen seltsamen Wohnraum. Hinter einer Tür rechts kamen scharrende Geräusche hervor. Über dem Teppich war ein Lichtstreifen. Er ging zu einem Flur, bis er vor sich eine Hintertür erkannte. Er hatte zu lange gebraucht, bis er die Tür auf hatte, und zuviel Lärm dabei gemacht. Er öffnete die Hintertür und 432
trat fast in den Windsturm und Lärm eines ihm entgegenkommenden Hubschraubers. Dessen Suchscheinwerfer riß rote und blaue Dachziegel aus dem Nachtdunkel, silbrig schimmernde Mülltonnen und grünes Gras und ein auf Hohlziegel aufgebocktes Auto und kam auf ihn zu. Er wich davor zurück. Er huschte wieder in den Korridor des Hauses und wußte nicht, wie weit er wohl kommen würde, als ihm Stimmengewirr vorne im Wohnraum klarmachte, daß die Polizisten bereits da waren. Er hörte Dennis sagen: »Polizei, Sir.« »Was ist hier los?« fragte eine Männerstimme, vermutlich der Hausbewohner. Verstecken wir uns, sagte Emily. Er stand direkt vor einer Tür rechts von ihm. Sie schien seine einzige Chance zu sein. Er ergriff sie. Drinnen machte er die Tür wieder hinter sich zu. Der Raum war dunkel. Er faßte nach dem nächsten Gegenstand, den er ertasten konnte. Er erwies sich als Ankleidekommode. Er rang schwer nach Atem, aber das brachte ihn in große Gefahr, wenn sie es hörten. Draußen flog der Hubschrauber vorüber. Der Strahl seines Suchscheinwerfers fiel auch durch das Fenster herein und erhellte für Augenblicke ein Bild an der Wand. Ein als Clown gekleideter Hund mit großen blauen Augen. Draußen waren die Polizisten und der Hauseigentümer. Sie kamen näher. Er wich quer durch den Raum zurück und überlegte fieberhaft, was er tun könne. Wenn sie sich entschlossen, Zimmer für Zimmer zu durchsuchen, war es vorbei. Dann hatten sie ihn. Obwohl er natürlich immer noch die Pistole besaß. Jede Sekunde mußten sie nun hereinkommen. Er drehte sich herum und suchte verzweifelt nach einem Ausweg. 433
Und dann erblickte er das Kind in dem Bett in der Ecke, auf der anderen Seite. Ein Mädchen. Es starrte ihn aus dunklen Augen unter schwarzen Haarfransen an, die mit Clownmustern bedruckte Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen. Draußen wollte Dennis gerade wissen: »Wir sind hinter einem Flüchtigen mit einer Waffe her, haben Sie ihn nicht gesehen?« »Mit einer Waffe? Hier drinnen?« Das kleine Mädchen im Bett machte keine Bewegung und atmete kaum. Freddy starrte sie an, und sie blieb stumm und reglos und ausdruckslos, als er den Finger auf den Mund legte, um ihr zu bedeuten, ihn nicht zu verraten. Ohne daß er freilich dieser Aufforderung verbal hätte Nachdruck verleihen können. Draußen im Flur direkt vor der Zimmertür fragte die Polizistin ihrerseits: »Also, haben Sie jemand gesehen, Sir?« »Ich habe nur gehört, wie meine Tür eingetreten wurde – diesen Krach und Lärm, und als ich hinauskam, standen Sie beide vor mir.« »Da, sehen Sie«, sagte Dennis, dessen Stimme sich entfernte, »die Hintertür ist offen.« »Na, dann Fortsetzung der Gymnastik!« sagte die Polizistin. Sie schienen anzunehmen, dachte Freddy, er sei zur Hintertür hinausgeflüchtet, und offenbar wollten sie die Verfolgung wiederaufnehmen. Er konnte sein Glück kaum glauben. Doch dann sagte der Mann: »Es sind Kinder im Haus hier. Wenn er nun da drin ist?« Freddy versuchte wieder eine Fluchtmöglichkeit zu entdecken, aber es gab keine. Keine andere Tür. Nur die 434
Fenster. Wenn sie hereinkamen, reichte die Zeit nie, hinauszuklettern. Er blieb einfach stehen, starrte weiter das kleine Mädchen im Bett an und lauschte auf die näherkommenden Schritte, während er gleichzeitig in den Wandschrank trat, wo die dort hängenden Kinderkleider an seinen Ohren raschelten. Er hörte, wie die Tür aufging, und hielt den Atem an. Von seinem Standort aus konnte er das Mädchen sehen. »Kind, ist alles in Ordnung?« fragte der Vater. »Die Polizisten hier suchen jemand.« Es dauerte lange, bis sie etwas sagte. Als sie endlich sprach, klang es, als lese sie einen unsichtbar in die Luft geschriebenen Text. »Was war denn das für ein Lärm?« »Hast du jemand gesehen?« Sie verstummte und lag so reglos da wie die aufgedruckten Clowns auf ihrem Bettbezug. »Hören Sie, Sir«, sagte Dennis, »wir müssen weiter nach diesem Flüchtigen suchen. Wir schicken einen anderen Beamten, der das Protokoll aufnimmt.« »Ich erzähle dir morgen früh, was passiert ist«, sagte der Vater. »Schlaf jetzt wieder.« »Schließen Sie wieder ab«, sagte Dennis, »sobald wir weg sind.« »Abschließen?« sagte der Mann. »Diese Haustür? Schauen Sie die doch mal an!« Sie machten die Zimmertür zu, und das Mädchen war wieder im Dunkeln. Die sich entfernenden Stimmen draußen ließen Freddy aufatmen. Er wischte sich mit dem Jackenärmel den Schweiß von der Stirn und sah dann vorsichtig zu dem Mädchen hin, um zu erfahren, was das Kind veranlaßt haben mochte, ihn tatsächlich nicht zu 435
verraten. Er kam aus dem Wandschrank heraus näher, um sich zu bedanken. Und da erkannte er erst, wie ihre Pupillen groß und starr vor Angst waren. Als er näherkam, flatterten ihre Augenlider. Der reine Schrecken hatte sie stumm gemacht und ihn so gerettet: die alptraumhafte Angst vor dem verrückten fremden Mann. Als ob er ihr etwas zuleide tun wollte. Als sei er eines dieser frei herumlaufenden Monster. Wie zum Beispiel John Booth. Oder der, der die kleine Sally Renne gekidnappt hatte, dieses Ungeheuer. Der sich in den Raum einschlich, in dem mehrere kleine Mädchen zusammen mit Erwachsenen schliefen, und sie sich packte und in die Nacht verschwand und sie umbrachte. Wahrscheinlich kannte dieses kleine Mädchen hier die traurige Geschichte von Sally Renne. Die Zeitungen waren voll davon gewesen. Selbst die Titelseite der Zeitschrift People: Bob Rüssel Smith auf Bewährung frei, nach einer Kindesentführung. Für den hielt ihn das Mädchen wohl. Sie sieht völlig verstört aus, Dad, sagte Emily. Sie ist völlig verschreckt. Du mußt ihr helfen. Es sah wirklich so aus, als zerreiße die Angst das Kind fast, als er sich zu ihm niederbeugte. Aber er konnte nicht anders. Er küßte sie auf die Stirn. »Gute Nacht, Schätzchen«, flüsterte er. Er spähte hinaus auf den Flur. Der Hausbesitzer verbarrikadierte die aufgebrochene Haustür mit Möbeln. Auf der anderen Seite stand die Hintertür immer noch offen. Er eilte auf dem Teppichboden lautlos dorthin und hinaus ins Freie. Der Hubschrauber war schon ein ganzes Stück weiter weg, suchte aber mit seinem Scheinwerferstrahl das Gelände nach ihm ab. Er duckte sich tief an den Boden und hielt sich dicht am Haus, während er sich in die andere Richtung davonmachte. 436
Er kam durch mehrere Hinterhöfe anderer Häuser und wagte sich dann hinaus auf die Straße und auf den Gehsteig, wo er ganz normal weiterzugehen versuchte. Auf einigen Veranden der umliegenden Häuser waren Leute, die die Unruhe und der Hubschrauberlärm aufgeweckt und hinausgetrieben hatten. Doch niemand schenkte ihm besondere Aufmerksamkeit. Er hatte keine Ahnung, wo er überhaupt war. Einige Blocks weiter sah er dann endlich eine rund um die Uhr geöffnete Tankstelle mit Verkaufsladen. Er ging direkt darauf zu und trat ein. Er kaufte sich eine Flasche Cola, eine Tasse schwarzen Kaffee und eine Packung Zigaretten. Im Hinausgehen steckte er sein Wechselgeld ein und blieb stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Dann nippte er an dem Kaffee. Nehmen wir uns ein Taxi, sagte Emily. Er trank noch einen Schluck. Die Zigarette im Mundwinkel, ging er zur nahen Telefonzelle an der Mauer, die in einer Art fluoreszierenden Leuchtens lag.
