1.
»Deine Welt, Danila!« sagte Dragon und machte eine weitausholende Handbewegung. »Einen sehr erfreulichen Anblick b...
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1.
»Deine Welt, Danila!« sagte Dragon und machte eine weitausholende Handbewegung. »Einen sehr erfreulichen Anblick bietet sie allerdings nicht!« »Und ihre Bewohner?« fragte das dunkelhaarige Mädchen spöttisch zurück; unwillkürlich straffte sich ihre Gestalt, und Dragon grinste leicht. Zumindest was Frauenschönheit betraf, waren die Verhältnisse auf beiden Seiten des Weltentores gleich – und in Urgor hätte das Mädchen mit den feurigen, dunklen Augen zweifellos als Schönheit gegolten. Weniger erfreulich war der Anblick, der sich den beiden Wanderern bot; fast sechs Stunden lang waren Danila und Dragon schon unterwegs, und allmählich zeichnete sich das Ende der bergigen Zone ab. Danilas Vorschlag folgend, waren sie der untergehenden Sonne gefolgt. Die Landschaft, die sie in wenigen Stunden zu durchqueren hatten, lag vor ihren Blicken verborgen – zur linken Hand türmte sich eine schwefliggelbe Wand in die Höhe – Wolken, Berge oder andere Dinge, die normalerweise den Horizont ausmachen, waren nicht zu erkennen. Zur rechten Hand bot sich das vertraute Bild des Horizontes. Was für eine Wand das war, woraus sie bestand und wie
man sie überwinden konnte – Dragon fand in seinen Erinnerungen kein vergleichbares Phänomen, und Danilas Kenntnisse über ihre Welt waren zu dürftig, um einen Erklärungsversuch zu ermöglichen. »Ich weiß, daß diese Welt anders ist als jene, die wir verlassen haben!« sagte Danila betrübt; sie hatte den nachdenklichen Zug auf Dragons Gesicht gesehen und verstanden. »Früher einmal – so sagen es die Alten – soll diese Welt ganz anders ausgesehen haben, schön und friedfertig. Daß es jetzt so wüst und leer aussieht, ist nur die Schuld dieses verfluchten Namenlosen!« Immer wenn die Sprache auf den einsamen Wanderer kam, verdüsterte sich Danilas Gesicht. Der Haß auf den Verursacher vieler unerfreulicher Dinge mußte tief in ihr verwurzelt sein, und vermutlich war es bei ihren Freunden auf dieser Welt ebenso. Wahrscheinlich, überlegte Dragon flüchtig, würden auch die Menschen seiner Welt jeden verfluchen und mit ihrem Haß verfolgen, der sie in ein solches Jammertal verwandelte. »Rasten wir!« schlug Dragon vor; er wollte Zeit gewinnen. Er fühlte sich unwohl, und wenn er ehrlich war, empfand er sogar eine leise Andeutung von Angst. Danilas Welt war anders, völlig anders. Allein die gelbliche Wand, die den Horizont versperrte, war Beweis genug dafür. In den Stillen Zonen, wie Danila
sie genannt hatte, mochten die Verhältnisse erträglich sein, aber in den Wilden Zonen lag die Natur mit sich selbst im Kampf. Es stand zu befürchten, daß die allernormalsten Dinge dort widersprüchlich waren. Dragon stand kurz auf, sah sich um und stieß ein unwilliges Brummen aus. »Was ist?« erkundigte sich Danila. »Gefahr?« »Noch nicht!« beruhigte Dragon das Mädchen. »Was fällt dir auf, wenn du die Landschaft betrachtest?« Das Mädchen zuckte mit den Schultern, dann erhellte sich ihr Gesicht. »Wir sind noch im gebirgigen Teil dieser Region«, stellte sie fest. »Was vor uns liegt kann also nur Flachland sein. Dennoch sieht es auf der linken Seite so aus, als läge noch ein ziemlicher Anstieg vor uns!« »Das meinte ich!« brummte Dragon. »Langsam beginne ich mich zu fragen, welchem Sinn man hier überhaupt vertrauen kann. Den Augen nicht, wie wir gerade bemerkt haben!« Er hielt inne, als er unter sich eine Bewegung im Boden spürte, ein leises, kaum wahrnehmbares Zittern. Dann folgte ein dumpfes Grollen; erschrocken sprang Danila auf. »Die Erde bebt!« rief das Mädchen ängstlich; Dragon schüttelte nachdenklich den Kopf. Als er sich umdrehte, wurde ihm schlagartig klar,
was für das Zittern des Bodens verantwortlich zu machen war – am äußersten Rand seines Gesichtskreises, dort wo das Weltentor liegen mußte, türmte sich eine grauschwarze Säule in die Höhe. Das Gebilde schien die Gestalt eines Gesichtes anzunehmen, das mit teuflischer Schadenfreude zu Dragon herübergrinste. »Wir müssen zurück, Danila!« entschied Dragon rasch. »Das Weltentor?« fragte das Mädchen ahnungsvoll. »Irgend etwas ist geschehen!« sagte Dragon erbittert. »Ich weiß nicht was, aber ich befürchte eine Schurkerei!« Für den Hinweg hatten die beiden sechs Stunden gebraucht; die Strecke bis zum Weltentor zurück bewältigten sie in fünf Stunden. Unbarmherzig trieb Dragon das Mädchen vorwärts, und erst als Danila erschöpft zusammenbrach, legte er eine kurze Pause ein, die er dazu nutzte, sich den Körper des Mädchens über die Schulter zu legen und anschließend seinen scharfen Marsch fortzusetzen. Trotz der Last auf seinen Schultern machte er schnelle, weite Schritte. Er wußte nicht, woher er die Kraft zu diesem Gewaltmarsch nahm. Rührte sie aus der Sorge um Ubali, den er am Weltentor zurückgelassen hatte, oder empfing er die Kraft aus dem Amulett, das er von Mura erhalten
hatte? Dragon kümmerte sich nicht um diese Frage, seine Sorgen hatten andere Gründe. Wenn seine Befürchtung zur Wahrheit wurde, war er abgeschnitten, war der Weg zurück, nach Urgor, zu Amee und den Freunden für immer versperrt. Und er selbst war gefangen auf einer Welt, die nicht seine war, für ihn unverständlich, von undurchschaubaren Kräften und Mächten beherrscht, Spielregeln unterworfen, die er nicht kannte – und jeder Verstoß gegen die Gesetze dieser in Aufruhr befindlichen Welt konnte ihm den Tod bringen. »Also doch!« flüsterte der hochgewachsene Mann, als er sein Ziel erreicht hatte. Ohne es selbst wahrzunehmen, legte er sanft die Last des Mädchens ab. Sein bronzenes Gesicht war gezeichnet von Erschöpfung, Niedergeschlagenheit und dumpfer Wut. Sein Haar in der Farbe der Kastanien war von Schweiß verklebt und hing in wirren Strähnen ins Gesicht. Dragon sah kurz nach Danila; das Mädchen würde rasch wieder erwachen, stellte er fest. Dann machte er sich auf die Suche. Er hatte Ubali und Arric den Roten zusammen mit dem Gleiter hier zurückgelassen – sie sollten warten, bis er Danila bei ihren Leuten abgeliefert hatte. Dann erst sollte das Weltentor für immer verschlossen werden. Nichts war zu finden – oder zuviel.
Von den Männern und Fahrzeug fehlte jede Spur. Wo sich einmal das Weltentor befunden hatte, türmte sich ein gewaltiger Haufen großer Steine und Felstrümmer. Mit der Kraft der Verzweiflung machte sich Dragon daran, die Trümmer zu beseitigen, aber bereits nach dem ersten Versuch gab er auf. Die Sprengung hatte genau das erreicht, was ihr Zweck gewesen war – die Verbindung zwischen Dragons Welt und der Heimat Danilas war für ewige Zeiten unterbrochen. Dragon setzte sich auf einen mannsgroßen Felsblock, den die Explosion herumgewirbelt hatte; auf den Knien wiegte er das Schwert, dessen Griff er umklammert hielt, als hinge sein Leben davon ab. Das Gesicht zu einer steinernen Maske förmlich eingefroren, starrte er auf die Steinmassen, die den Rückweg versperrten; fast gewaltsam versuchte er, den Ansturm einander bekämpfender Gefühle abzuwehren. »Arric!« knurrte der Mann halblaut. »Dieser Schurke sollte mir vor die Klinge kommen!« Er war sich sicher, daß kein Unfall für diese Katastrophe verantwortlich zu machen war. Er selbst hatte die Ladungen verteilt und sorgfältig darauf geachtet, daß ihm kein Fehler unterlief. Außerdem hätte ein Unglücksfall Ubali und Arric überrascht – es hätten sich also Spuren der beiden Männer finden lassen müssen.
Dragon spürte einen leichten Druck auf der linken Schulter; er wandte den Kopf und sah Danila, die geräuschlos nähergekommen war und ihn mitfühlend betrachtete. »Das Weltentor ist verschüttet, nicht wahr?« hörte Dragon ihre leise Stimme; es klang mehr als Feststellung denn als Frage. »Du kannst nicht mehr zurück!« Die Art und Weise, in der sie das Du aussprach, erinnerte Dragon an den Grund, der ihn in diese Welt geführt hatte – Danila zu ihren Freunden und Verwandten zurückzubringen. Dazu war er nach wie vor in der Lage. Hatte das Mädchen ihn daran erinnern wollen? Dragon las in dem Gesicht des Mädchens und nahm seinen blitzartig aufgetauchten Verdacht wieder zurück; Danila war in echter Sorge um ihn, dennoch schien sie erleichtert zu sein, daß die geheimnisvolle Verbindung zwischen den Welten zerstört war. »Ich verstehe dich, Dragon!« sagte Danila leise. »Es wird dich nur wenig trösten, aber es mag auf meiner Welt noch andere Tore geben. Wo sie sich befinden, ob es sie überhaupt gibt – ich weiß es nicht. Aber wenn es eine Möglichkeit für dich gibt, zu den Deinen zurückzukehren, werden wir diese Möglichkeit finden!« Sie sah an Dragons Blick, daß er ihr nicht vollständig
zuhörte; ein großer Teil seiner Gedanken weilte anderswo. Danila zuckte mit den wohlgeformten Schultern und wandte sich ab; sie war ein noch junges Mädchen, unkompliziert und schlicht. Sie begriff, daß ihre Anwesenheit kaum dazu beitragen konnte, Dragons Stimmung zu heben; der Verstand ihres Begleiters brauchte seine Zeit, bis er sich mit den unausweichlichen Konsequenzen abgefunden hatte, die sich aus der Vernichtung des Weltentores ergaben. Einstweilen war sie froh, überhaupt noch am Leben und auf ihrer eigenen Welt zu sein. Für Dragon würde sich schon eine Möglichkeit finden lassen – schließlich hatte auch sie den Weg zurückgefunden, wenn auch nur dank der Hilfe Dragons. Das Feuer brannte ruhig und fast ohne Knistern; nur schwach kräuselte sich der Rauch in die dunkle Höhe des Nachthimmels. Die beiden Männer, die in der Nähe der Glut saßen beäugten einander mit kaum verhohlenem Mißtrauen. Das Licht der kleinen, zitternden Flammen warf zuckende Reflexe auf die Gesichter der beiden Männer und verstärkte so den Eindruck von Gefahr. Besonders das Gesicht des Schwarzen verwandelte sich bei dieser Beleuchtung in eine grauenerregende Fratze. Ubali war auf der Hut; seit langem schon ahnte, nein
wußte er, daß Arric der Rote etwas im Schilde führte, und Dragons Leibwächter war gewillt, Arrics Pläne, wie immer sie auch aussehen mochten, gründlich zu vereiteln. Mit dem Fuß schob er ein Stück trockenen Holzes tiefer in die Glut, damit der Brand gleichmäßig gehalten wurde. In Arric brannte dumpfer Haß, eine ohnmächtige Wut auf Dragon. Er war fest entschlossen sich sein Recht zu nehmen. Mochte Dragon in seiner Heimat ein großer Mann sein – hier, wo Arrics Gefährten lebten, gehörte nur ihm, dem Enkel der Eiskönigin, die Macht. Einen Nebenbuhler gedachte Arric nicht zu dulden – dies um so weniger, als er selbst schon im Machtkampf einige Schlappen hatte erleiden müssen. »Zuerst dieses schwarze Scheusal!« murmelte Arric kaum hörbar; er verzog das Gesicht zu der Andeutung eines Lächelns – Ubali hatte das Geräusch gehört, aber offenbar nicht verstanden. »Ubali weiß genau«, überlegte Arric, »daß ich seinem geliebten Dragon an die Kehle will. Er wird versuchen, mich zu hindern, aber ich werde schlauer sein als er. Noch weiß ich nicht wie, aber etwas wird mir schon einfallen, den Kraftprotz unschädlich zu machen!« Seine Gedanken konzentrierten sich auf den Götterwagen, den er in der Nähe wußte. Wenn es ihm gelang, sich in den Besitz des Fahrzeugs zu setzen, war
der größte Teil seines Vorhabens bereits verwirklicht. Der Rest würde eine Kleinigkeit sein – er mußte nur das Weltentor zerstören, bevor Dragon das Mädchen Danila bei ihren Leuten abgeliefert hatte. Dann war Agon-Dra oder Dragon auf der anderen Seite des Weltentores gefangen und konnte nicht mehr zurück. Zwar war es schade, daß es nicht möglich war, Dragon eigenhändig den Garaus zu machen, aber Arric war ehrlich genug, sich darüber klar zu sein, daß er in einem offenen Kampf keine Aussichten gehabt hätte, gegen Dragon zu bestehen. Arrics Plan war fertig – nur dieser vermaledeite Ubali störte. Faul lag der Schwarze neben dem Feuer, aß kalten Braten und schmatzte dabei genießerisch. Mögest du daran ersticken, wünschte sich Arric. Ubali dachte nicht daran, den unausgesprochenen Wunsch Arrics zu erfüllen. Scheinbar unbeeindruckt kaute er auf dem Braten, spielte mit den Füßen an den Holzstücken herum, die vor ihm lagen und als Nahrung des Feuers gedacht waren. Dabei ließ seine Aufmerksamkeit keinen Augenblick lang nach. Zwar wußte der treue Wächter nicht, wann Dragon von seiner gewiß gefahrvollen Reise zurückkehren würde, aber solange wollte Ubali warten und vor allem Arric beobachten. Ubali wußte genau – Unaufmerksamkeit, auch nur für die Zeit eines Lidschlags, konnte für ihn und Dragon gefährlich, wenn nicht gar tödlich sein.
»Wann, glaubst du, wird Dragon zurückkehren?« sagte Arric laut; er hatte sich dazu entschlossen, mit Ubali zu reden. Vielleicht gelang es, den Schwarzen einzulullen, seine gefährliche Wachsamkeit abzulenken. Ubali zuckte mit den breiten Schultern. »Keine Ahnung!« murmelte er langsam; es hatte den Anschein, als sei er ermüdet. Aus halbgeschlossenen Augen betrachtete Ubali Arrics Gesicht, und ihm entging nicht, daß Arric sich über dieses leise Anzeichen von Schwäche sekundenlang gut erkennbar freute. »Wir wissen nicht, wie es auf dieser Seite des Weltentors aussieht – möglich, daß Dragon und Danila aufgehalten werden. Aber ich glaube nicht, daß wir länger als zwei oder höchstens drei Nächte werden warten müssen!« Zwei oder drei Nächte, durchfuhr es Arric. Mehr als genug Zeit, selbst einen so kräftigen Mann wie Ubali stark zu erschöpfen. Was Arric jetzt brauchte, war ein Vorgehen, das dazu führte, daß Ubali ständig wachgehalten wurde – während er pro Nacht wenigstens einige Stunden erholsamen Schlafes fand. War es einmal soweit, dann würden Ubali auch seine überlegenen Kräfte nicht helfen können. Freue dich, mein Schwert, dachte Arric zufrieden, deine Klinge wird wieder Blut zu schmecken bekommen.
Seine Augen öffneten sich in leisem Triumph, als er sah, wie Ubalis hohe Gestalt zusammensackte. Der Atem des Schwarzen ging langsamer. War er vielleicht schon jetzt eingeschlafen? Arric erhob sich behutsam, darauf bedacht, kein Geräusch zu machen, das den Schläfer wecken konnte – Ubalis Instinkte waren die eines Raubtieres. Das Knacken eines Zweiges würde ihn blitzschnell erwachen lassen. Ein Schlag, dachte Arric, ich brauche einen einzigen Schlag, den er nicht parieren kann, dann habe ich mein erstes Ziel erreicht. Verdammt! Der Wind hatte sich unmerklich gedreht und war aufgefrischt; Rauchschwaden kitzelten Ubalis Nase und ließen ihn schlagartig wach werden. Sein erster Blick galt Arric, der mit angespannter Aufmerksamkeit in die Dunkelheit ringsum spähte. »Was gibt es?« flüsterte Ubali. Arric zuckte mit den Schultern. »Ich glaube etwas gesehen zu haben!« log er dreist. »Für einen Herzschlag lang war es mir, als sei in der Nacht etwas aufgetaucht – ein großes, gelbliches Phantom. Aber ich werde mich geirrt haben. Schlaf weiter – ich werde dafür sorgen, daß dein Schlaf nicht unterbrochen wird!« Das glaube ich dir gerne, dachte Ubali erheitert. Wenn es nach dir ginge, würde mein Schlaf überhaupt nie mehr aufhören, du heuchlerischer Halunke.
Instinktiv starrte er in die gleiche Richtung wie Arric. Obwohl er fest davon überzeugt war, daß der Rote gelogen hatte, wollte er dennoch sichergehen. »Tatsächlich!« murmelte er überrascht. »Da ist etwas!« Das unverhohlene Erschrecken auf Arrics Gesichtszügen ließen Ubali deutlich erkennen, daß sein Gegner mehr als überrascht war. Sein Gesicht zeigte das typische Erschrecken eines Lügners, der sein Geflunker plötzlich als Wahrheit wiedersieht. Im ersten Augenblick hatte Arric geglaubt, Ubali wollte ihn foppen, dann aber sah er genauer hin. Tatsächlich – langsam schwebte aus dem undurchdringlichen Dunkel der Nacht ein merkwürdiges Gebilde näher. Das Wesen – wenn es lebte, was Arric keinen Herzschlag lang bezweifelte – war von ungeheuren Abmessungen. Mehr als drei Mannslängen hoch, ebenso breit und mindestens acht Mannslängen tief. Gelb wie Schwefel war die Haut des Wesens, die sich über dem Körper des Wesens spannte wie Sacklinnen über einer Mannslast von Früchten. Unförmige Ausbuchtungen und Schwellungen wies das Wesen auf, das in etwas mehr als zehn Mannshöhen über dem Erdboden schwebte und langsam näherkam. »Verdammt!« knurrte Arric erschrocken. »Was ist das?« Unwillkürlich klammerten sich seine Finger fester
um den Griff des Schwertes in seiner Rechten; aus den Augenwinkeln heraus sah er, daß auch Ubali seine Klinge gezückt hatte. »Das muß eine der Wanderwolken sein!« flüsterte Ubali rauh. »Erinnere dich an die Erzählung des Mädchens Danila!« Danila war, das wußte Arric, von einem solchen Gebilde entführt worden und anschließend Gefangene der Eindringlinge geworden, die von ihrer Welt aus durch das Weltentor die Länder ringsum überfallen hatten. Was genau sich während ihrer Reise mit der Wanderwolke zugetragen hatte, vermochte Danila nicht mehr zu sagen – auf jeden Fall war es ratsam, nicht allzu nahe an ein solches Wesen heranzukommen. »Was mag das Biest vorhaben?« rätselte Arric halblaut. Auf der Wange fühlte er den leisen Druck des Abendwindes, fast senkrecht dazu zog der Rauch des Lagerfeuers davon, auf die Wanderwolke zu. Für einen Lidschlag lang verschwand die Wolke hinter einer Wand aus Rauch, dann klärte sich rasch die Luft, und das gelbe Wesen erschien erneut. »Es frißt den Rauch des Feuers!« stellte Ubali fest. »Und vielleicht auch uns!« ergänzte Arric düster. Vor den beiden Männern begann die Wanderwolke einen gespenstischen Tanz – aufwärts, dann zur Seite.
Die Wolke umkreiste dreimal mit wachsender Geschwindigkeit die beiden Männer und das Lagerfeuer, dann verharrte sie wieder, beschrieb Kreise in der Luft, merkwürdige Formen und Linien, die keinen Sinn ergaben – wenigstens nicht für die beiden Männer, die dem Treiben der Wanderwolke mit einer Mischung aus Angst und Faszination zusahen. Bevor Ubali ihn daran hindern konnte, hatte Arric sein Schwert auf den Boden fallen lassen und zum Bogen gegriffen. Mit der Sicherheit und Gewandtheit eines erfahrenen Kriegers legte er einen Pfeil auf, spannte die Sehne und ließ das Geschoß davonschwirren. Der Pfeil sauste auf die Wolke zu und schlug in den Leib des Wesens ein. Fassungslos sah Arric wie der Pfeil im Körper der Wanderwolke verschwand ohne eine Wirkung zu zeigen. Dann überschlug sich das Wesen, stieg in die Höhe und fegte heran. Bevor die Männer Zeit fanden, sich auf das Verhalten des Wesens einzustellen, ergoß sich ein Regen dünner, brüchiger Zweige auf die Männer nieder. Arrics Augen weiteten sich vor Schreck, als zwischen seinen Füßen ein Pfeil einschlug und zur Hälfte im Boden verschwand – die Befiederung sagte ihm, daß es sich um seinen eigenen Pfeil handelte, denselben, den er vor wenigen Augenblicken auf die Wolke abgeschossen hatte. Diese Wanderwolke war zweifellos hochgradig gefährlich, wurde ihm
schlagartig klar. »Und wie schmeckt dir Feuer?« knurrte er wütend. Zwei Schritte brachten ihn zur Feuerstelle zurück, und mit einem Handgriff hatte er einen hellauf brennenden Ast aus dem Feuer gezerrt. Kraftvoll schleuderte er das feurige Geschoß dem unheimlichen Wesen entgegen. Die Antwort kam mit einer Geschwindigkeit, die Arric niemals erwartet hätte. Aus dem Körper des Wesens formte sich ein langer Schlauch, dessen Spitze auf den heransausenden Ast zeigte. Ein Schwall Wasser sprühte aus der Öffnung und löschte den Brand augenblicklich. Dann raste die Wanderwolke los, fegte über den Lagerplatz und löschte mit einer wahren Sturzflut das Lagerfeuer aus. »Vorsicht!« rief Ubali. »Ich glaube, jetzt greift das Wesen an!« Die Warnung galt Arric, der wie angewurzelt auf seinem Platz stand und sich vor Schrecken nicht zu rühren vermochte. Fassungslos starrte Arric auf das heranschwebende Wesen, das über ihre Köpfe flog. Ein Hagel von Sand und Gestein ging auf die beiden Männer nieder – Arric schrie auf, von Angst und Schmerz getroffen. Hinter ihm erklang ein dumpfes Stöhnen, dann ein Aufprall. Während Arric eine schmerzende Stelle an seinem Schädel betastete und dabei wehleidig stöhnte, sah er Ubali regungslos auf
dem Boden liegen – daneben hatte sich ein kopfgroßer Felsbrocken in den weichen Boden gegraben. Über Ubalis Gesicht lief ein schmaler Streifen frischen Blutes – offenbar hatte ihn das Felsstück am Kopf getroffen. Arric grinste schadenfroh; diese Sorge war er los. Dann hielt er ängstlich nach der Wanderwolke Ausschau – doch das Wesen schien von der Dunkelheit verschlungen zu sein. Zufriedenen Gesichts raffte Arric seine Sachen zusammen, dann verschwand er. Vorsichtshalber nahm er keine Fackel mit – vielleicht lauerte die wandernde Wolkenbestie irgendwo in der Nacht. Arric wußte nun, daß diese Wesen sehr empfindlich auf Feuer reagierten – und daß es ratsam war, sie nicht zu reizen. Trotz der Dunkelheit fand er ohne Mühe den Standplatz des Götterwagens – der schwache Schein des Mondes, der ab und an durch das dichte Gewölk brach, genügte ihm, seinen Weg zu finden. Rasch warf Arric sein Bündel auf die Ladefläche, dann bestieg er den Götterwagen. Oft genug hatte er Dragon und Ubali auf die Finger gesehen – er wußte, was er tun mußte, um das Satansgefährt seinem Willen Untertan zu machen. Langsam schwebte das Fahrzeug davon. Arric stieß ein zufriedenes Brummen aus, während er den Fahrtwind in seinem mächtigen roten Bart wühlen und zerren fühlte. Zudem schob sich das Gewölk auseinander; der Mond spendete genügend
Licht, um ihn den Weg erkennen zu lassen. Was mit Ubali geschah, war Arric gleichgültig – mochte ihn die verdammte Wanderwolke fressen oder andere wilde Tiere ihre Fänge in seinen Leib schlagen. Arric war im Besitz des Götterwagens, das allein war für ihn wichtig. Sein Plan stand in groben Zügen bereits fest. Zunächst mußte das Weltentor zugeschüttet werden, dann würde Arric mit dem wunderbaren Gefährt zu seinem Stamm zurückkehren und eine traurige Geschichte erzählen, wie der heldenhafte Dragon beim Versuch, das Weltentor zu verschließen, ums Leben gekommen sei. Sterbend habe er – so wollte Arric berichten – ihm, Arric, aufgetragen, das Volk fürderhin zu führen. Niemand würde es wagen, des war sich Arric sicher, an seinen Worten zu zweifeln. Sollte wider Erwarten Ubali zurückkehren, war es seine eigene Schuld – er würde die Ankunft bei Arrics Stamm nur kurze Zeit überleben. »Und dann Urgor ...?« überlegte Arric laut und wiegte den Kopf. Warum eigentlich nicht? Das Südland war warm, herrliche Weine gediehen auf schwerbödigen Hängen, ein herrlich blauer Himmel spannte sich über weitem fruchtbarem Land – dort zu herrschen mußte das höchste Glück auf Erden sein. »Ja!« sagte Arric entschlossen nickend. »Urgor – und
natürlich auch Myra. Und was mag dahinter liegen – noch weiter nach Süden?« Arric hielt in seinen Gedanken inne. »Noch nicht!« murmelte er grinsend. »Erst werde ich diesem Dragon zeigen, was Arric der Rote für ein Gegner ist!« Während er über seinen finsteren Plänen gebrütet hatte, war die Schlucht erreicht worden, in der sich das Weltentor befand. Alles war zur Vernichtung der Verbindung zweier Welten vorbereitet – Arric hatte Dragon beobachtet, und er wußte genau, wo er nach den Zündschnüren zu suchen hatte. Ubali hatte keine Chance mehr, Arric von seinem Vorhaben abzubringen – Dragons Schicksal war besiegelt. Und Arrics Stern schien nun erst seinen strahlenden Höhenlauf zu beginnen. Die Wanderwolke war noch jung – was sie an Erfahrungen nicht besaß, machte sie durch Neugierde mehr als wett. Und besonders reizte sie, daß sich einer der Zweibeiner mit einem merkwürdigen Ding davonmachte. Da der andere, der dunkle Zweibeiner offenbar keine Lust mehr hatte und sich nicht mehr rührte, machte sich die Wanderwolke daran, den anderen Zweibeiner, den mit dem farbigen Busch im Gesicht, zu verfolgen. Erstaunlich, welche Geschwindigkeit der Zweibeiner in dem Ding
entwickelte – die kleine Wanderwolke hatte große Mühe, seinen Spielgefährten nicht aus den Augen zu verlieren. Für kurze Zeit verlor die Wolke tatsächlich den Kontakt. Als sie ihren Gefährten wiedergefunden hatte, war der Zweibeiner so beschäftigt, daß er die Wanderwolke überhaupt nicht zu sehen schien. Die Wolke begriff nicht, was das Wesen da unten eigentlich tat – vermutlich bereitete der Zweibeiner ein neues Spiel vor. Das war eine sehr aufregende Sache, und die Wanderwolke verhielt sich besonders still, um den Zweibeiner nicht zu stören. Plötzlich erschrak das Wesen – der Zweibeiner hatte Feuer gemacht. Wie kleine rote Schlangen wand sich das Feuer in vielen Richtungen davon. Die Wanderwolke fand diesen Einfall abscheulich – so durfte man kein Spiel beginnen. Sie formte aus ihrem Körper einen Tentakel und tippte mit der Spitze dem Zweibeiner sanft auf die Schulter. Der Zweibeiner fuhr herum, dann riß er eine Körperöffnung im Oberteil seines Leibes weit auf und gab Geräusche von sich. Offenbar begriff der Zweibeiner, daß er gegen die Spielregeln verstoßen hatte, denn er brach in die Knie – dann raffte er sich wieder auf und begann zu laufen. Anscheinend mochte er das Feuer ebensowenig wie die kleine Wanderwolke. Das gelbe Wesen schickte ein paar Tentakel los und legte sie um die unteren
Gliedmaßen des Zweibeiners, der sofort umkippte und sich auf dem Boden wand, wobei er pausenlos Geräusche machte. Obwohl die kleine Wanderwolke sich mit Zweibeinern recht gut zu verstehen glaubte – den Lärm, den der Bewachsene vollführte, begriff die gelbe Wolke nicht. Wieder raffte sich der Zweibeiner auf, schlug um sich, um sich der Tentakel zu erwehren, und taumelte vorwärts, auf das merkwürdige Ding zu, das ihn hierher gebracht hatte. Die Wolke durchschaute recht bald, wohin der Zweibeiner mit dem roten Busch im Gesicht hinwollte – sie flog ihm ein Stück voran und legte sich auf das glänzende Ding. Der Zweibeiner schrie noch immer; seine Geräusche wurden noch schriller, gleichzeitig wurde sein Gesicht so weiß wie der Mond, der die Szenerie beleuchtete. Die Wanderwolke fand diesen Einfall prachtvoll und machte sich ebenfalls daran, ihre Farbe zu verändern. Noch während sie langsam ein dunkles Blau annahm, warf der Zweibeiner mit seinen oberen Gliedmaßen Steine auf sie – die Wanderwolke freute sich über die Geschenke und antwortete mit einer Sammlung von Ästen und Baumstümpfen, die sie genau vor den Füßen des Zweibeiners ablegte – und ihm damit eine große Freude bereitete, wie das emsige Hüpfen des Zweibeiners und seine Schreie bewiesen. Offenbar wollte der Zweibeiner sie umarmen – jedenfalls
streckte er die Hände aus und griff in ihren Körper hinein. Die Wanderwolke umklammerte blitzartig die oberen Gliedmaßen des Zweibeiners und erhob sich. Mehr als drei Mannslängen hoch schwebte die Wanderwolke mit ihrem Anhängsel über dem Ding, das der Zweibeiner offenbar sehr schätzte. Die Luftreise machte ihm Spaß – das bewiesen seine Laute und das freudige Zappeln, mit dem er den Ausflug in die Höhe begleitete. Nur zum Spaß ließ die Wolke los, und der Zweibeiner fiel in sein Flugding. Sofort beschäftigte er sich nur noch mit dem Ding, das sich bald langsam in Bewegung setzte. Die Wanderwolke fand das gar nicht nett und hielt das Ding fest, woraufhin sich der Zweibeiner umdrehte und wild mit den Armen ruderte. Probeweise lockerte die Wolke den Griff ihrer rasch geformten Ausläufer – das Ding bewegte sich ein Stück, und der Zweibeiner auch, bis er von einer Wand des Dinges aufgehalten wurde. Für kurze Zeit hörte er auf, Laut zu geben, dann setzte sein Geschrei wieder ein – fast noch lauter als zuvor. Die Wanderwolke fand das Spiel herrlich. Sie legte sich gänzlich auf das Ding und umarmte den Zweibeiner – auf ihre Weise. Als die Gestalt wieder erschien, hatte sie wieder die Farbe geändert – jetzt war sie fast so rot wie das komische Gewächs an ihrem Körper. Die Wanderwolke fand, daß dieser Platz
zum Spielen gar nicht gut war, darum hielt sie das Ding und den Zweibeiner darin fest und machte sich daran, beide so weit wie möglich von dieser ungastlichen Stätte wegzuschleppen. Die kleine Wanderwolke konnte spüren, wie sich das Ding zur Wehr setzte; die Wolke mußte alle Kräfte aufbieten, um ein Entkommen des Dinges zu verhindern. Mannslänge um Mannslänge zerrte die gelbe Wolke das Ding fort, während der Zweibeiner im Innern wild umherhüpfte und Lärm machte. Er schien sich vor Begeisterung kaum mehr halten zu können. Was dann geschah, daran konnte sich die kleine Wolke später nur noch undeutlich erinnern. Hinter ihr flammte etwas auf, von dem die Wanderwolke nur den flackernden, grellen Widerschein sehen konnte. Dann brach eine Welle ohrenbetäubenden Lärms über das Wesen herein, während nur ein Augenzwinkern später eine unerbittliche Faust nach der Wanderwolke zu greifen schien. Unbarmherzig wurde das Wesen vorwärts geschleudert. Vor Schreck ließ die Wanderwolke das Ding los, das sofort Geschwindigkeit gewann, davonschoß und nach wenigen Metern mit einer Felswand kollidierte. Für die Wanderwolke schien das Ende der Welt gekommen. Feuerschein zuckte blitzartig überall in die Höhe, gewaltige Kräfte wirbelten das Wesen umher, das keine Möglichkeit besaß, sich gegen diese
Gewalten zur Wehr zu setzen. Gleichzeitig prasselte ein Hagel großer und kleiner Felsen auf die Haut der Wanderwolke und richtete beträchtliche Schäden an. Ein Sturm aus Feuer, Lärm und ungeheuren Kräften tobte sich auf engstem Räume aus und riß die Wanderwolke mit sich. Als sich nach einiger Zeit, die der Wanderwolke wie Ewigkeiten vorkam, die Natur sich wieder beruhigte, hatte sich die Landschaft stark verändert. Von dem Ding und dem Zweibeiner war nichts mehr zu sehen – dort, wo das Ding auf den Felsen geprallt war, klaffte ein Spalt im Fels, darunter war ein rauchender Krater zu sehen. Es sah aus, als habe ein Riese mit aller Kraft auf den Fels geschlagen und ihn zerspalten. Hinter der Wanderwolke, dort wo sie den Zweibeiner wiedergefunden hatte, hatte sich ein gewaltiger Haufen Geröll angesammelt. Die kleine, gelbe Wanderwolke schüttelte sich vor Entsetzen, dann machte sie sich daran, ihr Innenleben wieder in Ordnung zu bringen. Nach wenigen Minuten fühlte sich das Wesen bereits wesentlich besser – nur äußerlich machte es noch immer einen arg zerrupften und zerschundenen Eindruck. Die Wanderwolke sah ein, daß mit diesem Zweibeiner nicht mehr zu spielen war – es schien, als habe er sich in Luft aufgelöst. Aber da war noch der andere, der dunkle Zweibeiner, den die Wanderwolke
in der Nähe der Feuerstelle zurückgelassen hatte – vielleicht war dieses Wesen inzwischen zu einem lustigen Spiel bereit. So schnell es ging, machte sich die Wanderwolke auf den Rückweg, und rasch hatte sie die Stelle wieder aufgespürt, an der sie zum ersten Mal mit den Zweibeinern zusammengetroffen war. Betrübt stellte die Wolke fest, daß der Zweibeiner noch immer keine Lust zeigte, sich an einem Spiel zu beteiligen – er lag am Boden, ohne sich zu bewegen. Die Wanderwolke formte einige Tentakel aus und betastete damit den regungslosen Körper des Zweibeiners. Die empfindlichen Enden der Tentakel stellten fest, daß sich im Innern des Zweibeiners noch etwas bewegte – also konnte der Zweibeiner noch spielen, wenn er nur wollte. Vielleicht fühlte er sich an diesem Ort nicht wohl, überlegte die Wanderwolke. Sie entschloß sich, den Zweibeiner mitzunehmen. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann hatte sie den Körper in die Höhe gehoben und ihn sich einverleibt. Dann machte sie sich daran, einen Platz zu suchen, wo man bequem und ohne Störung spielen konnte. Lautlos schwebte die kleine, gelbe Wanderwolke davon und verschwand in der Nacht.
2.
Das erste, was Dragon nach dem Erwachen sah, war das Fehlen der schwefligen Wand, die am Vorabend noch den Blick auf den Horizont verlegt hatte. An den Grenzen des Sichtkreises erkannte Dragon feine weiße Linien auf einem blaugrünen Grund – vermutlich handelte es sich um die Brandung eines Meeres, das am Horizont gegen die Küste anspülte. Zum Ausgleich war nun der Weg nach vorne nicht mehr zu erkennen. Dragon konnte gerade noch sehen, daß das Gebirge immer mehr abflachte. Was für eine Landschaft er am Fuß des Gebirgszugs antreffen würde, vermochte Dragon nur zu ahnen. Einen Arm des Meeres? Oder eine Landschaft, die aus Nichts bestand? Auf Danilas Welt mußte er mit allem rechnen – nur das, was ihm vertraut war, würde vermutlich hier zur Seltenheit werden. Dragon stand auf und streckte die Glieder, die noch leicht steif waren. Der Morgen war kühl, und der Boden war feucht vom Tau. Neben dem Feuer, das längst erloschen war, lag Danila – sie hatte sich förmlich um die Feuerstelle herumgebogen. Ihr Gesicht
war zu einem verträumten Lächeln verzogen. Dragon grinste kurz, als ihm klar wurde, was wohl Ursache des Lächelns sein mochte. Er entschloß sich, das Mädchen noch schlafen zu lassen. Der vor ihnen liegende Weg würde mit Sicherheit anstrengend sein; später würde Danila dankbar sein für jede Stunde Rast, die sie Dragon voraus hatte. Die Sonne stand schon zwei Handspannen über dem Horizont, als das Mädchen endlich erwachte. Sie räkelte sich wohlig mit halbgeschlossenen Augen; Dragon, der das Feuer neu entfacht hatte, fühlte sich unwillkürlich an eine Katze erinnert, die sich vor dem Feuer streckt. Danila blinzelte und sah hoch. »Dragon!« sagte sie leise und lächelte, als sie sich ihres Traumes erinnerte. »Wer sonst?« erhielt sie zur Antwort. »Iß und trink – anschließend geht es weiter!« Das Mädchen aß mit Genuß und ließ sich Zeit, während Dragon seine Waffen prüfte. Ungeprüft blieb lediglich das Amulett auf seiner Brust, das er von Mura ... Dragon verscheuchte die sich prompt einstellenden Gedanken. Wenig später ging der Marsch weiter. Diese Gegend des Gebirges war fast kahl; nur vereinzelt ragte dürres Gestrüpp aus dem Gestein,
dort, wo der Wind kleinere Erdspalten mit fruchtbarer Erde gefüllt hatte. Ab und zu fand sich ein von der Sonne gebleichtes Skelett am Wegesrand – vermutlich Opfer der gleichen Bestien, die auch über Dragons Welt verheerend hereingebrochen waren. Allmählich hielt Dragon den Zeitpunkt für gekommen, das Mädchen über ihre Welt auszufragen. Viel würde sie zwar nicht zu berichten wissen, aber wenig war auf dieser Welt mit Sicherheit besser als gar nichts. »Wir leben in einer der Stillen Zonen!« erklärte Danila auf Dragons Frage hin; ihr Gesicht verdüsterte sich. »Es ist kein schönes Leben, aber wenigstens sicherer als außerhalb der Stillen Zonen!« »Wie sind diese Zonen überhaupt entstanden?« wollte Dragon wissen. Danila spie aus, dann antwortete sie finster: »Der Namenlose – verflucht sei er und sein Samen – ist schuld. Während er gewissenlose Versuche machte, setzte er die Elementargeister frei. Nur dort, wo es größere Mengen Erz gibt, erlischt ihr verhängnisvoller Einfluß. Hier im Gebirge gibt es viel Erz – also haben wir hier einstweilen nichts zu befürchten!« »Und deine Heimat?« forschte Dragon. »Sie liegt inmitten eines großen Gebietes, das die ungezügelten Elemente beherrscht. Unser Anführer ist
Odalik, ein weiser Mann von hohem Alter – er lenkt die Geschicke unseres Volkes – soweit er es vermag!« Durch ständiges Fragen erfuhr Dragon immer mehr Einzelheiten. Zu Danilas Stamm zählten knapp zweihundert Menschen, die sich recht kümmerlich von Ackerbau und Viehzucht unterhielten. Kümmerlich deshalb, weil das karstige Bergland nicht mehr hergab – nur einige tausend Doppelschritte weiter gab es fette Weiden und schweren fruchtbaren Boden – aber kein Erz. Dieses Gebiet wurde von den Elementargeistern vollkommen beherrscht – es war Wildes Land, wie das Mädchen jene Gebiete nannte. »Unsere Stille Zone wird immer kleiner!« seufzte das Mädchen. »Wie das?« erkundigte sich Dragon. »Du sagtest, es gebe Erz in eurer Zone?« »Nicht genug!« klagte Danila betrübt. »Jedes Messer, das wir schmieden, jede Münze – alles mindert den erzenen Schutz. Eine Handvoll Erz genügt oft, große Gebiete ihres Schutzes zu berauben – sofort verwandelt sich das Land und gehört fortan den Elementargeistern!« Dragon konnte sich recht gut ausmalen, was sich in Danilas Worten an Schrecken und Fährnissen barg. Zweihundert Menschen, eingeschlossen in eine Zone, in der kein Mensch lange zu leben vermochte,
zusammengedrängt auf zusehends kleiner werdendem Raum. Daß Danila dennoch zu ihrem Stamm zurückkehren wollte, hatte einen besonderen Grund – seit Jahren schon war sie Adaran versprochen, einem jungen Mann und tapferen Krieger, der ebenso alt war wie sie selbst. Während die beiden Menschen sprachen, hatten sie eine beträchtliche Strecke zurückgelegt. Als Dragon endlich auf das dringende Bitten Danilas eine Pause einlegte, war der Horizont schon wieder klarer. Von seinem Standort aus konnte Dragon erkennen, daß es nun galt, einen Dschungel zu durchqueren. Was sich hinter dem Urwald erstreckte, blieb dem Auge verborgen. »Merkwürdig!« sagte Dragon und sah sich um. Die letzten Ausläufer des Gebirges lagen hinter ihnen; noch standen sie auf blankem Felsengestein, aber nur wenige Schritte voraus begann der Dschungel. Die Grenze zwischen den beiden Landschaften war so klar und scharf, als habe sie einer von Danilas Elementargeistern mit dem Messer gezogen. Drei Schritte blanker Fels, dann weicher, nachgiebiger Boden, der unter dem üppigen Bewuchs fast vollständig verschwand. Vermutlich waren tatsächlich die Herren der Elemente an dieser Grenzlinie schuld. »Was stört dich?« wollte Danila wissen; ihre Stimme
hatte einen leisen Unterton von Angst. Sie sah vor sich die dumpfe Welt eines lichtarmen Dschungels und fürchtete sich. »Wo sind wir hier eigentlich?« murmelte Dragon halblaut. »Ist dies eine Stille Zone?« Danila schüttelte heftig den Kopf, daß ihre schwarzen Haare flogen. »Nein!« sagte sie fest. »Du kannst es selbst sehen – nirgendwo sonst gibt es so scharfe Grenzen zwischen den Zonen. Hier ist Wildes Land!« »So wild sieht es nicht aus!« meinte Dragon kühn; Danila sah ihn besorgt von der Seite an. »Jede Stelle Wilden Landes hat ihre eigenen Gefahren!« stellte sie fest. »Die einzigen Wesen, die sich sowohl in den Wilden als auch in Teilen der Stillen Zonen aufhalten, sind die Wanderwolken. Die Elementargötter sind unfähig, unsere Gebiete zu betreten – und kaum ein Mensch kehrte je aus dem Wilden Land zurück, es sei denn, er machte nur wenige Schritte und wandte sich sofort zur Flucht.« »Flucht können wir uns nicht leisten!« bemerkte Dragon ruhig. »Wir müssen durch den Dschungel, der untergehenden Sonne folgend! Auf andere Weise wirst du deinen Stamm niemals wiedersehen!« »Sollen wir nicht lieber umkehren?« fragte Danila ängstlich. »Wohin?« gab Dragon bitter zurück. »Das Weltentor
ist verschlossen, und das Gebirge ist zu rauh und karg, um Menschen zu ernähren. Wir würden Hungers sterben!« Danila sah bekümmert zu Boden und nickte, dann raffte sie sich auf und machte entschlossen einige Schritte vorwärts. Sie war kaum drei Mannslängen von Dragon entfernt, dann hatte der Dschungel sie schon verschlungen. Das dichte Blätterwerk schloß sich hinter ihrem Rücken. Dragon nickte anerkennend, dann ging er dem Mädchen nach. Eine neue Welt nahm sie auf. Die beiden Wanderer brauchten einige Zeit, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Nur wenig drang von den Strahlen der Sonne durch das dichte, grüne Dach, das die Pflanzen des Dschungels über ihren Köpfen bildete. Die Luft war heiß und feuchtigkeitsgeschwängert. Schon nach wenigen Schritten fühlte Dragon die Nässe seines Schweißes auf der Stirn, liefen ihm salzige Tropfen in die Augenwinkel. Die Feuchte legte sich auf ihre Brust und machte das Atmen schwer, und in den weichen Boden sanken sie bei jedem Schritt bis an die Knöchel ein. Die Pflanzen bildeten vor ihnen ein grünes, schier undurchdringlich erscheinendes Gespinst aus Blättern, Ranken und Lianen, Luftwurzeln und Ästen. Jeden Schritt Weges mußten sich Dragon und Danila förmlich erkämpfen.
Dragon ging voran; dort, wo die Kraft der Arme nicht ausreichte, die Hindernisse zu überwinden, mußte die Klinge seines Schwertes aushelfen. In der Luft hingen die Ausdünstungen der Bäume, harzig und mit Moder vermischt, den zarten Duft von Myriaden Blüten fast erstickend. Hinzu kam ein betäubender Lärm, der keinen Herzschlag lang aufhörte. Gelegentlich vermeinte Dragon Stimmen zu hören, dann leisen Gesang; Schreie drangen an sein Ohr, wilde, kriegerische Schlachtrufe, wehleidiges Wimmern, qualvolles Stöhnen. Haßerfüllte Gesänge waren zu erkennen, ohne daß Dragon hätte herausfinden können, wo die Tiere steckten, die diesen teuflischen Lärm vollführten. Überhaupt ... Dragon stutzte und sah vor sich auf den Boden. Nach seinen Erfahrungen mußten sich irgendwelche Tiere auf oder im Boden aufhalten, aber nichts dergleichen zeigte sich auf dem weichen Boden, auf dem sich seine und Danilas Schrittspuren deutlich abzeichneten. Keine Affen turnten durch das Geäst, ebenso fehlte das Kreischen kleiner und großer Vögel. Es hatte den Anschein, als gäbe es überhaupt keine Tiere in diesem Urwald, weder Schlangen noch große Katzen mit mörderischen Pranken, weder giftgeschwollene Nattern noch jene unausrottbar erscheinenden, krabbelnden, beißenden Quälgeister,
deren Biß und Stich lästig, oft tödlich sein konnte. Und doch! Woher kamen die Stimmen? Wer schrie in höchster Qual, fauchte seinen Haß heraus? Woher kam der zärtliche, lockende Gesang, das drohende Knirschen gewaltiger Kiefer? Dragon sah zurück und erkannte eine bleiche, angsterfüllte Danila; das Mädchen hielt sich mit Mühe nur aufrecht. Es war auf den ersten Blick klar, daß Danila sich fürchtete, und ebenso ersichtlich schien, daß sie all ihre Hoffnung auf einen Mann setzte, den in diesem Urwald langsam auch das Grauen beschlich, eine grausame Angst, die mit eisigen Fingern den Rücken hinaufzukriechen schien. Dragon lächelte dem Mädchen zuversichtlich zu, und es kostete ihn Kraft, so zu lächeln. Aber er wußte: gelang es ihm nicht, Danila ein wenig Zuversicht zu geben, bildete seine Weggefährtin einen ständigen Born der Unsicherheit. Dragon hatte gehofft, daß Danila, die ja immerhin dieser Welt entstammte, ihm helfen konnte, den Weg zurück zu ihrem Stamm zu finden. Selbst mit dieser Hilfe war der Weg gefährlich genug – Danila als Last und Hemmnis machte die Aufgabe fast unlösbar. Noch während er diese Gedanken verfolgte, stutzte er; in dem tausendstimmigen Chor, der ihn umklang, hatte sich etwas geändert. Dragon brauchte einige Zeit, bis er herausgefunden hatte, was gewechselt hatte. Es
fehlte etwas – die Stimmen des Hasses und der Wut waren verklungen. Leise Lockgesänge hatten die Oberhand gewonnen. Zufall? Dragon entschied, daß jetzt keine Zeit war, sich darum zu kümmern. Entschlossen hob er das Schwert und ließ es kraftvoll auf das Gestrüpp vor ihm heruntersausen; pfeifend durchschnitt die Klinge die Luft und durchtrennte mühelos eine Luftwurzel, die zwei Bäume einer Nabelschnur gleich verband. Eine helle Flüssigkeit spritzte auf den Boden, als die beiden Teile auseinanderfielen. Im gleichen Augenblick hörte Dragon einen hellen, zitternden Schrei; er wußte nicht, woher der Laut erklang, aber er verstand, daß irgend jemand oder irgend etwas seinen Schmerz herausschrie. Gleichzeitig wurde wieder das dumpfe, wütende Grollen laut. »Die Bäume!« stammelte Danila erschrocken und klammerte sich an Dragon fest. »Sie sind es, die schreien!« »Du könntest recht haben, Mädchen!« erwiderte Dragon halblaut. Wieder schlug er zu, und wieder ertönte ein Schmerzensschrei, gefolgt von einem jämmerlichen Stöhnen. Es war offenkundig – die Pflanzen empfanden Schmerz, und sie vermochten ihn auch zu äußern. Das Schreien und Singen, Kreischen und
Grollen – die Bäume waren es, die sich auf diese Weise mitteilten. »Ob sie sprechen können?« flüsterte Danila. Dragon schüttelte den Kopf. Sprechende Bäume? Aber warum nicht, dachte er im gleichen Augenblick. Wenn Pflanzen schreien und singen können – warum nicht auch sprechen? »Wenn ihr mich versteht!« rief er laut in den Wald hinein, »dann gebt Antwort!« Nichts änderte sich; die Geräusche blieben gleich – im Hintergrund ein leiser, angenehmer Singsang, darüber, mehr im Vordergrund, das Stöhnen und Grollen der Bäume, die von Dragons Schwert getroffen worden waren. Der Atlanter wiederholte seinen Anruf, aber er erhielt keine Antwort. Eine Verständigung mit den seltsamen Pflanzen war demnach nicht möglich. Doch nach dieser Erkenntnis wurde der Vormarsch doppelt schwierig. Dragon wußte, daß es keinen anderen Weg zu Danilas Volk gab als den, der durch den Dschungel führte. Ob er wollte oder nicht, er mußte sich seinen Weg durch den Dschungel erkämpfen – und dabei sein Herz verschließen gegen jeden Jammer. In seiner Verzweiflung riß er einige weiche Blätter ab, biß die Zähne zusammen, als er das leise Wimmern hörte, das diesen Vorgang begleitete, und rollte die Blätter zu kleinen Wülsten, die er sich in
die Ohren steckte.
Vergeblich – das Jammern und Wehklagen war immer
noch zu hören.