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32. KAPITEL Er hatte das Gefühl, als sei sein Körper weit weg von ihm. Wegen der totalen Erschöpfung, in der er sich befand, so daß er sich seiner nicht länger bedienen könne. Als sei sein Leib fertig mit ihm und habe sich anderswohin begeben, wo er hoffte, von ihm nicht gefunden zu werden. Aber es war ihm egal. Sein Unterhemd und das Hemd darüber waren völlig naßgeschwitzt. Das Etikett mit den Waschvorschriften im Kragen klebte ihm deutlich fühlbar am Nacken. Als er aus dem Taxi stieg, war ihm, als habe er Fieber und liege verlassen in irgendeiner tropischen Nacht. Er zerrte an seinem Hemd und stopfte das heraushängende Ende zurück in den Hosenbund, obwohl es ihm eigentlich völlig egal war, wie er aussehen mochte. Er war auf andere Dinge konzentriert. Ein kleiner Mord aus niederen Beweggründen, weiter nichts. Das ist unser Motto. Bis zu dem Augenblick, da er in das Zimmer dieses kleinen Mädchens eingedrungen war und ihre Augen gesehen hatte, hatte er es ganz vergessen gehabt. Dann erst hatte ihre Angst ihn an Bob Rüssel Smith erinnert und an John Booth. Und da war ihm der Satz wieder eingefallen. Ein kleiner Mord aus niederen Beweggründen. Er hatte einen sauren Geschmack im Mund. Sein Magen begehrte auf. Er atmete tief durch und rülpste. Er versuchte es ein zweites Mal. Aber diesmal stieß ihm nur bittere Galle die Kehle herauf bis hinten in den Mund, während er das Bild des verschreckten Mädchens in seinem Bett einfach nicht los wurde. Ihre Reaktion auf sein Eindringen und sein Flehen um Schweigen kamen ihm jetzt vor wie eine unheimliche Parallele zu Emily 438
angesichts des auf sie zurasenden Autos. Er war zu spät gekommen, nicht? Natürlich. Damals, an jenem Tag. Ganz klar. Weil irgendein dämliches Geschäft wichtiger gewesen war. Eigentlich hätte er sich ja eine Kugel in den Kopf schießen müssen. Das Haus der Booths, umgeben von seinem penibel gemähten Rasen und den Blumenbeeten, stand immer noch so da, wie er es zuletzt verlassen hatte. Er war froh, daß er endlich hier war und nicht weitergehen mußte. Er trat von der Straße auf den Gehsteig, zuerst nur mit den Zehenspitzen, und stolperte ein paar Schritte, ehe er sich fing und aufrichtete. Er holte die Pistole aus der Jackentasche, steckte sie in den Hosengürtel und schlich sich mit gesenktem Kopf und auf unsicheren Beinen hinter das Haus. Sei bereit, sagte Emily. Sei jetzt bereit. John Booth aber lauerte im dichten Gebüsch, die Flinte im Arm. Er war schon seit Stunden bereit, aber noch immer verspürte er eine Dosis Adrenalin in sich, die seine Haut entflammte und seine Nerven in Spannung hielt, jetzt beim Anblick Freddys, wie er herangeschlichen kam, unsicher und müde und fast von einer Seite zur anderen taumelnd. Sein Schatten stand an der Hauswand. Er war aufgelöst, hielt den Blick zu Boden gerichtet, sah gar nicht, wo er hinging. Als er hinter dem Haus angekommen war und vor dem Wohnwagen stand, blieb er stehen und starrte einfach nur die silbrig schimmernden Wände an. Aufpassen! sagte Emily. Aufpassen! Der Wohnwagen kam Freddy größer vor als in seiner Erinnerung. Er schien überhaupt keine Tür zu haben, durch die man hineingelangen konnte. Wie der verbeulte Rumpf eines abgestürzten altmodischen Flugzeugs, dachte er. Er trat auf das Fenster zu, blieb aber dann abrupt wieder stehen. 439
Vorsichtig jetzt. Sei ganz vorsichtig. John war klar, daß er handeln mußte, sobald Freddy durch das Fenster spähte und merkte, daß das Bett leer war. Vielleicht jetzt gleich, bevor der andere noch einen weiteren Schritt tat? Aber Freddy benahm sich so sonderbar, daß John nicht wußte, was er tun sollte. Freddy sah völlig verwirrt aus. Er stand einfach nur da, keine zwei Meter vor dem Fenster, wie angewurzelt. Dann taumelte er, ohne weiter näherzukommen und ohne hineingesehen zu haben, zurück und ließ sich zu Boden sinken und lehnte an der Hauswand. Er preßte sich die Hände zu beiden Seiten an die Schläfen und war ganz zusammengesunken wie ein Häufchen Elend, in einer Haltung, als wolle er ewig so bleiben. Na komm, Dad, was ist denn? Wegen so einem kleinen Mord aus niederen Beweggründen. Komm, laß uns ein bißchen gleichgültig sein gegen menschliches Leben aus niederen Beweggründen. Und Freddy nickte und stimmte zu. Sie hatte völlig recht. Er mußte weitermachen. Das mußte zu Ende gebracht werden. Er stemmte die Hände auf den Boden, um sich gleich hochzudrücken, aber dann ließ er sie doch einfach nur liegen. Ihm war übel. Nur noch eine Minute. Er versuchte sich an etwas zu erinnern. Er wußte zwar nicht, an was, doch es schmerzte, daß es ihm nicht gelang. Ihm war schlecht davon, daß es ihm nicht einfiel. Wir haben ihn doch schon, sagte Emily. Da sprang John aus dem Gebüsch. Raschelnde Blätter, trappelnde Schritte. Die Mündung seiner Schrotflinte blitzte metallisch auf, aber er konnte sie nicht sicher halten, um auf Freddy zu zielen. Jetzt aber, jetzt! 440
Freddy war aus seinen Träumereien aufgeschreckt und hochgesprungen und sah sich John Booth gegenüber, der vor ihm stand und in seinen großen Händen eine mächtige Schrotflinte hielt. Wir haben ihn, sagte Emily. Freddy begann zu lachen. John mit der Flinte im Anschlag, auf seine Brust zielend, in geduckter Haltung, mit Jeans und ärmellosem Hemd! Er blickte zur Seite und sah etwas Interessantes in dem körnigen Beton am Boden, das ein Gefühl der Übelkeit bei ihm auslöste und ihn kapitulieren ließ. Eine unsichtbare Gaswolke. Ein tödliches Gas, in dem er kaum eine Überlebenschance hatte. So, sagte Emily, und was nun? Auch John wußte nicht, wie es nun weitergehen sollte. Der andere benahm sich so komisch. Doch immerhin war der lange Flintenlauf, der Freddy auf Abstand hielt, eine Festungsmauer, die ihn schützen sollte, selbst wenn er gar nicht abdrückte. Weil er jetzt hier die Oberhand hatte. Und solange sie so dastanden, blieb es auch so. Er hatte Freddys Pistole bis jetzt noch nicht erblickt. Wenn er natürlich auch sicher war, daß er sie irgendwo hatte. Natürlich hat er sie dabei, sagte Emily. Wie sollte er dich sonst umbringen? Freddy funkelte ihn an. Sag es ihm, Dad. Sag es ihm. Zeig ihm die Pistole. Er glaubt, er hat dich schon. »Ich erzähl dir was, Junge«, sagte Freddy. »Was?« »Einen guten Witz. Willst du einen guten Witz hören?« »Was? Was?« »Sie haben mich geschnappt heute nacht. Die Bullen, 441