Immer wieder mußte sich Dragon überwinden, aber oft kam er nicht anders vorwärts. So sehr er sich auch mühte, die Hindernisse nur beiseite zu räumen, Umwege machte – immer wieder stand er vor der Frage, entweder eine lange Strecke zurückzugehen und einen neuen Weg zu suchen – oder aber sich den Durchgang freizuschlagen. Und immer, wenn er diese Frage in der einzigen, für ihn annehmbaren Weise beantwortet hatte, schaffte das Schwert ihm freie Bahn – eine Bahn, die mit Leiden erkauft wurde, die nicht minder wogen als die Qualen, die seine Schwerthiebe schufen. Die Bäume schrien und weinten, und es war Dragon, als müsse er sich seine Bahn durch ein Heer von klagenden Frauen und Kindern schlagen – eine Gasse des Jammers und des Elends. Er versuchte die Augen zu schließen, aber das verschlimmerte die Leiden nur; die Schreie verloren ihren Zusammenhang mit den Pflanzen, wurden eindringlicher; menschliche Münder formten sich in seiner Einbildungskraft, Münder, die jene Schreie ausstießen, deren Ursache er selbst war, die gnadenlose Schärfe des von ihm geschwungenen Schwertes. Es half nichts, er mußte die Augen wieder öffnen und sehen. Und er sah, sah die Strecke, die noch vor ihm lag;
Hunderte, Tausende von Pflanzen, die litten und ihm ihr Leiden mitteilten. Cnossos selbst hätte keine ärgere Marter ersinnen können als jenen entsetzlichen Weg, der sich für Dragon abzeichnete. Er nahm nicht wahr, daß Danila, wimmernd und stöhnend, hinter ihm stolperte, geführt mehr vom Instinkt als von ihrem Willen, das Gesicht naß und die Augen blind von Tränen. Ihr Schreien und Wehklagen ging unter; sie achtete nicht der Pflanzen, die ihr ins Gesicht schlugen, spürte nicht die Dornen, die sich in ihre Haut bohrten, nahm nicht wahr, wie zurückschnellende Äste ihren Körper kraftvoll trafen. Wäre sie gestolpert, Dragon hätte sie zurückgelassen. Als sich inmitten des Dschungels eine Lichtung abzeichnete, war Dragon nicht mehr Herr seiner Sinne. Das Schwert in seiner Hand führte ein eigenes Leben, schwang hoch hinauf und krachte auf die Hindernisse herunter, durchtrennte Wurzeln, zerfetzte Blätter, zerhackte Äste. Mit einem Schrei, der nichts Menschliches mehr hatte, fiel er vornüber auf die Lichtung, wälzte sich zuckend auf dem weichen, grasbedeckten Boden, dann nahm eine gnädige Ohnmacht ihm jedes Bewußtsein. Hinter ihm brach Danila durch das Gestrüpp, fiel über ihn. Das Mädchen klammerte sich wimmernd an den Mann, dann schwanden auch ihre Sinne.
»Es hilft nichts, Danila!« sagte Dragon leise, fast zärtlich. »Wir müssen weiter – vorwärts oder zurück. In beiden Fällen wird es das gleiche sein. Nur – der eine Weg führt uns zu deinem Stamm, der andere zurück in den sicheren Tod!« »Was ist der Tod, verglichen mit diesem Urwald und seinem Schrecken!« schluchzte Danila. Dragon spürte den Griff, mit dem sie ihn umklammert hielt, seit sie beide aus ihrer Ohnmacht erwacht waren; er hätte ihre Finger brechen müssen, um sich aus dieser Umklammerung zu lösen. Sanft glitt seine Hand über das schwarze Haar des Mädchens. Dragon hatte sich rascher erholt als das Mädchen, das noch immer unter dem Eindruck des grauenvollen Marsches stand, Danila schüttelte sich in Weinkrämpfen, ihr Körper zuckte unkontrolliert. Während er das Mädchen im Arm hielt, ließ er seinen Blick im Kreis wandern – und erschrak. War es Zufall, oder täuschten sich seine Sinne? Die Lichtung, auf die sich die beiden Menschen hatten flüchten können, war von Bäumen umgeben, förmlich eingekreist. Dumpf erinnerte sich Dragon, daß er die letzten Meter bis zur Lichtung fast laufend hatte zurücklegen können. Er mußte sich getäuscht haben – denn den Rand der Lichtung bildete ein Wall von Bäumen, jeder davon dicker, als ein Mann umfassen konnte. Kaum einen Zwischenraum gab es, durch den
sich ein Mensch hätte hindurchzwängen können. Wie aber waren er und Danila dann auf die Lichtung gekommen? Schlagartig wurde Dragon klar, welche Gefahr sie bedrohte. »Danila!« sagte er scharf. »Wir müssen jetzt weiter!« »Nein!« bat das Mädchen. »Bitte, nicht! Ich kann nicht mehr!« »Sieh dir den Rand der Lichtung an!« forderte Dragon sie auf. »Wir sind umzingelt!« Das Mädchen sah erschrocken auf; ihr Blick fiel auf die Bäume, und sie begriff. Langsam, wie der Lauf einer Schnecke, glitt die Wurzel eines der Bäume aus dem Boden, tastete sich einen halben Schritt vor und fand neuen Grund. Nach und nach folgten alle Wurzeln – der Baum hatte wieder eine gewisse Strecke zurückgelegt. Gleichzeitig hatten sich auch andere Bäume bewegt; groß war die Spanne nicht, aber es war nur eine Frage der Zeit, dann mußten die Bäume die gesamte Lichtung eingenommen haben. Was die Pflanzen im Sinn haben mochten, wußte Dragon nicht – aber gute Absichten waren es gewißlich nicht. Danila löste sich von ihm und sah aus schreckgeweiteten Augen auf die heranrückende Wand aus Bäumen. Dragons Blick flog über ihre Gestalt und blieb an dem roten Fleck hängen, der sich an ihrem Brustbein abzeichnete. Der Eindruck mußte ...
»Das Amulett!« rief Dragon erregt aus. »Muras Amulett!« Seine Finger schlossen sich um die glänzende Scheibe, die er auf der Brust trug. Vielleicht verfehlten auch auf Danilas Welt die geheimnisvollen Kräfte des Amuletts ihre Wirkung nicht. Dragon erhob sich und ging langsam auf die Bäume zu, die dicht an dicht die Lichtung säumten. Mit aller Kraft dachte er an das Amulett, wünschte sich, daß die Bäume zurückwichen, ihm freie Bahn schafften. »Es wirkt!« jubelte Danila und schlug freudig die Hände zusammen. Sie hatte richtig gesehen; langsam, aber deutlich erkennbar, wichen die Bäume zurück. Eine Lücke öffnete sich in der Wand aus lebendem Holz, genauso, wie Dragon es sich gewünscht hatte. Dragon winkte dem Mädchen, ihm zu folgen, und zusammen verließen sie die Lichtung, die ihnen für kurze Zeit Sicherheit geboten hatte. Auch im Innern des Dschungels zeigte das Amulett seine Wirkung; die Pflanzen wichen vor Dragon zurück. Verwirrend aussehende Gespinste aus Luftwurzeln und Lianen lösten sich vor ihren Augen auf und gaben den Weg frei. Sorgfältig achtete Dragon darauf, nach Möglichkeit keinen Keim oder Schößling zu zertreten. Wo es dennoch geschah, blieben die Pflanzen nahezu stumm. Besorgt sah sich Dragon nach
Danila um; es war möglich, daß nur er dem Einfluß des Amuletts unterlag, und daß Danila wieder die Schmerzensschreie der niedergetretenen Pflanzen hörte – doch auch das Mädchen schritt frei aus und zeigte sogar ein Lächeln. Stunde um Stunde wanderten die beiden Menschen durch ein ihnen fremdes Land, wateten tief im klebrigen Morast, aus dem der Dschungel wuchs. Nie sahen sie ein Tier, nur Pflanzen gab es in dieser Wildnis, Pflanzen in jeder nur denkbaren Form. Riesige Blütenkelche fanden sie auf ihrem Weg, Lianen, von denen zäher Schleim floß, kleine Blüten, die einen ekligen Gestank verströmten. Einmal sahen sie zwei Bäume, die miteinander im Streite lagen – ihre Lianen verflochten sich ineinander, zerrten die Wurzeln des Gegners aus dem weichen Boden; grellrote Blüten verschossen fingerlange Dornen, an deren Spitzen eine dunkle Flüssigkeit klebte – der Gegner deckte sich hinter einer Wand aus Blättern, die sanft zu Boden schaukelten, wenn sie von einem Dorn getroffen wurden. Vorsichtig nahm Dragon eines der Geschosse vom Boden auf, ritzte mit der haardünnen Spitze einen in der Nähe stehenden Busch. Die Folgen waren erschreckend – binnen weniger Augenblicke schrumpfte das Gewächs zu einer vertrockneten, bräunlichen Knolle zusammen. Dragon wagte nicht
sich auszumalen, wie er nach einem Treffer ausgesehen hätte. Zwar waren die nervzerreißenden Schreie des Waldes verstummt, was nur Muras Amulett zuzuschreiben war, aber an Gefährlichkeit hatte der Dschungel nichts eingebüßt. Fassungslos sah Dragon zu, als ein Strauch, der ihm kaum bis zur Hüfte reichte, seine Wurzeln aus dem Boden zog und einige Schritte weit lief auf einen Baum zu, den zehn ausgewachsene Männer nicht hätten umspannen können. Mit zauberischer Geschwindigkeit verformten sich die Blätter des Strauches, bildeten lange Tentakel, die sich um den Stamm des Baumes schlangen und zusammengezogen wurden. Danila stöhnte entsetzt auf – die kaum fingerdicken Tentakel schnürten den riesigen Baum zusammen. Der Baum versuchte, sich gegen den mörderischen Zugriff zur Wehr zu setzen und ließ einen Hagel kopfgroßer Nüsse auf den Strauch fallen. Die Antwort bildete eine neue Reihe von Tentakeln, die in die Höhe schossen und in Gedankenschnelle schenkeldicke Äste aus dem Stamm des Baumes rissen und brachen. Schweres, betäubend stark duftendes Harz quoll langsam aus den klaffenden Wunden – dort, wo die Tropfen auf Auswüchse des Strauches trafen, kräuselte heller Rauch in die Höhe. Der Strauch zuckte und krümmte sich, aber er lockerte nicht seinen gnadenlosen Zugriff. Das Geräusch
splitternden Holzes war zu hören, während sich der Stamm immer mehr verjüngte – dort, wo die Tentakel ihn umschlungen hielten. Nach kurzer Zeit war der mehr als zwanzig Mannslängen hohe Baum so eingeschnürt, daß vier Männer ihn mit ausgestreckten Armen hätten umfangen können. Gegen den Würger vermochte sich der riesige Baum nicht zu helfen; wirkungsvoll war nur das ätzende Harz, aber das wurde nur dort produziert, wo der Strauch Wunden geschlagen hatte, die von sich aus schon zum Absterben des Baumes führen mußten. »Vorsicht!« schrie Dragon und machte einige weite Sätze zur Seite; Danila folgte ihm hastig. Ein leises Ächzen war zu hören, dann senkte sich der Urwaldriese langsam, fiel zur Seite und prallte dröhnend auf dem Dschungelboden auf, bei seinem Todessturz noch mehrere kleinere Bäume mit sich reißend. »Grauenvoll!« flüsterte Danila bleich und erschrocken. Der Würger, so hatte Dragon den Strauch insgeheim getauft, löste seinen Griff. Während er nach und nach wieder in der alten Pracht seiner vielfarbigen Blätter zu strahlen begann, tasteten sich kleine, kaum erkennbare Luftwurzeln in das Wurzelwerk des Opfers vor, wo sie sich festbohrten und den Stamm auszusaugen begannen. Langsam traten Danila und Dragon näher,
bestaunten das erschreckende Schauspiel. Noch bevor Dragon auch nur einen Warnruf hätte ausstoßen können, zischten mindestens fünf Hände voll von Tentakeln heran, umschlangen Danila, die angstvoll aufschrie, und zerrten das Mädchen auf den Strauch zu. Danila stürzte, und die Fangarme des Strauches zogen sie scheinbar ohne Mühe weiter, auf den Mittelpunkt des Strauches zu. In der Zeit, die Dragon brauchte, um sein Schwert zu ziehen, war Danila bereits fast im Gesträuch verschwunden. »Hilf mir!« schrie das Mädchen. »Dragon!« Dragons Schwert zischte auf den Strauch hinab; der Mann setzte den Hieb seitlich an – er wollte die Wurzeln des Würgers treffen. Aber das Schwert prallte zurück – wie ein Schlegel vom Fell einer Trommel. Wieder holte Dragon aus, mit dem gleichen Ergebnis. Aus dem Innern des Strauches, der in kurzer Frist genügend Lebenskraft aus dem gefällten Riesen gesogen hatte, um zur doppelten Mannshöhe anzuwachsen, erscholl das Schreien des gefangenen Mädchens. Verzweifelt sah Dragon um sich; er hielt nach einem Mittel Ausschau, mit dem er die mörderische Pflanze wirkungsvoll bekämpfen konnte. Sein Blick fiel auf einen der Äste, die der Würger aus dem Stamm seines Opfers gerissen hatte. An der Bruchstelle klebte noch frisches Harz. Dragon griff nach dem Holz und hielt
die klebrige Fläche an die Unterseite des Würgers, der sofort zu reagieren begann. Die Wurzeln begannen Sand und Erde aufzuwühlen, warfen mit kleinen Steinen. Ein Tentakel peitschte durch die Luft und traf Dragon an der Brust. Der Mann unterdrückte einen Schmerzenslaut, obwohl die Haut aufplatzte und ein schmaler Blutstreifen sich abzeichnete. Ergrimmt stellte Dragon fest, daß die harzige Stelle seiner Waffe so mit Erde beschmiert war, daß das Harz keine Wirkung mehr zeigen konnte. Danilas Schreien war schwächer geworden; jetzt verstummte das Mädchen. In ohnmächtiger Wut hieb Dragon auf den Würger ein, aber jeder seiner Schläge prallte ab, ohne Wirkung zu zeigen. Plötzlich öffnete sich das Strauchwerk, Danilas Körper fiel heraus und rollte bis vor Dragons Füße. Das Mädchen war bleich und ohne Besinnung, aber sie lebte noch – ihr Herz schlug gleichmäßig und kräftig, wie Dragon rasch feststellte. Der Mann drehte den Körper des Mädchens, um nach Verletzungen zu suchen; er fand keine Zeichen – offenbar vermochte der Würger mit dem Mädchen nichts anzufangen. Als Danila wieder ins Bewußtsein zurückkehrte, nahm sie sofort wieder ihr angstvolles Schreien auf, aber als sie über sich Dragon erkannte, sammelte sie sich und lächelte schwach. »Der Strauch scheint mich nicht gewollt zu haben!«
stellte sie matt fest. »Es war die Hölle!« Ein heftiges Schluchzen schüttelte ihren Körper. Dragon suchte einige der Nüsse zusammen, die der Baumriese im Todeskampf verstreut hatte. Mit dem Schwert schlug er die Kappe ab und reichte Danila die offenen Nüsse – die weiße Milch schmeckte vorzüglich. Ausgehungert fiel Danila über das saftreiche Fruchtfleisch her; sie achtete nicht darauf, daß der weiße Saft aus ihren Mundwinkeln lief und ihren Körper benetzte. Aber ab und zu sah sie zur Seite, dorthin, wo der Würger weiter sein Opfer aussaugte und dabei rasch wuchs. Noch während Danila aß, hatte der Würger eine Höhe von mehr als vier Mannslängen erreicht, und die Pflanze wuchs beständig weiter. Dragon erkannte, daß sich der Würger dabei veränderte – allmählich wurde er zu einem Baum, zu einer ganz bestimmten Art von Baum. Kopfschüttelnd sah Dragon, wie der Würger nach und nach die Gestalt seines Opfers annahm. Ob sich die Pflanzen auf diese merkwürdige Art und Weise fortpflanzten? Möglich war in diesem Dschungel fast alles. Nach kurzer Rast setzten Dragon und Danila ihren Marsch fort. Das Amulett leistete ihnen auch weiterhin gute Dienste; es erleichterte ihr Fortkommen beträchtlich. Vor allem eine seiner Wirkungen erschien Dragon wertvoll – die Pflanzen wichen so vor dem Amulett und seinen Kräften aus, daß der Weg
beständig nach Westen führte. Zwar gab es gelegentlich kleinere Abweichungen – dort beispielsweise, wo mehrere Bäume so dicht nebeneinander standen, daß ein gradliniger Vormarsch absurd gewesen wäre – aber die Grundrichtung war immer gleich. Dies stellte Dragon fest, als er einmal Gelegenheit fand, seine Spuren eine beträchtliche Strecke weit zurückzuverfolgen. Ziemlich genau in einer Linie lagen die Abdrücke seiner Füße – allerdings konnte Dragon nur hoffen, daß diese Linie gen Sonnenuntergang wies. Allmählich gestaltete sich der Vormarsch schwieriger, trotz der Hilfe, die Muras Amulett spendete. Die Nacht brach langsam herein, und unter dem dichten Blätterdach des Urwalds stellte sich die Dämmerung früher ein als im Gebirge. Das ohnehin schwache Licht nahm immer mehr ab, und es war nur eine Frage der Zeit, dann war nicht einmal mehr die eigene Hand zu erkennen. In dem letzten verbliebenen Schein erkannte Dragon, daß der Weg vor ihm leicht anstieg. Schon vom Rand des Dschungels aus hatte Dragon gesehen, daß die geschlossene, dunkle Fläche des Dschungels ab und zu von Bergrücken unterbrochen wurde – jedenfalls hatte Dragon angenommen, daß es sich bei den braunen, manchmal grauen Flecken um Bergkuppen handelte. Wenn es ihm und Danila gelang,
vor Einbruch der Nacht eine solche Erhebung zu erreichen, waren sie einstweilen in Sicherheit – denn was der Dschungel an nächtlichen Gefahren aufzuweisen hatte, war Dragon nicht gesonnen zu versuchen. Hinter ihm stieß Danila einen leisen Laut des Schmerzes aus; sie war in einen dornigen Busch gestolpert. Es war bereits so finster, daß sie nicht mehr rechtzeitig hatte ausweichen können. »Nimm meine Hand, Danila!« meinte Dragon. »Ich werde dich führen!« Er spürte den Druck ihrer schmalen Finger an seinem Handgelenk; die Innenfläche war feucht von Schweiß und vielleicht auch Blut. Hunderte von kleinen Verletzungen hatten auch an seinen Kräften gezehrt: winzige Schnitte von scharfkantigen Gräsern, aufgerissene Haut dort, wo sie an einem Baumstamm entlanggescheuert war, punktförmige Einstiche kleiner Dornen, meist gekrönt von einem kleinen Tropfen geronnenen Blutes. Die Körper der beiden Menschen starrte vor Schmutz, besonders da, wo Harz auf der Haut klebte und den Staub förmlich angesogen hatte. Der Weg, den der Fruchtsaft auf Danilas Körper zurückgelegt hatte, zeichnete sich als schwärzliche Linie auf der Haut ab. Ihre Haare waren verfilzt, vom Schweiß verklebt und hingen in wirren Strähnen ins Gesicht.
»Laß uns rasten, Dragon!« bat das Mädchen mit schwacher Stimme. »Ich bin müde!« »Später!« entschied Dragon und zog das Mädchen weiter. »Auf der Kuppe des Hügels werden wir die Nacht verbringen!« Auch seine Kräfte ließen nach; es war außerordentlich mühsam, sich auf dem aufgeweichten Dschungelboden fortzubewegen. Bei jedem Schritt versank der Fuß bis zum Knöchel im breiigen Untergrund und mußte erst mühsam wieder herausgezogen werden, bevor der nächste Schritt gemacht werden konnte. Auch fiel es ihm immer schwerer, die Wirkung des Amuletts zu kontrollieren – zwar wichen die Gewächse noch immer vor den Wanderern zurück, aber allmählich wurden die Stimmen wieder hörbar, die den ersten Teil des Marsches zur Qual gemacht hatten. Allerdings hatten sich die Stimmen verändert; ein leises, wehmütiges Singen klang an die Ohren der Wanderer, klagend und lockend zugleich. Dragon mühte sich, nicht auf die Geräusche zu achten, dennoch spürte er die wohltuende Wirkung, die der Gesang auf ihn ausübte. Ein Teil seiner Erschöpfung wich, seine Schritte wurden weiter, ausgreifender. Vor sich sah er die Kuppe des Hügels, den er erreichen wollte, der im kalkigen Licht des Mondes lag. Von seiner Umgebung war kaum noch etwas zu erkennen;
die Umrisse verschwammen vor den Augen. Mehr stolpernd als gehend bewegten sich die beiden Menschen fort, doch es störte sie nicht mehr sehr – der leise Chorus des Dschungels nahm sie gefangen, belebte sie. »Gefahr!« hämmerte es in Dragons Hirn. »Traue der Stimmung nicht – sie ist verlockend aber gefährlich!« Er spürte, daß Danila dem Griff seiner Hand einen leisen Widerstand entgegensetzte, der sich aber im Laufe der Zeit verstärkte. Aber unerbittlich hielt Dragon das Mädchen fest -jetzt war er sich völlig sicher, daß der Wohlklang, der an seine Ohren drang, eine neue teuflische Falle dieses mörderischen Dschungels darstellte. Immer lauter und immer betörender wurde der Gesang; dazwischen hörte Dragon ein geheimnisvolles Rauschen – als ob ein frischer Wind durch die Blätter strich. Aber der Mann spürte keinen Hauch auf der Wange – es herrschte Windstille. Das Geräusch schwoll an, ein Knacken und Prasseln kam hinzu. Gegen den Schein des Mondes sah Dragon, wie sich die Wipfel der Bäume bewegten – in einer Art und Weise, die nicht auf einen Wind zurückzuführen war. Hinter ihm wurde Danila immer störrischer. »Laß mich los!« fauchte sie. Dragon spürte einen Widerstand an den Beinen, stolperte und schlug der Länge nach auf den Boden.
Unwillkürlich hatte er seinen Griff gelockert, und im gleichen Augenblick riß sich Danila los. Dragon spürte einen Druck auf seinem Bauch; es war, als liefe ein leichtes, vielfüßiges Tier über seinen Körper. Aber es gab keine Tiere in diesem Dschungel! Dragon begriff schlagartig. Der Urwald tanzte. Es war ein Reigen des Todes für jedes Wesen, das sich zwischen den Pflanzen aufhielt. Der Busch, der über Dragons Bauch gelaufen war, bildete nur einen Vorgeschmack – in wenigen Augenblicken konnte sich ein zwanzig Mannslängen hoher Baum über Dragon wälzen, konnte er in die mörderische Umarmung zweier Sträucher geraten. Um ihn herum tobte die Natur; gewaltige Baumriesen hielten sich umklammert und bewegten sich mit krachenden Wurzeln auf dem Dschungelboden. Und über allem lag der brausende Chor der Myriaden von Pflanzen. »Danila!« schrie Dragon mit höchster Stimmkraft. Die Todesgefahr ließ ihn unempfindlich werden, aber Danila war dem Rausch der Klänge ergeben. Ganz schwach hörte Dragon irgendwo im Dunkel ihr Summen – sie hatte den Gesang des Dschungels angestimmt. Auf allen vieren kroch Dragon in die Richtung, aus der Danilas Stimme zu ihm drang. »Danila!« schrie er noch einmal. Ein harter Schlag traf ihn an der Seite; Dragon
stöhnte auf und rollte über den weichen Boden. Wild griff er um sich, wollte sich irgendwo festhalten. Der Mann stöhnte erleichtert auf, als er begriff, was in seinen Händen zappelte – er hielt einen Knöchel von Danila mit aller Kraft umklammert. Das Mädchen sang laut mit und wiegte den Körper im Takt des Sanges. Dragon richtete sich auf, faßte Danila bei den Schultern und schüttelte das Mädchen. Vergeblich, Danila war dem Einfluß des Gesangs erlegen – sie nahm nicht mehr wahr, was um sie herum vorging. »Dann so!« knurrte Dragon ergrimmt. Er holte kurz aus und traf das Kinn des Mädchens; sofort spürte er, wie ihr Körper in seinen Armen erschlaffte. Danila hatte das Bewußtsein verloren. »Nichts wie weg!« murmelte der Mann. Er warf sich den Körper des Mädchens über die Schulter und setzte sich in Bewegung. Irgendwo voraus mußte der Hügel sein, der Ruhe und Sicherheit verhieß. Den Gesang des Waldes hörte Dragon nicht mehr, wohl aber sah er, daß sich alles um ihn in Bewegung befand. Die Lücken, die jeweils nur für einen Herzschlag lang im Blätterdach des Dschungels erschienen, ließen gerade genügend Mondlicht bis zum Boden dringen, um Dragon schwach erkennen zu lassen, wo er sich befand. Mit einem gewaltigen Satz sprang er auf die Wurzeln eines Baumriesen, der sich im Takt des Sanges bewegte. Während unter ihm
krachende Wurzeln stampften, wiegte sich der Wipfel sanft – und ein Hagel von Früchten ging auf die beiden Menschen nieder. Dragon sah nach oben; das Astwerk der beiden Bäume hatte sich derartig ineinander verschlungen, daß der Mann es für unmöglich hielt, dieses Wirrnis zu beseitigen – doch er wurde binnen weniger Augenblicke vom Gegenteil überzeugt. Für ein paar Herzschläge lösten sich die beiden Bäume voneinander, dann fanden sie wieder zusammen – wie ein Paar, das sich beim Tanz für kurze Zeit trennt. Der Untergrund, auf dem Dragon hockte, veränderte sich stetig; Erdreich bröckelte aus dem Wurzelwerk, die Wurzeln selbst bewegten sich. Nur um Haaresbreite konnte Dragon den Verlust seines rechten Fußes vermeiden – gerade noch rechtzeitig zog er den Fuß in die Höhe, während sich wenige Daumenbreiten tiefer zwei Wurzeln verhakten und sich zusammenzogen. Hätte sein Fuß noch in der Falle gesteckt, wäre er zerquetscht worden. Früchte fielen aus dem Astwerk; die meisten landeten auf dem Boden, aber einige der Geschosse trafen. Dragon spürte den Aufschlag auf den Schultern, dann einen Treffer auf dem Kopf. Dumpfer Schmerz tobte unter seiner Schädeldecke, während er gleichzeitig den Halt verlor und mit den Füßen abrutschte.
In jedem Augenblick konnten sich seine Füße in das Gewirr der Wurzeln geraten. Zudem begann sich die Lage Danilas zu verändern; zwar bewegte sich Danila langsam, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis Dragon den Halt verlieren würde. Nur die Kraft seiner Arme bewahrte die beiden noch vor dem Schicksal, unter den Bäumen zermalmt zu werden. Und diese Gefahr stieg mit jeder Frucht, die auf Dragons Arme prallte. Der Mann wußte nicht, wohin der gespenstische Tanz der Bäume führte. Sein Schädel dröhnte, und in seinen Oberarmen wütete ein beißender Schmerz; verzweifelt zappelte er mit den Füßen, um sie in Sicherheit zu bringen, aber immer, wenn er glaubte, Halt gefunden zu haben, rutschte er wieder ab und mußte sich auf die Kraft seiner Arme verlassen. Für einen Herzschlag hatte Dragon freie Sicht – sein Baum bewegte sich genau am Rande des Gebietes, das Dragon zu erreichen gehofft hatte. Dort begann der Hügel, und die Mächte des Dschungels verloren dort ihre Kraft. Dragon stöhnte schmerzlich auf. Er spürte förmlich, wie seine Achseln zu zerplatzen drohte, als er sich mit letzter Kraft in die Höhe zog. Für einen kurzen Augenblick fanden seine Füße Halt. Dragon griff mit beiden Händen nach dem Körper des Mädchens, das ihm zu entgleiten drohte, dann
schnellte er sich vor. Die Kraft seiner Beine trieb ihn vorwärts; fast waagerecht flog er ein paar Schritte weit durch die Luft, dann krachte er auf den Boden. Sein Schädel prallte gegen etwas Hartes, und in einer Sturzflut farbiger Funken ging die Welt für Dragon unter.
3.
Als Dragon wieder zu sich kam, schien ihm die Sonne ins Gesicht; geblendet schloß der Mann die Augen, dann versuchte er sich aufzurichten. Mit einem Wehlaut sank er wieder zurück. Unter seiner Hirnschale schienen tausend Kobolde mit Hämmern zu arbeiten – so fühlte es sich jedenfalls an. Dragons Körper war von Flecken übersät, und nur knapp die Hälfte davon würde sich mit Wasser wieder entfernen lassen. Der Rest würde ihn noch etliche Tage lang zieren. Ächzend drehte Dragon den Kopf zur Seite; neben ihm lag Danila, zerschunden und mit Prellungen übersät. Ihr Haar starrte von Schmutz, und der Körper sah nicht viel besser aus.
Immerhin, noch lebten beide. Der Gesang des Dschungels war verstummt, und vom Himmel strahlte eine fast weiße Sonne wohltuend warm. Warm? Dragon zuckte zusammen – weniger als fünfzig Schritte von ihm entfernt begann der Dschungel mit seinem mörderischen Klima, auf der Lichtung aber war die Wärme durchaus angenehm. »Ein verrücktes Land!« murmelte Dragon kopfschüttelnd. Langsam richtete er sich auf und ging zu Danila hinüber; das Mädchen machte einen sehr erschöpften Eindruck. Als Dragon sie leicht anstieß, zuckte sie zusammen und gab ein leises Wimmern von sich. Danila öffnete langsam die Augen; ihr Gesicht hatte einen ängstlich gespannten Ausdruck, der sich rasch änderte, als sie Dragon erkannte. »Ist der Dschungel vorbei?« fragte sie krächzend. Dragon schüttelte langsam den Kopf. »Noch lange nicht!« eröffnete er ihr hart. »Wir haben erst einen kleinen Teil des Weges zurückgelegt. Immerhin – hier ist es friedlich. Wir könnten eine längere Rast einlegen, um uns zu erholen!« Danila nickte schwach, dann sah sie sich um. Der Hügel, den sie in der Nacht mit letzter Kraft erreicht hatten, war mit weichem, saftigen Gras bestanden. Aus einiger Entfernung ertönte das gleichmäßige Plätschern von Wasser; vermutlich hatte
ein Bach in der Nähe sein steiniges Bett. Unwillkürlich horchte das Mädchen auf den Gesang von Vögeln, aber auch hier gab es keine Tiere – nur Pflanzen waren zu erkennen. In der Nähe erkannte Dragon einige fruchtbehangene Sträucher. Er holte sich aus dem Dschungel ein großes Blatt – so groß, daß er Danila damit hätte zudecken können – und sammelte die blauroten Früchte. Ein halbes Dutzend kopfgroßer Nüsse aus dem Urwald vervollständigten das Mahl. Sobald zwei der Nüsse verzehrt waren, suchte Dragon nach dem Bach und kehrte mit den gefüllten Nußschalen wieder zurück. Das Wasser war kalt und sauber, und in diesem Augenblick hätte Dragon diesen Trunk nicht gegen den feinsten Tropfen eingetauscht, den Nabib in seinen Schläuchen zu transportieren pflegte. Nabib, Urgor, Amee ... und dann sofort: Mura! Dragon verscheuchte den Gedanken; er durfte sich nicht zu sehr auf die Rückkehr konzentrieren. Einstweilen war es wichtig, Danila bei ihrem Stamm abzuliefern. Vielleicht wußten die Weisen ihres Volkes mehr über Weltentore als das Mädchen, vielleicht kannten sie eine Möglichkeit, Dragon die Rückkehr zu ermöglichen. Sobald sich das Mädchen gesättigt hatte, legte sie sich wieder zurück. Nach kurzer Zeit war sie fest eingeschlafen. Sie schien wieder angenehme Träume zu haben, wie ihr entrücktes Lächeln bewies.
Mitfühlend grinste Dragon auf die zusammengekauerte Gestalt hinab, dann machte er sich daran, die nähere Umgebung zu untersuchen. Vielleicht konnte es ganz nützlich sein, genau zu wissen, wo man sich befand. Der Hügel ragte nur knapp dreißig Mannslängen über den Dschungel hinaus, ein deutlich und ziemlich scharf abgegrenztes Rund, das mehrere Stunden Lauf erfordern würde, wollte man die Strecke einmal abschreiten. Auf dem höchsten Punkt der Kuppe angelangt, machte Dragon eine überraschende Feststellung. In der Mitte der anderen Hügelseite verlief eine hellrote Linie quer durch das Gelände. Der Streifen kam von links, irgendwo aus dem Dschungel, lief schnurgerade über den Hügel und verschwand auf der anderen Seite wieder im Dschungel. Dragon beschloß, sich diese Linie später anzusehen. Sein vordringliches Augenmerk richtete sich auf die Quelle, die genau auf der Höhe des Hügels ihren Ursprung hatte – ein fast genau kreisförmiges, tiefes Loch, aus dem in stetem Strom klares, kaltes Wasser floß. Der Bach schlängelte sich den Hügel hinab und verschwand dann ebenfalls im Dschungel. Rasch entschlossen warf Dragon die Kleidung ab und stürzte sich kopfüber in das Naß. Das Wasser war eisig kalt, und Dragon schnappte erst einmal nach Luft,
als er den Kopf wieder in die Höhe streckte. Die Sonne wanderte fast zwei Handspannen weit über den Himmel, bevor Dragon das Becken wieder verließ. Das Bad hatte ihn erfrischt, vor allem hatte es den Schmutz hinweggespült, der sich während des Dschungelmarsches auf der Haut abgelagert hatte. Während er sich von der Sonne trocknen ließ, vermißte Dragon für kurze Zeit das duftende Öl, mit dem er sich in Urgor und Myra zu salben pflegte. Bevor er dazu kam, den Gedanken fortzuspinnen, forderte die gewaltige Anstrengung des letzten Tages ihren Tribut. Müdigkeit übermannte Dragon, und er schlief ein. Einen Tag und eine Nacht lang blieben Dragon und Danila in der Sicherheit, die der Hügel bot. Dann erst machten sie sich wieder auf den Weg zu Danilas Stamm. Bereits nach kurzer Strecke gab es eine Unterbrechung. Die rote Linie war erreicht. Ratlos starrte Dragon auf den Boden. Mehr als fünf Mannslängen breit war der Strom, der sich zäh dahinwälzte und die rote Linie formte. Unwillkürlich fühlte sich Dragon an geschmolzenes Erz erinnert, aber als er die flache Hand langsam in die Luft über dem Strom schob, spürte er keine Hitze gegen die Haut schlagen.
»Worauf wartest du?« fragte Danila spöttisch. »Soll ich vorangehen? Fürchtet sich der Held?« Dragon gab keine Antwort, was Danila so reizte, daß sie mit dem Stock, den sie als Stütze benutzte, auf den Strom einschlug. Es spritzten keine Tropfen in die Höhe, aber als das Mädchen sich den Stock noch einmal genauer ansah, überzog sich ihr Gesicht mit fahler Blässe. Gut zwei Handspannen fehlten, waren einfach verschwunden, und die Trennfläche war pechschwarz. Vorsichtig befühlte Danila das Schwarz; Holzkohlestaub blieb an ihrem Finger haften, aber sie spürte keine Hitze, keinen Rest von Glut. »Ein Feuerstrom!« flüsterte das Mädchen entsetzt. »Richtig!« stimmte Dragon düster zu. »Und er ist entschieden zu breit zum Überspringen. Es sieht so aus, als kämen wir nicht weiter!« »Aber wir müssen!« schluchzte Danila. Der Schock dieser Entdeckung rief wieder alle Ängste wach, die sie während der letzten Tage empfunden hatte. Diese Strapazen, die Schmerzen und Qualen – nur um jetzt den gleichen schaudervollen Weg zurückzugehen und kein Ergebnis zu erzielen? »Abwarten!« murmelte Dragon nachdenklich. Er setzte sich auf den Grasboden und schloß die Augen. Irgendeine Möglichkeit muß es geben, sagte er sich.
Irgendein Trick mußte ihm einfallen, mit dem man den Feuerstrom zu überwinden vermochte. Die Wanderwolke, die Danila verschleppt hatte, konnte kaum Schwierigkeiten gehabt haben. Sie war einfach über das Hindernis hinweggeflogen. Fliegen? »Fliegen!« murmelte Dragon, und sein Gesicht erhellte sich. »Wir werden über den Feuerstrom hinwegfliegen!« Das Mädchen sah ihn an wie einen Narren. »Träumst du, Dragon?« fragte sie besorgt. »Glaubst du, daß dir Flügel wachsen werden, die dich hinübertragen können?« »Das nicht«, versetzte Dragon ruhig. »Ich habe eine andere Idee!« Er erklärte dem Mädchen nicht, was er im Sinn hatte. Er zog das Mädchen mit sich, die andere Seite des Hügels hinab in den Dschungel hinein. Fassungslos sah Danila zu, wie ihr Begleiter unter den Pflanzen und Gewächsen Umschau hielt. Nach beträchtlicher Zeit glaubte Dragon, das gefunden zu haben, was seinen Zwecken dienlich sein konnte. Zwei dünne, biegsame Schößlinge, beide mehr als fünf Mannslängen hoch und sehr gerade gewachsen. »Hoffentlich hilft die Klinge jetzt!« wünschte er, als er zum Schlag ausholte. Pfeifend sauste das Metall
durch die Luft, traf auf das Holz und durchschlug es glatt. Nach kurzer Zeit hatte Dragon beide Schößlinge gefällt und ihres Blattwerks beraubt. Zusammen mit Danila schleppte er die Stangen aus dem Dschungel und weiter bis an den Rand des Feuerstroms. »Wenn es überhaupt eine Möglichkeit gibt, den Feuerstrom zu überwinden«, erklärte er dem Mädchen, »dann diese. Ich werde die Stange an ihrem Ende fassen, Anlauf nehmen und einen Schritt vor dem Feuerstrom die Stange in den Boden bohren. Mein Schwung wird mich dann auf die andere Seite tragen. Während des Fluges kann ich mich mit der Stange abstoßen und so eine beträchtlich weitere Strecke springen als ohne diese Hilfe! Hast du das verstanden?« »Ich verstehe wohl, was du sagst«, bemerkte das Mädchen nachdenklich. »Indes gebricht es mir am Glauben!« Dragon ließ ihr Zeit, die Sache zu bedenken. Als Danila, deren Blick beständig zwischen den beiden Ufern des Feuerstroms, den Stangen und der roten Glut gewandert war, endlich wieder Dragon ansah, hatte ihr Gesicht einen entschlossenen Ausdruck angenommen. Sie nickte eifrig, als sie sagte: »Ja, ich habe verstanden. Damit kein Irrtum entsteht – du meinst, es geht ungefähr so?« Sie nahm eine der Stangen auf und wog das Holz in
der Hand; die freie Spitze schwankte heftig in der Luft. Langsam schritt Danila eine beträchtliche Strecke zurück, dann begann sie zu laufen. »Danila!« schrie Dragon, als er erkannte, was das Mädchen beabsichtigte. Es war zu spät, um noch eingreifen zu können. Mit zusammengebissenen Zähnen rannte Danila dem Feuerstrom entgegen, und genau einen Schritt vor dem Beginn der Flut rammte sie das freie Ende des Stabes fest in den weichen Boden. Der Stab bog sich erschreckend weit durch, während sich Danila in die Luft schwang, dann aber setzte sich seine federnde Kraft durch. In hohem Bogen flog das Mädchen durch die Luft, über den Feuerstrom hinweg. Dragon hörte ihren jubelnden Schrei auf dem Höhepunkt der Flugbahn, dann sah er wie Danila auf dem anderen Ufer landete – mindestens drei Schritte entfernt von der tödlichen Glut, die sich in stetem Strom durch die Landschaft wälzte. Der Stab glitt aus Danilas Händen; das Mädchen überschlug sich mehrfach, während der Stab auf die Flut fiel. Mit leichtem Schlucken sah Dragon, wie die Flut den Stab zerfraß – so schnell, daß kein menschliches Auge dem Vorgang zu folgen vermochte. Das Mittelteil des Stabes verschwand einfach – übrig blieben nur die Teile, die sicher an den beiden Ufern lagen. Auf der anderen Seite war Danila inzwischen
aufgestanden; sie rieb sich die leichten Blessuren, die sie sich bei der unsanften Landung eingehandelt hatte, aber sie winkte Dragon fröhlich zu. »Jetzt du!« rief sie herüber. »Es ist ganz einfach!« »Dein Wort in Cnossos‘ Ohr!« murmelte Dragon skeptisch. Immerhin war das Mädchen erfolgreich gewesen, warum sollte er scheitern? Dragon nahm seinen Stab auf und ging zurück; mit weiten, raumgreifenden Schritten nahm er Anlauf, dann rammte er den Stab in den Boden und sprang ab. Die Zeitspanne betrug nur drei Herzschläge, aber für Dragon schien sie sich zu Ewigkeiten ziehen zu wollen. Er spürte den Druck der Stange, die in seinen Händen zitterte, fühlte, wie die Stange zurückschnellte und ihn in die Höhe trug. Schon hatte er den Scheitelpunkt seines Flugs erreicht, da hörte abrupt der Druck auf, den die federnde Stange auf ihn ausübte. Hinter sich hörte er das häßliche Knirschen, mit dem die Stange brach – von vorn kam Danilas schriller Schrei des Entsetzens. Aufgerichtet stürzte Dragon dem Feuerstrom entgegen. Mura! In der letzten Sekunde, die ihm zu verbleiben schien, dachte Dragon inbrünstig an seine Geliebte, die ihm das Amulett geschenkt hatte. Und das Feuer wich vor ihm zurück, fing seinen Sturz auf, umhüllte ihn – aber es schadete ihm nicht.
Die rätselvollen Kräfte des Amuletts schufen um Dragon eine Zone des Lebens – inmitten eines unentrinnbar erscheinenden Todesstroms. Nur eine Handbreit vor Dragons Gesicht waberte die tödliche Glut, aber er spürte den Todeshauch nicht. Dragon setzte Fuß vor Fuß, er schritt auf Feuer, durch Feuer. Sein Atem ging frei, aber sehr hastig – doch die Hitze beraubte ihn nicht der Luft. Mit Augen, deren Schimmer dicht am Wahnsinn lag, sah Danila, wie Dragon dem Feuerstrom entstieg. Sie hatte den Sturz gesehen, entsetzt beobachtet, wie Dragon in der Rotglut verschwand – jetzt sah sie ihn dem Verhängnis entkommen. »Dragon!« schluchzte das Mädchen. »Dragon!« Sie rannte auf ihn zu, nahm ihn in die zitternden Arme; Dragon konnte spüren, daß ihr Herz rasend schnell schlug. Ihr Gesicht war bleich von Furcht; ihr Körper wurde geschüttelt von haltlosem Schluchzen. Behutsam legte Dragon den zitternden Körper des Mädchens auf dem kühlen, tauigen Grasboden ab. Er hatte Mühe, sich selbst zu beruhigen. Erst nach geraumer Zeit fand Danila wieder zu sich selbst. »Wie ...?« flüsterte sie unter Tränen. »Wie ist dir das gelungen?« Nachdenklich wog Dragon das Amulett in seiner Hand; auch sein Puls ging heftig – er merkte es am Zittern seiner Hände.
»Muras Amulett!« sagte er leise. »Es hat mir auch hier geholfen. Jetzt aber sage mir – warum bist du als erste gesprungen. Warum hast du nicht zugelassen, daß ich als erster den Versuch wagte?« Danila senkte den Blick, dann antwortete sie zögernd: »Sieh! Wenn es keine Möglichkeit gab, den Feuerstrom zu überqueren, dann war ich verloren – so oder auf andere Weise. Du aber hättest dich zum Meer durchschlagen können – oder irgend etwas anderes tun können. Ich habe ein bestimmtes Ziel – mein Volk, meinen zukünftigen Mann. Du hast kein Ziel, deine Pläne können sich ändern! Verstehst du das?« »Ich verstehe es!« sagte Dragon sanft. »Komm, laß uns aufbrechen. Unser Weg ist noch weit – und ich verspreche dir, wir werden unser Ziel erreichen. Du wirst deinen Stamm wiedersehen und deinen Mann in die Arme nehmen können!« Wieder dachte er an Mura, an Amee und Myra. Hinter ihm lag ein verschüttetes Weltentor – und vor ihm? Unbekanntes Land, wild und gefährlich, heimtückisch und grausam. Bislang hatte er ein Ziel – er wollte, das hatte er sich vorgenommen, Danila bei ihrem Volk abliefern. Aber dann? Was wartete auf ihn, den Einsamen von einer anderen Welt? Eine Zukunft, die mehr als ungewiß war. Nur eine vage Hoffnung gab es für ihn – daß sich auf Danilas Welt noch andere
Weltentore befanden. Er nahm das Mädchen bei der Hand; zusammen schritten sie in den Dschungel, der unter dem Einfluß des Amuletts vor ihnen zurückwich. Vergessen waren Mura, Amee und Myra – vor ihnen lag der Dschungel mit seinen Gefahren. Von dem ersten Hügel aus hatte Dragon erkennen können, daß es eine ganze Reihe von Kuppen gab, die sich über die Höhe der Dschungelbäume erhoben. Es war anzunehmen, daß auch diese Erhebungen mit Fallen gespickt waren, aber es gab für die beiden einsamen Wanderer keine Möglichkeit, sich an diesen Hindernissen vorbeizumogeln. Nachts im Dschungel zu bleiben, kam einem Selbstmord gleich – irgendwann mußten sie einschlafen, und dann gab es keine Möglichkeit, sich gegen die mannigfaltigen Gefahren zur Wehr zu setzen. Auch ein Wachen jeweils eines der beiden hätte dies nur wenig gemildert. Dragon kannte Danila inzwischen ziemlich genau. Er war sicher, daß das Mädchen entweder einschlafen würde – oder aber beim geringsten Anlaß Alarm schlagen würde. Damit war ihm nicht gedient. Folglich gab es keinen Ausweg – sie mußten nacheinander diese Höhen erreichen und dort rasten. Zwar hatte der Feuerstrom gezeigt, daß Dragons Annahme, bei den Hügeln handle es sich um Stille
Zonen, ein Trugschluß war – bislang aber fühlte er sich auf einer solchen Anhöhe sicherer als im undurchdringlichen Blätterwald des Dschungels, der sich bis an den Horizont erstreckt – bis an den Horizont, den Dragon von der ersten Kuppe aus hatte erkennen können. Das konnte noch lange nicht das Ende des Dschungels bedeuten – vielleicht würde es Wochen dauern, bis sie diesen Streifen hinter sich gebracht hatten. Hinzu kam, daß Danila keine Angaben machen konnte, wo genau sich die Stille Zone befand, in der ihr Stamm lebte. Sie hatte nicht gesehen, welche Gebiete die Wanderwolke überquert hatte, von der sie verschleppt worden war. Vielleicht lag die Stille Zone mitten im Urwald – vielleicht aber auch viele Tagesmärsche hinter dem Horizont. Indes war sich Dragon sicher, daß er die Stille Zone finden würde – das Amulett, dessen war er sich sicher, würde ihnen im entscheidenden Augenblick zur Seite stehen. »Der Marsch wird einfacher!« stellte Danila nach geraumer Zeit fest; Dragon nickte nur kurz. Vielleicht war dieses Gebiet nicht ganz so feucht wie die Landschaft in unmittelbarer Nähe des Gebirges; jedenfalls standen die Bäume nicht ganz so dicht, war der Weg nicht so stark von verflochtenen Lianen versperrt. Der Boden gab weniger stark nach, wenn man mit dem Fuß darauf trat – Dragon schätzte, daß
sich ihr Reisetempo um den vierten Teil beflügelt hatte. Dennoch waren die beiden Menschen erschöpft, als sie am Abend ihr Ziel erreichten – eine der Kuppen, die sich wie Inseln aus dem Ozean von Grün erhoben. Mehr stolpernd als gehend erreichten Danila und Dragon die Anhöhe; sobald sie den Grasboden betreten hatten, sanken sie ausgelaugt zu Boden und rieben die schmerzenden Waden. Es war ein teuflischer Zufall, daß die Kuppen immer ein paar tausend Schritte weiter voneinander entfernt waren, als man in einem bequemen Tagesmarsch zurücklegen konnte. Das bedeutete, daß die beiden Wanderer an jedem Tag ihr Letztes geben mußten, um ihr Tagesziel erreichen zu können. Hinzuzurechnen wäre die kleineren Verletzungen – Danilas Körper war an vielen Stellen mit Schorf bedeckt. Die Wunden des vorherigen Tages waren wieder aufgebrochen und zehrten ebenfalls an den Kräften. Dragon und Danila verzehrten schweigend ein paar Früchte, dann stiegen sie den Hügel hinauf und suchten sich auf der Kuppe einen möglichst weichen Platz zum Schlafen. »Ich habe gar nicht gewußt, daß es in dem Wilden Land so schöne Flecken gibt!« meinte Danila bewundernd. Als sie erwacht waren, hatten sie zum ersten Male
genauer sehen können, wo sie sich zur Ruhe gelegt hatten. Der Hügel war bewachsen mit einem förmlichen Meer von Blumen, deren Kelche sich sanft in der leichten Brise wiegten, die über die Landschaft strich. Danila sah eine unübersehbare Zahl schlanker, biegsamer Stengel, die geradewegs aus dem Boden wuchsen – darauf schwankten großblättrige Blüten in allen Farben, die die Natur aufzuweisen hatte. Das Mädchen sah rote Blüten mit gelbem Saum, fast schwarze Kelche mit weißen Tupfen – und alle Blüten besaßen ziemlich genau die gleiche Form. Ausgenommen von dem Bewuchs war lediglich der kleine Bezirk auf der obersten Höhe der Kuppe; dort hatte sich der Boden leicht gesenkt und eine Kuhle gebildet, in der Dragon und Danila die Nacht verbracht hatten. Dragon sah Danilas Begeisterung und lächelte nachsichtig. Sein Instinkt sagte ihm, daß an dieser Pracht etwas faul war. Inzwischen hatte er sich mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß nahezu jeder Fleck dieses Dschungels – gleichgültig, wie er aussah – irgendeine Teufelei zu bieten hatte. Dieser Hügel sah entschieden zu verlockend aus, um nur schön zu sein. Mißtrauisch spähte Dragon nach allen Seiten, aber er fand nichts, was seinen Verdacht gerechtfertigt hätte. Rings um ihn her war dichter Dschungel, über dem der
neblige Dunst eines frühen Morgens lag und einen Teil der Sicht nahm. Am Rande des Sichtkreises erkannte Dragon drei weitere Hügel – wieder in einer Entfernung, die an einem Tag zurückzulegen eine mörderische Strapaze sein würde. Von Gefahren war einstweilen nichts zu sehen – aber nur einstweilen, sagte sich Dragon. Danila freute sich noch immer über den wunderbaren Blumenteppich vor ihren Füßen. Sie machte sich sofort daran, einen Strauß zusammenzusuchen, der möglichst viele verschiedene Blüten enthalten sollte. Nur zwei Schritte von ihr entfernt begann das Blumenfeld, und an seinem Rand stand eine Gruppe besonders farbenprächtiger Blüten, die zudem gut zwei Handbreit höher wuchsen als der Rest der Blumen. Danila streckte die Hand aus und griff nach der Wurzel. Sie machte nur eine kleine Bewegung, dann zuckte ihre Hand zurück. Das Mädchen schrie erschrocken auf, und auch Dragon konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Der Hügel stand in Flammen. Blitzschnell hatten sich alle Blütenkelche geschlossen, und über den Spitzen der zusammengelegten Blätter tanzten unterarmlange, hellblaue Flammen in dem Rhythmus, den der sachte Wind vorschrieb. Es gab, das erkannte Dragon auf den ersten Blick, keine Möglichkeit, dieses
Flammenmeer zu durchschreiten – es sei denn ... Dragon griff nach dem Amulett auf seiner Brust; mit aller Kraft konzentrierte er sich auf den Wunsch, vor ihm möge sich eine Gasse bilden. Aber nichts geschah, nur eine Böließ das Spiel der Flammen heftiger werden. »Was hat das zu bedeuten, Dragon?« erkundigte sich Danila ängstlich. Unwillkürlich hatte sie sich auf den Mittelpunkt der Mulde zurückgezogen; dort war sie am weitesten von den blauen Flammen entfernt. Das Mädchen zeigte seine Angst ganz offen; schutzsuchend klammerte sie sich an Dragon, der ratlos auf das Meer tanzender Flammen starrte und sich das Hirn zermarterte, wie es zu dieser Katastrophe hatte kommen können. »Vermutlich«, überlegte Danila halblaut, »trage ich die Schuld – ich hätte nicht versuchen sollen, ein paar der Pflanzen auszureißen!« »Selbst wenn es stimmt«, bemerkte Dragon düster. »Die Erkenntnis hilft uns auch nicht weiter. Muras Amulett versagt – wir sitzen fest!« Immerhin, so stellte er erleichtert fest, entzog das Flammenmeer ihm nicht die Luft. Auch das war eigentlich nach den natürlichen Gesetzen, so wie Dragon sie kannte, ausgeschlossen – aber dies war Danilas Welt, die von den Experimenten des Namenlosen verwüstet war und den natürlichen Gesetzen nicht mehr gehorchte.