verstehst du? Der ganze Mist. Und weißt du auch, weswegen? Wegen Trunkenheit am Steuer! Das glaubt man doch nicht, oder? Und weißt du noch was? Ich bin ihnen davongelaufen, einfach weggerannt. Damit bin ich also jetzt ein flüchtiger Täter. Ich habe meine Pistole eingesteckt. Ich weiß nicht so Bescheid über die gesetzlichen Dinge. Aber ich bin jedenfalls flüchtig, und jetzt hier auf deinem Grund und Boden. Wie ich die Sache sehe, könntest du mich seelenruhig abknallen und keiner könnte dir was anhaben.« Lebendig davongekommen. Aber wieder ein Killer. Diesmal mit einer Flinte. Killer mit dem Auto. Killer mit der Flinte. Killer eines kleinen Mädchens. Killer ihres Vaters. So einen buchten sie ein bis in die Steinzeit. »Also ziehe ich jetzt mein Schießeisen aus der Hose hier«, sagte Freddy. Seine Finger umschlossen den Griff der Pistole in seinem Hosenbund, und er zog sie raus. Ich kam aus der Schule, weißt du, und hab überall nach dir Ausschau gehalten. Rauf und runter die Straße. Und ums ganze Gebäude herum. Auch auf dem Parkplatz. Und dann bin ich noch lange am Eingang stehengeblieben. Ja, ich weiß, sagte er. Ich war in diesem Hotelzimmer und hatte diesen Abschluß zu machen. Das war Geschäft. Wegen blöder afrikanischer Ohrringe in Lederetuis. Feine Tiergravuren in Elfenbein und mit einem Stein, der dir gefallen hätte. Ich hatte schon einen für dich ausgesucht. Wo warst du? fragte sie. Ich habe gewartet und gewartet. Die Waffe aus dem Bund, ihr Gewicht lag in seiner Hand, und die ganze Zeit blickte er direkt in die Flintenmündung und erwartete die explodierende Kerze aus ihr, auf die er noch einen kurzen Blick werfen würde, sobald John erst einmal abdrückte. 442
Wie die Kerze im Schlafzimmerfenster in der Nacht vor ihrer Beerdigung. Vor ihrer tanzenden Flamme hatte er damals beschlossen, am Morgen nicht zum Begräbnis zu gehen. Das war ein Weg, etwas zu behalten, eine Hohlform, wo etwas aus ihm herausgeschnitten worden war, wovon das Loch aber blieb und das er auch bewahren wollte. Jede Beileidsbezeugung und jedes Trostwort und jede Bekundung von Mitgefühl wären doch nur unanständig gewesen. Als würden sie ihm damit etwas stehlen. Etwas Wirkliches. Das letzte blutvolle Stück Leben, das er von ihr noch hatte. Seinen Kummer, seine Trauer, die sie dann durch banale Gesten ersetzen wurden. Nein, er war entschlossen, nicht mitzuhelfen, sie in die Erde zu verscharren. Er mochte nicht leugnen können, daß sie tot war, aber er konnte sich weigern, an der Farce dieser sogenannten Zeremonie teilzunehmen, die ein angemessenes Gegenstück zu der Blasphemie ihres Todes sein wollte. Richtig, sagte sie. Richtig. Meines Todes. Meines Todes, Todes, Todes. Die Pistole war jetzt ganz draußen. Sie hob sich mit seiner Hand. Ganz langsam. Richtig, sagte sie. Langsam, Dad, ganz langsam. Du mußt sie ganz langsam heben und dann zielen. Aber schieß nicht. Ziele, aber schieß nicht. »Ich glaube, ich versuche es jetzt und erschieße dich«, sagte er. Das Gewicht der Pistole schien gewaltig zugenommen zu haben. Sein Arm zitterte, als er Johns Kopf anvisierte. John aber war wie ein Felsen oder wie ein Steinhaufen in seiner geduckten Stellung mit gespreizten Beinen. Er bewegte sich keinen Millimeter. Nur seine Brust hob und senkte sich mit seinem Atem. Die riesige Mündung seines 443
Flintenlaufes starrte auf Freddy. Warte, sagte Emily. Warte, bis er schießt, Dad, und dann, wenn du getroffen bist und es dich nach hinten reißt, dann gib’s ihm. Ja, aber es ist eine Schrotflinte, Emily, dachte er. Eine Schrotflinte. Dann bin ich mausetot. Knall ihn ab, John, sagte sie. Oder er knallt dich ab. Ich will zwar dich, aber er wird’s tun. Die Art, wie Freddy mit seiner Pistole herumfuchtelte, ohne sie stillhalten zu können, konnte noch dazu führen, dachte John, daß sie losging, auch wenn er es gar nicht wollte. Damit konnte er ohne weiteres in jeder nächsten Sekunde tot sein. Das war ihm klar. Und doch konnte es ihn nicht dazu veranlassen, selbst zu schießen. Er starrte lediglich weiter auf den Lauf von Freddys Pistole und auf dessen verzerrtes Gesicht und wartete. Er wartete, als komme etwas, und dann sei immer noch Zeit, etwas zu tun. Die ihn anstarrende Pistolenmündung öffnete sich zu einem lähmenden Loch. Wie das das Kaninchen lähmende Auge der Schlange. Und dahinter flirrte Freddy Gales kalkweißes Gesicht. Nein. Nein, seine Haut war eigentlich eher grünlich, und seine Augen standen unter Drogen, und er, John, hatte keineswegs mehr die Oberhand wie bisher. Die Balance hatte sich verschoben. Sie hatten jetzt alle beide jeder eine Schußwaffe in der Hand, und deren Mündungen waren nur ein paar lächerliche Meter auseinander, mit nichts als dünner Luft dazwischen. Ich warte! sagte Emily. Warum tust du’s denn nicht? Freddy holte Luft und blinzelte und verlagerte sein Gewicht, als wolle er seinen Stand besser sichern. Komm zu mir! Ich brauche dich hier! Ich brauche euch beide hier! John, bitte! Tu, was ich von dir verlange! 444