Es schien, als sei er aus dem Boden gewachsen. Die beiden Wanderer sahen den Mann erst nach geraumer Zeit, als sie sich umdrehten. Vor ihnen stand eine hohe, schlanke Gestalt, gekleidet in eine härene Kutte, die bis zum Boden fiel. Der Hinterkopf des Mannes verschwand unter einer weiten Kapuze. Zu sehen war nur das Gesicht – scharfe Züge, wie aus Holz geschnitten. Eine schmale, stark gekrümmte Nase, an der vorbei sich zwei tiefe, schmale Kerben bis zu den Mundwinkeln verliefen. Die Lippen waren hell, fast farblos und dünn wie die Klinge von Dragons Schwert. Zwei dunkle, von dichten schwarzen Brauen beschattete Augen musterten die beiden Wanderer mit großem Ernst. Dragon glaubte, etwas wie Zorn in dem unbeweglichen Gesicht des Mannes feststellen zu können. »Wer bist du?« fragte Dragon ruhig. In seiner Hand lag der Griff des Schwertes, das er instinktiv gezogen hatte. Danila trat zwei Schritte zurück und versteckte sich hinter Dragons breiten Schultern. »Der Hüter dieses Gartens!« sagte der Mann mit hohler Stimme; Dragon konnte kaum erkennen, daß der Mann überhaupt die Lippen bewegte. Dann fiel ihm etwas auf – die Gestalt vor ihm schlug nicht wie jeder Mensch ab und zu mit den Lidern. Weitgeöffnet waren die Augen und richteten einen durchbohrenden
Blick auf Dragon und das Mädchen. »Und wer bist du, Fremdling, der du es wagst, mit frevelnder Hand hier einzudringen?« wollte die Gestalt wissen. Langsam und ruhig gab Dragon Auskunft, und mit unbeweglichem Gesicht hörte der Fremde seine Rede an. »Ist dies ein Grund, hier dergestalt zu hausen?« erkundigte sich der Vermummte kalt. »Wer gab euch das Recht, die Hand nach diesen Pflanzen auszustrecken? Konntet ihr euren Hunger damit stillen, euren Durst löschen?« »Die Blumen waren so schön!« wagte Danila zu sagen. Das Mädchen schlug die Augen nieder, als sich der Blick des Hüters auf sie heftete. »Ist das ein Grund?« fragte der Fremde dumpf. »Das Leben ist auch schön – soll man es deshalb endigen? Ist die Schönheit dieser Pflanzen Grund genug, sie zu töten?« »Kannst du uns helfen?« fragte Dragon rasch. »Selbstverständlich!« lautete die selbstbewußte Antwort. Der Mann streckte die Hand aus und drehte sich einmal um sich selbst – und das Feuer erlosch. Hinter dem Bereich, den er überstrichen hatte, öffneten die Blumen wieder ihre Blüten. »Danke!« sagte Dragon dankbar, aber bevor er ein weiteres Wort sagen konnte, stand die Kuppe wieder in
Flammen. »Ihr werdet hier bleiben!« bestimmte der Hüter kalt. »Ihr werdet diesen Ort nicht mehr verlassen. Das Feuer wird erst erlöschen, wenn eure Knochen gebleicht sind!« Dragon biß die Zähne zusammen, dann machte er einige Schritte auf den Fremden zu. Die Spitze seines Schwertes richtete sich auf die Halsgrube des Fremden. »Wenn du uns gutwillig nicht ziehen lassen willst«, drohte Dragon, »müssen wir uns auf andere Weise helfen!« »Versuche es!« erwiderte der Fremde kalt. »Dies alles gehorcht meinem Willen – und wie willst du meinen Willen brechen? Nicht einmal meinen Körper vermagst du zu schädigen – wieviel weniger meinen Geist!« Der Mann machte zwei Schritte vorwärts. Ohne Widerstand zu finden, glitt die Schwertklinge durch den Hals des Mannes, der höhnisch auflachte und dann verschwand, als habe er sich in Luft aufgelöst. Dragon unterdrückte einen Fluch, während Danila ängstlich auf die Stelle starrte, auf der der Fremde gestanden hatte. Nur der schwach erkennbare Abdruck seiner Füße bewies, daß seine Gestalt nicht ihrer Einbildungskraft entsprungen war. »Was nun?« fragte Danila schwach. Dragon zuckte hilflos mit den
Schultern. »Zunächst will ich wissen«, murmelte er, »wie wirklich diese Flammen überhaupt sind!« Er hielt die Schwertklinge in das Flammenmeer und wartete kurze Zeit; als er das Schwert wieder zurückzog und betastete, stieß er ein wütendes Brummen aus – die Klinge war heiß. Sowohl das Flammenmeer als auch der Mann waren echt, keine Sinnestäuschung. »Zweiter Versuch!« knurrte Dragon und holte aus. Auch dieses Mittel half nicht. Entweder duckten sich die Blüten blitzschnell unter der Schärfe seines Schwertes weg und drückten sich flach auf den Boden, oder aber, wenn Dragon seine Hiebe senkrecht ansetzte, bewegten sich geschwind zur Seite. Eine Zeitlang kämpfte Dragon mit steigender Wut, dann gab er auf. So konnte er sich seine Freiheit nicht erstreiten. Verzweifelt sann er nach Mitteln, den Bannkreis zu durchbrechen, der sie umgürtete. »Kann ich euch helfen?« fragte eine zarte Stimme hinter ihm. Dragon schnellte herum und sah ein junges Mädchen, das ihn freundlich anlächelte. Zwei helle Augen blinzelten Dragon zu, während Danila mit ersichtlichem Neid auf das helle Haar des Mädchens blickte, das in langen Wellen bis auf den Boden fiel. »Ja«, beantwortete Dragon die Frage des Mädchens.
»Wir würden diesen Hügel gern wieder verlassen – aber der Hüter hindert uns daran!« Das Mädchen legte den Kopf auf die Seite und sah Dragon spitzbübisch an. »Und was hast du angestellt?« wollte sie wissen. »Der Hüter muß doch einen Grund haben, euch hier festzuhalten!« Danila gab dem Mädchen Antwort. »Gut!« entschied das Mädchen. »Ich werde euch helfen! Folgt mir!« Das Mädchen breitete die Arme aus und ging voran; vorsichtig folgten Dragon und Danila. Unter den Händen des Mädchens erloschen die Flammen; tänzelnd ging sie voran, summte eine Melodie, die Dragon seltsam vertraut erschien, und löschte durch Zauberkraft die Flammen. Plötzlich stellte sich ihr ein Hindernis in den Weg. Der Hüter war erschienen und streckte dem Mädchen abwehrend die Hände entgegen; seine Augen schienen aufzuglühen, als er das Mädchen schweigend anstarrte. Gleichzeitig flammten wieder Blüten auf, die gerade erst erloschen waren. Dragon und Danila standen auf halber Höhe des Hügels und zuckten zusammen, als sich die Flammenwand näher an sie heranschob. Zwischen dem Mädchen und dem Hüter entspann sich ein lautloser Kampf, der mit großer Erbitterung
geführt wurde. Immer wieder streckte der Hüter seine entfleischten Hände aus, und seine Krallenhand ließ die Flammen auflodern. Dann wieder gewann das Mädchen die Oberhand und schuf eine breite Gasse, in der das Feuer erlosch. Danila und Dragon standen eng nebeneinander auf dem Hügel und sahen sich hilfesuchend um. Immer schlugen vor ihren Füßen Flammen in die Höhe und wichen wieder zurück; die Beine der beiden Menschen waren nach kurzer Zeit mit Brandblasen übersät, die einen wütenden Schmerz erzeugten. Danila war bald nahe daran, vor Schmerz zusammenzubrechen, als Dragon an das Amulett dachte. Vielleicht konnten die geheimnisvollen Kräfte den Kampf zwischen den beiden rätselvollen Wesen unterstützen. Intensiv dachte Dragon an das Mädchen, wünschte ihm Kraft und Ausdauer. Der Versuch gelang. Der Hüter wich ächzend einige Schritte zurück. Wieder bildete sich eine Gasse durch das Flammenmeer, durch die Dragon und Danila ungefährdet schreiten konnten. Der Hüter ballte die knochigen Hände zu Fäusten und schwang sie drohend in die Richtung, in der sich die kleine Gruppe rasch aus dem Bereich des Hügels entfernte. Dann wurde seine Gestalt schemenhaft und löste sich auf. Als Dragon sich von der freundlichen Helferin
verabschieden wollte, war das Mädchen ebenfalls verschwunden. Starr blickte Danila auf die Stelle, an der das Mädchen zuletzt gestanden hatte. »Sie ist verschwunden!« stellte sie fest. »Einfach verschwunden – ich glaube, ich befinde mich in einem fürchterlichen Alptraum!« Dragon empfand die Lage ähnlich, aber er faßte Danila sanft an den Schultern und rüttelte das Mädchen solange, bis sie sich wieder mit der Wirklichkeit in Einklang gebracht hatte. Für das Mädchen, das nicht die Erfahrungen hatte, die Dragon in seiner Vergangenheit hatte sammeln können, waren die Vorgänge der letzten Tage in besonderer Weise bedrückend. Sie hatte es sich einfacher vorgestellt, ihr Volk wiederzufinden, wesentlich einfacher. Das Erscheinen des Hüters hatte ihr fast den Rest gegeben – während Dragon sie vorwärts durch den Dschungel trieb, schauderte sie immer wieder; in jedem seltsam geformten Gewächs erschien ihr die knochige, zur Fast geballte Hand des Hüters. Aus allen Winkeln des vielfach verflochtenen Dschungels schienen sie die dunklen Augen des Fremden anzuglühen. Danila hatte Angst, fürchterliche Angst. Nur eines hielt sie noch aufrecht – der Gleichmut, mit dem Dragon sie durch den Dschungel führte. Noch immer wirkten die Kräfte seines Amuletts, ließen den Urwald sich teilen und freie Bahn schaffen.
Dragon schlug ein hohes Tempo an; er wollte den Dschungel so rasch wie irgend möglich durchqueren. Er kannte bereits einiges von dem, was die Elementargeister bewirken konnten, und er verspürte keine Lust, das gesamte Arsenal ihrer Fallen durchzukosten. Wozu die Elementargeister fähig waren, hatte ihm ein rascher Blick über die Schulter gezeigt: Der Hügel der flammenden Blumen war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Offenbar vermochten die Elementargeister, wie immer sie auch aussehen mochten, nach Belieben mit der Natur zu spielen, tausendfältige Spukgestalten zu schaffen und wieder verschwinden zu lassen. Wie sie das bewerkstelligten, konnte Dragon nicht einmal ahnen. Als die Sonne allmählich am Horizont zu verschwinden begann, hatten die beiden Wanderer ihr Tagesziel nahezu erreicht. Dennoch fühlten sie sich nicht wohl. Vor ihnen erklang ein dumpfes, langanhaltendes Grollen; seit Stunden schon konnten sie das Geräusch hören, das nur selten abbrach. Je näher sie an die Quelle des Geräusches kamen, desto stärker wurde auch das Zittern des Bodens. Langsam wurde es zusehends schwieriger, sich fortzubewegen – der Boden zuckte wie ein waidwundes Tier. Dragon hielt
sehnsüchtig nach dem Tagesziel Ausschau, nach jener Kuppe, die er am Morgen gesehen hatte. Zu spät erkannte er, wie sehr er sich getäuscht hatte. Als er mit Danila den Rand des Dschungelgebiets erreicht hatte, sah er vor sich eine riesenhafte Erdspalte, die sich quer zu seiner Marschrichtung durch das Gelände zog. Aus diesem Spalt erscholl das Dröhnen, das den Boden beben ließ. Nur mit einem raschen Satz konnte sich Dragon in letzter Sekunde vor einem umkippenden Baum schützen, den das Beben aus dem Boden gerissen hatte. Weitere Einzelheiten wurden erkennbar, unangenehme Einzelheiten. Bis hart an den Rand war die Felsspalte mit Steinen gefüllt. Es gab kopfgroßes Geröll, kleine Kiesel, die in eine Schleuder gepaßt hätten, mehr als mannsgroße Felsen und hausgroße Brocken. Und das gesamte Gestein befand sich in Bewegung. Mit äußerster Vorsicht trat Dragon näher, während sich Danila an einem Baum festhielt, der zusammen mit ihr sich im Rhythmus der Erdstöße bewegte. Die Gesteinsbrocken trieben durcheinander; unwillkürlich fühlte sich Dragon an einen großen Küchenkessel erinnert, in dem eine Magd Erbsen oder Bohnen durchrührt. Unablässig bewegten sich die Felsbrocken, stiegen auf und versanken wieder, rieben sich aneinander – eine Wolke aus Staub lag über der
Spalte, die Überreste zermahlener Steine. Mit steigendem Entsetzen sah Dragon dem gewaltigen Schauspiel der Natur zu. In der langsam hereinbrechenden Dämmerung konnte Dragon gerade noch den jenseitigen Rand der Felsspalte erkennen – hier gab es keine Möglichkeit, sich mit biegsamen Stangen über das Hindernis hinwegzusetzen, und angesichts der Kräfte, die hier auf engstem Räume tobten, war sich Dragon sicher, daß auch das Amulett keine Hilfe sein konnte. Dennoch machte er einen Versuch. Vielleicht war es die Resignation, die ihn beeinflußte – jedenfalls änderte sich nichts, so sehr Dragon auch wünschte, der Strom der Steine möge sich beruhigen. »Es wird bald Nacht!« erinnerte ihn Danila furchtsam. »Ich habe es gesehen!« gab Dragon gereizt zurück. Er hatte die Wahl – er konnte den Übergang versuchen oder auf dieser Seite der Schlucht bleiben. Beide Möglichkeiten waren letztlich mit tödlicher Gefahr behaftet. Dragon sah kaum eine echte Aussicht, über den sich unausgesetzt bewegenden Strom aus Felsgestein hinweg das jenseitige Ufer zu erreichen. Ein Fehltritt, eine unvermutete Bewegung des Materials – er würde in dem steinernen Mahlstrom verschwinden und zerquetscht werden.
Was der Dschungel zu bieten hatte, wußte Dragon nur zu gut. Zwar gab es eine, halbwegs friedliche Zone, einen knapp vier Schritte breiten Streifen der sich zwischen dem Rand der Felsspalte und dem Beginn des Dschungels hinzog. Aber an diesem Streifen fraß das mahlende Gestein – Dragon konnte sehen, wie sich der Rand der Schlucht Fußbreit um Fußbreit auf den Dschungel zubewegte. Ein Urwaldriese, mindestens zwanzig Mannslängen hoch, verlor seinen Halt im Boden und sank langsam nach vorne. Ächzend neigte sich der Baum, seine Äste reichten in den Mahlstrom. Dragon hörte das Knirschen und Splittern des brechenden Holzes; unerbittlich wurde der gesamte Stamm in die Tiefe gezerrt und dort zermahlen. Eine Wolke aus Holzstaub wirbelte in die Höhe und nahm Dragon für einen Augenblick die Sicht. Nach rechts und links erstreckte sich die Schlucht bis an die Grenze des Sichtbaren. »Unsere einzige Möglichkeit!« murmelte Dragon. »Was hast du vor?« erkundigte sich Danila zaghaft. »Wir müssen versuchen, die Schlucht zu umgehen!« erklärte Dragon dem Mädchen. »Einen anderen Ausweg sehe ich nicht!« »Jetzt?« fragte Danila und wies auf die Sonne, von der nur noch eine Fläche in der Größe eines
Handtellers über die Spitzen der Dschungelbäume hinausragte. »Richtig!« bestätigte Dragon. »Jetzt!« Während er ein Bündel harzreicher Aststücke sammelte, erklärte er dem Mädchen, warum sie nicht rasten konnten. Danila nickte tapfer, obwohl ihr anzusehen war, daß sie kurz vor einem Zusammenbruch stand. In den letzten Tagen war sie mehr gelaufen als je zuvor in ihrem Leben; von einer Gefahr war sie in die nächste getaumelt. Ihr Verstand hatte sich an den dauernden Alpdruck der Todesangst gewöhnen müssen. Ihr Schlaf war selten ruhig gewesen – Dragon sah an den dunklen Ringen unter ihren Augen, wie erschöpft das Mädchen war. Er selbst fühlte sich nur unwesentlich besser. Vor allem wußte er, daß sie beide diesen Strapazen nicht mehr lange gewachsen sein würden. An ihre körperlichen Kräfte wurden höchste Anforderungen gerichtet, denen die mehr als kärgliche Nahrung nicht angepaßt war. Aus einem Grund, den Dragon nicht begriff, gab es nicht ein einziges Tier in den endlos erscheinenden Dschungeln. Eine Nahrung, die nur aus Früchten bestand, reichte bei diesen körperlichen Anstrengungen nicht aus – der Körper hungerte förmlich nach Fleisch, selbst dann, wenn der Magen bis zum Platzen mit Nüssen und Früchten gefüllt war. Inzwischen war die Nacht über Danilas Welt
hereingebrochen; der Wind schob gewaltige Wolkenmassen über den Himmel, die den Mond völlig abdeckten. Im Schein der knisternd brennenden Fackeln machten sich Danila und Dragon auf den Weg. Wie beschwerlich dieser Marsch sein würde, erwies sich bereits nach kurzer Zeit. Nicht überall war der Landstreifen zwischen Schlucht und Dschungel so breit wie an der Stelle, an der sie auf das Hindernis gestoßen waren. Stellenweise war der Pfad kaum fußbreit. Dragon und Danila mußten sich bei solchen Gelegenheiten an den heftig schwankenden Bäumen des Dschungels festhalten. Dragon ging voran, obwohl er wußte, daß diese Maßnahme kaum einen Wert hatte. Wenn sich der Pfad verengte, konnte jede Bewegung in der Schlucht das kleine Stück festen Landes abbröckeln lassen und den Menschen, der darauf stand, ins Verderben stürzen. Obwohl die Nacht empfindlich kühl wurde, war Dragon in Schweiß gebadet. Unter seinen Füßen bewegte sich der Boden, ruckend und zuckend, sich aufbäumend und wieder zurückfallen. Zur rechten Hand bewegten sich die Bäume unter dem unerklärlichen Einfluß des Chores, den Dragon zur Genüge kannte. Und in der Dunkelheit zur linken Hand tobte der Mahlstrom. »Langsamer!« bat Danila hinter dem Mann; ihre Stimme konnte nur noch als Krächzen bezeichnet
werden. »Meine Beine!« Dragon genügte ein Blick, um zu wissen, was Danila meinte. Schon einige Male hatte er links ein dumpfes Krachen gehört, dem mehrere pfeifende Geräusche gefolgt waren. Jetzt begriff er die Ursache der Klänge – ab und zu zerplatzte ein Stein unter dem ungeheuren Druck, und die Trümmer zischten als Geschosse durch die Luft. Zwei solcher Steintrümmer hatten Danila am linken Oberschenkel getroffen; Dragon sah zwei klaffende Wunden, aus denen zwei breite Blutströme herabliefen. Danilas Gesicht war wachsbleich. Sie mußte große Schmerzen ertragen, aber sie äußerte keinen Laut der Klage. »Halte die Fackel!« sagte Dragon rasch und drückte dem Mädchen den brennenden Ast in die Hand. Mit dem letzten, ihm verbliebenen Rest Wasser wusch er die Wunden aus, dann ließ er das Mädchen für kurze Zeit allein zurück. Er kämpfte seinen Widerwillen nieder und betrat den Bereich des Dschungels. Um ihn herum war alles in Bewegung; die Bäume vollführten ihren tödlichen Tanz. Mit einiger Mühe fand Dragon in dem wirbelnden Chaos das, was er suchte – feingerippte Blätter, deren Unterseite ein heilkräftiges Sekret absonderte, dazu ein paar Lianen, besonders dünn und schmiegsam. Als er zu Danila zurückkehrte, atmete das Mädchen erleichtert auf. Während seiner Abwesenheit hatte sich
die Schlucht eine Elle weit vorgefressen. Dragon legte die Blätter mit der Unterseite auf die Wunden, mehrere Lagen dick, dann band er den Verband mit den Lianen fest. Danila stöhnte leise auf. Dragon konnte nur hoffen, daß jenes Kraut nicht nur genauso aussah wie sein Gegenstück in seiner Heimat, sondern auch die gleiche heilsame Wirkung entfaltete. Der erste Hinweis darauf war Danilas Stöhnen – der Saft der Blätter brannte in der Wunde wie weißglühendes Metall. Es war bewundernswert, was das Mädchen ertrug. Obwohl der Schmerz glühende Pfeile durch ihren Körper schießen mußte, brachte sie es fertig, Dragon schwach anzulächeln, als er sich wieder aufrichtete. »Danke!« ächzte Danila, dann gab sie ihm seine Fackel zurück. Vorsichtshalber knotete Dragon die restlichen Lianen zu einem langen Seil zusammen. Ein Ende der Schnur band er an Danilas Handgelenk fest, das andere Ende nahm er selbst. »Gib mir ein Zeichen, wenn es zu anstrengend wird!« befahl er dem Mädchen, dann ging er wieder voran. Stunde um Stunde verging; die Schlucht schien kein Ende nehmen zu wollen. In unregelmäßigen Abständen hielt Dragon die Fackel steil in die Höhe und suchte den Sichtkreis ab – jedesmal zog sich die
Schlucht weiter in die Dunkelheit. Als für einige Augenblicke das Mondlicht ungehindert auf den Boden strahlte, konnte Dragon sehen, daß sie mindestens noch einige Stunden würden marschieren müssen. Dragon wandte sich rasch um und sah nach Danila – das Mädchen hatte nicht auf das Mondlicht geachtet, sondern die kurze Zeit genutzt, um den verrutschten Verband wieder zurechtzurücken. Dragon hatte die Lianen nicht fester binden können – er hätte das Blut im Bein gestaut, wäre die Verschnürung zu straff gewesen. Der Weg wurde etwas steiler, gleichzeitig auch breiter. Dragon nützte die Zeit, um eine kleine Rast einzuschieben. Danila dankte ihm mit einem schmerzlichen Lächeln; Dragon sah, wie ihre Mundwinkel zitterten, sah die zusammengekniffenen Augen- Danila war erschöpft, dennoch konnte Dragon ihr keine Ruhe gönnen. Er sah nach den Wunden und stellte zufrieden fest, daß sich die Verletzungen geschlossen hatten. Nur ein wenig klare Körperflüssigkeit sickerte noch an Danilas Bein herab. Dragon holte noch ein paar neue Fackeln aus dem Dschungel, dann wurde der Marsch fortgesetzt. Danila schwankte beim Aufstehen; sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Während des Marsches horchte Dragon auf das Poltern und Grollen des Mahlstroms; ihm schien, als
sei das Geräusch etwas schwächer geworden. Vielleicht war diese Vermutung vorschnell – aber Dragon hoffte, daß er in absehbarer Zeit Danila Ruhe gönnen konnte. Wenn ihn seine Sinne nicht trogen, dann führte ihr Weg jetzt praktisch über den Strom der Felsen hinweg – vermutlich hatte sich das mahlende Gestein ein Stück in einen kleinen Berg hineingefressen. Das bedeutete, daß sie jetzt doppelt vorsichtig sein mußten – in dem Augenblick konnte der Überhang zusammenbrechen. Wieder war mehr als eine Stunde vergangen; im flackernden Licht seiner Fackel sah Dragon zur linken Hand einen gewaltigen Baum stehen – den höchsten, den er bislang zu Gesicht bekommen hatte. Hoch über seinem Kopf zeichnete sich gegen das erste schwache Licht der beginnenden Dämmerung das Geäst des Baumes ab – die obersten Blätter bewegten sich fast fünfzig Mannslängen über Dragons Kopf. Der Baum stand abseits der Grenze, die den Dschungel von der Schlucht trennte – vermutlich war der Überhang an dieser Stellung schuld. Vorsichtshalber ging Dragon auf der rechten Seite an dem Baum vorbei; fast wäre er über eine Wurzel gestolpert. Wieder spürte er das Zittern des Bodens, sein unruhiges Beben – doch diesmal war die Bewegung anders.
Dragon schrie auf, als er spürte, wie der Boden unter ihm wegsackte. Er sah, wie sich vor ihm der Baumriese langsam vornüber neigte. Polternd stürzte das Erdreich in die Tiefe. Dragon flog durch die Luft, fiel einige Schritte tief, dann spürte er einen mörderischen Ruck an seinem Handgelenk. »Danila!« schrie der Mann mit höchster Kraft. Das Mädchen hatte sich mit einem gewaltigen Satz in Sicherheit gebracht; mit Armen und Beinen hatte sie sich an einen Baum geklammert. Irgendwie war es ihr gelungen, sich im Sprung zu drehen – die Liane, die Dragon um ihr Handgelenk geschlungen hatte, war nun um ihren Leib gewickelt, und an dieser dünnen Leine hing Dragon. Mit den gewaltigen Wurzeln lag der Urwaldriesen noch auf dem sicheren Boden; über den mächtigen Stamm spannte sich die Liane, deren Ende Dragon mit aller Kraft umklammert hielt. Der Mann warf einen raschen, verzweifelten Blick in die Tiefe – seine Füße pendelten nur eine Handbreit über dem Strom der mahlenden Steine. Ein schmerzhafter Schlag belehrte Dragon, daß diese Spanne bei weitem nicht ausreichte – ein hochgepreßter Stein hatte seinen Knöchel getroffen, in dem schlagartig jedes Gefühl erstarb. Dragon spürte, wie seine Handfläche sich mit Angstschweiß bedeckte – er preßte die Finger zusammen, bis sein Unterarm zu platzen schien. Um
keinen Preis durfte er den Griff jetzt lockern. Unter ihm brodelte ein gräßlicher Tod. »Halt aus!« erklang Danilas Stimme durch das Tosen. »Ich werde dir helfen!« Trotz seiner lebensgefährlichen Lage fühlte sich Dragon versucht zu lachen. Das Mädchen war am Ende ihrer Kräfte, konnte kaum sich selbst auf den Beinen halten – wie wollte sie ihm helfen. Dragon spannte den rechten Arm an und schnellte sich ruckartig ein Stück in die Höhe. Mit der Linken bekam er die Liane zu fassen, verlor aber sofort wieder den Halt – das Seil war zwischen seinen schweißnassen Fingern hindurchgeglitten. Immerhin war es ihm gelungen, beim Hochschnellen die Liane einmal um das Gelenk der Rechten zu wickeln. Seine Lage hatte sich leicht verbessert. Eine entscheidende Besserung hatte er nicht erreicht. Dragon wußte nicht, wieso der Baum noch nicht in den Wirbel des unter ihm tobenden Felsstromes gezerrt worden war, aber lange würde das Verhängnis nicht mehr auf sich warten lassen. In diesen grauenvoll verlängerten Augenblicken mußte Dragon einen Entschluß fassen. »Danila!« schrie er. »Schneide die Liane durch!« Das Mädchen antwortete nicht. »Mach schnell!« brüllte Dragon. »Sonst wirst auch du hineingerissen!«
Als Antwort hörte Dragon einen wütenden Schrei, dann spürte er, daß sich der Zug an seinem Handgelenk verstärkte. Ein schwacher Funke der Hoffnung keimte in dem Mann auf. Danila spürte den reißenden Schmerz in allen Gliedern, vor allem den überanstrengten Beinen, aber sie lockerte ihren Griff nicht für einen Herzschlag. Die Liane schnitt sich in ihren Körper – ein Zeichen, daß Dragon noch lebte. Aber wie sollte sie dem verzweifelten Mann helfen; sie konnte sich gerade noch an dem Stamm festhalten. Zu mehr war sie nicht in der Lage. Es konnte nur noch kurze Zeit dauern, bis die Sonne über dem Gebirge im Osten aufging; noch war sie nicht zu sehen, aber das Dämmerlicht erlaubte eine ausreichende Sicht. Der Tag begann, aber noch war die Nacht noch nicht endgültig abgeschlossen. Noch drang durch die weiten Dschungel der Gesang der Nacht, der Tanz der Bäume. Danila spürte, wie sich ihr Stamm bewegte, eine leichte Drehung vollführte. Im gleichen Augenblick ließ der schmerzhafte Druck an ihren Hüften nach; ein Teil der Last, die an der Liane hing, wurde auf den Baum übertragen. »Weiter!« flüsterte Danila. »Weiter!« Es schien, als habe die Pflanze ihren Ruf gehört;
wieder bewegte sich der Baum, und wieder bestand ein Teil dieser Bewegung aus einer Drehung. Gleichzeitig bewegte sich der Baum vom Rand der Schlucht fort – und brachte Dragon der Rettung näher. Vorausgesetzt, daß Dragon seinen Griff nicht lockerte. Danila löste behutsam ihren Griff; die Schmerzen, die diese Bewegung auslöste, nahm sie nicht wahr. Langsam drückte sie sich vom Stamm des Baumes weg, zog die Füße in die Höhe und verstärkte den Druck. Langsam bewegte sich ihr Körper vom Baum weg – und mit dieser Bewegung wurde Dragon ein Stück in die Höhe gezogen. Langsam, unter Anspannung aller Kräfte stemmte sich Danila zurück, sie hieb die Hacken in den weichen Boden, legte sich mit ihrem gesamten Gewicht gegen den Zug, den Dragons Körper auf die Liane ausübte. Dabei drehte sie langsam ihren Körper, bis sie in dem Dämmerlicht des frühen Morgens den gestürzten Baumriesen sehen konnte – und die dünne Liane, die sich über das Rund des Stammes spannte. Danila murmelte Stoßgebete, daß das Seil nicht reißen möge. Von Dragon war nichts zu sehen; das Mädchen konnte nur das Seil ausmachen. Erst nach drei weiteren Schritten erkannte sie Dragons Hand. Die Liane hatte sich tief ins Fleisch geschnitten; in schweren Tropfen lief dunkles Blut über das Gelenk.
»Aushalten!« schrie Danila. Der Unterarm wurde sichtbar, dann der zweite Arm, der in die Höhe geworfen wurde. Dragons Hand krallte sich an einem Aststummel fest. Danila spürte, wie der Zug auf die Liane sich ein wenig abschwächte. Ein Stöhnen der Erleichterung kam über ihre Lippen. Noch zwei Schritte. Danila sah, wie Dragon sich noch einmal in die Höhe schnellte; sein rechtes Bein schwang sich auf den Stamm. Danila verstärkte ihren Zug; während sie kraftlos vornüber fiel, schwang sich Dragon endgültig auf den breiten Stamm des Baumes, dessen Sturz beinahe sein Verderben geworden war. Noch war Dragon nicht in Sicherheit. Tief holte der Mann Luft, dann kroch er so schnell es seine zitternden Glieder zuließen, zurück auf das Sicherheit verheißende Land. Mit letzter Kraft schleppte sich Dragon zu Danila, dann brach er neben dem Mädchen zusammen. Der rechte Fuß Dragons war fast gelähmt, aber der Mann lächelte. Er sah neben sich Danila liegen; ihr Körper war zerschunden. Über ihre schmale Taille verlief eine blutverkrustete Wunde, die von der Liane geschnitten worden war. Ein zweiter, blutiger Ring zeichnete sich auf ihrem rechten Handgelenk ab. Dragon hatte ein ähnliches Wundmal aufzuweisen.
Vorsichtig bewegte sich der Mann, dem alle Glieder schmerzten. Er untersuchte Danilas Beinwunden – die Heilung hatte erstaunliche Fortschritte gemacht. Kriechend bewegte sich Dragon in den Dschungel; in mühevoller, immer wieder von qualvollen Schmerzanfällen unterbrochener Arbeit sammelte er Heilkräuter. Damit verband er zunächst das Mädchen, dann sich selbst. »Noch ist nicht alles geschafft!« murmelte Dragon finster. So sicher ihr Ruheplatz die Nacht über gewesen sein mochte; lange würde der trügerische Frieden nicht anhalten – Felsrutsche wie der gestrige konnten sich in jedem Augenblick wiederholen. Mühsam wandte Dragon den Kopf; sein Blick galt dem gestürzten Baum, der ihn fast ins Verderben gerissen hatte. Dragon stieß einen leisen Ruf der Freude aus, als er begriff, was er sah. Die Wurzeln des Baumes lagen auf seiner Kante der Schlucht; die Spitze des Riesen aber hatte auf der anderen Seite Halt gefunden. An dieser Stelle war der Baum länger gewesen als die Schlucht breit war. Es zeichnete sich eine echte Möglichkeit ab, diese Todesfalle zu überwinden. Dragon nickte zufrieden. Ein weiterer Blick hatte ihm gezeigt, daß die Schlucht hier kein Ende fand. Soweit sein Auge reichte,
sah er die Staubfontänen, die der Mahlstrom des Gesteins hervorrief – bis an den Horizont reichte der graue Nebel, der sich über der Schlucht bildete. Allerdings war die Sichtweite durch den Dschungel stark begrenzt, doch Dragon war sicher, daß es ihn Tagesmärsche gekostet hätte, das Ende der Schlucht zu erreichen. »Wir hatten Glück!« murmelte Dragon. »Wahnsinniges Glück!« Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf das Mädchen, das den Schlaf völliger Erschöpfung schlief. Es war ihm unbegreiflich, woher das Mädchen die Kraft zu seiner Rettung genommen hatte – und die Zuversicht, die ihn in diesem Augenblick fast vollständig verlassen hatte. Behutsam legte er Danila eine Hand auf die Schulter. Das Mädchen zuckte zusammen, fuhr in die Höhe und fiel stöhnend wieder zurück. »Ruhig, Danila!« sagte Dragon leise. »Ganz ruhig – es besteht keine Gefahr!« Unter seiner Handfläche fühlte er die Schultern des Mädchens krampfhaft zucken; noch litt Danila unter den Nachwirkungen der jüngsten Ereignisse, die sie geistig wie körperlich über alle Maßen beansprucht hatten. Dragon kannte Männer, kampferprobte Urgoriten, die Cnossos aus jeder seiner Höllen geholt hätten – und die unter solchen Strapazen mit großer
Wahrscheinlichkeit zusammengebrochen wären. Woher nahm das Mädchen den Willen, die Kraft und die Zähigkeit? War es der Wunsch, ihr Volk wiederzusehen? Der Mann, dem sie versprochen war? Oder Dragon selbst? Sanft streichelte Dragon das filzige Haar des Mädchens, das lautlos weinte und so den Schock bekämpfte. Sie war müde, ja erschöpft; ihr Körper war von Schmutz und geronnenem Blut bedeckt – dennoch erschien sie dem einsamen Wanderer in einer fremden Welt schöner denn je. So wie dieses Mädchen würde Amee um ihren Gatten gekämpft haben – vielleicht mit größerer Kraft, mehr Heißblütigkeit und kälterem Mut, gewiß aber nicht mit größerer Hingabe und stärkerem Willen. Amee – Dragon war von ihr weiter entfernt als Gedanken zu tragen vermochten, aber in dem gleichen Augenblick, in dem er mit stiller Bewunderung auf das zerschundene Mädchen neben sich schaute, wuchs in ihm der entschlossene Wille, die Trennung von Amee nicht endgültig werden zu lassen. »Danila!« sagte Dragon sanft. »Ich weiß, was es bedeutet – aber wir können hier nicht bleiben!« Das Mädchen hatte sich wieder beruhigt; Danila nickte tapfer, während in ihren dunklen Augen noch letzte Tränen glänzten. Hastig wischte Danila die Feuchtigkeit fort, dann bewegte sie sich langsam und richtete sich auf. Dragon sah ihr an, wieviel Kraft sie
diese Bewegung kostete – er spürte den Schmerz und die Erschöpfung in seinen Gliedern wüten. Langsam stand Danila auf; schwer stützte sie sich auf Dragons Schulter, als sie zögernd auf den gestürzten Baum zugingen, der die Brücke über die Schlucht der mahlenden Felsen bildete. »Müssen wir dort hinüber?« erkundigte sich Danila zaghaft; Dragon nickte. Die Brücke war unsicher. Von der Mitte des Stammes bis zum Wipfel erstreckte sich das Astwerk – zu jedem Zeitpunkt konnte der Mahlstrom einen der Äste ergreifen und den ganzen Baum mit sich ziehen. Der Blick auf die gegenüberliegende Kante war vom Astwerk verdeckt; die dichtwachsenden Blätter ließen nicht zu, daß Dragon die Festigkeit der Auflage schätzen konnte. Es war ein gefährliches Spiel, ein Würfeln mit höchst unsicherem Ausgang. Dragon konnte nicht ermessen, ob nicht die Würfel gezinkt waren. »Wir müssen es versuchen, Danila!« redete er dem Mädchen zu. »Der Baum hat dir gestern geholfen, mich zu retten – warum soll er nicht jetzt uns beide retten?« »Hilf mir!« bat Danila schwach. »Allein werde ich es nicht schaffen!« Dragon half ihr auf die Wurzel des Baumes, dann kroch er voran. Wieder hatte er sich durch zusammengebundene Lianen gesichert, aber diesmal
hatte er vorsorglich Blätter gesammelt und in dicken Lagen unter die Schlinge gelegt. Außerdem hatte er die Rettungsleine wesentlich kürzer gehalten – mit sicherem Auge hatte er die Liane so beschnitten, daß ein Abrutschen mehr als eine Elle oberhalb des Mahlstroms aufgefangen werden konnte – wenn sich der Partner auf dem Stamm halten konnte oder es mindestens schaffte, sich auf der anderen Seite des Stammes abgleiten zu lassen. Mehr konnte Dragon nicht tun. Langsam bewegte er sich auf dem Baum vorwärts, auf allen vieren kriechend. Gesteinsstaub wallte in dichten Schwaden hoch und nahm ihm immer wieder für kurze Augenblicke die Sicht. Das Atmen fiel schwer, weil sich der Staub ätzend auf die Lungen legte, und mit jedem Schritt, den Dragon vorwärts machte, nahm der Lärm des tosenden Stromes zu. Dragons Ohren begannen zu schmerzen – er wollte Danila etwas zurufen, aber er hörte seine eigene Stimme nicht mehr. Der erste Teil des Weges erwies sich als vergleichsweise einfach – mehr als drei Mannslängen hoch hing der Baum über dem sich wälzenden Gestein. Aber mit jedem überwundenen Schritt Entfernung wurde die Distanz geringer. Der Stamm des Baumes verjüngte sich allmählich, zudem wurde der Druck auf die Äste des Wipfels mit jedem Schritt größer. Wenn
der Baum auf der anderen Seite der Schlucht gerade soviel Stütze hatte, um sich selbst zu halten, dann konnte jeder Schritt dazu führen, daß die Brücke zusammenbrach. In der Mitte der Schlucht legten die beiden Wanderer eine Rast ein, da der erste Teil der Strecke enorm viel Kraft gekostet hatte. Der Stamm verjüngte sich allmählich, und es wurde immer schwieriger, auf der schlüpfrigen Fläche Halt zu finden. Unglücklicherweise war der Stamm so gefallen, daß die am stärksten bewachsene Seite oben lag – fast auf der gesamten Fläche wuchs seifiges Moos, in dem der Fuß kaum einen Halt fand. Leichter wurde das letzte Stück des Weges; die Krone des Baumes begann, und in dem reichen Astwerk fanden die Füße genügend Halt. Zwar war das Kriechen und Schlüpfen durch Äste nicht eben angenehm, dafür aber sehr sicher. Zweimal verlor Dragon, einmal Danila den Halt, aber jedesmal wurde der rutschende Körper nach wenigen Handbreiten Fall wieder aufgefangen. Nach einer Stunde anstrengenden Kletterns lag die Schlucht der mahlenden Felsen hinter ihnen. Wie gefährlich dieser Übergang gewesen war, zeigte sich auf der anderen Seite. Die Fläche, auf die sich die Baumkrone stützen konnte, war verblüffend klein. Noch während die beiden Menschen sich auf dem
Baum bewegten, brachen große Stücke des Erdreichs ab und stürzten in die Schlucht, und als Dragon wieder festen Boden unter den Füßen spürte – fest bedeutete, daß das Erdreich sich wie wild bewegte, aber nicht abbröckelte – konnte er sehen, daß der Dschungelriese in Wirklichkeit nur von den Wurzeln auf der anderen Seite gehalten worden war. Noch während Dragon und Danila sich erholten, mußten einige der Wurzeln gerissen sein – der Stamm rutschte ab und wurde von den Felsen zu einer Wolke aus Holzstaub zermalmt. »Ziemlich knapp!« murmelte Danila. Dragon konnte nur nicken. Im stillen hoffte er, daß ihnen das Glück auch weiterhin treu blieb – sie konnten es bitter nötig brauchen.
4.
Wieder Dschungel, wieder wuchernde Pflanzen, die den Marsch hemmten. Danila und Dragon hatten sich fast schon an den Urwald gewöhnt; Dragon nahm kaum mehr wahr, wie er mit Hilfe von Muras Amulett freie Bahn schafft und die Pflanzen zum Ausweichen
brachte. Ihm fiel auf, daß der Dschungel nicht mehr ganz so dicht war wie am Rande des Gebirges. Die Bäume standen nicht mehr so nahe beieinander, der Boden setzte dem Schritt mehr Widerstand entgegen und die vielfältigen Verflechtungen der Bäume, Lianen, Sträucher und Luftwurzeln schienen nicht mehr ganz so verwirrend und undurchdringlich. Dragon merkte, daß diese Veränderungen Danila sichtlich Auftrieb gaben. Wenn der Boden unter ihren Füßen fester wurde, konnte das nur bedeuten, daß sich ein Ende der Dschungelstrecke abzeichnete. Wie groß der Weg bis zum Rand des Urwalds sein mochte, konnte Dragon nicht abschätzen, aber wichtig war, daß er überhaupt ein erreichbares Ende hatte. Der Mann konnte sich an den Fingern ausrechnen, wann für ihn und Danila die äußerste Grenze des Erreichbaren überschritten war. Vier, fünf Tage – höchstens eine Woche, länger würde Danila nicht durchhalten. Für sich selbst rechnete Dragon einen Tag mehr. Dankbar klammerte er die rechte Hand um das Amulett; es hatte ihn nicht im Stich gelassen. Von einer Anhöhe aus hatte Dragon erkennen können, daß sie dank des Amuletts tatsächlich ziemlich genau nach Westen gewandert waren. Zwar verlief der Weg gekrümmt, gewunden wie ein Flußlauf, der auch
dem geringsten Widerstand folgt, aber die Grundrichtung war richtig. Unwillkürlich fragte sich der Mann, was nach dem Dschungel kommen konnte. Auf Danilas Welt schien alles möglich. Dragon konnte sich nicht einmal völlig sicher sein, daß das Meer, das er vom Gebirge aus hatte schwach erkennen können, wirklich vorhanden war. Zuviel hatte er gesehen und erlebt, was die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Wahn verschwimmen ließ – wo die Elemente sich austobten, waren die Grenzen fast aufgehoben. Dragon erinnerte sich an den Hüter der Flammenblumen – sein Fußabdruck war echt, sein Hals offenkundig nicht. Von Stunde zu Stunde wurde der Marsch leichter. Ab und zu sah Dragon Steine und Felsblöcke zwischen den Bäumen liegen und aus dem Boden ragen – auf dem steinigen Untergrund fanden die Pflanzen weniger Nahrung als in der feucht-heißen Hölle des eigentlichen Dschungels. Dragon hob die Hand und winkte Danila zu; das Mädchen sah das Zeichen und blieb neben dem Mann stehen. »Kannst du dir vorstellen, was das zu bedeuten hat?« wollte Dragon wissen. Danila schüttelte hilflos den Kopf. Vor ihnen zeichnete sich auf dem Boden eine Fährte
ab, genauer gesagt ein richtiger Weg. Es sah aus, als seien schon Hunderte von Menschen – oder Tieren auf dieser Fährte geschritten. Sofort wurde Dragon mißtrauisch – dieser Hinweis war zu offenkundig, zu einladend. »Wir sollten uns eine andere Bahn suchen!« entschied er endlich und sah Danila an. Das Mädchen schien die gleichen Gedanken gehegt zu haben und nickte rasch. Da der Weg sich ebenfalls nach Westen richtete, blieb Dragon nichts anderes übrig, als sich neben dem einladenden Pfad eine neue Fährte zu suchen. Fast bedauerte er seinen Entschluß – der vorgezeichnete Pfad war frei von Bewuchs, glattgetrampelt und wurde von der Sonne beschienen, während Dragon sich weiter mit erheblicher Mühe durch den Wald wühlen mußte. Aber gerade die auffälligen Vorteile des Pfades machten den Mann stutzig. Die Tage im Dschungel und die heimtückischen Fallen auf den anscheinend so friedlichen Hügeln hatten ihm gezeigt, daß es besser war, stets das Schlimmste zu vermuten. Immerhin, diesmal wußte er bereits – oder er glaubte zu wissen –, daß es vor ihm auf seinem Weg eine Gefahr gab, eine neue Gefahr, die sich von der Bedrohung durch den Dschungel unterschied. Auf Danilas Gesicht zeichnete sich langsam eine steigende Enttäuschung ab.
Zunächst hatte es so ausgesehen, als sei das Ende des Dschungelmarsches nahe, aber mittlerweile war der Bewuchs wieder dichter geworden. Immer häufiger mußte Dragon sein Schwert einsetzen, um sich freie Bahn zu verschaffen. Zudem nahm die Wirkung des Amuletts in bedrohlichem Maße ab. Offenbar hatten sie eine Zone erreicht, in der die Elementargeister besonders große Kräfte entwickeln konnten, Kräfte, die auch Muras Amulett nicht zu bezwingen vermochte. Dragon sah nach dem Stand der Sonne; es würde nur noch wenige Stunden lang hell sein, dann brach die Nacht an – und damit der schaurige Tanz des Dschungels, den Dragon unter allen Umständen vermeiden wollte. »Es bleibt uns keine andere Möglichkeit!« sagte er zu Danila. »Wir müssen uns an den Weg halten, der uns vorgeschlagen wird!« Er deutete auf den Pfad; der glattgetretene Boden zeichnete sich deutlich ab und war gut durch die Bäume hindurch zu erkennen. Nur dort waren die Bäume so weit voneinander entfernt, daß ein leichtes Fortkommen möglich war. Der Pfad wand sich durch den Urwald; wäre Muras Amulett nicht gewesen, hätte Dragon schon nach kurzer Zeit nicht mehr gewußt, in welcher Grundrichtung der Weg eigentlich verlief. Das Amulett
und der Stand der langsam sinkenden Sonne zeigte ihm, daß er weiter nach Westen vordrang. Der Weg wurde steiler, schlängelte sich einen Berg hinauf, dessen Spitze sich scharf gegen den Himmel abzeichnete. Eigentlich hätte Dragon den Berg schon vor Tagen sehen müssen – er wunderte sich nicht mehr darüber, daß dies nicht der Fall gewesen war. Danilas Welt, dachte er resignierend. Einige hundert Doppelschritte weiter senkte sich der Weg wieder; die Bergwände schienen näherzurücken, und nach kurzer Zeit bewegten sich Dragon und Danila in einer Schlucht, die kaum breiter war, als ein Mann reichen konnte. Vorsichtshalber hatte Dragon eine Fackel angesteckt, deren unruhiges Licht jetzt den Weg ausleuchtete. Danila schob sich näher an Dragon heran – in der Beleuchtung der Fackel nahmen die Felsen ringsum die Form von Ungeheuern an, die drohend auf die beiden Wanderer niederzustarren schienen. Gesichter schienen sich abzuzeichnen – große Kiefer mit mörderischen Gebissen, gierige Krallen drohten nach Danila und Dragon zu greifen. Dragon spürte die Angst des Mädchens, und auch ihn beschlich ein Anflug von Furcht. »Es sind nur Steine, Mädchen!« versuchte er Danila zu beruhigen. »Nur!« wiederholte Danila seufzend. Ihre Augen weiteten sich, als sie sah, welches
Hindernis sich ihnen in den Weg stellte. Vor den beiden Menschen ragten zwei Gestalten in die Höhe, jede mindestens vier Mannslängen hoch und entsprechend breit. Ihre gigantischen Körper versperrten den weiteren Weg vollkommen. Auch Dragon schluckte, als er die Gestalten sah und erkannte, woraus die Riesenleiber bestanden. Die beiden Gestalten waren aus Stein, der grauschwarz im Licht der Fackel schimmerte. Sie sahen aus, als sollten sie den Zugang zu einem Geheimnis bewachen. »Verdammt!« knurrte Dragon. »Wie kommen wir jetzt weiter?« Die beiden Steinriesen waren bewaffnet; Dragon sah eine steinerne Rüstung, ein Schwert aus Stein. Unwillkürlich glitt sein Blick über die Einzelheiten – die Figuren waren mit unerhörter Meisterschaft gebildet. Jede Kleinigkeit stimmte mit den Einzelheiten eines menschlichen Körpers überein, war jedoch um das Vierfache vergrößert. Fast glaubte Dragon, in der Kehlgrube der Wachen Blut pulsieren sehen zu können, aber das war sicher eine Täuschung, hervorgerufen vom unsicheren Licht der Fackel in seiner Hand. Dann öffnete der linke Wächter den Mund. »Halt!« Die Stimme rollte wie ein Donnerschlag durch die Stille; Dragon glaubte das Mark in seinen Knochen
gefrieren zu fühlen. Steine, die lebten? »Weichet von diesem Ort!« sagte der linke Wächter und hob gebieterisch die rechte Hand, die ein Schwert umklammert hielt. Dragon sah, wie sich die Spitze auf seinen Kopf zubewegte, und er sah auch, daß die Schneide an Schärfe der seines Schwertes nicht nachstand. »Weichet!« wiederholte der Wächter. »Ihr seid des Todes, wenn ihr das Tal der Tränen betretet!« »Das Tal der Tränen?« wiederholte Danila furchtsam. »Wirst du uns hindern, Wächter?« wollte Dragon wissen. Hinter ihm lag der nächtliche Dschungel, in den er nicht zurückkehren wollte. In der Schlucht zu bleiben, war ebenfalls tödlich – die Nacht versprach mörderisch kalt zu werden, und durch die Schlucht fegte ein starker Wind, der die Haare der Menschen wild fliegen ließ. »Wenn du es verlangst, Fremdling, werden wir den Weg freigeben!« erklärte der steinerne Wächter. »Aber wisse – es gibt kein Zurück! Wer das Tal der Tränen betreten hat, muß es am jenseitigen Ende wieder verlassen! Wir werden jeden zurückhalten, der versucht, wieder auf dieser Seite des Tales zu entschlüpfen!« »So gib den Weg frei!« bestimmte Dragon.