Komm zu mir! Oder bringe ihn mit. Oder schicke ihn mir wenigstens. Einer von euch beiden tut es, gleich welcher. Sie wollte ihn haben, und er stand auf. Jetzt, jetzt! Und da warf er die Flinte von sich. Und während sie noch durch die Luft segelte und im weichen Gras landete, drehte er sich um und rannte davon. »He!« sagte Freddy. John rannte den Fußweg zur Straße entlang. Freddy fühlte sich, während er sich hochrappelte, auf seltsame Weise im Stich gelassen und getäuscht. Er hatte das komische Gefühl, sitzengelassen worden zu sein. Er begann John nachzurennen. Als er an den Seitenhecken und dem Gebüsch vorbei ebenfalls draußen auf der Straße angekommen war, konnte er John, der schon ein ganzes Stück voraus war, kaum noch erkennen. O Gott, dachte er. Nein, nein! Aber Johns huschender Schatten war bereits von der Dunkelheit verschluckt. Dann tauchte er im Kegel der Straßenbeleuchtung wieder auf. Als sei er eine ab und zu aufflackernde Geistererscheinung, immer phantastischer mit wachsender Entfernung. Nein, nein, dachte Freddy, während er ihm nachsah. Bitte, nicht schon wieder rennen. Bitte. Ich kann nicht mehr rennen. Aber er rannte bereits. Er entkommt uns! jammerte Emily. »Ja, ich weiß, ich weiß.« Er hatte keine Ahnung, wohin sie rannten. Der Himmel war klar, das Pflaster unter seinen Schuhen hart, und kurz darauf lief ihm wieder der Schweiß in Strömen herunter. Aber er lief immer noch weiter, als er bereits länger gelaufen war, als er es 445
äußerstenfalls noch glaubte aushaken zu können. Er rannte und rannte. John verließ das Wohnviertel lange vor Freddy, aber Freddy sah ihn über den breiten Boulevard sprinten und zwischen einem Autozubehörladen und einem Elektronikgeschäft verschwinden. Du kannst gar nicht entkommen, John, das weißt du doch ganz genau. Freddy kämpfte darum, Anschluß zu halten, und überquerte den Boulevard, wo er John hatte verschwinden sehen, keuchte an dem Autozubehörladen vorüber und an dem Elektronikgeschäft. Als er aus der engen Gasse zwischen beiden hervorkam, würgte es ihn. Er spürte, wie sein Herz aufbegehrte. Sie waren jetzt in einer schmalen Straße voller Sprünge im Pflaster, das mit einer feinen Staubschicht bedeckt war, die aussah wie ungemischter Zement. Kleine Wolken stäubten unter Johns Tritten auf. Auch Freddy blickte zu seinen Füßen, die ihrerseits Wolken aufsteigen ließen. Wenn du stirbst, dann stirbst du eben. John hatte seinen Vorsprung noch etwas vergrößert, bis auf etwa siebzig Meter. Ein Gebäudeblock verdeckte ihn, bis Freddy ebenfalls dort angelangt war. Der Schweiß lief ihm bereits in die Augen, und seine Aufmerksamkeit war nur auf den Punkt gerichtet, wo John verschwunden war. So bemerkte er die leere Bierflasche nicht, die ihm im Weg lag und auf die er prompt trat. Daß er nicht das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte, lag allein daran, daß die Flasche unter seinem Tritt zerbrach. Er rannte weiter. Er ist weg, sagte sie. Jetzt ist er weg. Jetzt hast du ihn verloren. John blieb stehen. Er sah sich nach Freddy um, aber der 446
war nicht zu sehen. Er stützte die Hände auf die Knie und beugte sich vor, wie man es bei Marathonläufern sieht, wenn sie nicht mehr können. Dann tauchte Freddy wieder auf, aber es sah aus, als habe ihn jemand gestoßen, so daß er fast die Balance verlor und hinfiel. Er versuchte stehenzubleiben und hob die Pistole und zielte direkt auf John. Ruhe, Ruhe, Vorsicht! Freddy betete, er möge endlich einen Schuß abgeben. Aber sein Atem ging so heftig, daß er es nicht schaffte, die Waffe auch nur einigermaßen still zu halten. Als versuche er in einem heftigen Sturm zu zielen. Die Kimme der Pistole wackelte hin und her und war einmal links von John und dann wieder rechts von ihm, und es war eher, als versuche er John zu durchkreuzen. Nicht ein annähernd ausreichendes Zielen gelang ihm. Er konnte natürlich einfach aufs Geratewohl schießen oder vielleicht auch zweimal oder dreimal und das Beste hoffen. Na los, kommandierte er sich selbst. Jetzt, jetzt! Aber John begann rückwärts zu laufen wie ein Ballfänger angesichts eines hohen Flugbogens und machte einen Satz nach rechts. Jetzt! Jetzt! O verdammt, dachte Freddy. Verdammt noch mal! Es war bereits zu spät. Sein Puls schmerzte wie Rasierklingen, als er wieder losrannte. Als seien Kracher und Knaller in seinem ganzen Blut. Sein Herz war ganz außer sich. Er verspürte großen Zorn, eine jähe Wut. Er war aufgebläht von bösem Willen und dick vor Haß. Vergiftet von Galle. Und voller Widerwillen. Und brach. Und die ganze Zeit schrie ihn auch noch Emily an. Aber er war schon zu kaputt, um sie noch wirklich zu hören. 447
Die Worte verstand er nicht mehr, nur noch die Stimme hörte er. Ihre verbitterte, tadelnde, keifende, schimpfende Stimme, vor der ihn nicht einmal seine totale Erschöpfung bewahren konnte. John verschwand. Als Freddy zu der Stelle gekommen war, fand er sich vor einer Treppe, die zu einer Unterführung unter einer Autostraße führte. Er hustete und schwankte, lief aber hinunter und durch die hallende Unterführung, in der er bei jedem Schritt auf Abfall trat, auf zerbrochene Flaschen und alte Kleidungsstücke. An den Wänden waren Schmierereien. Graffiti. Namen wie Flaggen, geschrieben mit Sprühfarben. Die geheimen Botschaften der Unterwelt verrückter Fremdlinge. Ihre Visionen und Geliebten und Schwüre. Parolen und Geschichten aus Blockbuchstaben groß wie Fahrräder. Von Leuten, die nicht da waren. Leute, die er nicht kannte und die ihn nicht kannten. Die aber wilde Schreie an den Wänden hinterlassen hatten, zwischen denen er sich hier hindurchmühte. Wie Gebete im Schutz der Katakomben oder so etwas. Botschaften, die er nie lesen würde. Als er auf der anderen Seite die letzten Stufen wieder hochkam, sah er John keine zehn Meter weit an einer Bushaltestelle stehen. Es war eine gut beleuchtete Stadtstraße. John stand ganz allein dort und sah dem herankommenden Bus entgegen. Ein Bus? Ein gottverdammter Bus? Ausgerechnet jetzt? Er mußte schnell rennen oder jedenfalls zu rennen versuchen. Die Türen gingen auf, John sprang hinein. Freddy war fast dort. Er schrie. Die hintere Tür ging zu, dann aber doch noch einmal auf, und er taumelte hinein, und sofort setzte der Bus sich wieder in Bewegung. Eine ferne, schwache, blendende Folge von Licht störte seine Gedanken. Er mußte sich auf den nächstbesten Sitz fallen 448