Er hielt Danila am Handgelenk fest, um sie zu beruhigen, während der linke Wächter in einer fließenden Bewegung sein Schwert zurücknahm. Dann kehrten beide Wachen den Wanderern die Seite zu – zwischen ihren Beinen bildete sich ein schmaler Durchlaß, gerade breit genug, um Danila und Dragon durchschlüpfen zu lassen. Während er sich durch die Enge zwängte, faßte Dragon nach dem Bein eines der Steinriesen. Er fühlte Fels, hart und spröde und ebenso kalt wie der Wind, der eisig durch die Schlucht fegte. Sobald Dragon und Danila das Innere des Tales erreicht hatten, drehten sich die Wächter wieder um und kehrten den Wanderern den Rücken zu. Der Vorgang verlief völlig geräuschlos, und Dragon spürte, wie sich ein unangenehmer Geschmack auf seiner Zunge regte. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Tal zu. Dragon sah einen Talkessel, geformt wie eine Fläche, die beim Überschneiden zweier Kreise entsteht. Lotrecht fielen die Wände des Kessels aus finsteren, unendlich erscheinenden Höhen herab. In der Mitte des Tales sah Dragon einen kreisrunden Fleck, der offenbar mit Gras bewachsen war. Gekrönt wurde der Ort von einem ebenfalls kreisrunden Brunnen, dessen Wasser schwärzlich zu den beiden Wanderern hinüberblinkte.
Das ganze Tal lag unter einem merkwürdigen, blaugefärbten Licht, das von überall zugleich zu kommen schien. Das Licht strahlte nicht sehr hell, reichte aber aus, um jeden Gegenstand erkennen zu lassen. »Sieht nicht übel aus!« bemerkte Dragon verblüfft. Langsam stiegen die beiden Menschen zum Mittelpunkt des Tales hinab, dorthin, wo der Rasen zur Ruhe förmlich einlud. Außerdem verspürte Danila einen brennenden Durst, den sie am Brunnen löschen wollte. Ihre Füße gingen auf Marmor, der weiß und kalt den Boden des Tales bildete. Dragon fühlte mit der Hand – das Gestein war so glatt, als sei es von einem Steinmetz geschliffen und poliert worden. Ein neues Geheimnis dieses merkwürdigen Tales. Der runde Fleck in der Mitte des Tales war wirklich mit Gras bewachsen – merkwürdigerweise war der weiche Untergrund warm. Auch von dem eisigen Wind, der über die Höhen des Berges strich, war im Innern des Tales nichts zu spüren. Jetzt begriff Dragon auch den Namen dieses Ortes – aus der Sicht eines Vogels mußte das Tal aussehen wie ein menschliches Auge, aus dem beständig Tränen quollen, die der Brunnen lieferte. An einer Stelle der Umrandung lief das Wasser über die Steine hinweg, sammelte sich in einem schmalen Bach
und strömte davon. Dragon hatte keine Lust, genau festzustellen, wo das Wasser den Talkessel wieder verließ. Daß der Brunnen auf dem tiefsten Punkt des Tales lag, das Wasser folglich gegen den Berg strömte, verwunderte ihn nach dem bisher Erlebten nicht weiter. Warum sollte auf Danilas Welt das Wasser nicht manchmal bergauf strömen, dachte Dragon sarkastisch. Der Brunnen erregte sein Interesse. Vorsichtig streckte Dragon den Kopf über die spiegelnde Wasserfläche, und ebenso vorsichtig kostete er davon. Das Wasser war kalt und schwarz; Dragon starrte verblüfft auf die hohle Hand, mit der er das Wasser geschöpft hatte – durch die Flüssigkeit hindurchzusehen war unmöglich. Dort wo seine Hand feucht war, sah Dragon schwarze, glänzende Flecken, nicht aber seine Haut. Wieder kostete er von dem Wasser. Es war unzweifelhaft Wasser; Dragon konnte keinen Beigeschmack herausfinden. Dennoch war das Wasser schwarz. »Auch gut!« murmelte er schulterzuckend. »Warum nicht schwarzes Wasser?« Er grinste still in sich hinein, als er Danila sah; das Mädchen hatte sein Kosten genau verfolgt und starrte ihn jetzt an, als warte sie auf irgend etwas. »Keine Sorge, Mädchen!« sagte Dragon mit leisem
Spott. »Ich werde nicht umfallen – das Wasser ist nicht giftig!« Danila machte ein verlegenes Gesicht, dann trank sie ebenfalls in langen, gierigen Zügen. Anschließend machten sie sich daran, die Vorräte zu verzehren. Zwar sahen einige der Früchte in dem merkwürdigen blauen Licht alles andere als appetitlich aus, aber der Geschmack hatte sich nicht geändert, und beide Menschen hatten Hunger. Eine wirklich merkwürdige Stimmung herrschte im Tal der Tränen: Dragon fühlte sich auf eine seltsame Art erleichtert, eine wohlige Müdigkeit nahm ihn gefangen. Zum erstenmal seit Tagen hatte er das Gefühl, sich in einer Sicherheit zu befinden, die nicht gefährdet war. Seine Muskeln entspannten sich von den Anstrengungen der letzten Tage und Nächte. Neben ihm war Danila schon eingeschlafen; wie ein kleines Kind hatte sie sich auf dem warmen und weichen Gras zusammengerollt. Auch Dragon fühlte die Versuchung einzuschlafen, aber sein Instinkt sagte ihm, daß wenigstens er wach bleiben mußte – dieser Ort war so angenehm, wie er es sich nur hatte erträumen können. Warum also die Warnung der steinernen Wächter? »Wo ist der Haken?« murmelte der Mann. Er wollte aufstehen und das Tal einmal abschreiten, aber dann fiel ihm wieder Danila ein. Er durfte das
Mädchen nicht allein am Brunnen zurücklassen. Die schwarze Farbe des Wassers ließ vermuten, daß auch hier die Geister herrschten, die der Namenlose durch seine Experimente heraufbeschworen hatte. Dem Frieden in dem Tal war nicht zu trauen. Drei Tage später war Dragon noch immer mißtrauisch. Gleich in der ersten Nacht hatte ihn der Schlaf übermannt; nur kurze Zeit nach Danila war er zur Seite gesunken und eingeschlafen. Als er wieder erwacht war, hatte sich nichts verändert; ohne Unterlaß plätscherte das schwarze Wasser über den Rand des Brunnens und floß davon. Unverändert blieb auch die gespenstische Beleuchtung – tags und nachts strahlte das unwirkliche blaue Licht auf die skurrile Landschaft herab. Die zauberischen Kräfte des Tales hatten ein übriges getan – beim Erwachen fanden die beiden Menschen neben sich einen Haufen Nahrungsmittel, Früchte, Nüsse und sogar ein großes Stück kalten Braten, der vorzüglich schmeckte. So hatte sich Dragon widerwillig dazu entschlossen, für längere Zeit im Tal zu bleiben. Danila brauchte dringend Erholung, und er selbst gestand sich ein, daß auch seine Kräfte einer Auffrischung bedurften. So waren drei Tage verstrichen; den größten Teil der Zeit hatten sie schlafend verbracht.
Die Wunden, die sie in den Tagen vorher erhalten hatten, waren fast zur Gänze verschwunden; am Morgen des dritten Tages im Tal entschloß sich Dragon, den Weg fortzusetzen. Genau wußte er nicht, ob es Morgen war – das blaue Geisterlicht ließ keine Bestimmung der Tageszeit zu. »Gut!« stimmte Danila heiter zu. »Brechen wir auf!« Die Stimmung des Mädchens hatte sich wesentlich verbessert; sie fühlte sich wieder erstarkt und frisch. Auch ihre Zuversicht hatte sich wieder eingestellt. In raschem Tempo marschierte Dragon voran, auf das Ende des Tales zu. Er wußte, was ihn erwartete, und zeigte keine Überraschung, als er die beiden Steinriesen sah, die den Ausgang versperrten. Steinerne Gesichter starrten auf Dragon herab, als er sagte: »Gebt uns bitte den Weg frei!« Langsam bewegten sich die Köpfe der Wächter von einer Seite zur anderen. Grollend erklang eine Stimme. »Kein sterbliches Wesen kann uns passieren! Weiche, Fremdling – du hast dir dein Schicksal erwählt, nun trage es!« Die Bewegung, mit der sich zwei Schwerter aus geschliffenem Stein zu Dragon herabsenkten, war so schnell, daß Dragon kaum mit dem Auge zu folgen vermochte. Innerlich hatte er gehofft, die Riesen
würden ebenso langsam wie hoch sein – nun sah er sich grausam getäuscht. An Schnelligkeit waren die Wächter ihm weit voraus – auf diesem Weg würde er das Tal nicht verlassen können. Dragon unterdrückte einen Fluch, als er sich zu Danila umdrehte, die mit einem bedrückten Gesichtsausdruck hinter ihm stand, und deren Hoffnungen ebenfalls zerstört waren. »Nur nicht aufgeben, Mädchen!« knurrte Dragon grimmig. »Wir werden schon einen Ausweg finden!« Er gestand sich ein, daß er kaum glaubte, was er mit großer Zuversicht aussprach. Mit Sicherheit waren die Wächter auf der entgegengesetzten Seite des Tales ebenso unerbittlich wie die Gestalten, vor denen Dragon stand. Dann gab es nur noch eine einzige Möglichkeit, aus dem Tal zu entkommen: Irgendwo mußte es eine Lücke geben in den steilen Wänden des Kessels – dort, wo der Bach das Wasser des Brunnens aus dem Kessel herausführte. Vielleicht war es möglich, sich an dieser Lücke einen Ausweg zu bahnen. Nachdenklich betrachtete Dragon die Wände der Schlucht; sein Auge suchte nach Vorsprüngen, Vertiefungen und Kanten, an denen man sich hätte in die Höhe arbeiten können. Aber er fand nichts – die Seitenwände des Kessels waren ebenso glatt wie der marmorne Boden. Es gab keine Aufstiegsmöglichkeit,
mußte Dragon erbittert einsehen. Während er sich mit dem Mädchen in das Innere des Tales zurückzog, veränderte sich die Farbe des Himmels. Das Leuchten wechselte die Farbe, wandelte sich vom hellen Blau zu einem düsteren, bedrohlichen Rot. Danila stieß einen Schrei aus. »Dragon!« rief sie verängstigt. »Die Augen!« Was Dragon sah, hätte aus einem Alptraum stammen können. Die glatten, massiven Wände des Talkessels hatten sich schlagartig verwandelt. Eine unübersehbare Menge von Augen sah auf die beiden Menschen nieder, Augen in jeder Größe und Farbe. Dragon schluckte, als er seinen Blick schweifen ließ. So weit er sehen konnte, wurde er angestarrt, und Dragon glaubte, in den Augen einen tödlichen Haß lesen zu können. Neben ihm begann Danila zu wimmern. Das Mädchen schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte sich in krampfhaftem Weinen – sie ertrug es nicht, unausgesetzt beobachtet zu werden. »Das Tal der Tränen!« murmelte Dragon erstickt. Aus den Augen quollen Tränen; sie entstanden in den Augenwinkeln und liefen langsam an den Rändern der Augen entlang, flossen auf den Marmorboden. Vier rasche Schritte brachten Dragon bis hart an die Felswand. Er streckte die Hand aus, griff in einen Tropfen, der den Umfang seines Oberkörpers hatte und
aus einem Auge rann, das mindestens sechs Mannslängen durchmaß. Bis zum Armgelenk tauchte sein Arm in den Tropfen ein, ohne das Gebilde zu zerstören. Die Flüssigkeit war warm und auch salzig. Langsam wichen die beiden Menschen zurück, flüchteten sich in die scheinbare Sicherheit der Talmitte, wo noch immer das monotone Plätschern des Brunnens erklang. Als sie das Gelände erreicht hatten, mußten sie feststellen, daß der Rasen rings um den Brunnen naß war – die Flüssigkeit war warm und salzig. »Das Tal will uns ersäufen!« stellte Dragon grimmig fest. Es war sinnlos geworden, nach dem Abfluß des Baches zu suchen; mit Sicherheit war er inzwischen verstopft und abgesperrt worden. Die Todesfalle war perfekt. Irgendwo in der Luft erklang ein Ton, ein sehr tiefes Brummen, das an- und abschwoll. Dragon fühlte, wie etwas von seinem Verstand Besitz ergriff, ihn wehrlos machte. Langsam, aber unaufhaltsam befiel ihn eine tiefe Niedergeschlagenheit. Dragon versuchte sich zur Wehr zu setzen, aber der Versuch mißlang. Trauer machte sich in ihm breit und steigerte sich zur Verzweiflung. Das Gefühl war nicht echt; im hintersten Winkel seiner Gedanken wußte Dragon, daß etwas mit ihm
vorging, aber er konnte sich dem Bann nicht entziehen. Langsam sank er in die Knie, fiel vornüber und wand sich auf dem Boden, auf dem das Wasser Fingerbreit um Fingerbreit stieg. Mit schwarzen Fingern griff die Verzweiflung nach seinem Verstand und preßte ihm die Brust zusammen. Dragon wollte schreien, aber kein Ton kam über seine Lippen – in seinem Innern wurde alles zerstört, was für ihn wertvoll war. Grenzenlose Einsamkeit bemächtigte sich des Mannes und machte ihn wehrlos. Er sah seine Freunde sterben, verlor Amee; Urgor und Mura zerfielen zu Staub – Dragon wanderte durch eine Welt, die kein Leben mehr trug. Es war eine Welt der Finsternis und des Grauens, in der sich nichts regte. Eine unbekannte Macht durchwühlte seinen Verstand und überschwemmte seine Gedanken mit allen Erinnerungen an Niederlagen, Fehlschläge und enttäuschte Hoffnungen. Bis weit in die Vergangenheit zurück ging dieses qualvolle Erinnern – wieder tauchte Mura in Dragons Erinnerungen auf. Der letzte wache Funke in Dragons Verstand regte sich wieder, setzte zum Gegenangriff an. In einem lautlosen, unerbittlichen Ringen drängte Dragon die peinigenden Gedanken zurück, mehr und mehr klärte sich sein Geist. Endgültig klar wurde er, als Wasser in seinen Mund lief und er husten mußte. Ächzend und spuckend richtete sich Dragon auf; in
seinem Schädel tobte noch immer ein unerbittlicher Kampf, aber Dragon war wach genug, um wieder handeln zu können. Neben ihm lag der regungslose Körper von Danila. Mühsam richtete Dragon das Mädchen auf, kurz bevor das steigende Wasser ihren Mund erreichen konnte. Das Mädchen wimmerte leise, ihr Körper begann unkontrolliert zu zucken. Dragon stand auf; das Wasser reichte ihm bis an die Waden. Wieder änderte sich der Himmel. Ein fahles Gelb strahlte auf den Talkessel herab, ab und zu zuckte ein schwarzer Blitz durch die Helligkeit und tauchte das Tal für Augenblicke in völlige Dunkelheit. Ratlos sah sich Dragon um. Irgendwo mußte es eine Möglichkeit geben, diese Hölle zu verlassen. Dragon weigerte sich daran zu glauben, daß er und Danila endgültig verloren waren. »Hört mich, ihr Hüter des Tales der Tränen!« rief er mit höchster Lautstärke. »Hört mich – euer erster Angriff ist fehlgeschlagen. Ich lebe noch!« »Wir sehen dich, Fremdling!« antwortete ein dröhnender Chor aus vier Stimmen. »Wahrlich, du hast dich retten können. Das hat noch keiner erreicht, der das Tal der Tränen betrat! So wisse – es gibt eine Möglichkeit, dein Leben zu bewahren! Finde sie, und du bist gerettet!« »Wo soll ich suchen?« rief Dragon zurück, von neuer Hoffnung erfüllt.
»Sieh dich um!« lautete die donnernde Antwort. »Der Weg ist vorgezeichnet – aber er wird dir nicht mehr lange offenstehen!« »Werdet deutlicher!« schrie Dragon, aber er hörte keine Antwort. Die Hüter des Tales waren verstummt; ihre steinernen Münder schwiegen, und Dragon spürte, daß sie sich nicht wieder öffnen würden. »Sieh dich um!« wiederholte er nachdenklich. Er rückte die Last von Danilas Körper zurecht, während sein Blick über die Landschaft wanderte. Er hatte Mühe, dem Blick der unzähligen Augen standzuhalten. Immer neue Tränen liefen an den verwandelten Felswänden herab und füllten den Talkessel. Knietief stand Dragon in der warmen, salzigen Flut, die unaufhaltsam anstieg. »... nicht mehr lange offenstehen!« erinnerte sich Dragon ratlos. Was konnten die Hüter des Tales mit diesen Worten gemeint haben; Dragon drehte sich herum, um die andere Seite des Talkessels abzusuchen, aber auch hier bot sich ihm das gleiche Bild – Augen, die ihn anstarrten und weinten. Ein schwarzer Blitz verdunkelte für einen Herzschlag die Szenerie. Und im gleichen Augenblick durchfuhr Dragon ein Gedanke. Wenn er recht behielt, war die Ausbruchsmöglichkeit zwar absurd, aber tatsächlich
aus den Worten der Hüter herauszulesen. Irrte sich Dragon – ein Tod war so gut oder schlecht wie der andere. Entschlossen faßte Dragon den Körper Danilas fester; wenn sein Plan fehlschlug, würde sie kaum etwas spüren. Dragon machte drei Schritte vorwärts, dann stand er am Rande des Brunnens, dem noch immer kaltes schwarzes Wasser entströmte. Kopfüber stürzte sich Dragon in die Öffnung. Das kalte Wasser brannte auf der Haut, aber der Mann nahm das kaum wahr. Er fühlte, wie eine gewaltige Kraft nach ihm griff und ihn herumwirbelte. Deutlich konnte er spüren, wie ihn der Strudel in die Tiefe riß – selbst wenn er es gewollt hätte, wäre eine Umkehr nicht mehr möglich gewesen. Unwillkürlich riß Dragon die Augen auf; aber er sah nur Schwärze, die ihn umgab und mit sich riß. Der Mann verlor jegliche Kontrolle über seine Bewegung, er wußte nicht mehr, ob er abwärts trieb oder in die Höhe gezerrt wurde. In seinen Ohren klang das Gurgeln des wild strömenden Wassers, in seinen Armen spürte er Danila schwach zucken. Der Druck auf die Brust des Mannes verstärkte sich; es schien ihm, als habe sich eine unsichtbare Faust um seinen Brustkorb gekrallt und drücke ihn unerbittlich zusammen. Vor seinen Augen tanzten farbige Schleier, und sein Schädel dröhnte im Takt des hämmernden
Herzens. Noch während er den Arm spannte, um Danila nicht zu verlieren, schlug etwas hart an seinen Kopf, dann versank Dragon in einer gnädigen Ohnmacht. »Das Tal der Tränen selbst hat mir den Weg gezeigt«, erklärte Dragon dem Mädchen. Sie hatten sich am Fuß des Berges wiedergefunden, allerdings auf der anderen Seite. Danila war als erste aus ihrer Bewußtlosigkeit erwacht und hatte aus dem nahen Dschungel Nahrung herangeschafft. »Ich verstehe nicht ganz!« sagte das Mädchen kauend. »Wie sah dieser Hinweis aus?« »Erinnere dich, wie das Tal geformt war«, erklärte Dragon mit vollem Mund; die Beeren schmeckten herrlich frisch. »Es war geformt wie ein Auge, nicht wahr?« »Das ist sogar mir aufgefallen!« versetzte das Mädchen, während sie nach einer dickschaligen Nuß griff. Dragon öffnete die Nuß mit einem Schwerthieb, dann fuhr er fort: »Während alle Augen, die sich in der Felswand gebildet hatten, uns anstarrten, war das Auge des Kessels von uns weg gerichtet – es schaute gleichsam in die Erde hinein, nicht heraus!« Er unterbrach sich, um den Mund zu säubern, bevor der klebrige Saft auf seinen Körper tropfte.
»Wenn es also einen Weg aus dem Tal heraus gab«, setzte er seine Erklärung fort, »dann mußte dieser Weg durch die einzige Öffnung führen, die nicht in das Tal hinein gerichtet war – eben durch jenen Brunnen!« »Aber das Wasser?« erinnerte ihn Danila. »Es floß doch in das Tal hinein?« Dragon zuckte mit den Schultern. »Ich kann es mir nicht erklären«, räumte er freimütig ein. »Immerhin, wir sind wieder im Freien!« Ein Blick in die Höhe auf den Sonnenstand zeigte, daß es früher Morgen sein mußte. Sobald die Mahlzeit beendet war, wollte Dragon weitermarschieren. Bevor er aufbrach, sah er sich noch um; sein Standort ließ zu, daß er den Urwald eine beträchtliche Strecke weit überblicken konnte. Aber sein mißtrauischer Blick fand nichts, was auffällig gewesen wäre. Ganz am Rande des Sichtfelds wechselte der Farbton der Landschaft – aber es handelte sich nur um den Unterschied zwischen zwei verschiedenen Formen der Farbe Grün. Immerhin ließ dieser Wechsel Raum für die Vermutung, daß sich dort die Grenze des Dschungels befand und danach eine andere Form der Landschaft vorherrschen würde. Danila stand neben dem Mann und machte ein zufriedenes Gesicht. »Zwei Tagesmärsche, vielleicht einer mehr!« schätzte sie die Entfernung. »Ich glaube, wir haben den
schlimmsten Teil unserer Reise geschafft!« »Hoffentlich!« wünschte Dragon halblaut; er glaubte nicht daran, daß die Kette der Überraschungen, Gefahren und Torturen jetzt ein Ende finden würde. Solange sie Danilas Stamm und die Stille Zone, in der ihr Volk lebte, nicht erreicht hatten, würde es vermutlich keinen Tag ohne Aufregungen, keine Nacht ohne Störungen geben. Dennoch – der Marsch mußte weitergehen. Ein Rasten konnten sich die beiden Wanderer im Wilden Land nicht leisten. Besser noch als in den Tagen zuvor kamen sie voran; selten nur mußte Dragon sein Schwert einsetzen, um sich freie Bahn zu verschaffen. Wie wahr die Hüter des Tales ihre Warnung gemeint hatten, ging klar aus der schlichten Tatsache hervor, daß der Weg, auf dem die beiden Menschen das Tal betreten hatten, auf der anderen Seite keine Fortsetzung hatte. Doch es erwies sich nicht als allzu schwer, einen Weg durch den Urwald zu finden – immer lockerer wurde der Bewuchs, und nach einiger Zeit hatte es jeglichen Sinn verloren, sich mit dem Schwert durchzuschlagen. Ohne Mühe konnte Dragon Hindernisse umgehen; die Strecke, die sie in der nächsten kurzen Zeitspanne zu gehen hatten, konnte meist weit eingesehen werden. Dennoch ließ Dragons Wachsamkeit in keinem Augenblick nach.
5.
Wieder senkte sich die Nacht über den Dschungel; es wurde Zeit, sich einen Lagerplatz zu suchen. Den ganzen Tag lang, von zwei kurzen Pausen unterbrochen, waren Dragon und Danila gewandert, und sie fühlten sich rechtschaffen müde. Dragon hatte kein so hohes Tempo angeschlagen wie in den Tagen zuvor – der Urwald war so aufgelockert, daß er in den Bäumen keine Gefahrenquelle mehr sah. So sorgfältig er auch lauschte, von dem eigentümlichen Singen der Bäume war nichts mehr zu hören; die Wanderer konnten es sich also leisten, eine Nacht im Dschungel zu verbringen. Dennoch war Dragon nicht ganz zufrieden; während des Essens sah er sich immer wieder nach allen Seiten um und lauschte. Nichts rührte sich, was auf Gefahr hätte schließen lassen – wenn sich die Bäume bewegten, dann nur an den Wipfeln und unter dem Druck des Windes. Erst geraume Zeit nach Einbruch der Dunkelheit war Dragon davon überzeugt, daß er die Nacht verschlafen konnte und nicht an Danilas Seite Wache halten mußte. Er legte sich unter
einen hohen Baum, der das Mondlicht abhielt, und war nach kurzer Zeit fest eingeschlafen. Die Nachtkerze wuchs beängstigend schnell. Ein Herz hätte nur wenige hundert Male zu schlagen brauchen, dann hatte das Gewächs eine Höhe von vier Handspannen erreicht. Während sich das Wachstum verlangsamte, bildete sich die große, feuerrote Blüte aus und entfaltete sich. Ein gelber, feuchtglänzender Trieb wuchs aus dem Innern der Blüte und hatte nach einer Stunde eine Länge von zwei Ellen erreicht. Lautlos bewegte sich der Trieb durch das Dunkel; in regelmäßigen Abständen öffneten sich an der Spitze des Triebes kleine grüne Poren und schlossen sich wieder. Die Nachtkerze hatte ihr Ziel gefunden. Die mörderische Pflanze entwickelte den Trieb weiter, gleichzeitig schwoll die Blüte so stark an, wie es die Abmessungen des Opfers verlangten. Dann schlug die Pflanze zu. Ein Würgen und Röcheln klang schwach durch die Nacht, dann war wieder Stille. »Danila!« rief Dragon. Er hatte die Hände zu einem Trichter vor dem Mund geformt und schrie in den Wald, doch es kam keine Antwort.