lassen und das Gesicht in den Händen verbergen. Er hatte Angst, es sei endgültig aus mit ihm. Trotzdem sah er sich um und erblickte John. Er stand vorne beim Fahrer und deutete zu ihm her und holte Geld aus der Tasche, um für sie beide zu bezahlen. Was ist denn jetzt los? fragte Emily. Aber er wußte es auch nicht. Er wußte gar nichts, außer daß er, früher oder später, John noch erschießen würde. Oder vielleicht tat er es auch nicht. Vielleicht erschoß er ihn nie mehr. Vielleicht jagte er nur immer hinter ihm her. Bis in alle Ewigkeit. Womöglich befand er sich ja in einer Art Hölle, in der seine einzige ewige Beschäftigung war, John Booth zu jagen. Vielleicht erschoß er ihn wirklich nie mehr. Und jagte ihn immer nur. In der Hölle. Bis in alle Ewigkeit. Sein Herz war ein einziger Knoten von Säurebrand, und sein Magen war voll bis obenhin vom selben Gift. Er war sich sicher, wenn er nicht ganz still und ruhig hier sitzen blieb, würde er sofort loskotzen. John setzte sich vorne beim Fahrer hin. Er lehnte sich an das Fenster. Die einzigen anderen Fahrgäste außer ihnen saßen fast genau in der Mitte zwischen ihnen. Es waren ein hagerer Junge im College-Alter und eine Frau mit einem billigen Mantel, und sie stritten laut, ohne einander dabei anzusehen. »Du besitzt doch keinen roten Heller«, sagte sie. »Ich möchte wissen, was du da willst, dort draußen. Wie willst du denn Geld verdienen? Du verdienst doch keinen Cent!« »Wieso, ich habe doch einen Job. Natürlich verdiene ich Geld. Wie kannst du sagen, ich verdiene nichts? Schließlich zahle ich meine Miete und habe zu essen. Ich verdiene schon, klar?« Er hatte eine Brille und wurde bereits kahl. Die wenigen Haare, die er überhaupt noch hatte, waren stoppelkurz geschnitten. 449
»Ja, ja, verdiene schon, verdiene schon. Nur daß du mir nicht mal ein Frühstück bezahlen kannst, wenn ich mal hier rauskomme.« »Mein Gott, tut mir ja so leid. Ist ja gut. Tut mir so leid, daß ich mir das im Moment nicht leisten kann. Das ist lediglich Zufall, daß ich gerade jetzt, wo du hier bist, kein Geld habe, und du schließt daraus gleich, daß es immer so ist.« Freddy wollte nicht mehr zuhören müssen. Er wollte nichts als die Augen schließen und ein wenig ausruhen. Aber er konnte es natürlich nicht wagen, das wußte er. Sie standen kurz vor der Entscheidung, das spürte er. Und er wußte auch, daß Emily damit einverstanden war. Wir sind nahe dran, sagte er, nicht? Ganz nahe, sagte sie. Der Bus hielt mehrmals, und bei jedem Stopp behielt er John genau im Auge und war bereit, sofort aufzuspringen. Aber John blieb einfach sitzen, als habe er vor, lange mitzufahren. Freddy überlegte, ob er nicht einfach aufstehen und vorgehen und schießen sollte. Er versuchte seine mörderischen Gedanken wegzujagen, aber das Ergebnis – ob es ihm nun gelingen würde oder nicht – machte ihn traurig. Es war seltsam, wie ihn dies alles und die Gedanken danach wieder zu diesem Jungen und dieser Frau zurückbrachten. Sie war offensichtlich seine Mutter. Er starrte zu ihnen hin, und sie bekamen eine neue Bedeutung für ihn. »Du kannst dich doch nicht mal selbst ernähren«, sagte sie. »Kann ich wohl.« »Nein, das kannst du nicht. Ich weiß nicht mal, womit du deinen Lebensunterhalt bestreitest hier draußen.« »Brauchst du auch nicht zu wissen.« 450
»Doch. Das muß ich wissen.« Die Lichtstreifen und die Unruhe draußen auf der Straße, wenn Autos vorbeifuhren, regten ihn auf, und die beleuchteten Schaufenster ebenfalls. Sie waren viel zu nahe aneinander. Und sie sollten auch nicht derart grelles Licht haben. »Das ist Telemarketing«, sagte der Junge. »Ich mache Telemarketing.« »Telemarketing? Du rufst Leute an, um ihnen etwas zu verkaufen? Wenn solche Leute bei mir anrufen, lege ich sofort auf.« »Ist mir doch egal. Ist mir völlig egal.« Der Bus fuhr die nächste Haltestelle an, und die Türen öffneten sich hydraulisch mit dem typischen zischenden Geräusch. Paß auf ihn auf, sagte Emily. Paß auf ihn auf, Dad! Und sie hatte recht, weil er John erwischte, wie er heimlich zu ihm hersah. Mit einem abwägenden, kalkulierenden Blick, der abzuschätzen versuchte, wie viele Passagiere an dieser Haltestelle wohl einsteigen würden. Freddy sah nur zwei, aber es konnten auch mehr sein. Sein Sichtwinkel war nicht groß. John beugte sich vor, als entspanne er sich, und tat so, als blicke er zu Boden. Doch Freddy vermutete, er setze sich nur zurecht, um eine günstige Startposition zur Flucht zu bekommen. Der letzte Passagier stieg zu. Der Fahrer griff nach dem Hebel zum Türschließen. John gab Emily recht und sprang im letzten Moment hinaus auf die Straße. Freddy fuhr ebenfalls hoch, um ihm zu folgen. Aber so bereit er auch gewesen sein mochte, er kam zu spät. Die hintere Tür erfaßte gerade noch seinen Fuß und klemmte 451
ihn zwischen den Gummipolstern ein, und er mußte rufen und sich freikämpfen. Bis er es geschafft hatte, war John auf und davon. Er rannte von den Geschäftshäusern weg in Richtung Wildnis. Es gab zwar hier noch Straßenbeleuchtung und Wohnhäuser, aber sie wurden schon weniger und weniger. Die unbebauten leeren Flächen dazwischen wurden dafür immer größer und zahlreicher. Freddy hatte die Pistole wieder gezogen und lud sie durch. Die Busfahrt hatte ihm gutgetan. Er fühlte sich gestärkt und war entschlossen, das Spiel zu beenden. Er würde es gewinnen. Er konzentrierte sich auf seine Atmung und hielt den Anschluß. John wankte jetzt. Er schwankte wie ein großes Blatt Papier im Wind. Er lief schräg aufwärts und auf die dunklere, unbewohnte Seite zu. Freddy holte stetig auf, dafür nahm aber seine Entschlossenheit immer mehr ab. Er überquerte ebenfalls die Straße, und als er sich abdrückte, verspürte er einen Schmerz im Knie, als habe man ihm dort von hinten einen Nagel eingeschlagen. Er begann zu humpeln und wurde langsam und hielt sich das Bein. Sein Herz hämmerte schon wieder wild. Als er das nächste Mal ausatmete, war es auf einmal wie ein unerwartetes plötzliches Schluchzen. Wenn das nicht besser wurde, führte das zum Herzanfall. Auf seinem verblüfften Gesicht sah er wieder das ungläubige und verwunderte Sterben seines Vaters. John schien in einer Höhle zu verschwinden, die der Schatten der sägezahnförmigen Kiefern an dem Hang dort vorne bildete, doch es sah eher aus wie eine Festung mit Bollwerken und Wachttürmen. Davor spannte sich ein silbriges, glitzerndes Netz am Boden des dunklen Höhleneingangs. Ein Maschendrahtzaun. John begann ihn zu übersteigen. Freddy humpelte über die Straße und ließ 452
John nicht aus den Augen, der nach Halt suchte und schon aufwärtskletterte. Das Geräusch des Zauns war deutlich zu hören. Freddy versuchte gerade, ihm nachzuschreien, als noch etwas an seinem Fuß riß und ihn umwarf. Er fiel mitten auf die Fahrbahn hin, auf seine ausgestreckten Hände, die unter ihm wegrutschten. Er lag auf dem Bauch, als das hupende Auto auf ihn zukam. Er warf sich zurück. Das Auto gab einen metallischen, explosiven Knall von sich, und seine Geschwindigkeit zog an ihm. Er humpelte den Rest des Weges über die Fahrbahn, erreichte den Randstein und kämpfte sich hoch. John kletterte eben über den oberen Rand des Zauns. Wenn er erst einmal auf der anderen Seite war, konnte er in den Wald entkommen. Freddy spannte den Hammer. Es ist dunkel und ich sehe dich nie wieder. Es war, als schwebe John die zweieinhalb Meter vom oberen Zaunrand bis zum Boden. Hinter ihm sah Freddy Wasser den Berg herunterfließen wie ein Fluß, der in ein Zementbett gezwungen ist und der unter John und durch den Zaun bis auf die Straße floß. Mach schnell, beeile dich! John sah sich um. Es ist dunkel, Daddy. Die Pistole riß ihm den Arm hoch und hinterließ eine Lichtspur. Der Knall klang wie das Zuschlagen einer Tür in einer hallenden Höhle. Er knurrte. Oder John schrie auf. Jedenfalls war da ein Laut, ein menschlicher Laut. Und dann plumpste John auf der anderen Seite des Zauns zu Boden. Das Wasser um ihn herum schwappte hoch, als habe er es erschreckt und als wolle es fort. Freddy starrte hin. Es war verblüffend gewesen, wie 453
diese große und kräftige Gestalt sich gedreht hatte und dann einfach heruntergefallen war, als sei die Erde nicht mehr ihr Element. Die pure Schwerkraft hatte ihn überwältigt. Er war auf den Zaun geklettert und hatte dort innegehalten. Und jetzt lag er reglos in dem flachen Wasser dort, das kleine Fontänen von Gischt über ihn hingoß. O Gott, sagte Emily. O Gott. John Booth war tot. Er hatte es getan. Er ging hin. Emily war tot. John war tot. Er lehnte sich an den Zaun und blickte in das schattige, flüsternde Wasser, und ein fremdes, unerwartetes Entsetzen begann auf ihn einzudringen. Er war der einzige, der nicht tot war. Nur Freddy war nicht tot. Er sah alles wieder, obwohl er es aus seinem Kopf zu verbannen suchte, bevor er erkannte, daß er sowenig wie John dort oben auf dem Zaun seiner Kugel hatte entgehen können, fortan dem Bild entgehen konnte, wie John dort hinaufkletterte und innehielt und dann herabfiel. Ich warte. Er blickte auf die Pistole in seiner Hand. Ja, ich weiß. Ich warte. John hörte sie und wollte ihr antworten, also sah er sich nach ihr um. Er sah sich um in der Erwartung, sie über sich zu erblicken, aber da war nur der Himmel und eine Straßenlaterne, die er wegen der Gewalt der Kugel und dem harten Aufprall nach seinem Sturz und dem über ihn hinfließenden Wasser nur noch verschwommen sah. Steh auf, sagte sie. Er glaubt, du bist tot. Ich will dich. Noch ist es nicht vorbei. Er erinnerte sich an die Stelle des Einschlags und hob 454
die Hände dorthin. Direkt unter seinem Ohr seinem Gefühl nach. Alles stellte sich wieder ein, die Nacht, der Himmel, die Bäume über ihm und seine Gedanken. Da war Blut und eine tiefe Rille, aus der Fleisch weggerissen war, und es brannte, wenn man es mit den Fingern anfaßte. Sieh ihn dir an, sagte sie. Schau ihn an, verdammt. Freddy starrte verblüfft auf die sich bewegende Hand. Er lehnte am Zaun, blickte durch ihn hindurch und sah offene Augen und daß John bei Bewußtsein war. Und er bewegte sich in dem Wasser, das über sein Gesicht floß und seine Brust zudeckte. Bring ihn mir. John schnaubte dreimal. Ganz deutlich und in gleichmäßigen Abständen, und es klang, als stießen Gegenstände aneinander. Er drückte die Hand ins Wasser, bis er auf dem Betonboden war, auf dem er lag, drehte sich mühsam herum auf den Bauch und stemmte sich dann auf den Knien hoch. Hast du etwa gedacht, es sei leicht? Oder daß wir alles so belassen könnten? Freddy suchte verzweifelt nach einer anderen Erklärung für das, was er vor sich sah. Voller nebelhafter Ungläubigkeit dachte er an alle nur möglichen Gründe. Lieber alles andere, nur nicht, was er hier vor sich sah. Er hatte den Mann doch erschossen. Aber er war nicht tot. Er war nicht gestorben. Er keuchte wie ein Stier und rappelte sich hoch, befreite sich von dem sprühenden und gischtenden Wasser und streifte es von sich wie Schnüre, von deren Fesselung er sich mühelos befreite und die ihn nicht länger zurückhalten konnten. Wie ein Sprinter vor dem Start war er auf Händen und Knien, bereit davonzustürmen. Nein, dachte Freddy und starrte hinter ihm her. Was soll 455