Als er erwacht war, hatte er den Platz neben sich, wo sich Danila zur Ruhe gelegt hatte, leer gefunden. Wahrscheinlich war das Mädchen früher als er erwacht und trieb sich jetzt im Wald herum, um Nüsse und andere eßbare Früchte für das Frühstück zu sammeln. »Sie will mich überraschen«, vermutete Dragon lächelnd. »Gut, machen wir ihr eine Freude!« Er legte sich wieder auf den Boden und schlief sofort wieder ein. Als er zum zweitenmal die Augen öffnete, hatte die Sonne bereits den halben Weg bis zum Zenit zurückgelegt – und von Danila fehlte jede Spur. Jetzt begann Dragon sich ernstlich Sorgen zu machen. »Danila!« klang sein Ruf durch den Wald, ohne eine Antwort zu finden. Dragon sah sich suchend um; wo konnte das Mädchen sein. Vorwärts, in Richtung Westen, war sie vermutlich nicht gegangen – Dragon hatte ihr eingeschärft, ihm den Vortritt zu lassen, da nur er ein Schwert besaß. Wahrscheinlich war Danila ein Stück Weges zurückgegangen Dragon konnte sich erinnern, auf dem Hinweg eine größere Menge fruchtbeladener Sträucher gesehen zu haben. Leicht erzürnt über Danilas Verhalten machte sich Dragon auf den Weg und suchte Danila. Fast eine Stunde lang schritt er auf dem Weg zurück, den er am Abend gekommen war – aber von Danila fand sich
keine Spur. Sorgfältig suchte Dragon die Strecke nach Abdrücken von Danilas Füßen ab, ohne jeden Erfolg. Erregt kehrte er zum Rastplatz zurück, mit der leisen Hoffnung, Danila dort vorzufinden – und dem festen Entschluß, ihr handgreiflich klarzumachen, wie wenig er von solchen Sonderausflügen hielt. Als er den Rastplatz erreichte, verflogen Hoffnung und Ärger im gleichen Maße. Immer wieder rief Dragon den Namen des Mädchens – wenn sie den Ruf hörte, so antwortete sie nicht darauf. Enttäuscht und besorgt ließ sich Dragon nieder und dachte nach. »Wo kann das Weib stecken?« überlegte er laut, aber er erhielt auf diese Frage ebensowenig eine Antwort wie auf sein Rufen. Wütend griff Dragon zum Schwert und köpfte eine Blume, die über Nacht in der Nähe des Lagers erblüht war. Die ellenlange Blüte flog vom Stengel und überschlug sich mehrmals, bevor sie auf dem Boden aufprallte und sich öffnete. Dragon blinzelte. Er kniff sich in den Arm, da er nicht glaubte, was seine Augen ihm mitteilten. Aus der offenen Blüte krochen nacheinander fünfzehn handspannengroße Gestalten – winzige Mädchen mit dunklen Haaren. »Danila?« ächzte Dragon entsetzt. Die winzigen Gestalten krabbelten mit beachtlicher Geschwindigkeit auf Dragon zu, der sich flach auf den Boden legte, um die Mädchen besser sehen zu können.
Es gab keinen Zweifel – das war Danila, auf eine Handspanne verkleinert und in fünfzehn völlig gleichen Ausfertigungen. Die Danilas weinten; nur schwach konnte Dragon das Schluchzen hören. »Wer von euch ist die richtige Danila?« hauchte Dragon. Die Wucht seines Atmens war so groß, daß die Danilas wie welke Blätter durcheinandergewirbelt wurden. Nur eine der Gestalten, die sich noch rasch genug an einem Nasenloch hatte festhalten können, blieb aufrecht stehen. »Ich!« sagte das Mädchen mit einer so hellen, dünnen Stimme, daß Dragon kaum verstand. Eine zweite Danila kam herangekrochen, versetzte der ersten einen gutgezielten, wuchtigen Tritt und zerrte sie an den Haaren von Dragon weg. »Ich bin Danila!« schrie die kleine Kämpferin empört. Innerhalb weniger Augenblicke tobte vor Dragons Gesicht eine mit Fäusten, Zähnen und Fingernägeln geführte Schlacht, in der fünfzehn Danilas wild durcheinanderkämpften, einander kratzten, bissen und an den Haaren zogen. Eine Zeitlang fand Dragon dieses Gefecht recht amüsant, dann verlor er die Geduld. »Ruhe!« brüllte er impulsiv, dann wartete er, bis sich die Mädchen, die sein Luftstoß von den Beinen gefegt
hatte, wieder vor seinem Gesicht versammelt hatten. »Das Mädchen ganz rechts soll sprechen!« entschied Dragon. »Rechts – von mir aus gesehen!« Der Hinweis war nötig, um einen Zweikampf der beiden Flügel-Danilas zu vermeiden, die sich beide angesprochen fühlten und schon Anstalten machten, aufeinander loszugehen. »Ich weiß nicht, was geschehen ist!« gestand das Mädchen schluchzend. »Ich bin neben dir eingeschlafen, und als ich erwachte, da steckte ich in der Blüte – mit den anderen! Wie ich dahingekommen bin – ich kann es nicht sagen!« »Verdammt!« murmelte Dragon. »Das hat mir noch gefehlt! Danila in fünfzehn Ausgaben – und alle auf die Größe einer jungen Ratte geschrumpft!« Wütendes Schrillen belehrte ihn darüber, daß die Mädchen den Vergleich der Größen nicht sehr schmeichelhaft fanden. Eines der Mädchen wagte sogar, an Dragons Haaren zu ziehen – was wütende Proteste der anderen Danilas zur Folge hatte. Während auf dem Boden eine wüste Balgerei entbrannte, setzt sich Dragon auf und holte tief Luft. Dieser Fall ging über seine Kräfte. Er hätte sich zugetraut, mit bloßer Hand gegen einen Drachen zu kämpfen, allein eine Räuberbande in die Flucht zu schlagen – aber mehr als ein Dutzend kleiner,
vor Eifersucht verrückter Frauen zu hüten, das war mehr, als man selbst von dem tapfersten Krieger verlangen konnte. Er lenkte sich ab, indem er sich näher für die Blüte der von ihm geköpften Pflanze interessierte. Dragon kannte sich mit Blumen nicht sonderlich gut aus, aber er war sicher, daß diese Blüte kaum besondere Merkmale aufzuweisen hatte. Überflüssige Mühe wäre es gewesen, herauszutüfteln – wenn dies überhaupt möglich war – wie die Blüte dieses kleine Wunder zuwege gebracht hatte. Entscheidend war, daß zu Dragons Füßen fünfzehn Frauen herumtobten, die sich in kindliche Eifersucht geflüchtet hatten, um nicht über der grauenvollen Verwandlung den Verstand zu verlieren. Erbittert fluchte Dragon auf den Elementargeist, der für diese Landschaft zuständig war – dieses Unwesen mußte einen abartigen Hang für skurrile Pflanzen und eine ebenso starke Abneigung gegen Tiere hegen. Langsam legte sich Dragon wieder auf den Boden, wo sich die Danilas inzwischen wieder leidlich beruhigt hatten. »Was sollen wir tun?« fragte das Mädchen, das sich nach den Kämpfen als Sprecherin behauptet hatte. »Nimm uns mit – wir wollen fort von hier!« Für einige Augenblicke dachte Dragon an einen
Beutel voller schwarzhaariger Frauen, die er auf dem Rücken mitschleppte, dann verwarf er die Vorstellung wieder. Bei diesem Transport wäre die Mehrzahl der Mädchen zerquetscht worden. Immerhin konnte Dragon recht gut verstehen, daß die Danilas keine Lust hatten, sich weiterhin an diesem Schreckensort aufzuhalten. Was blieb an Möglichkeiten? Ein Fußmarsch? Nach einigen Schritten würde Dragon die Mädchen aus den Augen verloren haben. Blieb er in ihrer Nähe, würde er vermutlich erst als weißhaariger Greis Danilas Stamm erreichen. Zwei oder drei der Mädchen hätte Dragon mitnehmen können – und den Rest einem Ungewissen Schicksal ausgeliefert, besser gesagt, einem nahen Tode. Sollte er vielleicht die Mädchen bis auf eines erschlagen? »Bei Cnossos!« stöhnte Dragon auf. »Diese Falle ist die heimtückischste!« Zu seinem Glück hatten die Mädchen Hunger; mit gemischten Gefühlen sah Dragon zu, wie die Danilas aßen – die Beeren, die vom Vorabend noch übrig waren, waren so groß wie die Köpfe der Mädchen, und in die Schale einer leicht mehlig schmeckenden Frucht hätte man ohne Mühe ein halbes Dutzend Danilas verpacken können. Inzwischen hatte die Nachtkerze eine neue Blüte gebildet; Dragon scheute davor zurück, auch diese
Blute abzuschlagen und so eine weitere Handvoll Danilas zu produzieren, aber größer noch war seine Angst, die Blüte könnte eine der verkleinerten Danilas fangen und verkleinert vervielfältigen – Danilas in der Größe von Ungeziefer waren das letzte, was er sich jetzt wünschte. Erleichtert atmete der Mann auf, als die Blüte nach seinem Schwerthieb fortrollte, sich öffnete – und leer war. Mittlerweile hatten die Danilas ihre Mahlzeit beendet und scharten sich um Dragons Füße. Der Mann konnte sich kaum noch bewegen, aus Angst, eines der Mädchen unter die Füße zu bekommen. Dragon war nahe daran zu verzweifeln, als sein Hirn einen wahnwitzigen Plan ausbrütete. Angestrengt dachte er über alle Vorteile und Gefahren seines Vorhabens nach – und entschloß sich, den Versuch zu wagen. »Ich werde euch für kurze Zeit verlassen müssen«, erklärte er den Danilas, die mit prallgefüllten Bäuchen weniger temperamentvoll waren als zuvor. »Ängstigt euch nicht – ich werde bald zurückkehren. Und vielleicht finde ich ein Mittel, euch zu helfen!« Die Mädchen piepsten ein Zustimmen, dann machte sich Dragon auf den Weg. »Armer Adaran!« murmelte er mit spöttischem Grinsen, als er daran dachte, wie Danilas künftiger Mann auf diesen Massenansturm reagieren mochte.
Nach kurzem Suchen hatte Dragon die nötigen Mittel für den ersten Teil seines Planes gefunden – in ziemlicher Nähe des Lagers fand sich ein Würger, einer von jenen Sträuchern, die riesenhafte Bäume zu erdrosseln vermochten. Mehrere Stunden lang mußte sich der Mann mühen, bis er endlich herausgefunden hatte, wie man den faulen Strauch in Bewegung setzte. Eine Fackel leistete als Antriebsmittel gute Dienste, stellte Dragon fest. Nachdrücklich trieb Dragon den Strauch vor sich her, auf das Lager zu. In unmittelbarer Nähe eines Baumriesen ließ er von dem Strauch ab, der sofort seine Wurzeln wieder in die Erde versenkte. »Danila!« rief Dragon so leise wie möglich. »Komm zu mir!« Er sah die huschenden Bewegungen im Gras, und nach wenigen Augenblicken hatte er seine Begleiterinnen um sich versammelt. Es dauerte geraume Zeit, bis die Mädchen sich auf seinem Körper festgeklammert oder festgebunden hatten. Zum Anbinden fand Dragon eine vorzügliche Hilfe – einige Haare der großen Danila, die sich in dem Geäst eines Strauches verfangen hatten. Dragon schaffte die Mädchen, deren Füße und Hände ihn ständig kitzelten, einige Schritte vom Lager fort, wo er sie absetzte und zu seiner pflanzlichen Beute zurückkehrte.
Dragon stachelte den Würger mit der Fackel an, aber es dauerte einige Zeit, bis der Strauch begriff, was der Mann von ihm erwartete. Jedenfalls nahm Dragon an, daß ihn die Pflanze verstanden hatte, als sie sich wieder in Bewegung setzte und auf den Baumriesen losging. Das Schauspiel war Dragon zwar vertraut, dennoch schaute er mit großem Interesse zu, wie sich die Tentakel um den Stamm legten und ihn zuschnürten. Als nach einstündigem Ringen der Riese krachend zu Boden ging, kam Dragons eigentliche Arbeit. In jeder Hand eine lodernde Fackel, trat der Mann zum Angriff an; der Strauch kämpfte verbissen um seine Beute. Immer wieder gelang es der Pflanze, Dragon zurückzustoßen, ihm eine Fackel auszulöschen oder ihn zu Fall zu bringen. Aber Dragon blieb hartnäckig. Endlich gab der Strauch auf – scheinbar beleidigt rollte er seine Tentakel zusammen und trollte sich. »Besten Dank, alter Freund!« rief Dragon dem davonkrauchenden Strauch nach. Rasch sprang er in die Grube, in der sich die Wurzeln des gefällten Baumriesen befunden hatten. Zufrieden grinsend sah er die Knöllchen, die auf den dünneren der Wurzeln saßen. So schnell es ging, schaffte er die Danilas heran. »Der erste Teil meines Planes ist ausgeführt«,
eröffnete er den Mädchen. »Was nun geschieht, wird einzig von euch abhängen. Erinnert ihr euch noch an den Würger?« Völlig zeitgleich riefen die Danilas: »Sicher – er saugte seine Opfer aus und wuchs dabei!« »Genau das meinte ich«, stimmte Dragon zu. »Ich habe mir einen Würger besorgt, ihn an die Arbeit geschickt und davongejagt, sobald er sein Opfer erlegt hatte. Wer von euch will den ersten Versuch machen?« Er sah, wie sich die Mädchen ratlos anblickten. »Ist das nicht gefährlich?« wollte schließlich eine Danila wissen. »Es ist gefährlich!« gab Dragon zu. »Die Säfte des Baumes können giftig sein, das ist wahr. Aber wesentlich sicherer seid ihr in diesem Zustand auch nicht! Wer fängt an?« Die Danila, die sich als Sprecherin durchgesetzt hatte, machte ein bedrücktes Gesicht. Endlich sah sie ein, daß die anderen Mädchen nun darauf warteten, daß sie ihre Vorrangstellung auch bei anderer Gelegenheit bewies. Dragon hob das winzige Mädchen auf und trug es zu den Wurzeln hinüber. Danila zögerte eine Zeitlang, dann brachte sie ihren Mund an das Knöllchen und begann zu saugen. Bei ihrer Größe dauerte es nicht lange, bis sie nicht mehr fähig war, auch nur einen winzigen Schluck mehr
hinunterzubringen. Dragon trug sie zu den anderen Danilas hinüber – dann begann ein nervenzerreißendes Warten. Die Zeitspanne war nur klein, aber das Warten wurde durch die Ungewißheit fast unerträglich qualvoll. Die Danila, die von dem Saft getrunken hatte, stand an einen – für Dragons Begriffe – kniehohen Grashalm gelehnt- und sie wuchs! Bereits nach einer halben Stunde reichte sie Dragon bis ans Knie und konnte dabei helfen, die anderen Danilas zu den Wurzeln des Baumes zu tragen. Als der Abend dämmerte, war Dragon umgeben von fünfzehn Danilas, die alle die Größe, das Aussehen und das Temperament der ursprünglichen Danila hatten, wild durcheinanderredeten und sich vor Freude kaum zu beherrschen wußten. Für kurze Zeit brach ein Streit, verbunden mit einem allgemeinen Handgemenge, los, als Dragon auf Adaran zu sprechen kam und jedes der Mädchen den Mann für sich beanspruchte. »Bei allen Göttern Urgors«, stöhnte Dragon auf. »Diese Reise wird noch verrückter werden!« Am nächsten Morgen erwachte Danila als erste und fand in ihrer Nähe: vierzehn leuchtend rote Blüten und – nach dem Köpfen der Pflanzen – zweihundertundzehn Dragons, die vor Wut tobten und mit ihren winzigen Schwertern die Blüten in Stücke
hackten. In der Nacht hatten sich die vierzehn Vervielfältigungen des Mädchens in Blumen zurückverwandelt, die sich dann damit beschäftigt hatten, Dragon zu verschlingen und zu vermehren. Vorsichtshalber legten die Dragons und Danila eine beträchtliche Strecke zurück, bevor sie wieder ein Nachtlager aufschlugen. Am darauffolgenden Morgen mußte Dragon betrübt feststellen, daß es ihm nicht gelungen war, sich wachzuhalten. Offenbar sonderten die sich auflösenden Körper der vervielfältigten Menschen einen betäubenden Geruch ab, der jeden in tiefen Schlaf versetzte. So lautete jedenfalls Dragons Erklärung, die er an eine Unzahl von Danilas richtete. Wenn Danila zurückblickte, sah sie – weit hinter dem Dragon-Heer, das an Köpfen kaum zu zählen war – eine breite, endlos lang erscheinende Gasse im Urwald, die von umgestürzten Bäumen und einem dichten Teppich aus roten Nachtkerzen gebildet wurde. Für kurze Zeit hatte Danila es recht spaßig gefunden, von einem unübersehbaren Heer heldenhafter Männer umgeben zu sein, aber rasch hatte sich herausgestellt, daß sich alle Dragons in winzigen Kleinigkeiten voneinander unterschieden – mit jeder Nacht und der sich unvermeidlich daraus ergebenden
Vervielfältigung wuchs das Chaos, daß durch diesen Vorgang ausgelöst wurde. Es gab ausgesprochen streitsüchtige Dragons, andere waren sanft wie Lämmer – Dragon hatte ähnliche Erfahrungen machen müssen, als er mit einer riesigen Schar von Danilas hatte reisen müssen. Wie ein gigantischer Wurm wälzte sich der Heerzug der Männer durch die letzten Ausläufer des Dschungels. Ein großer Teil des Heeres war ständig damit beschäftigt, Nahrungsmittel heranzuschaffen. »Wie lange wird das noch so weitergehen?« fragte Danila besorgt. »Irgendwann muß es doch eine Grenze geben?« »Hoffentlich hast du recht!« sagten vier Dragons gleichzeitig. Das Dschungelgebiet fand langsam ein Ende; nur vereinzelt standen noch Bäume – bereits am nächsten Tag, konnte sich Danila ausrechnen, würde es keine Möglichkeit mehr geben, die verkleinerten Dragons wieder auf ihre Ursprungsgröße zu bringen. Was sich daraus für Folgen ergaben, wagte sich das Mädchen nicht vorzustellen – ein ameisenhaftes Heer von Menschen, das sich durch die Landschaft bewegte. Danila ließ ihren Blick in die Runde gehen. Knapp hundert Schritte voraus war der letzte Baum zu erkennen, der zum Dschungel gehörte. Dahinter begann ein Grasland, das sich bis zum Horizont
erstreckte. Sofort fragte sich das Mädchen, welche Überraschungen in diesem Gebiet auf sie warten würden. Sie merkte nicht, wie sich neben ihr die Männer auflösten und geräuschlos verschwanden; der Heerzug hatte den letzten Baum erreicht. Offenbar hörte hier die Macht der Elementargeister auf – zumindest jener Geister, die den Dschungel beherrschten. Hinter Danila wurde ein Gewirr von Stimmen laut – die Männer hatten die Auflösung der Voranmarschierenden deutlich gesehen. Und keiner von ihnen verspürte große Lust, sich ebenfalls in Nichts zu verflüchtigen. Dann aber siegte der entschlossene Wille, auch diese Grenze zu überschreiten. Einer der Männer, der einzige echte Dragon konnte sicher sein, die magische Grenze überschreiten zu können – allerdings war jeder der Männer davon fest überzeugt, daß er derjenige war, der gefahrlos bis zu Danila vordringen konnte. Ruhig und mit gleichmäßigem Schritt bewegte sich die Kolonne vorwärts. Sobald die Männer an dem Baum ankamen, lösten sie sich auf. Ängstlich wartete Danila darauf, daß eine der Gestalten weitermarschierte – aber Mann nach Mann verschwand. Dragon war in der Gruppe der letzten – genauer gesagt, er war der letzte Mann, der sich anschickte, die Grenze zu überschreiten. Danila hielt den Atem an, als
der entscheidende Augenblick näherkam – erleichtert schrie sie auf, als sich Dragon lächelnd auf sie zubewegte. »Ich wäre fast verzweifelt!« seufzte das Mädchen. »Warum warst ausgerechnet du der letzte Mann? Wieso nicht ein anderer?« Dragon deutete grinsend auf das Amulett. »Mura hat wieder einmal geholfen!« erklärte er mit sichtlicher Zufriedenheit. »Die geheimnisvollen Kräfte wurden nicht vervielfältigt – ich wußte zu jedem Zeitpunkt, daß ich der echte Dragon war!« »Warum hast du mir davon nichts gesagt?« wollte Danila wissen. »Warum dieser wenig angenehme Scherz auf meine Kosten?« »Was wäre geschehen, hätte ich in der ersten Gruppe die Grenze überschritten?« fragte Dragon zurück. »Die anderen Dragons hätten sicher keine Lust gehabt, sich ohne zwingenden Grund aufzulösen. Folglich wären sie hinter der Grenze geblieben – und in der Folgezeit jämmerlich zugrunde gegangen. Darum blieb ich am Schluß des Zuges und wartete ab! Zufrieden mit dieser Erklärung?« Danila nickte lächelnd, während sich Dragon in der Landschaft umsah. So weit er sehen konnte, war der wellige Boden mit endlos erscheinenden Grasflächen bedeckt. Die Graswüste erstreckte sich bis an den Horizont – nur sehr vereinzelt konnte Dragon kleine
Sträucher und verkrüppelte Bäume erkennen. Er war froh darüber – sein Bedarf an Bäumen war mehr als gedeckt. »Vorwärts!« kommandierte er. »Dein Stamm wartet auf uns!« »Ich fürchte, du irrst dich!« meinte Danila betrübt. »Wahrscheinlich hat man mich schon vergessen!« »Auch das wird sich herausstellen, wenn wir eure Stille Zone erreicht haben!« erwiderte Dragon. »Was mag das hier sein – eine Stille Zone oder Wildes Land?« »Vermutlich letzteres!« schätzte Danila. »Vielleicht können die Wesen dort dir Näheres sagen!« Im Hintergrund zeichneten sich plumpe Silhouetten am Himmel ab. Vorsichtig bewegten sich die beiden Menschen auf die Wesen zu, die sich langsam und gemächlich über das Grasland bewegten. »Wanderwolken!« flüsterte Danila. Sie hatten eine kleine Anhöhe erreicht, lagen in dem dichten, etwas struppigen Gras und beobachteten die Wanderwolken. Dragon konnte sich nicht erinnern, jemals derart riesenhafte Lebewesen gesehen zu haben. Manche der Wolken erreichten einen Umfang, daß man ein großes Haus hätte darin unterbringen können. Offenkundig diente den Wolken das Gras als Nahrung. Dragon konnte sehen, wie sich aus den großen Leibern dünne Tentakel entwickelten, mit
denen die Wolken das Gras ausrissen und in ihren Körpern verschwinden ließen. An einer anderen Stelle lag eine Wolke über einem flachen Tümpel, den sie in Windeseile ausgesaugt hatte. »Wir sollten versuchen, die Wolken zu vertreiben!« schlug Danila flüsternd vor. »Wer weiß, ob sie nicht über uns herfallen!« Mit Schaudern erinnerte sie sich an ihre Entführung durch eine Wanderwolke diese Verschleppung war letztlich Grund gewesen für alle Leiden, die sie in den letzten Tagen und Wochen hatte erdulden müssen. Ohne die Wanderwolke wäre sie noch bei ihrem Volk gewesen – das Tal der Tränen wäre ihr ebenso erspart geblieben wie die Verwandlung durch die Nachtkerzen. Dragon war mit ähnlichen Gedanken beschäftigt. Der einzige Trost, den er fand, war der Umstand, daß er ohne die Aufgabe, das Mädchen zu ihrem Stamm zurückzubringen, jetzt vielleicht zerschmettert unter dem Gestein liegen konnte, das die Rückkehr durch das Weltentor verwehrte. »Ich glaube, daß die Wanderwolken nichts so sehr fürchten wie das Feuer!« erinnerte sich Danila. »Hm!« machte Dragon kurz. »Der Wind wäre günstig ...!« Er kam nicht dazu, seinen Vorschlag in die Tat umzusetzen. Irgend etwas schien die Wanderwolken
gestört zu haben. Auf ein unhörbares Kommando hin begannen sie sich zu bewegen. Dragon konnte sehen, wie sich aus der Masse ihrer Körper große, dünne Segel formten, die sich bald blähten und die Wolken vorantrieben. Es dauerte nicht lange, dann war das Rudel aus dem Sichtbereich verschwunden. »Auch gut!« sagte Dragon zufrieden. Ihm war nicht wohl gewesen bei dem Gedanken, auf die Wolken loszugehen. Langsam erhoben sich die beiden Menschen und setzten ihren Weg fort; Stunde um Stunde wanderten sie durch das Grasland, ohne einem lebenden Wesen zu begegnen. Als sie sich zu einer Rast entschlossen, hatte die Sonne bereits den Höhepunkt ihrer Laufbahn überschritten. »Ich bin gespannt, wieviel Zeit wir brauchen werden, um die Graswüste zu durchqueren!« meinte Danila; sie blickte nach Westen, dort lebte ihr Stamm, zu dem sie zurückkehren wollte. Dragon folgte dem Blick und nickte verständnisvoll. Mit jedem Schritt, der sie weiter vom Dschungel entfernt hatte, war Danila heiterer geworden. Um so mehr wunderte sich Dragon, als sich Danilas Gesicht jäh verdüsterte. Dann begriff er schlagartig. Ein gewaltiger Schatten kroch von hinten über sie und zeichnete sich auf dem Gras ab; die beiden
Menschen sprangen auf und sahen erschrocken nach oben. Eine riesige Wanderwolke hing wenige Schritte über ihnen in der klaren Luft über der Grassteppe. Deutlich konnte Dragon die feine, ockerfarbene Haut der Wolke erkennen – und auch die Tentakel, die sich nach ihnen ausstreckten. »Lauf, Danila!« schrie Dragon und warf sich zur Seite. Die Bewegung nutzte nicht viel; die Spitze eines Tentakels richtete sich auf den Mann, und ein stechender Geruch breitete sich aus, der sich auf die Lungen legte und Dragon husten machte. Er spürte, wie seine Beine unter ihm zu schwanken begannen – einige Schritte von ihm entfernt brach Danila in die Knie und fiel vornüber. Kurz bevor er das Bewußtsein verlor, sah er noch, wie die Tentakel nach Danila faßten und sie in die Höhe zogen. Er spürte noch, wie auch er angehoben wurde, dann wurde er ohnmächtig. Der Vorgang hatte nur kurze Zeit in Anspruch genommen; wenig später setzte die Wanderwolke ihre Reise fort – und nahm Danila und Dragon mit sich. ENDE Drei Männer der Erde haben sich durch das Tor in
jene fremde, bizarre Welt gewagt, aus der das Mädchen Danila stammt – und jene Bestien, die das Eisland überfluteten. Nur zwei der Männer leben noch. Der eine ist Ubali und der andere Dragon, der Atlanter. Er trotzt den Gefahren des Dschungels und begegnet den PIRATEN DER LÜFTE ... PIRATEN DER LÜFTE das ist auch der Titel des nächsten Dragon-Bandes. Der Roman ist von Ernst Vlcek geschrieben.