ich jetzt machen? Noch einmal auf ihn schießen? Muß ich ihn noch einmal erschießen? Ich habe ihn doch schon erschossen! Aber er ist nicht tot, sagte Emily, Und ich warte immer noch. John stolperte und fiel hin, aber im selben Moment, da er mit dem Knie das weiche Gras berührte, kämpfte er sich bereits wieder hoch, klammerte sich an die Bäume und mühte sich den Gang hinauf. Ich warte. Ich habe ihn doch erschossen, Emily! sagte Freddy. Er griff nach dem oberen Rand des Zauns und strampelte und zerrte, bis er ebenfalls oben war, auf die andere Seite stieg, sich hinunterfallen ließ und im Wasser landete, wo eben noch John gelegen hatte. Über ihm verschluckte John ein flüsternder Gestrüppvorhang. Freddy sah auf seine Pistole und dachte: Also gut, okay, ich habe es einmal getan, da kann ich es auch zweimal tun. Und wenn es sein muß, öfter. Er ging los, kämpfte sich voran und dachte: Also gut. Es war ein wegloses Labyrinth, ein Chaos, und in ihm verfolgte und jagte er wieder John Booth. Er jagte ihn noch immer. Er hatte ihn erschossen, aber trotzdem mußte er ihn immer noch jagen. Also war er auch imstande dazu. Ihn noch einmal zu erschießen. Abknallen. Aber diesmal steckte er ihm das idiotische Schießeisen ins Ohr, verdammt noch mal. Nicht aufgeben jetzt. Alles vor ihm war ein verwachsenes Chaos. Baumäste, Büsche, Gestrüpp und ihre Schatten, alles zusammen eine scheinbar undurchdringliche Masse, bis man sie tatsächlich durchquerte. Niedrigstehende Zweige, die wie 456
Klauen nach einem griffen, und hängendes nasses Laub, das ihm über das Gesicht fuhr wie sich windende Würmer. Schon lange hatte er John nicht mehr gesehen, aber er hörte ihn noch eine Weile, wie er durch das Unterholz brach. Dann merkte er, daß er seit einigen Sekunden nur mehr sich selbst hörte, das Geräusch, das er selbst verursachte, während er durch das Gestrüpp drang. Es übertönte alles andere. Er schob ein letztes Gebüsch auseinander. Und vor ihm tat sich ein weites leeres Feld auf. Ein abschüssiges Gelände voller Steine. Weitverstreute Felsfragmente auf einer gutgepflegten Wiese. Das kalte Licht des Mondscheins lag darauf. Und da war auch John. Er ging einen Weg entlang und verließ ihn dann, um zwischen den Steinen weiterzutaumeln. Das war ein Friedhof. Freddy stand vor einer Marmortafel auf einem Sockel mit zwei Bronzefiguren, einem kleinen Mädchen und einem Lamm, und das vorwitzige Mädchen versuchte im Herunterbeugen dem Schäfchen in die Augen zu sehen, als erwarte es von ihm die Antwort auf seine drängenden Fragen. Er war da, erkannte er, wo er sich geschworen hatte, niemals hinzukommen, und diese Erkenntnis erschwerte ihm das Atmen. Auf der anderen Seite des Monuments war John nur noch eine ferne Gestalt im weißen Hemd, die nun zu Boden sank. Freddy hatte ihn gejagt und gejagt und gejagt. Doch jetzt, da er von der Hohe des Hügels zu ihm hinabblickte, jagte er ihn nicht mehr, sondern folgte ihm. Er schoß nicht noch einmal auf ihn. Auch wenn er immer noch die Waffe in der Hand hielt. Es nützte vermutlich ohnehin nichts, ihn zu erschießen. Vielleicht war es ja 457
auch die ganze Zeit lediglich darum gegangen: ihm zu folgen. Von Anfang an. Nein, sagte Emily. Ihm hierher zu folgen. Neeeiiin, sagte sie. Laß mich nicht fort. Daddy, bitte. Als er ankam und vor John stand, der im Gras lag, wußte er endlich, wo sie waren; noch bevor John herumrollte und das Grab nicht mehr verdeckte. Aber er war trotzdem starr vor Schreck über das, was dort stand. Emily Gale 1981-1988 Ruhe in Frieden im Himmel, zartes Kind Und über die Farbe. »Rosa, Emily. Der Stein ist rosa«, sagte er. Ein rosa schimmernder, in die Erde gerammter Granitstein, ohne Erhebung im Gras. Und er kniete nieder und faßte nach dem Stein. Und noch einmal schrie sie auf. Nein, Daddy, nein! Laß mich nicht fort! Aber genau das tat er. Er konnte es auch nicht ändern. Etwas explodierte, als sein Finger ihren Namen berührte, und er konnte es nicht verhindern. Allein der Grabstein schien es zurückhalten zu können, aber das war nicht genug, und es griff nach ihm und stieg hervor aus dem Boden, wie Diamanten und Edelsteine aus dem Leib der Erde geschleudert wurden, und prallte gegen die Oberfläche ihres kleinen rosa Grabsteins, bis es sich nicht länger zurückhalten konnte und ihn einhüllte. Ein quälender Schmerz und eine Empfindung von Licht und einer Diamantenspirale in einen ungeheuer anmutigen Strahlenkranz eingefaßt, in dessen Umarmung er sich 458
wand und stöhnte. Es war überall, dieses Licht, und völlig unerklärlich. Und es schmerzte. »FREDDY GALE«, ertönte eine Stimme aus einem Lautsprecher, »FREDDY GALE, WIR MÖCHTEN, DASS SIE AUFSTEHEN UND DIE HÄNDE ÜBER DEN KOPF HEBEN!« Freddy sah, wie über das holprige Feld große Räder von Licht auf ihn zufuhren und ihn zudeckten. Und sie kamen von dem Hügel, wo ein Wagen stand. Das Suchlicht und die Fernlichtscheinwerfer warfen ihre Lichtstrahlen über das ganze Feld hinab bis zu ihnen, zu dem Grabstein, an dem sie nun beide im Gras lagen, John und er. Und noch zwei schwächere Lichtstrahlen kamen hinzu. Polizisten mit Taschenlampen. Sie kamen den Hügel herab. Dennis und seine Kollegin. Jetzt erinnerte er sich wieder an die Stimme. Dennis hieß er und er eilte den Hügel herab auf ihn zu. Die Polizei, dachte er, und hob die Hände. Die Polizei kam und verhaftete ihn. Auch gut. Okay. Er brauchte ohnehin Ruhe, er mußte ohnehin ausruhen.
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33. KAPITEL Durch Marys Schlaf fielen Briefe wie Sternenlicht, das Lichtjahre brauchte, um zu ihr zu gelangen. Andere Galaxien lagen jenseits ihres geduldigen, wartenden Blicks. Obwohl sichtbar, waren sie nicht zu sehen. Sie waren so weit entfernt, daß noch nicht einmal das Licht angekommen war, um Zeugnis von ihrer Existenz zu geben. Allein das Licht des Andromedanebels, nichts als ein geisterhafter Schemen, hatte schon Hunderte Millionen Lichtjahre zurückgelegt, ehe es seine Existenz offenbarte. Wie der Absender der Briefe, die Mary begierig war zu lesen, konnte auch der Andromedanebel schon längst vergessen sein, zu existieren aufgehört haben, ehe sein Licht, das sein Vorhandensein vor dieser langen Zeit dokumentierte, angekommen war. Liebe Mummy, der Wind, der Wind, der Wind. Liebe Mummy, das Schiff, das Schiff, das Schiff. Liebe Mummy, die See, die See, die See. Mit all meiner Liebe, meine kleine Mummy, Emily. Mary erwachte und griff nach Emilys Schreibfeder auf dem Nachttisch, um einen Gedanken zu notieren. Direkt vor ihrem Fenster hingen die tintenschwarzen Streifen der Dunkelheit. Sie hatte keine Ahnung mehr, was sie aufgeweckt hatte und was sie niederschreiben wollte. Die Sterne waren unergründlich. Mit ihrem Funkeln und ihrer Vielzahl machten sie sie so traurig wie melancholische 460
Musiknoten. Sie schienen die Elemente einer Sprache der Trauer zu sein, wie die Seiten hinabregnende chinesische Schrift. Sie hatte Trauer in ihrem Schlaf gehört. Das hatte sie aufgeweckt. Nicht irgendein Gedanke. Sondern das Unglücklichsein. Und als sich die Ränder ihres Wachzustandes nun allmählich zu verfestigen begannen, wußte sie auch, daß es dieses Zimmer hier war. Das Schluchzen eines Kindes, das alle Hoffnung auf Hilfe verloren hatte. Es schien aus den Wanden selbst zu kommen. Sie stützte sich auf die Ellenbogen und blickte in die Ecke, wo ihre Sinne sich sammelten. Ein Stapel Schatten zitterte, Streifen von Mondschein ließen lustige Bären in roten Hemden erkennen, die an einem Lagerfeuer Suppe aus Tellern aßen. »Anthony?« fragte sie ins Dunkel. Das Schluchzen endete in einem unterdrückten Atemzug. »Anthony, Liebling, was ist?« »Nichts.« »Warum bist du dann nicht im Bett?« »Ich weiß nicht.« Es klang, wie wenn jemand sich müht, im Schlamm steckende Hände herauszuziehen. »Schlaf ruhig weiter, Mummy.« »Komm her.« »Du brauchst doch deinen Schlaf, Mummy.« Roger drehte sich aus der Rückenlage zur Seite und drückte seine Knie an sie, während sie sich umdrehte. »Was ist denn los?« »O nein!« seufzte Anthony. »Jetzt habe ich Daddy aufgeweckt.« »Was ist? Stimmt etwas nicht?« »Anthony saß dort in der Ecke.« 461
»Welche Ecke? Da ist er noch immer. Was macht er denn da?« Roger setzte sich blinzelnd auf. »Komm her, Anthony«, sagte Mary. »Bitte.« »Wie spät ist es denn?« fragte Roger. Anthony riß sich mit einem Seufzen von seinem Zufluchtsort los und kam in die Mitte des Zimmers, auf das voll der Mondschein fiel. Noch ein Schritt und sein verschmiertes Gesicht war sichtbar. So stand er in seinem Pyjama mit dem Muster der Suppe essenden Bären. »Ich brauche etwas Medizin«, sagte er. Mary war bereits aus dem Bett und kam zu ihm. »Na, du hast ja tatsächlich Fieber, kleiner Mann«, sagte sie, nachdem sie seine Wange berührt hatte. »Ich habe von einstürzenden Häusern geträumt.« »O nein!« »Doch.« Sie führte ihn zum Bett, während er seinen stockenden Bericht gab. »Bum, bum, bum.« »Was für Häuser?« fragte Roger. »Ganz große. Eines nach dem anderen.« Mary ging ins Bad, und Roger kümmerte sich weiter um Anthony. Als Mary mit einem feuchten Tuch und etwas Wasser und einem Glas Kinderaspirin wiederkam, saß Anthony im Schneidersitz auf ihrem Kissen und starrte ins Leere. Sie stieg wieder zu ihm ins Bett, und er hob ihr den Kopf entgegen und machte den Mund auf für das Aspirin, das sie in der Hand hielt. Er nahm die Tablette mit der Zunge auf und wartete mit offenem Mund auf weitere Anweisungen. »Schluck«, sagte sie und hielt ihm das Wasser an den Mund. 462
»Es waren lauter Häuser, die ich noch nie gesehen habe, aber es gefiel mir trotzdem nicht, daß sie einfielen.« »Ja«, sagte sie, »das kann ich mir denken.« Er legte sich hin, und sie packte ihm das feuchte Tuch auf die Stirn. Sie faßte kurz zu Roger hinüber. »Laß ihn für heute bei uns schlafen, ja?« »Ja, ja, gut.« Anthony sah sie an und sagte: »Weißt du, daß Andrew schnarcht?« »Nein.« »Tut er aber.« Aber schon nach ein paar Sekunden ging sein Atem gleichmäßig, und er war wieder eingeschlafen, Roger nach ein paar weiteren Minuten ebenfalls. Das nasse Tuch war warm geworden. Sie nahm es weg. Sie spürte, wie das Wachen sie von ihrem Mann und dem schlafenden Jungen neben ihr trennte. Ihre Hand lag auf Anthonys Stirn. Sie versuchte seine Temperatur abzuschätzen. Sie schien schon wieder etwas gefallen zu sein. Sie bettete sich um ihn herum wie eine schützende Schale um den kleinen Körper. Sie drückte die Nase an seine Schulter und roch an seiner Haut und atmete tief ein. Atmete ihn in sich ein.
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